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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-14 18:37:42 -0700
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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44239 ***
+
+[Symbole für Hervorhebungen: _Antiqua_ : =gesperrt=]
+
+
+
+
+ Unter Palmen und Buchen.
+
+ Erster Band.
+
+ Unter Buchen.
+
+
+ Gesammelte Erzählungen
+ von
+ Friedrich Gerstäcker.
+
+
+ Leipzig,
+ Arnoldische Buchhandlung.
+ 1865.
+
+
+
+
+ Inhaltsverzeichniß.
+
+
+ Seite
+ Eine alltägliche Geschichte 1
+
+ Die Vision 16
+
+ Folgen einer telegraphischen Depesche 131
+
+ Der Polizeiagent 140
+
+ Eine Heimkehr aus der weiten Welt 274
+
+ Wenn wir einmal sterben 289
+
+
+
+
+Eine alltägliche Geschichte.
+
+
+Es war auf einem Balle in der Erholung, daß Dr. Kuno Brethammer Fräulein
+Bertha Wollmer kennen lernte -- oder vielmehr zum ersten Male sah, und
+sich sterblich in sie verliebte.
+
+Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid, einen sehr hübschen
+Kornblumenkranz im blonden Haar und sah wirklich allerliebst aus. Aber
+es bleibt immer ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine Hausfrau
+auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte der letzte Ort dazu sein,
+denn dort ist Alles in Licht gehüllt, und er wird geblendet und
+berauscht, wo er gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen auf dem
+rechten Fleck haben müßte.
+
+Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahl nicht zu bereuen, denn
+Bertha Wollmer war nicht allein ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit
+Geschmack zu kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav,
+ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später herausstellte,
+vortreffliche Wirtschafterin. -- Der Doctor hätte auf der Welt keine
+bessere Lebensgefährtin finden können.
+
+Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden. Er war etwa 34 Jahre
+alt, Advocat mit einer recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen,
+galt in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen Mann,
+schuldete keinem Menschen einen Pfennig und als er, vierzehn Tage
+später, um Bertha Wollmer anhielt, sagte das Mädchen nicht =nein=, und
+Vater und Mutter sagten =ja=, worauf dann noch in der nächsten Woche
+die Verlobungskarten ausgeschickt wurden. Zwei Monate später fand die
+Hochzeit statt.
+
+So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich miteinander, und Dr.
+Brethammer sah mit jedem Tage mehr ein, daß er eine außerordentlich
+glückliche Wahl getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib
+danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von Herzen, aber -- wie
+das oft so im Leben geht -- das, was sein ganzes Glück hier bildete,
+wurde ihm -- durch Nichts gestört -- endlich zur =Gewohnheit= und er
+=vernachlässigte=, was er hätte hegen und pflegen sollen.
+
+Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb nie geringer wurde,
+aber er vernachlässigte auch =die Form=, die in einem gewissen Grade in
+allen Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit seiner Frau,
+ja heftig, und wenn er auch dabei nicht die Grenzen überschritt, die
+jeder gebildete Mensch inne halten wird, that er ihr doch oft -- gewiß
+unabsichtlich -- recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein heftiges Wort
+entfahren war, hätte er es von Herzen gern widerrufen mögen, aber -- das
+ging leider nicht an, denn -- er durfte sich an seiner Autorität nichts
+vergeben.
+
+Nur zu =einer= Entschuldigung ließ er sich herbei: »Du weißt, ich
+bin jähzornig,« sagte er, »wenn's aber auch oft ein Bischen rauh
+herauskommt, so ist es ja doch nicht so schlimm gemeint und eben so
+rasch vergessen.«
+
+Ja, das war allerdings der Fall; =er= hatte es eben so rasch vergessen,
+aber =sie= nicht, und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht
+zeigte, wenn sie ihn immer bei sich entschuldigte und sein oft
+mürrisches Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er außer dem
+Hause gehabt -- ein =kleiner= Stachel blieb von jeder dieser Scenen in
+ihrem Herzen zurück, so viel Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung
+daran zu bannen; =einen= kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke
+zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei es noch so schnell
+vorübergezogen, und in einsamen Stunden konnte sie oft recht traurig
+darüber werden.
+
+Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der Vater mit großer und
+wirklich inniger Liebe hing -- und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen
+ab! -- Es ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und mußte sich
+oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur zum Mittagsessen zu kommen, aber
+Abends um sechs Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt,
+und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben bei Frau und Kindern
+zu sitzen, um sich seines häuslichen Glückes zu freuen, aber -- »er
+mußte dann doch ein wenig Zerstreuung haben« -- wie er sich selbst
+vorlog -- er mußte den Geschäftsstaub abschütteln und mit einem »Glas
+Bier« hinunterspühlen, und das geschah am besten im Wirthshaus, wo man
+nicht gezwungen war zu reden -- wenn man nicht reden wollte -- wo
+man einmal eine Partie Scat oder Billard spielte, um die ärgerlichen
+Geschäftsgedanken aus dem Kopf zu bringen -- und wie die Ausreden alle
+hießen, mit denen er allein =sich selber= betrog, denn seine Frau fühlte
+besser den wahren Grund.
+
+Er =amüsirte= sich nicht zu Haus. Er hatte seine Frau und Kinder
+unendlich lieb und würde Alles für sie gethan, jedes wirklich große
+Opfer für sie gebracht haben aber -- er verstand nicht, sich mit ihnen
+zu beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei Karten und Billard.
+
+Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau dabei! Er mochte noch
+so spät Abends zum Essen kommen, nie zeigte sie ihm ein unfreundliches
+Gesicht, nie frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder --
+wenigstens das jüngste -- waren dann schon meist zu Bett gebracht; er
+konnte ihnen nicht einmal mehr »gute Nacht« sagen, und ärgerlich über
+sich selber -- so sehr er auch vermied es sich selber einzugestehen --
+verzehrte er schweigend sein Abendbrod.
+
+Das waren die Momente, wo ihm der älteste Knabe ängstlich aus dem Weg
+ging, denn hatte er irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es
+in einer solchen Stunde, dann konnte er =sehr= böse und =sehr= heftig
+werden -- und die arme Mutter =litt= besonders schwer darunter.
+
+Wie oft nahm er sich vor, die Abende in seiner Familie, bei den Seinen
+zuzubringen, und er wußte ja, wie sich seine Frau darüber gefreut haben
+würde. So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so sorgsam sie
+auf Alles achtete, was dem Gatten eine Freude machen oder zu seiner
+Bequemlichkeit dienen konnte, so verständig war sie in jeder andern
+Hinsicht, und es gab Nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte mit ihr
+unterhalten mögen, Nichts, worin sie nicht im Stande gewesen wäre,
+einen vernünftigen Rath zu ertheilen. Er kannte und schätzte diese
+Eigenschaften an ihr -- er liebte sie dafür nur desto mehr, aber --
+wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte, daß sich die Spieltische
+besetzten oder die gewöhnliche _quatre tour_ zusammenkam, dann ließ es
+ihn nicht länger zu Hause ruhn.
+
+Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden, da sie aber nie
+gegen ihn klagte und ein häufiger wiederkehrendes Unwohlsein stets so
+viel als möglich vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden
+nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte, achtete er selber nicht
+viel darauf, oder hielt es doch keineswegs für gefährlich. Er hatte in
+der That =sehr= viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug -- nur
+seiner Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten lassen. Sobald er
+das aber ja einmal fühlte, wollte er es auch stets wieder gut machen,
+und überhäufte sie mit Geschenken -- ja, wo er einen Wunsch an ihren
+Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn -- soweit er eben mit Geld erfüllt
+werden konnte -- nur seine Abende widmete er ihr nicht. -- Er wollte
+auch eine Erholung haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit gegen
+die Seinen mäßigte er sich eben so wenig.
+
+»Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin,« sagte er in einer halben
+Abwehr, in halber Entschuldigung; »Ihr wißt wie's gemeint ist,« und
+damit war die Sache für =ihn= abgemacht, aber nicht für die Frau.
+
+Er war auch jetzt zu Zeiten, in Gegenwart Fremder heftig gegen sie,
+und fuhr sie rauh an. Er meinte es wirklich nicht so bös, wie die Worte
+klangen, aber es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen,
+so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen, wie weh er ihr
+gethan.
+
+So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft in X. gegründet
+worden und Brethammer Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball
+eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt, ja er kaufte
+ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid und that wirklich Alles, um sie zu
+überreden, ihm die Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie
+unwohl sei, aber er wollte es ihr nicht glauben, und erst als sie ihm
+mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten, und wie große Mühe
+sie sich gegeben, es nicht zu zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm
+auch ihr bleicheres Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen auf.
+Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon oft unwohl gewesen
+und hatte sich immer wieder erholt, auch diesmal würde es sicher
+vorübergehen, wenn sie sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen
+jedenfalls das Vernünftigste, daß sie =nicht= auf den Ball ging.
+
+Der Winter verging, Bertha wurde in der That nicht kränker, aber sie
+blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte sich zuletzt an diesen Zustand. Er
+hatte anfangs seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan -- und
+ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! -- auf die Länge der Zeit aber
+vergaß er das wieder -- es war ja nicht mehr nöthig. Seine _quatre tour_
+und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte sich ganz vortrefflich
+dabei. Kam er dann Abends nach Haus -- ob er sich auch einmal um eine
+halbe oder ganze Stunde verspätet hatte -- fand er den Tisch gedeckt,
+und war es so spät geworden, daß die Kinder zu Bett geschickt werden
+mußten, so setzte sich sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.
+
+Im Frühjahr schienen Bertha's Leiden heftiger wiederzukehren, und der
+Arzt kam fast täglich, aber auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte
+selber nicht, daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als es wirklich war,
+oder vielleicht mehr vor ihm verbarg, als sie hätte thun sollen; aber
+sie fürchtete, dem Gatten das Haus dadurch noch ungemüthlicher zu
+machen, und trug deshalb lieber Alles allein.
+
+Eines Abends, im Mai, saß Dr. Brethammer wieder am Kartentisch und zwar
+in einem Garten, etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin
+die kleine Gesellschaft bei schönem Wetter allabendlich auswanderte, als
+ein Bote hereingestürzt kam und ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es
+standen nur wenige Worte darauf:
+
+»Komm zu mir. -- Bertha.« Aber die Worte waren mit zitternder Hand
+geschrieben, und den Mann überkam, als er sie gelesen, eine ganz
+sonderbare Angst.
+
+Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha krank geworden? daß sie
+fortwährend krank gewesen, wollte er sich gar nicht gestehen, aber der
+Bote wußte weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen und gut
+bezahlt, damit er so schnell wie möglich diesen Brief übergeben sollte.
+-- Mitten im Spiel hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe
+übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte er in die Stadt
+zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt -- unten im Hause traf er sein
+Mädchen, die eben aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.
+
+»Was um Gotteswillen ist vorgefallen -- meine Frau --?«
+
+»O gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!« rief das Mädchen. »Sie hat so
+danach verlangt, Sie noch einmal zu sehen.«
+
+Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf kam. Der Arzt stand neben
+dem Bett, streckte ihm die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ
+das Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche, die kalte Hand
+seines treuen Weibes mit Küssen und Thränen bedeckend.
+
+»Mein Kuno,« flüsterte die zitternde Stimme, »o wie lieb das von Dir
+ist, daß Du noch einmal gekommen bist -- mir ist nur so kurze Zeit
+geblieben -- das Alles brach so schnell herein.«
+
+»Bertha, Bertha, Du kannst -- Du darfst mich nicht verlassen,«
+schluchzte der Mann und schlang seinen Arm krampfhaft um sie.
+
+»Du thust mir weh,« bat sie leise, »fasse Dich Kuno, es muß sein -- ich
+muß fort von Dir und den Kindern -- o sei gut mit ihnen, Kuno -- sei
+nicht so rauh und heftig mehr -- sie sind ja lieb und brav, und Du, --
+hast sie ja auch so lieb.«
+
+Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen, mit bebender Stimme
+gesprochenen Bitte lag ein so furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen
+Gefühlen, seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte geben
+konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die Sterbende auf das Bett, und
+ihre Hand lag auf seinem Haupt und drückte es leise an sich.
+
+»Kuno,« hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.
+
+»Bertha, meine Bertha!« rief der Mann, sein Antlitz zu ihr hebend,
+»fühlst Du Dich besser?«
+
+»Leb wohl!«
+
+»Bertha!« stöhnte der Unglückliche, »Bertha!«
+
+»Mach mir den Abschied nicht schwer,« bat die Frau, »die Kinder habe ich
+schon geküßt, ehe Du kamst -- ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß
+mich ausreden,« flehte sie, »mir bleibt nicht mehr viel Zeit und das
+Sprechen wird mir schwer -- leb wohl, Kuno -- habe noch Dank -- tausend
+Dank für all das Liebe und Gute, was Du mir gethan -- sei mir nicht bös,
+wenn ich vielleicht --«
+
+»Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das Herz --«
+
+»Es ist gut -- es ist vorbei -- es wird Licht um mich -- leb' wohl Kuno
+-- sei gut mit den Kindern -- auf Wiedersehen!«
+
+»Bertha!« -- -- es war vorbei. Der Mann knieete neben der Leiche seiner
+Frau, und es war ihm, als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein
+und trostlos in einer Wüste stände.
+
+Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie ein Traum. Fremde Leute kamen
+und gingen ein und aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige
+Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht, und selbst als sie die
+Leiche in den Sarg legten, blieb er still und theilnahmlos. Die Kinder
+kamen über Tag zu ihm, hingen an seinem Hals und weinten; er preßte
+sie fest an sich und küßte sie und blieb dann wieder allein bei der
+Geschiedenen.
+
+Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft werden mußte, und
+jetzt war es, als ob er sich dem widersetzen wolle. Aber es traten eine
+Masse Leute in's Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit ihm
+sprachen und ihm zuredeten, daß er sich den Unglücksfall nicht so schwer
+zu Herzen nehmen solle. Er hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er
+fühlte, daß was hier geschah -- eben geschehen =mußte=, und duldete
+Alles.
+
+Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern nach Haus zurück, schloß
+sich hier in sein Zimmer ein und weinte sich recht von Herzen aus.
+Danach wurde ihm etwas leichter -- und es ist ein altes und wahres
+Sprüchwort -- die Zeit mildert =jeden= Schmerz, denn das Menschenherz
+wäre sonst nicht im Stande zu tragen, was nach und nach ihm aufgehoben
+bleibt. =Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber -- die Zeit mildert und
+sühnt keine Schuld.=
+
+Den =Verlust= der Gattin hätte er ertragen -- mit bitterem Weh wohl, es
+ist wahr, denn er hatte sie treu und innig geliebt, aber mit Jahr und
+Tag wäre die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie mehr ihr
+treues Auge wieder schauen zu können, mehr in den Hintergrund getreten,
+und ihm nur die Erinnerung an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt aber
+nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht allein das Gefühl der
+=Schuld=, nein auch die =Reue= über vergangene Zeit mit dem Bewußtsein,
+diese nie zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen oder
+ungeschehen machen zu können, und das bohrte sich ihm in's Herz, nicht
+mit der Zeit weichend, nein, mit den wachsenden Jahren fester und fester
+und unzerstörbarer.
+
+Draußen die Welt merkte Nichts davon; er war immer ernst und
+abgeschlossen für sich gewesen, und daß er sich jetzt vielleicht noch
+etwas zurückgezogener hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim
+in seiner jetzt verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die
+Geschiedene mahnend vor ihm empor, und je weniger Vorwürfe sie ihm je im
+Leben gemacht hatte, desto mehr machte er sich jetzt selber.
+
+Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus die er mit vollkommen
+gleichgültigen Menschen draußen bei den Karten oder hinter dem
+Wirthstische verbracht, während seine Bertha daheim mit einer wahren
+Engelsgeduld auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn empfing,
+=wenn= er endlich zurückkehrte. Wieder und wieder malte er sich die
+einzelnen Fälle aus, wo er rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie
+ein rauhes und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt, und vor
+Scham und Reue hätte er in die Erde sinken mögen, wenn er sich jetzt
+überlegte, wie er damals immer -- immer Unrecht gehabt, und das nur,
+=wenn= er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte =eingestehen=
+mögen.
+
+Aber das Alles kam jetzt =zu spät= -- zu spät für =ihn= wenigstens.
+Er hatte einen Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen
+wurde -- keine Reue brachte ihn je zurück, und daß er sich jetzt elend
+und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine begangene Sünde.
+
+Für ihn war es zu spät -- =aber noch nicht für Viele, die diese Zeilen
+lesen=. Viele, viele halten in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz --
+und vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war der Zweck dieser
+Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt, da es noch =für sie= Zeit ist,
+ausmalen möchten, wo die Gattin =plötzlich, unvorbereitet= abgerufen
+wurde, und die Reue des Mannes dann =zu spät= kam, und =nie, nie= wieder
+gut gemacht werden konnte.
+
+
+
+
+Die Vision.
+
+
+Erstes Capitel.
+
+Die Sturmnacht.
+
+In Alburg, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen Stadt, lebte der
+Justizrath =Bertling= in glücklicher und zufriedener Ehe mit seiner
+jungen Frau.
+
+Bertling war ein ruhiger, behäbiger Charakter, der die Welt gern an
+sich kommen ließ, und nichts weniger liebte als unnütze und unnöthige
+Aufregungen. Er hatte auch in der That besonders deshalb sein
+Junggesellenleben aufgegeben, um sein Haus gemüthlich zu machen, und
+sich -- bisher vermißte -- Bequemlichkeiten zu verschaffen; aber er
+liebte nichtsdestoweniger seine Frau von ganzem Herzen und fühlte sich
+glücklich in ihrem Besitz.
+
+=Auguste= paßte auch vortrefflich für ihn, und zwar nicht etwa durch
+eine Aehnlichkeit ihres Charakters, sondern eher durch einen Gegensatz,
+durch welchen sich die beiden Gatten vollständig ergänzten, denn man
+darf ja nicht glauben, daß zu einer glücklichen Ehe stets gleiche
+Neigungen und Ansichten, gleiche Tugenden und Fehler gehören. Auguste
+war denn auch, während ihr Mann ganz entschieden dem praktischen und
+realen Leben angehörte, weit mehr schwärmerischer Natur, ohne jedoch im
+Geringsten überspannt zu sein. Unermüdlich thätig in ihrem Hausstand,
+beschäftigte sie sich aber auch gern mit Lectüre, und vorzüglich
+mit solcher, die einer ideellen Richtung angehörte. Sie phantasirte
+vortrefflich auf dem Piano, und liebte es sogar, selbst noch =nach=
+ihrer Verheirathung -- was ihr Gatte entschieden mißbilligte -- bei
+mondhellen Nächten im Garten zu sitzen.
+
+Lebhaft und heiter dabei, mit einem warmen Gefühl für alles Schöne, wob
+sie bald mit diesen Tugenden und Vorzügen einen ganz eigenen Zauber um
+ihre Häuslichkeit, dem sich ihr Gatte nicht entziehen konnte und wollte,
+so daß er bald von anderen Frauen, =ihren= Männern gegenüber, als das
+Muster eines vortrefflichen Ehemannes aufgestellt wurde.
+
+So hatten die jungen Leute -- denn der Justizrath zählte kaum ein
+und dreißig und seine Frau erst zwanzig Jahr -- etwa zwei Jahre
+in glücklicher, durch nichts gestörte Ehe gelebt, als eine schwere
+Krankheit -- ein damals in Alburg umgehendes Nervenfieber -- die junge
+Frau erfaßte und lange Wochen auf das Lager warf.
+
+Ihr Mann wich in dieser Zeit fast nicht von ihrer Seite und nur die
+wichtigsten Geschäfte konnten ihn abrufen -- ja oft versäumte er selbst
+diese und ganze Nächte hindurch wachte er neben ihrem Bett. Allerdings
+paßte ihm das nicht zu seinem sonst gewohnten, bequemen Leben, aber die
+Angst, sein Weib durch irgend eine Vernachlässigung zu verlieren, oder
+auch nur ihren Zustand gefährlicher zu machen, ließ ihn das Alles nicht
+achten, und so ward ihm denn auch endlich die wohlverdiente Freude zu
+Theil, die schlimmste Krisis überstanden und die geliebte Frau nach und
+nach genesen zu sehen. Aber es dauerte lange -- sehr lange, bis sie sich
+wieder vollständig von dem überstandenen Leiden erholen konnte.
+
+Der Körper gewann dabei noch verhältnißmäßig am Schnellsten die frühere
+Frische wieder, wenn auch die Wangen bleicher, die Augen glänzender
+schienen, als sie sonst gewesen. Sie hatte aber in ihrer Krankheit
+besonders viel phantasirt und dabei oft ganz laut und deutlich die
+tollsten, wunderlichsten Dinge gesprochen. Darum bedurfte es weit
+längerer Zeit, ehe der Geist wieder Herr über diese Träume wurde,
+die sich mit der Erinnerung früherer wirklich erlebter Scenen so
+vermischten, daß sie oft anhaltend nachdenken mußte, um das Wahre
+von dem Falschen und Eingebildeten oder nur Geträumten zu sondern und
+auszuscheiden.
+
+Auch das gab sich nach und nach oder stumpfte sich doch wenigstens ab.
+Die Erinnerungen an diese Träume wurden unbestimmter, wenn auch einzelne
+von ihnen noch manchmal wiederkehrten und sie oft, mitten in der Nacht,
+plötzlich und ängstlich auffahren machten, ja sogar wieder bestimmte
+Bilder und Eindrücke annahmen.
+
+Bertling behagte das nicht recht, denn er wurde dadurch ein paar Mal
+sehr nutzloser Weise alarmirt. Einmal -- und noch dazu in einer sehr
+kalten Nacht -- behauptete seine Frau nämlich bei ihrem plötzlichen
+Erwachen, es wäre Jemand im Zimmer und unter das Sopha gekrochen -- sie
+habe es deutlich gehört, ja sogar den Schatten durch das Zimmer gleiten
+sehen. Bertling protestirte gegen die Möglichkeit, aber es half ihm
+nichts; um seine Frau nur endlich zu beruhigen, mußte er aufstehen und
+die Sache untersuchen, was er denn gründlich mit Hülfe einer Elle that.
+Natürlich fand er nicht das geringste Verdächtige, vielweniger einen
+dort versteckten Menschen, und Beide lachten nachher über dies kleine
+Abenteuer, -- aber der Justizrath trug doch einen Schnupfen davon, der
+ihn sogar auf ein paar Tage zwang das Bett zu hüten.
+
+Das andere Mal wollte Auguste im Nebenzimmer ein verdächtiges Flüstern
+gehört haben und wenn sich auch dieses nach sorgfältiger nächtlicher
+Untersuchung, die der Justizrath im Schlafrock, in der Linken das Licht,
+in der Rechten den Feuerhaken, vornahm, als unbegründet herausstellte,
+so wurde der Mann doch durch diesen verschiedentlich erweckten Verdacht
+endlich selber so mißtrauisch gemacht, daß er sich für weitere derartige
+Fälle stillschweigend rüstete. Er holte nämlich ein Paar alte, schon
+lange zur Rumpelkammer verurtheilte Sattelpistolen hervor, reinigte
+und lud sie und gab ihnen einen Platz in der obersten Schieblade
+seiner Kommode, um sie bei einer etwa wieder vorzunehmenden Patrouille
+wenigstens bei der Hand zu haben.
+
+Wochen vergingen indeß, ohne daß sich eine derartige Scene wiederholt
+hätte, und Bertling beruhigte sich endlich vollständig mit dem Gedanken,
+daß jene Ideen nur die Nachwehen der überstandenen Krankheit gewesen
+seien; der jetzt kräftig gewordene Körper nun aber alle derartigen
+Phantasiebilder ausgestoßen, und für die Zukunft unmöglich gemacht habe.
+
+Auguste war in der That wieder so frisch und lebenslustig als je
+geworden, wenn ihre Gesichtsfarbe auch etwas »intressanter« als früher
+geblieben sein mochte. Sie sah bleicher aus, als sie sonst gethan, aber
+keineswegs kränklich oder leidend und besuchte auch wieder gern und
+oft Gesellschaften und Bälle, wobei es manchmal einige Schwierigkeiten
+hatte, den etwas phlegmatischen Gatten für solche Vergnügungen
+mitzubegeistern.
+
+Auch gestern Abend war in der »Erholung« ein brillanter Ball gewesen,
+auf dem Auguste bis vier Uhr morgens getanzt, während ihr Gatte, als
+treuer Gefährte, bis etwa um zwei Uhr Whist gespielt, und noch ein paar
+Stunden in einer bequemen Sophaecke verträumt hatte. Heute sollte dafür
+recht früh zu Bett gegangen werden, und die beiden Eheleute saßen Abends
+allein zusammen in der Stube am Theetisch.
+
+Es war im Februar, aber ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches
+Wetter. Noch vor wenigen Tagen hatte harter Frost die Erde gedeckt;
+heute peitschte der Regen die kaum aufgethauten Fenster und die
+Windsbraut heulte zwischen den Giebeln und riß an Thüren und
+Fensterflügeln, wie zornig darüber, daß es einen Platz geben solle, in
+den man ihr, der Gewaltigen, den Eintritt verweigere.
+
+Und wie das draußen durch die Straßen fegte! Der Justizrath war
+aufgestanden und ans Fenster getreten, denn die Unterhaltung wollte
+heute nicht recht fließen. Seine Frau war abgespannt, klagte über ein
+leichtes Kopfweh und Brennen in den Augen und war schon ein paar Mal,
+wie krampfhaft zusammengefahren -- jedenfalls in Folge des gestrigen
+Balles.
+
+Unten brannten die Gaslaternen, aber sie erleuchteten die Straße nicht,
+sondern warfen nur einen matten, flackernden Schein auf das schmutzige,
+von halbgeschmolzenem Eis bedeckte Pflaster, denn selbst die
+Glasscheiben schützten die Flammen nicht vor =diesem= Sturm, der sie
+rastlos hin und her wehte und manchmal auszulöschen drohte. Die Straße
+selbst war menschenleer, denn wer heute nicht nothgedrungen =mußte=,
+verließ wohl nicht das schützende Haus, um sich einem solchen Unwetter
+preiszugeben. Nur dann und wann floh ein einzelner später Wanderer
+entweder mit dem Wind durch aufspritzenden Schmutz und Schlamm dahin,
+oder kämpfte -- den Oberkörper weit vorn über gebeugt -- =gegen= den
+Sturm, und dem Wetter in die Zähne, seine beschwerliche Bahn.
+
+In langen Zwischenpausen rollte auch wohl einmal ein festgeschlossener
+Wagen vorüber, aber das Geräusch desselben machte die gleich nachher
+wieder eintretende Oede nur noch fühlbarer, als daß es sie unterbrochen
+hätte.
+
+Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken bedeckt, und der hinter
+ihnen stehende Vollmond konnte nicht mehr thun, als daß er manchmal ihre
+riesigen, beweglichen Massen in einem matten Phosphorschimmer sichtbar
+werden ließ. Aber selbst dies geschah nur auf Momente, und jedes
+Mal darnach war es, als ob der Sturm nur Athem geholt und neue Kraft
+gewonnen hätte, um so viel rasender zum Kampf herbei zu eilen.
+
+»Merkwürdig, wie das da draußen tobt und gießt,« brach der Justizrath
+endlich das lange Schweigen indem er den Rauch seiner Cigarre gegen die
+Fensterscheiben blies. »Das ist nun Februar mit Mondschein im Kalender
+wo man eigentlich eine hellkalte, ruhige Winternacht zu fordern hätte.
+'S ist aber gerade, als ob die ganze Welt ihre Jahreszeiten umdrehte,
+denn eingehalten werden sie wahrlich nicht mehr zur rechten Zeit.«
+
+Er hatte sich dabei wieder dem Tische zugedreht, und sah jetzt wie seine
+Frau mit gespannter Aufmerksamkeit auf dem Sopha saß, als ob sie auf
+irgend etwas horche. Zu gleicher Zeit drang, durch die Wände und Decke
+aber gedämpft, der Ton einer Menschenstimme zu ihnen herüber, die
+jedenfalls ein geistliches Lied in lang gezogenen, schnarrenden Tönen
+sang. Der Justizrath lachte.
+
+»Das ist der verrückte Schuhmacher über uns, der jedesmal bei einem
+Sturm, aber besonders bei einem Gewitter, den Herr Zebaoth anschreit,
+und sich als größten Sünder des ganzen Weltalls denuncirt. Wenn diese
+Narrheit nicht auch ihre komische Seite hätte, könnte es Einem wirklich
+unheimlich dabei werden.«
+
+Der Justizrath hatte Recht. Die Stimme klang in der That unheimlich in
+diesem Aufruhr der Elemente und wenn der Wind dazu durch den Schornstein
+heulte und in die Schlüssellöcher pfiff, gab es einen Dreiklang, der
+Einem hätte das Haar zu Berge treiben können. Die Frau schauderte
+auch in sich selbst zusammen, allein sie erwiderte kein Wort, und der
+Justizrath, dem ihr Zucken nicht entging, fuhr fort:
+
+»Man kann nur gar nichts dagegen machen; nicht einmal polizeilich
+verbieten darf ich es ihm, denn geistliche Lieder zu singen ist eben
+nichts Strafbares, und daß der Mensch so eine gellende Stimme hat,
+lieber Gott, dafür kann er nichts; ich bezweifle sogar, daß er es selber
+weiß. Uebrigens -- es ist ihm vielleicht in anderer Weise beizukommen,
+denn seine Frau soll sich auch mit Kartenschlagen und allem möglichen
+anderen abergläubischen Hocuspocus beschäftigen, und wenn ich darin
+einmal einen Halt dafür bekomme, dann wollen wir der Geschichte rasch
+ein Ende machen.«
+
+»Was war das?« flüsterte die Frau und fuhr wie erschreckt halb von ihrem
+Sitz empor.
+
+»Was? -- das Klappern?« sagte der Justizrath, »wahrscheinlich hat wieder
+Jemand die Hausthür unten aufgelassen und was nicht festgenagelt
+ist, rasselt bei dem Sturm hin und her. Das wird eine vergnügte Nacht
+werden.«
+
+»Es war mir als ob Jemand klopfe --«
+
+»Nun jetzt kommt kein Besuch mehr,« lachte der Mann, »und wenn --«
+
+In dem Augenblick war es, als ob der Sturm seinen ganzen Angriff nur auf
+diesen Punkt concentrirt hätte. Mit einem wahren Wuthgeheul fuhr es den
+Schornstein herunter, und riß draußen an den Fenstern. Zu gleicher Zeit
+flog die Stubenthür auf und der kalte Zug strömte voll ins Zimmer, daß
+die Lampe hoch und düster aufflackerte.
+
+»Alle Wetter!« rief der Justizrath, erschreckt zur Thür springend und
+diese wieder schließend, »das wird denn doch beinah zu toll und das alte
+Nest so windschief, daß weder Fenster noch Thüren länger in ihren Fugen
+bleiben. Wenn der Wirth das nicht spätestens bis zum Frühjahr aus dem
+Grunde wieder herstellen läßt, kündige ich ihm wirklich das Logis. Man
+kann ja die Stuben auch fast gar nicht mehr erheizen.«
+
+Die Frau war, als die Thür aufflog, allerdings erschreckt
+zusammengefahren, hatte sich aber nicht weiter gerührt und saß jetzt
+still und regungslos. Nur mit ihrem Blick strich sie langsam, als ob sie
+irgend Jemandem mit den Augen folge, von der Thür fort, durchs Zimmer,
+bis zu dem Stuhl am Ofen, auf dem er stier und fest haften blieb.
+
+Ihr Mann hatte nicht gleich auf sie geachtet. Er zog die neben der
+Thür befindliche Klingel, um das Dienstmädchen herbeizurufen und befahl
+diesem dann nach der Hausthür hinunter zu sehen, wie auch den Hausmann
+zu bitten, daß er dieselbe heute Abend verschlossen halte. Man konnte es
+ja wahrlich hier oben im Hause vor Zug nicht aushalten.
+
+Darnach trat er in die Stube zurück, und es fiel ihm jetzt auf, daß
+seine Frau noch keine Silbe über die Störung geäußert hatte. Wie er sich
+ihr aber zuwandte, konnte ihm auch unmöglich der stiere, staunende
+Blick entgehen, den Auguste noch immer unverwandt auf den einen Punkt
+gerichtet hielt. Unwillkürlich sah er rasch dort hinüber, es ließ sich
+aber nicht das geringste Außergewöhnliche erkennen. Dort stand nur
+ein leerer Stuhl, und darüber hing ein alter Kupferstich, der eine
+Prügelscene aus irgend einer holländischen Dorfschenke darstellte.
+
+»Nun?« sagte er endlich und jetzt selber erstaunt -- »was hast Du nur?«
+
+Statt aller Antwort und ohne den Blick von dem festgehaltenen Punkt
+zu nehmen, hob die junge Frau langsam den rechten Arm in die Höhe und
+deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle.
+
+»Ja aber mein Kind --« wiederholte der Mann bestürzt, denn er konnte
+sich das wunderliche Betragen der Frau nicht erklären -- »ich begreife
+noch immer nicht, was Du willst. Was ist denn dort, und weshalb deutest
+Du auf den Stuhl und siehst so bestürtzt aus, als ob Dir ein Geist
+erschienen wäre?«
+
+»Siehst Du ihn nicht?« sagte die Frau leise, ohne ihre Stellung auch nur
+um eines Haares Breite zu verändern.
+
+»Wen denn?« rief Bertling halb ärgerlich und halb erschreckt noch einmal
+den Kopf nach der bezeichneten Richtung zu drehend.
+
+»Den fremden Mann,« erwiderte die Frau, die Worte aber viel mehr
+hauchend als sprechend, »der dort auf dem Stuhl am Ofen sitzt.«
+
+»Den fremden Mann? -- aber Kind, ich bitte Dich um Gotteswillen.«
+
+»Sprich nicht so laut. Wenn er die Augen zu mir hebt, ist es immer, als
+ob mir ein Messer durch die Seele ginge.«
+
+»Aber wie sollte denn der hierher gekommen sein,« lachte Bertling
+gutmüthig -- »sei doch vernünftig.«
+
+»Wie die Thür aufging,« flüsterte die Frau »trat er herein, ging still
+am Ofen vorüber und setzte sich dort nieder -- aber siehst Du ihn denn
+nicht?«
+
+»Mein liebes Herz« suchte sie der Justizrath zu beschwichtigen -- »wenn
+dort irgend Jemand auf dem Stuhle säße, so müßte ich ihn allerdings
+auch sehen, nicht wahr? Aber ich sehe Nichts als den leeren Stuhl. Komm
+Schatz, das ist wieder einer von Deinen häßlichen Träumen -- schüttle
+ihn ab -- Nun? -- ist er noch da?« setzte er lachend hinzu, als die Frau
+wie warnend die Hand gegen ihn hob.
+
+»Pst! sei ruhig!« sagte sie tonlos -- »jetzt regt er sich. Er sieht Dich
+an.«
+
+Bertling wurde es, dieser so bestimmt ausgesprochenen Ueberzeugung
+gegenüber, selber ein wenig unheimlich zu Muthe, wenn er auch recht
+gut wußte, daß das Ganze weiter Nichts sein konnte als eines jener
+verworrenen Traumbilder, von denen er gehofft hatte, daß sie bei seiner
+Frau nie mehr wiederkehren würden. Möglicher Weise hatten aber hier
+verschiedene Factoren zusammengewirkt, um den Geist der noch nicht
+vollständig Genesenen zu überreizen und krankhaft aufzuregen. Die
+Abspannung nach der gestern durchschwärmten Nacht -- das heutige
+Unwetter mit dem fatalen Klappern der Fenster und Thüren, der heulende
+Sturm, der da oben seine Gesangbuchverse abwimmernde Schuhmacher,
+vielleicht ein flüchtiges Unwohlsein mit in den Kauf; wer konnte denn
+wissen wie das Alles auf sie eingewirkt hatte und es blieb deshalb
+vor allen Dingen nöthig, sie von der Nichtexistenz ihres Traumbildes
+thatsächlich zu überzeugen -- nachher beruhigte sich ihre
+Einbildungskraft schon von selber.
+
+»Aber mein liebes Herz,« sagte er endlich -- »so mach' doch nur einmal
+diesem häßlichen Traum ein Ende -- -- --«
+
+»Traum?« rief aber jetzt die Frau ungeduldig, wenn auch immer noch mit
+vorsichtig gedämpfter Stimme -- »was Du nur mit Deinem Traum willst. Man
+träumt doch nur wenn man schläft, doch schlafe ich jetzt oder schläfst
+Du?«
+
+»Aber ich selber sehe doch gar Nichts.«
+
+»Nichts? Siehst Du denn nicht den kleinen grauen Mann dort neben dem
+Ofen sitzen, wie er den rechten Arm auf der Stuhllehne liegen hat und
+hier herüber sieht? Was er nur will. --«
+
+»Aber meine liebe Auguste so sei doch vernünftig,« rief der Justizrath,
+durch den Zustand wirklich beängstigt. »So überzeuge Dich doch nur
+selber.« --
+
+»Quäle mich nur nicht,« bat die Frau -- »von was soll ich mich denn
+überzeugen? Sehe ich ihn denn nicht da sitzen? -- Daß sie ihn nur
+hereingelassen haben.«
+
+»Nun gut,« rief Bertling, der wohl einsah, daß bloße Vernunftgründe
+nicht das Geringste fruchten würden, »dann will ich Dir =beweisen=,
+daß Du Dich irrst, und nachher wirst Du mir doch Recht geben. Sitzt er
+=noch= da?«
+
+Die Frau nickte mit dem Kopf.
+
+»Schön,« sagte Bertling, indem er entschlossen um den Tisch herum ging
+und der bezeichneten Stelle zuschritt, »dann wollen wir doch einmal
+sehen wie er sich =jetzt= benimmt.«
+
+Der Blick der Frau haftete aber nicht mehr auf dem Stuhl, sondern hob
+sich ein wenig und strich dann wieder langsam durch die Stube und zur
+Thür zurück.
+
+»Nun sieh,« sagte ihr Mann jetzt, indem er sich -- wenn auch mit
+einem unbehaglichen Gefühl auf denselben Stuhl niederließ, auf dem das
+Traumbild sitzen sollte -- »Du wirst mir doch jetzt zugeben, daß der
+Stuhl vollkommen leer war, oder Dein grauer Herr müßte mich sonst auf
+dem Schooß haben. -- Nun? -- was siehst Du denn jetzt wieder nach der
+Thür?«
+
+»Ja er ist fort,« lachte die Frau still vor sich hin. »Wie Du nur um
+den Tisch herumgingst, stand er auf, glitt wieder der Thür zu -- und
+hinaus.«
+
+»Aber die Thür ist ja noch fest zu. Er kann doch nicht --«
+
+Bertling hatte kaum Zeit zuzuspringen und seine Frau aufzufangen, denn
+ihr gehobener Arm sank matt am Körper herab, und die ganze Gestalt
+schien in sich selbst zusammenzubrechen. Sie konnte nicht ohnmächtig
+sein, aber es war als ob nach der gehabten Aufregung eine völlige
+Erschlaffung ihrer Glieder einträte. Er hatte sie auch kaum aufgehoben
+und auf das Sopha gelegt, als sie in einen festen Schlaf fiel.
+
+Der aber dauerte nicht lange. Schon nach kaum einer Viertelstunde wachte
+sie wieder auf und sah sich etwas verstört im Zimmer um.
+
+»Hab ich mich denn hier zum Schlafen niedergelegt?« sagte sie leise und
+sinnend -- »es muß ja schon spät sein.«
+
+Bertling hielt es für das Beste, von dem stattgefundenen Anfall heute
+Abend gar nichts zu erwähnen, da er nicht wissen konnte, wie es die
+Leidende aufnehmen würde. Wenn sie morgen wieder frisch und munter war,
+wollte er es ihr erzählen, und sie lachte dann wahrscheinlich selbst
+darüber.
+
+»Es ist halb zehn, mein Kind,« sagte er, »und Du bist müde von der
+gestern durchschwärmten Nacht. Ich glaube es ist das Beste wir gehen zur
+Ruhe.«
+
+»Ja,« sagte die Frau nach einer kleinen Pause, in der sie, wie
+überlegend, vor sich niedersah -- »ich muß wirklich hier eingeschlafen
+sein, denn ich habe schon geträumt. -- Was einem doch dabei für
+wunderliche Dinge durch den Kopf ziehen. -- Ich werde lieber schlafen
+gehen.«
+
+
+Zweites Capitel.
+
+Die Kaffeegesellschaft.
+
+Am nächsten Morgen schien Auguste die gestrige Erscheinung vollständig
+vergessen zu haben; sie erwähnte wenigstens kein Wort davon, und
+Bertling hatte sich in der Nacht ebenso überlegt, die ganze Sache weiter
+gar nicht zu berühren. Es würde sie nur beunruhigt haben, und konnte
+doch zu weiter nichts nützen. Er hätte freilich gern gewußt, ob ihr jede
+Erinnerung an die eingebildete Traumform verschwunden sei -- und fast
+vermuthete er das Gegentheil, denn sie blieb an diesem Tag besonders
+nachdenkend, hörte manchmal mitten in ihrer Arbeit auf und sah eine
+Weile still vor sich nieder. Aber er mochte sie auch nicht fragen, denn
+hatte sie es wirklich vergessen, so mußte sie dadurch nur mißtrauisch
+gemacht werden.
+
+Auch der Arzt, mit dem er darüber sprach, rieth ihm in keinerlei Weise
+auf jenen Zustand hinzudeuten. Solche Erscheinungen kämen -- wie
+er meinte -- im geistigen Leben der Frauen gar nicht so selten vor,
+stumpften sich aber, wenn man ihnen Ruhe ließe, gewöhnlich mit der Zeit
+von selber ab. Das einzige wirksame Mittel dagegen sei Zerstreuung --
+leichte, am besten humoristische Lectüre, geselliger Verkehr etc. -- Sie
+dürfte nicht zuviel allein gelassen werden, dann wichen diese Zustände
+auch von selber wieder.
+
+Bertling irrte sich übrigens, wenn er glaubte, jene eingebildete
+Erscheinung wäre spurlos und vielleicht unbewußt an seiner Frau
+vorübergegangen. Unmittelbar nach ihrer halben Ohnmacht besann sie sich
+allerdings nicht gleich darauf und schlief in ihrer damaligen Abspannung
+auch bald ein. Aber selbst schon in der Nacht kam ihr die Erinnerung
+des scheinbar Erlebten, und am nächsten Morgen, als das schon fast
+verschwommene Bild wieder klarer und deutlicher vor ihre Seele trat,
+malte sie sich die Einzelheiten mehr und mehr im Stillen aus, bis sie
+auch die kleinsten, unbedeutendsten Umstände wieder scharf und bestimmt
+herausgefunden hatte. -- Aber sie erwähnte gegen ihren Gatten nichts
+davon.
+
+Einmal wollte sie ihn nicht ängstigen, weil er jenem Phantasiegebild
+vielleicht zu viel Wichtigkeit beigelegt hätte, und dann -- war
+sie selber noch nicht einmal mit sich im Klaren, ob es wirklich ein
+Phantasiegebild gewesen sei oder nicht. Sie fürchtete auch den Spott
+ihres Mannes, wenn sie ihm nur eine Andeutung gemacht hätte, daß sie
+eine solche Erscheinung für möglich halte, und grübelte dabei im Stillen
+weiter über das Geschehene.
+
+In dieser Zeit, in welcher sie sich auch immer noch etwas angegriffen
+fühlte, ging sie wenig aus und da ihr Mann durch eine Masse dringender
+Geschäfte über Tag abgehalten wurde, ihr Gesellschaft zu leisten, las
+sie viel -- jetzt aber am liebsten Bücher, die sich mit dem geistigen
+Leben des Menschen beschäftigten und oft Dinge besprachen, die ihr
+in ihrem überdieß aufgeregten und reizbaren Zustand weit besser fern
+gehalten wären. So kam ihr auch das Buch der Seherin von Prevorst in die
+Hände, und gab ihrem, schon außerdem zum Uebernatürlichen neigenden
+Sinn, nur noch mehr Nahrung.
+
+Wenn es überhaupt auf Erden Menschen gab, die mit jener, von anderen
+Sterblichen nur geahnten Welt in unmittelbarer Verbindung standen, die
+mit ihren körperlichen Augen das sehen konnten was um sie her =bestand=,
+während es der Masse verborgen und unsichtbar blieb, warum sollte sie
+dann nicht auch zu diesen gehören können? -- warum sollte gerade das,
+was sie deutlich und klar =geschaut= hatte, nur allein bei ihr eine
+Täuschung der Sinne gewesen sein? Daß aber etwas Aehnliches nicht allein
+möglich, sondern schon wirklich an den verschiedensten Orten =geschehen=
+sei, davon liefert ihr gerade die Seherin von Prevorst den sichersten
+Beweis, denn das Buch brachte beglaubigte Thatsachen, und immer fester
+wurzelte bei ihr die Ueberzeugung, daß auch sie zu jenen bevorzugten
+Wesen gehöre.
+
+Keineswegs erweckte aber dies, sich nach und nach bei ihr bildende
+Bewußtsein, ihre Furcht vor dem, was ihr etwa noch begegnen könne. Im
+Gegentheil freute sie sich viel eher einer solchen Kraft, und beschloß
+sogar mit ruhigem kalten Blut Alles zu prüfen, was ihr in solcher Art an
+übernatürlichen Gebilden auftauchen und sichtbar werden sollte.
+
+Trotz dieser geistigen Stärke, die sie gewonnen zu haben glaubte, litt
+aber doch ihr Körper unter der fast gewaltsam hervorgerufenen Aufregung,
+und wenn auch Bertling den wahren Grund nicht ahnte, konnte ihm doch
+nicht entgehen, daß seine Frau in der letzten Zeit sichtbar bleicher und
+leidender geworden sei. Er schrieb das aber dem vielen Stuben sitzen
+zu, und bat sie mehr an die frische Luft zu gehen und sich Bewegung
+zu machen. Ja er drang sogar in sie -- was er sonst nie gethan -- ihre
+verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen, und dann und wann
+auch bei sich zu sehen, da er mit Recht von einer solchen Zerstreuung
+wohlthätige Wirkung für sie hoffte.
+
+Auguste, wenn sie auch nicht das Bedürfniß danach fühlte, beschloß doch
+seinen Wunsch zu erfüllen. Die langen Stunden, die sie daheim allein
+saß, wurden ihr selber zuletzt drückend, und außerdem hatte sie ja
+manche Bekannte, mit der sie recht gern verkehrte und wo sie wußte, daß
+sie gern gesehen war.
+
+Am Besten von Allen hatte sie stets mit einer Jugendfreundin, der
+jetzigen Hofräthin =Janisch=, harmonirt; Pauline Janisch war eine
+prächtige junge Frau, aufgeweckt dabei und lebenslustig, und da sie in
+müssigen Stunden auch gern ein wenig schwärmte und ganz vorzüglich
+für alles Uebersinnliche leicht empfänglich war -- ohne sich aber davon
+beherrschen zu lassen -- fühlte sie sich zu dieser besonders hingezogen.
+
+Pauline wohnte in der nämlichen Straße mit ihr; als sie dieselbe aber
+heute aufsuchte, bewegte sie sich in dem zwar kleinen, doch gewählten
+Kreis einer Caffeegesellschaft, wo allerdings nichts Uebersinnliches
+gesprochen wurde. Nur über die allergebräuchlichsten Themata solcher
+Zusammenkünfte fand eine Verhandlung statt, als da sind: Theater und
+was dazu gehört -- nämlich das Privatleben der Bühnenmitglieder --
+Dienstboten-Noth, Sittengeschichte der Stadt mit Vorlage einzelner,
+besonders hervorzuhebender Beispiele, und Klagen über die Vergnügungen
+und Beschäftigungen der Männer =außer= dem Haus.
+
+Erst das eintreffende Tageblatt gab der Unterhaltung -- nachdem man
+zwei Verlobungsanzeigen und ein Heirathsgesuch gründlich betrachtet
+und erschöpft hatte -- eine andere Wendung, und zwar durch einen
+wunderlichen Vorfall in der Stadt selber, der in dieser Nummer eine
+Erwähnung fand.
+
+Ein in der äußersten Vorstadt gelegenes Haus nämlich, das früher einmal
+zu einer Knopffabrik benutzt worden, jetzt aber schon seit mehreren
+Jahren, durch das Scheitern des Unternehmens leer und verödet stand, war
+vor Zeiten in den Ruf gekommen, daß es dort umgehe, und man hatte sich
+Monde lang die merkwürdigsten Geschichten davon erzählt. Anderes kam
+aber dazwischen, das ganze Gebäude wurde außerdem nicht mehr benutzt,
+und da Niemand darin wohnte, schlief auch das Gerücht endlich ein, bis
+der jetzige Eigenthümer vor ganz kurzer Zeit die ziemlich vom Wetter
+mitgenommenen Baulichkeiten an einen Fremden verkaufte, der dort eine
+Kammergarnspinnerei anlegen wollte.
+
+Jetzt erinnerte man sich allerdings wieder lebhaft der früheren
+Gerüchte, die aber in den ersten Wochen auch nicht die geringste
+Bestätigung fanden. Der Fabrikant war mit zwölf oder sechszehn Arbeitern
+dort eingezogen und die Leute, die größtentheils noch nicht einmal von
+den Gerüchten gehört haben konnten, hatten die Nächte, die sie dort
+zugebracht, vortrefflich und ungestört geschlafen. -- Es dachte schon
+Niemand mehr an die früheren Spuckgeschichten.
+
+Da erzählte man sich in der Stadt, sämmtliche Arbeiter in der Fabrick
+hätten ihrem Brodherren den Dienst gekündigt. Es wurde dem anfangs
+widersprochen, aber das Gerücht fand immer festeren Boden bis denn das
+Tageblatt heute die Nachricht ganz sicher bestätigte. Es geschah das
+durch die Aufforderung des Fabrikherrn, um neue Arbeiter herbeizurufen,
+da sich die bisherigen, wie hier gedruckt stand, »durch abergläubischen
+Unsinn hätten bewegen lassen, seinen Dienst zu quittiren.«
+
+Es blieb jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen, daß die bisherigen
+Gerüchte nicht gelogen haben konnten, sondern etwas Wahres an der Sache
+sein müsse und die Aufregung der kleinen Gesellschaft wurde noch erhöht,
+als sich plötzlich herausstellte, daß sie selbst in ihrer Mitte ein
+Individuum entdeckten, das ihnen von dem, jetzt jedes andere Interesse
+verschlingenden Platz die genauesten und direktesten Nachrichten geben
+konnte.
+
+Es war das die Frau Präsident Cossel, eine schon ältliche Dame mit etwas
+rother Nase, aber einem sehr entschieden energischen Zug um den Mund.
+Die Dame hielt sich auch in der That nie bei Vermuthungen auf, sondern
+sprach stets was sie wußte oder nicht wußte auf das aller Bestimmteste
+aus. Widerspruch duldete sie nie und wenn man behauptet, daß die Haare
+den Charakter des Menschen darthun, so mochte das recht gut auch bei der
+Frau Präsidentin ihre Bestätigung finden, denn eben so starr und fest
+gerollt wie die vier falschen Locken, die sie vorgebunden trug, war ihr
+Gemüth.
+
+»Es ist richtig -- ich weiß es; es spukt drüben,« sagte sie, indem
+sie ihre Tasse zum vierten Mal zum Füllen reichte, und ihre schönen
+Zuhörerinnen zweifelten viel weniger an der, jetzt als unumstößlich
+festgestellten Thatsache, als daß sie sich wunderten, wie die Frau
+Präsidentin diesen doch sicher höchst interessanten Fall so lange still
+bei sich getragen und wirklich erst auf äußere Veranlassung von sich
+gegeben habe.
+
+Die Frau Präsidentin wohnte aber dem besagten Fabrikgebäude schräg
+gegenüber, und konnte also, als allernächste Nachbarin desselben --
+wenn irgend Jemand, Näheres darüber wissen. Die Neugier der Damen war --
+hierbei sehr verzeihlich -- auf das Höchste gespannt.
+
+»Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!« -- Gegen die =Thatsache=
+war Nichts mehr einzuwenden, und es blieb jetzt nur noch übrig die
+Einzelheiten derselben zu erfahren. Die Frau Präsidentin wußte Alles.
+
+Die ersten Nächte waren die neu eingezogenen Leute vollkommen
+unbelästigt geblieben, nur zu bald aber brach plötzlich -- und natürlich
+genau um Mitternacht -- ein donnerndes Getöse im ganzen Hause los, daß
+den Insassen das Haar auf dem Kopfe sträubte. Ketten klirrten über die
+Treppen, die Balken krachten, als ob furchtbare Gewichte darauf geworfen
+würden, die Thüren schlugen auf und zu, die Fenster klapperten -- und
+das bei sternenheller Nacht und todter Windstille -- und ein unheimlich
+flackernder Schein zuckte aus einer Stube in die andere durch das ganze
+Haus. Das Nämliche wiederholte sich in den folgenden Nächten, nur
+mit der Zugabe, daß den Schlafenden die Decken weggerissen wurden.
+Allerdings glaubten die Leute anfangs an einen Schabernack, den ihnen
+muthwillige Gesellen spielten, und um kein Aufsehen zu erregen, wurde
+die Polizei heimlich von dem Unfug in Kenntniß gesetzt und traf in einer
+der Nächte kurz vor zwölf Uhr dort ein, um die Urheber auf frischer That
+zu ertappen. Ja ihr Aufpassen half ihnen nichts, denn erwischen konnten
+sie Niemand, während gerade ihnen am tollsten mitgespielt wurde. Es
+schlug ihnen die Hüte vom Kopf und die Stöcke aus der Hand, und die
+Leute verließen -- wie die Frau Präsidentin behauptete -- in Entsetzen
+das Haus.
+
+Von =der= Nacht an waren die übrigen Arbeiter aber auch nicht mehr zu
+halten, und obgleich der Fabrikherr -- aus leicht zu errathenden Gründen
+-- ein tiefes Stillschweigen über alles Vorgefallene beobachtete, und
+die Leute selber sich ebenfalls schienen das Wort gegeben zu haben,
+nichts über die Sache verlauten zu lassen, war doch das allein der wahre
+Thatbestand.
+
+»Und woher es die Frau Präsidentin wußte?« -- wie die etwas muthwillige
+Frau Hofräthin Janisch frug. -- Die Dame blitzte sie zwischen den Locken
+hervor mit einem wahren Dolchblick an.
+
+»Woher ich das weiß, Frau Hofräthin?« wiederholte sie, und absichtlich
+mit etwas gehobener Stimme -- »ich denke, ich habe meine Quellen --
+selbst wenn mein Mann nicht Präsident wäre, Sie wissen doch wohl --
+oder =sollten= es wenigstens wissen, daß es zwischen Ehegatten kein
+Amtsgeheimniß giebt. -- Aber noch mehr,« setzte sie plötzlich mit
+geheimnißvollem Ton hinzu, »Sie wissen doch, daß sich der junge Belldan
+gestern Morgen um's Leben gebracht hat?«
+
+»Ei gewiß,« sagte die Frau Kreisräthin Barthels, »das ist ja
+stadtbekannt. Er soll ein paar falsche Wechsel ausgestellt haben, und
+wie ihn sein Vater aus dem Hause stoßen wollte, ging er in das Holz und
+schoß sich eine Kugel durch den Kopf.«
+
+»Bah,« sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung und
+ganz entschiedener Betonung der nächsten Worte, »der junge Mensch hat
+nie falsche Wechsel gemacht, aber aus Uebermuth die letzte Nacht in dem
+Spukhaus geschlafen und darnach -- konnte er nicht länger leben.«
+
+Was er dort gesehen hatte vermochte die Frau freilich selber nicht zu
+sagen, aber schon die Andeutung war interressant genug, um eine weitere
+Besprechung derselben außer Frage zu stellen und das Gespräch, einmal in
+diese Bahn gelenkt, blieb nun natürlich in dem nämlichen Gleis und
+ging von dem Spukhaus auf Gespenstergeschichten und Erscheinungen im
+Allgemeinen über.
+
+Der Abend rückte dabei heran, aber die Gesellschaft protestirte von der
+kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt, gegen die Forderung
+der Präsidentin, Licht herbeizuschaffen. Es ging Nichts über eine solche
+Unterhaltung in der Dämmerung und als jetzt die Gaslaterne draußen auf
+der Straße angezündet wurde, und ein ordentlich unheimliches Streiflicht
+in das düstere Zimmer warf, rückten die Damen nur desto näher zusammen
+und die Frau Kreisräthin behauptete, es gäbe doch gar kein wonnigeres
+Gefühl in der Welt, als »wenn es Einen so ein Bischen gruselte.«
+
+Nur Auguste, Bertlings Frau, hatte bis jetzt keinen Antheil an dem
+Gespräch genommen, als vielleicht hie oder da einmal eine Frage
+einzuwerfen, aber deshalb mit nicht weniger Aufmerksamkeit den
+verschiedenen Geschichten gelauscht, die bald von dieser bald von
+jener Dame zum Besten gegeben wurden und natürlich alle mit jener
+übersinnlichen Welt in Verbindung standen.
+
+In Alburg wurde auch noch das Tischklopfen und die Geisterschrift
+mit Hülfe einer besondern mit Bleistift verbundenen Vorrichtung
+leidenschaftlich getrieben und viele Damen beschäftigten sich heimlich
+damit -- öffentlich durften sie es ja nicht, weil man das vollkommen
+Nutzlose dieser Experimente lange eingesehen hatte, und die auslachte,
+die es trotzdem noch ausübten. Eine Masse von Beispielen wurden
+jetzt von entzifferten Briefen, von Zahlen, Nachrichten Entfernter,
+Schutzgeistern und all derartigen Ergebnissen der Zauberkunst erwähnt,
+dann sprang das Gespräch auf Ahnungen, Doppelgänger, Erscheinungen über
+und die Frau Präsidentin erklärte mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit --
+was die Thatsache außer allen Zweifel stellte, -- daß ihr erster Mann --
+Gott habe ihn selig -- ihr zwei Mal schon erschienen sei: Das erste Mal
+als sie sich wieder verlobt habe. -- Das zweite Mal bei -- einer andern
+Gelegenheit -- sie sagte nicht welcher -- und beide Male in seinem
+grauen Schlafrock mit rothem Futter und hellblauen Quasten wie »der
+Selige« immer daheim gekleidet gewesen.
+
+Auguste lehnte schweigend in ihrem Fauteuil, anscheinend theilnahmlos,
+aber mit ihrem Geist in reger Thätigkeit, und vor ihrem innern Auge
+stieg die Gestalt wieder empor, die sie an jenem Abend gesehen hatte. --
+Aber sie erwähnte kein Wort davon; es war das ihr eigenes Geheimniß, und
+es kam ihr der Gedanke, als ob sie jenes Wesen erzürnen müsse, wenn
+sie sein Dasein einem andern Menschen verrathe. So ganz mit sich selber
+beschäftigte sie sich dabei, daß sie ordentlich erschrak, als die
+kleine Gesellschaft plötzlich aufbrach, um in ihre eigenen Wohnungen
+zurückzukehren. Es war sieben Uhr und damit Zeit geworden daheim
+den Herren Ehegatten das Abendbrot zu bereiten. Der =Caffee= hatte
+überhaupt, durch solch Gespräch gewürzt, weit länger gedauert, als das
+sonst je der Fall gewesen.
+
+Die lebhafte Scene des Ankleidens und Abschiednehmens verdrängte jetzt
+auch bald all die düsteren Gedanken und Bilder, die den ganzen Abend
+über dem kleinen Kreis geschwebt. Es war Licht gebracht, und die Meisten
+hatten schon lange den ganzen heraufbeschworenen Spuk vergessen, --
+Auguste nicht.
+
+Sie nahm Abschied von der Freundin und ging die wenigen Schritte nach
+ihrer eigenen Wohnung, kaum etwas mehr als über die Straße hinüber, --
+allein immer aber war ihr Geist noch mit jenem Traumbild beschäftigt,
+das ihr durch die Unterhaltung da drüben wieder in ihrer ganzen Schärfe
+vor der Seele stand.
+
+Still und schweigend stieg sie die Stufen hinan -- die Vorsaalthür war
+offen -- auf dem Vorsaal selbst brannte kein Licht, aber die Gasflamme
+der Treppe warf ihren Schein durch das über der Thür angebrachte
+Fenster. Sie wußte bestimmt, ihr Mann war jetzt zu Haus und in seiner
+Stube, wo er gewöhnlich bis zum Abendbrot allein arbeitete. Sie ging
+durch ihr eigenes Zimmer nach seiner Thür, öffnete dieselbe, stand einen
+Moment in sprachlosem Entsetzen auf der Schwelle und brach dann mit
+einem halblautem Schrei und ehe ihr Gatte zuspringen und sie halten
+konnte, bewußtlos in sich zusammen.
+
+
+Drittes Capitel.
+
+Der unheimliche Besuch.
+
+Der Justizrath war an dem Abend beschäftigt gewesen, eingelaufene
+Actenstücke durchzusehen und zu erledigen. Die Zeit verging ihm dabei so
+rasch, daß er die Abwesenheit seiner Frau -- die er überdies bei Freund
+Janisch gut aufgehoben wußte, gar nicht bemerkte.
+
+Im Verlauf seiner Arbeit war er auch genöthigt gewesen ein paar Briefe
+zu schreiben, die noch vor sieben Uhr auf die Post mußten. Er hatte das
+Mädchen damit fortgeschickt und saß wieder über seinen Papieren als es
+draußen klingelte und er selber hingehen mußte, um zu öffnen.
+
+Draußen stand ein Fremder -- anständig angezogen, ein kleiner
+schmächtiger Mann in dunkler Kleidung, der mit dem Hute in der Hand sehr
+bescheiden frug, ob er die Ehre habe den Herrn Justizrath Bertling zu
+sprechen.
+
+»Mein Name ist Bertling, was steht zu Ihren Diensten?«
+
+»Würden Sie mir gestatten ein paar Worte allein an Sie zu richten?«
+frug der kleine Mann, wie schüchtern, und seine weiten, glänzenden Augen
+hafteten dabei fragend auf dem Justizrath.
+
+Diesem war die Störung eben nicht besonders gelegen, aber der Fremde sah
+so bescheiden und anspruchslos aus und seine Frage klang so dringend,
+daß er ihm die Bitte auch nicht abschlagen mochte.
+
+»Dann sein Sie so gut und kommen Sie mit in mein Zimmer,« sagte der
+Justizrath und ging seinem, etwas späten Besuch voran, ohne jedoch die
+Vorsaalthür wieder zuschließen.
+
+Im Studierzimmer Bertlings brannte die Lampe etwas düster, aber doch
+hell genug, um die Züge des Fremden ziemlich deutlich erkennen zu
+können. Er hatte eine hohe Stirn, von der er das schwarze schon dünn
+gewordene Haar zurückgestrichen trug, und ein paar große sprechende
+Augen, aber seine Züge sahen bleich und leidend aus; die Backenknochen
+traten auffallend hervor und in dem ganzen Wesen des Mannes lag etwas
+Scheues und Gedrücktes. Der Justizrath nöthigte ihn durch eine
+Bewegung mit der Hand auf das Sopha, aber der Fremde schien diese Ehre
+abzulehnen, denn er ließ sich auf dem nächsten Stuhl am Ofen nieder,
+und zwar seitwärts, um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren und dabei
+legte er den rechten Arm über die Lehne des nämlichen Stuhles.
+
+Bertling entging übrigens nicht, daß sich sein Besuch durch irgend etwas
+gedrückt fühlte, und theils aus angeborener Gutmüthigkeit, theils mit
+dem Wunsch die unwillkommene Störung so viel als möglich abzukürzen,
+sagte er freundlich:
+
+»Und mit was kann ich Ihnen dienen?«
+
+Der Fremde hatte noch keine Zeit zum Antworten gehabt, als nebenan eine
+Thür ging und da Bertling, der recht gut wußte, daß das Mädchen kaum von
+der Post zurück sein konnte, eben aufstehen wollte, um nachzusehen,
+wer da wäre, öffnete sich die Seitenthür -- seine Frau stand auf der
+Schwelle, hob langsam den rechten Arm und brach dann, ohne weiter
+ein Wort, eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend, besinnungslos
+zusammen.
+
+In tödtlichem Schreck sprang ihr Gatte zu, hob ihren Kopf auf sein Knie,
+strich ihr in seiner Herzensangst die Stirn, rieb ihr die Schläfe und
+rief sie mit allen Liebesnamen, um sie zum Leben zurückzubringen. Als
+das aber Alles vergeblich blieb, hob er sie auf und trug sie auf ihr
+eigenes Sopha im nächsten Zimmer und sprang dann zurück nach der Lampe.
+Er wollte dabei den Fremden bitten, ihm sein Anliegen ein ander Mal
+vorzutragen, aber der Stuhl war leer -- der Fremde fort -- er hatte
+ihn gar nicht weggehen sehen, aber auch jetzt wahrlich keine Zeit, sich
+weiter um ihn zu bekümmern. Er trug die Lampe hinüber und rieb Stirn und
+Schläfe seiner Frau mit Eau de Cologne.
+
+Glücklicher Weise kam auch jetzt das Mädchen, das recht frisches Wasser
+bringen mußte, und nach wenigen Minuten schlug Auguste die Augen wieder
+auf. Anfangs freilich schaute sie noch scheu und wie furchtsam umher,
+als sie sich aber in ihrem eigenen Zimmer fand, beruhigte sie sich bald
+und lehnte jetzt nur noch etwas bleich und erschöpft im Sopha.
+
+»Aber ich bitte Dich um Gottes Willen, liebes Kind, was hattest Du denn
+nur auf einmal« frug jetzt Bertling durch diese plötzliche Ohnmacht
+nicht wenig beunruhigt -- »warst Du denn schon vorher unwohl?«
+
+»Nein,« sagte die Frau leise, »mir fehlte gar nichts, aber -- als ich in
+Dein Zimmer kam --«
+
+»Ich habe heut Nachmittag sehr viel geraucht,« ergänzte Bertling,
+»und der rasche Wechsel aus der frischen Luft in den Tabacksqualm hat
+vielleicht den Unfall herbeigerufen.«
+
+»Nein,« wiederholte die Frau mit dem Kopf schüttelnd, »das -- das war
+es nicht -- ich war vollkommen gesund -- an den Tabacksgeruch bin ich ja
+auch gewöhnt, aber -- als ich in Dein Zimmer trat sah ich --«
+
+»Aber was denn mein süßes liebes Herz,« bat der Mann, »so sprich doch
+nur; Du ängstigt mich ja noch viel mehr durch Dein Schweigen. -- Was
+sahst Du denn?«
+
+»Denselben grauen Mann,« hauchte die Frau mit kaum hörbarer Stimme
+»-- den ich bei dem Sturm in Deinem Zimmer sah --«
+
+»Aber liebes, liebes Kind,« bat der Mann erschreckt und zugleich
+beunruhigt, daß seine Frau jenes Traumbild, wie er im Stillen gehofft,
+nicht etwa vergessen habe, sondern noch voll und scharf im
+Gedächtniß trage -- »sieh nur, was für einen tollen Streich Dir Deine
+Einbildungskraft gespielt hat. Das war ja doch kein Gespenst, was Du
+gesehen, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, der kurz vor Dir zu
+mir kam und mich zu sprechen wünschte.«
+
+»So hast Du ihn diesmal auch gesehen?« rief die Frau rasch und
+erschreckt.
+
+»Gewiß,« lächelte Bertling, »und er ist auch gar nicht wie ein Geist
+eingetreten, sondern hat draußen geklingelt und ich habe ihm selber die
+Vorsaalthür aufgemacht.«
+
+»Und ist er =noch= bei Dir?« rief die Frau, sich rasch im Sopha
+aufrichtend.
+
+»Nein,« lautete die Antwort -- »wie Du ohnmächtig wurdest, muß er
+fortgegangen sein, denn als ich nach der Lampe zurücksprang, war er
+verschwunden.«
+
+»Verschwunden?«
+
+»Nun hoffentlich nicht in die Luft,« lachte Bertling, aber doch etwas
+verlegen, denn es fiel ihm jetzt auf einmal ein, daß der Fremde in
+seinem ganzen Wesen wirklich etwas Räthselhaftes gehabt habe, und
+dabei merkwürdig rasch aus dem Zimmer gewesen sei. Wie =war= er nur
+hinausgekommen, denn er erinnerte sich nicht gesehen oder gehört zu
+haben, daß die Thür geöffnet wurde, was ihm doch kaum hätte entgehen
+können -- »er -- er wird fortgegangen sein, als er sah, daß ich mich
+nicht weiter mit ihm abgeben konnte.«
+
+Seine Frau erwiderte nichts darauf. Sie schaute eine ganze Weile sinnend
+vor sich nieder, endlich sagte sie leise:
+
+»Er saß auf dem nämlichen Stuhl, auf dem ich ihn damals gesehen habe
+-- genau so wie in jener Nacht, mit dem rechten Arm auf der Lehne --
+er trug den nämlichen grauen Rock und sah eben so bleich aus und hatte
+dieselben großen geisterhaften Augen.«
+
+»Aber liebe, liebe Auguste« bat der Mann, jetzt wirklich beunruhigt, »so
+gieb Dich doch nur nicht solch thörichten kindischen Gedanken hin, und
+mische nicht eine wirklich menschliche, wahrscheinlich sehr unbedeutende
+Persönlichkeit, mit Deinen Traumbildern zusammen. -- Uebrigens,« setzte
+er rasch hinzu -- »muß ihm ja auch die Rieke auf der Treppe begegnet
+sein, denn sie kam unmittelbar nach Dir -- Rieke!« rief er dann zur Thür
+hinaus -- »Rieke!«
+
+»Jawohl --«
+
+»Kommen Sie einmal einen Augenblick herein.«
+
+Die Gerufene steckte den Kopf zur Thür herein.
+
+»Soll ich was?«
+
+»Wie Sie vorhin zurückkamen, ist Ihnen da Niemand im Haus begegnet?«
+
+»Doch, Herr Justizrath --«
+
+»Nun siehst Du, liebes Kind -- und wie sah er aus?«
+
+»Er!« sagte die Köchin etwas erstaunt -- »es war die Heßbergern, dem
+Schuhmacher seine Frau von oben, die noch einmal unten in den Laden
+ging, um für ihren Mann Branntewein zu holen. Der kriegt Abends immer
+Durst, und sie trinkt dann auch mit.«
+
+»Unsinn,« brummte der Justizrath -- »was geht mich die Frau an -- ich
+will wissen, ob Sie im Haus keinem =Mann= begegnet sind?«
+
+»Einem Mann?«
+
+»Einem anständig gekleideten Herrn in einem grauen oder dunklen Rock,
+der hier oben bei mir war?«
+
+»Ich habe Niemanden gesehen,« sagte das Mädchen erstaunt mit dem
+Kopf schüttelnd »und so lange ich hier oben bin, ist auch Niemand
+fortgegangen, denn ich habe die Thür gleich hinter mir zugeriegelt und
+die Kette vorgehangen.«
+
+Die Frau nickte leise vor sich hin, Bertling aber, ärgerlich darüber,
+daß er eine verfehlte Zeugenaussage veranlaßt, rief:
+
+»Nun, denn ist er =vorher= gegangen; die Rieke kann ihm auch eigentlich
+gar nicht begegnet sein, denn er muß doch eine ganze Weile früher die
+Stube verlassen haben. So viel bleibt sicher, in den Boden hinein ist
+er nicht verschwunden -- gehen Sie nur wieder an Ihre Arbeit Rieke -- es
+ist gut --.«
+
+Die Rieke zog sich an das Heiligthum ihres Heerdes zurück, griff dort
+die Wassereimer auf und ging nach dem Brunnen hinunter, um frisches
+Wasser zu holen. Unten im Haus begegnet ihr des Schusters Frau und das
+Mädchen, mit dem eben bestandenen Examen noch im Kopf sagte zu dieser:
+
+»Haben =Sie= denn vorhin einen Mann gesehen, Heßbergern, der von uns
+herunterkam, wie Sie aus dem Haus gingen?«
+
+»Ich? -- nein,« sagte die Frau -- »was für einen Mann?«
+
+»Ja ich weiß es auch nicht, er soll einen grauen Rock angehabt haben.«
+
+»Und was ist mit dem?«
+
+»Gott weiß es,« brummte die Rieke -- »er muß auf einmal weggewesen sein
+und Niemand hat ihn fortgehen sehen, und jetzt glaub ich, ängstigt sich
+die Frau darüber und ist sogar ohnmächtig geworden. -- Na Nichs für
+ungut« und damit schwenkte sie mit ihren Eimern zur Thür hinaus.
+
+Der Justizrath ging indessen ein paar Mal im Zimmer auf und ab, aber er
+dachte dabei nicht an den vollkommen gleichgültigen Fremden, sondern der
+Zustand seiner Frau beunruhigte ihn immer ernsthafter. So reizbar und
+erregt war sie noch nie gewesen, und während er geglaubt, daß sie all
+die alten Phantasieen längst und für immer vergessen hätte, fühlte er
+jetzt daß sie dieselben grade im Gegentheil still bei sich getragen und
+darüber vielleicht die ganze Zeit gebrütet habe. Wie um Gottes Willen
+konnte er ihr das nur aus dem Kopf bringen!
+
+»Es ist doch merkwürdig« sagte die Frau endlich nach längerer Pause,
+»daß =zwei= Personen denselben Gegenstand gesehen haben sollten.«
+
+»Gegenstand -- Thorheit!« brummte aber der Justiz-Rath. »Thu' mir den
+einzigen Gefallen, liebes Kind, und sprich nicht von Gegenständen, wo es
+sich um eine einfache vollkommen gleichgültige Persönlichkeit handelt.
+Gedulde Dich nur eine kurze Zeit, der Mensch kommt wahrscheinlich morgen
+früh wieder zu mir, und dann erlaubst Du mir wohl, daß ich ihn Dir
+vorstellen darf --«
+
+»Und bist Du wirklich überzeugt, daß es ein =Mensch= war?«
+
+»Aber Auguste --«
+
+»Hast Du ihn berührt?«
+
+»Ich? -- hm ich kann mich nicht besinnen -- es war auch keine
+Gelegenheit dazu da, denn einem fremden Menschen giebt man doch
+nicht gleich die Hand -- aber er ist doch wie andere Sterbliche
+hereingekommen.«
+
+»Hat er sich selber die Thür aufgemacht?«
+
+Der Justizrath sann einen Augenblick nach -- »Nein« sagte er dann,
+»das konnte er nicht, sie war ja verschlossen -- aber er muß sie selber
+wieder aufgemacht haben, um hinaus zu kommen; das wirst Du mir doch
+zugeben.«
+
+Auguste war aufgestanden, ging auf den Justizrath zu, legte ihren
+rechten Arm um seinen Nacken und ihr Haupt an seine Brust lehnend, sagte
+sie leise und bittend:
+
+»Sei nur nicht böse, Theodor, sieh ich kann ja Nichts dafür; und ich
+-- mir möchte das Herz selber darüber brechen, aber -- ich fühle es
+deutlich in mir, es ist eine Ahnung aus jener Welt, gegen die wir nicht
+ankämpfen können, mag sich der Verstand auch dawider sträuben wie er
+will. -- Wenn mir der =graue Mann= zum =dritten= Mal erscheint -- so
+=sterb= ich.«
+
+»Auguste, ich bitte Dich um Gottes Willen« rief jetzt der Mann in
+Todesangst, indem er sie fest an sich preßte -- »gieb nicht solchen
+furchtbaren Gedanken Raum. Sieh Kind, man hat ja Beispiele, daß Menschen
+nur allein einer solchen fixen Idee erlegen sind, wenn sie sich erst
+einmal in ihrem Geiste festgesetzt hatte. Erst war Trübsinn, dann
+Schwermuth die Folge und im Körper nahm Schwäche zu, je mehr jene Idee
+im Hirn seine verderblichen Wurzeln schlug.«
+
+»Aber Du sprichst immer von einer =Idee=, Theodor,« sagte die Frau --
+»habe ich denn die Gestalt nicht zwei Mal deutlich gesehen, so deutlich,
+wie ich Dich selber hier vor mir sehe?«
+
+»Das zweite Mal, ja, das gebe ich zu,« sagte der Mann in verzweifelter
+Resignation, und jetzt nur bemüht diese Phantasie durch Vernunftgründe
+zu bannen -- »denn das unglückselige Menschenkind, das gerade in der
+Zeit zu mir kommen mußte -- und ich wollte, Gott verzeih mir die Sünde,
+er hätte sonst was gethan -- saß wirklich da. Aber das erste Mal, liebes
+gutes Herz =mußt= Du mir doch zugeben, daß es nur das Spiegelbild einer
+Deiner Träume gewesen sein kann.«
+
+Die Frau antwortete nicht, schüttelte aber nur leise und kaum merklich
+mit dem Kopf.
+
+»Sieh, liebes Kind,« fuhr Bertling, der die Bewegung an seiner Schulter
+fühlte, fort: »Du wirst mir doch zugeben, daß ein Geist -- wenn wir
+wirklich annehmen wollen, es =gäbe= derartige Wesen, denen verstattet
+sei auf der Erde herumzuwandern und Unheil anzustiften -- körperlos sein
+muß, also nur ein Hauch, verdichtete Luft höchstens. Was aber keinen
+Körper hat, kann man ja doch nicht sehen, wenigstens nicht mit =unseren=
+Augen, die ja doch auch nur körperlich sind.«
+
+»Ich antworte Dir darauf durch ein anderes Beispiel,« sagte die Frau,
+sich von seiner Schulter emporrichtend. »Wir wissen doch, daß die Sterne
+am Himmel stehen, aber trotzdem sieht sie das Menschenauge am Tag nicht,
+mag der Himmel so rein sein wie er will -- aber man hat Vorrichtungen
+für das Auge, wodurch man sie doch erkennen kann, und warum sollte nicht
+das Auge einzelner Menschen so beschaffen sein, daß sie einzelne Dinge
+sehen können, die Anderen unsichtbar bleiben.«
+
+»Aber die Sterne sind auch =Körper=, liebes Herz, und noch dazu ganz
+respectable.«
+
+»Du weichst mir aus,« rief die Frau, »und ich leugne, daß unser Auge nur
+allein für =Körper= geschaffen ist. Der Schatten ist kein Körper und wir
+sehen ihn doch.«
+
+»Aber nur, wenn er auf einem Körper liegt, doch nie allein und
+selbständig in der Luft.«
+
+»Ich habe auch jene Gestalt nicht frei in der Luft gesehen,« sagte die
+Frau, die fest entschlossen schien, den einmal gefaßten Gedanken auch
+festzuhalten, »sondern vielleicht nur auf dem Hintergrund der Wand --«
+
+»Du bringst mich noch zur Verzweiflung, Herz, mit Deinem Gespenst,«
+sagte Bertling, während ein tiefer Seufzer seine Brust hob -- »wer Dir
+nur in aller Welt die tollen Gedanken in den Kopf gesetzt haben kann.«
+
+»Und nennst Du eine feste, innige Ueberzeugung mit diesem Namen,
+Theodor?«
+
+»Meine liebe Auguste,« flehte der Mann dringend, »mißverstehe mich
+nicht. Ich will Dir ja bei Gott nicht wehe thun, aber wie in aller Welt
+soll ich Dich nur überzeugen, daß -- daß Du Dich wirklich und wahrhaftig
+geirrt und ein körperliches Wesen mit einem geistigen in eine ganz
+unglückselige Verbindung bringst? -- Aber das hätte Alles nichts zu
+sagen, Herz, denn von =diesem= Irrthum hoff' ich Dich mit der Zeit zu
+überzeugen; nur =Das= beunruhigt mich, und noch dazu in der peinlichsten
+Weise, daß sich bei Dir eine -- ich weiß gar nicht, wie ich es nennen
+soll -- eine solche unglückselige Idee festgesetzt hat, die Du für eine
+Ahnung nahen Todes hältst. Wenn Du mich nur ein ganz klein wenig liebst,
+so bekämpfe diesen Gedanken mit allen Kräften, und von dem Uebrigen
+fürchte ich Nichts für Dich. Willst Du mir das versprechen?«
+
+»Aber lieber Theodor,« fragte die Frau -- »kann man denn eine
+=Ueberzeugung= noch bekämpfen?«
+
+Der Mann seufzte recht aus voller Brust. Endlich sagte er:
+
+»Dagegen läßt sich nicht streiten, und wir können nur hoffen, daß der
+liebe Gott noch Alles zum Besten wendet. Ich selber werde mir aber
+jetzt die größte Mühe geben, um Dir den Patron, der mich heute Abend mit
+seinem Besuch beehrte, als ein sehr körperliches Wesen vorzustellen, und
+wenn ich erst einmal =eine= Flanke Deines Luftschlosses niedergerannt
+habe, dann hoffe ich auch mit dem Uebrigen fertig zu werden. Bis dahin
+bitte ich Dich nur um eins und das mußt Du mir versprechen: Dich nicht
+absichtlich trüben Gedanken hinzugeben, sondern sie, so viel das nur
+irgend in Deinen Kräften steht, zu bewältigen -- das Uebrige findet sich
+dann. Thust Du mir den Gefallen?«
+
+»Von Herzen gern,« sagte die Frau seufzend, »ach Du weißt ja nicht,
+Theodor, wie furchtbar schmerzlich mir selber das Gefühl ist und ich
+will ja gern Alles thun um es zu ersticken.«
+
+»Dann wird auch noch Alles gut gehen, mein Kind,« erwiderte mit
+erleichtertem Herzen Bertling, indem er sie an sich zog und küßte --
+»und nun gilt es vor allen Dingen, meinen flüchtig gewordenen Besuch
+aufzutreiben, und da mir die Polizei zu Gebote steht, hoffe ich, daß das
+nicht so schwer sein soll.«
+
+»Ich fürchte, Du wirst ihn nicht finden,« sagte Auguste.
+
+»Das laß =meine= Sorge sein,« lächelte ihr Mann -- »und nun wollen wir
+Thee trinken.«
+
+
+Viertes Capitel.
+
+Die Kartenschlägerin.
+
+Bertling stand sonst nicht gern vor acht Uhr Morgens auf, und liebte
+es seinen Caffee im Bett zu trinken. Er gehörte auch zu den ruhigen
+Naturen, die sich durch kein Ereigniß, durch keine Sorge den Nachtschlaf
+rauben lassen, sondern Alles, was sie bedrücken oder quälen könnte, über
+Tag abmachen. Heute war er aber doch schon um sieben Uhr auf den Füßen
+und vollständig angezogen, und ging jetzt selber aus, um vor allen
+Dingen der Polizei eine genaue Personalbeschreibung seines gestrigen
+Besuches zu geben, wie ebenfalls eine gute Belohnung auf dessen
+Ausfindigmachung zu setzen. Natürlich durfte der Mann, wenn wirklich
+gefunden, durch Nichts belästigt werden; nur seinen Namen und seine
+Wohnung wollte er wissen, und ihn dann selber aufsuchen.
+
+Die Polizei entwickelte auch eine ganz besondere Thätigkeit, denn zehn
+Thaler waren nicht immer so leicht zu verdienen. Nach allen Seiten
+breiteten sich ihre Diener aus und hatten auch in der That schon
+den ersten Tag in den verschiedenen Revieren einige zwanzig Leute
+aufgetrieben, die der gegebenen Beschreibung allenfalls entsprachen, den
+Justizrath aber in nicht geringe Verlegenheit setzten. Er bekam nämlich
+dadurch einige zwanzig Adressen von ihm völlig unbekannten Leuten, die
+in den verschiedensten Theilen der Stadt sämmtlich die 3te oder 4te
+Etage zu bewohnen schienen und wohl oder übel mußte er seine Wanderung
+danach beginnen, denn zu sich citiren konnte er sie natürlich nicht.
+
+Wie man sich denken kann, fand er auch die Hälfte von ihnen nicht einmal
+beim ersten Besuch zu Haus, und wenn er sie fand, sah er sich wieder
+und wieder getäuscht, denn der =Rechte= war nicht unter ihnen. Vier Tage
+lang aber setzte er mit unverdrossener Mühe seine Versuche fort, immer
+aufs Neue getäuscht, aber immer auf's Neue hoffend, daß ihm der nächste
+Name den Gesuchten vorführen würde.
+
+Dabei hegte er noch immer den stillen Glauben, daß der Mann, der an
+jenem Abend jedenfalls etwas von ihm gewollt, vielleicht sogar von
+selber wiederkehren würde -- aber er sah sich darin ebenso getäuscht,
+wie in seinen eigenen Versuchen ihn aufzufinden. Der räthselhafte Mensch
+schien wie in den Boden hinein verschwunden.
+
+Am Meisten beunruhigte ihn dabei seine Frau. Sie wußte recht gut, wen er
+die ganzen Tage über, mit Vernachlässigung aller seiner nothwendigsten
+Geschäfte, gesucht habe; nie aber, wenn er körperlich ermattet und
+geistig abgespannt zum Mittags- oder Abendbrot heim kam, frug sie ihn
+nach dem Resultat seiner heutigen Suche -- sie schien das schon vorher
+zu wissen, sondern nickte nur immer still und schweigend mit dem Kopf,
+als ob sie hätte sagen wollen: Es ist ja natürlich -- wie kannst Du ein
+Wesen in der Stadt finden wollen, das gar nicht auf der Erde körperlich
+existirt -- und dem Justizrath war es dann jedesmal, als ob er wie ein
+Maschinenwerk frisch aufgezogen wäre, und die Zeit gar nicht erwarten
+könne, in der er wieder anfinge zu laufen.
+
+Er war heute Nachmittag aber erst um vier Uhr fortgegangen, weil einige
+nothwendige Arbeiten erledigt werden =mußten=, um sieben Uhr hatte er
+außerdem eine Sitzung und seiner Frau gesagt, daß er heute nicht vor
+neun Uhr nach Hause kommen könne -- wäre er aber im Stande sich früher
+loszumachen, so thäte er es sicher. Dann ging er jedoch zu Janisch
+hinüber und bat die junge Frau, ob sie heute Nachmittag nicht ein
+wenig die Freundin besuchen könne. Sie sei heute so merkwürdig
+niedergeschlagen, und da er durch nothwendige Geschäfte abgehalten
+wäre, würde es ihm eine große Beruhigung sein, wenn sie ihr Gesellschaft
+leisten wollte.
+
+Die stets heitere und freundliche Hofräthin versprach das von Herzen
+gern, ja meinte, sie hätte es sich heute sogar schon selber vorgenommen
+gehabt, Augusten aufzusuchen, da sie -- einen Scherz vorhabe bei dem sie
+ihre Mitwirkung wünsche.
+
+»Sie sind ein Engel,« sagte der Justizrath mit einer, an ihm ganz
+ungewohnten Galanterie, denn durch die freundliche Zusage schien sich
+ihm eine Last vom Herzen zu wälzen, und vollständig versichert, daß
+seine Frau jetzt für den Nachmittag und Abend Zerstreuung und also keine
+Zeit habe, ihren trüben Gedanken nachzuhängen, ging er mit Ernst und
+gutem Willen auf's Neue an die undankbare Arbeit, eine unbestimmte
+Persönlichkeit, von der er weder Namen, Stand noch Wohnung wußte, in der
+ziemlich weitläufigen Stadt aufzusuchen.
+
+Die Hofräthin Janisch hielt indessen Wort; kaum eine halbe Stunde später
+war sie drüben bei der Freundin und hatte ihr so viel zu erzählen und
+plauderte dabei so liebenswürdig, daß Auguste das sonst so schwer auf
+ihr lastende Gefühl endlich ganz vergessen zu haben schien. Bertling
+würde seine herzinnige Freude daran gehabt haben, wenn er sie in dieser
+Zeit hätte sehen können.
+
+Indessen war die Dämmerung hereingebrochen. Eben aber wie Licht gebracht
+werden sollte, sagte Pauline:
+
+»Hör einmal, liebes Herz, ich -- ich habe etwas vor, bei dem Du mir
+helfen sollst -- willst Du? -- es ist nur ein Scherz.«
+
+»Von Herzen gern, was ist es?«
+
+»In Eurem Hause wohnt eine Frau -- nun wie heißt sie doch gleich -- eine
+Frau Heßling oder --«
+
+»Heßberger? Das ist die Schuhmachers Frau, gleich über uns. Meinst Du
+die?«
+
+»Ganz recht. Ihr Mann arbeitet für uns und die Frau -- aber Du darfst
+mich nicht auslachen, Schatz -- die Frau soll ganz vortrefflich Karten
+schlagen können.«
+
+Auguste lächelte. »Ich habe auch schon davon gehört,« nickte sie leise
+vor sich hin, »und der Mann hat dabei die komische Eigenschaft, daß
+er das für eine Kunst des Teufels hält, es der Frau aber doch nicht
+verbietet, weil sie Geld damit verdient. Um aber das Unheil abzuwenden,
+das dadurch auf ihn fallen könnte, singt er jedes Mal, so lange die
+Frau mit solch unheiliger Beschäftigung hantirt, im Nebenzimmer und mit
+lauter Stimme geistliche Lieder, die in der Nähe schauerlich klingen
+müssen, denn schon aus der oberen Etage herunter haben sie uns oft zur
+Verzweiflung getrieben. Bei Gewittern macht er es ebenso.«
+
+»Das stimmt Alles,« lächelte Pauline, »und jetzt wollte ich Dir nur
+mittheilen, Schatz, daß ich gesonnen bin, Dich diesen musikalischen
+Ohrenschmaus ganz in der Nähe genießen zu lassen.«
+
+»Mich,« frug Auguste erstaunt -- »was hast Du denn vor?«
+
+»Nichts weniger« lachte Pauline, »als mir von Frau Heßberger heute Abend
+die Karten legen zu lassen und in dem dunklen Buche des Schicksals
+zu lesen, während ihr Gatte durch ein paar passende oder unpassende
+Gesangbuchverse die bösen Geister fern hält.«
+
+»Aber Pauline --«
+
+»Und Du sollst mich begleiten,« rief diese muthwillig -- »ich will mich
+nicht umsonst schon die ganze Woche darauf gefreut haben.«
+
+Auguste schüttelte nachdenkend mit dem Kopf -- es war ihr nicht ganz
+recht; die Aufforderung kam ihr aber auch so unerwartet und plötzlich,
+daß sie nicht gleich einen richtigen Grund wußte, sie abzulehnen.
+
+»Man soll doch eigentlich nicht mit den Geheimnissen der Zukunft sein
+Spiel treiben« sagte sie endlich leise.
+
+»Aber Herzensschatz,« lachte Pauline, »Du glaubst doch nicht etwa,
+daß Frau Heßberger, die den ganzen Tag über Schuhe einfaßt, oder
+ihrem Gatten den Pechdrath zu seiner Arbeit zurecht macht, Abends
+eine wirkliche Sybille würde und mehr von den Geheimnissen der Zukunft
+errathen könnte, als wir anderen armen Sterblichen auch?«
+
+»Wozu dann aber einen solchen Versuch machen?«
+
+»Verstehst Du denn keinen Spaß?« lachte Pauline -- »ich freue mich wie
+ein Kind darauf, ihre geheimnißvollen Zubereitungen zu sehen und die
+Orakelsprüche, während ihr Gatte den Teufel fern hält, -- aus ihrem
+Munde zu hören. So was erlebt man doch nicht alle Tage, und bequemer wie
+wir es von hier aus haben, bekommt man es auch sobald nicht wieder.«
+
+»Aber was sollen die Leute dazu sagen, wenn wir hinauf zu der Frau
+gehen?«
+
+»Und wer braucht es zu erfahren? -- Deine Rieke schickst Du ein paar
+Wege in die Stadt, wobei sie immer so viel für sich selber zu besorgen
+hat, daß sie doch vor einer Stunde nicht wieder kommt, und in der Hälfte
+der Zeit haben wir unseren Besuch gemacht.«
+
+»Und wenn die Frau selber darüber plaudert?«
+
+»Das thun derartige Leute nie, denn sie wissen, daß sie sich dadurch
+ihre ganze Kundschaft vertreiben würden. Wo es aber ihren eigenen Nutzen
+betrifft, sind solche Menschen klug genug. Thu mirs nur zu Gefallen,
+Auguste; ich habe mich schon so lange darauf gefreut und kann doch nicht
+gut allein hinauf gehen.«
+
+»Wenn es mein Mann erfahren sollte, würde er böse darüber werden -- ich
+kenne Bertling.«
+
+»Lachen wird er,« rief Pauline »wenn wir ihm nachher die ganze
+Geschichte erzählen -- es giebt ja doch einen Hauptspaß und Du darfst
+ihn mir nicht verderben. Außerdem brauchst Du Dir ja auch gar Nichts
+prophezeihen zu lassen, wenn Du irgend glaubst, daß es Deinem Mann --
+den ich übrigens für vernünftiger halte -- fatal sein könnte. Du gehst
+nur als Ehrendame mit, setzest Dich ruhig auf einen Stuhl -- oder wenn
+der nicht da sein sollte, auf einen Schusterschemel und hörst zu.«
+
+Auguste lächelte still vor sich hin, als sie sich das Bild im Geist
+herauf beschwor, die muntere Freundin ließ auch mit Bitten nicht nach,
+und wußte alle ihre Bedenken so geschickt und mit solchem Humor zu
+beseitigen, daß sie sich endlich nicht länger weigern konnte und mochte,
+und Pauline sprang jetzt, fröhlich in die Hände schlagend ordentlich wie
+ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat, in der Stube herum.
+
+Ein Auftrag für Rieke, um diese zu entfernen, war bald gefunden und kaum
+sahen sie das Mädchen über die Straße gehen, als die beiden Frauen ihre
+Tücher umhingen und in die dritte Etage hinanstiegen.
+
+Nach der Frau Heßberger aber brauchten sie nicht lange zu fragen, denn
+gleich rechts von der Treppe war die enge, dunkle Küche, in der die Dame
+eben beschäftigt schien die Abendsuppe anzurichten. Eine gewöhnliche
+Küchenlampe verbreitete ein mattes trübes Licht in dem niederen, eben
+nicht besonders sauber gehaltenen Raum, in den aber des Schusters Frau
+ganz vortrefflich hineinpaßte und sich auch wohl darin zu fühlen schien.
+
+Wie sie die leichten Schritte auf der Treppe hörte, nahm sie aber mit
+der Rechten, während die Linke noch immer in der Suppe rührte, die Lampe
+auf und hielt sie über den Kopf, um darunter hinweg besser erkennen zu
+können, wer der fremde Besuch sei. -- Unerwartet kam er ihr ja überhaupt
+nicht, denn es geschah gar nicht etwa so selten, daß sie von den
+verschiedensten Damen der Stadt und zwar von Damen =jeden= Ranges in der
+Gesellschaft, gerade um diese Zeit des Abends, oder auch noch später,
+aufgesucht und mit ihrer Kunst in Anspruch genommen wurde -- und sie
+verdiente mehr damit wie ihr Mann, trotz allem Fleiß, mit Ahle und
+Draht.
+
+Auguste schämte sich fast ein wenig des Besuchs und hielt sich noch
+immer scheu zurück, ihre keckere Freundin aber, die überhaupt die
+Leitung des Ganzen übernommen hatte, trat auf die Frau zu und wollte
+eben ihr Anliegen vortragen, als die Kartenschlägerin sie jeder
+Ansprache überhob, indem sie mit einer Höflichkeitsbewegung, die als ein
+Mittelding zwischen Knix und Verbeugung gelten konnte, sagte:
+
+»Nun, da kommen Sie ja doch noch, Frau Hofräthin; habe Sie schon eine
+halbe Stunde erwartet, und dachte beinah es wäre etwas dazwischen
+gekommen. Bitte treten Sie näher Frau Justizräthin -- freut mich ja
+recht sehr, Sie auch einmal oben bei mir zu sehen.«
+
+Auguste erschrak beinahe, denn sie stand noch in dem halbdüsteren
+Vorsaal und zum Theil von der Freundin gedeckt, Pauline aber wandte ihr
+halblachend den Kopf zu und sagte dann:
+
+»Schön, meine liebe Frau Heßberger, daß Sie uns erwartet haben; dann ist
+wohl auch bei Ihnen Alles hergerichtet?«
+
+»Alles, beste Frau Hofräthin, Alles,« erwiderte aber Frau Heßberger,
+ohne sich außer Fassung bringen zu lassen. »Das versteht sich doch aber
+auch von selbst, wenn man so vornehmen Besuch erhofft; die Stühle sind
+schon zum Tisch gerückt; habe weiter nichts drin zu thun, wie nur die
+Lichter anzuzünden.«
+
+Pauline wurde selber ein wenig stutzig, die Frau ließ ihr aber keine
+Zeit zu weiteren Fragen und nur mit den Worten: »Erlauben Sie, daß ich
+vorangehe« -- öffnete sie die Thür zur Werkstätte, in welcher ihr Gatte
+und ein Lehrjunge hinter ein paar erleuchteten Glaskugeln arbeiteten.
+
+Der alte Heßberger, eine kleine untersetzte Gestalt mit einer schwarzen,
+Gott weiß wie alten, fettglänzenden Mütze und eine Brille auf, kauerte
+auf seinem Schemel und schaute, als sich die Thür öffnete, von seiner
+Arbeit gar nicht auf. Mürrisch sah er vor sich nieder, und machte auch
+nicht den geringsten Versuch selbst zu irgend einer Art von Gruß. Der
+Besuch galt nicht ihm, so viel wußte er recht gut, weshalb also brauchte
+er sich darum zu kümmern.
+
+Auch selbst der Lehrjunge warf nur einen raschen und scheuen Blick nach
+den Damen hinüber, denn der gegenüber sitzende Meister beobachtete ihn
+über die Brille weg dann und wann, und ein, auf dem offenen Gesangbuch
+dicht neben ihm liegender Knieriem mochte wohl eine versuchte Neugier
+von seiner Seite schon manchmal auf frischer That ertappt und bestraft
+haben.
+
+Es ist möglich, daß das mürrische Temperament des Alten die einzige
+Ursache dieser Gleichgültigkeit war, viel wahrscheinlicher aber, daß er
+es eher aus Rücksichten für den Besuch selber unterließ, von diesem die
+geringste Notiz zu nehmen, oder nehmen zu lassen, denn er wußte recht
+gut, daß die Damen, die solcher Art bei Nacht und Nebel zu seiner Frau
+kamen, nicht erkannt und am Liebsten gar nicht gesehen sein wollten
+-- warum ihnen also nicht darin willfahren, da sie doch immer gut
+bezahlten.
+
+Die Frau bog indessen rasch zwischen einem Haufen der verschiedensten
+Leisten und Lederstücke und dem Ofen hindurch nach der dort befindlichen
+Thür, öffnete diese und entzündete zwei auf dem mit einer alten
+verwaschenen Caffeeserviette bedeckten Tisch stehende Talglichter;
+Auguste und Pauline waren ihr indeß gefolgt, und ehe sie die Thür hinter
+ihnen schloß, rief sie nur noch dem Lehrjungen zu, die Suppe für den
+Meister herein zu holen und drehte dann den Schlüssel im Schloß um.
+
+Pauline, während ihre Freundin kaum aufzuschauen wagte, sah sich
+indessen in dem kleinen Gemach um, das allerdings nicht glänzend
+genannt werden konnte, aber doch sehr zu seinem Vortheil gegen Küche und
+Werkstätte abstach.
+
+Es war ein nicht sehr großes Gemach, das allem Anschein nach zum Wohn-
+und Schlafzimmer der Eheleute diente. Zwei Betten standen -- Fuß- und
+Kopfende an der einen Wand, durch nichts als ein paar alte Decken von
+buntem Kattun verhüllt. An den Fenstern hingen aber Gardinen, ja standen
+sogar zwei Blumentöpfe mit den ersten Kindern des Frühlings, Primeln und
+Hyacinthen, und an beiden Seiten des kleinen Spiegels, aus dem eine Ecke
+fehlte, waren ein paar schauerliche Oelgemälde angebracht, die
+jedenfalls »Herrn und Madame Heßberger« im Sonntagsstaat -- vielleicht
+als junge Eheleute darstellen sollten. Waren sie indessen mit der Zeit
+so nachgedunkelt, oder verhüllte die jetzige Düsterheit des Gemachs ihre
+vielleicht sonst sichtbaren Umrisse: in diesem Augenblick ließ sich auf
+dem einen Bilde Nichts als die Contour eines Kopfes und ein riesiges
+Jabot erkennen, während auf dem anderen nur die weit ausflügelnde Haube
+der Frau und eine Hand sichtbar blieb, in der sie ein weißes Taschentuch
+emporhielt.
+
+Unter dem Spiegel hingen noch ein paar Silhouetten in unkennbaren
+Formen.
+
+Daß die Frau übrigens auf einen Besuch vorbereitet gewesen, wenn sie
+das überhaupt nicht jeden Abend war, zeigte in der That die ganze
+Vorrichtung des Tisches neben dem für die beiden Gäste zwei gepolsterte
+Stühle mit altmodischen hohen Lehnen standen und auf diese nöthigte auch
+die Frau Heßberger ihren Besuch und sagte freundlich:
+
+»Setzen Sie sich, meine Damen, Sie brauchen mir gar Nichts vorher zu
+sagen, ich weiß schon ohnedies weshalb Sie hergekommen sind -- bitte
+nehmen Sie Platz, und wir wollen dann gleich einmal versuchen ob ich
+Ihnen helfen kann.«
+
+»Und wissen Sie wirklich was ich Sie fragen will, Frau Heßberger?«
+frug Pauline, die in dem Augenblick doch etwas von ihrer vorherigen
+Ausgelassenheit verloren zu haben schien.
+
+»Warum sollt ich nicht, Frau Hofräthin, warum sollt ich nicht und wie
+könnte ich mich unterfangen Zukünftiges voraus zu sagen, wenn ich nicht
+das Vergangene und wirklich Geschehene wüßte --«
+
+»Aber ich begreife nur nicht --«
+
+»Lieber Gott« sagte des Schusters Frau, mit einem frommen Blick nach
+oben, »wir begreifen Manches nicht auf dieser Welt, Frau Hofräthin, und
+leben in unserer Unschuld so in den Tag hinein. -- Wenn man aber ein
+Bischen tiefer sehen lernt, Frau Hofräthin, dann bekommt man eine andere
+Meinung von der Sache -- Gottes Wege sind wunderbar.«
+
+Es war ordentlich als ob das das Stichwort für ihren Gatten im
+Nebenzimmer gewesen wäre, denn in demselben Moment begann er mit seinem
+schauerlich näselnden Ton, das gewöhnliche Präservativmittel gegen den
+bösen Feind und dessen Einwirkungen, irgend ein endloses Lied aus dem
+Gesangbuch. Der würdevolle Vortrag wurde aber heute leider durch etwas
+gestört; der Schuhmacher hatte nämlich noch keine Zeit bekommen, um
+seine Suppe zu essen, und daß er Beides mit einander zu verbinden
+suchte, that dem Einen Eintrag und ließ ihn das Andere nicht recht
+genießen -- aber es mußte eben gehen.
+
+Die Frau, ohne auf den plötzlichen Gesangsausbruch auch nur im Mindesten
+zu achten, holte indessen von dem kleinen Tisch unter dem Spiegel, auf
+dem einige vergoldete Tassen, zwei blaue Glasvasen mit Schilfblüthen
+und ein paar grell bemalte Gypsfiguren standen, ein Spiel ziemlich oft
+gebrauchter Karten, mit denen sie sich in einer Art von geschäftsmäßiger
+Eile auf einen hohen Rohrschemel setzte und dabei links und rechts auf
+die Lehnstühle wieß, um die Damen dadurch einzuladen Platz zu nehmen.
+
+Pauline hatte im Stillen gehofft in dem Zimmer der Kartenprophetin eine
+Menge wunderbarer und unheimlicher Dinge zu finden, die mit ihrer Kunst
+in Verbindung standen -- einen schwarzen Kater z. B. der schnurrend
+neben der Wahrsagerin saß und auf ihre Worte horchte -- düstere Tapeten
+vielleicht und einen Todtenkopf von magischen Zeichen umgeben. Aber
+von alledem zeigte sich nichts, denn der bunt gemalte Gipspapagei und
+Napoleon I., die auf dem Tisch unter dem Spiegel standen und sich --
+beide von einer Größe -- einander starr ansahen, konnten doch wahrlich
+nicht als derartige Symbole gelten. Das ganze Zimmer zeigte überhaupt
+Nichts, was nicht auch in der Wohnung jedes anderen Handwerkers zu
+finden gewesen wäre -- die Karten selber vielleicht ausgenommen.
+
+Die Aufmerksamkeit der kleinen lebendigen Frau wurde aber bald
+ausschließlich auf die Karten gelenkt, denn die Frau Heßberger begann
+jetzt in feierlicher Weise sie zu mischen, und dazu tönte der, nur
+zeitweise von der Suppe unterbrochene Gesang des Schusters dazwischen
+-- und wie laut die alte Schwarzwälder Uhr an der Wand da mit hinein
+tickte.
+
+Endlich war das Spiel gehörig vorbereitet und die Frau sagte plötzlich,
+indem sie die Karten der rechts von ihr sitzenden Hofräthin zum Abheben
+hinlegte:
+
+»Also Sie wollen vor allen Dingen wissen, meine verehrte Frau Hofräthin,
+ob Sie etwas Gestohlenes wieder bekommen werden und -- wo der Dieb zu
+suchen ist.«
+
+»Das allerdings« lächelte die kleine Frau -- »aber es wird doch wohl
+nöthig sein zu sagen was es ist.«
+
+»Das sehen wir ja aus den bunten Blättern« erwiderte ruhig die
+Kartenschlägerin.
+
+»In der That?«
+
+Die Frau antwortete nicht mehr; sie legte in der gewöhnlichen Weise
+ihre Karten auf den Tisch und während sie sich mit den gerade nicht
+überreinlichen Fingern der rechten Hand das Kinn strich, betrachtete
+sie die Kombination der verschiedenen Blätter mit leisem und prüfendem
+Kopfnicken.
+
+Augustens und Paulinens Blicke hafteten jetzt wirklich mit Spannung auf
+den Zügen der Alten, die aber ihre Gegenwart ganz vergessen zu haben
+schien, wie sie selber auch in diesem Augenblick gar nicht mehr das
+schauerliche Lied des Schuhmachers in der nächsten Stube hörten.
+
+Endlich brach die Alte das Schweigen und sagte:
+
+»Jawohl -- ich hab es mir gleich gedacht -- das kann nur ein Hausdieb
+sein -- aus dem Secretair heraus --«
+
+»Hat sie Recht?« frug Auguste nur mit einem Blick über den Tisch hinüber
+die Freundin und diese nickte ihr halbverstohlen zu.
+
+»Nur ein Hausdieb -- aber er hat es schlau angefangen -- da die Treff
+Sieben mit der Caro sechs, die den Coeur Buben in der Mitte haben -- --
+aber der Bube selber war es nicht, doch hat er es fortgetragen und es
+wird nie wieder zum Vorschein kommen --«
+
+»Ja aber beste Frau Heßberger,« sagte Pauline mit einem schelmischen
+Blick auf die Künstlerin -- »daß es Jemand fortgetragen hat, wußte ich
+schon vorher, und jetzt möchte ich nur erfahren =wer=; dann ist es doch
+vielleicht möglich dem gestohlenen Gegenstand auf die Spur zu kommen.«
+
+»Nicht so leicht,« sagte die Frau kopfschüttelnd -- »da liegt es, die
+Caro zehn sagt es deutlich -- ein Corallen-Halsband mit goldenem
+Schloß -- das ist leicht versteckt. -- Aber der Dieb hat seine Spuren
+zurückgelassen -- da gehen sie Treff zwei, Pike zwei, Treff vier, Pike
+vier, -- deutlich hin zu der Pike-Dame -- ich sehe ein Mädchen mit
+grünem Band auf der Haube, die etwas in die Taschen steckt und dann
+langsam die Straße hinunter geht. --«
+
+»In den Karten?«
+
+»Dort unten an der Ecke trifft sie mit dem Coeurbuben zusammen -- aber
+den kann ich nicht deutlich erkennen,« fuhr die Frau fort, ohne den
+Einwurf zu beantworten. »Er ist zu weit entfernt.«
+
+»Also die Pike-Dame mit dem grünen Band auf der Haube,« nickte Pauline
+lächelnd, »da wäre schon eine ziemlich deutliche Spur gefunden, denn ich
+kenne eine junge Dame, die ein grünes Band auf der Haube trägt. -- Wenn
+wir nur den Coeur Buben ausfindig machen könnten, dem sie das Gestohlene
+gegeben hat.«
+
+»Das ist nicht so leicht,« sagte die Kartenschlägerin, die ihre Blätter
+indessen aufmerksam betrachtet hatte -- »hier zieht sich eine lange
+Linie von Treff und Pike zwischen ihm und Ihrer Karte durch, Frau
+Hofräthin. -- Er kann nur durch die Pike-Dame mit dem grünen Band
+ermittelt werden.«
+
+»Der Wink ist deutlich genug, und ich werde ihn befolgen,« lächelte die
+Hofräthin -- »herzlichen Dank Frau Heßberger -- Sie haben mir gezeigt,
+daß Sie in Ihrer Kunst Meisterin sind« und dabei drückte sie der
+geschmeichelten Schusters Frau einen harten Thaler in die Hand.
+
+»Und soll ich Ihnen auch sagen, was Sie wissen möchten, Frau
+Justizräthin?« wandte sich die Kartenkünstlerin jetzt an Auguste, die
+ein wohl aufmerksamer, aber bis dahin doch theilnahmloser Zuschauer des
+Ganzen gewesen war. Sie hatte dabei die über den Tisch gelegten Karten
+wieder zusammengerafft und fing von Neuem an zu mischen.
+
+»Ich danke Ihnen sehr,« sagte aber Auguste, fast ängstlich, »ich -- ich
+habe meine Freundin nur begleitet.«
+
+»Und doch liegt Ihnen etwas auf dem Herzen, Kind, was Sie um Alles in
+der Welt davon herunter haben möchten,« fuhr die Frau geschwätzig fort,
+ohne sich irre machen zu lassen. -- »Da heben Sie nur einmal ab, die
+alte Heßbergern weiß oft mehr, als andere Leute zu glauben scheinen.«
+
+Augusten war es, als ob ihr Jemand einen Stich ins Herz gegeben. -- Oh,
+wohl lag ihr etwas auf dem Herzen -- aber was wußte die Frau davon --
+was =konnte= sie davon wissen.
+
+»Heben Sie nur ab, Frau Justizräthin,« drängte die Alte »-- es ist ja
+nichts Unrechtes, was man damit thut. -- Was wir vom Schicksal nicht
+erfahren =sollen=, erfahren wir doch nicht, so viel Mühe wir uns auch
+damit geben.«
+
+»So thu ihr doch den Willen,« lächelte Pauline -- »oder soll ich für
+Dich abheben?«
+
+»Nein, das muß die Frau Justizräthin selber thun,« wandte aber die Frau
+ein; »sonst bekommen wir nachher Confusion. So ists recht -- danke Ihnen
+Madamchen; nun wollen wir gleich einmal sehen, ob wir Ihnen nicht helfen
+können« und in der alten Weise die Karten auslegend, bedeckte Sie
+mit ihnen den Tisch, schüttelte dabei aber, wie über die Reihenfolge
+erstaunt, langsam mit dem Kopf.
+
+Auguste hatte fast willenlos ihren Wunsch befolgt, aber das Herz schlug
+ihr dabei so fieberhaft, die Brust war ihr so beengt, sie hätte jetzt
+Gott weiß was darum gegeben, nur von hier fort zu sein.
+
+»Hm, hm, hm, hm« murmelte da die Alte vor sich hin, indem sie die Karten
+prüfend betrachtete und immer stärker dazu mit dem Kopf schüttelte, »das
+ist ja eine ganz wunderliche Geschichte -- da geht Ihr Lebensfaden so
+glatt durch das halbe Spiel, und da kommt auf einmal ein fremder Mann
+mit einem grauen Rock dazwischen --.«
+
+Auguste wollte sich krampfhaft von ihrem Stuhl heben, aber sie vermochte
+es nicht -- willenlos brach sie zurück; Pauline jedoch bemerkte zu ihrem
+Schrecken, daß Leichenblässe ihre Züge deckte, und sie kaum im Stande
+war, sich noch aufrecht zu halten. Pauline behielt auch in der That nur
+eben noch Zeit zuzuspringen und sie zu halten, sonst wäre sie unfehlbar
+von ihrem Stuhl herabgestürzt. Trotzdem wurde sie nicht ohnmächtig; es
+schien nur als ob eine plötzliche Schwäche über sie gekommen sei und sie
+bat mit leiser Stimme um ein Glas Wasser. Darnach fühlte sie sich
+etwas gestärkt, aber jetzt bestand Pauline wieder darauf, daß sie des
+Schuhmachers Wohnung augenblicklich verließen -- machte sie sich doch
+längst schon insgeheim Vorwürfe darüber, die Freundin überredet zu
+haben, sie hier herauf zu begleiten.
+
+»Fühlst Du Dich stark genug Herz, mit mir fortzugehen?« frug sie leise,
+indem sie ihren Arm um Augusten legte.
+
+»Ja, ja,« rief diese rasch und heftig, indem sie sich ohne Hülfe
+aufrichtete -- »komm fort -- mir ist es als wenn ich hier sterben
+müßte.«
+
+»Bitte leuchten Sie uns,« bat Pauline, indem sie dabei Augusten umfaßt
+hielt.
+
+»Aber beste Frau Hofräthin.«
+
+»Wenn mir die Freundin hier krank wird, mache ich Sie dafür
+verantwortlich,« rief die kleine Frau heftig. -- »Nehmen Sie Ihr Licht,
+rasch!«
+
+Sie sprach das mit einem so befehlenden, ja drohenden Ton, daß die bis
+dahin noch so feierliche Frau Heßberger ganz beweglich wurde. Sie
+griff auch rasch ein Licht auf und während ihr Mann mit dem geleerten
+Suppennapf neben sich, noch an den letzten Versen seines endlosen Liedes
+brüllte, schritten die beiden Damen durch die Werkstätte. Aber erst
+draußen auf der Treppe, als Auguste wieder freie und frische Luft
+schöpfte, athmete sie auf und schweigend stiegen die Freundinnen in die
+untere Wohnung, wo sich die Justizräthin erschöpft in einen Stuhl warf.
+
+»Aber lieber Herzensschatz,« nahm hier Pauline das Wort, nachdem sie
+sich vorher überzeugt hatte, daß sie allein im Zimmer waren -- »wie, um
+Gottes Willen hat Dich das Gewäsch der alten Kaffeeschwester auch nur
+im Mindesten aufregen können. Du bist doch vernünftig genug an derlei
+Unsinn nicht wirklich zu glauben.«
+
+»Wir hätten gar nicht hinauf gehen sollen,« sagte Auguste leise -- »ich
+wußte vorher wie es werden würde.«
+
+»Aber soll man sich denn nicht einmal derartige Dinge mit ansehen?
+Ist es denn nicht interessant zu beobachten wie die Menschen einander
+betrügen und wie sie betrogen sein wollen?«
+
+»Aber hat sie Dir denn nicht von Deinem verlorenen Schmuck gesagt? Woher
+konnte Sie das wissen?«
+
+»Woher?« lachte Pauline, »als ob derartiges Volk nicht überall herum
+spionirte, und mit ein klein wenig Mutterwitz begabt, leicht im Stande
+wäre, irgend etwas Glaubbares hinzustellen. Die Phantasie der Gläubigen
+trägt freiwillig dazu bei und der Ruf einer Prophetin ist fix und
+fertig. -- Denkst Du nicht, daß sie bei meinen Dienstboten schon herum
+gehorcht hat, ja zehn gegen eins möchte ich wetten, daß ein' oder die
+andere Person schon bei ihr gewesen ist, um sich Raths zu erholen; aber
+das will ich schon herausbekommen, verlaß Dich darauf.«
+
+»Und die Frau mit der grünen Schleife?«
+
+»Es geht allerdings eine Wäscherin bei uns aus und ein,« sagte die
+Hofräthin, »die eine grüne Schleife auf der Haube trägt, und der wird
+sie oft genug begegnet sein. Ich habe aber nicht den geringsten Grund
+auf die in jeder Hinsicht achtbare Person irgend einen Verdacht zu
+werfen. Jedenfalls hat sie auch nur ganz auf gut Glück hin die genannt,
+eben so wie bei Dir den Mann im grauen Rock.«
+
+»Nein, nein,« rief aber Auguste rasch und heftig und warf den Blick
+dabei scheu umher -- »da liegt ein tieferes Geheimniß zum Grunde und
+=das= gerade drohte mir da oben die Besinnung zu rauben.«
+
+»Es war so dumpf und heiß in der Stube, daß mir selber fast unwohl
+geworden ist,« sagte die Hofräthin.
+
+»Der graue Mann existirt,« flüsterte da Auguste »und unerklärlich bleibt
+es mir, wie sie davon wissen konnte, denn gegen keinen Menschen in der
+Welt habe ich mich darüber ausgesprochen, als gegen meinen Mann.«
+
+Pauline schüttelte mit dem Kopf, endlich sagte sie:
+
+»Und darf ich wissen, was es damit zu bedeuten hat?«
+
+»Ja,« hauchte Auguste -- »aber nicht heute -- nicht jetzt Pauline -- ich
+bin schon überdies zu aufgeregt, und fürchte, daß -- daß es noch mehr
+der Fall sein würde, wenn ich -- jene wunderliche Erscheinung frisch
+herauf beschwören wollte. Morgen -- morgen früh, wenn die Sonne scheint
+und alles licht und hell um uns ist -- nicht jetzt -- nicht jetzt.«
+
+»Gut mein liebes Herz,« sagte Pauline, die gar nicht daran dachte sie
+jetzt zu drängen -- »bis morgen kann ich Dir dann auch vielleicht
+von mir Auskunft geben, wie weit die Prophezeihung der Schusters Frau
+wirklich zutrifft und ob sie eben mehr weiß wie andere Leute.«
+
+Auguste erwiderte nichts darauf: sie nickte nur schweigend mit dem Kopf
+und Pauline fühlte, daß sie ihr keinen größeren Gefallen thun konnte,
+als sie jetzt allein und ungestört zu lassen. Sie nahm auch kurzen
+Abschied von ihr und ging, sann aber unterwegs hin und her darüber, was
+der sonst so ruhigen Freundin geschehen sein müsse, um sie in eine so
+überreizte Stimmung zu versetzen, denn es war ja nicht möglich, daß die
+albernen Vermuthungen der Schusters Frau wirklich einen Einfluß auf
+sie ausgeübt haben sollten. Doch das gedachte sie morgen Alles
+herauszubekommen -- heute ließ sich doch nichts mehr an der Sache thun.
+
+
+Fünftes Capitel.
+
+Die böse Nacht.
+
+Als der Justizrath an diesem Abend um neun Uhr nach Hause kam, war seine
+Frau schon zu Bett gegangen. Sie hatte, wie das Mädchen sagte, heftige
+Kopfschmerzen gehabt und sich zeitig niedergelegt. Als Bertling hinüber
+ging, schlief Auguste und er trat noch in sein Arbeitszimmer, um die
+heute eingelaufene Correspondenz zu lesen und zu beantworten -- hatte er
+doch den ganzen Tag keine Zeit dazu gefunden.
+
+Es war bald halb zwölf Uhr, ehe er selber sein Lager suchte und die Frau
+schlief noch immer, aber unruhig. Sie schien zu träumen, hob den Arm
+und öffnete die Lippen, sprach aber Nichts und lag gleich darauf wieder
+still und ruhig. Sie hatte das in der letzten Zeit öfter gethan, auch
+wohl gesprochen, aber immer nur unzusammenhängende Worte, ohne sich
+später je eines Traumes bewußt zu sein, und Bertling beunruhigte sich
+also nicht weiter darüber. Unwillkürlich fiel ihm aber doch wieder jener
+wunderliche und so geheimnißvoll verschwundene Besuch ein, den er
+bis dahin vergeblich in der ganzen Stadt gesucht. War nicht die ganze
+Polizei nach dem Mann im grauen Rock ausgewesen, ohne auch nur auf die
+entfernteste Spur zu kommen? und schien es nicht fast, als ob er die
+Stadt in gerade so räthselhafter Weise verlassen hätte, wie damals
+Bertlings eigenes Zimmer?
+
+Mit den Gedanken suchte der Justizrath sein Lager und war bald, von den
+vielen Arbeiten dieses Tages ermüdet, sanft eingeschlafen. -- Seiner
+Meinung nach konnte er aber kaum die Augen geschlossen haben, als er
+seinen Namen rufen hörte:
+
+»Theodor! -- Theodor!«
+
+Noch schlaftrunken richtete er sich empor -- »Weckst Du mich Auguste?«
+frug er.
+
+»Und Du kannst schlafen,« sagte die Frau mit vorwurfsvollem aber weichem
+Ton -- »schlafen in der =letzten= Stunde, die wir noch beisammen sind?«
+
+»Aber Auguste,« sagte der Mann erschreckt und war in dem einen Moment
+auch vollkommen munter geworden -- »was hast Du nur -- was sprichst Du
+da? Sicherlich hast Du geträumt -- ich bin ja bei Dir Herz, wache nur
+ordentlich auf.«
+
+»Ach ich war so glücklich,« sagte da die Frau, mit einem Ton, der
+ordentlich in seine Seele schnitt -- »so glücklich die kurze Zeit mit
+Dir -- und muß nun fort.«
+
+Bertling wußte gar nicht wie er aus dem Bett kam, so rasch fuhr er in
+seine Kleider und zündete dann ein Licht an.
+
+Auguste lag, die Augen geschlossen, die Arme vor sich ausgestreckt, aber
+die Hände gefaltet, in ihrem Bett und große helle Thränen liefen ihr
+über die Wangen. Bertling aber hielt das immer noch für einen einfachen,
+schweren Traum, der ja augenblicklich weichen mußte, so wie er sie nur
+weckte.
+
+»Mein liebes Herz,« sagte er, seinen Arm um ihre Schultern legend --
+»wach auf, Du träumst ja nur --«
+
+»Und hast Du schon Jemanden gesehen, der mit offenen Augen träumt?«
+sagte sie, sich im Bett aufrichtend und ihn groß ansehend -- »Träumst Du
+denn jetzt?«
+
+»Aber von was sprichst Du?«
+
+Sie antwortete ihm nicht gleich. -- Während er sich zu ihr auf die
+Bettkante setzte, hatte sein Fuß den Stuhl ein klein wenig verschoben
+und sie schien dem Geräusch zu horchen.
+
+»Ich glaube sie kommen schon,« flüsterte sie scheu und faßte seinen Arm
+mit allen Kräften.
+
+»Wer, mein Herz? wer?« bat der Mann, der jetzt peinlich besorgt um die
+Arme wurde, die wie er sich nicht mehr verhehlen konnte mit wachenden
+Augen phantasirte. »Wer soll denn jetzt mitten in der Nacht zu uns
+kommen?«
+
+»Mitten in der Nacht? -- ja es ist gerade zwölf Uhr vorbei,« flüsterte
+sie -- »das ist die Zeit, in der die schwarzen Männer kommen und mich
+abholen. -- Oh Gott,« seufzte sie dabei -- »und jetzt hat mich Alles
+verlassen -- selbst Theodor ist fort und ich allein kann mich ja nicht
+gegen sie wehren.«
+
+»Aber beste Auguste« rief Bertling bestürzt -- »was sprichst Du nur --
+ich bin ja bei Dir hier.«
+
+»Fort -- fort -- wer bist Du?« -- sagte sie und stieß ihn mit beiden
+Armen heftig von sich -- »was willst Du hier -- und wie kommst Du hier
+herein?«
+
+»Aber ich bin es ja -- Dein Theodor -- kennst Du mich denn nicht?«
+
+»Deine Stimme ist es -- ja,« sagte die Frau, indem sie ihn ein paar
+Momente ruhig und fest betrachtete -- »aber das Gesicht kenne ich nicht
+-- das ist mir fremd -- geh fort -- geh fort!« und sie warf sich dabei
+zurück und barg ihr Gesicht im Kissen. Dort lag sie still und regungslos
+viele Minuten lang und Bertling wußte nicht, was er beginnen sollte.
+Vorsichtig legte er den Finger auf ihren Arm. -- Der Puls ging
+vollkommen ruhig und eher langsamer als rascher wie gewöhnlich. --
+Vielleicht schlief sie jetzt ein; er wollte sie wenigstens unter keiner
+Bedingung stören, setzte das Licht fort, daß es ihr nicht auf die Augen
+scheinen konnte und ließ sich dann behutsam und geräuschlos auf einem
+Lehnstuhl nieder, um dort abzuwarten, ob sie noch einmal erwache.
+
+So mochte er über eine Stunde gesessen haben und dachte gerade daran,
+das Licht auszulöschen und selber wieder zu Bett zu gehen, als er die
+Frau leise wimmern hörte.
+
+Vorsichtig stand er auf -- sie lag noch genau so wie vorher, nur das
+Gesicht hatte sie mehr nach oben gerichtet, damit sie frei athmen
+konnte, aber beide Augen hielt sie mit den Händen bedeckt und weinte
+still und leise.
+
+»Auguste,« sagte der Mann da, indem er wieder zu ihr trat, »was hast Du
+nur? -- Sage es mir -- ich bitte Dich darum.«
+
+Sie schien ihn nicht zu hören, aber ihr Weinen wurde heftiger und brach
+endlich in nicht laute, doch deutliche Klagen aus.
+
+»Fort -- fort muß ich von hier, wo ich =so= glücklich war!« wimmerte
+sie. -- »Ach nur so wenig Jahre durfte ich mit Theodor zusammen sein und
+jetzt kommen die bösen schwarzen Männer und wollen mich fortschleppen
+und in die kalte häßliche Erde legen. -- Oh was hab ich ihnen nur
+gethan? -- Aber sie hassen mich hier -- Alle -- Keiner hat mich lieb --
+Keiner -- und der Einzige, der mir gut war, Theodor, hat mich nun auch
+verlassen.«
+
+»Auguste,« bat Bertling in Todesangst, »Du brichst mir das Herz mit
+solchen Reden. -- Ich bin ja hier -- bin bei Dir und werde Dich nie
+verlassen.« Dabei drückte er sie fest an sich und küßte ihre Stirn aber
+sie schien jetzt weder seine Worte zu hören, noch seine Berührung zu
+fühlen. Wieder lag sie viele Minuten lang still und regungslos, und
+nur das schwere Athmen verrieth, daß sie lebe -- endlich fuhr sie leise
+fort:
+
+»Oh daß Theodor von mir gegangen ist -- er war so lieb, so gut mit
+mir -- und ich habe ihn so oft gekränkt, aber es doch nie -- nie böse
+gemeint. -- Er =mußte= es doch wissen, wie ich ihn liebe -- und doch ist
+er fort.«
+
+»Aber ich bin ja bei Dir, Herz -- so höre doch nur! hier lege Deine Hand
+auf mein Gesicht -- fühlst Du denn nicht, daß ich bei Dir bin -- daß ich
+Dich nie verlassen werde?«
+
+»Ja -- =Alle= haben mich verlassen,« rief die Frau eintönig -- »und
+jetzt schleichen sich die schwarzen Männer herein und tragen mich fort
+-- und wenn dann Theodor zurückkommt -- wie er sich wundern wird, wenn
+ich nicht mehr da bin! und wie traurig wird er sein, -- armer -- armer
+Theodor.«
+
+Bertling war außer sich. Er fühlte, daß alle seine Worte nichts halfen.
+Die Unglückliche hörte in diesem eigenthümlichen Zustand weder was
+er sagte, noch fühlte sie den um sie geschlagenen Arm und die heißen
+Thränen, die auf ihr Antlitz fielen und sich mit den ihrigen mischten.
+
+Wieder lag sie eine halbe Stunde etwa in einem solchen fast bewußtlosen
+Zustand und mit geschlossenen Augen. Das Licht brannte düster und
+Bertling schritt leise zu der Lampe, um diese zu entzünden. Er glaubte,
+daß vielleicht helleres Licht die aufgeregten Sinne eher beruhigen
+würde. Wie er die Glocke aber wieder aufsetzte, wobei ein leicht
+klirrendes Geräusch nicht zu vermeiden war, richtete sich die Kranke
+plötzlich rasch und erschreckt empor und horchte mit weit geöffneten
+Augen der Thür zu.
+
+»Was hast Du denn Auguste, -- Was horchst Du so nach der Thür?« frug
+ihr Mann um sie zu beschwichtigen. Sie verstand jetzt was er sagte, ja
+schien ihn auch zu kennen und vergessen zu haben, daß sie früher über
+seine Abwesenheit geklagt und scheu erwiderte sie:
+
+»Hörst Du denn nicht die Schritte auf der Treppe? -- sie kommen um
+mich abzuholen und unten im Haus steht der graue Mann, der mich auch
+erwartet. Oh ich wußte ja, daß sie noch kommen würden, wenn es auch
+schon zwölf Uhr vorbei ist.«
+
+»Aber mein liebes süßes Herz,« bat Bertling, der sich schon dadurch
+etwas beruhigt fühlte, daß er doch jetzt mit ihr reden konnte. -- »Zwölf
+Uhr vorbei -- es ist schon fünf Uhr und die Sonne wird gleich aufgehen.«
+-- Er hoffte sie dadurch, daß er sie glauben mache, es sei Morgen,
+rascher zu beruhigen. Die Kranke aber schüttelte unwillig mit dem Kopf
+und rief:
+
+»Täusche mich nicht -- es fehlen nur noch ein paar Minuten an halb Zwei
+-- sieh doch nach. --«
+
+Bertling sah unwillkürlich nach seiner Uhr und Auguste hatte vollkommen
+recht. Sie wußte genau, welche Zeit es war. Ehe er ihr aber noch etwas
+erwidern konnte, nickte sie ernst und traurig mit dem Kopf und sagte:
+
+»Ja -- ja -- so muß es sein -- =Du= wirst jetzt oben wohnen und =ich=
+unten -- und wir werden nie wieder zusammen kommen.«
+
+»Aber, wo willst Du =unten= wohnen, mein Kind,« lächelte der Mann, der
+ihre Gedanken abzulenken suchte, -- »das untere Logis hat ja der Doktor
+Pellert gemiethet.«
+
+»Wer spricht denn davon,« sagte sie finster -- »in der Erde, mein' ich
+-- wenn sie mich begraben haben. Sie kommen ja gleich.«
+
+»Aber meine Auguste!«
+
+»Und ich war so glücklich« fuhr sie leise, mit zum Herzen dringender
+Stimme fort -- »so unsagbar glücklich -- aber nur für eine kurze --
+kurze Zeit. Jetzt muß es sein und ich will mich auch nicht länger
+sträuben -- ich kann mich ja doch nicht gegen die vier schwarzen Männer
+wehren.«
+
+»Und bin ich nicht hier Dich zu vertheidigen?«
+
+»Was kannst =Du= gegen die =viere= ausrichten!« erwiderte sie
+kopfschüttelnd, »und sie sind stark -- =sehr= stark. Aber ich habe nicht
+mehr viel Zeit -- hier den Ring nimm mir vom Finger -- den schwarzen
+Ring -- den sollst Du Paulinen von mir geben.«
+
+»Aber Auguste.«
+
+»So nimm denn doch den Ring -- sie kommen ja,« bat sie mit einer Stimme,
+die ihm durch Mark und Bein schnitt und es blieb ihm Nichts übrig, als
+ihrem Wunsch zu willfahren und ihr den Ring abzunehmen; fürchtete er
+doch sie durch Widerspruch nur noch so viel mehr aufzureizen. Wie er
+das aber gethan, stürzten ihm selber die Thränen aus den Augen und sie
+umfassend jammerte er: »Meine liebe -- liebe Auguste.«
+
+»Lebe wohl Theodor,« sagte sie da und schlang ihre Arme fest und fast
+krampfhaft um seinen Nacken -- »lebe wohl und tausend, tausend Dank für
+alles Liebe und Gute, das Du mir gethan. --«
+
+»Aber Du gehst ja nicht von mir -- Du bleibst ja bei mir, nie -- nie im
+Leben trennen wir uns mehr,« flüsterte der Mann in Todesangst.
+
+»Es muß ja sein,« tröstete sie ihn leise -- »weine deshalb nicht -- oh
+=Du= hast es ja auch gut -- =Du= kannst draußen im Sonnenlicht, auf der
+schönen Erde bleiben -- aber mich -- mich legen sie in das dunkle kalte
+Grab und ich bin noch so jung -- so jung und schon sterben -- oh es ist
+recht, recht hart.«
+
+»Auguste -- ich halte das nicht länger aus,« flehte der Mann, dem die
+Aufregung fast den Athem nahm -- »so komm doch nur zu Dir -- es ist ja
+Alles nur ein böser Traum.«
+
+Unten auf der Straße rasselte in diesem Augenblick ein Wagen über das
+Pflaster; der Schall klang deutlich herauf.
+
+»Da sind sie,« flüsterte die Kranke erbebend -- »oh Gott wie =schnell=
+sie kommen -- wie furchtbar schnell. -- Jetzt muß ich fort -- oh Gott,
+oh Gott schon jetzt. Nein ich will nicht -- sie sollen mich nicht weg
+von Dir nehmen -- ich will bei Dir bleiben« -- und krampfhaft klammerte
+sie sich um seinen Hals. --
+
+»Du gehst auch nicht fort Herz -- nie im Leben lasse ich Dich,« -- rief
+Bertling, -- »wir bleiben ja beisammen -- oh so komm doch zu Dir. --
+Hier -- hier,« sagte er und griff ein neben dem Bett stehendes Glas
+Wasser auf, -- »trink einmal Auguste -- das wird Dir gut thun -- trink
+einen langen Zug -- viel -- mehr noch, mehr.«
+
+Er hatte sich fast gewaltsam von ihr losgemacht und ihr das Glas an die
+Lippen gehalten. Wie sie das Wasser daran fühlte nahm sie einen kleinen
+Schluck und als er es ihr wieder und wieder aufdrang, trank sie mehr,
+bis sie das ganze Glas geleert. Dabei sah sie ihn mit einem wilden
+verstörten Blick an.
+
+»Meine Auguste« bat Bertling, ihr Haupt an sich pressend, »ist Dir jetzt
+besser? -- kannst Du Dich besinnen?«
+
+Sie drängte ihn langsam von sich -- sah ihn an -- blickte im Zimmer
+umher und sagte leise:
+
+»Was ist denn mit mir vorgegangen?«
+
+»Du hast geträumt Herz -- schwer und furchtbar geträumt« rief ihr Gatte,
+»oh Gott sei ewig Dank, daß es vorüber ist.«
+
+»Geträumt? -- von was?« frug die Frau, die jetzt augenscheinlich ihre
+volle Besinnung wieder erlangt hatte. Bertling hütete sich aber wohl
+irgend eines ihrer Traum-Bilder auch nur zu erwähnen und ausweichend
+sagte er:
+
+»Oh nichts, Herz -- lauter tolles verworrenes Zeug; wild durch einander
+hast Du gesprochen von Gesellschaften, Theater, Kleidern, Besuchen und
+was weiß ich. --«
+
+»Sonderbar,« flüsterte die Frau nachdenkend vor sich hin »ich kann mich
+doch auf gar Nichts mehr besinnen. Aber mir ist mein Kopf so schwer --
+so furchtbar schwer und die Augen brennen mir, als ob ich geweint hätte.
+Wie viel Uhr ist es?«
+
+»Es wird bald zwei Uhr sein.«
+
+»So spät schon und Du bist noch angezogen? -- Du hast wohl wieder so
+lange gearbeitet?«
+
+»Ja -- ich hatte so viele Briefe zu schreiben -- aber lege Dich jetzt
+hin und schlafe. Ich will auch zu Bett gehen.«
+
+»Oh wie mir mein Kopf brennt -- ich kann gar nicht mehr denken,« sagte
+die Frau und preßte ihre Stirne mit beiden Händen, -- »am Ende werd ich
+noch krank.«
+
+»Mach Dir keine Sorge mein Herz,« beruhigte sie aber der Mann, »morgen
+wird schon Alles wieder besser -- wieder ganz gut sein. -- Gute Nacht,
+mein Kind. --«
+
+»Gute Nacht, Theodor,« sagte die Frau -- legte sich auf die Seite und
+war auch in wenigen Minuten fest und sanft eingeschlafen.
+
+
+Sechstes Capitel.
+
+Die Begegnung.
+
+Am nächsten Morgen, wo aber Auguste völlig gesund und mit keiner Ahnung
+des Geschehenen, nur mit etwas Kopfschmerzen erwachte, ging Bertling in
+aller Früh zu seinem Hausarzt, um diesem das Vorgefallene mitzutheilen.
+Er hatte ihm schon früher einmal von der fixen Idee Augustens gesagt,
+der Doctor nahm das aber damals -- vielleicht auch nur um den Mann nicht
+zu beunruhigen -- außerordentlich leicht und versicherte ihn, daß solche
+Fälle gar nicht etwa vereinzelt daständen. Es sei ein Blutandrang
+nach dem Kopf und viel Bewegung in freier Luft -- vielleicht auch eine
+blutreinigende Kur das Beste dagegen. Keinesfalls sollte er sich Sorgen
+deshalb machen. -- Heute jedoch, als der Arzt die Phantasien dieser
+Nacht erfuhr, in denen der »graue Mann« auch wieder seine Rolle
+gespielt, zeigte er sich schon bedenklicher und meinte, Gefahr sei nur
+in so fern vorhanden, daß die Phantasie der Kranken ihr noch einmal --
+und also zu dem gefürchteten dritten Mal -- die Gestalt des Mannes im
+grauen Rock vorspiegeln könne, ehe man im Stande sei sie zu überzeugen,
+daß die erste Erscheinung weiter Nichts als ein Phantasiebild, die
+zweite aber ein wirklich menschliches Individuum gewesen sei -- wie das
+aber zu thun, ohne daß man des Grauen habhaft werde, vermöge er nicht
+abzusehen, und daß der Graue nicht zu bekommen war, das wußte der
+Justizrath besser als irgend Jemand in der Stadt. Welche Mühe hatte er
+sich deshalb nicht schon gegeben und welchen Erfolg damit erzielt? -- es
+war wirklich zum Verzweifeln.
+
+Der Doctor versprach übrigens im Lauf des Vormittags bei der
+Justizräthin vorzusprechen, um sich selber einmal von ihrem
+Gesundheitszustand zu überzeugen. Vielleicht ließ sich dann auch das
+Gespräch -- natürlich mit der gehörigen Vorsicht -- auf das eigentliche
+Krankheitsobjekt lenken und möglich, daß ja doch die Vernunftgründe
+eines Dritten und völlig Unparteiischen irgend einen wohlthätigen
+Einfluß auf sie ausüben konnten.
+
+Bertling seufzte tief auf, denn er am Besten fühlte das Trügerische
+einer solchen Hoffnung, aber was anderes ließ sich thun und auch dieser
+Versuch mußte gemacht werden, wenn er auch nicht das Geringste davon
+erhoffte. Er fürchtete sich aber, lange von zu Haus fortzubleiben,
+denn er wußte nicht, wie sich Auguste heute morgen nach der furchtbaren
+Aufregung der letzten Nacht befinden würde. Er bat also den Doctor
+seinen Besuch nicht zu lange zu verschieben und schritt dann sehr
+niedergeschlagen und den Kopf voll trüber, wirrer Gedanken die Straße
+hinab, in der Richtung seiner eigenen Wohnung zu. Er achtete dabei auch
+gar nicht auf die ihm Begegnenden und erst als Jemand an ihm vorüber
+ging, der ihn grüßte, faßte er unwillkürlich an seinen eigenen Hut und
+warf einen flüchtigen Blick auf ihn, ohne sich jedoch in seinem Gang
+aufzuhalten. Im Weiterschreiten fiel ihm aber der fast schüchterne Gruß
+des vollkommen fremden Mannes auf -- wo hatte er nur das Gesicht -- wie
+ein Messerstich traf es ihn plötzlich ins Herz -- =das war der Graue=
+und mit dem Gedanken schon fuhr er auch herum und zurück, ihm nach --
+daß er dabei gegen eine alte würdige Dame anrannte und sie beinah über
+den Haufen geworfen hätte, fühlte er kaum, hielt sich wenigstens nicht
+einmal lange genug, auch nur zu einer Entschuldigung auf, denn mit
+peinigender Angst erfüllte ihn in dem Moment der Gedanke, daß ihm der
+Fremde wieder wie damals, selbst unter den Händen weg entschwinden
+könnte. Wenn er jetzt irgendwo in ein Haus getreten wäre -- wenn er die
+nächste Quergasse erreicht hätte -- nein -- Gott sei ewig Dank -- dort
+ging er noch und mit wenigen hastigen Schritten war er an seiner Seite.
+
+Der Fremde, als er Jemanden neben sich halten sah, schaute auch zu ihm
+empor und der Justizrath hätte laut aufjubeln mögen, als er in dem ihm
+zugewandten Gesicht wirklich den Besuch von jenem Abend erkannte,
+dessen Züge sich ihm in der Zwischenzeit oh, nur zu scharf und deutlich
+eingeprägt. Er war aber auch fest entschlossen, den Mann jetzt nicht
+wieder los zu lassen, bis er ihn seiner Frau gebracht, und wenn er nicht
+gutwillig ging, ei dann hätte er selbst die Polizei zu Hülfe gerufen,
+sogar auf die Gefahr hin eine Klage wegen unverschuldeter Gefängnißhaft
+gegen sich anhängig gemacht zu sehen.
+
+Der Fremde sah dabei etwas erstaunt, ja bestürzt zu ihm auf, denn
+er ebenfalls hatte den Justizrath gleich beim ersten Begegnen wieder
+erkannt und begriff jetzt natürlich nicht, was der Mann eigentlich von
+ihm wolle. Dieser ließ ihm aber nicht lange Zeit darüber nachzudenken
+und fast unwillkürlich die Hand auf seine Schulter legend (denn wenn
+er es sich auch nicht selber gestehen mochte, war es doch ein fast
+unbewußtes Gefühl, das ihn leitete, sich vor allen Dingen zu überzeugen,
+er habe es wirklich mit einem =körperlichen= Wesen zu thun), sagte er
+freundlich:
+
+»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber -- hatte ich nicht das Vergnügen,
+Sie vor einiger Zeit einmal Abends auf ganz kurze Zeit bei mir zu sehen?
+-- Ich bin der Justizrath Bertling -- wenn Sie sich auf meine Person
+nicht mehr besinnen sollten?«
+
+Der Mann schien etwas verlegen und sah den Justizrath fast wie scheu an;
+endlich stotterte er:
+
+»Ich weiß in der That nicht --«
+
+»Ich will Ihrem Gedächtniß zu Hülfe kommen,« fuhr aber der Justizrath in
+der neu erwachenden Angst fort, daß der Mann leugnen könnte oder er sich
+doch am Ende in der Person geirrt, »meine Frau kam damals gerade nach
+Haus und von einem leichten Unwohlsein ergriffen, wurde sie in der Thür
+ohnmächtig. Sie besinnen sich gewiß.«
+
+»Herr -- Herr Justizrath,« stammelte der Mann »ich -- ich -- kann nicht
+recht begreifen --«
+
+Bertling, der nicht ohne Grund fürchtete, der Mann könne Bedenken
+tragen, sein damaliges rasches, und allerdings etwas rätselhaftes
+Verschwinden einzugestehen, denn wie konnte er wissen, in welchem
+Zusammenhang das mit der jetzigen Frage stand -- suchte ihn nur vor
+allen Dingen darüber zu beruhigen. -- »Lieber Herr,« sagte er, »Sie
+müssen mir vorher die Bemerkung erlauben, daß ich Ihre Antwort nur als
+eine mir persönlich erwiesene Gefälligkeit betrachte und ich sehe ein,
+daß es vorher nöthig ist, Ihnen die Beweggründe meines, Ihnen vielleicht
+sonderbar erscheinenden Betragens mitzutheilen. Aber wir können das
+nicht auf offener Straße abmachen, dürfte ich Sie deßhalb bitten mit
+mir einen kurzen Moment in jenes Caffeehaus zu treten; wir sind dort
+ungestört und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie damit ein gutes Werk
+thun.«
+
+Der Fremde war augenscheinlich in der größten Verlegenheit, wie denn
+auch sein ganzes Wesen etwas Schüchternes, ja Gedrücktes zeigte. Der
+Einladung =konnte= er aber nicht gut ausweichen. Mit einer ziemlich
+ungeschickten Verbeugung und ohne ein Wort zu erwidern, willigte er ein
+und schritt neben dem Justiz-Rath dem Caffeehaus zu. Bertling ließ ihn
+auch dabei nicht aus den Augen, denn er hatte immer noch das unbestimmte
+Gefühl, als ob ihm der eben so glücklich Aufgefundene durch einen der
+Trottoirsteine, wie durch eine Versenkung auf dem Theater verschwinden
+könnte, und wollte sich später keine Vernachlässigung vorzuwerfen haben.
+
+Im Restaurationslocal endlich angelangt, ließ er zwei Tassen Caffee und
+Cigarren bringen und als Beides vor ihnen stand und der Kellner sich mit
+seiner Bezahlung zurückgezogen hatte, that Bertling das Vernünftigste,
+was sich unter diesen Umständen thun ließ und erzählte dem Fremden,
+ohne vorher eine weitere Frage an ihn zu richten, das seltsame
+Zusammentreffen eines Traumes seiner Frau mit seiner eignen Erscheinung,
+wobei sein plötzliches und unbeachtetes Verschwinden natürlich alle die
+überspannten Ideen der Kranken bestätigen mußte.
+
+Der kleine Mann in dem dunklen Rock schien während dieses Berichtes
+ordentlich aufzuthauen. Zuerst hatte er die angezündete Cigarre nur
+schüchtern und mit der äußersten Spitze in den Mund genommen, daß er
+kaum daran ziehen konnte und seinen Caffee halb kalt werden lassen
+-- jetzt begann er mit augenscheinlichem Behagen den Dampf des guten
+Blattes einzuziehen und that auch einen Schluck aus seiner Tasse und als
+der Justizrath ihm endlich gestand, daß er die ganze Stadt schon habe
+durch Polizei absuchen lassen, um seiner nur habhaft zu werden und seine
+arme Frau von ihrem unglückseligen Wahne zu befreien, lächelte er sogar
+still vor sich hin und leerte dabei seine Tasse bis zum letzten Tropfen.
+Bei der nun wieder an ihn gerichteten Frage des Justizraths, ob er es
+nicht gewesen sei, der ihn an jenem Abend besucht habe und zu welchem
+Zweck, wurde er allerdings wieder ein wenig verlegen und sogar roth,
+aber er leugnete nicht mehr und sagte:
+
+»Wenn Ihnen =das= eine Beruhigung gewährt, Herr Justizrath, so kann ich
+Ihnen gestehen, daß ich wirklich an jenem Abend in Ihrer Stube war und
+nur bedauere --«
+
+»Kellner! Eine Flasche Wein -- von Ihrem Besten -- bringen Sie
+Champagner!« rief aber Bertling, der sich in diesem Augenblicke wirklich
+Mühe geben mußte, dem kleinen Mann nicht um den Hals zu fallen.
+
+»Aber Herr Justizrath --«.
+
+»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und trinken Sie ein Glas Wein mit
+mir,« rief aber dieser in größter Aufregung »und, wenn Sie ein =Bad= von
+Champagner haben wollten, ich verschaffte es Ihnen jetzt. Nun aber
+sagen Sie mir auch, weshalb Sie so rasch verschwanden, mich nicht wieder
+aufsuchten und wo Sie, vor allen Dingen, die ganze Zeit gesteckt haben,
+denn kein einziger meiner Spürhunde konnte auch nur auf Ihre Fährte
+kommen.«
+
+»Lieber Gott,« sagte der kleine Mann mit einem schweren Seufzer -- »die
+Sache ist außerordentlich einfach und leicht erklärt, denn -- wenn ich
+mich auch in einer gedrückten Lage befinde, habe ich doch nicht die
+geringste Ursache mich derselben zu schämen, da sie mich ohne mein
+Verschulden getroffen hat.«
+
+»Darf ich es wissen?« frug der Justizrath, während der Kellner Wein und
+Gläser auf den Tisch stellte -- »vielleicht kann ich helfen.«
+
+»Ich stamme aus Königsberg« erzählte der kleine Mann, »und hatte durch
+Protection eine Anstellung als Lehrer in Mainz erhalten; dort ernährte
+ich mich aber nur kümmerlich, als ich die Nachricht erhielt, daß in
+meiner Vaterstadt ein guter Posten für mich offen geworden und ich
+dort an einem der ersten Gymnasien mit einem ganz vortrefflichen Gehalt
+einrücken könne. Ich gab meine Stelle in Mainz auf und machte mich auf
+den Weg. Schon seit längerer Zeit aber kränkelnd, erfaßte mich hier
+in Alburg ein heftiges Fieber, das eine Weiterreise unmöglich machte.
+Glücklicher Weise fand ich bei guten Menschen ein Unterkommen aber
+meine kleine Baarschaft schmolz entsetzlich zusammen und kaum wieder
+hergestellt, erfaßte mich die Angst, daß ich, wenn ich nicht rechtzeitig
+am Ort meiner Bestimmung eintreffen könnte, am Ende auch gar die
+Anstellung verlieren und dann gänzlich brodlos sein würde. Ich schrieb
+nach Königsberg, erhielt aber von dort nicht so rasche Antwort und in
+meiner Herzensangst beschloß ich mich an =Sie=, Herr Justizrath, zu
+wenden und Sie um ein Darlehn zu ersuchen, das ich Ihnen von meiner
+Vaterstadt aus leicht zurückerstatten konnte.«
+
+»Aber woher kannten Sie mich?«
+
+»Nicht Sie, Herr Justizrath, aber Sie haben einen Bruder in Königsberg,
+bei dem ich ein Jahr Hauslehrer war und auf dessen Zeugniß ich mich
+mit gutem Gewissen berufen durfte. Wie aber der Unfall mit Ihrer Frau
+Gemahlin stattfand, von dem ich keine Ahnung haben konnte, daß ich
+selber die unschuldige Ursache gewesen, da fühlte ich doch recht gut,
+daß das ein sehr schlecht gewählter Moment sei, um ein Darlehn
+zu erbitten und ich beschloß lieber am nächsten Morgen wieder
+vorzusprechen. Wie ich Sie mit der ohnmächtigen Dame beschäftigt sah,
+verließ ich das Zimmer und ging nach Haus.«
+
+»Aber warum kamen Sie nicht am nächsten Morgen?«
+
+»Weil ich noch an dem nämlichen Abend einen Brief von Königsberg
+erhielt, worin mir angezeigt wurde, daß es mit meinem Eintreffen dort
+Zeit bis zum Ersten nächsten Monats habe. Jetzt war ich im Stande mir
+mein Reisegeld vielleicht selber zu verdienen und brauchte Niemanden
+weiter zu belästigen. Der Mann, bei dem ich die Zeit gewohnt, war
+Copist, hatte aber in der letzten Zeit so viel drängende Arbeiten
+erhalten, daß er sich außer Stande sah, sie allein zu beendigen. Ich
+übernahm einen Theil und da mir noch vierzehn Tage Zeit bleiben, so
+hoffe ich bis dahin mein Reisegeld wenigstens zusammen gespart zu
+haben.«
+
+»Und wieviel brauchen Sie dazu?« frug der Justizrath, der bis jetzt der
+einfachen Erzählung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war,
+ohne den Erzählenden auch nur mit einer Sylbe zu unterbrechen. Nur
+eingeschenkt und getrunken hatte er dazu und seinen Gast ebenfalls
+stillschweigend durch Zuschieben des Glases genöthigt.
+
+»Im Ganzen und mit dem, was ich hier noch zu zahlen habe, etwa 20
+Thaler, aber 9 davon habe ich mir schon verdient -- oh ich bin sehr
+fleißig gewesen die Zeit über und in den langen Tagen gar nicht aus
+meinem Zimmer, ja nicht ein einziges Mal an frische Luft gekommen. Nur
+heute =mußte= ich ausgehen und war eben im Begriff mir frisches Papier
+zu holen, denn ich kann nicht gut einen Tag versäumen.«
+
+»Mein lieber Herr,« sagte da der Justizrath, »dagegen werde ich
+Einspruch erheben. Ihren heutigen Tag müssen Sie mir widmen, aber Sie
+sollen dadurch nicht zu Schaden kommen. Es gilt hier meine Frau zu
+überzeugen, daß sie sich durch einen Wahn, durch ein zufälliges Begegnen
+hat täuschen lassen und wenn Sie mir dazu behilflich sein wollen, so
+verfügen Sie über meine Casse. Mit Vergnügen steht Ihnen dann Alles
+zu Diensten, was Sie zu Ihrer Reise und vielleicht noch für sonstige
+Ausrüstung gebrauchen.«
+
+»Herr Justizrath,« stammelte der Mann.
+
+»Und glauben Sie um Gottes Willen nicht,« setzte Bertling rasch hinzu,
+»daß Sie mir dadurch zu irgend einem Dank verpflichtet würden; nein
+im Gegentheil, werde ich mich nachher noch immer als Ihren Schuldner
+betrachten und sollten Sie je in Verlegenheit kommen, so bitte ich Sie,
+sich vertrauensvoll an mich zu wenden.«
+
+»Aber war ich nicht selber die Ursache dieses Unfalls?«
+
+»Nein,« versetzte der Justizrath -- »in Ihnen repräsentirte sich nur die
+frühere eingebildete Erscheinung und durch Sie hoffe ich deshalb meine
+Frau nicht allein zu überzeugen, daß ihre zweite Gespenstervision ein
+Irrthum war, sondern sie wird, während sie hierin die Täuschung
+erkennt, auch einsehen, daß das =erste= Traumbild nur in ihrer Phantasie
+gewurzelt haben konnte. Also wollen Sie sich mir heute zur Verfügung
+stellen?«
+
+»Von Herzen gern,« sagte der kleine Mann, der durch den ungewohnten
+Champagner seine ganze Schüchternheit verloren zu haben schien.
+»Befehlen Sie über mich und was in meinen Kräften steht, will ich mit
+Freuden thun, -- habe ich doch dadurch auch einen Theil dessen gut zu
+machen, was ich, freilich vollkommen ahnungslos, selber über Sie herauf
+beschworen.«
+
+»Gut,« genehmigte Bertling, sich vergnügt die Hände reibend. -- »So
+kommen Sie denn jetzt mit zu meinem Arzt und dort wollen wir das Weitere
+bereden, wie wir es am Besten anzufangen haben. Den Mittag sind Sie
+ohnedies mein Gast, wenn wir vielleicht auch noch nicht bei mir zu
+Hause diniren können. Vorher muß ich aber meine Frau jedenfalls auf Ihre
+Begegnung vorbereitet haben.«
+
+
+Siebentes Capitel.
+
+Schluß.
+
+Der Doctor, eben im Begriff seine Patienten zu besuchen, war nicht
+wenig erstaunt, den Justizrath mit dem erbeuteten und so lange ersehnten
+Unruhestifter eintreffen zu sehen, nahm aber auch zu viel Interesse an
+der Sache, um nicht seine eigenen, selbst sehr nothwendigen Gänge für
+kurze Zeit aufzuschieben und das Nähere mit dem Justizrath zu bereden.
+Aufmerksam hörte er zunächst den kurzen Bericht an, der ihm über das
+Zusammentreffen gegeben wurde und die Frage war nur jetzt, wie Auguste
+mit ihrem leibhaften Traumbild zusammen gebracht werden konnte, ohne ihr
+einen neuen Schreck zu verursachen, der diesmal dauernde Folgen haben
+konnte.
+
+Das zeigte sich denn auch nicht so leicht und die Männer überlegten
+zusammen eine ganze Weile hin und her, wie es am zweckmäßigsten zu
+arrangiren wäre. Der Justizrath schlug vor, den »grauen Mann« gleich zum
+Mittag-Essen mit nach Haus zu nehmen, um im hellen Sonnen-Licht
+jeden Gedanken an den häßlichen Spuck zu zerstören, -- aber dagegen
+protestirte der Arzt.
+
+»Damit setzen Sie Alles auf eine Karte,« rief er heftig aus, »denn
+Sie können gar nicht wissen, wie sich in dem Geist Ihrer Frau das Bild
+dieser geglaubten Spukgestalt erhalten oder entwickelt hat; bringen
+Sie ihr aber jetzt den Mann am hellen Tag, der dann natürlich mit einer
+höflichen, alltäglichen Verbeugung in's Zimmer tritt, so bürgt uns kein
+Mensch dafür, daß sie ihn als denselben wieder erkennt, den sie in jener
+=Nacht= gesehen und dann ist =Alles= verloren, denn nachher haben wir
+=kein= Mittel weiter, ihr zu beweisen, daß sie sich getäuscht. Unser
+Pulver ist verschossen und wir müssen der Natur und den Begebenheiten
+eben ihren Lauf lassen, ohne im Stande zu sein, an irgend einer Stelle
+hülfreich einzugreifen.«
+
+»Aber was Anderes =können= wir thun?« rief der Justizrath -- »der
+Gefahr, daß sie ihn nicht wieder erkennt, sind wir ja doch immer
+ausgesetzt.«
+
+»Doch nicht immer,« sagte der Doctor, der ein paar Minuten mit raschen
+Schritten in seinem Zimmer auf- und abgegangen war -- »ich glaube, ich
+weiß einen Ausweg.«
+
+»Mein lieber Doctor --«
+
+»Lassen Sie mich einmal sehen,« fuhr dieser fort. -- »Jetzt habe ich
+keine Zeit, denn ich =muß= meine Patienten besuchen; vor Dunkelwerden
+können wir aber auch gar nichts in der Sache thun, und bis dahin bin ich
+in Ihrem Hause und bei Ihrer Frau. Bis dahin aber darf auch dieser Herr
+Ihrer Frau nicht vor Augen kommen. Speisen Sie zusammen im Hôtel -- eine
+Ausrede ist bald gefunden, machen Sie, was Sie wollen, aber bringen Sie
+ihn nicht vor der Abenddämmerung in Ihr Haus.«
+
+»Und dann?«
+
+»Dann führen Sie ihn heimlich, ohne daß Ihre Frau etwas davon erfährt,
+in Ihr Zimmer, zünden wie gewöhnlich Ihre Lampe an, die auch ein wenig
+düster brennen darf und lassen sich den Herrn dann auf den nämlichen
+Stuhl setzen, auf dem er an jenem Abend gesessen hat und zwar genau in
+der nämlichen Stellung, den rechten Arm über der Lehne. -- Ich glaube,
+Sie erwähnten das gegen mich.«
+
+»Ja wohl. --«
+
+»Schön. Sie selber kommen dann zu uns herüber, oder geben mir ein
+Zeichen daß Alles bereit ist und überlassen das Andere mir. Wollen Sie
+es so machen?«
+
+»Bester Doctor, ich füge mich in Allem Ihrem Willen,« sagte der
+Justizrath, »aber -- halten Sie es nicht für möglich, daß Auguste durch
+die plötzliche Wiederholung der Erscheinung zum Tod erschrecken könnte?«
+
+»Natürlich darf sie den Herrn da nicht unvorbereitet antreffen,« rief
+der Doctor -- »doch Sie wollen das ja mir überlassen. Außerdem werde ich
+noch vorher zu der kleinen Hofräthin Janisch gehen, sie in das Geheimniß
+einweihen und sie bitten uns zu unterstützen. Für jetzt ersuche ich Sie
+aber, mich zu entschuldigen, denn meine Zeit ist gemessen.«
+
+»Und Sie vergessen nicht, noch vor Dunkelwerden zu mir zu kommen?«
+
+»Ich vergesse nie etwas,« sagte der Doctor, nahm seinen Hut und stieg
+ohne Weiteres voran die Treppe hinunter.
+
+Der Justizrath war jetzt ein wenig in Verlegenheit, was er mit seinem
+Schutzbefohlenen oder eigentlich Gefangenen, bis zum Mittagsessen
+anfangen solle, noch dazu da er auch gern einmal nach Haus gegangen wäre
+und ihn dorthin doch nicht mitnehmen konnte. Ueberließ er ihn aber bis
+dahin sich selbst, so war er der Gefahr ausgesetzt, ihn nicht wieder zu
+finden und das durfte er unter keiner Bedingung riskiren. Da blieb ihm
+nur ein Ausweg, mit dem Fremden in dessen Behausung zu gehen, um sich
+selber zu überzeugen, wo er wohne und wieder zu finden wäre.
+
+Das geschah denn auch und nachdem Bertling in einer vollkommen
+abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert war,
+konnte er mit einiger Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen. Er band
+dem kleinen Mann aber noch einmal auf die Seele, das Haus um keinen
+Preis zu verlassen, bis er selber zurückkäme, was aber bald geschehen
+würde, da er ihn um ein Uhr zum Mittagessen abhole.
+
+Seine Frau fand der Justizrath noch ziemlich abgemattet, aber doch
+ruhig; sie hatte von dem, was sie die vorige Nacht mit wachenden Augen
+geträumt, keine Ahnung und sie fühlte nur die Folgen der unnatürlichen
+Aufregung, ohne sich dieser im Geringsten bewußt zu sein.
+
+Um ein Uhr oder etwas vorher, entschuldigte sich Bertling, daß er mit
+einem Geschäftsfreund zu Mittag speisen müsse, da sie Beide, außer der
+Zeit, sehr beschäftigt wären, und er Vielerlei mit ihm zu besprechen
+hätte -- zu sich hätte er ihn aber heute nicht einladen mögen, da
+Auguste doch noch so angegriffen sei.
+
+Auguste dankte ihm dafür, denn sie befand sich in der That nicht in der
+Stimmung einen fremden Besuch zu empfangen; sie fühlte sich auch nie
+wohler, als wenn sie allein gelassen wurde und ihr Mann versprach ihr ja
+auch außerdem noch vor Abend wieder zu Haus zu sein und dann heute ganz
+bei ihr zu bleiben.
+
+Sie aß allein auf ihrem Zimmer und legte sich dann ein wenig auf das
+Sopha, um auszuruhen; der Kopf that ihr weh und das Herz war ihr so
+schwer, als ob irgend ein nahendes Unheil sie bedrohe. Sie fing auch
+fast an, den dämmernden Abend zu fürchten und bereute schon, Theodor
+nicht gebeten zu haben, noch vor der Zeit zurück zu kehren. -- Aber
+sie durfte auch nicht so kindisch sein. Wenn er seine Geschäfte besorgt
+hatte, kam er ja ohnedies schon immer von selber nach Hause.
+
+Sie sollte aber ihren Nachmittag heute nicht allein verbringen, denn
+etwa um fünf Uhr kam Pauline herüber. Wenn diese aber auch lachend
+das Zimmer der Freundin betrat, erschrak sie doch sichtlich über deren
+bleiches Aussehen, über ihre tiefliegenden Augen und den schmerzlichen
+Zug um den Mund. Auf ihre theilnehmenden Fragen gab ihr Auguste aber nur
+ausweichende Antworten; sie scheute sich selbst der Freundin gegenüber
+das einzugestehen, was ihr die Brust beengte und ihr Herz mit einer wohl
+unbestimmten, aber nichts desto weniger peinigenden Angst erfüllte und
+Pauline, die das herausfühlte, war freundlich genug, auf ihren Wunsch
+einzugehen. Ihr lag aber jetzt besonders daran, die Freundin zu
+zerstreuen, und ohne daß Auguste es merkte, wußte sie das Gespräch auf
+das Abenteuer mit der Kartenschlägerin zu bringen. Nicht mit Unrecht
+glaubte sie, daß jene Aufregung wesentlich dazu beigetragen hatte, sie
+niederzudrücken, und war das wirklich der Fall, so kannte sie ein Mittel
+sie wieder aufzurichten.
+
+»Denke Dir nur Schatz,« lachte sie, ganz wieder in ihrer, alten
+fröhlichen Laune, »ich bin jetzt unserer Kartenschlägerin auf die Spur
+gekommen.«
+
+»Auf die Spur? -- wie so?«
+
+»Oder ich habe wenigstens einen Beweis erhalten, was es mit ihrer Kunst
+für eine Bewandniß hat.«
+
+»In der That? -- aber durch was?« frug Auguste gespannt.
+
+»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort, »daß ich bei ihr anfragen
+wollte, wo ein mir gestohlenes Corallen-Halsband hingekommen sei und
+wo ich den Dieb zu suchen hätte. Sie ließ mich aber die Frage gar
+nicht stellen, denn jedenfalls hatte sie am Brunnen von unseren Mägden
+erfahren, daß ich das Halsband vermisse. In den letzten drei Tagen war
+auch wirklich bei uns von nichts Anderem gesprochen worden, und meine
+Köchin, wie ich es mir gedacht, schon bei der Alten gewesen, um sie um
+Rath zu fragen.«
+
+»Also wirklich,« sagte Auguste.
+
+»Du weißt auch, daß sie meinen Verdacht auf irgend eine Dame mit grünen
+Haubenbändern lenken wollte.«
+
+»Allerdings -- hatte sie sich geirrt?«
+
+»Das Komische bei der Sache ist das,« lachte Pauline, »daß gar Niemand
+das Halsband gestohlen hat, sondern daß ich es heute morgen selber
+in einer kleinen Schieblade meines Secretairs fand, wohinein ich es
+neulich, wahrscheinlich in großer Zerstreutheit gelegt.«
+
+»Es war gar nicht gestohlen?«
+
+»Gott bewahre, folglich konnte die »Dame« mit den grünen Haubenbändern
+auch nicht der Dieb sein. Jetzt hab' ich der Sache aber näher
+nachgeforscht und von meinen Leuten erfahren, daß die alte Frau
+Heßberger eine ganz besondere Wuth auf meine Wäscherin hat, weil
+diese sie irgend einmal, wer weiß aus welchem Grund, ich glaube wegen
+Verleumdung, verklagt hat, und die Alte fünf Thaler Strafe zahlen mußte.
+Die Schusters-Frau scheint eine ganz durchtriebene Person zu sein und
+ich glaube, es ist sehr unnöthig, daß ihr liebenswürdiger Gatte,
+während sie ihre =Kunst= ausübt, geistliche Lieder singt, um den Teufel
+fernzuhalten, es scheint Alles sehr natürlich zuzugehen. --«
+
+»Aber woher wußte sie --« wollte Auguste fragen, brach aber rasch und
+plötzlich mitten darin ab.
+
+»Was, mein Herz?« frug Pauline -- »etwa das, was sie Dir von einem
+=grauen Mann= sagte? Das wolltest Du mir ja heute erzählen und ich bin
+fest überzeugt, wir kommen der Sache ebenfalls auf die Spur. -- Sieh
+mein Herz, mit all den Geistergeschichten läuft es ja doch jedesmal auf
+blinden Lärm hinaus, denn auch das was uns die Frau Präsidentin damals
+als =Thatsache= von der Kammgarnspinnerei erzählte, hat sich als ein
+einfacher Betrug herausgestellt.«
+
+»Als Betrug?«
+
+»Gewiß und gestern Abend haben sie die Thäter erwischt. Aber nun erzähle
+mir auch, was =Dich= drückt.«
+
+Auguste zögerte noch, aber sie hatte der Freundin einmal versprochen,
+ihr das Geheimniß mitzutheilen und es that ihr selber wohl, irgend
+Jemand zu haben, dem sie ihr Herz vollkommen ausschütten konnte. So
+erzählte sie denn auch jetzt, während der Abend schon wieder zu grauen
+begann, von der ersten Erscheinung, die sie in ihres Mannes Zimmer
+gehabt und wollte eben zu dem zweiten Begegnen mit dem unheimlichen
+Wesen übergehen, als sie laute Stimmen auf dem Vorsaal hörten.
+
+»Die Frau Justizräthin zu Haus?« -- Es war des Doctors Stimme, die Magd
+erwiderte etwas darauf und gleich darauf klopfte es an die Thür.
+
+Es war der Arzt, der seine Patientin zu besuchen kam. Er freute sich
+übrigens sie so wohl und munter zu finden und meinte, nach ein paar
+hingeworfenen Fragen: -- »Aber wie mir scheint, habe ich die Damen in
+einer wichtigen Unterhaltung gestört -- thut mir leid, aber wir Aerzte
+kommen oft ungelegen.«
+
+»In einer Unterhaltung,« sagte da Pauline, »die auch =Sie= angeht,
+lieber Doctor, denn sie betrifft Augustens Krankheit ebenfalls mit --
+bitte, erzähle weiter, liebes Herz.«
+
+»Aber Pauline,« sagte die Frau erschreckt, »das ist nicht Recht. Das was
+ich Dir erzählte, war nur für =Dich= bestimmt.«
+
+»Aber mein gutes Kind,« sagte die junge Frau »wenn ich nicht sehr irre,
+so hat gerade diese Phantasie auf Dein körperliches Befinden den größten
+und zwar nachtheiligsten Einfluß ausgeübt, und wie kann Dich ein
+Arzt wieder herstellen, wenn er nicht die =Ursache= Deiner Krankheit
+erfährt.«
+
+»Ich danke Ihnen, Frau Hofräthin, daß Sie mir da beistehen,« sagte der
+Doctor »und bitte Sie nun selber, beste Frau, mir nichts vorzuenthalten.
+Außerdem wissen Sie, wie ich Ihnen und Ihrem Mann zugethan bin und schon
+als =Freund= des Hauses, als der ich mich doch betrachten darf, ersuche
+ich Sie dringend mir Alles mitzutheilen.«
+
+Die Justizräthin sträubte sich noch ein wenig, aber es half ihr Nichts;
+der Doctor versicherte sie dabei, daß ihr eigener Mann ihm schon einen
+Theil vertraut habe, er wisse also doch einmal, um was es sich handele
+und solcher Art gedrängt, erzählte Auguste denn das zweite, räthselhafte
+Begegnen jener Erscheinung, ja verhehlte sogar nicht, daß sie von einer
+Wiederholung derselben das Schlimmste fürchte.
+
+Der Doctor hatte ihr schweigend zugehört -- draußen wurde wieder eine
+Thür geöffnet und sein scharfes Ohr vernahm leise Schritte im Vorsaal.
+Er wußte, der Justiz-Rath war mit dem Mann im grauen Rock eingetroffen.
+Der Abend brach dabei immer mehr herein und der Doctor bat, daß man die
+Lampe anzünden möge, da eben die Dämmerstunden die besten Hülfsgenossen
+solcher Phantasien seien. Pauline fügte jetzt auch noch die Geschichte
+der Kartenschlägerin hinzu, zu der der Doctor nur lächelnd den Kopf
+schüttelte; endlich aber sagte er:
+
+»Also, Sie fürchten eine =dritte= Erscheinung, liebe Frau Justizräthin,
+weil Sie durch die zweite die Bestätigung der ersten erhalten haben?«
+
+»Ja,« hauchte die Frau.
+
+»Sie würden auch« -- fuhr der Doktor fort, »wie Sie mir ja selber
+gestanden haben, ohne die zweite geneigt gewesen sein, die erste als
+eine bloße Phantasie, als eine Ueberreizung Ihrer Nerven anzusehen,
+nicht wahr?«
+
+»-- Ja --« erwiderte die Frau wieder, doch etwas zögernd.
+
+»Schön,« nickte der Doctor vor sich hin, »wenn ich nun hier mit meinem
+Zauberstab« und er hob seinen Stock, den er noch in der Hand
+hielt, »Ihnen selber die Erscheinung zum dritten und letzten Mal
+heraufbeschwören würde, wobei ich Ihnen zugleich beweisen könnte, daß
+wir es mit nichts Anderem, als einem vollkommen compacten Wesen aus
+Fleisch und Blut zu thun haben, -- würden Sie mir dann zugestehen, daß
+Sie sich geirrt, und daß solche Erscheinungen im Allgemeinen, und hier
+auch im Besondern, nie und nimmer als etwas Anderes betrachtet werden
+dürfen, wie als krankhafte Ausgeburten der Phantasie?«
+
+»Jene Erscheinung heraufbeschwören?« frug Auguste ordentlich erschreckt.
+
+»Ja -- aber nicht etwa aus dem Boden, wie einen Geist, sondern wie es
+sich gebührt, die Treppe herauf,« lachte der Doctor. »Würden Sie mir
+versprechen, sich recht tapfer dabei zu halten und ehe Sie uns wieder
+ohnmächtig werden, erst einmal genau zu prüfen, ob Sie es mit einem
+Geist oder einem wirklichen Menschen zu thun haben?«
+
+»Ich begreife Sie nicht,« -- stammelte die Frau.
+
+»Ist Ihr Mann nicht zurückgekehrt?« sagte der Doctor und horchte nach
+dessen Thür hinüber -- »ich dächte, ich hätte ihn in seiner Stube gehört
+-- he Justizrath?« rief er, indem er aufstand und an jene Thür klopfte.
+
+»Ja ich komme gleich« -- antwortete Bertlings Stimme.
+
+»Und wann soll ich ihn sehen?« rief die Frau, die sich einer leichten
+Anwandlung von Furcht nicht erwehren konnte.
+
+»Wann? -- jetzt gleich, wenn Sie wollen,« lachte der Arzt. »Vorher muß
+ich Ihnen aber noch bemerken, daß der berühmte Mann im grauen Rock, vor
+dem Sie einen solchen Respect haben, richtig aufgefunden ist -- denn was
+spürte die Polizei nicht heraus, wenn man ihr nur ihre Zeit läßt -- und
+er hat sich als ein vollkommen achtbares, aber auch eben so harmloses
+Individuum herausgestellt, das damals nicht etwa ein überirdischer
+Auftrag, sondern ein sehr irdisches Verlangen nach einer kleinen Summe
+Geldes zu Ihrem Gatten getrieben hatte. Der gute Mann ist aber etwas
+schüchterner Natur und da Sie bei seinem Anblick ohnmächtig wurden,
+hielt er sich für überflüssig und ging seiner Wege. Diesmal wird er aber
+nicht verschwinden und ich frage Sie jetzt noch einmal, fühlen Sie
+sich in diesem Augenblick stark genug, Ihrem vermutheten Gespenst nicht
+allein noch einmal zu begegnen, sondern ihm auch guten Abend zu sagen
+und nachher sogar eine Tasse Thee mit ihm zu trinken?«
+
+»Doctor -- wenn Sie mir =die= Ueberzeugung geben könnten!« rief die
+Frau, indem sie von ihrem Stuhl emporsprang.
+
+»Schön« sagte der Doctor, »dann bitte, geben Sie mir Ihren Arm. -- Sie
+sind ja sonst ein vernünftiges Frauchen,« setzte er herzlich hinzu, »und
+werden sich doch wahrhaftig Ihren klaren Verstand nicht von einer
+bloßen Einbildung todtschlagen lassen. -- Also jetzt kommt die
+Geisterbeschwörung und danach hoffe ich Sie wieder so munter und heiter
+zu sehen, wie nur je.«
+
+Er ließ ihr auch keine Zeit zu weiteren Einwendungen, nahm ihren Arm und
+führte sie der Thür von ihres Gatten Zimmer zu.
+
+»Können wir eintreten?« rief er hier, indem er anklopfte.
+
+»Nur herein!« tönte des Justizraths frische Stimme, allein als der
+Doctor die Thür aufwarf, fühlte er wie die Justizräthin an seinem Arm
+zusammenzuckte. Pauline war jedoch schon an ihre andere Seite getreten,
+um sie im Nothfall zu unterstützen. Aber die junge Frau hatte nicht zu
+viel versprochen, wenn sie sagte, daß sie sich stark fühlte und
+doch gehörte viel Willenskraft dazu, dem was sie bis dahin für eine
+furchtbare Wirklichkeit gehalten -- eine Botschaft aus der Geisterwelt
+-- jetzt wieder, genau wie an jenem Abend, zu begegnen und ruhig dabei
+zu bleiben.
+
+Auf dem Tisch stand die Lampe und warf ihren düsteren Schein über das
+kleine Gemach, links neben dem Tisch saß der Justizrath -- rechts neben
+dem Ofen, den rechten Arm über die Stuhllehne, das etwas bleiche
+Antlitz der Thür zugedreht -- Auguste mußte tief Athem holen, denn ein
+unsagbares Etwas schnürte ihr die Brust zusammen, -- saß der Mann im
+grauen Rock, genau wie sie ihn an jenem Abend gesehen, in jeder Miene,
+in jeder Falte seines Rockes.
+
+»So meine liebe Frau Justizräthin«, rief aber der Doctor jetzt --
+»hier habe ich also das Vergnügen Ihnen unseren Buzemann, unser
+Schreckgespenst vorzustellen. Herrn Conrad Wohlmeier aus Königsberg --
+Herr Wohlmeier, Frau Justizräthin Bertling -- bitte reichen Sie ihr die
+Hand, damit sie nicht etwa glaubt, Sie beständen blos aus Kohlenstoff
+und Stickstoffgas.«
+
+Der kleine Mann war etwas verlegen von seinem Stuhl aufgestanden und der
+ihn noch immer starr ansehenden Frau die Hand entgegenreichend, sagte
+er:
+
+»Frau Justizräthin, es sollte mir unendlich leid thun, wenn Sie mich für
+einen Geist gehalten haben. -- Ich bin nur ein armer Gymnasiallehrer,
+der --«
+
+»Bravo«! rief der Doctor lachend aus, »das war eine vortreffliche Rede,
+die Sie da gehalten haben, und nun, meine liebe Frau Justizräthin, sind
+Sie jetzt überzeugt, daß Sie Ihrem guten Mann ganz nutzlos eine Menge
+Sorge und Noth gemacht und sich selber in besonders thörichter Weise
+gequält und geängstigt haben?«
+
+»Lieber Doctor -- wie soll ich Ihnen danken?« sagte die Frau, während
+Bertling auf sie zu ging und sie umarmte und küßte.
+
+»Und jetzt!« rief Pauline lachend aus, »wollen wir auch noch den letzten
+Zeugen herein holen, der eine ganz vortreffliche Erklärung abgeben kann,
+woher die Frau Heßberger etwas von dem Mann im grauen Rock gewußt« --
+und damit sprang sie nach der Thür des Doctors, um die Rieke herein
+zu rufen -- aber die Thür war fest verschlossen und der Schlüssel
+abgezogen. --
+
+»Nun was ist das?« frug sie -- »die Thür ist ja zu.«
+
+»Hm, ja,« lachte der Justizrath, aber doch etwas verlegen, »da ich -- da
+ich doch nicht wissen konnte, wie die Sache heute ablief, so --«
+
+»So hat er die Thür abgeschlossen, daß ihm der Geist nicht wieder
+davonlaufen konnte!« jubelte der Doctor -- »das ist vortrefflich.
+Justizrath, Sie sind ein Schlaukopf.«
+
+Die Rieke wurde indessen hereingeholt und bestätigte, was sie schon an
+dem Nachmittag der Justizräthin gestanden, daß sie an jenem Abend die
+Frau Heßberger unten im Haus getroffen und sie gefragt habe, ob sie
+keinen Mann in einem grauen Rock gesehen, der so plötzlich weg gewesen
+wäre und über den sich die Frau so geängstigt hätte, daß sie ohnmächtig
+geworden wäre. Danach konnte sich die Kartenschlägerin wohl denken,
+daß die Erwähnung jenes Mannes noch frisch in der Erinnerung der
+Justizräthin sein würde und in der Art solcher Frauen benutzte sie das
+geschickt genug.
+
+Der Doctor schwur übrigens, daß er der Gesellschaft da oben über kurz
+oder lang das Handwerk legen lassen werde, denn er versicherte, daß ihm
+in letzter Zeit schon verschiedene Fälle vorgekommen wären, wo sie mit
+ihren so genannten Prophezeihungen Unheil gestiftet oder den Leuten sehr
+unnöthiger Weise Kummer und Herzeleid bereitet hätten.
+
+Unter der Zeit deckte die Rieke den Tisch und die kleine Gesellschaft
+setzte sich dann unter Lachen und heiteren Gesprächen -- die
+Justizräthin zwischen den Doctor und »den Mann im grauen Rock« -- zu dem
+frugalen aber fröhlichen Mahle nieder. Von dem Abend an aber verließen
+jene bösen Träume die Justizräthin, denn zu fest hatte sie an die
+Erscheinung geglaubt, um nicht jetzt, wo ihr der unleugbare Beweis des
+Gegentheils geworden, auch nicht die ganze Gespensterfurcht fallen zu
+lassen. Der Justizrath aber, seinem Wort getreu, und nur zu glücklich,
+sein liebes Weib von jenem unheilvollen Gedanken geheilt zu sehen,
+beschenkte den kleinen Lehrer noch an dem nämlichen Abend so reichlich,
+daß er am nächsten Morgen, jeder Sorge enthoben, seine Heimreise und
+dann seine Stellung in der Vaterstadt antreten konnte.
+
+
+
+
+Die Folgen einer telegraphischen Depesche.
+
+
+ Telegraphische Depesche
+
+ Dr. A. Müller Leipzig --straße 15.
+
+Herzlichsten Glückwunsch -- heutigen Geburtstag noch oft wiederkehren --
+Alle wohl -- tausendmal grüßen -- Inniger Freundschaft.
+
+ =Mehlig=.
+
+Obige Depesche war Morgens Früh, sieben Uhr in Berlin aufgegeben
+worden, gelangte durch den Drath nach Leipzig und wurde dem erst
+gestern angestellten Depeschenträger Lorenz als erste Besorgung zur
+augenblicklichen Beförderung übergeben.
+
+Lorenz lief was er laufen konnte, warf am richtigen Haus angelangt,
+noch einen flüchtigen Blick auf die Adresse, zog dann die Klingel an der
+Hausthür, und wurde ohne Weiteres eingelassen.
+
+Wie er die Hausflur betrat, öffnete sich rechts eine Thür. Ein ältliches
+Fräulein mit weißer Haube und Schürze kam heraus, und trug einen
+Präsentirteller in der Hand, auf dem das, wahrscheinlich eben gebrauchte
+Kaffeeservice stand; Lorenz trat auf sie zu.
+
+»Telegrafische Depesche!« sagte er und hielt ihr das Couvert mit dem
+rothen Streifen entgegen.
+
+»Jesus Maria und Joseph!« schrie die Dame, schlug in blankem Entsetzen
+die Hände über den Kopf zusammen und ließ das ganze Kaffeeservice auf
+die Erde fallen.
+
+»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz, indem er sich bückte
+und die halbe Kaffeekanne aufhob, den Präsentirteller aber liegen ließ.
+
+»Von wem ist sie denn?« schrie aber die Dame, ohne selbst in dem
+Augenblick des zerbrochenen Geschirrs zu achten.
+
+»Ja das weeß ich Sie werklich nich,« sagte Lorenz, »aber sie is für den
+Herrn Doctor Müller.«
+
+»Doctor Müller? -- Sie Ungeheuer Sie, was bringen Sie mir denn da das
+entsetzliche Papier?« rief die Dame mit vor Zorn gerötheten Wangen.
+
+»Aber ich bitte Sie um tausend Gottes Willen mein bestes Mamsellchen!«
+
+»Jetzt kann mir Ihr Telegraph mein Service bezahlen,« zürnte aber die
+schöne Wüthende, »das ist ja ärger wie Einbruch und Diebstahl! oh, das
+herrliche Porcellan!« Sie kniete neben den Scherben nieder und begann
+die auseinander gesprengten Stücke, allerdings vergebens, wieder
+zusammenzupassen. Lorenz wurde es aber unheimlich und wenn er auch nicht
+recht begriff weshalb die Dame so erschreckt sei, hielt er dies doch
+für einen passenden Moment sich aus dem Staub zu machen. Doctor
+Müller wohnte jedenfalls oben. In Gedanken behielt er auch die
+halbe Kaffeekanne bis zur Treppe in der Hand, dort legte er sie aber
+vorsichtig auf die erste Stufe und stieg dann rasch hinauf in die
+Bel-Etage.
+
+Hier mußte er wieder klingeln. Ein Dienstmädchen öffnete ihm die Thür.
+
+»Telegrafische Depesche!« sagte Lorenz und hielt ihr das Papier
+entgegen. Kaum war aber das Wort heraus, als das Mädchen ihm die Thür
+wieder vor der Nase zuschlug und er hörte nur noch wie sie drin über
+den Gang stürzte und in ein Zimmer hineinschrie: »O Du lieber Gott eine
+telegraphische Depesche.« Ein lauter Schrei antwortete -- ängstlich hin
+und wiederlaufende Schritte wurden drinnen laut und Niemand schien sich
+weiter um Lorenz zu bekümmern.
+
+»Hm,« dachte dieser, »das is mer doch eene kuriose Geschichte -- was se
+nur derbei haben? -- wenn se nich bald kommen, bimmele ich noch eenmal.«
+
+Schon hatte er die Hand zum zweitenmale nach der Klingel ausgestreckt,
+als es drinnen wieder laut wurde. Deutlich konnte er die Schritte einer
+Anzahl von Personen hören, die auf die Saalthür zukamen und diese wurde
+endlich wieder halb geöffnet.
+
+Wenn Lorenz nicht selber so erschreckt gewesen wäre, hätte er gern
+gelacht, denn auf dem Gang drinnen stand die wunderlichste Procession,
+die er in seinem ganzen Leben gesehen. Vorn ein Herr mit einem dicken
+rothen Gesicht und feuerrothem Backenbart, einem sehr schmutzigen
+Schlafrock, darunter die zusammengebundenen Unterhosen und ein Paar
+niedergetretene Pantoffeln. Hinter ihm stand eine Dame, ebenfalls im
+höchsten Morgennegligée mit weißer Nachtjacke und Unterrock. Rechts und
+links von diesen beiden drängten sich zwei Dienstboten herbei, Neugierde
+und Furcht in den bleichen Gesichtern und vier oder fünf Kinder schauten
+dazu mit den noch ungewaschenen und ungekämmten Köpfen vor, wo sie
+irgend Raum finden konnten diese durchzuschieben.
+
+»Telegrafische Depesche für Herrn Doctor Müller,« sagte Lorenz, um
+diesmal keine Verwechslung des Namens möglich zu machen.
+
+»Müller? -- Holzkopf!« schrie aber der Herr im Schlafrock und warf die
+Thür von innen wieder dermaßen in's Schloß, daß Lorenz kaum Zeit behielt
+zurückzuspringen.
+
+Etwas erstaunt blieb er, mit seiner Depesche in der Hand, jetzt an der
+Schwelle stehn, fing aber doch nun an zu glauben, daß die ganze Sache
+irgend etwas Furchtbares und Gefährliches in sich trage, das mit den
+geheimnißvollen Telegraphendrähten natürlich in directer Verbindung
+stehen mußte, und daß jetzt mehr als je daran liege, die richtige
+Person dafür zu finden. Vor allen Dingen suchte er deshalb, ehe er sich
+weiteren Mißverständnissen aussetzte, die Wohnung des besagten Doctor
+Müller ausfindig zu machen und der Zeitungsjunge, der eben das Tageblatt
+brachte, diente ihm dabei als untrügliche Quelle.
+
+»Doctor Müller?« sagte dieser -- »eine Treppe höher, können gleich das
+Tageblatt mit hinaufnehmen -- doch Treppen genug zu laufen.«
+
+Lorenz übernahm die Besorgung und befand sich bald zu seiner innigen
+Beruhigung an der rechten Thür. Ein kleines weißes Schild mit dem Namen
+des Dr. Müller darauf zeigte ihm, daß er sein Ziel erreicht habe.
+
+An dieser Vorsaalthür war keine Schelle. Er klopfte erst ein paar Mal,
+und da ihm Niemand antwortete, drückte er die Klinke nieder und trat
+ein. Auf dem Vorsaal sah er auch Niemanden und die Küche stand leer, in
+der nächsten Stube hörte er aber Stimmen, ging dort hinüber und klopfte
+an.
+
+Wie sich die Thür öffnete glänzte ihm ein mit Blumen, Torten und
+Geschenken bedeckter Tisch entgegen und eine junge allerliebste kleine
+Frau frug ihn freundlich was er wünsche. Lorenz, der außerordentlich
+gutmüthigen Herzens war, dachte aber mit Zagen an die Verwirrung, die er
+parterre und im ersten Stock schon angerichtet hatte und wünschte, mit
+dem unbestimmten Bewußtsein, daß er der Träger irgend einer furchtbaren
+Nachricht wäre, diese der jungen hübschen Frau so vorsichtig als möglich
+beizubringen.
+
+»Ach heren Se,« sagte er deshalb -- »erschrecken Sie nich -- es is Sie
+was vom Telegrafen.«
+
+Die junge Frau sah ihn stier an, hob langsam den rechten Arm in die
+Höh und brach mit dem kaum hörbaren Schrei: »Er ist todt!« bewußtlos
+zusammen. Ihr Gatte hatte auch in der That kaum Zeit sie aufzufangen und
+vor einem vielleicht schlimmen Sturze zu bewahren.
+
+»Um Gottes Willen, was ist?« frug er dabei den wie halb vom Schlag
+gerührten Depeschenträger »eine Telegraphische Depesche? -- woher?«
+
+»Nun, da Sie's doch schon einmal wissen,« sagte Lorenz, inniges Mitleid
+in den erschreckten Zügen -- »es is Sie richtig vom Telegrafen.«
+
+Der junge Mann trug sein armes, bewußtloses Frauchen auf das Sopha, wo
+er sie den Händen der jammernd herbeistürzenden Schwiegermutter übergab.
+Das Kind, das die Wärterin auf dem Arme trug, fing dabei an zu schreien,
+die Köchin war ebenfalls herein gekommen und stand schluchzend und
+händeringend an der Thür und mit zitternden Händen erbrach jetzt Dr.
+Müller die Depesche, deren Buchstaben ihm im Anfang vor den Augen
+flirrten und tanzten. Endlich las er leise vor sich hin:
+
+Herzlichen Glückwunsch -- heutigen Geburtstag -- noch oft wiederkehren
+-- Alle wohl -- tausendmal grüßen -- liebe Frau auch. Inniger
+Freundschaft.
+
+ Mehlig.
+
+Erst am Schluß und wie ihm das Bewußtsein dämmerte um was es sich hier
+handele, knitterte er das Papier in der Hand zusammen, drehte einen Ball
+daraus und schleuderte diesen mit aller Gewalt auf den Boden.
+
+»Ist er todt?« sagte Lorenz in theilnehmendem Mitgefühl.
+
+»Gehen Sie zum Teufel,« rief Dr. Müller in leicht verzeihlichem Aerger
+-- »Sie und Ihre telegraphische Depesche -- solchen Glückwunsch möcht
+ich mir nächstes Jahr noch einmal zum Geburtstag wünschen -- meine arme
+Frau kann den Tod davon haben.«
+
+»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz, Niemand bekümmerte
+sich aber mehr um ihn, denn die Uebrigen waren jetzt sämmtlich um die
+Ohnmächtige beschäftigt, so daß er die Gelegenheit für passend hielt,
+sich so rasch und unbemerkt als möglich zu entfernen. Durch das Haus
+mußte er aber noch einmal förmlich Spießruthen laufen.
+
+»Ach Sie Unglücksvogel,« sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Vase
+frischen Wassers, um der Frau zu helfen, an der Thür begegnete.
+
+»Das nächste Mal erkundigen Sie sich vorher nach dem Namen, Sie Dingsda«
+-- sagte der Herr in dem schmutzigen Schlafrock, der an der Saalthür
+in der ersten Etage ganz besonders auf ihn gewartet haben mußte, als
+er dort rasch und geräuschlos vorbeigleiten wollte, und unten in der
+Hausflur saß die Mamsell noch immer bei den Scherben, die sie vergebens
+zusammenpaßte.
+
+Auch diese empfing ihn wieder mit einer Fluth von Vorwürfen, Lorenz
+aber hielt sich nicht auf und floh aus dem Haus hinaus, als ob er hätte
+stehlen wollen und dabei erwischt worden wäre.
+
+Erst nach langer Zeit gewöhnte er sich auch an diese unausbleiblichen
+Folgen derartiger Depeschen, und als ich ihn neulich sprach, hatte er
+sogar eine Art statistischer Tabelle aufgestellt, nach der er berechnet
+haben wollte, daß durchschnittlich auf je vier telegraphische Depeschen
+-- denn nicht alle laufen so unglücklich ab, -- eine Ohnmacht und
+zwei zerbrochene Tassen, nur auf die sechste oder siebente aber ein
+ernstlicher Unfall folge.
+
+»S'is was Scheenes um en Telegrafen,« sagte er dabei, »aber Gott bewahre
+Eenen vor ener telegrafischen Depesche!«
+
+
+
+
+Der Polizeiagent.
+
+
+I.
+
+Im Packwagen.
+
+Es war im Juli des Jahres 18--, als der von Cassel kommende Schnellzug
+in Guntershausen hielt und dort solch eine Unzahl von Passagieren
+vorfand, daß die Schaffner kaum Rath und Aushilfe wußten. Alle Welt
+befand sich aber auch gerade in dieser Zeit unterwegs und die Züge --
+da das andauernd schlechte Wetter bisher die Reisenden zurückgehalten
+-- waren bei dem ersten warmen Sonnenstrahl gar nicht auf einen so
+plötzlichen Andrang berechnet gewesen.
+
+Uebrigens machte man möglich, was eben möglich zu machen war. Alle
+vorhandenen Wagen wurden eingeschoben, jeder noch freie Platz dritter
+Klasse -- zum großen Aergerniß mit Hutschachteln und Reisetaschen reich
+bepackter Damen -- auf das gewissenhafteste ausgefüllt und dann in die
+zweite, ja sogar selbst in die erste Klasse hineingeschoben was eben
+hineinging. Die nächsten Stationen nahmen ja auch wieder Reisende ab,
+und nach und nach regulirte sich alles.
+
+Durch diesen Aufenthalt hatte sich der Schnellzug aber auch um eine gute
+halbe Stunde verspätet und war eben zum Abfahren fertig, als noch ein
+leichter Einspänner angerasselt kam und ein einzelner Herr, eine kleine
+lederne Reisetasche in der Hand, heraus und darauf zusprang.
+
+»Zu spät,« rief ihm der Oberschaffner entgegen und gab den
+verhängnißvollen schrillenden Pfiff; »wir haben alle Personenwagen
+besetzt.«
+
+Der Fremde, der augenscheinlich kein Neuling auf Reisen war, warf einen
+raschen, prüfenden Blick über die lange Wagenreihe und sah Kopf an Kopf
+in den Fenstern -- aber die Schiebethür des Packwagens stand noch halb
+geöffnet.
+
+»Dann werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
+einquartiren,« lachte er und ohne die Einwilligung des Schaffners
+abzuwarten, der übrigens auch nichts dagegen hatte, sprang er auf den
+Wagentritt und in den Packwagen hinein. Bei einem solchen Andrang von
+Personen mußte sich ein jeder helfen so gut er eben konnte.
+
+»Das ist eigentlich nicht erlaubt --« sagte der Packmeister; aber der
+Fremde kannte genau die Sprache, die hier alleinige Geltung hatte, und
+dem Packmeister ein Stück Geld in die sich unwillkürlich öffnende Hand
+drückend, lachte er:
+
+»Ich führe ganz vortreffliche Cigarren bei mir und wenn ich nicht
+im Wege bin, erlauben Sie mir wohl eine Viertelstunde Ihnen hier
+Gesellschaft zu leisten.«
+
+»Haben Sie denn ein Billet?« frug der Mann und sein =Gefühl= sagte ihm,
+daß er ein großes Silberstück in der Hand hielt.
+
+»Noch nicht -- ich bin eben erst, wie der Zug abgehen wollte, mit einem
+Einspänner von Melsungen herüber gekommen. Mein Billet nehme ich auf der
+nächsten Station.«
+
+»Na da setzen Sie sich nur da drüben auf den Koffer, in Treysa
+gibt's Platz,« bemerkte der Packmeister, während der Fremde seine
+Cigarrentasche herausnahm und sie dem Manne hinhielt.
+
+»Mit Erlaubniß -- danke schön« -- die Bekanntschaft war gemacht, der Zug
+überdies in Bewegung und der Passagier, bis ein anderer Platz für ihn
+gefunden werden konnte, rechtsgültig untergebracht.
+
+Eine Cigarre wirkt überhaupt oft Wunder und die Menschen, die sich
+diesen Genuß aus ein oder dem andern Grunde versagen, wissen und ahnen
+gar nicht, wie sehr sie sich oft selber dadurch im Lichte stehen. Mit
+einer Cigarre ist jeder im Stande, augenblicklich auf indirecte Art eine
+Unterhaltung anzuknüpfen, indem man nur einen Reisegefährten um Feuer
+bittet. Ist dieser in der Stimmung, darauf einzugehen, so giebt er die
+eigene Cigarre zum Anzünden. Paßt es ihm aber nicht, so bleibt ihm
+immer noch ein Ausweg -- er reicht dann dem Bittenden einfach ein
+Schwefelholz. Der Empfänger dankt, zündet seine Cigarre an, wirft das
+Holz weg und betrachtet sich als abgewiesen.
+
+Mit einer dargebotenen Cigarre gewinne ich mir außerdem das Herz
+unzähliger Menschen, die der =nicht= rauchende Reisende in gemeiner
+Weise durch schnöde Fünf- und Zehn-Groschenstücke gewinnen muß. -- Sitz'
+ich auf der Post neben dem Postillion auf dem Bock, so öffnet mir eine
+Cigarre sein ganzes Herz; ich erfahre nicht allein die außerordentlichen
+Eigenschaften seiner Pferde, sondern auch die Familiengeheimnisse des
+Posthalters und erweiche ich dasselbe sogar noch mit einem Glase Bier,
+so liegt sein eigenes Innere offen vor mir da. Selbst der gröbste
+Schaffner wird rücksichtsvoll, sobald er die ihm dargereichte
+Cigarrentasche erblickt -- man soll nämlich derartigen Leuten nie eine
+einzelne Cigarre hingeben, weil sie außerordentlich mißtrauisch sind und
+leicht Verdacht schöpfen können, man führe besondere »Wasunger« Sorten
+bei sich für solchen Zweck und das verletzt ihr Ehrgefühl.
+
+Auch der Packmeister war gesprächig geworden -- die Cigarre schmeckte
+ausgezeichnet -- und erzählte von dem, was ihm natürlich am nächsten
+lag, von der ewigen unausgesetzten Plackerei, so daß man seines Lebens
+kaum mehr froh werden könnte. Die ganze Welt reise jetzt -- wie er
+meinte -- in die Bäder. Er reiste auch in einem fort -- alle Wochen drei
+Mal in die Bäder, kam aber nie hin und hatte kaum Zeit, sich Morgens
+ordentlich zu waschen, viel weniger zu baden. In seinem Packwagen stecke
+er dazu wie eine Schnecke in ihrem Haus, nur daß die Schnecke nicht
+ununterbrochen Koffer und Hutschachteln ein- und auszuladen hätte.
+»Sehen Sie« -- setzte er dann hinzu -- »so gewöhnt man sich aber daran,
+daß ich schon Nachts in meinem eigenen Bett -- wenn ich meine Nacht
+daheim hatte und ich schlafe dicht am Bahnhof -- im Traum, sowie ich nur
+die verdammte Locomotive pfeifen hörte, Bettdecke und Kopfkissen in die
+Stube hineingefeuert habe, weil ich glaubte, es wäre Station und ich
+müßte ausladen. Es ist Sie ein Hundeleben.«
+
+Wieder pfiff diese nämliche Locomotive. Der Zug hielt an einer der
+kleinen Stationen und drei Koffer gingen hier ab, und ein anderer Koffer
+mit zwei Reisesäcken und eine Kiste kam hinzu. Der Fremde mußte aber
+noch sitzen bleiben, denn der Aufenthalt dauerte zu kurze Zeit, um ein
+Billet lösen zu können.
+
+»Ich begreife nicht,« sagte der Fremde, »wie Sie sich da immer so
+zurecht finden, daß Sie gleich wissen was expedirt wird und was
+dableibt. Kommt da nicht auch oft ein Irrthum vor?«
+
+»Doch selten,« meinte der Packmeister, indem er seine bei der Expedition
+ausgegangene Cigarre wieder mit einem Schwefelhölzchen anzündete -- »man
+bekommt Uebung darin. Nur heute wär mir's in dem Wirrwarr bald schief
+gegangen, denn in Guntershausen hatte ich aus Versehen den nämlichen
+Koffer hinausgeschoben, auf dem Sie da sitzen. Glücklicherweise kriegte
+ihn der Eigenthümer noch zur rechten Zeit in die Nase -- und das bischen
+Spectakel, was der machte! Aber es war ja noch kein Malheur passirt und
+so schoben wir ihn wieder herein. Den Packmeister möchte ich überhaupt
+sehen, dem nicht schon einmal ein falscher Koffer entwischt ist -- der
+Telegraph bringt das aber alles wieder in Ordnung. -- Staatseinrichtung
+das mit dem Telegraphen.«
+
+Der Fremde hatte sich, während der Mann sprach fast unwillkührlich den
+Koffer angesehen, auf dem er saß, und stand jetzt auf und las das kleine
+Messingschild. Es enthielt nur die zwei Worte »_Comte Kornikoff_.«
+
+»Und wie sah der Herr aus, dem der Koffer gehörte?« frug er endlich.
+
+»Oh, ein kleines, schmächtiges Männchen,« meinte der Packmeister, »mit
+einem pechschwarzen Schnurrbart und einer blauen Brille.«
+
+»Wohin geht denn der Koffer heute?«
+
+»Nach Frankfurt -- ich war ja ganz confus und glaubte, er ginge nach
+Cassel, weil ich gestern den Packwagen dorthin hatte.«
+
+Wieder pfiff die Locomotive und während der Packmeister von seinem
+Geschäft in Anspruch genommen wurde, betrachtete der Fremde das Schild
+noch genauer, aber er sprach nichts weiter darüber und da sie gleich
+darauf in Treysa hielten, mußte er dort aussteigen und ein Billet lösen.
+Hier war auch eine große Zahl von Passagieren abgegangen und Platz genug
+geworden.
+
+»Wohin fahren Sie?«
+
+»Frankfurt --«
+
+»Die vorderen Wagen.«
+
+Der Fremde schritt an der Reihe hinauf und sah in die verschiedenen
+Coupés hinein. In dem einen saß ein Herr und eine Dame. Der Herr trug
+eine blaue Brille. Er öffnete sich selber die Thür, stieg ein, grüßte
+und nahm dann in der einen Ecke Platz.
+
+Der Herr mit der blauen Brille schien das nicht gern zu sehen -- er
+schaute aus dem Wagenfenster als ob er einen Schaffner herbeirufen
+wollte, und warf dann einen forschenden Blick auf den Fremden. Dieser
+aber kümmerte sich nicht darum, legte seine kleine Reisetasche in das
+Netz hinauf und machte es sich dann vollkommen bequem.
+
+»Bitte, Ihr Billet, mein Herr --«
+
+»Hier --«
+
+»Sie haben aber erste Klasse.«
+
+»Es sitzen einige Damen erster Klasse,« sagte der Fremde, »und da ich
+den Herrn da rauchen sah, nahm ich =hier= Platz. Die Dame wird mir wohl
+das Anzünden einer Cigarre erlauben.«
+
+Die letzten Worte waren, wie halb fragend an die Dame gerichtet, deren
+Gesichtszüge sich aber nicht im Geringsten dabei veränderten. Sie mußte
+den Sinn derselben gar nicht verstanden haben.
+
+Der Schaffner coupirte das Billet und die Passagiere waren allein;
+da aber der Fremde der Artigkeit Genüge leisten wollte, nahm er seine
+Cigarrentasche heraus und aus dieser eine Cigarre und sagte dann noch
+einmal, sich an den Herrn wendend:
+
+»Die Dame scheint meine Frage nicht verstanden zu haben. Sie erlaubt mir
+wohl, daß ich rauche?«
+
+»Sprechen Sie Englisch?« frug der Herr in dieser Sprache zurück -- »ich
+verstehe kein Deutsch --«
+
+»Ich muß sehr bedauern,« sagte der Fremde achselzuckend, aber wieder in
+deutscher Sprache. Die Unterhaltung war dadurch unmöglich geworden, die
+Pantomine indeß zu deutlich gewesen und der Herr mit der blauen Brille
+reichte dem, wie es schien eben nicht willkommenen Reisegefährten seine
+brennende Cigarre zum Anzünden, die dieser dankend annahm und dann
+zurückgab.
+
+Die Dame hatte den Kopf halb abgewandt und sah zu dem geöffneten Fenster
+hinaus. Der Fremde warf unwillkürlich den Blick nach ihr hinüber
+und mußte sich gestehen, daß er selten, wenn je in seinem Leben,
+ein schöneres Gesicht, regelmäßigere Züge, feurigere Augen und einen
+tadelloseren Teint gesehen habe. Und wie schön mußte das Mädchen oder
+die Frau erst sein, wenn sie =lächelte=, denn jetzt zog eine Mischung
+von Trotz und Stolz -- vielleicht der Unwille über des Fremden
+Gegenwart, die fein geschnittenen Lippen zusammen und gab dem lieben
+Antlitz etwas Finsteres und Hartes, was ihm doch sonst gewiß nicht eigen
+war.
+
+Ein kurzes Gespräch entspann sich jetzt zwischen dem Herrn und der Dame,
+auf welches der Fremde aber nicht zu achten schien, denn er nahm ein
+Eisenbahnbuch aus der Tasche und blätterte darin. Die Dame sagte, ohne
+jedoch den Blick von der Landschaft wegzuwenden, ebenfalls in englischer
+Sprache:
+
+»Wer ist der Fremde?«
+
+»Ich weiß es nicht,« lautete die Antwort, »aber wir brauchen uns
+seinetwegen nicht zu geniren; er versteht kein Englisch.«
+
+»Aber er sieht englisch aus.«
+
+»Bewahre,« lachte der Mann -- »er hat auch nicht ein einziges englisches
+Stück Zeug an seinem Körper -- die Reisetasche ist ebenfalls deutsch,
+gerade so wie sein Handbuch.«
+
+»Er ist lästig, wir hätten erster Classe fahren sollen.«
+
+»Liebes Herz, das schützt uns nicht vor Gesellschaft, denn der Herr hat
+ebenfalls ein Billet erster Classe und ist nur hier eingestiegen, weil
+er mich rauchen sah.«
+
+»Dein fatales Rauchen.« -- Die Unterhaltung stockte und der Herr mit der
+blauen Brille warf noch einen prüfenden Blick nach seinem Reisegefährten
+hinüber, der aber gar nicht auf ihn achtete und sich vollständig mit
+seiner Cigarre und seinem Buch beschäftigte. Nur dann und wann hob er
+den Blick und schaute nach beiden Seiten auf die Landschaft hinaus und
+streifte dann damit, wenn auch nur flüchtig, den Fremden.
+
+Es war eine kleine, aber zierliche schlanke Gestalt, sehr elegant, aber
+fast zu sorgfältig gekleidet, auch mit mehr Schmuck als ein wirklich
+vornehmer Mann zu zeigen pflegt. Die Hände aber hatten etwas wirklich
+Aristokratisches -- sie waren weiß und zart geformt und wenn er den Mund
+zum Sprechen öffnete, zeigte er zwei Reihen auffallend weißer Zähne.
+Sein Haar war braun und etwas gelockt, der Schnurrbart aber von tiefer
+Schwärze, jedenfalls gefärbt. Die Augen ließen sich nicht erkennen,
+da sie von der blauen Brille bedeckt wurden. Trotzdem aber, daß er nur
+englisch zu sprechen schien, war er vollkommen nach französischer Mode
+gekleidet. Nur die junge Dame trug in ihrem Putz und Reiseanzug den
+entschieden englischen Charakter, wie auch entschieden englische Züge.
+Ihren Begleiter würde man weit eher für einen Franzosen als für einen
+Sohn Albions gehalten haben.
+
+Mehrere Stationen blieben die Drei allein in ihrem Coupé. Die Dame war
+müde geworden und hatte -- soweit es die Bewegung des Wagens erlaubte --
+ein wenig geschlafen. In Gießen aber kamen noch eine Anzahl Passagiere
+hinzu und zwei von diesen, ein Herr und eine Dame, stiegen in dies
+nämliche Coupé. Wieder ein Paar Engländer und die Dame, wenn auch
+schon ziemlich in den Jahren, doch mit den unvermeidlichen, langen
+Hobelspahnlocken, die ihr vorn fast bis zum Gürtel nieder hingen; der
+Herr mit einem breitränderigen, schwarzen Filzhut, einem kleinen, sehr
+mageren Schnurrbart und einer Cigarre im Munde -- lauter continentale
+Reiseerinnerungen, die wieder fallen müssen, sobald der Eigenthümer
+derselben den Boden seines Vaterlandes aufs neue betritt.
+
+Wenn sich die beiden Herren aber auch ziemlich kalthöflich gegeneinander
+verneigten, so schienen die Damen dagegen schon beim ersten Blick
+die gemeinsame Nationalität erkannt zu haben, und kaum saß die
+Neuhinzugekommene, als sie auch ein lebhaftes Gespräch mit ihrer jungen
+Nachbarin begann, an dem sich diese ebenfalls zu freuen schien, denn ihr
+Gemahl oder Begleiter hatte sie wenig genug unterhalten.
+
+Engländer auf dem Continent -- wie könnte es ihnen auch an Stoff zur
+Unterhaltung fehlen -- Vereinigt sie nicht ein gemeinsames Leid und
+Elend? Werden sie nicht gleichmäßig von allen Wirthen, Kellnern,
+Droschkenkutschern, Gepäckträgern und Lohnbedienten geprellt, und
+=kann= ein wirklicher Engländer ohne Lohnbedienten auf dem Continent
+durchkommen, denn spricht er je die Sprache des Landes, auf dem er eine
+freie Zeit zubringen will? -- Unter hunderten kaum einer.
+
+Das Gespräch -- sowie nur die ersten Fragen über woher und wohin
+erledigt waren, drehte sich auch nur um diesen Gegenstand, und der Herr
+mit dem breitkrämpigen Hut nahm bald lebhaften Theil daran.
+
+Er kam mit seiner Frau natürlich von London, hatte vier Wochen zur
+Reise bestimmt, zwei davon schon nützlich verwandt, und schien fest
+entschlossen, auch die andern beiden noch daran zu setzen, um sich in
+jeder nur erreichbaren Stadt Deutschlands über die Wirthe im Einzelnen
+und das Volk im Allgemeinen zu ärgern, und dann mit dem stolzen
+Bewußtsein nach Hause zurückzukehren, daß es doch nur =ein= England in
+der Welt gäbe.
+
+Die junge Frau kam, wie sie sagte, mit ihrem Mann von Hannover, wo sie
+ein Jahr bei Freunden zugebracht. Sie beabsichtigten jetzt auf einen
+Monat nach Frankfurt oder auch vielleicht in ein benachbartes Bad zu
+gehen, um ihre Gesundheit, die durch den längeren Aufenthalt in dem
+rauhen Lande angegriffen sei, wieder herzustellen.
+
+»Und wo werden Sie in Frankfurt wohnen?«
+
+Sie wußten es noch nicht -- der Herr mit dem breiträndrigen Hut schlug
+die »Stadt Hull« als ein sehr billiges, ihm besonders empfohlenes
+Gasthaus vor. Uebrigens könne man ja vorher über den Preis von »_board
+and lodging_« akkordiren -- =er= thäte das immer, wenn es auch ein wenig
+»schäbig« aussehe -- den deutschen Wirthen gegenüber sei man sich das
+aber schuldig.
+
+Beide Parteien beschlossen deshalb, in Stadt Hull zu übernachten und
+gemeinschaftlich zu essen -- »es sei das billiger.« Morgen konnte man
+dann auch zusammen einen Lohnbedienten nehmen, und sparte dadurch die
+halbe Auslage -- der morgende Tag würde überhaupt ein sehr angestrengter
+werden, denn es gab in Frankfurt -- nach Murray -- eine Unmasse von
+Sehenswürdigkeiten, die nun einmal durchgekostet werden =mußten=, wenn
+man nicht die Reise umsonst gemacht haben wollte.
+
+Der Herr mit der blauen Brille hatte sich nicht sehr an der Unterhaltung
+betheiligt. Er schien keine Freude daran zu finden. Auch die
+Aufforderung, gemeinsam in Stadt Hull zu logiren, beantwortete er
+zweideutig, während die junge Dame augenblicklich bestimmt zusagte.
+Dann lehnte er sich in seine Ecke zurück und schlief -- er verhielt
+sich wenigstens von da an vollkommen ruhig, wenn man auch der blauen
+Brillengläser wegen nicht einmal sehen konnte, ob er nur die Augen
+geschlossen hielt.
+
+Es war indessen dunkel geworden -- die übrigen Passagiere wurden
+ebenfalls müde, und nur auf der vorletzten Station unterbrach der
+Schaffner noch einmal die Stille, indem er die Billete nach Frankfurt
+abforderte.
+
+Der Fremde mit der blauen Brille schien wirklich eingeschlafen zu sein.
+Er fuhr, als ihn der Schaffner, der neben ihm durch das Fenster sah, auf
+die Schulter klopfte, ordentlich wie erschreckt in die Höhe und sah sich
+wild und verstört um -- er hatte jedenfalls geträumt, und suchte dann,
+als er begriff was man von ihm wolle, in der Westentasche nach seinem
+Billet.
+
+Ein kleiner weißer Streifen Papier fiel dabei auf die Erde und der
+Fremde mit der Reisetasche, der jenem schräg gegenüber saß, stellte
+den Fuß darauf. Dann war wieder alles still; der mit der blauen Brille
+lehnte sich in seine Ecke zurück und sein halbes _Vis-à-vis_ nahm sein
+Taschentuch heraus, ließ es wie zufällig fallen und hob den Zettel damit
+auf -- es war der Gepäckschein.
+
+Bald darauf rasselte der Zug mit einem markdurchschneidenden Pfeifen
+-- daß Einem die eigene Lunge weh that, wenn man es nur hörte -- in den
+Frankfurter Bahnhof ein, und der Fremde mit der kleinen Reisetasche war
+der erste, der aus dem Wagen sprang und zu dem Güterkarren eilte.
+Hatte er indessen unredliche Absichten dabei gehabt, so sollte er die
+vereitelt sehen, denn es dauerte eine Ewigkeit, bis der, wie es schien,
+wohlgemerkte Koffer, auf den der Schein lautete, zum Vorschein kam,
+und bis dahin war der rechtmäßige Eigenthümer schon ebenfalls herbei
+gekommen und erkannte sein Gepäck. Vergebens suchte er indessen in
+allen Taschen nach seinem Schein und fluchte auf deutsch, englisch
+und französisch, daß ihm die Beamten sein Gepäck nicht ohne denselben
+ausliefern wollten.
+
+Der Fremde hatte sich etwas zurückgezogen und stand im Schatten eines
+Pfeilers -- jedenfalls machte er da die Entdeckung, daß der Herr mit
+der blauen Brille nicht allein vollkommen gut deutsch, sondern auch
+französisch sprach, und sich in beiden Sprachen erbot, seine Koffer zu
+öffnen und dadurch zu beweisen, daß er der Eigentümer sei.
+
+Der Inspektor kam endlich heran und ersuchte ihn sehr artig, nur so
+lange zu warten, bis das übrige Gepäck fortgenommen sei; wenn er dann
+die passenden Schlüssel producire, möge er seine Koffer mit fortnehmen.
+
+Der Fremde zeigte Anfangs viel Ungeduld, und erklärte mit dem nächsten
+Zuge nach Mainz noch weiter zu wollen, der Inspektor bedeutete ihm aber,
+daß er dann hätte besser auf seinen Gepäckschein Acht geben sollen --
+den Zug nach Mainz erreiche er indessen doch nicht mehr, da derselbe
+schon vor einer Viertelstunde abgegangen, weil sich der Schnellzug
+verspätet habe. Es blieb ihm zuletzt kein anderer Ausweg, als dem
+gegebenen Rath zu folgen, und als seine Koffer wirklich zurückgeblieben,
+und er sich durch seine Schlüssel als der rechtmäßige Eigenthümer
+legitimiren konnte, bekam er endlich sein Gepäck und ließ es -- einen
+großen und einen kleineren Koffer -- in die durch die Dame schon in
+Besitz genommene offene Droschke schaffen.
+
+Dicht dahinter hielt noch eine verschlossene Droschke =ohne= Gepäck;
+sonst hatten sämmtliche Wagen, selbst die Omnibusse, schon die Bahn
+verlassen, und der Kutscher fuhr jetzt, auf die Anweisung des Reisenden,
+nicht nach der Stadt Hull, sondern nach dem »_Hôtel Methlein_.«
+
+Die andere Droschke folgte in etwa zwanzig Schritt Entfernung nach, und
+hielt, als die erste in den Thorweg einfuhr. Ein Reisender mit einer
+kleinen Reisetasche in der Hand stieg aus, befahl dem Droschkenkutscher
+zu warten, und betrat dann zu Fuß das nämliche Hotel.
+
+Dort angekommen legte der Reisende nur eben in dem ihm bezeichneten
+Zimmer sein geringes Gepäck ab, bestellte sich unten im Speisesaal
+etwas zu essen und verließ dann noch einmal das Hotel, um nach dem
+Telegraphenbureau zu fahren. Dort gab er folgende Depesche auf:
+
+ _Mr. Burton, Union Hôtel, Hannover._
+
+Ist ein Graf Kornikoff ein Jahr in Hannover gewesen? -- Fremdenliste
+nachsehen. Kommen Sie so rasch als möglich hierher. -- Bin ich
+abgereist, liegt ein Brief im Hotel. --
+
+ _H._
+
+Dann kehrte er ins Hotel zurück und verzehrte sein Abendbrod, das ihm
+der Kellner brachte.
+
+Der Saal war leer; nur vier Herren saßen an einem Tisch und schienen,
+schon ziemlich angetrunken, den Geburtstag des einen zu feiern, der mit
+schwerer Zunge noch eine Flasche moussirenden Rheinwein bestellte. Um
+den Fremden bekümmerte sich Niemand.
+
+Dieser aß das ihm vorgesetzte Beefsteak, trank seine Flasche Wein dazu
+und wartete es ruhig ab, bis ihm der Kellner das Fremdenbuch brachte. In
+dasselbe schrieb er sich ein als W. Hallinger, Particulier aus Breslau
+und blätterte dann die Seiten nach den dort eingetragenen Namen durch.
+
+Ganz zuletzt -- dicht über seinem eigenen Autograph -- standen seine
+Reisegefährten eingetragen: »Comte Kornikoff und Frau, aus Petersburg --
+von Hannover nach Frankfurt.«
+
+Der Kellner hatte dabei bemerkt Nr. 6 und 7.
+
+»Wollen Sie morgen früh geweckt sein?« frug ihn der Portier, als er
+seine Flasche beendet und seine Cigarre ausgeraucht hatte, und eben im
+Begriff stand zu Bett zu gehen.
+
+»Wann geht der erste Zug?«
+
+»Wohin?«
+
+»Nach Mainz oder Wiesbaden.«
+
+»Sechs Uhr.«
+
+»Gehen da noch mehrere Passagiere ab?«
+
+»Jawohl,« erwiederte der Portier, auf die für den Hausknecht bestimmte
+Tafel zeigend -- »Nr. 5, Nr. 17 und Nr. 37 lassen sich wecken. Soll ich
+Sie ebenfalls notiren?«
+
+»Ach, ich weiß nicht; ich bin müde heut Abend. Ich werde wohl erst mit
+dem zweiten Zug fahren.«
+
+»Sehr wohl, mein Herr -- Kellner, Licht auf Nr. 8. Angenehme Ruhe.«
+
+Der Fremde stieg auf sein Zimmer hinauf und sah vor Nr. 7 ein Paar
+Herrenstiefeln und ein Paar lederne Damenschuhe stehen. Im Hotel schlief
+aber schon alles; es war spät geworden, da sich der Zug überhaupt
+verspätet hatte und der »Particulier Hallinger« suchte ebenfalls sein
+Lager.
+
+
+II.
+
+Der Bundesgenosse.
+
+Am nächsten Morgen war der Fremde, der sich in dem Fremdenbuch als
+Particulier Hallinger eingeschrieben hatte, trotzdem daß er nicht
+geweckt wurde, ziemlich früh wieder munter, aber es schlug 8 Uhr, und
+die Stiefel und die Damenschuhe standen noch immer vor Nr. 7, ohne
+hereingeholt zu sein. Erst gegen neun Uhr schienen die Insassen jenes
+Zimmers ordentlich munter zu werden, und um halb zehn Uhr wurde Kaffee
+bestellt. Aber erst gegen zwölf Uhr ging der Herr aus, und zwar allein
+-- die Dame blieb auf ihrem Zimmer. Wie der Kellner aussagte, fühlte
+sich die Dame nicht ganz wohl, und wollte heute ausruhen -- er hatte
+wenigstens nicht in das Zimmer gedurft, und das Stubenmädchen mußte den
+Kaffee hinein tragen. Wahrscheinlich lag sie noch im Bette.
+
+Der Fremde blieb übrigens den ganzen Tag zu Haus, und schickte nur einen
+Brief an _Messrs. Burton & Burton, London, 12 Fleetstreet_ durch den
+Hausknecht auf die Post. Thatsache war übrigens, daß er sich ungemein
+für seine Nachbarschaft zu interessiren schien, denn als der Herr wieder
+nach Hause kam, rückte er sich leise einen Stuhl an die verschlossene
+Verbindungsthür und horchte stundenlang mit einer merkwürdigen Ausdauer
+dem da drüben gehaltenen Gespräch, jedoch ohne besonderen Nutzen. Die
+laut gesprochenen Worte waren vollständig gleichgültiger Natur, und das
+andere konnte er eben nicht verstehen.
+
+Zu Mittag aß er an der Table d'hôte, aber von Nr. 6 oder 7 ließ sich
+niemand dabei blicken. Die Dame schien sich noch angegriffen von der
+Reise zu fühlen und Beide speisten auf ihrem Zimmer.
+
+Erst Nachmittags begegnete er dem »Grafen Kornikoff« auf der Treppe und
+dieser sah ihn etwas überrascht durch seine blaue Brille an. Der Fremde
+heuchelte aber vollständige Gleichgültigkeit, nahm nicht die geringste
+Notiz von ihm, und that wenigstens so, als ob er ihn gar nicht wieder
+erkenne.
+
+So verging der Tag, ohne daß die beiden Reisenden Miene gemacht hätten,
+Frankfurt wieder zu verlassen. Der Oberkellner, mit dem sich Herr
+Hallinger über die »bildschöne junge Frau« unterhielt, wußte wenigstens
+nicht das Geringste davon. Abends aber, als der Schnellzug von Hannover
+erwartet wurde, ging Hallinger hinaus auf den Bahnhof, und brauchte, als
+der Zug endlich einlief, auch nicht lange nach dem Erwarteten zu suchen.
+Dieser hatte ihn schon von seinem Coupé aus bemerkt und kam rasch auf
+ihn zu.
+
+»Hamilton! nun, was Neues?«
+
+»Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur, Mr. Burton,« sagte dieser,
+indem er achtungsvoll seinen Hut berührte. »Aber wo ist Ihr Gepäck?«
+
+»Nichts als die Reisetasche hier.«
+
+»Desto besser, auf der Jagd darf man nicht unnöthigen Plunder
+mitschleppen. Kommen Sie, ich habe schon eine Droschke«.
+
+»Gehen wir nicht lieber zu Fuß?«
+
+»Es ist zu weit -- und fahren ist sicherer.«
+
+»Und was =haben= Sie nun entdeckt?« frug der junge Engländer, als Beide
+eingestiegen waren und davon rasselten -- die Unterhaltung wurde auch in
+englischer Sprache geführt.
+
+»Das will ich Ihnen mit kurzen Worten sagen,« berichtete der fälschlich
+als deutscher Particulier eingetragene Fremde. »Durch einen reinen
+Zufall war ich genöthigt, ein Paar Stationen in einem Packwagen zu
+fahren, und fand dort einen Koffer, dessen Messingschild den Namen
+»_Comte Kornikoff_« trug.«
+
+»Und Sie glauben, daß jener Schuft Kornik dahinter stecke?«
+
+»Durch den Namen allein wäre ich vielleicht nicht einmal darauf
+gefallen,« fuhr Hamilton fort, »aber das französische Wort _Comte_ war
+jedenfalls später zu dem Namen gravirt, denn es nahm nicht den Raum
+ein, den ihm der Graveur gegeben hätte, wenn er es von Anfang an darauf
+gesetzt. Ebenso schien das _off_ hinzugefügt.«
+
+»Und die Beschreibung des Eigenthümers paßt?« rief Mr. Burton rasch.
+
+»Ja und nein. Wohl in der Gestalt, aber sonst nicht ganz; der
+dunkelblonde Backenbart fehlt«.
+
+»Der kann abrasirt sein.«
+
+»Das ist möglich -- aber er trägt einen vollkommen schwarzen Schnurrbart
+und eine blaue Brille«.
+
+»Der Schnurrbart ist vielleicht gefärbt.«
+
+»Das vermuthe ich selber. -- Die Dame ist bei ihm.«
+
+»Miss Fallow?«
+
+»Unter dem Namen der Gräfin Kornikoff natürlich, -- wenn das nämlich der
+von uns Gesuchte ist. Sie kennen ihn doch genau?«
+
+»Als ob er mein leiblicher Bruder wäre. Er war ja sieben Jahre in meines
+Vaters Haus und die beiden letzten als Hauptcassirer, wo er sich -- wer
+weiß durch was, verleiten ließ, diesen bedeutenden Kassendiebstahl zu
+begehen.«
+
+»Wahrscheinlich durch eben diese junge Dame,« sagte Hamilton, »von der
+ich ganz allerliebste Sachen gehört habe. Ihr eigentlicher Name ist Lucy
+Fallow, Tochter eines Schneidermeisters in London, aber die Eltern sind
+beide todt. Es sollen ganz ordentliche Leute gewesen sein. Das junge
+Mädchen hatte, ihres anständigen Benehmens wegen und da sie wirklich
+nicht ungebildet ist, ein Paar Jahr mit einer vornehmen Familie reisen
+können, und dann später auch noch hie und da Unterricht in Musik
+gegeben. Dadurch kam sie auch in Lady Clives Haus, von wo aus sie jetzt
+beschuldigt wird, einen sehr werthvollen Schmuck entwendet zu haben.«
+
+»Der sich dann vielleicht in ihrem Koffer findet.«
+
+»Beinah hätte ich diese beiden Koffer erwischt,« lächelte Hamilton leise
+vor sich hin, »aber ich durfte kein Aufsehen erregen, bis ich nicht
+durch =Sie= hier Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte. Die
+Dame kennen Sie nicht selber?«
+
+»Nein -- ich habe sie nie gesehen.«
+
+»Und von einem Grafen Kornikoff in Hannover auch nichts gehört?«
+
+»Nicht das Geringste. Kein Mensch wußte dort etwas von ihm, und er stand
+nicht einmal in einem Fremdenblatt. Er kann nur durchgereist sein, und
+Sie werden gewiß die richtige Spur gefunden haben. Uebrigens müssen wir
+vorher die nöthigen Schritte auf der Polizei thun.«
+
+»Ist schon alles geschehen,« sagte Hamilton. »Ich habe den
+Verhaftsbefehl für das Pärchen schon in der Tasche, und den Burschen mit
+seiner Donna fest, sowie Sie mir nur bestätigen, daß er der Rechte ist.«
+
+»Ich hätte im Leben nicht geglaubt,« sagte Mr. Burton, »daß Sie dem
+Betrüger sobald auf die Spur kämen. Es geht alles nach Wunsch. Apropos,
+haben Sie denn die Dame auch zu sehen bekommen?«
+
+»Ich bin ja mit ihnen in =einem= Coupé gefahren,« lachte Hamilton, »und
+sie ahnten dabei wahrscheinlich nicht, daß sie einen geheimen Polizisten
+bei sich im Wagen hatten. Nun ich denke, wir werden noch länger
+Reisegefährten bleiben. Aber da sind wir -- jetzt haben wir nur darauf
+zu sehen, daß uns die Herrschaften nicht etwa morgen in aller Früh
+durchbrennen. Wollen wir gleich auf Ihr Zimmer gehen?«
+
+»Ich muß erst etwas essen; ich bin ganz ausgehungert.«
+
+»Schön -- dann kommen Sie mit in den Speisesaal, wir finden ihn um diese
+Zeit fast leer.«
+
+Sie bogen rechts ein, um den Saal zu betreten. Als aber Hamilton die
+Hand nach der Thür ausstreckte, öffnete sich diese, und Graf Kornikoff
+trat heraus, warf einen flüchtigen Blick auf die Beiden und schritt dann
+langsam über den Vorsaal, der Treppe zu.
+
+»Das war er,« flüsterte Hamilton seinem Begleiter zu -- »wenn er Sie nur
+nicht erkannt hat.«
+
+Unwillkührlich drehte Burton den Kopf nach ihm um, konnte aber die
+schmächtige Gestalt des Herrn nur noch sehen, wie er eben um die Ecke
+bog, ohne jedoch dabei zurückzuschauen.
+
+»Das glaub ich kaum,« sagte Burton, »denn der Moment war zu rasch, und
+dann hätte er doch auch jedenfalls irgend ein unwillkürliches Zeichen
+der Ueberraschung gegeben. In der Verkleidung und mit der blauen Brille
+und dem schwarzen Schnurrbart würde ich selber aber nie im Leben diesen
+Mr. Kornik vermuthet haben. Wenn Sie sich nur nicht geirrt, denn in dem
+Fall versäumen wir hier viel Zeit.«
+
+»Ist es denn nicht wenigstens seine Gestalt?« frug Hamilton.
+
+»Die nämliche Gestalt allerdings,« bestätigte Burton, »aber das Gesicht
+konnte ich -- unvorbereitet wie ich außerdem war -- unmöglich in der
+Geschwindigkeit erkennen. Wann geht der erste Zug morgen früh?«
+
+»Erst um sechs Uhr.«
+
+»Ah, dann ist ja voller Tag,« sagte Burton, »und im schlimmsten Fall
+halten wir ihn mit Gewalt zurück. Wäre es aber nicht besser, wir äßen
+auf unserem Zimmer?«
+
+»Jetzt kommt er nicht mehr herunter,« meinte Hamilton. »Jedenfalls
+setzen Sie sich mit dem Rücken der Thür zu, und wenn er dann ja noch
+einmal den Saal betreten sollte, so werde ich bald sehen, was er für ein
+Gesicht dabei macht.«
+
+Hamilton hatte übrigens Recht. Graf Kornikoff ließ sich nicht mehr
+blicken und als die Beiden ihr Abendbrod beendet hatten, gingen sie auf
+Mr. Burtons Zimmer hinauf, das einen Stock höher als Hamiltons lag, um
+dort noch Manches zu besprechen.
+
+Burton hatte sich jedoch vorher, auf Hamiltons Rath unter einem
+französischen Namen in das Fremdenbuch eingetragen, um doch jede nöthige
+Vorsicht zu gebrauchen. Auch verabsäumte der schlaue Polizeibeamte
+nicht, vor Schlafengehen noch einmal die Tafel des Portiers zu
+revidiren, ob sich vielleicht Nr. 6 oder 7 darauf befand, um früh
+geweckt zu werden. Das war aber nicht der Fall, und Hamilton glaubte
+jetzt selber, daß jener Herr, wenn es wirklich der Gesuchte gewesen, Mr.
+Burton in dem Moment ihres augenblicklichen und unerwarteten Begegnens
+nicht erkannt haben =konnte=. Er brauchte also auch Nichts zu
+überstürzen.
+
+
+III.
+
+Entwischt.
+
+Mitternacht war lange vorüber, als sich Hamilton endlich erschöpft und
+ziemlich ermüdet auf sein Lager warf, aber trotzdem befand er sich schon
+um fünf Uhr angekleidet wieder draußen auf dem Gang, denn heute sollte
+er ja den Lohn seiner Bemühungen ernten, und die Zeit durfte ihn nicht
+lässig finden.
+
+Das Schuhwerk stand indeß noch immer friedlich dort draußen, des
+Hausknechts gewärtig, aber die Bewohner des Zimmers mußten auf sein
+-- sollten sie doch am Ende heute morgen abfahren wollen? »Nein, mein
+lieber Mr. Kornik,« lachte der Engländer still vor sich hin, »da wir Sie
+so hübsch in der Falle haben, wollen wir auch Acht geben, daß Sie uns
+nicht wieder durch die Finger schlüpfen.«
+
+In dem Augenblick wurde in Nr. 7 die Klingel gezogen und Hamilton trat
+in seine Stube zurück, ließ aber die Thür angelehnt. Er horchte --
+aber er konnte nicht hören, daß irgend jemand ein Wort sprach. Ein Paar
+Stühle wurden gerückt und Schiebladen ziemlich geräuschvoll auf- und
+zugemacht, aber keine Sylbe wurde laut. Hatte sich das junge Ehepaar
+vielleicht gezankt?
+
+Draußen klopfte der Kellner an Nr. 7 an.
+
+»_Walk in_.«
+
+Die Thür öffnete sich.
+
+»_Do you speak english?_« lautete die Frage der Dame.
+
+Der Kellner antwortete leise einige Worte, die Hamilton nicht verstehen
+konnte, aber die Frage mußte verneinend beantwortet sein, denn die Dame
+erwiderte gleich darauf heftig:
+
+»_So send somebody with whom I can speak_.«
+
+Der Kellner -- Hamilton sah durch die Thürspalte, es war ein ganz junger
+Bursch, der augenscheinlich gar nicht wußte, was die Dame von ihm wollte
+-- eilte wieder die Treppe hinab. »Aber alle Wetter, wo stak denn Mr.
+Kornik, der doch ganz vortrefflich deutsch sprach?«
+
+Hamilton erschrak. Hatte der Verbrecher wirklich gestern Abend Burton
+erkannt und sich selber in Sicherheit gebracht? Darüber mußte er
+Gewißheit haben -- aber seine Stiefeln standen noch vor der Thür. War er
+vielleicht krank geworden?
+
+Er stieg rasch die Treppe hinunter zum Portier, den er auch schon auf
+seinem Posten fand.
+
+»Ah, Portier, wissen Sie vielleicht, wann der Herr auf Nr. 7 wieder
+abreisen wird?«
+
+»Auf Nr. 7?«
+
+»Graf Kornikoff, glaube ich --«
+
+»Ah -- ja der Herr Graf, kann ich wirklich nicht sagen. Er wollte heute
+Abend wieder kommen.«
+
+»=Wieder= kommen?«
+
+»Ja -- er ist heute Morgen halb zwei Uhr mit Extrapost nach dem
+Taunusgebirg gefahren.«
+
+»_The devil he is_,« murmelte Hamilton leise und verblüfft vor sich hin,
+»und hat er Gepäck mitgenommen?« frug er laut.
+
+»Nur eine Reisetasche -- die Dame ist ja noch hier.«
+
+»Haben Sie ihn denn gesehen?«
+
+»Natürlich -- ich habe die Tasche ja an den Wagen getragen.«
+
+»Aber wann, um Gottes Willen, schlafen Sie denn?«
+
+»Ich? -- =nie=,« lächelte der Mann in voller Ruhe. Aber Hamilton hatte
+andere Dinge im Kopf, als sich mit dem Portier zu unterhalten. Mit
+wenigen Sätzen war er oben an Mr. Burtons Zimmer, den er auch schon
+vollständig angekleidet und seiner wartend traf.
+
+»Er ist fort,« rief er diesem ganz außer Athem entgegen, »richtig
+durchgebrannt. Er =muß= Sie gestern Abend erkannt haben. Der Lump ist
+mit allen Hunden gehetzt.«
+
+»Und was jetzt?«
+
+»Ich muß augenblicklich nach, denn der Postillon, der ihn gefahren hat,
+wird zurück sein und weiß jedenfalls die Station. Dort findet sich dann
+die weitere Spur.«
+
+»=Mit= der Donna?«
+
+»Nein, die ist zurückgeblieben, die überlasse ich jetzt Ihnen.
+Wahrscheinlich hat sie auch einen Theil von Ihres Vaters Geldern in
+Verwahrung -- jedenfalls den Schmuck. -- Hier ist der Verhaftsbefehl für
+Kornik und seine Begleiterin -- mir kann er doch nichts helfen, denn
+er gilt, von den Frankfurter Behörden ausgestellt, nur für das hiesige
+Gebiet. Das ist eine verzweifelte Wirthschaft in Deutschland, wo ein
+Mann in einer einzigen Stunde in drei verschiedener Herren Länder sein
+kann.
+
+»Aber wie bekomme ich heraus, ob das auch in der That jene berüchtigte
+Miss Fallow ist, bester Hamilton? Die Flucht des Grafen, wenn er
+wirklich geflohen, bleibt allerdings sehr verdächtig und ich zweifle
+kaum, daß Sie auf der richtigen Fährte sind, aber es -- wäre doch eine
+ganz fatale Geschichte, =wenn= wir es nicht mit den rechten Leuten zu
+thun hätten, und jetzt einer wildfremden und ganz unschuldigen Dame
+Unannehmlichkeiten bereiteten.«
+
+»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!« lachte Hamilton. »Daß ich Ihnen
+aus diesem Grafen Kornikoff den richtigen und unverfälschten Kornik
+herausschäle, darauf können Sie sich fest verlassen, und dies junge,
+wirklich wunderhübsche Geschöpf, was ihn begleitet, hätte sich dem Lump
+auch nicht an den Hals geworfen, wenn sie nicht schon vorher durch ein
+=Verbrechen= mit einander verbunden gewesen wären. Nein, die einzige
+Sorge, die ich habe, ist die, daß =Ihnen= die junge Dame einmal ebenso
+eines Morgens unter den Händen fortschlüpft, wie ich mir in fabelhaft
+alberner Weise habe den Hauptschuldigen entwischen lassen, und wenn ich
+ihn nicht wieder bekäme, wäre das ein Nagel zu meinem Sarg. Aber noch
+hab' ich Hoffnung -- ich =kenne= den Herrn jetzt, denn ich habe ihn
+mir =genau= angesehen und wenn er sich wirklich auch den schwarzen
+Schnurrbart abrasirte und die blaue Brille in die Tasche steckte, so
+denke ich ihm doch auf den Hacken zu sitzen, ehe er es sich versieht.«
+
+»Er wird direkt über die Grenze nach Frankreich fliehen.«
+
+»Daran habe ich auch schon gedacht, denn Geld genug hat er bei sich,
+aber dagegen hilft der Telegraph. An die beiden Grenzstationen werde ich
+jetzt vor allen Dingen genau telegraphiren, und wenn ich da nur ein Wort
+mit einfließen lasse, daß der Herr mit dem Revolutionscomité in London
+in Verbindung stände, passen sie auf wie die Heftelmacher.«
+
+»Und sie wollen dem Kornik nach?«
+
+»Augenblicklich, so wie ich die Depeschen befördert habe. Ich nehme
+jetzt ohne weiteres Extrapost und treffe ich ihn, so telegraphire ich
+ungesäumt.«
+
+»Und ich lasse unterdessen die Dame verhaften?«
+
+»Das ist das Sicherste. Sie können ja Bürgschaft leisten, wenn es
+verlangt werden sollte. Auf dem Gerichte finden Sie auch Jemand, der
+englisch spricht.«
+
+»Abscheuliche Geschichte,« murmelte der junge Burton zwischen den
+Zähnen, »daß uns der Lump auch gestern Abend gerade so zur unrechten
+Zeit in den Weg laufen mußte.«
+
+»Das ist jetzt nicht zu ändern,« rief aber der weit entschiednere
+Hamilton -- »wir haben immer noch Glück gehabt, das Volk Hühner so rasch
+anzutreffen und zu sprengen. Jetzt halten Sie nur Ihren Part fest, und
+ich glaube Ihnen garantiren zu können, daß ich =meine= Hälfte ebenfalls
+zur rechten Zeit einbringe.«
+
+»Und wissen Sie gewiß, daß Kornik die Stadt verlassen hat?«
+
+»Gar kein Zweifel -- aber das erfahre ich ja auch gleich auf der Post.
+Jetzt wollen wir nur noch einmal hinunter und sehen, ob wir nichts mehr
+von der Donna zu hören bekommen.«
+
+Es war in der That das Einzige, was sie thun konnten. Sie fanden die
+Thür aber wieder geschlossen und Hamilton wandte sich unten an den
+Oberkellner, um womöglich etwas Näheres zu erfahren.
+
+»Ach, Oberkellner, meine Rechnung -- ich reise ab.«
+
+»Zu Befehl, mein Herr --«
+
+»Apropos, was war denn das heute Morgen für ein Lärm auf Nr. 7? Meine
+schöne Nachbarin schien ja sehr in Eifer.«
+
+Der Oberkellner lächelte.
+
+»Der Herr Gemahl hat die Nacht eine kleine Extrafahrt gemacht und die
+Dame scheint eifersüchtig zu sein.«
+
+»Es scheint als ob er heimlich auf und davon gegangen wäre,« sagte Mr.
+Burton leise zu Hamilton. Dieser zuckte die Achseln.
+
+»Gott weiß es,« erwiderte er, »aber das werden Sie jetzt herausbekommen.
+Lassen Sie sich nur nicht etwa von Thränen rühren, denn wir haben es
+hier mit einer abgefeimten Kokette zu thun, der auch Thränen zu Gebote
+stehen, wenn sie dieselben braucht. Ich aber darf keinen Augenblick
+Zeit mehr verlieren. Auf die Koffer in Korniks Zimmer legen Sie
+augenblicklich Beschlag und lassen sie visitiren. Kornik hat
+wahrscheinlich alle Papiere entfernt und mitgenommen; aber in der Eile
+bleibt doch noch manchmal ein oder die andere Kleinigkeit zurück, die
+leicht zum Verräther wird.«
+
+»Und wenn sie sich weigert? -- wenn sie sich auf ihren Rang, vielleicht
+sogar auf einen, wer weiß wie erhaltenen Paß beruft? Die Behörden hier
+werden sie in Schutz nehmen.«
+
+»Gott bewahre,« sagte Hamilton, »Sie haben ja das Duplicat unserer
+englischen Vollmachten mit der Personalbeschreibung der beiden
+Verbrecher in Händen. Korniks Flucht hat ihn dabei schon verdächtig
+gemacht und das wenigste, was man Ihnen zugestehen kann, ist eine
+Durchsuchung der Effecten im Beisein eines Polizeibeamten, und dann
+die Detenirung der Person selber in Frankfurt, bis ich mit ihrem
+Helfershelfer zurückkomme. In dem Fall können Sie dieselbe meinetwegen
+-- natürlich unter polizeilicher Aufsicht -- so lange hier im Hotel
+lassen.«
+
+»Eine unangenehme Geschichte bleibt es immer,« sagte Mr. Burton, mit dem
+Kopf schüttelnd.
+
+»Unangenehm, _by George_,« lachte Hamilton -- »bedenken Sie, daß 20,000
+Pfd. Sterling Ihres Geschäfts dabei auf dem Spiel stehen, von dem
+Schmuck, der ebenfalls auf 3000 taxirt ist, gar nicht zu reden. Und nun
+ade; hoffentlich bringe ich Ihnen bald den Patron selber. Verlassen Sie
+nur die Stadt nicht« -- und mit den Worten rasch zu dem kleinen Stehpult
+tretend, hinter welchem sich der Oberkellner befand, berichtigte er
+seine Rechnung und sprang gleich darauf draußen in eine Droschke, um
+seine Verfolgung anzutreten.
+
+
+IV.
+
+Die schöne Fremde.
+
+Mr. Burton blieb in einer nichts weniger als behaglichen Stimmung
+zurück, denn er hatte ganz plötzlich die =Leitung= einer Angelegenheit
+bekommen, in der er bis jetzt nur gedacht hatte als Zeuge, und
+vielleicht als Kläger aufzutreten.
+
+James Burton war überhaupt der Mann nicht, in irgend einer Angelegenheit
+entschieden und selbständig zu =handeln=; er verhielt sich am liebsten
+passiv.
+
+In einer der ersten bürgerlichen Familien seines Vaterlandes erzogen,
+in den besten Schulen herangebildet, in der besten Gesellschaft
+aufgewachsen, war er von edlem, offenem Charakter, dem sich ein gesunder
+Verstand und ein weiches Herz paarte. Das letztere lief ihm aber nur
+zu oft mit dem ersteren davon, und selber unfähig eine unrechtliche
+Handlung zu begehen, gab es für ihn auch nichts Schrecklicheres auf der
+Welt, als solche einem anderen zuzutrauen.
+
+Nichtsdestoweniger bekam er es hier mit einer nicht wegzuläugnenden
+Thatsache zu thun, denn William Kornik, von seinem Vater mit Wohlthaten
+überhäuft und in eine ehrenvolle und einträgliche Stellung gebracht,
+hatte das Vertrauen seines Hauses auf eine so nichtswürdige Weise
+getäuscht und mißbraucht, daß ein Zweifel an seiner Unehrlichkeit nicht
+mehr stattfinden konnte. Gegen diesen würde er auch mit rücksichtsloser
+Strenge vorgegangen sein, aber jetzt bekam er plötzlich den Auftrag,
+gegen eine =Frau= einzuschreiten, deren Betheiligung an dem Raub
+allerdings wahrscheinlich, aber keineswegs völlig erwiesen war. Und doch
+sah er auch recht gut ein, daß Hamilton Recht hatte, wenn er verlangte,
+die jedenfalls sehr verdächtige Person wenigstens so lange fest
+und unter Aufsicht zu halten, bis er mit dem wirklichen Verbrecher
+zurückkehren könne. Nur daß =ihm= dazu der Auftrag geworden, war ihm
+fatal, und er hätte vielleicht eine große Summe Geldes gegeben, um sich
+davon loszukaufen, aber das ging eben nicht, und es blieb ihm nichts
+andres übrig, als sich der einmal übernommenen Pflicht nun auch nach
+besten Kräften zu unterziehen. Er hoffte dabei im Stillen, daß die
+Dame sehr stolz und frech gegen ihn auftreten würde, und war
+fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Um den
+verbrecherischen Erwerb des Geldes =mußte= sie ja wissen, sie wäre
+sonst nicht heimlich mit ihm geflohen, und wenn sich dann auch noch
+herausstellte, daß sie den Schmuck der Lady Clive entwendet hatte,
+dann brauchte er auch weiter kein Mitleiden mit ihr zu haben, und jede
+Rücksicht hörte von selbst auf.
+
+Nichtsdestoweniger konnte er sich doch nicht entschließen, die
+Höflichkeit soweit außer Acht zu lassen, als sich vor zwölf Uhr bei ihr
+melden zu lassen. Aber er traute ihr deshalb doch nicht; denn Mr.
+Kornik war ihm auf viel zu rasche Art abhanden gekommen, um nicht etwas
+Aehnliches auch von seiner Frau oder Gefährtin zu fürchten. Er ging
+deshalb, sehr zum Erstaunen des Portiers, der gar nicht wußte, was er
+von dem unruhigen Gast denken sollte, und ihn frug, ob er vielleicht
+Zahnschmerzen habe, die langen Stunden theils auf dem Vorsaal, theils
+auf der Treppe auf und ab -- denn das verzweifelte Haus hatte ja zwei
+Ausgänge -- und horchte verschiedene Male oben an der Thür, um sich zu
+versichern, daß nicht der zweite Vogel ebenfalls heimlich ausgeflogen
+sei.
+
+Aber diese Furcht schien grundlos zu sein. Das Stubenmädchen, dem er auf
+der Treppe begegnete, brachte das Frühstück hinauf, ein Glas Madeira und
+ein Beefsteak, die verlassene Frau nahm also noch substantielle Nahrung
+zu sich, und als es endlich auf sämmtlichen Frankfurter Uhren -- was
+bekanntlich eine lange Zeit dauert -- zwölf geschlagen hatte, faßte
+er so viel Muth, der Dame seine Karte hinaufzuschicken und anfragen zu
+lassen, ob er das Vergnügen haben könne, ihr seine Aufwartung zu machen.
+
+Das klang allerdings nicht wie das Vorspiel einer criminellen
+Untersuchung, aber die gewöhnlichen Gesetze der Höflichkeit durften doch
+auch nicht außer Acht gelassen werden. Höflichkeit schadet nie, und
+man hat dadurch oft schon mehr erreicht, als durch sogenannte gerade
+Derbheit, was man im gewöhnlichen Leben auch wohl =Grobheit= nennt.
+
+Die Antwort lautete umgehend zurück, daß die Dame sich glücklich
+schätzen würde, ihn zu begrüßen und nur noch um wenige Minuten bäte, um
+ihre Morgentoilete zu beenden.
+
+Die wenigen Minuten dauerten allerdings noch eine reichliche halbe
+Stunde, aber Mr. Burton war gar nicht böse darüber, denn er bekam
+dadurch nur noch so viel mehr Zeit sich zu sammeln, und sich ernstlich
+vorzunehmen, diese Person allerdings mit jeder Artigkeit, aber auch
+mit jeder, hier unumgänglich nöthigen Strenge zu behandeln. Was half es
+auch, Rücksicht auf ein Wesen zu nehmen, das sich an einen Menschen
+wie diesen Kornik soweit weggeworfen hatte, sogar Theilnehmerin seiner
+=Verbrechen= zu werden. Dabei überlegte er sich auch, daß es weit besser
+sein würde, im Anfang keine einzige Frage derselben zu beantworten,
+sondern vor allen Dingen erst alles herauszubekommen, was =sie= wußte.
+Volle Aufrichtigkeit konnte allein ja auch jetzt ihre Strafe mildern und
+ihrem Vergehen das Gehässige der Verstocktheit nehmen, und durch =ihr=
+Geständniß bekamen sie außerdem gleich ein Hauptzeugniß gegen den jetzt
+noch flüchtigen Verbrecher.
+
+Mitten in diesen Betrachtungen wurde er durch die Klingel auf Nr. 7
+gestört, die den Kellner herbeirief. -- Dieser erschien gleich darauf
+wieder und meldete Herrn Burton, die Dame erwarte ihn.
+
+Also der Augenblick war gekommen, und mit festen Schritten stieg er die
+Treppe hinan. Wußte er doch auch schon vorher, wie er die Dame finden
+würde, die so ewig lang gebraucht hatte, ihre Toilette zu machen: im
+vollen Staat natürlich, um ihm zu imponiren und jede Frage nach einer
+begangenen Schuld gleich von vorn herein abzuschneiden. Aber er lächelte
+trotzig vor sich hin, denn er wußte, daß eine derartige plumpe List
+bei ihm nicht das Geringste helfen würde. Er ließ sich eben nicht
+verblüffen.
+
+Mit festen Schritten stieg er die Stufen hinan und klopfte an -- aber
+doch nicht zu laut. »_Walk in_,« hörte er von einer fast schüchternen
+Stimme rufen, und als er die Thür öffnete, blieb er ordentlich bestürzt
+auf der Schwelle stehen, denn vor sich sah er das lieblichste Wesen, das
+er in seinem ganzen Leben noch mit Augen geschaut.
+
+Mitten in der Stube stand die junge Fremde -- nicht etwa in voller
+Toilette, mit Schmuck und Flittertand behangen, wie er eigentlich
+gehofft hatte sie zu finden, sondern in einem einfachen, schneeweißen
+Morgenanzug, der ihre Schönheit nur um so reizender erscheinen ließ, und
+während ihr blaues Auge feucht von einer halbzerdrückten Thräne schien,
+streckte sie dem Eintretenden die Hand entgegen und sagte, mit vor
+Bewegung zitternder Stimme:
+
+»Sie sendet mir der liebe Gott, mein Herr -- Ihr Name ist mir zwar
+fremd, aber aus Ihrer Karte sehe ich, daß Sie ein Landsmann sind, also
+ein Freund, der mich in der größten Noth meines Lebens trifft, und mir
+gewiß, wenn er nicht helfen kann, doch rathen wird.«
+
+»Madam,« sagte der junge Burton, durch diese keineswegs erwartete Anrede
+ganz außer Fassung gebracht, indem er die ihm gereichte Hand nahm und
+fast ehrfurchtsvoll an seine Lippen hob, »ich -- ich begreife nicht
+recht -- ich gestehe, daß ich -- Sie entschuldigen vor allen Dingen
+meinen Besuch.«
+
+»Ich würde Sie darum gebeten haben,« sagte die junge Frau herzlich,
+»wenn ich gewußt hätte, daß ein Landsmann mit mir unter einem Dache
+wohnt; aber das Fremdenbuch, das ich mir heute Morgen bringen ließ,
+zeigte keinen einzigen englischen Namen -- doch ich darf nicht
+selbstsüchtig sein,« unterbrach sie sich rasch -- »Sie sind da --
+ich sehe in dem edlen Ausdruck Ihrer Züge, daß ich auf Ihren Beistand
+rechnen kann, und nun erst vor allen Dingen, =Ihre= Angelegenheit. Lösen
+Sie mir das Räthsel, das Sie, einen vollkommen Fremden, gerade in dieser
+Stunde zu mir hergeführt -- und bitte, nehmen Sie Platz -- oh verzeihen
+Sie der Aufregung, in der Sie mich gefunden, daß ich Sie schon so lange
+hier im Zimmer habe stehen lassen.«
+
+Damit führte sie ihn mit einfacher Unbefangenheit zu dem kleinen mit
+rothem Plüsch überzogenen Sopha und nahm dicht neben ihm Platz, so daß
+es dem jungen Manne ganz beklommen zu Muthe wurde. Auch die Frage diente
+nicht dazu, ihm seine ruhige Ueberlegung wieder zu geben, denn konnte
+er =dem= Wesen neben ihm jetzt mit kalten, dürren Worten sagen, daß er
+hierher gekommen sei, um sie des =Diebstahls= zu bezüchtigen und in Haft
+zu halten? Es war ordentlich als ob ihm die innere Bewegung die Kehle
+zusammenschnürte und er brauchte geraume Zeit, um nur ein Wort des
+Anfangs zu finden.
+
+Die junge Frau an seiner Seite ließ ihm dabei vollkommen Zeit sich
+zu fassen, und nur wie schüchtern blickte sie ihn mit ihren großen
+seelenvollen Augen an. Und diese Augen sollten jemals die Helfershelfer
+eines Verbrechens gewesen sein? Es war nicht möglich; Hamilton hatte
+den größten nur denkbaren Mißgriff gemacht, und ihn selber jetzt in eine
+Lage gebracht, wo er mit Vergnügen tausend Pfund Sterling bezahlt hätte,
+um nur mit Ehren wieder heraus zu sein.
+
+Endlich fühlte er aber doch, daß er nicht länger schweigen konnte,
+ohne sich lächerlich zu machen, und begann, wenn auch anfangs noch mit
+leiser, unsicherer Stimme.
+
+»Madam -- Sie -- Sie müssen mich wirklich entschuldigen, wenn ich Sie
+von vornherein mit einer Frage belästige, die -- die eigentlich Ihren
+-- Ihren Herrn Gemahl betrifft -- dem auch -- dem auch vorzugsweise mein
+Besuch galt; denn ich würde nicht gewagt haben, =Sie= zu stören. Aber
+-- seine so plötzliche Abreise -- und mitten in der Nacht hat einen
+Verdacht erweckt, der --«
+
+»Einen =Verdacht=?«
+
+»Uebrigens,« lenkte Burton ein, da ihm plötzlich wieder beifiel, daß er
+ja vorher Alles hatte hören wollen, was die Dame =ihm= sagen würde, um
+danach sein eigenes Handeln zu regeln -- »hängt alles vielleicht mit dem
+zusammen, wegen dessen Sie selber meinen Rath verlangen, und wenn Sie
+nur die Freundlichkeit haben wollten --«
+
+»Aber einen =Verdacht=?« -- sagte die junge Dame rasch und erschreckt,
+indem sie ihre zitternde Hand auf seinen Arm legte und in der
+gespanntesten Erwartung mit ihren schönen Augen an seinen Lippen hing.
+-- »Welcher Verdacht könnte auf ihm ruhen? -- In welcher Verbindung
+können Sie mit ihm stehen? Oh, spannen Sie mich nicht länger auf die
+Folter -- machen Sie mich nicht unglücklicher, als ich es schon bin.
+Ach, ich hatte ja gehofft, daß =Sie= gerade mir Hülfe und Trost
+bringen sollten; tragen Sie nicht dazu bei, meine Unruhe durch längeres
+Schweigen noch zu vermehren.«
+
+Mr. Burton fand sich so in die Enge getrieben, daß er schon gar keinen
+möglichen Ausweg mehr sah. =Er= war ja auch eigentlich verpflichtet
+zuerst zu sprechen. =Er= hatte eine Unterredung mit ihr erbeten, nicht
+=sie= mit ihm, und wenn ihn auch ein wahrhaft verzweifelter Gedanke
+einmal einen Moment erfaßte, sich aus der ganzen Geschichte durch
+irgend eine Ausrede hinaus zu lügen, fiel ihm doch ums Leben nicht das
+Geringste, auch nur einigermaßen Glaubwürdige bei. Es blieb ihm also
+nichts übrig, als der jungen Dame -- natürlich so schonend wie das nur
+irgend geschehen konnte -- die Wahrheit zu sagen, und dabei war er auch
+im Stande zu sehen, welchen Eindruck die Beschuldigung auf sie machen
+würde -- danach wollte er dann handeln.
+
+»Madam,« sagte er, aber noch immer verlegen -- »beruhigen Sie sich --
+es wird sich ja noch alles aufklären. -- Ich selber -- ich bin ja fest
+überzeugt, daß =Sie= der -- unangenehmen Sache, um die es sich handelt,
+vollständig fern stehen. -- Es ist auch noch nicht einmal ganz fest
+bestimmt, ob ihr Herr -- Herr Gemahl auch wirklich jene Persönlichkeit
+ist, die wir suchen -- die ganze Sache kann ja möglicher Weise ein
+Irrthum sein, und nur der dringende Verdacht, den mein Begleiter gegen
+mich ausgesprochen hat, veranlaßt mich --«
+
+»Aber ich verstehe Sie gar nicht,« sagte die junge Dame, und sah dabei
+gar so lieb und doch so entsetzlich unglücklich aus, daß ihm ordentlich
+das eigene Herz weh that.
+
+»Ich =muß= deutlicher reden,« fuhr Mr. Burton fort, der sie nicht länger
+in dieser Aufregung lassen durfte. »Also hören Sie. Mein Name ist James
+Burton. Ich bin seit diesem Jahre Theilhaber der Firma meines Vaters
+Burton & Burton in London. Seit sieben Jahren hatten wir einen jungen
+Mann in unserm Geschäft, einen Polen, Namens Kornik, der sich durch
+seine Geschicklichkeit und Umsicht so in meines Vaters Vertrauen
+einschlich, daß er ihn vor zwei Jahren zu unserm Hauptcassirer machte.
+Mein Vater wußte nicht, daß er eine Schlange in seinem Busen nährte. Vor
+etwa acht Tagen verschwand dieser Mensch plötzlich aus London und zwar
+an einem Sonnabend Abend, wodurch er etwa vierzig Stunden Vorsprung
+bekam, denn da nicht der geringste Verdacht auf ihm lastete, fiel auch
+sein Ausbleiben am Montag Morgen nicht so rasch auf, wie das sonst
+vielleicht der Fall gewesen wäre. Nur weil mein Vater fürchtete, daß er
+könne unwohl geworden sein, schickte er in seine Wohnung hinüber, die
+sich unmittelbar neben uns befand, und hörte hier zu seinen Erstaunen,
+daß Mr. Kornik sowohl Sonnabend als auch Sonntag Abend nicht nach Hause
+gekommen sei.«
+
+»Aber was, um Gottes Willen, habe ich mit dem allen zu thun?« unterbrach
+ihn die junge Dame, erstaunt mit dem Kopf schüttelnd.
+
+»Erlauben Sie mir,« fuhr Mr. Burton, in der Erinnerung an das Geschehene
+wärmer werdend fort: »Der erste Gedanke meines Vaters war, daß ihm ein
+Unglück begegnet sein könne; ein anderer Commis aber in unserem Haus
+mußte doch etwas bemerkt haben, was ihm verdächtig vorkam. Er bat uns
+dringend, keine Zeit zu versäumen und die Kasse zu revidiren, und
+da stellte sich denn bald das Entsetzliche heraus, daß eine =sehr=
+bedeutende Summe fehlte, die, nach den über Tag eingegangenen
+Erkundigungen, gegen 20,000 Pfd. Sterling betrug.«
+
+»Mein Vater wandte sich augenblicklich an die Polizei, und ein sehr
+gewandter Detective, der uns besuchte, und der zur Verfolgung bestimmt
+wurde, gerieth noch an dem nämlichen Tag auf eine andere Spur, die,
+wie er meinte, sicherer zur Entdeckung des Verbrechers führen konnte.
+Derselbe war nämlich, wie der Polizeiagent sehr rasch herausbrachte, mit
+einer jungen sehr -- ge -- sehr gewandten Dame bekannt geworden und als
+an dem nämlichen Tag eine andere Klage gegen diese einlief, daß sie
+in dem Haus einer Lady, wo sie Stunden gab, einen werthvollen Schmuck
+entwandt haben sollte, ebenfalls aber nirgends aufzufinden war, und seit
+dem nämlichen Abend fehlte, wie jener Kornik -- so blieb zuletzt kein
+Zweifel, daß beide mitsammen geflohen sein mußten.«
+
+»Jetzt war kein Augenblick mehr zu verlieren um der Verbrecher habhaft
+zu werden. Lady Clive -- so hieß jene Dame -- setzte selber eine
+namhafte Summe für den Polizeibeamten aus; da dieser aber weder die Dame
+noch unsern frühern Kassirer persönlich kannte, entschloß ich mich ihn
+zu begleiten, und wir begannen gemeinschaftlich unsere etwas ungewisse
+Fahrt.«
+
+»Und jetzt?« frug die Fremde, anscheinend in größter Spannung.
+
+»Indessen,« fuhr Mr. Burton fort, »wurde kein mögliches Mittel versäumt
+um die beiden aufzufinden, falls sie sich noch in England aufhalten
+sollten. Zugleich telegraphirten wir an die nächsten Hafenplätze. Mein
+ganz vortrefflicher und gewandter Begleiter war aber schon auf eine
+Spur gekommen, die ihn nach Hamburg führte. Mit dem Hamburg Packet
+waren nämlich am Sonnabend Abend zwei Personen abgegangen, die der
+Beschreibung vollkommen entsprachen. Einer der Kassenleute in dem
+Office des Dampfboots behauptete sogar, Kornik an jenem Abend mit einer
+Reisetasche an dem Landungsplatz des Dampfboots gesehen zu haben. Wir
+folgten augenblicklich, verloren aber die Spur in Hamburg wieder, und
+glaubten sie erst in Hannover -- freilich, wie sich später erwies,
+irrthümlich -- wieder zu finden. Dort ließ mich Mr. Hamilton zurück,
+während er selber, von einer Art polizeilichen Instinkts getrieben, nach
+Frankfurt vorauseilte und hierher zu -- zufälliger Weise -- mit Ihnen
+und Ihrem Herrn Gemahl die Reise in einem Coupé machte.«
+
+Ein leises Zittern flog über den Körper der Frau, aber ihre Züge
+verriethen keine Spur von Ueberraschung, und nur mit mehr erstaunter als
+bewegter Stimme sagte sie:
+
+»Und jetzt?« --
+
+»Und jetzt,« fuhr Mr. Burton verlegen fort, »glaubte er, durch mehrere
+sonderbar zusammentreffende Umstände jenen aus London mit unserem Geld
+entflohenen Kornik in dem -- Sie dürfen mir nicht zürnen, denn Sie haben
+die volle Wahrheit verlangt -- in dem -- Grafen Kornikoff wieder zu
+finden, da sich dieser heute Nacht so heimlich --«
+
+»Heiliger Gott der Welt!« rief die junge Frau, entsetzt emporspringend:
+»reden Sie nicht aus. Darf ich denn meinen Ohren trauen? In dem Grafen
+Kornikoff vermuthen Sie den entsprungenen Verbrecher? Und dann
+ist, =Ihrer= Meinung nach -- seine Begleiterin jene Diebin des
+Diamantenschmucks?«
+
+»_But Madam!_« rief Mr. Burton, ebenfalls erschreckt von seinem Sitz
+aufspringend, »ich sage Ihnen ja« --
+
+»O mein Vater im Himmel, selbst das noch,« rief aber das schöne Weib,
+die Arme wie flehend emporstreckend, »auch das noch -- auch das noch in
+meinem Jammer und Elend. -- Aber kommen Sie,« fuhr sie leidenschaftlich
+fort, indem Sie plötzlich wieder Mr. Burtons Arm ergriff und ihn fast
+mit Gewalt zu ihrem Koffer zog -- »=ich= bin nur ein armes schwaches
+Weib, hilflos und ohne Schutz im fremden Lande -- aber Sie
+haben vielleicht ein Recht, der Spur eines verübten Verbrechens
+nachzuforschen. =Ich= habe nichts als meinen ehrlichen Namen, aber
+den kann ich, Gott sei Dank, mir erhalten und Ihnen bin ich noch dazu
+verpflichtet, mir die Gelegenheit zu geben mich zu rechtfertigen. Mir
+schwindelt der Kopf, wenn ich mir denke, daß Sie auch nur eine Stunde
+länger mich in einem so furchtbaren Verdacht haben sollten.«
+
+»_But, my dear Madam_,« rief Burton, jetzt vergebens bemüht, zu Worte zu
+kommen. Die Frau ließ ihn nicht.
+
+»Nein, nein,« fuhr sie immer erregter fort und schloß mit vor Eifer
+zitternden Händen ihren Koffer auf, warf den Deckel zurück und riß die
+dort sorgfältig und glatt eingepackten Stücke wild und leidenschaftlich
+heraus. »Da -- hier -- hier ist alles was ich auf der Welt mein nenne
+-- da meine Wäsche -- da meine Kleider,« fuhr sie fort die genannten
+Sachen, ohne daß es Burton verhindern konnte, über den Boden streuend,
+»hier mein Schmuck -- eine dürftige Korallenkette mit einem goldenen
+Kreuzchen, das Erbtheil meiner seligen Mutter -- und wie ich =früher=
+ihren Tod beklagte, jetzt danke ich Gott, daß sie diese Stunde nicht
+erlebte. -- Hier meine --« sie konnte nicht weiter -- ihr Gefühl
+überwältigte sie. Sie richtete sich auf und wollte zum nächsten Stuhl
+schwanken, aber sie vermochte es nicht und wäre zu Boden gesunken, wenn
+sie nicht James Burton in seinen Armen aufgefangen hätte.
+
+Das war eine böse Situation für den jungen Mann -- der warme Körper der
+jungen Frau ruhte an seinem Herzen, und vergebens suchte er sie durch
+tausend Trostesworte ins Leben zurückzurufen. -- Und wie ihr Herz dabei
+schlug -- er wußte sich keines Rathes, als sie aufs Sopha zu tragen --
+und als er sie in die Höhe hob, trafen seine Lippen unwillkührlich
+auf die ihrigen und ruhten einen Moment darauf. Endlich raffte er sich
+empor. Er wollte nach Hilfe rufen, aber er wagte es nicht -- was mußten
+die Leute im Hotel davon denken, wenn er in einer solchen Situation mit
+der jungen Dame getroffen wurde? Auf dem Waschtisch stand ein Glas Eau
+de Cologne -- damit benetzte er ihr Taschentuch, hielt es ihr unter
+die Nase und rieb ihr Schläfe und Puls, und als das alles nicht helfen
+wollte, tauchte er das Handtuch in kaltes Wasser und legte es ihr um
+die Stirn. Aber es dauerte wohl zehn Minuten, ehe er sie zum Bewußtsein
+zurückrief, und =als= sie endlich erwachte, befand sie sich in einem so
+furchtbar überreizten Zustande, daß sie den über ihr lehnenden Arm des
+jungen Mannes ergriff, ihre Stirn dagegen lehnte und bitterlich weinte.
+
+Mr. Burton that das unter solchen Umständen Zweckmäßigste -- er ließ sie
+sich ausweinen und es gewährte ihm sogar einige Beruhigung, daß er
+sie dabei mit seinem linken Arm stützen und halten konnte. Aber diese
+Schwäche dauerte nicht lange. Die junge Frau zeigte eine ungemeine
+Willenskraft, dieses augenblickliche Erliegen ihres Körpers zu
+bewältigen, und mit leiser Stimme sagte sie:
+
+»Ich danke Ihnen -- ich fühle mich stärker -- es ist vorbei. Lassen sie
+mich jetzt Alles wissen -- o verhehlen Sie mir nichts -- ich =muß= es ja
+erfahren und dann habe auch ich Ihnen ein Geständniß abzulegen. --
+Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen. Zürnen sie mir nicht, meiner
+Heftigkeit wegen.«
+
+»Oh, daß ich Ihnen beweisen könnte, wie innigen Antheil ich an Ihrem
+Schicksal nehme,« rief Mr. Burton bewegt aus.
+
+»Und wo ist ihr Begleiter jetzt?« frug die junge Frau, die noch immer
+halb von seinem Arm gehalten wurde.
+
+»Ich weiß es nicht,« sagte Mr. Burton mit einer gewissen Genugthuung,
+ihr darauf keine bestimmte Antwort geben zu können. »Er folgt jenem
+Grafen Kornikoff, um sich sicher zu stellen, ob er es in diesem mit dem
+vermutheten Kornik zu thun hat. Nun aber sagen sie auch mir, dear Madam
+-- wie kommen Sie in die Gesellschaft jenes Mannes? -- wie lernten Sie
+ihn kennen, und hatten Sie keine Ahnung, daß er ein Betrüger sei?«
+
+»Ich kann es mir =jetzt= noch nicht denken,« rief die Unglückliche
+-- »es ist nicht möglich -- er hätte ja, =wenn= es wahr wäre, ein
+tausendfaches Verbrechen an mir selber verübt. O lassen Sie mich noch an
+seine Unschuld glauben.«
+
+»Wie gern wollte ich Sie in dieser Täuschung lassen,« sagte Mr. Burton,
+»aber ich muß gestehen, daß viele, viele Umstände dagegen sprechen.«
+
+»Dann finden wir auch in seinem Koffer Aufschluß über das Vergehen,«
+rief da die Dame plötzlich, indem sie sich vom Sopha emporrichtete. »Er
+hat sein ganzes Gepäck zurückgelassen und nicht allein zu Ihrer, nein
+auch zu meiner Genugthuung muß ich jetzt darauf bestehen, daß Sie es auf
+das Genaueste untersuchen.«
+
+Mr. Burton wollte sie davon zurückhalten, weil er nicht mit Unrecht
+fürchtete, daß sie sich dabei aufs neue zu sehr aufregen würde, aber
+sie bestand fest darauf und da ihm selber daran lag, das hinterlassene
+Eigenthum jenes Menschen nachzusehen, gab er endlich ihrem Wunsche nach.
+Vergebens aber durchsuchten sie jetzt den ganzen, ziemlich geräumigen
+Koffer; es fand sich nichts, was irgend einen Aufschluß hätte geben
+können. Ganz unten aber in der Ecke lag ein zusammengedrücktes Papier
+-- ein altes Couvert, in das ein Paar alte Hemdknöpfchen und eine
+Westenschnalle eingewickelt waren, und auf dem Couvert stand die
+Adresse:
+
+ _W. Kornik Esqre
+ Care of Messrs. Burton & Burton -- London._
+
+Mr. Burton entfaltete das Couvert, las es, und reichte es dann
+schweigend, aber mit einem beredten Blick der Dame. Diese aber hatte
+kaum das Auge darauf geworfen, als sie mit leiser, entsetzter Stimme
+sagte:
+
+»Vater im Himmel! also doch,« und ihr Antlitz in ihren Händen
+bergend, stand sie wohl eine Minute still und schweigend und wie
+ineinandergebrochen. Endlich richtete sie sich wieder empor, und dem
+jungen Mann noch einmal die Hand entgegenstreckend, sagte sie:
+
+»Ich danke Ihnen, Mr. Burton -- danke Ihnen recht von Herzen, daß Sie
+den Schleier gelüftet haben, der mich von einem Abgrund trennte. Wenn
+Sie aber jetzt Ihrer Güte gegen mich die Krone aufsetzen -- wenn Sie
+mich für ewig verpflichten wollen, dann lassen Sie mich jetzt nur für
+=eine= kurze Stunde allein, um mich zu sammeln. Ich kann jetzt nicht
+danken -- ich bin es nicht im Stande -- meine Glieder versagen mir den
+Dienst. In einer Stunde kommen Sie wieder zu mir, dann sollen Sie
+alles erfahren, was mich betrifft, und wir können dann vielleicht
+gemeinschaftlich berathen, was zu thun, wie Ihnen -- wie mir zu helfen
+ist. Wollen Sie mir das versprechen?«
+
+»Madam,« sagte Mr. Burton mit tiefem Gefühl, und jetzt vollständig
+überzeugt, daß dies liebliche Wesen nie und nimmer eine Mitschuldige
+sein könne, -- »Sie haben ganz über mich zu befehlen und was in meinen
+Kräften steht, mich Ihnen nützlich zu machen, soll gewiß geschehen.
+Fassen Sie Muth, und vor Allem, fassen Sie Vertrauen zu mir und ich
+hoffe, es soll noch alles gut werden. Ich lasse Sie jetzt allein -- in
+einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen -- vielleicht ist auch bis dahin
+schon Nachricht über den Flüchtling eingetroffen. -- Sorgen Sie nicht,«
+setzte er aber herzlich hinzu, als er dem wehmüthigen Blick begegnete,
+der auf ihm haftete. -- »Sie haben einen =Freund= gefunden.« -- Und die
+Hand, die er noch immer in der seinen hielt, an seine Lippen pressend,
+durchrieselte es ihn ordentlich wie mit süßen Schauern, als er einen
+leisen Druck derselben zu fühlen glaubte. Aber er ließ sie los,
+verbeugte sich vor der jungen Dame ehrfurchtsvoll und stieg dann rasch
+in sein Zimmer hinauf, um die Erlebnisse der letzten Stunde noch einmal
+an seiner Erinnerung vorüberziehen zu lassen.
+
+
+V.
+
+Die Verfolgung.
+
+Hamilton warf sich an dem Morgen, nachdem er sechs verschiedene
+telegraphische Depeschen aufgegeben, in einer ganz verzweifelten
+Stimmung in sein Coupé, denn von dem zurückgekehrten Postillon hatte er
+erfahren, daß dieser den Passagier um 4 Uhr heute Morgen in =Soden=
+vor der Post abgesetzt, und er konnte jetzt den Zug benutzen, um diesen
+Platz so rasch als möglich zu erreichen. Aber wieder und wieder machte
+er sich selber dabei die bittersten Vorwürfe, daß er die Flucht des
+schon ganz sicher geglaubten Verbrechers nur seinem eigenen Leichtsinn,
+seiner eigenen bodenlosen Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
+Mr. Burton selber begegnet sei, =mußte= er wissen, daß er sich verrathen
+sah und deshalb keinen Augenblick versäumen dürfe, um sich der ihm
+drohenden Gefahr zu entziehen. Und =das= hatte er übersehen -- er, der
+sich selber für so schlau und in seinem Fach geschickt gehalten -- auf
+so plumpe Weise, nur durch die Geistesgegenwart des Diebes, der durch
+keine Bewegung verrathen, daß er seinen Verfolger erkannt habe, hatte er
+sich täuschen und überlisten lassen.
+
+Und wie war es jetzt möglich, in diesem Gewühl von Fremden einen
+einzelnen Menschen wieder ausfindig zu machen, der weiter nichts zu
+thun brauchte, als sich einen anderen Rock zu kaufen, die blaue Brille
+abzulegen, den schwarzen Schnurrbart zu rasiren, um aufs neue völlig
+unkenntlich zu sein; und daß er derartige Vorsicht =nicht= versäumen
+würde, darüber durfte er kaum in Zweifel sein.
+
+Das Einzige, was ihn noch einigermaßen beruhigte, war, daß sie
+wenigstens die Dame unter sicherer Aufsicht hatten; denn es schien nicht
+wahrscheinlich, daß sich der Flüchtling so leicht und für immer von dem
+schönen, verführerischen Wesen getrennt haben sollte, nur um sich selber
+in Sicherheit zu bringen. In irgend einer Verbindung mit ihr blieb
+er gewiß, oder suchte eine solche auf eine oder die andere Art
+wieder anzuknüpfen, und wenn dann Mr. Burton nur einigermaßen seine
+Schuldigkeit that, so lief er ihnen schon dadurch wieder ins Netz.
+
+Allerdings hätte Kornik die Dame schon recht gut in dieser Nacht
+entführen können -- es wäre das eben so leicht gewesen als allein zu
+entfliehen, aber er mußte auch wissen, daß er den Verfolger dann dicht
+auf den Hacken gehabt hätte und so leicht er =jetzt= hoffen konnte, ihn
+über die Richtung zu täuschen, die er genommen, so ganz unmöglich wäre
+das in der Begleitung seiner Frau gewesen, die seine Bewegung nicht
+allein hemmte, sondern auch eine viel breitere und leichter erkennbare
+Spur hinterließ. Schon mit all dem Gepäck wäre er nicht von der Stelle
+gekommen.
+
+Das alles aber machte es, je mehr er darüber nachdachte, nur soviel
+wahrscheinlicher, daß er Deutschland nicht schon verlassen habe. Nur aus
+dem Weg mußte er sich für kurze Zeit halten, und wo konnte er das
+besser thun, gerade in der Saison, als in irgend einem der zahllosen
+Seitenthäler des Rheins oder der benachbarten Gebirge, wo eine Unmasse
+von Fremden herüber und hinüber strömte, und ein einzelner Mann völlig
+unbeachtet in der Menge verschwand.
+
+Aber trotzalledem gab Hamilton die Hoffnung nicht auf. Das gehetzte Wild
+hatte allerdings einen Vorsprung gewonnen, aber die Fährte war doch
+noch warm -- es lag keine Nacht darauf und er selber war gerade der Mann
+dazu, ihr mit allem nur erdenkbaren Eifer zu folgen. Es stand ja auch
+nicht allein ein reicher Lohn auf dem Erfolg, nein, seine Ehre als
+Detective auf dem Spiel, den schon gehaltenen Verbrecher nicht wieder
+entschlüpfen zu lassen, und er gab sich selber das Wort, nicht Mühe
+nicht Kosten zu scheuen, um ihn wieder zurück zu bringen.
+
+In Soden angekommen erkundigte er sich aber vergebens auf dem Bahnhof
+nach einem Herrn, der nur irgend zu seiner Beschreibung paßte. Es war
+freilich auch nicht wahrscheinlich, daß er sich dort gezeigt habe,
+denn nach Frankfurt würde er nicht so rasch zurückkehren, aber Hamilton
+wollte sich von jetzt an keine Vorwürfe mehr machen, auch nur das
+Geringste versäumt zu haben. Einquartirt hatte sich der Herr aber dort
+=nicht=, so viel lag außer Zweifel; mit dem Mustern der Gasthäuser
+brauchte er deshalb keine Zeit zu verlieren und das Wichtigste blieb,
+die Straßen zu untersuchen, die von hier aus in die Berge und besonders
+nach dem Rhein zu führten.
+
+Das aber zeigte sich bald als ein sehr schwierig Stück Arbeit, denn es
+hielten sich viele Fremde in Soden auf, und bei dem wundervollen
+Wetter besuchte ein großer Theil derselben in früher Morgenstunde die
+benachbarten Berge. Wer wollte da den Einzelnen controlliren, der sich
+zwischen ihnen befunden hatte? Außerdem gab es eine Legion von
+Führern in dem Badeort, die sich theilweis unterwegs, oder da und
+dort einquartirt befanden; es wäre rein unmöglich gewesen, sie alle
+aufzusuchen und einzeln auszufragen.
+
+Hamilton ließ aber deshalb den Muth nicht sinken. Unermüdlich streifte
+er Straße auf, Straße ab und frug bald da, bald dort in den Häusern. Nur
+in einem, in dem letzten Häuschen, das auf dem Weg nach Königstein lag,
+hörte er, daß ein einzelner Herr dort sehr früh vorbeigegangen sei,
+ob er aber einen Schnurrbart gehabt oder eine blaue Brille und Gepäck
+getragen, wer sollte das jetzt noch wissen? Ein Führer hatte ihn nicht
+begleitet.
+
+Das war keine Spur und Hamilton wollte sich schon kopfschüttelnd
+abwenden, um in Soden erst etwas zu Mittag zu essen und dann seine
+Versuche zu erneuern, als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
+hatte, sagte:
+
+»Ja, en Schnorres hat er schon gehat, un en Täschche aa ungerm Arm
+getrage.«
+
+»Einen Schnorres? was ist das?« frug Hamilton.
+
+»Nu Hoor unner der Nas,« sagte die Frau.
+
+»Ja un ganz schwarz war er« -- sagte die Kleine.
+
+»So mein Kind,« sagte Hamilton, der sie aufmerksam betrachtete, »also
+ein Täschchen hat er unter dem Arm getragen? groß?«
+
+»Na -- kleen -- vun =Ledder= -- en hibsch Täschche.«
+
+»Und der ist dort hinaus zu gegangen?«
+
+Die Frau bestätigte das -- eine Brille schien er aber nicht aufgehabt
+zu haben; das Kind wollte wenigstens nichts derartiges bemerkt haben und
+eine blaue Brille wäre ihm gewiß aufgefallen.
+
+Das war allerdings eine Spur, wenn auch nur eine außerordentlich
+schwache, Hamilton beschloß aber doch, ihr zu folgen und ohne weiter
+einen Moment Zeit zu verlieren, drückte er dem Kinde ein Geldstück in
+die Hand und eilte dann so rasch er konnte nach Soden wieder auf die
+Post, um dort Extrapost nach Königstein zu nehmen. Nur so viel Zeit
+gönnte er sich, um etwas zu essen und zu trinken, so lange die Pferde
+angespannt wurden -- dann ging es vorwärts, was die Thiere laufen
+konnten.
+
+In Königstein selber -- denn unterwegs, so oft er sich auch nach
+dem Gesuchten erkundigte, erhielt er doch keine Auskunft -- war die
+Nachforschung nicht so schwer. Es gab dort nur zwei halbwegs anständige
+Wirthshäuser und in dem einen erfuhr er denn auch, daß ein einzelner
+Herr mit einem sehr schwarzen Schnurrbart und etwas brauner
+Gesichtsfarbe da gefrühstückt habe, dann aber weiter =gegangen= sei,
+ohne daß sich natürlich irgend Jemand um ihn bekümmert hätte. Eine
+lederne kleine Reisetasche mit Stahlbügel führte er bei sich, eine
+Geldtasche hatte er umhängen, und auch noch einen Riemen umgeschnallt
+gehabt -- das wollte der Wirth deutlich gesehen haben -- weiter wußte er
+nichts.
+
+»In was für Geld hat er seine Zeche bezahlt?«
+
+»In Gulden und Kreuzern -- der Landesmünze.«
+
+Hamilton war nicht halb sicher, daß er wirklich auf der Spur des
+Gesuchten sei, aber was blieb ihm jetzt anderes übrig, als ihr, da er
+sie einmal aufgenommen, auch weiter zu folgen, er würde sich sonst immer
+wieder Vorwürfe gemacht haben, eine wahrscheinliche Bahn aufgegeben zu
+haben, um dafür wild und verloren in der Welt herumzusuchen.
+
+Von hier aus schien der Flüchtling aber wirklich den Waldweg
+eingeschlagen zu haben, denn auf keiner Straße war er mehr gesehen
+worden, auch konnte er sich keinen Führer genommen haben, denn das
+hätte sich jedenfalls ausgesprochen. Wohin jetzt? Es war bald Abend, als
+Hamilton erschöpft in das Gasthaus zurückkehrte, wo er mit einer Flasche
+Wein und der Eisenbahnkarte vor sich, seinen weiteren Schlachtplan
+überlegte. Er fühlte dabei recht gut, daß er von jetzt an auf gut Glück
+weiter suchen müsse. Nur eine Andeutung seines zukünftigen Weges fand er
+in der Richtung, in welcher Königstein von Soden lag -- direkt nach dem
+Lahnthal zu, und der beschloß er auch jetzt zu folgen. Allerdings mochte
+sich der Flüchtige rechts oder links abgewandt haben, um entweder
+Gießen oder den Rhein zu erreichen. Das letztere blieb aber immer das
+Wahrscheinlichste.
+
+Zu Fuß gedachte er aber die Tour nicht zu verfolgen, und er beschloß
+deshalb, hier zu übernachten, und am nächsten Morgen mit einem
+Einspänner, womöglich noch vor Tag, aufzubrechen. Dazu war es aber
+nöthig, noch heute Abend einen Wagen zu bestellen. Ein Mann wurde ihm
+da bezeichnet, der einen Einspänner zu vermiethen hätte. Zu dem ging er
+ungesäumt und erkundigte sich.
+
+»Ja, mein lieber Herr,« sagte dieser achselzuckend, »wenn Sie ein paar
+Stunden früher gekommen wären, so hätten Sie mit einem andern Herrn
+fahren können, der dieselbe Tour macht. Der hat aber meinen
+einzigen Einspänner mitgenommen. Das Pferd hätte Sie beide prächtig
+fortgebracht.«
+
+»Ein einzelner Herr?« frug Hamilton rasch, »heute Mittag?«
+
+»Jawohl -- etwa um elf Uhr.«
+
+»Und wie sah er aus?«
+
+»Ja, lieber Gott, wie sah er aus -- wie ein Berliner, mit einem
+schwarzen Schnurrbart und einer Reisetasche.«
+
+»Und haben Sie nicht einen zweispännigen Wagen?«
+
+»Thut mir leid -- die Pferde sind jetzt alle draußen. Wenn Sie aber das
+dran wenden wollen, warum nehmen Sie nicht Postpferde?«
+
+»Ist denn eine Poststation hier im Ort? Ich hatte keine Ahnung davon,
+denn ich bin im Gasthaus vorgefahren.«
+
+»Ja gewiß, und die =müssen= Ihnen Pferde schaffen.«
+
+Hamilton hörte nichts weiter und saß, kaum eine Viertelstunde später
+wieder in seiner Extrapost. Jetzt zweifelte er auch keinen Augenblick
+mehr, daß er auf der richtigen Spur sei und versprach dem Postillon ein
+tüchtiges Trinkgeld, wenn er ordentlich zufahren würde.
+
+Auf der nächsten Station fand er aber seine Nachtfahrt schon
+unterbrochen. Die Wege kreuzten sich hier, und er =durfte= nicht weiter
+fahren, aus Furcht, die falsche Straße einzuschlagen. Er mußte dort
+übernachten, aber schon vor Tag war er wieder auf, und wie er nun
+die Gewißheit erlangte, daß der Flüchtige die Straße nach Norden
+eingeschlagen, folgte er derselben mit Extrapost und versprach dem
+Postillon ein fürstliches Trinkgeld, wenn er den Gesuchten einholte, ehe
+er die Eisenbahn erreichte.
+
+Das wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn Kornik sich verfolgt
+gewußt und dann keine Zeit versäumt hätte. Er schien sich aber
+vollkommen sicher zu fühlen, denn als sie nach Camburg kamen, hörten
+sie daß er dort geschlafen hätte und ziemlich spät Morgens wieder
+aufgebrochen sei.
+
+Jetzt galt es, ihm den Vorsprung abzugewinnen und näher und näher
+rückten sie auch hinan, bis sie dicht vor Limburg einem rückreitenden
+Postillon begegneten, der ihnen sagte, daß sie die Extrapost voraus
+vielleicht noch vor der Stadt einholen könnten, wenn sie die Pferde
+nicht schonten.
+
+Und wahrlich sie schonten die Pferde nicht, was sie laufen konnten,
+liefen sie. Aber nach der Bahn zu führte der Weg steil thalab, der
+unglückselige Wagen hatte keinen Hemmschuh und mußte mit der Kette
+eingelegt werden; zu rasch =durfte= er da nicht fahren, wenn er nicht
+riskiren wollte ein Rad zu brechen. Als sie endlich Limburg dicht vor
+sich sahen, war die verfolgte Extrapost nirgend zu erkennen, wohl aber
+pfiff gerade der von Gießen kommende Zug in den Bahnhof ein, und hielt
+dort gerade lang genug, daß ihn Hamilton, als er mit seinen, ordentlich
+mit Schaum bedeckten Thieren heranrasselte, konnte wieder davonkeuchen
+sehen. -- Er war zu spät gekommen.
+
+
+VI.
+
+Im Kursaal.
+
+Es war ein verzweifelter Moment, aber Hamilton nicht der Mann, sich
+dadurch beirren zu lassen. Daß Kornik =diesen= Zug benutzt hatte, daran
+zweifelte er keinen Augenblick, sowie er nur auf dem Bahnhof anfuhr und
+ihn nicht traf. Zum Ueberfluß fanden sie aber auch noch die Extrapost,
+die ihn hierher gebracht, und der Postillon derselben bestätigte,
+daß der Herr, den er gefahren, mit dem letzten Zug »nach dem Rhein«
+abgegangen sei.
+
+Es war 5 Uhr 55 -- der nächste Zug ging 6 Uhr 30 -- also noch eine
+halbe Stunde Zeit. Hamilton fuhr mit seinem Wagen gleich vor dem
+Polizeigebäude vor, die Herrn hatten es sich aber schon bequem
+gemacht, und er fand nur noch einen Aktuar, der Schriftstücke in einer
+Privatsache durchsah.
+
+Glücklicherweise schien dies ein ziemlich intelligenter Mann, der seinen
+Bericht aufmerksam anhörte. Als er ihn beendigt hatte, sagte er:
+
+»Mein lieber Herr -- dieser Zug, der eben Limburg verlassen hat, geht
+allerdings heute Abend noch nach Coblenz, aber ich weiß nicht, ob
+der Herr, dem Sie nachsetzen, gerade ein Interresse daran haben kann,
+Coblenz diese Nacht zu erreichen. Er kann natürlich nicht ahnen, daß
+Sie ihm so dicht auf den Fersen sitzen -- vorausgesetzt nämlich, daß es
+wirklich der Richtige ist, und wenn Sie =meinem= Rath folgen wollen, so
+thun Sie, was ich Ihnen jetzt sage. Fahren Sie mit dem nächsten Zug
+nach Ems -- nicht weiter -- besuchen Sie dort heute Abend -- mit jeder
+nöthigen Vorsicht natürlich, den Spielsaal, und finden Sie dann -- was
+ich aber bezweifele -- Ihren Mann =nicht=, dann nehmen Sie heute Abend
+noch in Ems einen Wagen, den Sie für Geld überall bekommen können,
+fahren direkt nach Coblenz, und passen morgen früh an den Bahnzügen
+auf. Ich wenigstens, wenn ich an Ihrer Stelle einen solchen Patron zu
+verfolgen hätte, würde genau so handeln, und wenn ich nicht sehr irre,
+gut dabei fahren.«
+
+»Ems ist nassauisch, nicht wahr?« frug Hamilton.
+
+»Allerdings,« sagte der Aktuar.
+
+»Könnten Sie dann,« fuhr Hamilton fort, indem er seine
+Legitimationspapiere aus der Tasche holte, »mir auf Grundlage dieser
+Schriftstücke einen Verhaftsbefehl für das betreffende Individuum
+ausstellen?«
+
+Der Aktuar sah die Papiere, bei denen sich eine in Hamburg beglaubigte
+Uebersetzung befand, aufmerksam durch und sagte dann lächelnd:
+
+»Eigentlich, und nach unserem gewöhnlichen Gerichtsverfahren würde die
+Sache mehr Umstände machen, und nicht so rasch beseitigt werden
+können, unter den obwaltenden Verhältnissen aber denke ich, daß ich die
+Verantwortlichkeit auf mich nehmen kann. Sie =müssen= mit dem nächsten
+Zug fort, wenn Sie den Gesuchten nicht versäumen wollen. Setzen Sie
+sich einen Augenblick; ich denke, wir können das alles noch in Ordnung
+bringen.«
+
+Der alte Aktuar war ein wahres Juwel. Hamilton hätte sich an keinen
+besseren Menschen wenden können. In kaum zehn Minuten hatte er einen
+Verhaftsbefehl für die Nassauischen Lande gegen jenen Mr. Kornik
+ausgestellt. Und nicht einmal einen Kreuzer mehr als die üblichen und
+nicht zu vermeidenden Sporteln wollte er dafür nehmen, und wie gern
+hätte ihm der junge Mann seine Arbeit zehn- und zwanzigfach bezahlt!
+
+Jetzt war alles in Ordnung -- Hamilton beschloß, den ihm gegebenen
+Rath gewissenhaft zu befolgen, und dem alten Herrn auf das herzlichste
+dankend, eilte er so rasch er konnte nach dem Bahnhof zurück.
+
+Seine Zeit war ihm auch nur eben knapp genug zugemessen; kaum hatte er
+dort sein Billet gelöst, so wurde der Zug schon signalirt; zehn Minuten
+später braußte er heran, hielt, nahm seine wenigen Passagiere auf und
+keuchte in ruheloser Hast weiter, das freundliche Lahnthal hinab.
+
+Aber Hamilton hatte kein Auge für die liebliche Scenerie, die ihn umgab
+-- so war er in seine eigenen Gedanken vertieft, daß er ordentlich
+emporschrak als sie in den ersten Tunnel eintauchten. Nur das Bild des
+Flüchtigen schwebte vor seiner Seele, und selbst daß er Schlaf und Ruhe
+entbehrt hatte, um diesen zu erreichen und einzuholen, fühlte er nicht.
+Der Zug flog mit reißender Schnelle dahin, aber ihm kam es noch immer
+vor, als ob er in seinem Leben nicht so langsam gefahren wäre. Jetzt
+glitten sie an den grünen Hängen des freundlichen Thales dahin -- jetzt
+wieder öffnete der Berg seinen Schlund, um sie in seine düstere Tiefe
+aufzunehmen, und aufs neue schossen sie hinaus in den dämmernden Abend.
+Aber Hamiltons Augen schienen für das alles keine Sehkraft zu haben, so
+theilnahmlos, so unbewußt selbst streifte sein Blick darüber hin, bis
+endlich der schrille Pfiff der Locomotive die Nähe der Station Ems
+anzeigte und eine Masse Spaziergänger, Herren zu Fuß und Damen und
+Kinder auf Eseln, in der unmittelbaren Nähe der Bahn sichtbar wurden. Es
+war spät geworden und die Leute eilten jetzt nach Haus, denn so heiß die
+Tage auch sein mochten, die Nächte blieben kühl und frisch genug.
+
+Aber diese kümmerten den Polizeimann nicht, der recht gut wußte, daß
+der, den =er= suchte, sich nicht unter ihnen befand, selbst =wenn= es
+noch hell genug gewesen wäre, einzelne Physiognomien der da draußen
+Wandernden zu erkennen, an denen sich nur die lichten Kleider
+unterscheiden ließen.
+
+Der Zug hielt, aber selbst jetzt noch war Hamilton einen Augenblick
+unschlüssig, ob er nicht lieber sitzen bleiben und bis nach
+Oberlahnstein und Coblenz mitfahren solle; denn ließ es sich denken,
+daß der Flüchtige gerade hier ausgestiegen sei? Derartige Menschen sind
+allerdings furchtbar leichtsinnig, und der alte Aktuar hatte am Ende
+doch Recht gehabt, wenn er ihm rieth, die Spielbank jedenfalls einmal
+ein Paar Stunden zu besuchen. Verloren war immer kaum viel Zeit dabei,
+denn kam er jetzt auch nach Coblenz, so mußte er doch die Nacht dort
+liegen bleiben, um bei dem Abgang des ersten Morgen-Zuges erst am
+Bahnhof zu sein. Er folgte also dem Rath des alten Mannes, stieg aus und
+ging in das dicht am Bahnhof gelegene Hotel zum Guttenberg, um dort erst
+etwas andere Toilette zu machen. Er wollte sich nämlich nicht der Gefahr
+aussetzen, daß er von dem schlauen Verbrecher zuerst erkannt würde, denn
+er zweifelte keinen Augenblick daran, daß Kornik ihn an jenem Abend eben
+so gut bemerkt habe, wie seinen Begleiter Burton, und ihm deshalb jetzt
+eben so rasch ausweichen würde, wie jenem.
+
+In seiner Tasche trug er einen leichten hellen Sommerrock, den zog er
+an, setzte eine hellgrüne Brille auf und borgte sich noch außerdem vom
+Kellner einen Cylinderhut. Mit dieser ganz geringen Veränderung seiner
+Toilette, die er dadurch vervollständigte, daß er ein weißes Halstuch
+statt seines bisher getragenen schwarzen nahm, fühlte er sich ziemlich
+sicher, wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick erkannt zu werden.
+Kornik hatte ihn ja überhaupt nur die kurze Zeit im Coupé gesehen, und
+ihn dabei keineswegs seiner Beachtung so besonders werth gehalten.
+Dann aß er etwas und hielt es nun an der Zeit, das jetzt besonders
+frequentirte Kurhaus zu besuchen.
+
+Es war indessen völlig Nacht geworden; unterwegs traf er nur noch
+einzelne Leute, die vom Kurhaus weg über die Brücke in ihre am andern
+Ufer liegende Quartiere gingen, das Kurhaus selber aber war noch hell
+und brillant erleuchtet und auch in der That der einzige Platz in dem
+ganzen Badeort, den man Abends besuchen konnte und wo man Gesellschaft
+fand. Die anderen zahllosen Hotels schienen nur zum Essen zu dienen,
+denn in ihren Sälen versetzten riesige Tische, deren Zwischenraum
+vollständig mit Stühlen ausgefüllt war, jeden nur einigermaßen möglichen
+Platz. Man konnte sich in keinen von ihnen wohnlich fühlen.
+
+Das Kurhaus dagegen vereinigte alles, was sich von Pracht und Eleganz
+nur denken ließ -- ein reichhaltiges Lesezimmer mit bequemen Fauteuils,
+einen prachtvollen Saal zu Concerten oder Spiel- und Tanzplätzen der
+Kinder und Damen, und dann den unheilvollen Magnet für die Spieler, die
+grünen Tische, von denen der verführerische Klang des Metalls in
+alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte, und seine Opfer
+erbarmungslos an- und nachher auszog.
+
+Es ist eine Schmach für Deutschland, daß wir noch diese vergoldeten
+Schandhöhlen in unseren Gauen dulden -- es ist eine doppelte Schmach für
+die Regierungen, die sie begünstigen und gestatten, und alle die Opfer,
+die jährlich fallen, müssen einst auf ihren Seelen brennen.
+
+Napoleon III. hat die Spielhöllen aus seinem Reich verbannt, und die
+Spieler damit über die Grenzen getrieben. Geschah das aber nur deshalb,
+daß sie in =Deutschland= ihre gesetzliche Aufnahme finden sollten?
+und müssen wir nicht vor Scham erröthen, wenn wir dieses französische
+Unwesen mit französischen Marken und Marqueuren im Herzen unseres
+Vaterlandes eingenistet finden? Aber es =ist= so. Trotz der gerechten
+Entrüstung, die allgemein darüber herrscht, müssen wir jetzt geschehen
+lassen, daß andere Nationen die Achseln darüber zucken und uns bedauern
+oder -- verachten, =müssen= wir es geschehen lassen, sage ich, denn
+
+ »wollten wir alle zusammen schmeißen
+ wir könnten sie doch nicht Lügner heißen.«
+
+Wenn wir es denn aber trotz allem und allem unter unseren Augen so frech
+fortgeführt sehen, so gehört es sich, daß sich jeder =rechtliche=
+Mann wenigstens dagegen verwahrt, diese Schandbuden gut zu heißen.
+Das Ausland möge erfahren, daß die =deutsche Nation= unschuldig ist an
+diesem Werk, und keinen Silberling von dem Blutgeld verlangt, das es
+einzelnen Fürsten einbringen mag. Hammerschlag auf Hammerschlag folge
+auf das Gewissen der Vertreter deutscher Nation, bis sie endlich wach
+gerüttelt werden -- sie sollen sich wenigstens nicht beklagen dürfen,
+daß man sie nicht geweckt hätte.
+
+Hamilton dachte freilich an nichts derartiges, als er das hell
+erleuchtete Portal betrat, an welchem ein gallonirter Portier und ein
+sehr einfach gekleideter Polizeidiener -- zur Wache, daß das heilige
+Spiel nicht etwa gestört würde -- auf Posten standen. Der Portier wollte
+übrigens Schwierigkeiten machen, als er Hamiltons hellen Rock sah --
+er schien ihm für die Spielhölle nicht anständig genug gekleidet, aber
+neben ihm schritt eine bis auf den halben Busen decoltirte Französin
+frech vorüber, welcher der Lakai eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung
+machte. Hamilton wußte indessen, welchen Zauber in einem solchen Fall
+ein Guldenstück ausüben würde, und der augenblicklich zahm gewordene
+Portier schmunzelte auch so vergnügt darüber hinweg, daß seinem Eintritt
+nichts weiter im Wege stand.
+
+Wenige Secunden später befand er sich, von dem jetzt dienstbaren Geist
+willig geleitet, im Lesecabinet, aus dem eine Thür unmittelbar in den
+großen Spielsaal führte.
+
+Dort saßen nur ihm vollkommen fremde Menschen, ein langbeiniger
+Engländer, der gewissenhaft die Times durcharbeitete, ein kleiner
+beweglicher Franzose, der über dem Charivari schmunzelte, und ein Paar
+andere Badegäste, die gleichgültig und aus Langeweile die verschiedenen
+continentalen Zeitungen durchblätterten.
+
+Er hielt sich dort nicht auf und öffnete die Thür, die in den Spielsalon
+führte, aber anfangs nur halb, um erst einen Ueberblick über die
+verschiedenen Gestalten zu gewinnen, und nicht früher gesehen zu werden,
+als er selber sah. Aber es hätte dieser Vorsicht nicht einmal bedurft,
+denn die dort Befindlichen hatten nur Ohr für den monotonen Ruf des
+Croupiers, nur Auge für den grünen Tisch, und die darauf genähten bunten
+Lappen. Wer kümmerte sich von allen denen um den einzelnen Fremden, wenn
+er nicht selber als stark Spielender -- mit Glück oder Unglück blieb
+sich gleich -- ihr Interesse für einen Augenblick in Anspruch nahm.
+
+Hamilton trat an die Spieler dicht hinan, um die einzelnen Gesichter
+derselben mustern zu können -- aber er fand kein bekanntes darunter.
+Es war ein buntes Gemisch von leidenschaftlich erregten, abstoßenden
+Physiognomien, unter denen sich nur hie und da die kalten speculirenden
+Züge alter abgefeimter, und ruhig ihre Zeit abwartender Spieler,
+auszeichneten. Auch viele »Damen« standen dicht von den Uebrigen
+gedrängt am Tisch, wenn solche Frauenzimmer den Namen von Damen
+überhaupt verdienen. Eine von diesen saß sogar neben dem Croupier -- es
+war der Lockvogel der Gesellschaft, ein junges, üppiges Weib, tief
+decoltirt, mit dunklen vollen Locken und reichem Brillantschmuck; andere
+drängten, jede Weiblichkeit bei Seite lassend, zwischen die ihnen nur
+unwillig Raum gebenden Zuschauer hinein, um ihr Geld in wilder Hast auf
+eine Nummer zu schieben.
+
+Hamiltons Blick streifte gleichgültig darüber hin, und wie er
+sich langsam selber um den Tisch bewegte, entging kein irgendwo
+eingeschobener Kopf seinem forschendem Auge. Da hörte er auch in einem
+kleineren Nebenzimmer das Klimpern des Geldes und die monotonen Worte:
+»_le jeu est fait_« -- denen lautlose Stille folgte, und wollte eben
+auch jenes Gemach betreten, als er wie festgewurzelt auf der Schwelle
+blieb, denn =dort= stand Kornik -- bleich wohl jetzt, von der Erregung
+des Spiels, und mit gierigem Blick an der abgezogenen Karte hängend --
+aber unverkennbar derselbe, mit dem er an jenem Tag gefahren. Er
+hatte es auch nicht einmal für nöthig gehalten, den verrätherischen
+Schnurrbart abzurasiren, oder sein Haar anders zu tragen, er mußte sich
+heute Abend hier vollkommen sicher fühlen. Nur die blaue Brille fehlte.
+
+Im ersten Moment fürchtete Hamilton fast sich zu bewegen, daß nicht
+der Blick des Verbrechers ihn vor der Zeit traf. Aber es war das eine
+vollkommen nutzlose Angst, denn der =Spieler= hatte nur Augen für die
+vor ihm abgezogenen Karten -- weiter existirte in diesem Moment keine
+Welt für ihn. Vorsichtig zog sich der Polizeiagent deshalb wieder
+zurück, bis er sich im Nebenzimmer gedeckt wußte, schritt dann durch den
+Saal und auf den dort stationirten Polizeidiener zu.
+
+Mit wenigen Worten machte er diesem auch begreiflich was er wollte --
+derartige kleine Zwischenfälle kamen gar nicht etwa so selten in
+diesen Spielhöllen vor -- und überraschte dabei den Portier auf das
+angenehmste, indem er ihm zwei große Silberstücke -- er sah gar nicht
+nach, was -- in die Hand drückte, mit dem Auftrag, so rasch als irgend
+möglich Polizeimannschaft zur Hülfe herbeizuholen. Die befand sich
+übrigens stets in der Nähe. Ein verzweifelter Spieler hatte sich wohl
+schon dann und wann einmal, zum Letzten und Aeußersten getrieben, an der
+heiligen Kasse selber vergriffen und nachher sein Heil in rascher Flucht
+gesucht, und dagegen mußten die Herren freilich geschützt werden. Wenn
+auch ein =Raub=, war das Geld doch ein =gesetzlich= gewonnener, und die
+Regierung fühlte sich verpflichtet, dessen Schutz zu überwachen.
+
+Hamilton traute indessen seinem Mann da drinnen noch lange nicht genug,
+um ihn länger, als unumgänglich nöthig war, sich selber zu überlassen;
+er war ihm damals in Frankfurt auf zu schlaue Weise durch die Finger
+geschlüpft, während er ihn eben so sicher geglaubt wie gerade jetzt.
+Aber er selber kannte die Leidenschaft des Spiels noch viel zu wenig,
+um zu wissen, daß er in diesem einen viel sicheren Bundesgenossen hatte,
+als in einem schönen Weibe, und als er in Begleitung des Polizeidieners
+jenes Zimmer wieder betrat, stand Kornik noch eben so fest und
+regungslos, eben so nur in dem einen Gedanken der Karten absorbirt, an
+seinem Tisch, wie er ihn vorhin verlassen.
+
+Der Polizeibeamte übereilte sich aber jetzt nicht im geringsten. Er
+wußte, daß ihm sein Opfer nicht mehr entgehen konnte, und hielt es
+für viel gerathener, den Herrn nicht früher zu beunruhigen, als er der
+herbeigerufenen Hilfe sicher war. Nur seine grüne Brille nahm er ab.
+
+»Welcher ist es denn?« flüsterte ihm der dicht hinter ihm gehende
+Polizeidiener zu. Hamilton machte eine beschwichtigende Bewegung mit der
+Hand und trat dann, von jenem gefolgt, an Kornik hinan. Er stand jetzt
+so nahe bei ihm, daß seine Schulter die des Polen berührte, der aber
+nicht daran dachte, auch nur den Kopf nach ihm umzudrehen.
+
+Jetzt hatte derselbe gerade gewonnen; es standen vielleicht 40 oder 50
+Louisd'or auf dem grünen Tisch -- er ließ den Satz stehen, die Karten
+fielen und der Croupier zog mit seiner hölzernen Schaufel das Gold ein.
+
+Mit einem leisen, zwischen den Lippen gemurmelten Fluch schob sich
+Kornik seine Geldtasche vor, um wahrscheinlich neue Summen auf die
+trügerischen Blätter zu setzen, als er eine Hand auf seiner Schulter
+fühlte und Hamilton mit ruhiger, aber absichtlich lauter Stimme sagte:
+
+»Sie sind mein Gefangener, im Namen der Königin.«
+
+Der Pole wandte ihm jetzt rasch und erschreckt sein Antlitz zu und
+Leichenblässe deckte im Nu seine Züge, als er das nur zu wohl gemerkte
+Gesicht des Mannes aus Frankfurt neben sich sah. Aber auch nicht für ein
+Moment verlor er seine Geistesgegenwart, und dem Blick desselben kalt
+und ruhig begegnend, sagte er:
+
+»Das Spiel hat Ihnen wohl den Verstand verwirrt -- stören Sie mich
+nicht,« und in die Geldtasche greifend, wollte er, ohne den Fremden
+weiter zu beachten, sich wieder über den Tisch beugen, als sich Hamilton
+aber, seiner Sache zu gewiß, an den Polizeidiener wandte und sagte:
+
+»Verhaften Sie den Herrn -- ich werde Sie augenblicklich auf das Bureau
+begleiten.«
+
+»Keine Störung hier, meine Herren, wenn ich bitten darf,« rief plötzlich
+ein kleines hageres Männchen, das schon bei den ersten Worten an den
+Spieltisch getreten war. »Wenn Sie etwas mit einander auszumachen haben,
+ersuche ich Sie, in ein Nebenzimmer zu treten.«
+
+»Ich werde =Sie= nicht um Erlaubniß fragen, wenn ich Ihre Wirthschaft
+hier für einen Augenblick unterbreche,« sagte Hamilton trotzig -- »ich
+habe ein Recht diesen Mann zu verhaften, wo ich ihn finde.«
+
+»Dann führen Sie ihn ab, Polizeidiener,« sagte der Kleine in seinem
+braunen Rock ruhig -- »oder ich mache Sie für jede Unordnung hier
+verantwortlich.«
+
+»Ich habe mit den Herrn nichts zu thun,« rief der Pole trotzig, »was
+wollen Sie von mir? -- lassen Sie mich los.«
+
+Eine Anzahl von Menschen sammelte sich um die beiden, und die Spieler
+zogen ihr Geld ein, weil sie vielleicht einen Kampf und dadurch die
+Sicherheit ihrer Bank gefährdet fürchteten, denn es gab leider eine
+Menge von Menschen, die das dort aufgethürmte Geld für =gestohlen=
+hielten, und sich wenig Gewissen daraus gemacht hätten, es fortzuraffen.
+
+»Bitte, meine Herren, gehen Sie in ein Nebenzimmer,« drängte aber jetzt
+nochmals der kleine Braune, »Sie sind dort vollkommen ungestört -- Jean,
+Bertrand hierher -- sorgen Sie für Ordnung.«
+
+Der Pole warf den Blick umher; er sah sich augenscheinlich nach einem
+Weg zur Flucht um, aber Hamiltons Hand hatte seinen Arm wie eine
+Schraube gefaßt und der Polizeiagent sagte mit leiser, aber drohender
+Stimme:
+
+»Es hilft Ihnen nichts. Flucht ist für Sie unmöglich. Sie sind mein
+Gefangener; ergeben Sie sich gutwillig, Sie haben keinen Ausweg mehr,
+und Wiederstand kann Ihre Lage nur verschlimmern.«
+
+Es war einen Augenblick, als ob sich der Pole den drohenden Worten nicht
+fügen wolle, und fast unwillkürlich zuckte er mit der Hand empor. Aber
+ein umhergeworfener Blick mußte ihn überzeugen, daß er mit Gewalt
+nichts ausrichten könne, denn eine Menge von Neugierigen, die sich im
+benachbarten Salon umhergetrieben, hörten kaum die in einem Spielsaal
+ganz ungewohnten, lauten Stimmen, als sie hereindrängten, und den
+einzigen Ausgang vollständig verstopften.
+
+Der eine Blick genügte, und verächtlich lächelnd aber mit voller Ruhe
+sagte der Mann:
+
+»Hier herrscht jedenfalls ein Irrthum. Ich bin Graf Kornikoff, hier ist
+mein russischer Paß, und ich stelle mich damit unter den Schutz unseres
+Gesandten. Nassau ist mit dem russischen Thron verwandt und wird dessen
+Unterthanen nicht ungestraft beleidigen lassen.«
+
+Mit den Worten nahm er ein Papier aus seiner Brusttasche und hielt es
+Hamilton vor.
+
+»Es kann sein,« sagte dieser, »daß Ihr Paß in Ordnung ist. Die
+gefährlichsten Charaktere haben gewöhnlich die besten Pässe. In dem
+Falle werden Sie sich aber um so weniger weigern mir zu folgen, da ich
+bereit bin, Ihnen vollständige Genugthuung zu geben, wenn ich Sie ohne
+hinreichenden Grund verhaftet habe. Die Herren hier werden mir aber
+zugeben, daß man, auch selbst mit einem guten Paß versehen, doch stehlen
+kann, und auf die Klage eines Diebstahls verhafte ich Sie hiermit.«
+
+»Gut denn, führen Sie ihn fort und übernehmen dabei die Verantwortung
+für alle Folgen,« sagte der kleine Herr mit dem braunen Rock ungeduldig
+-- »aber Sie sehen doch ein, daß Sie hier das Spiel und Vergnügen völlig
+dabei unbetheiligter Herren und Damen nicht länger stören dürfen. Herr
+Polizeicommissar, ich bitte Sie, daß Sie diesem Unfug ein Ende machen,
+oder ich werde mich morgen ernstlich bei der Behörde deshalb beklagen.«
+
+Der Polizeicommissar war in der That herbeigekommen, und Hamilton, der
+ihn an seiner Uniform erkannte, frug ihn leise:
+
+»Wer ist denn dieser kleine Tyrann?«
+
+»Einer der Spielpächter,« sagte der Mann mit einem verächtlichen Blick
+auf den Braunen, und setzte dann laut hinzu, »beklagen Sie sich bei
+wem Sie wollen, Monsieur, Sie werden uns aber hier wohl noch erlauben,
+unsere Schuldigkeit zu thun, selbst =wenn= Ihre achtbare Gesellschaft
+einen Augenblick gestört werden solle. Und Sie, mein Herr,« wandte er
+sich an den Gefangenen, »folgen Sie uns jetzt auf das Bureau -- ich
+werde die Sache dort untersuchen.«
+
+»Sie werden mir bezeugen, daß ich nicht den geringsten Wiederstand
+geleistet habe,« sagte der Pole ruhig -- »kommen Sie, meine Herren. Ich
+wünsche noch an dem Spiel hier Theil zu nehmen, und je eher wir diese
+fatale Sache beendigen, desto besser.«
+
+Damit wandte er sich entschlossen dem Ausgang zu -- die Leute gaben ihm
+Raum und wenige Secunden später standen sie am Ausgang des Kurhauses.
+
+»Es wäre besser, wir legten ihm Handschellen an,« sagte Hamilton, sich
+zu dem Polizeicommissar überbiegend.
+
+»Er kann uns hier nicht entschlüpfen,« erwiederte dieser kopfschüttelnd
+-- »und ich möchte keine Gewaltmaßregeln gebrauchen, bis ich die Sache
+näher untersucht habe.«
+
+Der Pole schritt ruhig und festen Schrittes zwischen zwei Polizisten
+dahin -- dicht hinter ihm folgte Hamilton mit dem Commissar, und eine
+Anzahl von Neugierigen schloß sich dem Zuge an, um zu sehen, was die
+Sache für ein Ende nähme. So schritten sie langsam durch den Kurgarten
+dem kleinen viereckigen Regierungsgebäude zu, das dicht an der Brücke
+liegt, und der Gefangene schien selber nichts sehnlicheres zu wünschen,
+als diese Scene bald zu Ende gebracht zu sehen.
+
+»Haben wir noch weit?« frug er einen der ihn escortirenden Leute.
+
+»Oh bewahre,« sagte dieser, indem er mit dem ausgestreckten Arm auf
+das vor ihnen liegende Gebäude zeigte, »das ist das Haus.« In demselben
+Moment stieß er aber auch einen Schrei aus, denn ein schwerer Schlag,
+jedenfalls mit einem sogenannten »_life preserver_« geführt, schmetterte
+ihn bewußtlos zu Boden, während der Gefangene mit flüchtigen Sätzen über
+die schmale Brücke hinüber eilte.
+
+Aber er hatte flüchtigere Füße hinter sich. Wie ein Tiger auf seine
+Beute, so schoß Hamilton hinter ihm drein, und noch ehe er das Ende der
+Brücke erreichte, streckte er schon den Arm aus, um ihn am Kragen zu
+packen. Da wandte sich der zur Verzweiflung getriebene Verbrecher, und
+einen Revolver vorreißend, drückte er ihn gerade auf die Brust seines
+Verfolgers ab.
+
+Hamilton wäre verloren gewesen, aber zu seinem Glück versagte
+die Schußwaffe, und ehe Kornik zum zweiten Male abdrücken konnte,
+schmetterte ihn der Schlag des Polizeimanns zu Boden. Aber selbst
+damit begnügte sich dieser nicht, und mit einer ganz außerordentlichen
+Gewandtheit faßte er ihm beide Hände, legte sie zusammen und wenige
+Secunden später knackten die vortrefflichen Darbies oder Handschellen in
+ihr Schloß und er wußte jetzt, daß er seinen Gefangenen sicher hatte.
+
+»Alle Wetter,« sagte der nachkeuchende Polizeicommissar, »das war doch
+gut, daß Sie schneller laufen konnten.«
+
+»Wenn Sie =meinem= Rath gefolgt wären, konnte uns das erspart werden,«
+meinte Hamilton finster, »denn ich verdanke mein Leben jetzt nur einem
+schlechten Zündhütchen.«
+
+»Er hat schießen wollen?«
+
+»Dort liegt der Revolver -- Sie sehen, daß Sie es hier mit einem
+gefährlichen Verbrecher zu thun haben.«
+
+»Da wollen wir ihn doch lieber binden.«
+
+»Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter -- er ist fest und sicher. Sein
+Sie nur so gut und lassen ihn jetzt durch Ihre Leute in festen Gewahrsam
+bringen.«
+
+
+VII.
+
+Die gerettete Unschuld.
+
+Mr. Burton befand sich an dem Morgen in einer fast fieberhaften
+Aufregung, denn wie er schon lange jeden Glauben an die Mitschuld des
+armen -- oh so wunderbar schönen Weibes abgeschüttelt hatte, gingen ihm
+andere Pläne wild und wirr durch den Kopf. Immer aufs neue malte er sich
+den Augenblick aus, wo er sie in seinem Arm gehalten, wo seine Lippen
+zum ersten Mal in Angst und Liebe die ihrigen berührt, und nur der
+Gedanke quälte ihn noch, in welchem Verhältniß sie zu dem unwürdigen
+Menschen gestanden haben, wie sie mit ihm bekannt werden konnte. Hatte
+er sie unter seinem falschen Namen getäuscht? -- ihrer Familie heimlich
+vielleicht entführt? -- alle ihre Klagen schienen darauf hinzudeuten,
+wie verworfen mußte er dann -- wie elend sie, die arme Unschuldige,
+Verrathene sein? und war es da nicht seine Pflicht, -- wo er wenn auch
+selber unschuldiger Weise, all diesen Jammer über sie gebracht -- ihr
+auch wieder zu helfen so gut er konnte? Er schien fest entschlossen,
+und von dem Augenblick an fühlte er sich auch wieder ruhiger und
+zufriedener.
+
+James Burton, kaum zum Mannesalter herangereift, war ein seelensguter
+Mensch mit weichem, für alles Gute und Schöne leicht empfänglichem
+Herzen. Er hatte dabei -- in den glücklichsten und unabhängigsten
+Verhältnissen erzogen -- noch nie Gelegenheit bekommen, den Täuschungen
+und Wiederwärtigkeiten des Lebens zu begegnen. Weil er selber gut und
+ohne Falsch war, hielt er alle Menschen für eben so rechtlich und brav,
+und selbst an Korniks Schuld hatte er so lange nicht glauben mögen, bis
+auch der letzte Zweifel zur Unmöglichkeit wurde. Wie leicht vertraute
+er da diesen lieben treuen Augen -- wie glücklich fühlte er sich selbst,
+daß es =ihm= verstattet gewesen, jenem holden Wesen den Schmerz und die
+furchtbare Seelenqual erspart zu haben, von dem zwar geschickten und
+tüchtigen, aber auch vollkommen rücksichtslosen Polizeimann examinirt zu
+werden. Er schämte sich jetzt fast vor sich selber, daß er ihr auch nur
+verstattet hatte, ihren Koffer auszupacken -- wie niedrig mußte sie
+von ihm denken! -- aber er war ja auch gar nicht im Stande gewesen, sie
+daran zu verhindern, so leidenschaftlich erregt zeigte sie sich nur bei
+der Möglichkeit eines Verdachts. Aber natürlich -- wenn er =sich= in
+=ihre= Stelle dachte, würde er genau so gehandelt haben.
+
+Die Stunde, die sie erbeten hatte, um sich nur von den ersten
+furchtbaren Eindrücken der über sie hereingebrochenen Catastrophe
+zu sammeln, verging ihm in diesen Gedanken rascher, als er es selbst
+geglaubt. Gewissenhaft aber bis zur letzten Minute ausharrend, stieg
+er dann wieder zu ihr hinab, klopfte leise an, und sah sich dem
+zauberischen Wesen noch einmal gegenüber.
+
+Zeit zum Aufräumen schien sie allerdings noch nicht gefunden zu haben,
+denn die umhergestreuten Sachen der beiden Koffer lagen noch immer
+so wild und wirr durch einander, wie er sie verlassen hatte. Aber wer
+mochte ihr das verdenken? Auch in ihrem leichten, reizenden Morgenanzug
+war sie noch; -- wenn unsere Seele zerrissen ist, wie können wir da an
+den Körper denken?
+
+Trotzdem schien sie sich gesammelt zu haben. Sie sah etwas bleich aus,
+aber sie war ruhiger geworden, und dem Eintretenden lächelnd die Hand
+entgegenstreckend, sagte sie herzlich:
+
+»Oh wie danke ich Ihnen, daß Sie, um den ich es wahrlich nicht verdient
+habe, mir diese zarte Rücksicht gezeigt. In dem Gedanken fand ich auch
+allein meinen Trost, daß Gott mich doch noch nicht verlassen haben
+könnte, da er =Sie= mir zugeführt.«
+
+»Verehrte -- =liebe= Frau,« sagte Burton bewegt, »sein Sie unbesorgt.
+Wenn auch in einem fremden Lande, steht Ihnen doch jetzt ein Landsmann
+zur Seite, und ich habe mir nur erlaubt, Sie jetzt noch einmal zu
+stören, um mit Ihnen gemeinschaftlich zu berathen, welche Schritte wir
+am besten thun können, um -- das Geschehene gerade nicht ungeschehen zu
+machen, das ist nicht möglich, aber Sie doch jedenfalls aus einer Lage
+zu befreien, die Ihrer unwürdig ist. Um mir das zu erleichtern, muß ich
+Sie aber bitten, mir Ihr =volles= Vertrauen zu schenken. Nur dann bin
+ich im Stande die Maßregeln zu ergreifen, die für Sie die zweckmäßigsten
+sein würden. Daß es dabei nicht an meinem guten Willen fehlt, davon
+können Sie sich versichert halten.«
+
+»Mein =volles= Vertrauen soll Ihnen werden,« sagte die junge Frau,
+leicht erröthend -- »aber bitte, setzen Sie sich zu mir, Sie sollen
+alles erfahren -- und nun,« fuhr sie fort, während sich Burton neben ihr
+auf dem Canapé niederließ, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte --
+»erzählen Sie mir vorher ausführlich, wie Sie dem Verbrecher auf die
+Spur gekommen sind, und welche Hoffnung Sie jetzt haben, ihn seiner
+Strafe zu überliefern. Es ist das Einzige jetzt, worauf ich hoffen kann,
+daß sein Geständniß Ihnen beweisen muß, wie doppelt nichtswürdig er an
+mir selber dabei gehandelt.«
+
+»Aber, verehrte Frau,« sagte Burton etwas verlegen -- »schon vorher
+theilte ich Ihnen alles mit, und der Eindruck, den die traurige
+Erzählung auf Sie machte --«
+
+»Vorher,« sagte die junge Frau -- »und in der entsetzlichen Aufregung,
+in der ich mich befand, tönten die Worte nur wie Donnerschläge an mein
+Ohr -- ich begriff wohl ihre Furchtbarkeit, aber nicht ihren Sinn und
+vieles ist mir dabei unklar geblieben -- besonders, welche Spur Sie
+=jetzt= von dem Verbrecher haben, daß Sie hoffen können ihn einzuholen,
+und wer der Herr ist, der ihn verfolgt.«
+
+Der Bitte, während =diese= Augen so treu und vertrauend in die seinen
+schauten, konnte Burton nicht wiederstehen. Es war ihm dabei sogar
+Bedürfniß geworden, sich -- ihr gegenüber -- seines bisherigen eigenen
+Verhaltens wegen zu rechtfertigen, wobei er hervorhob, daß er mit der
+Verfolgung der Dame eigentlich gar nichts zu thun und Lady Clive im
+Leben nicht gesprochen habe, noch persönlich kenne. Auch von dem
+Schmuck selber wußte er nichts, als was ihm Hamilton darüber beiläufig
+mitgetheilt.
+
+»Und jetzt?« frug die junge Dame weiter, die der Erzählung mit der
+gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war -- »wo jener Betrüger -- dem
+Gott verzeihen möge, was er an mir gethan, und wie er mich =doppelt=
+verrathen hat -- wo jener Betrüger geflohen ist, haben Sie noch
+Hoffnung, ihn wieder zu ereilen?«
+
+»Allerdings,« sagte Burton -- »Mr. Hamilton, mein Begleiter, ist einer
+der schlauesten und gewandtesten Detectivs Englands. Er spricht drei
+oder vier verschiedene fremde Sprachen, und hat schon daheim die
+scheinbar unmöglichsten Dinge ausgeführt. Dieser Kornik hatte außerdem
+viel zu kurzen Vorsprung, um mich nicht fest glauben zu machen, daß ihn
+Hamilton ereilt, da er noch dazu die unbegreifliche Unvorsichtigkeit
+beging, von hier mit Extrapost zu fliehen. Wir finden das aber so oft im
+Leben, daß schlechte Menschen irgend ein Verbrechen mit der größten
+und raffinirtesten Schlauheit ausführen, und jede Kleinigkeit, jeden
+möglichen Zufall dabei berücksichtigen, und nachher, wenn ihnen
+alles nach Wunsch geglückt, sich selber auf die plumpste Weise dabei
+verrathen.«
+
+»Aber ehe er ihn eingeholt hat, kehrt er nicht hierher zurück?«
+
+»Ich glaube kaum,« sagte Mr. Burton, »doch fehlt mir darüber jede
+Gewißheit. Er wird mir unter allen Umständen in der nächsten Zeit schon
+telegraphiren, denn ich habe ihm versprechen müssen, hier zu bleiben,
+bis er zurückkehrt.«
+
+»Und glauben Sie, daß er den Verbrecher, wenn er ihn einholen sollte --
+mit hierher bringt?«
+
+»Ich zweifle kaum -- aber auch darüber bin ich nicht im Stande, Ihnen
+eine bestimmte Auskunft zu geben. Nur davon dürfen wir überzeugt sein,
+daß Mr. Hamilton alles in der praktischsten Weise ausführen wird, denn
+er versteht sein Fach aus dem Grunde. =Hat= er die Spur gefunden, so ist
+Mr. Kornik auch verloren.«
+
+Es schien fast, als ob die junge Dame um einen Schatten bleicher wurde
+-- und wer konnte es ihr verdenken, daß ihr die Erinnerung an den Mann,
+der sie so furchtbar hintergangen, entsetzlich war? Endlich sagte sie
+leise:
+
+»Wenn sich das alles bestätigt, was Sie mir erzählt, verehrter Herr --
+und ich kann kaum mehr daran zweifeln, dann =verdient= er die Strafe,
+die ihn erreichen wird, im vollem Maße. Aber wie er auch =Ihr= Haus
+betrogen und hintergangen haben mag, es ist nichts im Vergleich mit dem,
+was er an mir und meinem zukünftigen Leben verbrochen.«
+
+»Aber wie konnte er Sie so lange täuschen?« frug Burton und erröthete
+dabei fast selber über die Frage.
+
+»Du lieber Gott,« seufzte die Unglückliche -- »was weiß ein armes
+unerfahrenes Mädchen von der Welt? Er kam in meiner Eltern Haus, in das
+ihn zuerst mein Bruder eingeführt -- es mögen jetzt zwei Monate sein --
+und sein offenes, heiteres Wesen gewann ihm mein Herz -- sein angemaßter
+Rang schmeichelte meiner Eitelkeit. Er erzählte mir dabei von seinen
+Gütern in Polen, und wie glücklich -- wie selig ihn mein Besitz machen
+würde, und ich -- war schwach genug, es ihm zu glauben. Aber mein Vater
+verweigerte seine Einwilligung. Er kannte die Menschen besser, als
+seine thörichte Jenny. Er verlangte von Kornikoff den Ausweis eines
+hinreichenden Vermögens sowohl, wie die Erlaubniß seiner eigenen Eltern
+zu unserer Verbindung, und dieser, ungeduldig und stürmisch, drang in
+mich, mit ihm zu fliehen.«
+
+Jenny barg beschämt ihr Antlitz in ihren Händen und James Burton hörte
+der Erzählung mit einiger Verlegenheit schweigend zu. Er hätte das
+liebliche Wesen so gern getröstet, aber es fielen ihm in diesem
+Augenblick um die Welt keine passenden Worte dafür ein und es entstand
+dadurch eine kurze peinliche Pause. Endlich fuhr die junge Frau, aber
+jetzt tief erröthend, fort:
+
+»Schon unterwegs fing ich an, an dem Charakter meines Bräutigams zu
+zweifeln. Wir entkamen glücklich auf einem Dampfer, der nach Hamburg
+bestimmt war, und er hatte mir versprochen, daß jenes Fahrzeug in
+Helgoland anlegen würde, wo wir uns trauen lassen könnten -- aber es
+legte nicht an, und in Hamburg, wo er ausging, um einen Geistlichen zu
+suchen, wie er sagte, kehrte er ebenfalls unverrichteter Sache zurück,
+versicherte mich aber, er habe bestimmt gehört, daß wir hier in
+Frankfurt -- einer freien deutschen Stadt -- unser Ziel leicht erreichen
+könnten. Ich folgte ihm auch hierher -- immer noch als Braut -- nicht
+als Gattin« -- setzte sie mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu -- »und
+ich danke jetzt Gott, daß ich standhaft blieb und meinem guten Engel
+mehr folgte als jenem Teufel.«
+
+Es wäre unmöglich, die Gefühle zu schildern, die James Burtons Seele
+bei dieser einfachen und doch so ergreifenden Erzählung bestürmten;
+sein Herz schlug hörbar in der Brust, und fast seiner selbst unbewußt,
+ergriff er mit zitterndem Arm die Hand seiner Nachbarin, die sie ihm
+willenlos überließ.
+
+»Gott sei Dank,« flüsterte er endlich mit bewegter Stimme -- »so brauche
+ich mir auch länger keine Vorwürfe zu machen, denn unser Erscheinen hier
+war ja dann nur zu Ihrem Heil.«
+
+»=Ihnen= verdanke ich meine Rettung,« sagte da Jenny herzlich, und
+wie sie sich halb dabei zu ihm überbog, umfaßte er mit seinem Arm die
+bebende Gestalt des Mädchens. Aber nicht einmal auf ihre Stirn wagte er
+einen Kuß zu drücken, aus Furcht sie zu beleidigen, und sich gewaltsam
+aufrichtend, rief er leidenschaftlich bewegt aus:
+
+»Dann ist auch noch alles, alles gut. Trocknen Sie Ihre Thränen, mein
+liebes, liebes Fräulein -- die Versöhnung mit Ihren Eltern übernehme ich
+-- übernimmt mein Vater, Sie kehren zu ihnen zurück und die Erinnerung
+an das Vergangene soll eine fröhliche Zukunft Sie vergessen machen.«
+
+»Und auch Sie wollen nach England zurück?« frug rasch die junge Fremde.
+
+»Gewiß,« rief Burton -- »sobald ich nur Nachricht von Hamilton habe.
+Aber noch heute schreibe ich nach Haus -- wie heißen Ihre Eltern, mein
+bestes Fräulein -- was ist Ihr Vater? Halten Sie diese Fragen nicht für
+bloße Neugierde; es giebt keinen Menschen auf der Welt, der jetzt ein
+innigeres Interesse an Ihnen nähme, als ich selber.«
+
+»Mein Vater,« sagte Jenny leise, »ist Geistlicher, der Reverend
+Benthouse in Islington. Vielleicht ist Ihnen der Name bekannt. Er hat
+viel geschrieben.«
+
+»Das nicht,« sagte Hamilton erröthend, »denn ich muß leider zu meiner
+Schande bekennen, daß ich mich bis jetzt, und in jugendlichem Leichtsinn
+weniger mit einer religiösen Lectüre befaßt habe, als ich vielleicht
+gesollt -- aber erlauben Sie, daß ich mir den Namen notire -- und
+jetzt,« sagte er, als er sein Taschenbuch wieder einsteckte, »verlasse
+ich Sie. Wir dürfen den müßigen Leuten hier im Hotel Nichts zu reden
+geben -- schon Ihrer selbst wegen, aber Sie sollen von nun an auch nicht
+mehr allein sein. Ich werde augenblicklich ein Kammermädchen für Sie
+engagiren, die Ihnen zugleich Gesellschaft leisten kann. Junge
+Mädchen, der englischen Sprache mächtig, sind gewiß genug in Frankfurt
+aufzutreiben; der Wirth kann mir da jedenfalls Auskunft geben. Keine
+Widerrede, Miß,« setzte er lächelnd hinzu, als sie sich -- wie es schien
+mit dem Plan nicht ganz einverstanden zeigte -- »Sie stehen von nun
+an, bis ich Sie Ihren Eltern wieder zurückführen kann, unter =meinem=
+Schutz, und da müssen Sie sich schon eine kleine Tyrannei gefallen
+lassen.«
+
+»Aber wie kann ich Ihnen das, was Sie jetzt an mir thun, nur je im Leben
+wieder danken,« sagte das junge Mädchen gerührt -- »womit habe ich das
+alles verdient?«
+
+»Durch Ihr Unglück,« erwiederte Burton herzlich, indem er ihre Hand an
+seine Lippen hob, und wenige Minuten später fand er sich schon unten mit
+dem Wirth in eifrigem Gespräch, um eine passende und anständige Person
+herbeizuschaffen.
+
+Das ging auch in der That weit rascher, als er selber vermuthet hatte.
+Ganz unmittelbar in der Nähe des Hotels wohnte ein junges Mädchen, die
+schon einige Jahre in England zugebracht und -- wenn sie sich auch nicht
+auf längere Zeit binden konnte, doch gern erbötig war, die Stelle einer
+Gesellschafterin für kurze Zeit zu übernehmen. Mr. Burton führte
+sie selber der jungen Dame zu, und Elisa zeigte sich als ein so
+liebenswürdiges, einfaches Wesen, daß ein Zurückweisen derselben zur
+Unmöglichkeit wurde.
+
+
+VIII.
+
+Hamiltons Rückkehr.
+
+Den übrigen Theil des Tages verbrachte James Burton in einer
+unbeschreiblichen Unruhe, denn immer und immer war es ihm, als wenn
+er bei seiner jungen Schutzbefohlenen nachfragen müsse, ob ihr
+nichts fehle, ob sie nicht noch irgend einen Wunsch habe, den er
+ihr befriedigen könne, und ordentlich mit Gewalt mußte er sich davon
+zurückhalten, sie nicht weiter zu belästigen.
+
+Am allerliebsten hätte er auch in der Stadt eine Unmasse von Sachen für
+sie eingekauft, um sie zu zerstreuen oder ihr eine Freude zu machen.
+Aber das ging doch unmöglich an, denn das hätte jedenfalls ihr
+Zartgefühl verletzt -- er durfte es nicht wagen. Eine ordentliche
+Beruhigung gewährte es ihm aber, zu wissen, daß das arme verlassene
+Wesen jetzt jemand habe, gegen den es sich aussprechen konnte, und
+er begnügte sich an dem Tage nur einfach damit, die Hälfte der Zeit
+vollkommen nutzlose Fensterpromenade zu machen, denn es ließ sich dort
+niemand blicken, und die andere Hälfte unten im Haus und auf der Treppe
+auf und ab zu laufen, um wenigstens ihre Thür anzusehen.
+
+Wenn er es sich auch noch nicht gestehen wollte, so war er doch bis über
+die Ohren in seine reizende Landsmännin verliebt.
+
+Am nächsten Morgen war er allerdings zu früher Stunde wieder auf, aber
+erst um zwölf Uhr wagte er es, sich zu erkundigen, wie Miß Benthouse
+geschlafen hätte.
+
+Sie empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln, aber -- sie sah nicht
+so wohl aus wie gestern. Ihre Wangen waren bleicher, ihre Augen zeigten,
+wenn auch nur leicht schattirte Ringe -- sie schien auch zerstreut und
+unruhig und Burton, voller Zartgefühl, glaubte darin nur eine Andeutung
+zu finden, daß sie allein zu sein wünsche und empfahl sich bald wieder.
+Vorher aber frug sie ihn noch, ob er keine Nachricht von Mr. Hamilton
+erhalten habe, was er verneinen mußte.
+
+Jetzt aber, mit der Furcht, daß sie erkranken könne -- und nach all den
+letzten furchtbaren Aufregungen schien das wahrlich kein Wunder -- wich
+er fast gar nicht mehr von ihrer Schwelle, und der Portier selber, der
+eigentlich alles wissen soll, wußte nicht aus dem wunderlichen Fremden
+klug zu werden.
+
+Dieser ruhte auch nicht eher, bis er gegen Abend die neue
+Gesellschafterin einmal auf dem Gange traf, um sie nach dem Befinden der
+jungen Dame zu fragen.
+
+»Sie scheint ungemein aufgeregt,« lautete die Antwort derselben --
+»sie hat keinen Augenblick Ruhe, und wohl zehn Mal schon gesucht mich
+fortzuschicken, um allein zu sein. Sie ist jedenfalls recht leidend und
+ich werde eine unruhige Nacht mit ihr haben.«
+
+»Mein liebes Fräulein,« sagte Burton, dadurch nur noch viel mehr
+beunruhigt -- »ich bitte Sie recht dringend, sie nicht einen Augenblick
+außer Acht zu lassen. Stoßen Sie sich nicht an das geringe Salär, was
+Sie gefordert haben, es wird mir eine Freude sein, Ihnen jede Mühe nach
+meinen Kräften zu vergüten.«
+
+»Ich thue ja gern schon von selber, was in meinen Kräften steht,« sagte
+das junge Mädchen freundlich -- »die Dame wird gewiß mit mir zufrieden
+sein. Verlassen Sie sich auf mich -- ich werde treulich über sie
+wachen.«
+
+So verging der Abend und nur noch einmal schickte Miß Benthouse zu Mr.
+Burton hinüber, um zu hören, ob er noch keine Nachricht bekommen habe.
+Er mußte es wieder verneinen und wäre gern noch einmal zu ihr geeilt,
+aber Elisa sagte ihm, daß sich die junge Dame aufs Bett gelegt hätte, um
+besser ruhen zu können, und er durfte sie da nicht stören.
+
+Es war zwölf Uhr geworden, und er wollte sich eben zu Bett begeben,
+als es an seiner Thür pochte. Er öffnete rasch, denn er fürchtete eine
+Botschaft, daß sich Jennys Krankheitszustand verschlimmert hätte, aber
+es war nur der Diener des Telegraphenamtes, der ihm -- unter dem Namen,
+mit dem er sich in das Fremdenbuch eingetragen -- eine Depesche brachte.
+Sie mußte von Hamilton sein.
+
+Er hatte sich nicht geirrt. Sie enthielt die wenigen, aber freilich
+gewichtigen Worte, von Ems aus datirt:
+
+»Ich habe ihn -- morgen früh komme ich -- Hamilton.«
+
+»Gott sei Dank,« rief Burton jubelnd aus, »jetzt nehmen die Leiden
+dieses armen Mädchens bald ein Ende.«
+
+Am nächsten Morgen ließ er sich schon in aller Frühe erkundigen, wie
+Miss Benthouse geschlafen hätte -- sie schlief noch, und Elise kam
+selber heraus, um ihm das zu sagen. Gern hätte er sie auch jetzt die
+Nachricht wissen lassen, die er noch gestern Nacht durch den Telegraphen
+bekommen, aber er fürchtete, das durch eine Fremde zu thun -- er wollte
+es ihr lieber selbst sagen, wenn er sie um zwölf Uhr wieder besuchte.
+
+Um die Zeit bis dahin zu vertreiben, frühstückte er unten und las die
+Zeitungen.
+
+So war endlich die lang ersehnte Stunde herangerückt, und unzählige Mal
+hatte er schon nach der Uhr gesehen. Er war in sein Zimmer gegangen,
+um noch vorher Toilette zu machen und wollte eben hinuntergehen, als
+es stark an seine Thür pochte, und auf sein lautes »_Walk in_« -- diese
+sich öffnete und =Hamilton= auf der Schwelle stand.
+
+»_Well Sir_,« lachte dieser, »_how are you?_«
+
+»Mr. Hamilton,« rief Burton, fast ein wenig bestürzt über die so
+plötzliche Erscheinung des Mannes. »Schon wieder zurück? -- das ist
+fabelhaft schnell gegangen.«
+
+»So? beim Himmel! Sie machen gerade ein Gesicht, Sir, als ob es Ihnen zu
+schnell gegangen wäre,« lächelte Hamilton. »Aber ich habe wirklich Glück
+gehabt -- die Einzelheiten erzähle ich Ihnen jedoch später und nur für
+jetzt so viel, daß ich ihn in Ems beim Spiel erwischte und ihn dort auch
+fest und sicher sitzen habe. Mit Ausnahme von etwa zweitausend Pfund,
+die er verreist oder verspielt, oder zum Theil auch wohl hier seiner
+Donna zurückgelassen hat, fand sich noch alles Geld glücklich bei ihm,
+was jetzt unter Siegel bei den Gerichten deponirt ist -- Apropos -- die
+Dame haben Sie doch noch hier?«
+
+»Allerdings,« sagte Burton etwas verlegen, »aber Mr. Hamilton, mit der
+Dame --«
+
+»Machen wir natürlich keine Umstände,« unterbrach ihn Hamilton
+gleichgültig, »und schaffen sie einfach nach England zurück. Dort mögen
+die Gerichte dann das saubere Pärchen confrontiren. Mr. Burton, ich gebe
+Ihnen mein Wort, ich wäre meines Lebens nie wieder froh geworden, wenn
+ich diesen Hauptlump, diesen Kornik nicht erwischt hätte. Haben Sie denn
+indessen bei der Person hier etwas gefunden, und hat sie nicht auch etwa
+Lust gezeigt, durchzubrennen?«
+
+»Mein lieber Mr. Hamilton,« sagte Burton jetzt noch verlegener als
+vorher -- »ich habe -- während Sie abwesend waren, eine Entdeckung
+anderer Art gemacht, die als ziemlich sicher feststellt, daß die --
+junge Dame an der ganzen Sache vollkommen unschuldig ist.«
+
+»Sie befindet sich doch noch hier im Hotel und in Nr. 7?« frug Hamilton
+rasch und fast wie erschreckt.
+
+»Allerdings,« bestätigte Burton, »aber nicht als Gefangene. Miss Jenny
+Benthouse ist die Tochter eines englischen Geistlichen -- ihr Vater
+wohnt in Islington -- sie wurde von jenem Burschen unter seinem falschen
+Namen und unzähligen Lügen entführt, und ich -- werde sie jetzt ihren
+Eltern zurückgeben.«
+
+»So?« sagte Hamilton, der dem kurzen Bericht aufmerksam zugehört hatte,
+während es aber wie ein verstecktes Lächeln um seine Lippen zuckte --
+»aber bitte entschuldigen Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder
+bei Ihnen. Apropos, Sie haben so vollständige Toilette gemacht. Wollten
+Sie ausgehen?«
+
+»Nein -- auf keinen Fall eher wenigstens, als bis wir uns über diesen
+Punkt verständigt haben.«
+
+»Gut, dann bin ich gleich wieder da« -- und mit den Worten glitt er zur
+Thür hinaus und unten in den Thorweg, wo ein Paar Lohndiener standen.
+
+»Sind Sie beschäftigt?« redete er den einen an.
+
+»Ich stehe vollkommen zu Befehl.«
+
+»Schön -- dann haben Sie die Güte und bleiben Sie bis auf weiteres in
+der ersten Etage, wo Sie Nr. 7 und 6 scharf im Auge behalten. Sollte
+dort eine Dame =ausgehen= wollen -- Sie verstehen mich -- so rufen Sie
+mich, so rasch Sie möglicher Weise können, von Nr. 26 ab. Sie haben doch
+begriffen, was ich von Ihnen verlange?«
+
+»Vollkommen.«
+
+»Gut -- es soll Ihr Schade nicht sein -- der Portier unten braucht
+übrigens nichts davon zu wissen -- und indessen schicken Sie mir einmal
+einen Kellner mit einer Flasche Sherry und zwei Gläsern und einigen
+guten Cigarren auf Nr. 26.«
+
+Mit den Worten stieg er selber wieder die Treppe hinauf, horchte einen
+Augenblick an Nr. 7, wo er zu seinem Erstaunen Stimmen vernahm, und
+kehrte dann zu Mr. Burton zurück, der mit untergeschlagenen Armen, und
+offenbar sehr aufgeregt, in seinem Zimmer auf und ab ging.
+
+»Unsere junge Dame da unten scheint Besuch zu haben,« sagte er -- »ich
+hörte wenigstens eben Stimmen in ihrem Zimmer.«
+
+»Bitte, setzen Sie sich, Mr. Hamilton,« bat ihn James Burton, »wir
+müssen über diese Sache, die das höchste Zartgefühl erfordert, erst ins
+Klare kommen, nachher ist alles andere, was wir zu thun haben,
+Kleinigkeit.«
+
+»Sehr gut,« sagte Hamilton -- »ah, da kommt auch schon der Wein. Bitte,
+setzen Sie nur dorthin. Mr. Burton, Sie müssen mich entschuldigen, aber
+ich habe unterwegs solch nichtswürdiges Zeug von Cigarren bekommen, daß
+ich eine ordentliche Sehnsucht nach einem guten Blatt fühle -- nehmen
+Sie nicht auch eine? -- und ein Glas Wein thut mir ebenfalls Noth, denn
+ich habe die ganze Nacht keine drei Stunden geschlafen und überhaupt
+eine abscheuliche Tour gehabt.«
+
+»Und wie erwischten Sie diesen Kornik?«
+
+»Das alles nachher -- jetzt bitte erzählen Sie mir einmal vor allen
+Dingen, welche wichtige Entdeckung Sie hier indeß gemacht haben,« und
+mit den Worten setzte er sich bequem in einem der Fauteuils zurecht,
+zündete seine Cigarre an und sippte an seinem Wein.
+
+Mr. Burton nahm ebenfalls eine Cigarre und es war fast, als ob er nicht
+recht wisse, wie er eigentlich beginnen solle. Aber der Beamte =mußte=
+alles erfahren, er =durfte= ihm nichts verschweigen, schon Jennys
+wegen, und nach einigem Zögern erzählte er jetzt dem Agenten die ganzen
+Umstände seines Zusammentreffens mit der jungen Dame, und gerieth
+zuletzt dabei so in Feuer, daß er selbst die kleinsten Umstände mit
+einer Lebendigkeit und Wahrheit wiedergab, die er sich selber gar nicht
+zugetraut hätte.
+
+Hamilton unterbrach ihn mit keinem Wort. Nur den Namen von Jennys Vater
+ließ er sich genau angeben und notirte ihn, und während James
+Burton weiter sprach, nahm er Dinte und Feder, schrieb etwas in sein
+Taschenbuch und riß das Blatt dann heraus. Auf demselben stand nichts
+weiter als eine telegraphische Depesche, die also lautete:
+
+Burton und Burton, London. Existirt in Islington Reverend Benthouse --
+religiöser Schriftsteller -- ist ihm kürzlich eine Tochter entführt --
+Antwort gleich. Hamilton.
+
+Mr. Burton dann um Entschuldigung bittend, daß er ihn einen Augenblick
+unterbreche, stand er auf und verließ das Zimmer. Am Treppengeländer
+rief er den Lohndiener an.
+
+»Geben Sie diese Depesche an den Portier zur augenblicklichen Besorgung
+auf das Telegraphenamt. Hier ist der Betrag dafür und das für den Boten.
+Nichts bemerkt bis jetzt?«
+
+»Nicht das Geringste.«
+
+»Gut -- =Sie= bleiben auf Ihrem Posten.«
+
+Als er in das Zimmer zu Mr. Burton zurückgekommen war, nahm er seinen
+alten Platz wieder ein und ließ seinen Gefährten ruhig auserzählen,
+ohne ihn auch nur mit einem Wort darin zu stören. Erst als er vollkommen
+geendet hatte und der junge Mann ihn mit sichtlicher Erregung ansah, um
+sein Urtheil über die Sache zu hören, sagte er ruhig:
+
+»Und wissen Sie nun, _my dear Sir_, welches der gescheuteste Streich
+war, den Sie in der ganzen Zeit meiner Abwesenheit gemacht haben?«
+
+»Nun?« frug Burton gespannt.
+
+»Daß Sie der jungen Dame eine Gesellschafterin gegeben haben.«
+
+»Ich durfte sie nicht so lange allein und ohne weibliche Begleitung
+lassen,« rief Burton rasch.
+
+»Nein,« sagte Hamilton, und ein eigenes spöttisches Lächeln zuckte
+um seine Lippen -- »sie wäre Ihnen sonst schon am ersten Tage
+durchgebrannt, gerade wie ihr Begleiter mir.«
+
+»Mr. Hamilton --«
+
+»Mr. Burton,« sagte Hamilton ernst, »zürnen Sie mir nicht, wenn ich vom
+Leben andere Anschauungen habe als Sie, glauben Sie einem Manne, der
+in diesen Fach mehr Erfahrungen gesammelt hat, als Sie vielleicht für
+möglich halten. Danken Sie aber auch Gott, daß ich gerade Ihnen
+jetzt zur Seite stehe, denn Sie wären sonst von einer erzkoketten und
+durchtriebenen Schwindlerin überlistet worden und hätten nachher, außer
+dem Schaden, auch für den Spott nicht zu sorgen gebraucht.«
+
+»Mr. Hamilton,« sagte Burton gereizt, »Sie mißbrauchen Ihre Stellung
+gegen mich, wenn Sie unehrbietig von einer Dame sprechen, die
+gegenwärtig unter =meinem= Schutze steht.«
+
+»Mein lieber Mr. Burton,« sagte Hamilton vollkommen ruhig -- »lassen Sie
+uns vor allen Dingen die Sache kaltblütig besprechen, denn die Polizei
+darf, wie Sie mir zugestehen werden, keine Gefühlspolitik treiben.«
+
+»Die Polizei ist gewohnt,« sagte Burton, »in jedem Menschen einen
+Verbrecher zu suchen.«
+
+»Bis er uns nicht wenigstens das Gegentheil beweisen kann,« lächelte
+Hamilton -- »aber jetzt lassen Sie mich auch einmal reden, denn Sie
+werden mir zugeben, daß ich =Ihrem= Bericht ebenfalls mit der größten
+Aufmerksamkeit gefolgt bin.«
+
+»So reden Sie, aber hoffen Sie nicht --«
+
+»Bitte verschwören Sie nichts, bis Sie mich nicht gehört haben.« Und
+ohne seines Begleiters Unmuth auch nur im Geringsten zu beachten,
+erzählte er ihm jetzt seine Verfolgung des flüchtigen Verbrechers,
+sein Auffinden desselben und dessen Gefangennahme. Er setzte hinzu,
+daß Kornik, nachdem man die bedeutende Summe von Banknoten und andere
+hinreichende Beweise für seine Schuld bei ihm gefunden, völlig gebrochen
+gewesen war und alles gestanden hatte. Ebenso sagte er aus, daß er mit
+einer jungen Dame, Lucy Fallow, von London geflüchtet sei, obgleich er
+von dem Raub des Brillantschmucks nichts wissen wollte.
+
+»Und legen Sie den geringsten Werth auf das Zeugniß eines solchen
+Schurken?« frug Burton heftig.
+
+»Was die Aussage über den Brillantschmuck betrifft, nein,« erwiederte
+ruhig der Polizeimann, »denn ich bin fest davon überzeugt, =daß= er
+darum gewußt hat, und erwartete sogar, denselben bei ihm zu finden. Er
+fand sich aber auch nicht einmal in der Reisetasche, die der Herr, wie
+sich später auswies, beim Portier des Kurhauses deponirt hatte. Die Dame
+hat ihn also noch jedenfalls in Besitz.«
+
+»Aber ich habe Ihnen ja schon dreimal gesagt, daß ich nicht allein
+=ihren= Koffer, sondern auch den dieses Kornik bis auf den Boden
+durchwühlt habe und nicht das geringste Schmuckähnliche hat sich
+gefunden, als eine Korallenschnur mit einem kleinen Kreuz daran -- ein
+Andenken ihrer verstorbenen Mutter.«
+
+Hamilton pfiff leise und ganz wie in Gedanken durch die Zähne.
+
+»Mein bester Mr. Burton,« sagte er dann, »auf Ihr Durchsuchen der
+Koffer, in Gegenwart jener Sirene, gebe ich auch keinen rothen
+Pfifferling -- ich werde das Ding selber besorgen.«
+
+»Und ich erkläre ihnen, Mr. Hamilton,« sagte Burton mit finster
+zusammengezogenen Brauen, »daß Sie das =nicht= thun werden. Sie haben
+Ihren Auftrag erfüllt; der Verbrecher ist geständig in Ihren Händen, und
+meine Gegenwart dabei nicht länger nöthig, so werde ich denn, noch heut
+Nachmittag, in Begleitung der jungen Dame, die Rückreise nach England
+antreten.«
+
+»Mit der Vollmacht für ihre Verhaftung in der Tasche,« lächelte
+Hamilton.
+
+»Diese Vollmachten,« rief Burton leidenschaftlich, indem er die beiden
+Papiere aus der Tasche nahm, in Stücke riß, und vor Hamilton niederwarf,
+»sind auf eine =Verbrecherin= ausgestellt, nicht auf Miss Benthouse. Da
+haben Sie die Fetzen und jetzt stehe ich frei und unabhängig hier und
+will sehen, wer es wagen wird die junge Dame zu beleidigen.«
+
+Hamilton erwiederte kein Wort. Schweigend erhob er sich, las die auf
+den Boden geworfenen Stücke auf, legte sie in ein Packet zusammen und
+steckte sie in seine Tasche.
+
+»Ist das Ihr letztes Wort, Mr. Burton?« sagte er endlich, indem er vor
+dem jungen Manne stehen blieb -- »wollen Sie sich nicht erst einmal
+die Sache eine =Nacht= ruhig überlegen? Bedenken Sie, in welche höchst
+fatale Lage Sie nur Ihrem Vater gegenüber kämen, -- von Lady Clive
+und den englischen Gerichten gar nicht zu reden -- wenn es sich später
+=doch= herausstellen sollte, daß Sie sich geirrt haben.«
+
+»Es ist mein letztes Wort,« sagte der junge Mann bestimmt; »denn ich muß
+meine Schutzbefohlene diesem schmähligen Verdacht entziehen, der auf ihr
+lastet. Um 4 Uhr 20 geht der Schnellzug nach Köln ab; diesen werde
+ich benutzen, und es versteht sich von selbst, daß ich auch jede
+Verantwortung für diesen Schritt einzig und allein trage.«
+
+Hamilton war aufgestanden und ging mit raschen Schritten in dem kleinen
+Gemach auf und ab. Endlich sagte er ruhig:
+
+»Sie wissen doch, Mr. Burton, welchen =Doppel=auftrag =ich= von London
+mit bekommen habe und wie ich, wenn ich danach handle, nur meine Pflicht
+thue.«
+
+»Das weiß ich, Mr. Hamilton,« sagte Burton, durch den viel milderen Ton
+des Polizeimannes auch rasch wieder versöhnend gestimmt, »und ich gebe
+Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen deshalb keinen Groll nachtragen werde.
+Aber auch mir müssen Sie dafür zugestehen, daß ich -- wo mir keine
+Pflicht weiter obliegt -- mein Herz sprechen lasse.«
+
+»Es ist ein ganz verzweifeltes Ding, wenn das Herz mit dem Verstande
+durchgeht« -- sagte Hamilton trocken.
+
+»Haben Sie keine Furcht, daß das bei mir geschieht.«
+
+»So erfüllen Sie mir wenigstens die Bitte,« wandte sich Hamilton noch
+einmal an den jungen Mann, »den ersten Schnellzug nicht zu benutzen und
+den Abend abzuwarten. Ich habe vorhin nach London telegraphirt -- warten
+Sie erst die Antwort ab, Mr. Burton; es ist auch Ihres eigenen Selbst
+wegen, daß ich Sie darum ersuche.«
+
+»Ich bin alt genug, Mr. Hamilton,« lächelte James Burton, »auf mein
+eigenes Selbst vollkommen gut Acht zu geben. Es thut mir leid, Ihren
+Wunsch nicht erfüllen zu können, denn mir brennt der Boden hier unter
+den Füßen. Um 4 Uhr 20 fahre ich und werde dann daheim meinem Vater
+Bericht abstatten, mit welchem Eifer und günstigem Erfolg Sie hier
+unsere Sache betrieben haben. In London hoffe ich Sie jedenfalls
+wiederzusehen.«
+
+Es lag eine so kalte, abweisende Höflichkeit in dem Ton, daß Hamilton
+die Meinung der Worte nicht falsch verstehen konnte: Mr. Burton wünschte
+allein zu sein und Hamilton sagte, ihn freundlich grüßend:
+
+»Also auf Wiedersehen, Mr. Burton,« und verließ dann, ohne ein Wort
+weiter, das Zimmer.
+
+
+IX.
+
+Die Catastrophe.
+
+James Burton sah nach seiner Uhr -- es war schon fast zwei geworden,
+ohne daß er Jenny gesehen -- was mußte sie von ihm denken? Aber jetzt
+konnte er ihr auch gute Nachricht bringen, und ohne einen Moment länger
+zu säumen, griff er nach seinem Hut und eilte hinab.
+
+Auf dem Gang wanderte ein Lohndiener hin und her, der stehen blieb,
+als er auf die Thür zuging. Er hielt aber einen Moment davor, ehe er
+anklopfte, denn er hörte eine ziemlich heftige Stimme, die in Aerger zu
+sein schien. War das Jenny? -- hatte vielleicht Hamilton gewagt? -- er
+klopfte rasch an. Es war jetzt plötzlich alles ruhig da drinnen. Da ging
+die Thür auf und Elise schaute heraus, um erst zu sehen wer klopfe. Sie
+öffnete, als sie den jungen Mann erkannte.
+
+Jenny stand an ihrem Koffer, emsig mit Packen beschäftigt, als er
+das Zimmer betrat, und erröthete leicht, aber sie begrüßte ihn desto
+freundlicher und gab auch über ihr Befinden hinlänglich befriedigende
+Antwort.
+
+Elise zog sich in die Nebenstube zurück und Jenny frug jetzt, mit ihrem
+alten, gewinnenden Lächeln:
+
+»Und so lange haben Sie mich auf Ihren Besuch warten lassen? Ich wußte
+vor langer Weile gar nicht, was =ich= angeben sollte und habe deshalb
+meine Sachen wieder zusammengepackt.«
+
+»Aber nicht meine eigene Unachtsamkeit hielt mich von Ihnen entfernt,
+Miss Jenny,« sagte Burton herzlich, »sondern eine wichtige Verhandlung,
+die ich mit unserem Agenten hatte. Mr. Hamilton ist zurückgekehrt.«
+
+»In der That?« sagte die junge Dame, aber jeder Blutstropfen wich dabei
+aus ihrem Gesicht, und so vielen Zwang sie sich anthat, mußte sie doch
+die Stuhllehne ergreifen, um nicht umzusinken.
+
+»Aber weshalb erschreckt Sie das?« sagte Burton erstaunt. »Die
+Erinnerung an jenen Elenden, den jetzt seine gerechte Strafe ereilen
+wird, mag Ihnen peinlich sein, aber sie darf nie wieder als Schreckbild
+vor Ihre Seele treten.«
+
+»Und er hat ihn gefunden?« sagte Jenny, sich gewaltsam sammelnd -- »oh,
+wenn ich nur das Schreckliche vergessen könnte?«
+
+»Er hat ihn nicht nur gefunden,« bestätigte der junge Mann, »sondern der
+Unglückliche hat auch sein ganzes Verbrechen eingestanden. Was half
+ihm auch Leugnen seiner Schuld, wo man die Beweise derselben in seinem
+Besitz fand?«
+
+»Und jetzt?«
+
+»Lassen wir den Elenden,« sagte Burton freundlich, »Mr. Hamilton,
+der mit allen nöthigen Papieren dazu versehen ist, wird seine
+Weiterbeförderung nach England übernehmen. Ich selbst reise heute
+Nachmittag mit dem Schnellzug nach London ab, und da Sie Ihren Koffer
+schon gepackt haben,« setzte er lächelnd hinzu -- »so biete ich Ihnen,
+mein werthes Fräulein, an, in meiner Begleitung und unter meinem Schutz
+nach England zurückzukehren.«
+
+»Sie wollten --«
+
+»Sie dürfen sich mir wie einem Bruder anvertrauen,« sagte James Burton
+herzlich, »und ich bürge Ihnen dafür, daß ich durchführe, was ich
+unternommen -- trotz allen Hamiltons der Welt,« setzte er mit leisem
+Trotz hinzu.
+
+»So wiedersetzte sich der Herr dem, daß ich Sie begleiten dürfe?« fragte
+rasch und mißtrauisch die Fremde.
+
+»Lassen wir das,« lächelte aber Burton, »ich bin mein eigener Herr und
+in =meiner= Begleitung steht Niemandem ein Recht zu, Sie auch nur nach
+Paß oder Namen zu fragen. Und Sie gehen mit?«
+
+»Wie könnte und dürfte ich einer solchen Großmuth entgegenstreben?«
+sagte das junge Mädchen demüthig -- »ich vertraue Ihnen ganz.«
+
+»Herzlichen, herzlichen Dank dafür,« rief Burton bewegt, »und Sie sollen
+es nicht bereuen. Jetzt aber lasse ich Sie allein, um noch alles Nöthige
+zu ordnen, denn ich muß selbst noch packen und die Wirthsrechnung, wie
+Ihrer Gesellschafterin Honorar, in Ordnung bringen. Sie müssen mir auch
+schon gestatten, für die kurze Zeit unserer Reise Ihren Cassirer zu
+spielen. Beruhigen Sie sich,« setzte er lächelnd hinzu, als er ihre
+Verlegenheit bemerkte -- »ich gleiche das später schon alles mit Ihrem
+Herrn Vater wieder aus, und werde Sorge tragen, daß ich nicht zu Schaden
+komme. Also auf Wiedersehen, Miss -- aber beeilen Sie sich ein wenig,
+denn wir haben kaum noch anderthalb Stunden Zeit bis zu Abgang des
+Zuges,« und ihre Hand leicht an seine Lippen hebend, verließ er rasch
+das Zimmer.
+
+Sobald er unten mit dem Wirth abgerechnet und seine Sachen gepackt
+hatte, wollte er noch einmal Hamilton aufsuchen, um von diesem Abschied
+zu nehmen. Es that ihm fast leid, ihn so rauh behandelt zu haben. Der
+Polizeiagent war aber, gleich nachdem er ihn verlassen, ausgegangen und
+noch nicht zurückgekehrt.
+
+Eigentlich war ihm das lieb, denn er fühlte sich ihm gegenüber nicht
+recht behaglich; zu reden hatte er überdies weiter nichts mit ihm, und
+was Kornik betraf, so besaß er ja selber alle die nöthigen Instruktionen
+und Vollmachten. Er hatte ja nur die Reise nach dem Continent
+mitgemacht, um die Identität seiner Person zu bestätigen -- jetzt, mit
+all den vorliegenden Beweisen und dem eigenen Geständniß des Verbrechens
+war seine Anwesenheit unnöthig geworden.
+
+Die Zeit bis halb vier Uhr verging ihm auch mit den nöthigen
+Vorrichtungen rasch genug -- jetzt war alles abgemacht und in Ordnung,
+und ebenso fand er Jenny schon in ihrem Reisekleid, aber in merkwürdig
+erregter Stimmung. Sie sah bleich und angegriffen aus, und drehte sich
+rasch und fast erschreckt um, als er die Thür öffnete.
+
+»Sind Sie fertig?«
+
+»Und gehen wir wirklich?«
+
+»Zweifeln Sie daran? Es ist alles bereit, und bis wir am Bahnhof
+sind und unser Gepäck aufgegeben haben, wird die Zeit auch ziemlich
+verflossen sein -- Miss Elise,« wandte er sich dann an das junge
+Mädchen, indem er ihr ein kleines Packet überreichte -- »Ihre
+Anwesenheit ist auf kürzere Zeit in Anspruch genommen, als ich selbst
+vermuthete, so bitte ich denn, dieses für Ihre Mühe als Erinnerung
+an uns zu betrachten. Und nun,« fuhr Burton fort, als sich das junge
+Mädchen dankend und erröthend verbeugte -- indem er die Klingelschnur
+zog -- »mag der Hausknecht Ihr Gepäck hinunterschaffen. Eine Droschke
+wartet schon auf uns, und ich will selber recht von Herzen froh sein,
+wenn wir erst unterwegs sind.«
+
+Draußen wurden Schritte laut -- es klopfte an.
+
+»Herein!« rief Burton -- die Thür öffnete sich und auf der Schwelle,
+seinen Hut auf dem Kopf, stand -- Hamilton und warf einen ruhigen,
+forschenden Blick über die Gruppe.
+
+Er sah den Ausdruck der Ueberraschung in Burtons Zügen, aber sein Auge
+haftete jetzt fest auf der jungen Dame an seiner Seite, deren Antlitz
+eine Aschfarbe überzog.
+
+»Sie entschuldigen, meine Herrschaften,« sagte der Polizist mit eisiger
+Kälte, »wenn ich hier vielleicht ungerufen oder ungewünscht erscheinen
+sollte, aber meine Pflicht schreibt es mir so vor. Mein Herr -- Sie sind
+mein Gefangener, im Namen der Königin!«
+
+»=Ihr= Gefangener?« lachte Burton trotzig auf, aber Hamilton trat zur
+Seite und drei Polizeidiener standen hinter ihm, während er auf Burton
+zeigend, zu diesen gewandt, fortfuhr:
+
+»Den Herrn da verhaften Sie und führen ihn auf sein Zimmer oder bewachen
+ihn hier, bis Ihr Commissär kommt. Er wird sich nicht wiedersetzen,
+denn er weiß, daß er der Gewalt weichen muß -- im schlimmsten Fall aber
+brauchen =Sie= Gewalt, und jene Dame dort --«
+
+Die junge Fremde hatte mit starrem Entsetzen den Eintritt des nur zu
+rasch wiedererkannten Reisegefährten bemerkt, und im ersten Moment
+war es wirklich, als ob der Schreck sie gelähmt und zu jeder Bewegung
+unfähig gemacht hätte. Wie aber des Furchtbaren Blicke auf sie fielen,
+schien es auch, als ob sie erst dadurch wieder Leben gewönne, und ehe
+sie Jemand daran verhindern konnte, glitt sie in das Nebenzimmer, neben
+dessen Thür sie stand, warf diese zu und schob den Riegel vor.
+
+»Einer von Ihnen auf Posten draußen, daß sie uns nicht entwischt,« rief
+Hamilton rasch, indem er nach der Thür sprang, aber sie schon nicht mehr
+öffnen konnte -- »und alarmiren Sie die Leute unten, daß sie vor den
+Fenstern von Nr. 6 Wache halten.«
+
+»Mr. Hamilton, Sie werden mir für dieses Betragen Rede stehen!« rief
+Burton außer sich »-- =wer= giebt Ihnen ein Recht, mich zu verhaften?«
+
+»Mein bester Herr«, rief Hamilton, indem er vergebens versuchte, die
+Thür aufzudrücken -- »von einem =Recht= ist hier vorläufig gar keine
+Rede. Sie weichen nur der Gewalt. Alles andere machen wir später ab.«
+
+»Aber ich dulde nicht --« rief Burton und wollte sich zwischen ihn und
+die Thüre werfen, um die Geliebte zu schützen.
+
+»Halt, mein Herzchen!« riefen aber die Polizeidiener, ein Paar
+baumstarke Burschen, indem sie ihn mit ihren Fäusten packten -- »nicht
+von der Stelle, oder es setzt was.«
+
+»Um Gottes Willen«, rief Elise, zum Tod erschreckt, »was geht hier vor?«
+
+»Mein liebes Fräulein,« sagte Hamilton, sich an sie wendend in deutscher
+Sprache -- »beunruhigen Sie sich nicht -- gar nichts was =Sie= betreffen
+könnte. Gehen Sie ruhig nach Hause, Sie haben nicht die geringste
+Belästigung zu fürchten. Soviel kann ich Ihnen aber sagen, daß jene
+Dame =keine= Begleitung weiter nach England braucht, da ich das selber
+übernehmen werde. -- Ah, da ist der Herr Commissär -- Sie kommen wie
+gerufen, verehrter Herr -- das hier,« fuhr er fort, indem er auf James
+Burton zeigte -- »ist jener Kornik, von dem ich Ihnen sagte, und seine
+Dulcinea hat sich eben in dies Zimmer geflüchtet, von wo aus sie uns
+aber ebenfalls nicht mehr entwischen kann.«
+
+»Kornik? -- ich?« rief Burton, indem er sich wie rasend unter dem Griff
+der Polizeidiener wand -- »Schuft Du -- ich selber bin hergekommen,
+jenen Kornik zu verhaften.«
+
+»Und wo haben Sie die Beweise?« sagte Hamilton ruhig in englischer
+Sprache.
+
+»In Deiner eigenen Tasche sind sie,« schrie Burton wie außer sich --
+»das Papier, das ich Dir vor die Füße warf.«
+
+Hamilton achtete gar nicht auf ihn.
+
+»Herr Commissär,« sagte er, sich an den Polizeibeamten wendend -- »jener
+Herr da, dem ich von England aus nachgesetzt bin, hat sich schon unter
+fremdem Namen in das hiesige Gasthofsbuch geschrieben. Sie haben meine
+Instruktionen und Vollmachten gelesen. Sie werden Sorge dafür
+tragen, daß er uns nicht entwischt, während ich jetzt die =Dame=
+herbeizuschaffen suche.« Und ohne weiter ein Wort zu verlieren nahm er
+den dicht neben ihm stehenden kleinen Koffer und stieß ihn mit solcher
+Kraft und Gewalt gegen die Füllung der Thür, daß diese vor dem schweren
+Stoß zusammenbrach. Im nächsten Moment griff er durch die gemachte
+Oeffnung hindurch und schloß die Thür von innen auf.
+
+Wie es schien, hatte aber die junge Fremde gar keinen Versuch zur Flucht
+gemacht. Sie stand, ihre Mantille fest um sich her geschlungen, mitten
+in der Stube, und den Verhaßten mit finsterem Trotz messend, sagte sie:
+
+»Betragen Sie sich wie ein Gentleman, daß Sie zu einer Lady auf solche
+Art ins Zimmer brechen?«
+
+»Miss«, erwiederte der Polizeibeamte kalt, »ich bin noch nicht fest
+überzeugt, ob ich es hier wirklich mit einer =Lady= zu thun habe. Vor
+der Hand sind Sie meine Gefangene. Im Namen der Königin, Miss Lucy
+Fallow, verhafte ich Sie hier auf Anklage eines Juwelendiebstahls.«
+
+»Und welche Beweise haben Sie für eine so freche Lüge?« rief das junge
+Mädchen verächtlich.
+
+»Danach suchen wir eben«, lachte Hamilton, jetzt, da ihm der Ueberfall
+gelungen war, wieder ganz in seinem Element -- »Herr Commissär, haben
+Sie die Güte gehabt, die Frauen mitzubringen?«
+
+»Sie stehen draußen.«
+
+»Bitte, rufen Sie die beiden herein -- ich wünsche die Gefangene
+=genau= durchsucht zu haben, ob sie den bewußten Schmuck an ihrem Körper
+vielleicht verborgen hat. Wir beide werden indeß die Koffer revidiren.«
+
+Eine handfeste Frau -- die Gattin eines der Polizeidiener, trat jetzt
+ein, von einem anderen jungen Mädchen, wahrscheinlich ihrer Tochter,
+gefolgt, beide aber von einer Statur, die für einen solchen Zweck nichts
+zu wünschen übrig ließ, und Hamilton betrat jetzt wieder das Zimmer,
+in dem Burton dem englisch sprechenden Commissär seine eigene Stellung
+erklärte und ihn dringend aufforderte, nicht zu dulden, daß =zwei=
+unschuldige Menschen in so niederträchtiger Weise behandelt würden.
+Seine Erklärung aber, die er dabei gab, daß er seine Vollmacht selber
+zerrissen habe, der falsche Namen, unter dem er selber zugestand sich
+in das Fremdenbuch eingetragen zu haben, und die Thatsache, die er nicht
+läugnen konnte oder wollte, daß Hamilton wirklich ein hochgestellter
+Polizeibeamter in England sei, sprachen zu sehr gegen ihn. Der Commissär
+zuckte die Achseln, bedauerte, nur nach den Instruktionen handeln zu
+können, die er von oben empfinge, und ersuchte Mr. Burton dann in seinem
+eigenen Interesse, sich seinen Anordnungen geduldig zu fügen, da sonst
+für ihn daraus die größten Unannehmlichkeiten entstehen könnten.
+
+Er wollte ihn jetzt auch auf sein eigenes Zimmer führen lassen, als
+Hamilton zurückkehrte und den Commissar ersuchte, dem Herrn zu erlauben,
+hier zu bleiben. Er wünsche, daß er Zeuge der Verhandlung sei.
+
+Ohne weiteres ging er jetzt daran, den Koffer der Dame auf das genaueste
+zu revidiren; obgleich sich aber, in einem geheimen Gefach darin, eine
+Menge der verschiedensten Schmuck- und Werthsachen vorfanden, waren die
+gesuchten Brillanten doch nicht dabei. Auch in Korniks Koffer ließ sich
+keine Spur davon entdecken. Fortgebracht konnte sie dieselben aber nicht
+haben, da sie ja gerade, im Begriff abzureisen, überrascht war, also
+gewiß auch alles werthvolle Besitzthum bei sich trug. Außerdem wußte
+Hamilton genau, daß sie -- wenigstens seitdem er zurückgekehrt war --
+kein Packet auf die Post gegeben hatte, also trug sie es wahrscheinlich
+am Körper versteckt.
+
+Aber auch diese Vermuthung erwies sich als falsch. Die Frau kehrte,
+während der Gefangenen unter Aufsicht des jungen Mädchens gestattet
+wurde, wieder ihre Toilette zu machen, in das Zimmer zurück, und brachte
+nur ein kleines weiches Päckchen mit, das sie bei ihr verborgen gefunden
+hatten. Sie überreichte es dem Commissär, der es öffnete und englische
+Banknoten zum Werth von etwa achthundert Pfund darin fand. Vier Noten
+von 100 Pfund Sterling waren darunter.
+
+»Da bekommen wir Licht,« rief aber Hamilton rasch, als er sie erblickte
+-- »von den Hundert Pfund-Noten habe ich die Nummern, und die wollen
+wir nachher einmal vergleichen. Vorher aber werden wir das Zimmer
+untersuchen müssen, in daß sich Madame geflüchtet hat. Möglich doch, daß
+sie die Zeit benutzte, in der sie dort eingeschlossen war, um ein oder
+das andere in Sicherheit zu bringen.«
+
+»Ich habe alles genau nachgesehen,« sagte die Frau des Polizeidieners
+kopfschüttelnd -- »in alle Polster hineingefühlt und die Gardinen
+ausgeschüttelt, selbst in den Ofen gefühlt und den Teppich genau
+nachgesehen. Es steckt nirgends was.«
+
+»Kann ich eintreten?« rief Hamilton an die Thür klopfend, denn er war
+nicht gewohnt sich auf die Aussagen Anderer zu verlassen. Das junge
+Mädchen, das zur Wache dort geblieben war, öffnete. Die junge Fremde
+stand fertig angezogen, aber todtenbleich, wieder mitten im Zimmer
+und ihre Augen funkelten dem Polizeibeamten in Zorn und Haß entgegen.
+Hamilton war aber nicht der Mann, davon besondere Notiz zu nehmen. Das
+erste, was er that, war, die Jalousieen aufzustoßen, um hinreichend
+Licht zu bekommen, dann untersuchte er Tapeten und Bilder -- auch hinter
+den Spiegel sah er, rückte sich den Tisch zu den Fenstern und stieg
+hinauf, um oben auf die Gardinen zu fühlen. Er fand nichts, aber
+er ruhte auch nicht -- der Teppich zeigte nicht die geringsten
+Unebenheiten. -- Er rückte das Sopha ab und fühlte daran hin -- aber es
+ließ sich kein harter Gegenstand bemerken.
+
+Wie seine Hand an der mit grobem Kattun bezogenen Hinterwand des Sophas
+hinfuhr, gerieth sein Finger in eine nur wenig geöffnete Nath. Er zog
+das Sopha jetzt ganz zum Licht, die Rückseite dem Fenster zugewandt,
+nahm sein Messer heraus und trennte ohne Weiteres die Nath bis hinunter
+auf. Während er mit dem rechten Arm in die gemachte Oeffnung hineinfuhr,
+streifte sein Blick die Gestalt der Gefangenen, die augenblicklich
+gleichgiltig auszusehen suchte, aber es konnte ihm nicht entgehen, daß
+sie seinen Bewegungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgte.
+
+»Ah, Mylady,« rief er da plötzlich, indem seine Finger einen
+fremdartigen Gegenstand trafen -- »ob ich es mir nicht gedacht habe,
+daß Sie die Ihnen verstattete Zeit hier im Zimmer auf geschickte Weise
+benutzen würden. Sie sehen mir gerade danach aus, als ob Sie nicht zu
+den »Grünen« gehörten -- was haben wir denn da? -- eine reizende Kette
+und da hängt auch ein Ohrring darin -- da wird der andere ja wohl auch
+nicht weit sein -- es kann nichts helfen, der Tapezierer muß wieder
+gut machen, was ich jetzt hier verderbe« -- und er riß, ohne weitere
+Rücksicht auf den Schaden, den er anrichtete, Werg und Kuhhaare heraus,
+bis er den gesuchten Ohrring, der etwas weiter hinabgefallen war, fand.
+Auch eine Broche, aus einem einzigen großen Brillant bestehend, kam mit
+dem Werg zu Tag.
+
+»Leugnen Sie jetzt =noch=, Madame?« sagte Hamilton, indem er sich
+aufrichtete und der Verbrecherin das gefundene Geschmeide entgegenhielt.
+Aber die Gefragte würdigte ihn keines Blicks; schweigend und finster,
+wie er sie damals im Coupé gesehen, starrte sie vor sich nieder, und nur
+die rechte Hand hielt sie krampfhaft geballt, die Zähne fest und wild
+zusammengebissen und die Augen, die von solchem Liebesreiz strahlen
+konnten, sprühten Feuer.
+
+»Haben Sie etwas gefunden?« rief ihm der Commissär entgegen.
+
+»Alles was wir suchen,« erwiederte Hamilton ruhig -- »aber ist denn der
+Lohndiener noch nicht vom Telegraphenamt zurück?«
+
+»Eben gekommen. Er wartet im anderen Zimmer auf Sie.«
+
+»Gott sei Dank -- jetzt treffen alle Beweise zusammen,« rief Hamilton
+aus. »Ich ersuche Sie indeß, Herr Commissär, diese junge Dame in =sehr=
+gute Obhut zu nehmen, denn sie ist mit allen Hunden gehetzt.«
+
+»Haben Sie keine Angst -- wir werden das saubere Pärchen sicher
+verwahren.«
+
+»Den =Herrn= kann ich Ihnen vielleicht abnehmen,« lächelte der
+Polizeiagent, indem er in das benachbarte Zimmer trat und dort die für
+ihn eingetroffene Depesche in Empfang nahm. Er erbrach sie und las die
+Worte:
+
+»In Islington giebt es keinen Geistlichen Benthouse. -- In ganz London
+nicht.
+
+ Burton.
+
+Mr. Hamilton, Telegraphenbureau Frankfurt a. M.«
+
+Hamilton trat zum Tisch, auf den er den Schmuck und die telegraphische
+Depesche legte, dann nahm er aus seiner Tasche die Liste der gestohlenen
+Banknoten, die er mit den bei der jungen Dame gefundenen verglich und
+einige roth anstrich, dann fügte er diesen noch ein anderes Papier
+bei, die genaue Beschreibung des im Hause der Lady Clive gestohlenen
+Schmucks, und als er damit fertig war, sagte er freundlich zu Burton:
+
+»Dürfte ich Sie =jetzt= einmal bitten, Mr. Burton, sich diese kleine
+Bescheerung anzusehen? Es wird interessant für Sie sein. -- Lassen Sie
+den Gefangenen nur los, meine Herren.«
+
+»Sie werden sich nie Ihres nichtswürdigen Betragens wegen entschuldigen
+können,« sagte Burton finster, indem er aber doch der Aufforderung Folge
+leistete.
+
+»Auch dann nicht?« frug Hamilton, »wenn ich Sie überzeuge, daß Sie einer
+großen -- einer recht großen Gefahr entgangen sind?« frug Hamilton.
+
+»Einer Gefahr? -- wie so?«
+
+»Der Gefahr, das Schlimmste zu erleben, was ein anständiger Mann, außer
+dem Verlust seiner Ehre, erleben kann -- sich lächerlich zu machen.«
+
+»Mr. Hamilton --«
+
+»Bitte, lesen Sie hier die Depesche Ihres Herrn Vaters -- seine Antwort
+auf meine Anfrage von heute Morgen. -- So -- und hier haben Sie die
+Nummern der aufgefundenen Banknoten -- und hier endlich die genaue
+Beschreibung des Schmucks, von Lady Clives eigener, sehr zierlicher
+Hand. Zweifeln Sie =jetzt= noch daran, daß Sie es nicht mit einer Miss
+Jenny Benthouse, sondern mit der leichtfertigen Lucy Fallow zu thun
+hatten? -- Pst -- lieber Freund, die Sache ist abgemacht« -- sagte
+aber der Agent, als er sah, wie bestürzt der junge Burton diesen nicht
+wegzuläugnenden Beweisen gegenüber stand. -- »Nur noch einen Blick
+werfen Sie jetzt auf die junge Dame,« fuhr er dabei fort, während er
+zugleich die Thür aufstieß und nach der trotzig und wild dastehenden
+Gestalt des Mädchens zeigte. -- »Glauben Sie, das =jene= Dame Ihnen bis
+London gefolgt wäre, und nicht vorher Mittel und Wege gefunden hätte,
+Ihnen unterwegs zu entschlüpfen? Uebrigens habe ich schon von Ems aus,
+so wie ich Korniks Geständniß erhielt, nach London an Lady Clive
+telegraphirt und sie gebeten, mir Jemanden zur Recognoscirung des jungen
+Frauenzimmers herzusenden. Der kann schon, wenn sie ihn rasch befördert
+hat, morgen Mittag eintreffen, und dann, nachdem jeder Vorsicht Genüge
+geleistet und die äußerste Rücksicht genommen ist, um nicht eine
+Unschuldige zu belästigen, werden Sie mir doch zugeben, Mr. Burton, daß
+ich meine Pflicht erfüllt habe.«
+
+James Burton schwieg und sah ein Paar Secunden still vor sich nieder;
+aber sein besseres Gefühl gewann doch die Oberhand. Er sah ein, daß er
+sich von einer Betrügerin hatte täuschen lassen, und Hamilton die Hand
+reichend, sagte er herzlich:
+
+»Ich danke Ihnen, Sir -- ich werde Ihnen das nie vergessen.«
+
+»Ein desto schlechteres Gedächtniß werde =ich= dann für unser letztes
+kleines Intermezzo haben,« lachte der Polizeiagent, die dargebotene Hand
+derb schüttelnd, »und nun, mein lieber Mr. Burton, reisen Sie, wenn Sie
+=meinem= Rath folgen wollen, so rasch Sie mögen, nach England zurück.
+Für die beiden Schuldigen werde ich schon Sorge tragen, und in sehr
+kurzer Zeit denke ich Ihnen nachzufolgen.«
+
+Dem Commissär erklärte Hamilton bald den Zusammenhang der Verhaftung Mr.
+Burtons, den er dadurch nur hatte so lange aufhalten wollen, bis er die
+Beweise von der Schuld jener Person beischaffte -- das war geschehen und
+er selber brachte jetzt die an dem Morgen von Burton zerrissene und von
+ihm wieder sorgfältig zusammengeklebte Vollmacht zum Vorschein, die als
+beste Legitimation für ihn dienen konnte.
+
+Am nächsten Tag traf richtig ein Polizeibeamter, der Miss Lucy
+Fallow persönlich kannte, in Frankfurt ein, und Hamilton erhielt die
+Genugthuung, seinen ersten Verdacht völlig bestätigt zu finden. Gleich
+danach reiste James Burton allein ab, während Hamilton noch einige Tage
+brauchte, bis er die Uebersendung der Wertpapiere und Banknoten durch
+die Nassauische Regierung nach England reguliren konnte. Dann erst
+folgte er mit seinen Gefangenen nach England, von denen er aber nur das
+Mädchen hinüberbrachte.
+
+Kornik machte unterwegs einen verzweifelten Fluchtversuch und sprang,
+während der Zug im vollen Gange war, zwischen Lüttich und Namür aus dem
+Fenster des Waggons; aber er verletzte sich dabei so furchtbar, daß er
+starb, ehe man ihn auf die nächste Station transportiren konnte.
+
+
+
+
+Eine Heimkehr aus der weiten Welt.
+
+
+Was auch Andere dagegen sagen mögen; es ist schon der Mühe werth eine
+größere Reise zu unternehmen, nur um wieder zu kommen.
+
+Manche Freude, manches Glück blüht uns »armen Sterblichen« hier auf
+dieser schönen Welt, keine aber so voll und reich und herrlich, als die
+Freude des Wiedersehens nach langer Trennung -- keine so rein und selig,
+als die Rückkehr in das Vaterland. Soll ich dir deshalb, lieber Leser,
+erzählen wie mir zu Muthe war, als ich nach einer Abwesenheit von 39
+Monden von Weib und Kind, zurück in die Heimath kehrte? -- Ich will's
+versuchen.
+
+Ich kam damals -- im Juni 52 -- nach einer ununterbrochenen Seereise von
+129 Tagen direct von Batavia. Siebzehn von den 129 hatten wir uns allein
+bei faulem Wetter in Canal und Nordsee herumgetrieben -- 17 Tage auf
+einer Strecke, die wir recht gut hätten in =dreien= zurücklegen können.
+Und so dicht dabei an der heimischen Küste; es war eine verzweifelte
+Zeit; doch sie ging auch vorbei, und endlich, endlich rasselte der Anker
+in die Tiefe.
+
+Das ist ein wunderbar ergreifender Ton, den man nicht allein =hört=,
+sondern auch =fühlt=, denn das ganze Schiff rasselt und zittert mit, und
+wie die Eisenschaufel nur den Boden berührt und mit einem Ruck festhakt,
+fühlt man sich auch daheim.
+
+=Ich war daheim!= ob Bremen, ob Sachsen, ob Oestreich, solchen
+Unterschied kennt man nur innerhalb der verschiedenen Grenzpfähle: für
+uns Deutsche da draußen ist alles nur ein Deutschland, ein Vaterland,
+und wie die Matrosen nach oben liefen, die Segel festzumachen, und
+die Kette indessen, soweit das anging, eingezogen und um die Winde
+geschlagen wurde, hing mein Blick an dem grünen Ufer des Weserstrandes,
+an dem Mastenwald des nicht fernen Bremerhafens, und konnte sich nicht
+losreißen von dem lieben, lieben Bild.
+
+Aber nicht lange sollte mir Zeit zum Schauen bleiben. Der Lootse
+hatte uns schon gesagt, daß wir wahrscheinlich noch zeitig genug nach
+Bremerhafen kämen, um das Nachmittags-Dampfboot nach Bremen zu benutzen.
+Alle unsere Sachen waren gepackt. Jetzt dampfte das Boot aus dem Hafen
+heraus und legte bei -- jetzt kam ein kleines Boot vom Ufer ab, uns
+hinüber zu führen. Kisten und Koffer wurden Hals über Kopf hinunter
+gehoben, kaum blieb mir noch Zeit, den Seeleuten, mit denen ich so lange
+Monde als einziger Passagier verlebt, die Hand zu schütteln, und schon
+glitten wir über den stillen Strom, dem, unserer harrenden, Dampfer zu.
+
+An Bord fanden wir eine große Gesellschaft von Herren und Damen und hier
+zum ersten Mal dachte ich daran, daß ich ja in Bremerhafen, ehe ich
+die »Stadt« selber betrat, meine etwas sehr mitgenommene Toilette hatte
+erneuen wollen. Mein Schuhwerk besonders befand sich in höchst
+traurigen Umständen, und meine =besten= Schuh waren querüber vollständig
+aufgeplatzt. Aber das ging jetzt nicht mehr an -- wer kannte mich auch
+und wo behielt ich Zeit mich jetzt um =solche= Dinge zu bekümmern? --
+Den Strom hinauf glitten wir, der für mich der Erinnerungen so viele
+trug, und wie Dorf nach Dorf hinter uns blieb, wie die Sonne tiefer und
+tiefer sank, und hie und da schon einzelne Hügel aus dem flachen Land
+hervorschauten, grüßten mich die Nachtigallen, die lieben Waldsänger
+unserer Heimath mit ihrem zaubrisch süßen Sang.
+
+Und weiter flog das Boot; hinter dem Rad stand ich, aus dem die Wellen
+schäumten, horchte den Nachtigallen am Ufer, und schaute nach den alten
+gemüthlichen Dorfkirchthürmen hinüber, bis von weitem, aber schon mit
+einbrechender Dunkelheit, die Thürme der alten Handelsstadt Bremen
+herüber blickten.
+
+Jetzt hielt das Boot; dicht unter den dunkeln Häusermassen lagen wir, in
+welche nur schmale schräge Einschnitte -- kleine Gäßchen, die zum Ufer
+hinunterführen -- einliefen; Karrenführer kamen an Bord, denen ich mein
+Gepäck übergab, und wenige Secunden später stand ich zum ersten Mal
+wieder nach 129 Tagen draußen auf =Pflaster=, auf =deutschem= Grund
+und Boden, und es war mir zu Muthe, als ob ich hätte über den Boden
+=fliegen= können.
+
+Von da an war jeder Schritt, den ich weiter that, ein =Genuß= für mich
+und langsam, ganz langsam verfolgte ich im Anfang meinen Weg, den frohen
+Becher nun auch ordentlich auszukosten.
+
+In vielen Häusern war schon Licht angezündet, und die Leute saßen drin
+bei ihrem Abendbrod, hie und da aber standen sie auch noch plaudernd,
+und sich des schönen Sommerabends freuend, in den Thüren -- auch
+=deutsch= sprachen sie, gutes ehrliches deutsch, nicht mehr malayisch
+oder holländisch, oder englisch, französisch, spanisch oder was sonst
+noch, was ich seit den letzten Jahren gewohnt war, vor fremden Thüren zu
+hören -- die Männer rauchten lange Pfeifen, die Frauen strickten lange
+Strümpfe, und die Kinder hetzten sich über den Weg hinüber und herüber,
+und lachten und jubelten.
+
+So wanderte ich mitten zwischen ihnen durch, noch ein Fremder und
+Heimathloser in der weiten Stadt, und doch vielleicht der glücklichste
+Mensch, den in diesem Augenblick ganz Bremen umschloß.
+
+Jetzt hatte ich endlich das Handlungshaus erreicht, in dem ich Briefe
+für mich von daheim finden sollte. -- Die ersten wieder seit langer,
+langer Zeit, denn die =letzten= Briefe, die ich vor sechs Monaten in
+Batavia erhalten, waren noch außerdem über sechs Monate alt gewesen.
+
+Der Chef war nicht zu Haus, aber ein junger Mann vom Geschäft, dem ich
+meinen Namen nannte, sagte: »er glaube, daß ein Brief für mich oben
+liegen müsse,« und wie entsetzlich langsam ging er die Treppe hinauf,
+danach zu suchen. -- Endlich waren wir oben -- zwei, drei Gefache suchte
+er durch -- da war er richtig -- ich hielt ihn fest in der Hand und weiß
+wahrhaftig nicht, wie ich wieder aus dem Haus und durch die Stadt in
+mein Hotel gekommen bin; aber ich sah die Leute nicht mehr, die vor den
+Häusern standen, oder an ihren hellerleuchteten Tischen saßen. So rasch
+mich meine Füße trugen, eilte ich in den Lindenhof, ließ mir ein Zimmer
+geben, bestellte Licht und Thee und saß kaum zehn Minuten später am
+geöffneten Fenster vor den lieben, lieben Zeilen, die mir Kunde von den
+Meinen brachten. -- Dann erst gab ich mich den übrigen Genüssen hin, und
+wer nicht selber einmal solang von daheim fort und besonders so viele
+Wochen, ja Monate hintereinander auf See gewesen, wird schwer begreifen
+können, mit welch behaglichem Gefühl den seemüden Wanderer alle jene
+tausend Kleinigkeiten erfüllen, die wir im gewöhnlichen Leben gar nicht
+mehr beachten, und deren =Dasein= wir oft nur bemerken, wenn sie einmal
+=fehlen=.
+
+Erstlich die Annehmlichkeit von frischem =Fleisch=, frischer =Butter=,
+=Milch= und =Eiern= -- dann das Bewußtsein, daß das Theezeug =fest= auf
+dem Tisch stand, und nicht brauchte in hölzerne Gestelle eingestemmt
+zu werden -- und doch war ich mit meiner Tasse noch im Anfang
+außerordentlich vorsichtig. Dazu das Geräusch rollender Wagen auf dem
+Pflaster unten, das Schlagen der großen Thurmuhren, das ich in einer
+Ewigkeit nicht gehört, das Lachen und Plaudern der Menschen unten
+auf dem großen freien Platz, und kein Schaukeln dabei, kein Hin- und
+Wiederwerfen -- Alles das genoß ich einzeln und mit vollem geizenden
+Bewußtsein dieser wenigen Momente, und wenn es mir auch im Anfang noch
+manchmal so vorkommen wollte, als ob der Lehnstuhl auf dem ich saß leise
+hin und herschwankte, -- das alte Gefühl noch von dem Schiffe her --
+überzeugte ich mich doch bald, daß das nur Täuschung sei.
+
+Indessen war es dunkel und still draußen in der Stadt geworden; wieder
+und wieder hatte ich den Brief gelesen und lag jetzt in meinem Stuhl am
+offenen Fenster, eine ganze Welt voll Seligkeit im Herzen.
+
+Unten wurden murmelnde Menschenstimmen laut -- ich hatte sie schon eine
+Weile wie im Traum gehört, aber nicht darauf geachtet; auch ein paar
+Laternen sah ich über den Platz kommen. Da plötzlich klangen von vier
+kräftigen Männerstimmen die Töne des herrlichen Mendelssohn'schen
+Liedes:
+
+ »Wer hat dich, du schöner Wald,
+ Aufgestellt so hoch da droben ...«
+
+zu mir herauf, das =erste= deutsche Lied und Männerchor wieder, das
+ich seit langen Jahren hörte, und wie hatte ich mich danach gesehnt. --
+Neben mir öffnete sich ein Fenster -- es fiel mir jetzt wieder ein,
+daß eine berühmte Opernsängerin meine Nachbarin war, die hier in Bremen
+gastirt hatte und morgen früh wieder abreiste. Der Kellner hatte mir
+davon gesprochen, als er das Theegeschirr hinausnahm.
+
+Und jetzt verklangen die Töne, um wieder mit einem anderen, lebendigeren
+Liede zu beginnen; aber voll und weich klangen sie zu mir herauf --
+voll und weich war mir das Herz dabei geworden und -- ich brauche mich
+deshalb nicht zu schämen, daß mir die hellen Thränen in den Bart liefen.
+
+Noch immer saß ich so, und die Sänger waren schon lange fortgezogen; die
+Uhren in der Stadt brummten die zehnte Stunde, als ein anderer, nicht so
+harmonischer Ton all' die schwermüthigen Gedanken im Nu verscheuchte.
+
+»Tuht!« blies der Nachtwächter unten und sang sein melancholisch Lied,
+und ich sah den dunklen Schatten des Mannes unten mit schwerem Schritt
+über den Platz schreiten, folgte ihm mit den Augen so weit ich konnte,
+und horchte auf die, aus ferneren Stadttheilen herüberschallenden
+Antworten noch lange, lange. -- Und dann kamen Nachtschwärmer, die
+einen Hausschlüssel hatten und ich hörte wie die Thüren auf- und wieder
+zugemacht wurden -- und dann schlugen die Uhren wieder ein Viertel,
+Halb, drei Viertel und Elf. Immer konnte ich mich noch nicht losreißen
+von dem Platz am Fenster, bis ich endlich lange nach elf mein
+weiches Lager suchte. Und wie herrlich schlief ich, denn meine alte
+Seegras-Matratze an Bord hatte ich in den vier Monaten so hart wie ein
+Bret gelegen, und das weiche Roßhaarbett bot einen neuen Genuß.
+
+Am nächsten Morgen war ich früh auf den Füßen, Manches zu besorgen,
+meine mitgebrachten Kisten auf die Fracht zu geben und liebe Freunde zu
+besuchen. Eine Zeitung hatte ich noch nicht in die Hand bekommen und
+das Einzige, was ich bis jetzt von einer politischen Neugestaltung der
+letzten 8 Monate wußte, war die Wahl Louis Napoleons zum Präsidenden der
+Republik. Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen anriefen,
+hatte uns ein altes Stück englischer Zeitung -- halb durchgerissen, mit
+einer tüchtigen Steinkohle als Gewicht hineingewickelt -- zugeworfen
+-- darauf fanden wir einen Theil der Einzugsfeierlichkeiten des neuen
+Präsidenten beschrieben -- das war Alles was wir von Europa überhaupt
+erfuhren -- und sonderbarer Weise gleich das Wichtigste.
+
+Freund Andree, den ich in Bremen antraf, ersetzte mir aber alle
+Zeitungen, denn mit kurzen bündigen Worten gab er mir einen flüchtigen,
+aber vortrefflichen Ueberblick des Geschehenen -- du lieber Gott, es war
+wenig Tröstliches, das ich erfuhr -- wie traurig sah es in dem armen
+Deutschland aus, und was war aus der Freiheit, aus den Freiheiten
+geworden, die wir 48 erträumt. Der alte Fluch der Uneinigkeit hatte
+wieder seine giftigen Früchte getragen, und Alles was ich aus dem
+Sturm der letzten Jahre gerettet fand -- und das überhaupt der Mühe
+des Aufhebens lohnte, war: die =Erinnerung= an das Parlament; das
+Bewußtsein, daß wir ein solches wirklich =gehabt= hatten, daß es also
+nicht zu den Schattenbildern gehörte und uns einmal, es möchte nun
+dauern so lange es wollte, wieder werden =mußte=. -- Jetzt freilich
+feierte der Bundestag wieder seine Ferien wie vordem -- ein Dorn im
+Fleisch der Deutschen, ein Spott und Hohn für das Ausland. -- Die
+=deutschen= Schiffe, die noch draußen auf der Rhede von Bremerhafen
+unter der schwarz-roth-goldenen Flagge lagen, warteten auf den Hammer
+des Auctionators, die Schmach von Schleswig-Holstein und Olmütz brannte
+auf unserem Herzen und -- was ich außerdem von Bekannten und Freunden
+hatte, saß im Zuchthaus oder war verbannt. Tröstliche Nachrichten für
+einen Heimkehrenden; aber es überraschte mich kaum. Als ich Deutschland
+im März 49 verließ, saß der mit den deutschen Farben bewimpelte
+Staatskarren schon fest im Schlamm, und man brauchte damals kein Prophet
+zu sein, ihm sein Schicksal vorher zu sagen. Das Alles hatte sich jetzt
+erfüllt, die Reaction grünte und blühte, und wie in der Argentinischen
+Republik, that es den würdigen Staatsmännern nur leid, daß sie nicht
+auch Wald und Himmel mit ihren respectiven Landesfarben schwarz und weiß
+oder schwarz und gelb oder weiß und blau anstreichen konnten.
+
+Was half's! Es mußte ertragen werden, und nur die =Hoffnung= konnte uns
+selbst unser damaliger Zustand nicht rauben.
+
+In Bremen besorgte ich so rasch als möglich was ich zu besorgen hatte,
+fuhr dann nach Hamburg hinüber, dort einige von Sidney herübergeschickte
+Sachen, meist Indianische Waffen, in Empfang zu nehmen, und eilte nun,
+so rasch mich Dampf und Eisenschienen bringen konnten, nach Leipzig,
+meine damals in Wien lebende Familie wieder zu sehen.
+
+Unterwegs mußte ich erst noch an der Preußischen Grenze eine
+Paßplackerei überwinden. Mein Paß war seit drei Monaten verfallen und
+außerdem in einem Zustand, wie ihn ein Preußischer Grenzbeamter
+wohl kaum je unter Händen gehabt. In Brasilien und besonders in der
+Argentinischen Republik wie in Batavia, selbst von den französischen
+Behörden auf Tahiti war freilich allen Anforderungen, die selbst
+ein deutsches Postbüreau stellen konnte, genügt; an allen übrigen
+Landungsplätzen hatte sich aber kein Mensch um einen Paß bekümmert, und
+ich war nicht leichtsinnig genug gewesen, mir unnöthige Laufereien und
+Geldausgaben zu machen. Nur um die ganze Route auf dem Paß zu haben
+visirte ich ihn mir, aus angeborenem Pflichtgefühl, dort selbst, und
+diese Mißachtung eines =officiellen= Visum schien die Polizeibeamten am
+meisten zu erschüttern. Trotzdem behandelten sie mich humaner als ich
+erwartet hatte, und mit einem sanften Verweis über mein rücksichtsloses
+Handeln: »Aber lieber Herr, Sie reisen in der ganzen Welt herum und
+lassen nirgends visiren,« wurde mir erlaubt, meine Reise ungehindert
+fortzusetzen.
+
+In Leipzig, wo ich einen Tag bleiben mußte, kam ich Abends spät an,
+und wollte noch meinen dort wohnenden Schwager aufsuchen. Seine Adresse
+hatte ich; ich wußte nämlich die Straße und Hausnummer, es war aber
+schon so dunkel, daß ich die Nummer nicht mehr erkennen konnte, und die
+vollkommen menschenleere Quergasse langsam niederschreitend, hoffte ich
+an irgend einem Haus einen Menschen zu finden, den ich fragen konnte.
+
+Da verließ Jemand vor mir eine Thür und ging die Straße hinab; es war
+ein Mann in Hemdsärmeln, jedenfalls ein Markthelfer, mehr konnte ich in
+der Dunkelheit nicht erkennen. Als ich ihn eingeholt, frug ich ihn, ob
+er nicht zufällig wisse, in welcher Gegend hier Nr. 22 liege.
+
+»Ja wohl, Herr Gerstäcker,« sagte der Mann so ruhig, als ob er mir noch
+gestern und alle Tage hier in derselben Straße begegnet wäre, und wir
+jetzt hellen Sonnenschein und nicht finstere Nacht gehabt hätten. Es
+lag ordentlich etwas Geisterhaftes in dieser Nennung meines Namens unter
+solchen Umständen, und unwillkührlich frug ich, »aber kennen Sie mich
+denn?« -- »Na, werd' ich =Sie= nicht kennen,« sagte der Mann -- »da
+drüben ist gleich das Haus.« -- Incognito hätte ich =hier= nicht reisen
+können.
+
+Den nächsten Tag verbrachte ich, wie schon gesagt, in Leipzig, um vor
+allen Dingen einen neuen Paß nach Oestreich zu bekommen. Ein
+merkwürdiges Gefühl war es mir aber dabei, durch die alten bekannten
+Straßen zu gehen und in den Läden, in den Fenstern die nämlichen
+Menschen mit der nämlichen Beschäftigung zu sehen, wie ich sie vor
+langen Jahren verlassen hatte. Die waren nicht fort gewesen in der
+ganzen Zeit; die hatten Tag für Tag ihrem Beruf an derselben Stelle
+obgelegen und während mir eine Fluth von Erinnerungen durch die Seele
+ging, kannte die ihre kein anderes Bild, als diese selben engen Straßen
+boten.
+
+So sitzen hier Leute, die ich mich besinnen kann auf der nämlichen
+Stelle gesehen zu haben, als ich noch, ein Knabe, da in die Schule ging.
+Sie kamen mir damals schon alt und ehrwürdig vor und sahen heute genau
+noch so aus; nur daß sie früher keine grauen Haare hatten. Dieselben
+Menschen sind immer dageblieben, und wo bin ich indessen herumgewandert
+-- was hab' ich erlebt -- was gesehen -- und wie drängt es mich noch
+immer neuen Scenen entgegen zu eilen, während diese still und genügsam
+in dem engen Kreise sich bewegen, den ihnen die eigene Wahl oder das
+Schicksal angewiesen. Und wenn wir sterben, ruhen wir vielleicht neben
+einander, und die Erinnerung ist todt und fort.
+
+Und soll ich dir, freundlicher Leser, jetzt erzählen, wie ich nach Brünn
+kam, bis wohin mir meine Frau mit dem Kind entgegen fahren wollte -- wie
+ich mich von Nachtfahrten und übermäßiger Anstrengung zum Tod erschöpft
+in meinen Kleidern auf das Bett geworfen hatte, den um Mitternacht
+eintreffenden Zug dann zu erwarten? Wie mich der Kellner nicht geweckt,
+und plötzlich mitten in der Nacht Frau und Kind, die ich in 39
+Monden nicht gesehen, im Zimmer standen, und wie der kleine, indessen
+vierjährig gewordene Bursch, seine Aermchen um meinen Nacken legte und
+mit seiner lieben Stimme flüsterte: »du weggelaufener Papa?« -- Es geht
+nicht -- es geht wahrhaftig nicht, Worte sind nicht im Stande das zu
+beschreiben; das muß erlebt, empfunden sein, und -- ich möchte gleich
+wieder auf Reisen gehen, nur um =den= Augenblick noch einmal zu erleben.
+
+
+
+
+Wenn wir einmal sterben.
+
+
+Oft, wenn ich in meinem Zimmer sitze und mein Blick über die aus allen
+Welttheilen zusammengetragenen Gegenstände schweift, die mir so lieb
+sind, weil sich an jedes einzelne eine, oft freudige, oft bittere
+Erinnerung knüpft, fällt mir eine Scene aus früherer Zeit ein.
+
+In einem großen alten Hause in ** hatte ein alter Herr viele lange Jahre
+hindurch so abgeschlossen gelebt, daß er mit Niemandem da draußen --
+wenigstens nie direkt -- in Berührung kam. Eine alte Haushälterin und
+ein alter Gärtner besorgten seine Arbeiten, und nur Abends, wenn in
+dem obersten Erkerstübchen, wo die alte Haushälterin schlief, Licht
+angezündet wurde, sah man, daß die Leute drinnen noch lebten, denn
+sonst ließ sich den ganzen Tag keine Seele, weder an einem der dicht
+verhangenen Fenster noch in der Thür blicken.
+
+Der Eigenthümer selber verließ seine Wohnung nie -- einen Tag im Jahre
+ausgenommen -- am ersten Weihnachtsfeiertag, und dann auch nur -- mochte
+es wettern und stürmen, wie es wollte -- um hinaus auf den Gottesacker
+zu gehen und daselbst ein Grab zu besuchen. Allerdings hatten sich
+die Müßiggänger in der Stadt schon die größte Mühe gegeben, um
+herauszubekommen, wer unter dem kleinen einfachen Hügel ruhe, an dem
+der Greis eine volle Stunde betete -- aber vergebens. Kein Kreuz, keine
+Tafel kündete den Namen. Der frühere Todtengräber war gestorben, aus
+dem Buch, das er mit wunderlichen Zeichen und Figuren geführt, ließ sich
+nichts Bestimmtes mehr herausfinden, und die Leute sahen sich gezwungen,
+ihre eigenen Geschichten darüber zu ersinnen. Es läßt sich denken, daß
+die abenteuerlichsten Gerüchte die Stadt durchliefen -- aber auch nur
+eine Zeit lang. Wie der alte Herr Jahr nach Jahr das nämliche trieb,
+dabei Niemandem etwas in den Weg legte, wurde man es endlich müde,
+sich um ihn zu bekümmern, und erst sein Tod erweckte die schon fast
+vergessenen Gerüchte von Neuem -- allein auch sein Tod brachte keine
+Aufklärung über sein früheres Leben.
+
+Wie es mit dem Testament gewesen war, weiß ich nicht mehr, nur soviel
+erinnere ich mich, daß die Erben keineswegs zufrieden sein mußten,
+denn große Legate waren den Dienern vermacht, und die außerordentlich
+einfache und dadurch fast werthlose Einrichtung des Hauses sollte in
+dessen Räumen selber öffentlich versteigert werden.
+
+Nach alle dem läßt es sich denken, daß ein großer Theil der Bewohner
+von ** neugierig war, die Räume zu betreten, die bis jetzt von dem alten
+wunderlichen Mann als unnahbares Heiligthum verschlossen und verriegelt
+gehalten waren. Die von dem Magistrat herbeorderten Beamten hatten
+wirklich ihre Noth, die zudringlichen Gaffer in ihren Schranken zu
+halten, damit sich im Gedränge nicht auch verworfenes Gesindel mit
+einschlich und die Hand an fremdes Eigenthum legte.
+
+Stube nach Stube wurde deshalb nur derart geöffnet, daß man eine andere
+erst aufschloß, wenn die in der einen befindlichen Gegenstände verkauft
+und ihren jetzigen Besitzern überwiesen waren. Dadurch bekamen es die
+Neugierigen endlich satt, sich nur herumstoßen und drängen zu lassen,
+ohne weiter etwas zu sehen, als öde Zimmer und altmodische Möbel und
+Schränke. Nach und nach verliefen sich die Meisten und es blieben fast
+nur Solche zurück, die wirklich Lust zu kaufen hatten.
+
+So gelangten wir endlich, nachdem eine Masse von Schränken, Tischen,
+Stühlen, alten Bildern, zu Spinneweb gewaschenen Gardinen und hundert
+andern Kleinigkeiten verkauft oder vielmehr um einen Spottpreis
+verschleudert waren, in die Studirstube des alten Mannes -- wenn
+ein Platz so genannt werden kann, in dem ein nur wenig benutzter
+Schreibtisch und ein kleines dürftiges Regal mit einigen zwanzig, meist
+französischen und holländischen Büchern stand.
+
+Der Verstorbene war augenscheinlich kein Gelehrter gewesen, das aber
+hier jedenfalls der Platz, wo er seine meiste Zeit, die langen Jahre
+seiner Einsamkeit, träumend und durch nichts gestört verbracht, und
+es überkam mich ein eigenes und drückendes Gefühl, als ich die kalten,
+gleichgültigen Gesichter sah, die sich hier jetzt mit prüfenden Blicken
+in dem engen Raum umschauten und die Gegenstände taxirten. Es war mir,
+als ob ein Grab entweiht würde, das Grab einer Seele, deren Träume bis
+jetzt hier eingesargt gewesen.
+
+Aber was kümmerte das die Käufer oder den Auctionator, der Stück nach
+Stück ruhig und gleichmüthig unter den Hammer brachte! Vor dem Tische
+stand ein alter, mit Leder überzogener Lehnstuhl, über dem Tisch hing
+ein kleines, ziemlich mittelmäßig ausgeführtes Bild, eine Landschaft
+mit einer alten knorrigen Eiche im Vordergrund, die an dem Ufer eines
+Weihers stand. Unter der Eiche lag ein Frauenhut und ein Brief. In
+dem Lehnstuhl war der alte Mann gestorben, und auf dem Tisch stand ein
+kleines flaches Mahagonikästchen.
+
+Ein Jude kaufte den Tisch, den Lehnstuhl und nachher das Kästchen auch,
+das Bild, da Niemand darauf bieten wollte, bekam er zu. In dem Kästchen
+stak der Schlüssel, er öffnete es, es lagen einige Sachen darin, und er
+wühlte mit der Hand darin herum. Als ihm das Kästchen zugeschlagen war,
+drehte er es um und schüttete den Inhalt auf den Boden. Es enthielt
+auch nichts Aufhebenswerthes: ein paar trockene, schon fast verkrümelte
+Blumen, ein Stückchen Holz mit ein paar dürren Blättern, ein paar
+Streifen vergilbtes Papier mit unleserlichen Zügen, ein kleines
+blauseidenes Band, einen zerschnittenen Handschuh und noch eine Anzahl
+anderer, eben so werthloser verwitterter Dinge. Was sollte der Käufer
+mit dem Plunder machen? er wurde später mit dem übrigen Staub und
+Gerumpel hinaus gekehrt, und doch war er das Heiligthum eines ganzen
+Lebens gewesen.
+
+Und wenn =wir= einmal sterben?
+
+In meinem Zimmer hängen eine Unmasse von werthlosen Dingen, Waffen aus
+allen Welttheilen von Stein, Holz, Stahl, Wallroß- und Haifischzähnen,
+und wenn ich einmal sterbe, finden sie vielleicht ihren Weg in ein
+Naturaliencabinet, wo dann der Aufseher mit Hülfe des Katalogs den
+Besuchern erklären kann: das Stück stammt dort, jenes von da her,
+diese Waffen führen die australischen Eingebornen, jene sind auf den
+Südseeinseln, in Afrika, in Californien, in Südamerika, in China, in
+Java daheim -- das bleibt Alles, denn die Erinnerung ist todt, die ihnen
+jetzt Leben verleiht.
+
+Jenes alte lederne Jagdhemd, mit seinen indianischen Ausfranzungen,
+habe ich aus selbsterlegten Hirschdecken auch selber gegerbt und genäht
+und manches lange Jahr getragen; jenes alte Messer führte ich
+zweiundzwanzig Jahr in Freud und Leid; jene Bolas holte ich mir aus den
+chilenischen Cordilleren, und wie der Blick darauf fällt, sitze ich
+wieder bei dem tollen Trinkgelage jener Stämme, sehe die mit trübem
+Aepfelwein gefüllten Kuhhörner im Kreis herumgehen und die junge dicke
+Kazikentochter mir gegenüber, die mir jenes Diadem von bunten Perlen
+gab. Die Lanze dort schleuderte einst ein australischer Wilder nach mir;
+jene Mumienhand steckte mir ein junger ägyptischer Epigone unter den
+Tempelsäulen von Karnak in die Tasche, da ich sie ihm nicht um den
+üblichen Sixpence abkaufen wollte; jenen Bogen erhandelte ich von einem
+californischen Indianer um selbstgegrabenes Gold aus seinen Bergen. Mit
+diesen Stücken trockenen Guiavenholzes rieb sich ein bildschönes Mädchen
+auf Tahiti einst Feuer, um ihre Cigarre daran anzuzünden; jenen
+Wallfischzahn brach ich selber aus dem Kiefer eines frischgefangenen
+Cachelot; den Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß arbeitete ich mir
+inmitten eines furchtbaren Sturmes am Cap Horn; das Hirschgeweih da oben
+holte ich mir aus der Bandong-Ebene in Java, und jene kleinen
+ungeschickt geschnittenen Figuren aus vegetablischem Elfenbein kaufte
+ich auf dem Markt zu Quito.
+
+Und welche Unzahl von Kleinigkeiten, die ein Anderer unbedingt zum
+Kehrichthaufen verdammen würde, bilden die Schätze, die ich um mich her
+aufgehäuft! Vier Steinbrocken, die jeder Geologe verächtlich bei Seite
+werfen würde: ein gewöhnliches Stück Kalkstein mit ein paar dunklen
+Flecken darauf -- die Schweißtropfen meines ersten starken Gemsbocks,
+den ich hoch am Karwendelgebirg in Tyrol in voller Flucht durch's Herz
+schoß; ein gewöhnlicher Kieselstein, aus den Wassern des Pozuzu in Peru
+-- die Erinnerung an den Uebergang jenes reißenden Bergstromes, an einer
+einzelnen wilden Rebe; ein kleines Stück Granit vom 16,000 Fuß hohen
+Gipfel der Cordilleren in Peru; ein anderes verwittertes Gestein vom
+höchsten Paß der La Plata-Staaten nach Chile; eine gelbe Feder vom
+Kopf eines Kakadu, des ersten, leider nicht des einzigen, den ich im
+australischen Wald erlegen und verzehren mußte, um nicht zu verhungern;
+ein langes Stück Koralle, das ein australisches Mädchen als einzigen
+Schmuck und Kleidungsstück durch den Nasenknorpel trug; ein rothes Band,
+das ich, in dem jetzt verschütteten Mendoza, im Knopfloch führen mußte,
+um unter Rosa's Regierung einen Paß auf der Polizei zu bekommen; der
+alte hölzerne Quirl und Löffel, mit dem ich in Ecuador tagtäglich, lange
+Monate hindurch meine Chocolade quirlte und rührte; selbstgewaschenes
+Gold aus Californien; Silber aus Cerro de Pasco, der höchsten Stadt der
+Welt; Wüstensand aus Aegypten; künstliche Federblumen aus Brasilien, und
+was mein Schreibtisch an geheimen Schätzen birgt, an trockenen Blumen
+und an Liebeszeichen aus der Jugendzeit, Du lieber Gott, was Anderes
+ist das, als was der Trödler dort in dem alten Haus, aus jenem
+Mahagonikasten auf die Erde schüttete: -- und doch ein Lebensalter
+hindurch mit dem eigenen Herzblut erkauft und gehegt und gepflegt!
+
+Und wer von uns Allen hat nicht solche Liebeszeichen, wem von uns Allen
+ruft nicht ein Band, ein trocknes Blatt, ein alter, wieder und wieder
+gelesener Brief alte Liebe und, wenn auch schmerzliche, Erinnerungen
+der Seele wach? und wenn wir einmal sterben? dann kommen rauhe Hände
+und zerstören diese »Leichen unserer Erinnerung,« denn das Leben fehlt
+ihnen, was ihnen diese für uns eingehaucht.
+
+Und können wir uns deshalb von ihnen trennen? Nein, es ist nicht
+möglich, denn sie bilden einen Theil, und zwar den edelsten Theil
+unseres Selbst; sie sind die kleinen unscheinbaren, aber trotzdem
+unzerreißbaren Glieder jener Kette, die uns an die Heimath binden.
+Sie sind die Tröster in mancher bitteren, sorgenschweren Stunde, die
+Märchenerzähler unserer eigenen Jugend, und wie der Mensch, wenn ihm
+die Hoffnung genommen würde, zum Selbstmörder werden müßte, und wie
+er deshalb die Hoffnung hegt und pflegt, weil er mit ihr die Brücke zu
+seiner Zukunft baut, so hält er auch die kleinen Zeichen fest als theure
+Gaben der Vergangenheit.
+
+Wohl wäre es besser, wir selber vernichteten diese kleinen unscheinbaren
+Liebesboten, wenn wir einmal fühlen, daß unser Ende naht; aber wer fühlt
+das? Wer mag es sich bis zum letzten entscheidenden Augenblick wohl
+eingestehen: Jetzt ist vorbei, jetzt weist der Zeiger auf die letzte
+Stunde? Nicht Einer aus Tausenden. Noch mit zitternder Hand, mit
+schon halbgebrochenem Auge fällt unser Blick darauf, und wenn wir dann
+sterben, dann fliegt mit unsrer Seele auch die Seele unserer Reliquien
+-- Gott nur weiß wohin, und unsere Leichen werden Staub.
+
+
+
+
+[Hinweise zur Transkription
+
+
+Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Offensichtliche
+Satzfehler wurden korrigiert, bei Zweifeln der Originaltext beibehalten.
+Eine Liste der vorgenommenen Änderungen befindet sich hier am Buchende,
+Änderungen der Zeichensetzung sind nicht aufgeführt.
+
+
+Änderungen
+
+ Seitenangabe
+ originaler Text
+ geänderter Text
+
+ Seite 1
+ als er, vierzehn Tage später, um Bertha Vollmer anhielt
+ als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt
+
+ Seite 3
+ und wenn sie ihn auch nie ein unfreundlich Gesicht
+ und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht
+
+ Seite 14
+ freundlich ihn empfing, wenn er endlich znrückkehrte
+ freundlich ihn empfing, wenn er endlich zurückkehrte
+
+ Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihn genommen
+ Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen
+
+ Seite 15
+ wo die Gattin plötzlich, unvorbereiiet abgerufen wurde
+ wo die Gattin plötzlich, unvorbereitet abgerufen wurde
+
+ Seite 21
+ ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmischs Wetter
+ ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches Wetter
+
+ Seite 36
+ ihre verschiedenen Freundinen einmal wieder aufzusuchen
+ ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen
+
+ Seite 39
+ sie selbst in ihrer Mittee in Individum entdeckten
+ sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten
+
+ Seite 40
+ als das sie sich wunderten
+ als daß sie sich wunderten
+
+ diesen doch sicher höchsten interessanten Fall
+ diesen doch sicher höchst interessanten Fall
+
+ erst auf äußere Veranlassang von sich gegeben
+ erst auf äußere Veranlassung von sich gegeben
+
+ E ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!
+ Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!
+
+ Seite 43
+ sagte die Frau Präsidentin mit einer einer wegwerfenden Bewegung
+ sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung
+
+ von der kleinen lehhaften Hofräthin dabei warm unterstützt
+ von der kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt
+
+ Seite 47
+ Drittes Kapitel
+ Drittes Capitel
+
+ Seite 48
+ um den Justizrath sein Gesicht zuzukehren
+ um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren
+
+ Seite 49
+ neben nur einen halblauten Schrei ausstoßend
+ eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend
+
+ Seite 54
+ Bertling aber, ärgerlich darüber, das er eine verfehlte
+ Bertling aber, ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte
+
+ Seite 69
+ wie ein Kind, daß ein neues Spielzeug bekommen hat
+ wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat
+
+ Seite 72
+ beobachtete ihn über die Brlle weg
+ beobachtete ihn über die Brille weg
+
+ Seite 73
+ während ihre Freundin kam aufzuschauen wagte
+ während ihre Freundin kaum aufzuschauen wagte
+
+ Seite 74
+ An den Feustern hingen aber Gardinen
+ An den Fenstern hingen aber Gardinen
+
+ Seite 77
+ denn die Frau Heßbeger begann jetzt in feierlicher Weise
+ denn die Frau Heßberger begann jetzt in feierlicher Weise
+
+ Seite 81/82
+ sonst bekommen wir nach-ihre Confusion
+ sonst bekommen wir nachher Confusion
+
+ Seite 116
+ abgelegenen Straße vier steilen dunklen Treppen hinauf geklettert
+ abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert
+
+ Seite 118
+ wußte sie das Gespäch auf das Abenteuer
+ wußte sie das Gespräch auf das Abenteuer
+
+ Seite 119
+ »Du errinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort
+ »Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort
+
+ Seite 132
+ mit vor Zorn gerrötheten Wangen
+ mit vor Zorn gerötheten Wangen
+
+ Seite 138
+ »Bitte tausendmal um Entschnldigung,« sagte Lorenz
+ »Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz
+
+ sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Lase frischen Wassers
+ sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Vase frischen Wassers
+
+ Seite 141
+ werde ich ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
+ werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
+
+ Seite 144
+ die Cigarre schmeckte ausgezeichet
+ die Cigarre schmeckte ausgezeichnet
+
+ Seite 150
+ Reiseanzug den entschieden englichen Charakter
+ Reiseanzug den entschieden englischen Charakter
+
+ Seite 152
+ Engländer auf den Continent
+ Engländer auf dem Continent
+
+ Gepäckträgern und Lohnbedienteu geprellt
+ Gepäckträgern und Lohnbedienten geprellt
+
+ Seite 155
+ nach seinem Schein uud fluchte auf deutsch
+ nach seinem Schein und fluchte auf deutsch
+
+ Seite 156
+ kein anderer Ausweg, als den gegebenen Rath zu folgen
+ kein anderer Ausweg, als dem gegebenen Rath zu folgen
+
+ Seite 164
+ Gewißheit über die Persönlichkiet erlangen konnte
+ Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte
+
+ Seite 173
+ meine Hälfte ebenfalls zur rechteu Zeit einbringe
+ meine Hälfte ebenfalls zur rechten Zeit einbringe
+
+ Seite 179
+ um ihre Morgentoilete zu beenden
+ um ihre Morgentoilette zu beenden
+
+ Seite 181
+ in voller Toilete, mit Schmuck und Flittertand
+ in voller Toilette, mit Schmuck und Flittertand
+
+ Seite 182
+ verzeihen Sie der Aufregumg, in der Sie
+ verzeihen Sie der Aufregung, in der Sie
+
+ Seite 184
+ schon gar keinen möglicheu Ausweg mehr sah
+ schon gar keinen möglichen Ausweg mehr sah
+
+ Seite 190
+ Ich habe nichts als meinem ehrlichen Namen
+ Ich habe nichts als meinen ehrlichen Namen
+
+ Seite 196
+ diesen Platz so rasch als möglich zu erreicheu
+ diesen Platz so rasch als möglich zu erreichen
+
+ Seite 197
+ Unachtsamkeit verdanke, den wie dieser einmal
+ Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
+
+ Seite 200
+ ob er aber einen Schnurrbatt gehabt
+ ob er aber einen Schnurrbart gehabt
+
+ Seite 201
+ als ein kleines Mädchen, daß dabei gestanden
+ als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
+
+ Seite 204
+ »J gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
+ »Ja gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
+
+ Seite 211
+ und borgte sich noch außerden vom Kellner
+ und borgte sich noch außerdem vom Kellner
+
+ Seite 213
+ alle harmlosen Spiele nnd Vergnügungen hinübertönte
+ alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte
+
+ Seite 214
+ wollten wir alle zusammen schmeißeu
+ wollten wir alle zusammen schmeißen
+
+ der Lakai eine tiefe, erfurchtsvolle Verbeugung machte
+ der Lakai eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung machte
+
+ Seite 216
+ jede Weiblichket bei Seite lassend
+ jede Weiblichkeit bei Seite lassend
+
+ Seite 217
+ das Klimpern des Geldes und die montonen Worte
+ das Klimpern des Geldes und die monotonen Worte
+
+ Seite 234
+ aber es fielen ihm in diesen Augenblick
+ aber es fielen ihm in diesem Augenblick
+
+ Seite 236
+ und die Erinnnerung an das Vergangene soll
+ und die Erinnerung an das Vergangene soll
+
+ Seite 242
+ nehmen die Leiden dieses armen Mädchen bald ein Ende
+ nehmen die Leiden dieses armen Mädchens bald ein Ende
+
+ Seite 243
+ zweitausend Pfund, die er vereist oder verspielt
+ zweitausend Pfund, die er verreist oder verspielt
+
+ Seite 251
+ zusammengezogenen Braunen, daß Sie daß nicht thun
+ zusammengezogenen Brauen, daß Sie das nicht thun
+
+ Seite 255
+ haben Sie mich auf Ihrem Besuch warten lassen
+ haben Sie mich auf Ihren Besuch warten lassen
+
+ Seite 262
+ weiter nach England braucht, da ich daß selber
+ weiter nach England braucht, da ich das selber
+
+ Seite 282
+ Ein Fischerboot im Canal, daß wir wegen Zeitungen
+ Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen
+
+ Seite 295
+ geschnittenen Figuren aus vegetablischen Elfenbein
+ geschnittenen Figuren aus vegetablischem Elfenbein
+
+ Seite 297
+ Und könnnen wir uns deshalb von ihnen trennen?
+ Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Unter Palmen und Buchen. Erster Band., by
+Friedrich Gerstäcker
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44239 ***
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+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44239 ***</div>
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+<h1>Unter Palmen und Buchen.</h1>
+
+<hr />
+
+<p class="front">Erster Band.<br />
+<span class="gesperrt"><b>Unter Buchen.</b></span></p>
+
+<p class="front"><span class="gesperrt">Gesammelte Erzählungen</span><br />
+<small>von</small><br />
+<b>Friedrich Gerstäcker.</b></p>
+
+<hr class="broad" />
+
+<p class="center"><b>Leipzig,</b><br />
+<span class="gesperrt">Arnoldische Buchhandlung.</span><br />
+1865.</p>
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+<p class="front break">Inhaltsverzeichniß.</p>
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+</tr>
+<tr>
+ <td>Wenn wir einmal sterben</td>
+ <td align="right"><a href="#page_289">289</a></td>
+</tr>
+</table>
+
+
+
+
+<h2>Eine alltägliche Geschichte.<a class="pagenum" name="page_001" title="1"> </a></h2>
+
+
+<p>Es war auf einem Balle in der Erholung, daß
+Dr. Kuno Brethammer Fräulein Bertha Wollmer
+kennen lernte &ndash; oder vielmehr zum ersten Male sah,
+und sich sterblich in sie verliebte.</p>
+
+<p>Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid,
+einen sehr hübschen Kornblumenkranz im blonden Haar
+und sah wirklich allerliebst aus. Aber es bleibt immer
+ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine
+Hausfrau auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte
+der letzte Ort dazu sein, denn dort ist Alles in Licht
+gehüllt, und er wird geblendet und berauscht, wo er
+gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen
+auf dem rechten Fleck haben müßte.</p>
+
+<p>Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahl
+nicht zu bereuen, denn Bertha Wollmer war nicht allein
+ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit Geschmack zu
+kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav,
+ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später
+<a class="pagenum" name="page_002" title="2"> </a>
+herausstellte, vortreffliche Wirtschafterin. &ndash; Der
+Doctor hätte auf der Welt keine bessere Lebensgefährtin
+finden können.</p>
+
+<p>Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden.
+Er war etwa 34 Jahre alt, Advocat mit einer
+recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen, galt
+in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen
+Mann, schuldete keinem Menschen einen Pfennig und
+als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt,
+sagte das Mädchen nicht <em class="gesperrt">nein</em>, und Vater und
+Mutter sagten <em class="gesperrt">ja</em>, worauf dann noch in der nächsten
+Woche die Verlobungskarten ausgeschickt wurden.
+Zwei Monate später fand die Hochzeit statt.</p>
+
+<p>So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich
+miteinander, und Dr. Brethammer sah mit jedem Tage
+mehr ein, daß er eine außerordentlich glückliche Wahl
+getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib
+danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von
+Herzen, aber &ndash; wie das oft so im Leben geht &ndash; das,
+was sein ganzes Glück hier bildete, wurde ihm &ndash;
+durch Nichts gestört &ndash; endlich zur <em class="gesperrt">Gewohnheit</em>
+und er <em class="gesperrt">vernachlässigte</em>, was er hätte hegen und
+pflegen sollen.</p>
+
+<p>Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb
+nie geringer wurde, aber er vernachlässigte auch
+<a class="pagenum" name="page_003" title="3"> </a>
+<em class="gesperrt">die Form</em>, die in einem gewissen Grade in allen
+Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit
+seiner Frau, ja heftig, und wenn er auch dabei nicht
+die Grenzen überschritt, die jeder gebildete Mensch
+inne halten wird, that er ihr doch oft &ndash; gewiß
+unabsichtlich &ndash; recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein
+heftiges Wort entfahren war, hätte er es von Herzen
+gern widerrufen mögen, aber &ndash; das ging leider nicht
+an, denn &ndash; er durfte sich an seiner Autorität nichts
+vergeben.</p>
+
+<p>Nur zu <em class="gesperrt">einer</em> Entschuldigung ließ er sich herbei:
+»Du weißt, ich bin jähzornig,« sagte er, »wenn's aber
+auch oft ein Bischen rauh herauskommt, so ist es ja
+doch nicht so schlimm gemeint und eben so rasch vergessen.«</p>
+
+<p>Ja, das war allerdings der Fall; <em class="gesperrt">er</em> hatte es eben
+so rasch vergessen, aber <em class="gesperrt">sie</em> nicht, und wenn sie ihm
+auch nie ein unfreundlich Gesicht zeigte, wenn sie ihn
+immer bei sich entschuldigte und sein oft mürrisches
+Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er
+außer dem Hause gehabt &ndash; ein <em class="gesperrt">kleiner</em> Stachel blieb
+von jeder dieser Scenen in ihrem Herzen zurück, so viel
+Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung daran zu bannen;
+<em class="gesperrt">einen</em> kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke
+zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei
+<a class="pagenum" name="page_004" title="4"> </a>
+es noch so schnell vorübergezogen, und in einsamen
+Stunden konnte sie oft recht traurig darüber werden.</p>
+
+<p>Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der
+Vater mit großer und wirklich inniger Liebe hing &ndash;
+und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen ab! &ndash; Es
+ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und
+mußte sich oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur
+zum Mittagsessen zu kommen, aber Abends um sechs
+Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt,
+und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben
+bei Frau und Kindern zu sitzen, um sich seines häuslichen
+Glückes zu freuen, aber &ndash; »er mußte dann
+doch ein wenig Zerstreuung haben« &ndash; wie er sich selbst
+vorlog &ndash; er mußte den Geschäftsstaub abschütteln
+und mit einem »Glas Bier« hinunterspühlen, und das
+geschah am besten im Wirthshaus, wo man nicht gezwungen
+war zu reden &ndash; wenn man nicht reden wollte &ndash;
+wo man einmal eine Partie Scat oder Billard
+spielte, um die ärgerlichen Geschäftsgedanken aus dem
+Kopf zu bringen &ndash; und wie die Ausreden alle hießen,
+mit denen er allein <em class="gesperrt">sich selber</em> betrog, denn seine
+Frau fühlte besser den wahren Grund.</p>
+
+<p>Er <em class="gesperrt">amüsirte</em> sich nicht zu Haus. Er hatte seine
+Frau und Kinder unendlich lieb und würde Alles für
+sie gethan, jedes wirklich große Opfer für sie gebracht
+<a class="pagenum" name="page_005" title="5"> </a>
+haben aber &ndash; er verstand nicht, sich mit ihnen zu
+beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei
+Karten und Billard.</p>
+
+<p>Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau
+dabei! Er mochte noch so spät Abends zum Essen kommen,
+nie zeigte sie ihm ein unfreundliches Gesicht, nie
+frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder &ndash;
+wenigstens das jüngste &ndash; waren dann schon meist zu
+Bett gebracht; er konnte ihnen nicht einmal mehr »gute
+Nacht« sagen, und ärgerlich über sich selber &ndash; so sehr
+er auch vermied es sich selber einzugestehen &ndash; verzehrte
+er schweigend sein Abendbrod.</p>
+
+<p>Das waren die Momente, wo ihm der älteste
+Knabe ängstlich aus dem Weg ging, denn hatte er
+irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es in
+einer solchen Stunde, dann konnte er <em class="gesperrt">sehr</em> böse und
+<em class="gesperrt">sehr</em> heftig werden &ndash; und die arme Mutter <em class="gesperrt">litt</em>
+besonders schwer darunter.</p>
+
+<p>Wie oft nahm er sich vor, die Abende in seiner
+Familie, bei den Seinen zuzubringen, und er wußte
+ja, wie sich seine Frau darüber gefreut haben würde.
+So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so
+sorgsam sie auf Alles achtete, was dem Gatten eine
+Freude machen oder zu seiner Bequemlichkeit dienen
+<a class="pagenum" name="page_006" title="6"> </a>
+konnte, so verständig war sie in jeder andern Hinsicht,
+und es gab Nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte
+mit ihr unterhalten mögen, Nichts, worin sie nicht im
+Stande gewesen wäre, einen vernünftigen Rath zu
+ertheilen. Er kannte und schätzte diese Eigenschaften
+an ihr &ndash; er liebte sie dafür nur desto mehr, aber &ndash;
+wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte,
+daß sich die Spieltische besetzten oder die gewöhnliche
+<i>quatre tour</i> zusammenkam, dann ließ es ihn nicht
+länger zu Hause ruhn.</p>
+
+<p>Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden,
+da sie aber nie gegen ihn klagte und ein häufiger
+wiederkehrendes Unwohlsein stets so viel als möglich
+vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden
+nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte,
+achtete er selber nicht viel darauf, oder hielt es doch
+keineswegs für gefährlich. Er hatte in der That <em class="gesperrt">sehr</em>
+viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug &ndash;
+nur seiner Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten
+lassen. Sobald er das aber ja einmal fühlte, wollte
+er es auch stets wieder gut machen, und überhäufte
+sie mit Geschenken &ndash; ja, wo er einen Wunsch an ihren
+Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn &ndash; soweit er eben
+mit Geld erfüllt werden konnte &ndash; nur seine Abende
+widmete er ihr nicht. &ndash; Er wollte auch eine Erholung
+<a class="pagenum" name="page_007" title="7"> </a>
+haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit
+gegen die Seinen mäßigte er sich eben so wenig.</p>
+
+<p>»Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin,«
+sagte er in einer halben Abwehr, in halber Entschuldigung;
+»Ihr wißt wie's gemeint ist,« und damit war
+die Sache für <em class="gesperrt">ihn</em> abgemacht, aber nicht für die Frau.</p>
+
+<p>Er war auch jetzt zu Zeiten, in Gegenwart Fremder
+heftig gegen sie, und fuhr sie rauh an. Er meinte
+es wirklich nicht so bös, wie die Worte klangen, aber
+es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen,
+so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen,
+wie weh er ihr gethan.</p>
+
+<p>So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft
+in X. gegründet worden und Brethammer
+Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball
+eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt,
+ja er kaufte ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid
+und that wirklich Alles, um sie zu überreden, ihm die
+Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie unwohl
+sei, aber er wollte es ihr nicht glauben, und erst als
+sie ihm mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten,
+und wie große Mühe sie sich gegeben, es nicht zu
+zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm auch ihr bleicheres
+Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen
+auf. Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon
+<a class="pagenum" name="page_008" title="8"> </a>
+oft unwohl gewesen und hatte sich immer wieder erholt,
+auch diesmal würde es sicher vorübergehen, wenn sie
+sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen
+jedenfalls das Vernünftigste, daß sie <em class="gesperrt">nicht</em> auf den
+Ball ging.</p>
+
+<p>Der Winter verging, Bertha wurde in der That
+nicht kränker, aber sie blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte
+sich zuletzt an diesen Zustand. Er hatte anfangs
+seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan &ndash;
+und ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! &ndash;
+auf die Länge der Zeit aber vergaß er das wieder &ndash;
+es war ja nicht mehr nöthig. Seine <i>quatre tour</i>
+und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte
+sich ganz vortrefflich dabei. Kam er dann Abends
+nach Haus &ndash; ob er sich auch einmal um eine halbe
+oder ganze Stunde verspätet hatte &ndash; fand er den
+Tisch gedeckt, und war es so spät geworden, daß die
+Kinder zu Bett geschickt werden mußten, so setzte sich
+sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.</p>
+
+<p>Im Frühjahr schienen Bertha's Leiden heftiger
+wiederzukehren, und der Arzt kam fast täglich, aber
+auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte selber nicht,
+daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als es wirklich
+war, oder vielleicht mehr vor ihm verbarg, als sie
+hätte thun sollen; aber sie fürchtete, dem Gatten das
+<a class="pagenum" name="page_009" title="9"> </a>
+Haus dadurch noch ungemüthlicher zu machen, und
+trug deshalb lieber Alles allein.</p>
+
+<p>Eines Abends, im Mai, saß Dr. Brethammer
+wieder am Kartentisch und zwar in einem Garten,
+etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin
+die kleine Gesellschaft bei schönem Wetter allabendlich
+auswanderte, als ein Bote hereingestürzt kam und
+ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es standen nur
+wenige Worte darauf:</p>
+
+<p>»Komm zu mir. &ndash; Bertha.« Aber die Worte
+waren mit zitternder Hand geschrieben, und den Mann
+überkam, als er sie gelesen, eine ganz sonderbare Angst.</p>
+
+<p>Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha
+krank geworden? daß sie fortwährend krank gewesen,
+wollte er sich gar nicht gestehen, aber der Bote wußte
+weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen
+und gut bezahlt, damit er so schnell wie möglich
+diesen Brief übergeben sollte. &ndash; Mitten im Spiel
+hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe
+übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte
+er in die Stadt zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt &ndash;
+unten im Hause traf er sein Mädchen, die eben
+aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.</p>
+
+<p>»Was um Gotteswillen ist vorgefallen &ndash; meine
+Frau&nbsp;&ndash;?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_010" title="10"> </a>
+»O gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!« rief
+das Mädchen. »Sie hat so danach verlangt, Sie noch
+einmal zu sehen.«</p>
+
+<p>Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf
+kam. Der Arzt stand neben dem Bett, streckte ihm
+die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ das
+Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche,
+die kalte Hand seines treuen Weibes mit Küssen und
+Thränen bedeckend.</p>
+
+<p>»Mein Kuno,« flüsterte die zitternde Stimme, »o
+wie lieb das von Dir ist, daß Du noch einmal gekommen
+bist &ndash; mir ist nur so kurze Zeit geblieben &ndash;
+das Alles brach so schnell herein.«</p>
+
+<p>»Bertha, Bertha, Du kannst &ndash; Du darfst mich
+nicht verlassen,« schluchzte der Mann und schlang
+seinen Arm krampfhaft um sie.</p>
+
+<p>»Du thust mir weh,« bat sie leise, »fasse Dich
+Kuno, es muß sein &ndash; ich muß fort von Dir und den
+Kindern &ndash; o sei gut mit ihnen, Kuno &ndash; sei nicht so
+rauh und heftig mehr &ndash; sie sind ja lieb und brav,
+und Du, &ndash; hast sie ja auch so lieb.«</p>
+
+<p>Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen,
+mit bebender Stimme gesprochenen Bitte lag ein so
+furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen Gefühlen,
+seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte
+<a class="pagenum" name="page_011" title="11"> </a>
+geben konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die
+Sterbende auf das Bett, und ihre Hand lag auf seinem
+Haupt und drückte es leise an sich.</p>
+
+<p>»Kuno,« hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.</p>
+
+<p>»Bertha, meine Bertha!« rief der Mann, sein
+Antlitz zu ihr hebend, »fühlst Du Dich besser?«</p>
+
+<p>»Leb wohl!«</p>
+
+<p>»Bertha!« stöhnte der Unglückliche, »Bertha!«</p>
+
+<p>»Mach mir den Abschied nicht schwer,« bat die
+Frau, »die Kinder habe ich schon geküßt, ehe Du kamst &ndash;
+ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß mich ausreden,«
+flehte sie, »mir bleibt nicht mehr viel Zeit
+und das Sprechen wird mir schwer &ndash; leb wohl, Kuno
+&ndash; habe noch Dank &ndash; tausend Dank für all das Liebe
+und Gute, was Du mir gethan &ndash; sei mir nicht bös,
+wenn ich vielleicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das
+Herz&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Es ist gut &ndash; es ist vorbei &ndash; es wird Licht um
+mich &ndash; leb' wohl Kuno &ndash; sei gut mit den Kindern
+&ndash; auf Wiedersehen!«</p>
+
+<p>»Bertha!« &ndash;&nbsp;&ndash; es war vorbei. Der Mann
+knieete neben der Leiche seiner Frau, und es war ihm,
+<a class="pagenum" name="page_012" title="12"> </a>
+als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein
+und trostlos in einer Wüste stände.</p>
+
+<p>Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie ein
+Traum. Fremde Leute kamen und gingen ein und
+aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige
+Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht,
+und selbst als sie die Leiche in den Sarg legten, blieb
+er still und theilnahmlos. Die Kinder kamen über
+Tag zu ihm, hingen an seinem Hals und weinten; er
+preßte sie fest an sich und küßte sie und blieb dann
+wieder allein bei der Geschiedenen.</p>
+
+<p>Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft
+werden mußte, und jetzt war es, als ob er sich dem
+widersetzen wolle. Aber es traten eine Masse Leute
+in's Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit
+ihm sprachen und ihm zuredeten, daß er sich den Unglücksfall
+nicht so schwer zu Herzen nehmen solle. Er
+hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er fühlte, daß
+was hier geschah &ndash; eben geschehen <em class="gesperrt">mußte</em>, und
+duldete Alles.</p>
+
+<p>Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern
+nach Haus zurück, schloß sich hier in sein Zimmer ein
+und weinte sich recht von Herzen aus. Danach wurde
+ihm etwas leichter &ndash; und es ist ein altes und wahres
+Sprüchwort &ndash; die Zeit mildert <em class="gesperrt">jeden</em> Schmerz, denn
+<a class="pagenum" name="page_013" title="13"> </a>
+das Menschenherz wäre sonst nicht im Stande zu
+tragen, was nach und nach ihm aufgehoben bleibt.
+<em class="gesperrt">Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber &ndash;
+die Zeit mildert und sühnt keine Schuld.</em></p>
+
+<p>Den <em class="gesperrt">Verlust</em> der Gattin hätte er ertragen &ndash;
+mit bitterem Weh wohl, es ist wahr, denn er hatte sie
+treu und innig geliebt, aber mit Jahr und Tag wäre
+die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie
+mehr ihr treues Auge wieder schauen zu können, mehr
+in den Hintergrund getreten, und ihm nur die Erinnerung
+an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt
+aber nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht
+allein das Gefühl der <em class="gesperrt">Schuld</em>, nein auch die <em class="gesperrt">Reue</em>
+über vergangene Zeit mit dem Bewußtsein, diese nie
+zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen
+oder ungeschehen machen zu können, und das
+bohrte sich ihm in's Herz, nicht mit der Zeit weichend,
+nein, mit den wachsenden Jahren fester und fester und
+unzerstörbarer.</p>
+
+<p>Draußen die Welt merkte Nichts davon; er war
+immer ernst und abgeschlossen für sich gewesen, und
+daß er sich jetzt vielleicht noch etwas zurückgezogener
+hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim in seiner jetzt
+verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die Geschiedene
+mahnend vor ihm empor, und je weniger
+<a class="pagenum" name="page_014" title="14"> </a>
+Vorwürfe sie ihm je im Leben gemacht hatte, desto
+mehr machte er sich jetzt selber.</p>
+
+<p>Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus
+die er mit vollkommen gleichgültigen Menschen draußen
+bei den Karten oder hinter dem Wirthstische verbracht,
+während seine Bertha daheim mit einer wahren Engelsgeduld
+auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn
+empfing, <em class="gesperrt">wenn</em> er endlich zurückkehrte. Wieder und
+wieder malte er sich die einzelnen Fälle aus, wo er
+rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie ein rauhes
+und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt,
+und vor Scham und Reue hätte er in die Erde sinken
+mögen, wenn er sich jetzt überlegte, wie er damals
+immer &ndash; immer Unrecht gehabt, und das nur, <em class="gesperrt">wenn</em>
+er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte <em class="gesperrt">eingestehen</em>
+mögen.</p>
+
+<p>Aber das Alles kam jetzt <em class="gesperrt">zu spät</em> &ndash; zu spät für
+<em class="gesperrt">ihn</em> wenigstens. Er hatte einen Schatz gehalten, und
+mißachtet, bis er von ihm genommen wurde &ndash; keine
+Reue brachte ihn je zurück, und daß er sich jetzt elend
+und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine
+begangene Sünde.</p>
+
+<p>Für ihn war es zu spät &ndash; <em class="gesperrt">aber noch nicht für
+Viele, die diese Zeilen lesen</em>. Viele, viele halten
+in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz &ndash; und
+<a class="pagenum" name="page_015" title="15"> </a>
+vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war
+der Zweck dieser Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt,
+da es noch <em class="gesperrt">für sie</em> Zeit ist, ausmalen möchten, wo
+die Gattin <em class="gesperrt">plötzlich, unvorbereitet</em> abgerufen
+wurde, und die Reue des Mannes dann <em class="gesperrt">zu spät</em> kam,
+und <em class="gesperrt">nie, nie</em> wieder gut gemacht werden konnte.</p>
+
+
+
+
+<h2>Die Vision.<a class="pagenum" name="page_016" title="16"> </a></h2>
+
+
+<h3>Erstes Capitel.<br />
+
+<b>Die Sturmnacht.</b></h3>
+
+
+<p>In Alburg, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen
+Stadt, lebte der Justizrath <em class="gesperrt">Bertling</em> in glücklicher
+und zufriedener Ehe mit seiner jungen Frau.</p>
+
+<p>Bertling war ein ruhiger, behäbiger Charakter,
+der die Welt gern an sich kommen ließ, und nichts
+weniger liebte als unnütze und unnöthige Aufregungen.
+Er hatte auch in der That besonders deshalb sein
+Junggesellenleben aufgegeben, um sein Haus gemüthlich
+zu machen, und sich &ndash; bisher vermißte &ndash; Bequemlichkeiten
+zu verschaffen; aber er liebte nichtsdestoweniger
+seine Frau von ganzem Herzen und fühlte sich
+glücklich in ihrem Besitz.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Auguste</em> paßte auch vortrefflich für ihn, und
+zwar nicht etwa durch eine Aehnlichkeit ihres Charakters,
+sondern eher durch einen Gegensatz, durch welchen
+<a class="pagenum" name="page_017" title="17"> </a>
+sich die beiden Gatten vollständig ergänzten, denn man
+darf ja nicht glauben, daß zu einer glücklichen Ehe stets
+gleiche Neigungen und Ansichten, gleiche Tugenden
+und Fehler gehören. Auguste war denn auch, während
+ihr Mann ganz entschieden dem praktischen und realen
+Leben angehörte, weit mehr schwärmerischer Natur,
+ohne jedoch im Geringsten überspannt zu sein. Unermüdlich
+thätig in ihrem Hausstand, beschäftigte sie
+sich aber auch gern mit Lectüre, und vorzüglich mit solcher,
+die einer ideellen Richtung angehörte. Sie phantasirte
+vortrefflich auf dem Piano, und liebte es sogar,
+selbst noch <em class="gesperrt">nach</em> ihrer Verheirathung &ndash; was ihr
+Gatte entschieden mißbilligte &ndash; bei mondhellen Nächten
+im Garten zu sitzen.</p>
+
+<p>Lebhaft und heiter dabei, mit einem warmen Gefühl
+für alles Schöne, wob sie bald mit diesen Tugenden
+und Vorzügen einen ganz eigenen Zauber um ihre
+Häuslichkeit, dem sich ihr Gatte nicht entziehen konnte
+und wollte, so daß er bald von anderen Frauen, <em class="gesperrt">ihren</em>
+Männern gegenüber, als das Muster eines vortrefflichen
+Ehemannes aufgestellt wurde.</p>
+
+<p>So hatten die jungen Leute &ndash; denn der Justizrath
+zählte kaum ein und dreißig und seine Frau erst
+zwanzig Jahr &ndash; etwa zwei Jahre in glücklicher, durch
+nichts gestörte Ehe gelebt, als eine schwere Krankheit &ndash;
+<a class="pagenum" name="page_018" title="18"> </a>
+ein damals in Alburg umgehendes Nervenfieber &ndash;
+die junge Frau erfaßte und lange Wochen auf das
+Lager warf.</p>
+
+<p>Ihr Mann wich in dieser Zeit fast nicht von ihrer
+Seite und nur die wichtigsten Geschäfte konnten ihn
+abrufen &ndash; ja oft versäumte er selbst diese und ganze
+Nächte hindurch wachte er neben ihrem Bett. Allerdings
+paßte ihm das nicht zu seinem sonst gewohnten,
+bequemen Leben, aber die Angst, sein Weib durch irgend
+eine Vernachlässigung zu verlieren, oder auch nur
+ihren Zustand gefährlicher zu machen, ließ ihn das
+Alles nicht achten, und so ward ihm denn auch endlich
+die wohlverdiente Freude zu Theil, die schlimmste
+Krisis überstanden und die geliebte Frau nach und nach
+genesen zu sehen. Aber es dauerte lange &ndash; sehr lange,
+bis sie sich wieder vollständig von dem überstandenen
+Leiden erholen konnte.</p>
+
+<p>Der Körper gewann dabei noch verhältnißmäßig
+am Schnellsten die frühere Frische wieder, wenn auch
+die Wangen bleicher, die Augen glänzender schienen,
+als sie sonst gewesen. Sie hatte aber in ihrer Krankheit
+besonders viel phantasirt und dabei oft ganz laut
+und deutlich die tollsten, wunderlichsten Dinge gesprochen.
+Darum bedurfte es weit längerer Zeit, ehe der
+Geist wieder Herr über diese Träume wurde, die sich
+<a class="pagenum" name="page_019" title="19"> </a>
+mit der Erinnerung früherer wirklich erlebter Scenen
+so vermischten, daß sie oft anhaltend nachdenken
+mußte, um das Wahre von dem Falschen und Eingebildeten
+oder nur Geträumten zu sondern und auszuscheiden.</p>
+
+<p>Auch das gab sich nach und nach oder stumpfte sich
+doch wenigstens ab. Die Erinnerungen an diese Träume
+wurden unbestimmter, wenn auch einzelne von ihnen
+noch manchmal wiederkehrten und sie oft, mitten in
+der Nacht, plötzlich und ängstlich auffahren machten,
+ja sogar wieder bestimmte Bilder und Eindrücke annahmen.</p>
+
+<p>Bertling behagte das nicht recht, denn er wurde
+dadurch ein paar Mal sehr nutzloser Weise alarmirt.
+Einmal &ndash; und noch dazu in einer sehr kalten Nacht &ndash;
+behauptete seine Frau nämlich bei ihrem plötzlichen
+Erwachen, es wäre Jemand im Zimmer und unter
+das Sopha gekrochen &ndash; sie habe es deutlich gehört,
+ja sogar den Schatten durch das Zimmer gleiten sehen.
+Bertling protestirte gegen die Möglichkeit, aber es
+half ihm nichts; um seine Frau nur endlich zu beruhigen,
+mußte er aufstehen und die Sache untersuchen,
+was er denn gründlich mit Hülfe einer Elle that.
+Natürlich fand er nicht das geringste Verdächtige, vielweniger
+einen dort versteckten Menschen, und Beide
+<a class="pagenum" name="page_020" title="20"> </a>
+lachten nachher über dies kleine Abenteuer, &ndash; aber
+der Justizrath trug doch einen Schnupfen davon, der
+ihn sogar auf ein paar Tage zwang das Bett zu hüten.</p>
+
+<p>Das andere Mal wollte Auguste im Nebenzimmer
+ein verdächtiges Flüstern gehört haben und wenn sich
+auch dieses nach sorgfältiger nächtlicher Untersuchung,
+die der Justizrath im Schlafrock, in der Linken das
+Licht, in der Rechten den Feuerhaken, vornahm, als
+unbegründet herausstellte, so wurde der Mann doch
+durch diesen verschiedentlich erweckten Verdacht endlich
+selber so mißtrauisch gemacht, daß er sich für weitere
+derartige Fälle stillschweigend rüstete. Er holte
+nämlich ein Paar alte, schon lange zur Rumpelkammer
+verurtheilte Sattelpistolen hervor, reinigte und lud
+sie und gab ihnen einen Platz in der obersten Schieblade
+seiner Kommode, um sie bei einer etwa wieder
+vorzunehmenden Patrouille wenigstens bei der Hand
+zu haben.</p>
+
+<p>Wochen vergingen indeß, ohne daß sich eine derartige
+Scene wiederholt hätte, und Bertling beruhigte
+sich endlich vollständig mit dem Gedanken, daß jene
+Ideen nur die Nachwehen der überstandenen Krankheit
+gewesen seien; der jetzt kräftig gewordene Körper
+nun aber alle derartigen Phantasiebilder ausgestoßen,
+und für die Zukunft unmöglich gemacht habe.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_021" title="21"> </a>
+Auguste war in der That wieder so frisch und lebenslustig
+als je geworden, wenn ihre Gesichtsfarbe auch
+etwas »intressanter« als früher geblieben sein mochte.
+Sie sah bleicher aus, als sie sonst gethan, aber keineswegs
+kränklich oder leidend und besuchte auch wieder
+gern und oft Gesellschaften und Bälle, wobei es manchmal
+einige Schwierigkeiten hatte, den etwas phlegmatischen
+Gatten für solche Vergnügungen mitzubegeistern.</p>
+
+<p>Auch gestern Abend war in der »Erholung« ein
+brillanter Ball gewesen, auf dem Auguste bis vier Uhr
+morgens getanzt, während ihr Gatte, als treuer Gefährte,
+bis etwa um zwei Uhr Whist gespielt, und
+noch ein paar Stunden in einer bequemen Sophaecke
+verträumt hatte. Heute sollte dafür recht früh zu Bett
+gegangen werden, und die beiden Eheleute saßen Abends
+allein zusammen in der Stube am Theetisch.</p>
+
+<p>Es war im Februar, aber ein ganz entsetzlich naßkaltes
+und stürmisches Wetter. Noch vor wenigen
+Tagen hatte harter Frost die Erde gedeckt; heute
+peitschte der Regen die kaum aufgethauten Fenster und
+die Windsbraut heulte zwischen den Giebeln und riß
+an Thüren und Fensterflügeln, wie zornig darüber,
+daß es einen Platz geben solle, in den man ihr, der
+Gewaltigen, den Eintritt verweigere.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_022" title="22"> </a>
+Und wie das draußen durch die Straßen fegte!
+Der Justizrath war aufgestanden und ans Fenster
+getreten, denn die Unterhaltung wollte heute nicht recht
+fließen. Seine Frau war abgespannt, klagte über ein
+leichtes Kopfweh und Brennen in den Augen und war
+schon ein paar Mal, wie krampfhaft zusammengefahren
+&ndash; jedenfalls in Folge des gestrigen Balles.</p>
+
+<p>Unten brannten die Gaslaternen, aber sie erleuchteten
+die Straße nicht, sondern warfen nur einen matten,
+flackernden Schein auf das schmutzige, von halbgeschmolzenem
+Eis bedeckte Pflaster, denn selbst die
+Glasscheiben schützten die Flammen nicht vor <em class="gesperrt">diesem</em>
+Sturm, der sie rastlos hin und her wehte und manchmal
+auszulöschen drohte. Die Straße selbst war menschenleer,
+denn wer heute nicht nothgedrungen <em class="gesperrt">mußte</em>,
+verließ wohl nicht das schützende Haus, um sich einem
+solchen Unwetter preiszugeben. Nur dann und wann
+floh ein einzelner später Wanderer entweder mit dem
+Wind durch aufspritzenden Schmutz und Schlamm
+dahin, oder kämpfte &ndash; den Oberkörper weit vorn über
+gebeugt &ndash; <em class="gesperrt">gegen</em> den Sturm, und dem Wetter in
+die Zähne, seine beschwerliche Bahn.</p>
+
+<p>In langen Zwischenpausen rollte auch wohl einmal
+ein festgeschlossener Wagen vorüber, aber das
+Geräusch desselben machte die gleich nachher wieder
+<a class="pagenum" name="page_023" title="23"> </a>
+eintretende Oede nur noch fühlbarer, als daß es sie
+unterbrochen hätte.</p>
+
+<p>Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken
+bedeckt, und der hinter ihnen stehende Vollmond konnte
+nicht mehr thun, als daß er manchmal ihre riesigen,
+beweglichen Massen in einem matten Phosphorschimmer
+sichtbar werden ließ. Aber selbst dies geschah
+nur auf Momente, und jedes Mal darnach war es,
+als ob der Sturm nur Athem geholt und neue Kraft
+gewonnen hätte, um so viel rasender zum Kampf herbei
+zu eilen.</p>
+
+<p>»Merkwürdig, wie das da draußen tobt und
+gießt,« brach der Justizrath endlich das lange Schweigen
+indem er den Rauch seiner Cigarre gegen die
+Fensterscheiben blies. »Das ist nun Februar mit
+Mondschein im Kalender wo man eigentlich eine hellkalte,
+ruhige Winternacht zu fordern hätte. 'S ist
+aber gerade, als ob die ganze Welt ihre Jahreszeiten
+umdrehte, denn eingehalten werden sie wahrlich nicht
+mehr zur rechten Zeit.«</p>
+
+<p>Er hatte sich dabei wieder dem Tische zugedreht,
+und sah jetzt wie seine Frau mit gespannter Aufmerksamkeit
+auf dem Sopha saß, als ob sie auf irgend
+etwas horche. Zu gleicher Zeit drang, durch die
+Wände und Decke aber gedämpft, der Ton einer
+<a class="pagenum" name="page_024" title="24"> </a>
+Menschenstimme zu ihnen herüber, die jedenfalls ein
+geistliches Lied in lang gezogenen, schnarrenden Tönen
+sang. Der Justizrath lachte.</p>
+
+<p>»Das ist der verrückte Schuhmacher über uns, der
+jedesmal bei einem Sturm, aber besonders bei einem
+Gewitter, den Herr Zebaoth anschreit, und sich als
+größten Sünder des ganzen Weltalls denuncirt.
+Wenn diese Narrheit nicht auch ihre komische Seite
+hätte, könnte es Einem wirklich unheimlich dabei
+werden.«</p>
+
+<p>Der Justizrath hatte Recht. Die Stimme klang
+in der That unheimlich in diesem Aufruhr der Elemente
+und wenn der Wind dazu durch den Schornstein
+heulte und in die Schlüssellöcher pfiff, gab es einen
+Dreiklang, der Einem hätte das Haar zu Berge treiben
+können. Die Frau schauderte auch in sich selbst
+zusammen, allein sie erwiderte kein Wort, und der
+Justizrath, dem ihr Zucken nicht entging, fuhr fort:</p>
+
+<p>»Man kann nur gar nichts dagegen machen; nicht
+einmal polizeilich verbieten darf ich es ihm, denn
+geistliche Lieder zu singen ist eben nichts Strafbares,
+und daß der Mensch so eine gellende Stimme hat,
+lieber Gott, dafür kann er nichts; ich bezweifle sogar,
+daß er es selber weiß. Uebrigens &ndash; es ist ihm vielleicht
+in anderer Weise beizukommen, denn seine Frau
+<a class="pagenum" name="page_025" title="25"> </a>
+soll sich auch mit Kartenschlagen und allem möglichen
+anderen abergläubischen Hocuspocus beschäftigen, und
+wenn ich darin einmal einen Halt dafür bekomme,
+dann wollen wir der Geschichte rasch ein Ende
+machen.«</p>
+
+<p>»Was war das?« flüsterte die Frau und fuhr wie
+erschreckt halb von ihrem Sitz empor.</p>
+
+<p>»Was? &ndash; das Klappern?« sagte der Justizrath,
+»wahrscheinlich hat wieder Jemand die Hausthür
+unten aufgelassen und was nicht festgenagelt ist, rasselt
+bei dem Sturm hin und her. Das wird eine vergnügte
+Nacht werden.«</p>
+
+<p>»Es war mir als ob Jemand klopfe&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Nun jetzt kommt kein Besuch mehr,« lachte der
+Mann, »und wenn&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>In dem Augenblick war es, als ob der Sturm
+seinen ganzen Angriff nur auf diesen Punkt concentrirt
+hätte. Mit einem wahren Wuthgeheul fuhr es den
+Schornstein herunter, und riß draußen an den Fenstern.
+Zu gleicher Zeit flog die Stubenthür auf und der
+kalte Zug strömte voll ins Zimmer, daß die Lampe
+hoch und düster aufflackerte.</p>
+
+<p>»Alle Wetter!« rief der Justizrath, erschreckt zur
+Thür springend und diese wieder schließend, »das wird
+denn doch beinah zu toll und das alte Nest so windschief,
+<a class="pagenum" name="page_026" title="26"> </a>
+daß weder Fenster noch Thüren länger in ihren
+Fugen bleiben. Wenn der Wirth das nicht spätestens
+bis zum Frühjahr aus dem Grunde wieder herstellen
+läßt, kündige ich ihm wirklich das Logis. Man kann
+ja die Stuben auch fast gar nicht mehr erheizen.«</p>
+
+<p>Die Frau war, als die Thür aufflog, allerdings erschreckt
+zusammengefahren, hatte sich aber nicht weiter
+gerührt und saß jetzt still und regungslos. Nur mit
+ihrem Blick strich sie langsam, als ob sie irgend Jemandem
+mit den Augen folge, von der Thür fort,
+durchs Zimmer, bis zu dem Stuhl am Ofen, auf dem er
+stier und fest haften blieb.</p>
+
+<p>Ihr Mann hatte nicht gleich auf sie geachtet. Er
+zog die neben der Thür befindliche Klingel, um das
+Dienstmädchen herbeizurufen und befahl diesem dann
+nach der Hausthür hinunter zu sehen, wie auch den
+Hausmann zu bitten, daß er dieselbe heute Abend verschlossen
+halte. Man konnte es ja wahrlich hier oben
+im Hause vor Zug nicht aushalten.</p>
+
+<p>Darnach trat er in die Stube zurück, und es fiel
+ihm jetzt auf, daß seine Frau noch keine Silbe über
+die Störung geäußert hatte. Wie er sich ihr aber zuwandte,
+konnte ihm auch unmöglich der stiere,
+staunende Blick entgehen, den Auguste noch immer
+unverwandt auf den einen Punkt gerichtet hielt. Unwillkürlich
+<a class="pagenum" name="page_027" title="27"> </a>
+sah er rasch dort hinüber, es ließ sich aber
+nicht das geringste Außergewöhnliche erkennen. Dort
+stand nur ein leerer Stuhl, und darüber hing ein alter
+Kupferstich, der eine Prügelscene aus irgend einer
+holländischen Dorfschenke darstellte.</p>
+
+<p>»Nun?« sagte er endlich und jetzt selber erstaunt
+&ndash; »was hast Du nur?«</p>
+
+<p>Statt aller Antwort und ohne den Blick von dem
+festgehaltenen Punkt zu nehmen, hob die junge Frau
+langsam den rechten Arm in die Höhe und deutete
+mit dem Zeigefinger auf die Stelle.</p>
+
+<p>»Ja aber mein Kind&nbsp;&ndash;« wiederholte der Mann
+bestürzt, denn er konnte sich das wunderliche Betragen
+der Frau nicht erklären &ndash; »ich begreife noch immer
+nicht, was Du willst. Was ist denn dort, und weshalb
+deutest Du auf den Stuhl und siehst so bestürtzt
+aus, als ob Dir ein Geist erschienen wäre?«</p>
+
+<p>»Siehst Du ihn nicht?« sagte die Frau leise, ohne
+ihre Stellung auch nur um eines Haares Breite zu
+verändern.</p>
+
+<p>»Wen denn?« rief Bertling halb ärgerlich und
+halb erschreckt noch einmal den Kopf nach der bezeichneten
+Richtung zu drehend.</p>
+
+<p>»Den fremden Mann,« erwiderte die Frau, die
+<a class="pagenum" name="page_028" title="28"> </a>
+Worte aber viel mehr hauchend als sprechend, »der
+dort auf dem Stuhl am Ofen sitzt.«</p>
+
+<p>»Den fremden Mann? &ndash; aber Kind, ich bitte
+Dich um Gotteswillen.«</p>
+
+<p>»Sprich nicht so laut. Wenn er die Augen zu
+mir hebt, ist es immer, als ob mir ein Messer durch
+die Seele ginge.«</p>
+
+<p>»Aber wie sollte denn der hierher gekommen sein,«
+lachte Bertling gutmüthig &ndash; »sei doch vernünftig.«</p>
+
+<p>»Wie die Thür aufging,« flüsterte die Frau »trat
+er herein, ging still am Ofen vorüber und setzte sich
+dort nieder &ndash; aber siehst Du ihn denn nicht?«</p>
+
+<p>»Mein liebes Herz« suchte sie der Justizrath zu
+beschwichtigen &ndash; »wenn dort irgend Jemand auf dem
+Stuhle säße, so müßte ich ihn allerdings auch sehen,
+nicht wahr? Aber ich sehe Nichts als den leeren Stuhl.
+Komm Schatz, das ist wieder einer von Deinen häßlichen
+Träumen &ndash; schüttle ihn ab &ndash; Nun? &ndash; ist er
+noch da?« setzte er lachend hinzu, als die Frau wie
+warnend die Hand gegen ihn hob.</p>
+
+<p>»Pst! sei ruhig!« sagte sie tonlos &ndash; »jetzt regt er
+sich. Er sieht Dich an.«</p>
+
+<p>Bertling wurde es, dieser so bestimmt ausgesprochenen
+Ueberzeugung gegenüber, selber ein wenig
+unheimlich zu Muthe, wenn er auch recht gut wußte,
+<a class="pagenum" name="page_029" title="29"> </a>
+daß das Ganze weiter Nichts sein konnte als eines
+jener verworrenen Traumbilder, von denen er gehofft
+hatte, daß sie bei seiner Frau nie mehr wiederkehren
+würden. Möglicher Weise hatten aber hier verschiedene
+Factoren zusammengewirkt, um den Geist der
+noch nicht vollständig Genesenen zu überreizen und
+krankhaft aufzuregen. Die Abspannung nach der gestern
+durchschwärmten Nacht &ndash; das heutige Unwetter mit
+dem fatalen Klappern der Fenster und Thüren, der
+heulende Sturm, der da oben seine Gesangbuchverse
+abwimmernde Schuhmacher, vielleicht ein flüchtiges
+Unwohlsein mit in den Kauf; wer konnte denn wissen
+wie das Alles auf sie eingewirkt hatte und es blieb
+deshalb vor allen Dingen nöthig, sie von der Nichtexistenz
+ihres Traumbildes thatsächlich zu überzeugen
+&ndash; nachher beruhigte sich ihre Einbildungskraft schon
+von selber.</p>
+
+<p>»Aber mein liebes Herz,« sagte er endlich &ndash; »so
+mach' doch nur einmal diesem häßlichen Traum ein
+Ende&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Traum?« rief aber jetzt die Frau ungeduldig,
+wenn auch immer noch mit vorsichtig gedämpfter
+Stimme &ndash; »was Du nur mit Deinem Traum
+willst. Man träumt doch nur wenn man schläft, doch
+schlafe ich jetzt oder schläfst Du?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_030" title="30"> </a>
+»Aber ich selber sehe doch gar Nichts.«</p>
+
+<p>»Nichts? Siehst Du denn nicht den kleinen grauen
+Mann dort neben dem Ofen sitzen, wie er den rechten
+Arm auf der Stuhllehne liegen hat und hier herüber
+sieht? Was er nur will.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber meine liebe Auguste so sei doch vernünftig,«
+rief der Justizrath, durch den Zustand wirklich beängstigt.
+»So überzeuge Dich doch nur selber.«&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»Quäle mich nur nicht,« bat die Frau &ndash; »von
+was soll ich mich denn überzeugen? Sehe ich ihn denn
+nicht da sitzen? &ndash; Daß sie ihn nur hereingelassen
+haben.«</p>
+
+<p>»Nun gut,« rief Bertling, der wohl einsah, daß
+bloße Vernunftgründe nicht das Geringste fruchten
+würden, »dann will ich Dir <em class="gesperrt">beweisen</em>, daß Du Dich
+irrst, und nachher wirst Du mir doch Recht geben.
+Sitzt er <em class="gesperrt">noch</em> da?«</p>
+
+<p>Die Frau nickte mit dem Kopf.</p>
+
+<p>»Schön,« sagte Bertling, indem er entschlossen
+um den Tisch herum ging und der bezeichneten Stelle
+zuschritt, »dann wollen wir doch einmal sehen wie er
+sich <em class="gesperrt">jetzt</em> benimmt.«</p>
+
+<p>Der Blick der Frau haftete aber nicht mehr auf
+dem Stuhl, sondern hob sich ein wenig und strich
+<a class="pagenum" name="page_031" title="31"> </a>
+dann wieder langsam durch die Stube und zur Thür
+zurück.</p>
+
+<p>»Nun sieh,« sagte ihr Mann jetzt, indem er sich
+&ndash; wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl auf
+denselben Stuhl niederließ, auf dem das Traumbild
+sitzen sollte &ndash; »Du wirst mir doch jetzt zugeben, daß der
+Stuhl vollkommen leer war, oder Dein grauer Herr
+müßte mich sonst auf dem Schooß haben. &ndash; Nun?
+&ndash; was siehst Du denn jetzt wieder nach der Thür?«</p>
+
+<p>»Ja er ist fort,« lachte die Frau still vor sich hin.
+»Wie Du nur um den Tisch herumgingst, stand er
+auf, glitt wieder der Thür zu &ndash; und hinaus.«</p>
+
+<p>»Aber die Thür ist ja noch fest zu. Er kann doch
+nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Bertling hatte kaum Zeit zuzuspringen und seine
+Frau aufzufangen, denn ihr gehobener Arm sank matt
+am Körper herab, und die ganze Gestalt schien in sich
+selbst zusammenzubrechen. Sie konnte nicht ohnmächtig
+sein, aber es war als ob nach der gehabten Aufregung
+eine völlige Erschlaffung ihrer Glieder einträte.
+Er hatte sie auch kaum aufgehoben und auf das
+Sopha gelegt, als sie in einen festen Schlaf fiel.</p>
+
+<p>Der aber dauerte nicht lange. Schon nach kaum
+einer Viertelstunde wachte sie wieder auf und sah sich
+etwas verstört im Zimmer um.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_032" title="32"> </a>
+»Hab ich mich denn hier zum Schlafen niedergelegt?«
+sagte sie leise und sinnend &ndash; »es muß ja schon spät sein.«</p>
+
+<p>Bertling hielt es für das Beste, von dem stattgefundenen
+Anfall heute Abend gar nichts zu erwähnen,
+da er nicht wissen konnte, wie es die Leidende aufnehmen
+würde. Wenn sie morgen wieder frisch und
+munter war, wollte er es ihr erzählen, und sie lachte
+dann wahrscheinlich selbst darüber.</p>
+
+<p>»Es ist halb zehn, mein Kind,« sagte er, »und
+Du bist müde von der gestern durchschwärmten Nacht.
+Ich glaube es ist das Beste wir gehen zur Ruhe.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte die Frau nach einer kleinen Pause, in
+der sie, wie überlegend, vor sich niedersah &ndash; »ich
+muß wirklich hier eingeschlafen sein, denn ich habe
+schon geträumt. &ndash; Was einem doch dabei für wunderliche
+Dinge durch den Kopf ziehen. &ndash; Ich werde
+lieber schlafen gehen.«</p>
+
+
+
+
+<h3>Zweites Capitel.<br />
+
+<b>Die Kaffeegesellschaft.</b></h3>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen schien Auguste die gestrige
+Erscheinung vollständig vergessen zu haben; sie erwähnte
+wenigstens kein Wort davon, und Bertling
+<a class="pagenum" name="page_033" title="33"> </a>
+hatte sich in der Nacht ebenso überlegt, die ganze Sache
+weiter gar nicht zu berühren. Es würde sie nur beunruhigt
+haben, und konnte doch zu weiter nichts nützen.
+Er hätte freilich gern gewußt, ob ihr jede Erinnerung
+an die eingebildete Traumform verschwunden sei &ndash;
+und fast vermuthete er das Gegentheil, denn sie blieb
+an diesem Tag besonders nachdenkend, hörte manchmal
+mitten in ihrer Arbeit auf und sah eine Weile still
+vor sich nieder. Aber er mochte sie auch nicht fragen,
+denn hatte sie es wirklich vergessen, so mußte sie dadurch
+nur mißtrauisch gemacht werden.</p>
+
+<p>Auch der Arzt, mit dem er darüber sprach, rieth
+ihm in keinerlei Weise auf jenen Zustand hinzudeuten.
+Solche Erscheinungen kämen &ndash; wie er meinte &ndash; im
+geistigen Leben der Frauen gar nicht so selten vor,
+stumpften sich aber, wenn man ihnen Ruhe ließe, gewöhnlich
+mit der Zeit von selber ab. Das einzige
+wirksame Mittel dagegen sei Zerstreuung &ndash; leichte,
+am besten humoristische Lectüre, geselliger Verkehr etc.
+&ndash; Sie dürfte nicht zuviel allein gelassen werden,
+dann wichen diese Zustände auch von selber wieder.</p>
+
+<p>Bertling irrte sich übrigens, wenn er glaubte,
+jene eingebildete Erscheinung wäre spurlos und vielleicht
+unbewußt an seiner Frau vorübergegangen. Unmittelbar
+nach ihrer halben Ohnmacht besann sie sich
+<a class="pagenum" name="page_034" title="34"> </a>
+allerdings nicht gleich darauf und schlief in ihrer damaligen
+Abspannung auch bald ein. Aber selbst schon
+in der Nacht kam ihr die Erinnerung des scheinbar
+Erlebten, und am nächsten Morgen, als das schon
+fast verschwommene Bild wieder klarer und deutlicher
+vor ihre Seele trat, malte sie sich die Einzelheiten
+mehr und mehr im Stillen aus, bis sie auch die kleinsten,
+unbedeutendsten Umstände wieder scharf und bestimmt
+herausgefunden hatte. &ndash; Aber sie erwähnte
+gegen ihren Gatten nichts davon.</p>
+
+<p>Einmal wollte sie ihn nicht ängstigen, weil er jenem
+Phantasiegebild vielleicht zu viel Wichtigkeit beigelegt
+hätte, und dann &ndash; war sie selber noch nicht einmal
+mit sich im Klaren, ob es wirklich ein Phantasiegebild
+gewesen sei oder nicht. Sie fürchtete auch den Spott
+ihres Mannes, wenn sie ihm nur eine Andeutung gemacht
+hätte, daß sie eine solche Erscheinung für möglich
+halte, und grübelte dabei im Stillen weiter über
+das Geschehene.</p>
+
+<p>In dieser Zeit, in welcher sie sich auch immer noch
+etwas angegriffen fühlte, ging sie wenig aus und da
+ihr Mann durch eine Masse dringender Geschäfte
+über Tag abgehalten wurde, ihr Gesellschaft zu leisten,
+las sie viel &ndash; jetzt aber am liebsten Bücher, die sich
+mit dem geistigen Leben des Menschen beschäftigten
+<a class="pagenum" name="page_035" title="35"> </a>
+und oft Dinge besprachen, die ihr in ihrem überdieß
+aufgeregten und reizbaren Zustand weit besser fern gehalten
+wären. So kam ihr auch das Buch der
+Seherin von Prevorst in die Hände, und gab ihrem,
+schon außerdem zum Uebernatürlichen neigenden Sinn,
+nur noch mehr Nahrung.</p>
+
+<p>Wenn es überhaupt auf Erden Menschen gab, die
+mit jener, von anderen Sterblichen nur geahnten
+Welt in unmittelbarer Verbindung standen, die mit
+ihren körperlichen Augen das sehen konnten was um
+sie her <em class="gesperrt">bestand</em>, während es der Masse verborgen und
+unsichtbar blieb, warum sollte sie dann nicht auch zu
+diesen gehören können? &ndash; warum sollte gerade das,
+was sie deutlich und klar <em class="gesperrt">geschaut</em> hatte, nur allein
+bei ihr eine Täuschung der Sinne gewesen sein? Daß
+aber etwas Aehnliches nicht allein möglich, sondern
+schon wirklich an den verschiedensten Orten <em class="gesperrt">geschehen</em>
+sei, davon liefert ihr gerade die Seherin von Prevorst
+den sichersten Beweis, denn das Buch brachte beglaubigte
+Thatsachen, und immer fester wurzelte bei
+ihr die Ueberzeugung, daß auch sie zu jenen bevorzugten
+Wesen gehöre.</p>
+
+<p>Keineswegs erweckte aber dies, sich nach und nach
+bei ihr bildende Bewußtsein, ihre Furcht vor dem,
+was ihr etwa noch begegnen könne. Im Gegentheil
+<a class="pagenum" name="page_036" title="36"> </a>
+freute sie sich viel eher einer solchen Kraft, und beschloß
+sogar mit ruhigem kalten Blut Alles zu prüfen,
+was ihr in solcher Art an übernatürlichen Gebilden
+auftauchen und sichtbar werden sollte.</p>
+
+<p>Trotz dieser geistigen Stärke, die sie gewonnen zu
+haben glaubte, litt aber doch ihr Körper unter der fast
+gewaltsam hervorgerufenen Aufregung, und wenn auch
+Bertling den wahren Grund nicht ahnte, konnte ihm
+doch nicht entgehen, daß seine Frau in der letzten Zeit
+sichtbar bleicher und leidender geworden sei. Er schrieb
+das aber dem vielen Stuben sitzen zu, und bat sie mehr
+an die frische Luft zu gehen und sich Bewegung zu machen.
+Ja er drang sogar in sie &ndash; was er sonst nie gethan
+&ndash; ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen,
+und dann und wann auch bei sich zu sehen,
+da er mit Recht von einer solchen Zerstreuung wohlthätige
+Wirkung für sie hoffte.</p>
+
+<p>Auguste, wenn sie auch nicht das Bedürfniß danach
+fühlte, beschloß doch seinen Wunsch zu erfüllen.
+Die langen Stunden, die sie daheim allein saß, wurden
+ihr selber zuletzt drückend, und außerdem hatte sie
+ja manche Bekannte, mit der sie recht gern verkehrte
+und wo sie wußte, daß sie gern gesehen war.</p>
+
+<p>Am Besten von Allen hatte sie stets mit einer
+Jugendfreundin, der jetzigen Hofräthin <em class="gesperrt">Janisch</em>, harmonirt;
+<a class="pagenum" name="page_037" title="37"> </a>
+Pauline Janisch war eine prächtige junge
+Frau, aufgeweckt dabei und lebenslustig, und da sie in
+müssigen Stunden auch gern ein wenig schwärmte und
+ganz vorzüglich für alles Uebersinnliche leicht empfänglich
+war &ndash; ohne sich aber davon beherrschen zu lassen
+&ndash; fühlte sie sich zu dieser besonders hingezogen.</p>
+
+<p>Pauline wohnte in der nämlichen Straße mit ihr;
+als sie dieselbe aber heute aufsuchte, bewegte sie sich in
+dem zwar kleinen, doch gewählten Kreis einer Caffeegesellschaft,
+wo allerdings nichts Uebersinnliches gesprochen
+wurde. Nur über die allergebräuchlichsten
+Themata solcher Zusammenkünfte fand eine Verhandlung
+statt, als da sind: Theater und was dazu gehört
+&ndash; nämlich das Privatleben der Bühnenmitglieder
+&ndash; Dienstboten-Noth, Sittengeschichte der
+Stadt mit Vorlage einzelner, besonders hervorzuhebender
+Beispiele, und Klagen über die Vergnügungen
+und Beschäftigungen der Männer <em class="gesperrt">außer</em> dem Haus.</p>
+
+<p>Erst das eintreffende Tageblatt gab der Unterhaltung
+&ndash; nachdem man zwei Verlobungsanzeigen
+und ein Heirathsgesuch gründlich betrachtet und erschöpft
+hatte &ndash; eine andere Wendung, und zwar
+durch einen wunderlichen Vorfall in der Stadt selber,
+der in dieser Nummer eine Erwähnung fand.</p>
+
+<p>Ein in der äußersten Vorstadt gelegenes Haus
+<a class="pagenum" name="page_038" title="38"> </a>
+nämlich, das früher einmal zu einer Knopffabrik benutzt
+worden, jetzt aber schon seit mehreren Jahren,
+durch das Scheitern des Unternehmens leer und verödet
+stand, war vor Zeiten in den Ruf gekommen,
+daß es dort umgehe, und man hatte sich Monde lang
+die merkwürdigsten Geschichten davon erzählt. Anderes
+kam aber dazwischen, das ganze Gebäude wurde außerdem
+nicht mehr benutzt, und da Niemand darin wohnte,
+schlief auch das Gerücht endlich ein, bis der jetzige
+Eigenthümer vor ganz kurzer Zeit die ziemlich vom
+Wetter mitgenommenen Baulichkeiten an einen Fremden
+verkaufte, der dort eine Kammergarnspinnerei anlegen
+wollte.</p>
+
+<p>Jetzt erinnerte man sich allerdings wieder lebhaft
+der früheren Gerüchte, die aber in den ersten Wochen
+auch nicht die geringste Bestätigung fanden. Der
+Fabrikant war mit zwölf oder sechszehn Arbeitern dort
+eingezogen und die Leute, die größtentheils noch nicht
+einmal von den Gerüchten gehört haben konnten,
+hatten die Nächte, die sie dort zugebracht, vortrefflich
+und ungestört geschlafen. &ndash; Es dachte schon Niemand
+mehr an die früheren Spuckgeschichten.</p>
+
+<p>Da erzählte man sich in der Stadt, sämmtliche
+Arbeiter in der Fabrick hätten ihrem Brodherren
+den Dienst gekündigt. Es wurde dem anfangs widersprochen,
+<a class="pagenum" name="page_039" title="39"> </a>
+aber das Gerücht fand immer festeren Boden
+bis denn das Tageblatt heute die Nachricht ganz sicher
+bestätigte. Es geschah das durch die Aufforderung des
+Fabrikherrn, um neue Arbeiter herbeizurufen, da sich
+die bisherigen, wie hier gedruckt stand, »durch abergläubischen
+Unsinn hätten bewegen lassen, seinen
+Dienst zu quittiren.«</p>
+
+<p>Es blieb jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen,
+daß die bisherigen Gerüchte nicht gelogen haben
+konnten, sondern etwas Wahres an der Sache sein
+müsse und die Aufregung der kleinen Gesellschaft
+wurde noch erhöht, als sich plötzlich herausstellte, daß
+sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten, das
+ihnen von dem, jetzt jedes andere Interesse verschlingenden
+Platz die genauesten und direktesten Nachrichten
+geben konnte.</p>
+
+<p>Es war das die Frau Präsident Cossel, eine schon
+ältliche Dame mit etwas rother Nase, aber einem sehr
+entschieden energischen Zug um den Mund. Die
+Dame hielt sich auch in der That nie bei Vermuthungen
+auf, sondern sprach stets was sie wußte oder nicht
+wußte auf das aller Bestimmteste aus. Widerspruch
+duldete sie nie und wenn man behauptet, daß die Haare
+den Charakter des Menschen darthun, so mochte das
+recht gut auch bei der Frau Präsidentin ihre Bestätigung
+<a class="pagenum" name="page_040" title="40"> </a>
+finden, denn eben so starr und fest gerollt
+wie die vier falschen Locken, die sie vorgebunden trug,
+war ihr Gemüth.</p>
+
+<p>»Es ist richtig &ndash; ich weiß es; es spukt drüben,«
+sagte sie, indem sie ihre Tasse zum vierten Mal zum
+Füllen reichte, und ihre schönen Zuhörerinnen zweifelten
+viel weniger an der, jetzt als unumstößlich festgestellten
+Thatsache, als daß sie sich wunderten, wie die
+Frau Präsidentin diesen doch sicher höchst interessanten
+Fall so lange still bei sich getragen und wirklich
+erst auf äußere Veranlassung von sich gegeben habe.</p>
+
+<p>Die Frau Präsidentin wohnte aber dem besagten
+Fabrikgebäude schräg gegenüber, und konnte also, als
+allernächste Nachbarin desselben &ndash; wenn irgend Jemand,
+Näheres darüber wissen. Die Neugier der
+Damen war &ndash; hierbei sehr verzeihlich &ndash; auf das
+Höchste gespannt.</p>
+
+<p>»Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!« &ndash;
+Gegen die <em class="gesperrt">Thatsache</em> war Nichts mehr einzuwenden,
+und es blieb jetzt nur noch übrig die Einzelheiten derselben
+zu erfahren. Die Frau Präsidentin wußte
+Alles.</p>
+
+<p>Die ersten Nächte waren die neu eingezogenen
+Leute vollkommen unbelästigt geblieben, nur zu bald
+aber brach plötzlich &ndash; und natürlich genau um Mitternacht
+<a class="pagenum" name="page_041" title="41"> </a>
+&ndash; ein donnerndes Getöse im ganzen Hause
+los, daß den Insassen das Haar auf dem Kopfe
+sträubte. Ketten klirrten über die Treppen, die Balken
+krachten, als ob furchtbare Gewichte darauf geworfen
+würden, die Thüren schlugen auf und zu, die Fenster
+klapperten &ndash; und das bei sternenheller Nacht und
+todter Windstille &ndash; und ein unheimlich flackernder
+Schein zuckte aus einer Stube in die andere durch
+das ganze Haus. Das Nämliche wiederholte sich in
+den folgenden Nächten, nur mit der Zugabe, daß den
+Schlafenden die Decken weggerissen wurden. Allerdings
+glaubten die Leute anfangs an einen Schabernack,
+den ihnen muthwillige Gesellen spielten, und
+um kein Aufsehen zu erregen, wurde die Polizei heimlich
+von dem Unfug in Kenntniß gesetzt und traf in
+einer der Nächte kurz vor zwölf Uhr dort ein, um die
+Urheber auf frischer That zu ertappen. Ja ihr Aufpassen
+half ihnen nichts, denn erwischen konnten sie
+Niemand, während gerade ihnen am tollsten mitgespielt
+wurde. Es schlug ihnen die Hüte vom Kopf
+und die Stöcke aus der Hand, und die Leute verließen
+&ndash; wie die Frau Präsidentin behauptete &ndash; in Entsetzen
+das Haus.</p>
+
+<p>Von <em class="gesperrt">der</em> Nacht an waren die übrigen Arbeiter
+aber auch nicht mehr zu halten, und obgleich der Fabrikherr
+<a class="pagenum" name="page_042" title="42"> </a>
+&ndash; aus leicht zu errathenden Gründen &ndash;
+ein tiefes Stillschweigen über alles Vorgefallene beobachtete,
+und die Leute selber sich ebenfalls schienen
+das Wort gegeben zu haben, nichts über die Sache
+verlauten zu lassen, war doch das allein der wahre
+Thatbestand.</p>
+
+<p>»Und woher es die Frau Präsidentin wußte?« &ndash;
+wie die etwas muthwillige Frau Hofräthin Janisch
+frug. &ndash; Die Dame blitzte sie zwischen den Locken
+hervor mit einem wahren Dolchblick an.</p>
+
+<p>»Woher ich das weiß, Frau Hofräthin?« wiederholte
+sie, und absichtlich mit etwas gehobener Stimme
+&ndash; »ich denke, ich habe meine Quellen &ndash; selbst wenn
+mein Mann nicht Präsident wäre, Sie wissen doch
+wohl &ndash; oder <em class="gesperrt">sollten</em> es wenigstens wissen, daß es
+zwischen Ehegatten kein Amtsgeheimniß giebt. &ndash;
+Aber noch mehr,« setzte sie plötzlich mit geheimnißvollem
+Ton hinzu, »Sie wissen doch, daß sich der
+junge Belldan gestern Morgen um's Leben gebracht
+hat?«</p>
+
+<p>»Ei gewiß,« sagte die Frau Kreisräthin Barthels,
+»das ist ja stadtbekannt. Er soll ein paar falsche
+Wechsel ausgestellt haben, und wie ihn sein Vater
+aus dem Hause stoßen wollte, ging er in das Holz
+und schoß sich eine Kugel durch den Kopf.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_043" title="43"> </a>
+»Bah,« sagte die Frau Präsidentin mit einer
+wegwerfenden Bewegung und ganz entschiedener
+Betonung der nächsten Worte, »der junge Mensch
+hat nie falsche Wechsel gemacht, aber aus Uebermuth
+die letzte Nacht in dem Spukhaus geschlafen und darnach
+&ndash; konnte er nicht länger leben.«</p>
+
+<p>Was er dort gesehen hatte vermochte die Frau
+freilich selber nicht zu sagen, aber schon die Andeutung
+war interressant genug, um eine weitere Besprechung
+derselben außer Frage zu stellen und das
+Gespräch, einmal in diese Bahn gelenkt, blieb nun
+natürlich in dem nämlichen Gleis und ging von dem
+Spukhaus auf Gespenstergeschichten und Erscheinungen
+im Allgemeinen über.</p>
+
+<p>Der Abend rückte dabei heran, aber die Gesellschaft
+protestirte von der kleinen lebhaften Hofräthin
+dabei warm unterstützt, gegen die Forderung der
+Präsidentin, Licht herbeizuschaffen. Es ging Nichts
+über eine solche Unterhaltung in der Dämmerung
+und als jetzt die Gaslaterne draußen auf der Straße
+angezündet wurde, und ein ordentlich unheimliches
+Streiflicht in das düstere Zimmer warf, rückten die
+Damen nur desto näher zusammen und die Frau
+Kreisräthin behauptete, es gäbe doch gar kein wonnigeres
+<a class="pagenum" name="page_044" title="44"> </a>
+Gefühl in der Welt, als »wenn es Einen so
+ein Bischen gruselte.«</p>
+
+<p>Nur Auguste, Bertlings Frau, hatte bis jetzt
+keinen Antheil an dem Gespräch genommen, als vielleicht
+hie oder da einmal eine Frage einzuwerfen,
+aber deshalb mit nicht weniger Aufmerksamkeit den
+verschiedenen Geschichten gelauscht, die bald von dieser
+bald von jener Dame zum Besten gegeben wurden
+und natürlich alle mit jener übersinnlichen Welt in
+Verbindung standen.</p>
+
+<p>In Alburg wurde auch noch das Tischklopfen und
+die Geisterschrift mit Hülfe einer besondern mit Bleistift
+verbundenen Vorrichtung leidenschaftlich getrieben
+und viele Damen beschäftigten sich heimlich damit
+&ndash; öffentlich durften sie es ja nicht, weil man das
+vollkommen Nutzlose dieser Experimente lange eingesehen
+hatte, und die auslachte, die es trotzdem noch
+ausübten. Eine Masse von Beispielen wurden jetzt
+von entzifferten Briefen, von Zahlen, Nachrichten Entfernter,
+Schutzgeistern und all derartigen Ergebnissen
+der Zauberkunst erwähnt, dann sprang das Gespräch
+auf Ahnungen, Doppelgänger, Erscheinungen über
+und die Frau Präsidentin erklärte mit ihrer gewöhnlichen
+Bestimmtheit &ndash; was die Thatsache außer allen
+Zweifel stellte, &ndash; daß ihr erster Mann &ndash; Gott habe
+<a class="pagenum" name="page_045" title="45"> </a>
+ihn selig &ndash; ihr zwei Mal schon erschienen sei: Das
+erste Mal als sie sich wieder verlobt habe. &ndash; Das
+zweite Mal bei &ndash; einer andern Gelegenheit &ndash; sie
+sagte nicht welcher &ndash; und beide Male in seinem grauen
+Schlafrock mit rothem Futter und hellblauen Quasten
+wie »der Selige« immer daheim gekleidet gewesen.</p>
+
+<p>Auguste lehnte schweigend in ihrem Fauteuil, anscheinend
+theilnahmlos, aber mit ihrem Geist in reger
+Thätigkeit, und vor ihrem innern Auge stieg die Gestalt
+wieder empor, die sie an jenem Abend gesehen
+hatte. &ndash; Aber sie erwähnte kein Wort davon; es war
+das ihr eigenes Geheimniß, und es kam ihr der Gedanke,
+als ob sie jenes Wesen erzürnen müsse, wenn
+sie sein Dasein einem andern Menschen verrathe. So
+ganz mit sich selber beschäftigte sie sich dabei, daß sie
+ordentlich erschrak, als die kleine Gesellschaft plötzlich
+aufbrach, um in ihre eigenen Wohnungen zurückzukehren.
+Es war sieben Uhr und damit Zeit geworden
+daheim den Herren Ehegatten das Abendbrot zu bereiten.
+Der <em class="gesperrt">Caffee</em> hatte überhaupt, durch solch Gespräch
+gewürzt, weit länger gedauert, als das sonst
+je der Fall gewesen.</p>
+
+<p>Die lebhafte Scene des Ankleidens und Abschiednehmens
+verdrängte jetzt auch bald all die düsteren Gedanken
+und Bilder, die den ganzen Abend über dem
+<a class="pagenum" name="page_046" title="46"> </a>
+kleinen Kreis geschwebt. Es war Licht gebracht, und
+die Meisten hatten schon lange den ganzen heraufbeschworenen
+Spuk vergessen, &ndash; Auguste nicht.</p>
+
+<p>Sie nahm Abschied von der Freundin und ging die
+wenigen Schritte nach ihrer eigenen Wohnung, kaum
+etwas mehr als über die Straße hinüber, &ndash; allein
+immer aber war ihr Geist noch mit jenem Traumbild
+beschäftigt, das ihr durch die Unterhaltung da drüben
+wieder in ihrer ganzen Schärfe vor der Seele stand.</p>
+
+<p>Still und schweigend stieg sie die Stufen hinan
+&ndash; die Vorsaalthür war offen &ndash; auf dem Vorsaal
+selbst brannte kein Licht, aber die Gasflamme der
+Treppe warf ihren Schein durch das über der Thür
+angebrachte Fenster. Sie wußte bestimmt, ihr Mann
+war jetzt zu Haus und in seiner Stube, wo er gewöhnlich
+bis zum Abendbrot allein arbeitete. Sie
+ging durch ihr eigenes Zimmer nach seiner Thür,
+öffnete dieselbe, stand einen Moment in sprachlosem
+Entsetzen auf der Schwelle und brach dann mit einem
+halblautem Schrei und ehe ihr Gatte zuspringen und
+sie halten konnte, bewußtlos in sich zusammen.</p>
+
+
+
+
+<h3>Drittes Capitel.<a class="pagenum" name="page_047" title="47"> </a><br />
+
+<b>Der unheimliche Besuch.</b></h3>
+
+
+<p>Der Justizrath war an dem Abend beschäftigt
+gewesen, eingelaufene Actenstücke durchzusehen und zu
+erledigen. Die Zeit verging ihm dabei so rasch, daß
+er die Abwesenheit seiner Frau &ndash; die er überdies bei
+Freund Janisch gut aufgehoben wußte, gar nicht
+bemerkte.</p>
+
+<p>Im Verlauf seiner Arbeit war er auch genöthigt
+gewesen ein paar Briefe zu schreiben, die noch vor sieben
+Uhr auf die Post mußten. Er hatte das Mädchen
+damit fortgeschickt und saß wieder über seinen Papieren
+als es draußen klingelte und er selber hingehen
+mußte, um zu öffnen.</p>
+
+<p>Draußen stand ein Fremder &ndash; anständig angezogen,
+ein kleiner schmächtiger Mann in dunkler Kleidung,
+der mit dem Hute in der Hand sehr bescheiden
+frug, ob er die Ehre habe den Herrn Justizrath Bertling
+zu sprechen.</p>
+
+<p>»Mein Name ist Bertling, was steht zu Ihren
+Diensten?«</p>
+
+<p>»Würden Sie mir gestatten ein paar Worte allein
+an Sie zu richten?« frug der kleine Mann, wie schüchtern,
+<a class="pagenum" name="page_048" title="48"> </a>
+und seine weiten, glänzenden Augen hafteten
+dabei fragend auf dem Justizrath.</p>
+
+<p>Diesem war die Störung eben nicht besonders
+gelegen, aber der Fremde sah so bescheiden und anspruchslos
+aus und seine Frage klang so dringend, daß
+er ihm die Bitte auch nicht abschlagen mochte.</p>
+
+<p>»Dann sein Sie so gut und kommen Sie mit in
+mein Zimmer,« sagte der Justizrath und ging seinem,
+etwas späten Besuch voran, ohne jedoch die Vorsaalthür
+wieder zuschließen.</p>
+
+<p>Im Studierzimmer Bertlings brannte die Lampe
+etwas düster, aber doch hell genug, um die Züge des
+Fremden ziemlich deutlich erkennen zu können. Er hatte
+eine hohe Stirn, von der er das schwarze schon dünn
+gewordene Haar zurückgestrichen trug, und ein paar
+große sprechende Augen, aber seine Züge sahen bleich
+und leidend aus; die Backenknochen traten auffallend
+hervor und in dem ganzen Wesen des Mannes lag
+etwas Scheues und Gedrücktes. Der Justizrath
+nöthigte ihn durch eine Bewegung mit der Hand auf
+das Sopha, aber der Fremde schien diese Ehre abzulehnen,
+denn er ließ sich auf dem nächsten Stuhl am Ofen
+nieder, und zwar seitwärts, um dem Justizrath sein
+Gesicht zuzukehren und dabei legte er den rechten Arm
+über die Lehne des nämlichen Stuhles.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_049" title="49"> </a>
+Bertling entging übrigens nicht, daß sich sein Besuch
+durch irgend etwas gedrückt fühlte, und theils
+aus angeborener Gutmüthigkeit, theils mit dem
+Wunsch die unwillkommene Störung so viel als möglich
+abzukürzen, sagte er freundlich:</p>
+
+<p>»Und mit was kann ich Ihnen dienen?«</p>
+
+<p>Der Fremde hatte noch keine Zeit zum Antworten
+gehabt, als nebenan eine Thür ging und da Bertling,
+der recht gut wußte, daß das Mädchen kaum von der
+Post zurück sein konnte, eben aufstehen wollte, um nachzusehen,
+wer da wäre, öffnete sich die Seitenthür &ndash;
+seine Frau stand auf der Schwelle, hob langsam den
+rechten Arm und brach dann, ohne weiter ein Wort,
+eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend, besinnungslos
+zusammen.</p>
+
+<p>In tödtlichem Schreck sprang ihr Gatte zu, hob
+ihren Kopf auf sein Knie, strich ihr in seiner Herzensangst
+die Stirn, rieb ihr die Schläfe und rief sie mit
+allen Liebesnamen, um sie zum Leben zurückzubringen.
+Als das aber Alles vergeblich blieb, hob er sie auf und
+trug sie auf ihr eigenes Sopha im nächsten Zimmer
+und sprang dann zurück nach der Lampe. Er wollte
+dabei den Fremden bitten, ihm sein Anliegen ein ander
+Mal vorzutragen, aber der Stuhl war leer &ndash; der
+Fremde fort &ndash; er hatte ihn gar nicht weggehen sehen,
+<a class="pagenum" name="page_050" title="50"> </a>
+aber auch jetzt wahrlich keine Zeit, sich weiter um ihn
+zu bekümmern. Er trug die Lampe hinüber und rieb
+Stirn und Schläfe seiner Frau mit Eau de Cologne.</p>
+
+<p>Glücklicher Weise kam auch jetzt das Mädchen,
+das recht frisches Wasser bringen mußte, und nach
+wenigen Minuten schlug Auguste die Augen wieder
+auf. Anfangs freilich schaute sie noch scheu und wie
+furchtsam umher, als sie sich aber in ihrem eigenen
+Zimmer fand, beruhigte sie sich bald und lehnte jetzt
+nur noch etwas bleich und erschöpft im Sopha.</p>
+
+<p>»Aber ich bitte Dich um Gottes Willen, liebes
+Kind, was hattest Du denn nur auf einmal« frug jetzt
+Bertling durch diese plötzliche Ohnmacht nicht wenig
+beunruhigt &ndash; »warst Du denn schon vorher unwohl?«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte die Frau leise, »mir fehlte gar
+nichts, aber &ndash; als ich in Dein Zimmer kam&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ich habe heut Nachmittag sehr viel geraucht,«
+ergänzte Bertling, »und der rasche Wechsel aus der
+frischen Luft in den Tabacksqualm hat vielleicht den
+Unfall herbeigerufen.«</p>
+
+<p>»Nein,« wiederholte die Frau mit dem Kopf schüttelnd,
+»das &ndash; das war es nicht &ndash; ich war vollkommen
+gesund &ndash; an den Tabacksgeruch bin ich ja auch
+<a class="pagenum" name="page_051" title="51"> </a>
+gewöhnt, aber &ndash; als ich in Dein Zimmer trat sah
+ich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber was denn mein süßes liebes Herz,« bat der
+Mann, »so sprich doch nur; Du ängstigt mich ja noch
+viel mehr durch Dein Schweigen. &ndash; Was sahst
+Du denn?«</p>
+
+<p>»Denselben grauen Mann,« hauchte die Frau mit
+kaum hörbarer Stimme »&ndash;&nbsp;den ich bei dem Sturm
+in Deinem Zimmer sah&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber liebes, liebes Kind,« bat der Mann erschreckt
+und zugleich beunruhigt, daß seine Frau jenes Traumbild,
+wie er im Stillen gehofft, nicht etwa vergessen
+habe, sondern noch voll und scharf im Gedächtniß
+trage &ndash; »sieh nur, was für einen tollen Streich Dir
+Deine Einbildungskraft gespielt hat. Das war ja
+doch kein Gespenst, was Du gesehen, sondern ein
+Mensch von Fleisch und Blut, der kurz vor Dir zu
+mir kam und mich zu sprechen wünschte.«</p>
+
+<p>»So hast Du ihn diesmal auch gesehen?« rief die
+Frau rasch und erschreckt.</p>
+
+<p>»Gewiß,« lächelte Bertling, »und er ist auch gar
+nicht wie ein Geist eingetreten, sondern hat draußen
+geklingelt und ich habe ihm selber die Vorsaalthür
+aufgemacht.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_052" title="52"> </a>
+»Und ist er <em class="gesperrt">noch</em> bei Dir?« rief die Frau, sich
+rasch im Sopha aufrichtend.</p>
+
+<p>»Nein,« lautete die Antwort &ndash; »wie Du ohnmächtig
+wurdest, muß er fortgegangen sein, denn als
+ich nach der Lampe zurücksprang, war er verschwunden.«</p>
+
+<p>»Verschwunden?«</p>
+
+<p>»Nun hoffentlich nicht in die Luft,« lachte Bertling,
+aber doch etwas verlegen, denn es fiel ihm jetzt
+auf einmal ein, daß der Fremde in seinem ganzen Wesen
+wirklich etwas Räthselhaftes gehabt habe, und
+dabei merkwürdig rasch aus dem Zimmer gewesen sei.
+Wie <em class="gesperrt">war</em> er nur hinausgekommen, denn er erinnerte
+sich nicht gesehen oder gehört zu haben, daß die Thür
+geöffnet wurde, was ihm doch kaum hätte entgehen
+können &ndash; »er &ndash; er wird fortgegangen sein, als er
+sah, daß ich mich nicht weiter mit ihm abgeben konnte.«</p>
+
+<p>Seine Frau erwiderte nichts darauf. Sie schaute
+eine ganze Weile sinnend vor sich nieder, endlich sagte
+sie leise:</p>
+
+<p>»Er saß auf dem nämlichen Stuhl, auf dem ich
+ihn damals gesehen habe &ndash; genau so wie in jener
+Nacht, mit dem rechten Arm auf der Lehne &ndash; er trug
+den nämlichen grauen Rock und sah eben so bleich aus
+und hatte dieselben großen geisterhaften Augen.«</p>
+
+<p>»Aber liebe, liebe Auguste« bat der Mann, jetzt
+<a class="pagenum" name="page_053" title="53"> </a>
+wirklich beunruhigt, »so gieb Dich doch nur nicht solch
+thörichten kindischen Gedanken hin, und mische nicht
+eine wirklich menschliche, wahrscheinlich sehr unbedeutende
+Persönlichkeit, mit Deinen Traumbildern zusammen.
+&ndash; Uebrigens,« setzte er rasch hinzu &ndash; »muß
+ihm ja auch die Rieke auf der Treppe begegnet sein,
+denn sie kam unmittelbar nach Dir &ndash; Rieke!« rief
+er dann zur Thür hinaus &ndash; »Rieke!«</p>
+
+<p>»Jawohl&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Kommen Sie einmal einen Augenblick herein.«</p>
+
+<p>Die Gerufene steckte den Kopf zur Thür herein.</p>
+
+<p>»Soll ich was?«</p>
+
+<p>»Wie Sie vorhin zurückkamen, ist Ihnen da Niemand
+im Haus begegnet?«</p>
+
+<p>»Doch, Herr Justizrath&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Nun siehst Du, liebes Kind &ndash; und wie sah er aus?«</p>
+
+<p>»Er!« sagte die Köchin etwas erstaunt &ndash; »es
+war die Heßbergern, dem Schuhmacher seine Frau
+von oben, die noch einmal unten in den Laden ging,
+um für ihren Mann Branntewein zu holen. Der
+kriegt Abends immer Durst, und sie trinkt dann auch
+mit.«</p>
+
+<p>»Unsinn,« brummte der Justizrath &ndash; »was geht
+<a class="pagenum" name="page_054" title="54"> </a>
+mich die Frau an &ndash; ich will wissen, ob Sie im Haus
+keinem <em class="gesperrt">Mann</em> begegnet sind?«</p>
+
+<p>»Einem Mann?«</p>
+
+<p>»Einem anständig gekleideten Herrn in einem
+grauen oder dunklen Rock, der hier oben bei mir war?«</p>
+
+<p>»Ich habe Niemanden gesehen,« sagte das Mädchen
+erstaunt mit dem Kopf schüttelnd »und so lange
+ich hier oben bin, ist auch Niemand fortgegangen, denn
+ich habe die Thür gleich hinter mir zugeriegelt und
+die Kette vorgehangen.«</p>
+
+<p>Die Frau nickte leise vor sich hin, Bertling aber,
+ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte Zeugenaussage
+veranlaßt, rief:</p>
+
+<p>»Nun, denn ist er <em class="gesperrt">vorher</em> gegangen; die Rieke
+kann ihm auch eigentlich gar nicht begegnet sein, denn
+er muß doch eine ganze Weile früher die Stube verlassen
+haben. So viel bleibt sicher, in den Boden
+hinein ist er nicht verschwunden &ndash; gehen Sie nur
+wieder an Ihre Arbeit Rieke &ndash; es ist gut&nbsp;&ndash;.«</p>
+
+<p>Die Rieke zog sich an das Heiligthum ihres Heerdes
+zurück, griff dort die Wassereimer auf und ging
+nach dem Brunnen hinunter, um frisches Wasser zu
+holen. Unten im Haus begegnet ihr des Schusters
+Frau und das Mädchen, mit dem eben bestandenen
+Examen noch im Kopf sagte zu dieser:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_055" title="55"> </a>
+»Haben <em class="gesperrt">Sie</em> denn vorhin einen Mann gesehen,
+Heßbergern, der von uns herunterkam, wie Sie aus
+dem Haus gingen?«</p>
+
+<p>»Ich? &ndash; nein,« sagte die Frau &ndash; »was für einen
+Mann?«</p>
+
+<p>»Ja ich weiß es auch nicht, er soll einen grauen
+Rock angehabt haben.«</p>
+
+<p>»Und was ist mit dem?«</p>
+
+<p>»Gott weiß es,« brummte die Rieke &ndash; »er muß auf
+einmal weggewesen sein und Niemand hat ihn fortgehen
+sehen, und jetzt glaub ich, ängstigt sich die Frau
+darüber und ist sogar ohnmächtig geworden. &ndash; Na
+Nichs für ungut« und damit schwenkte sie mit ihren
+Eimern zur Thür hinaus.</p>
+
+<p>Der Justizrath ging indessen ein paar Mal im
+Zimmer auf und ab, aber er dachte dabei nicht an den
+vollkommen gleichgültigen Fremden, sondern der Zustand
+seiner Frau beunruhigte ihn immer ernsthafter.
+So reizbar und erregt war sie noch nie gewesen, und
+während er geglaubt, daß sie all die alten Phantasieen
+längst und für immer vergessen hätte, fühlte er jetzt
+daß sie dieselben grade im Gegentheil still bei sich
+getragen und darüber vielleicht die ganze Zeit gebrütet
+habe. Wie um Gottes Willen konnte er ihr das
+nur aus dem Kopf bringen!</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_056" title="56"> </a>
+»Es ist doch merkwürdig« sagte die Frau endlich
+nach längerer Pause, »daß <em class="gesperrt">zwei</em> Personen denselben
+Gegenstand gesehen haben sollten.«</p>
+
+<p>»Gegenstand &ndash; Thorheit!« brummte aber der
+Justiz-Rath. »Thu' mir den einzigen Gefallen, liebes
+Kind, und sprich nicht von Gegenständen, wo es sich um
+eine einfache vollkommen gleichgültige Persönlichkeit
+handelt. Gedulde Dich nur eine kurze Zeit, der
+Mensch kommt wahrscheinlich morgen früh wieder zu
+mir, und dann erlaubst Du mir wohl, daß ich ihn Dir
+vorstellen darf&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Und bist Du wirklich überzeugt, daß es ein
+<em class="gesperrt">Mensch</em> war?«</p>
+
+<p>»Aber Auguste&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Hast Du ihn berührt?«</p>
+
+<p>»Ich? &ndash; hm ich kann mich nicht besinnen &ndash;
+es war auch keine Gelegenheit dazu da, denn einem
+fremden Menschen giebt man doch nicht gleich die
+Hand &ndash; aber er ist doch wie andere Sterbliche hereingekommen.«</p>
+
+<p>»Hat er sich selber die Thür aufgemacht?«</p>
+
+<p>Der Justizrath sann einen Augenblick nach &ndash;
+»Nein« sagte er dann, »das konnte er nicht, sie war ja
+verschlossen &ndash; aber er muß sie selber wieder aufgemacht
+<a class="pagenum" name="page_057" title="57"> </a>
+haben, um hinaus zu kommen; das wirst Du
+mir doch zugeben.«</p>
+
+<p>Auguste war aufgestanden, ging auf den Justizrath
+zu, legte ihren rechten Arm um seinen Nacken
+und ihr Haupt an seine Brust lehnend, sagte sie leise
+und bittend:</p>
+
+<p>»Sei nur nicht böse, Theodor, sieh ich kann ja
+Nichts dafür; und ich &ndash; mir möchte das Herz selber
+darüber brechen, aber &ndash; ich fühle es deutlich in mir,
+es ist eine Ahnung aus jener Welt, gegen die wir
+nicht ankämpfen können, mag sich der Verstand auch
+dawider sträuben wie er will. &ndash; Wenn mir der <em class="gesperrt">graue
+Mann</em> zum <em class="gesperrt">dritten</em> Mal erscheint &ndash; so <em class="gesperrt">sterb</em> ich.«</p>
+
+<p>»Auguste, ich bitte Dich um Gottes Willen« rief
+jetzt der Mann in Todesangst, indem er sie fest an sich
+preßte &ndash; »gieb nicht solchen furchtbaren Gedanken
+Raum. Sieh Kind, man hat ja Beispiele, daß Menschen
+nur allein einer solchen fixen Idee erlegen sind,
+wenn sie sich erst einmal in ihrem Geiste festgesetzt
+hatte. Erst war Trübsinn, dann Schwermuth die
+Folge und im Körper nahm Schwäche zu, je mehr
+jene Idee im Hirn seine verderblichen Wurzeln schlug.«</p>
+
+<p>»Aber Du sprichst immer von einer <em class="gesperrt">Idee</em>, Theodor,«
+sagte die Frau &ndash; »habe ich denn die Gestalt nicht
+<a class="pagenum" name="page_058" title="58"> </a>
+zwei Mal deutlich gesehen, so deutlich, wie ich Dich
+selber hier vor mir sehe?«</p>
+
+<p>»Das zweite Mal, ja, das gebe ich zu,« sagte der
+Mann in verzweifelter Resignation, und jetzt nur bemüht
+diese Phantasie durch Vernunftgründe zu bannen
+&ndash; »denn das unglückselige Menschenkind, das gerade
+in der Zeit zu mir kommen mußte &ndash; und ich wollte,
+Gott verzeih mir die Sünde, er hätte sonst was gethan
+&ndash; saß wirklich da. Aber das erste Mal, liebes gutes
+Herz <em class="gesperrt">mußt</em> Du mir doch zugeben, daß es nur das
+Spiegelbild einer Deiner Träume gewesen sein kann.«</p>
+
+<p>Die Frau antwortete nicht, schüttelte aber nur leise
+und kaum merklich mit dem Kopf.</p>
+
+<p>»Sieh, liebes Kind,« fuhr Bertling, der die Bewegung
+an seiner Schulter fühlte, fort: »Du wirst
+mir doch zugeben, daß ein Geist &ndash; wenn wir wirklich
+annehmen wollen, es <em class="gesperrt">gäbe</em> derartige Wesen, denen verstattet
+sei auf der Erde herumzuwandern und Unheil
+anzustiften &ndash; körperlos sein muß, also nur ein Hauch,
+verdichtete Luft höchstens. Was aber keinen Körper
+hat, kann man ja doch nicht sehen, wenigstens nicht mit
+<em class="gesperrt">unseren</em> Augen, die ja doch auch nur körperlich sind.«</p>
+
+<p>»Ich antworte Dir darauf durch ein anderes Beispiel,«
+sagte die Frau, sich von seiner Schulter emporrichtend.
+»Wir wissen doch, daß die Sterne am Himmel
+<a class="pagenum" name="page_059" title="59"> </a>
+stehen, aber trotzdem sieht sie das Menschenauge am
+Tag nicht, mag der Himmel so rein sein wie er will
+&ndash; aber man hat Vorrichtungen für das Auge, wodurch
+man sie doch erkennen kann, und warum sollte nicht
+das Auge einzelner Menschen so beschaffen sein, daß sie
+einzelne Dinge sehen können, die Anderen unsichtbar
+bleiben.«</p>
+
+<p>»Aber die Sterne sind auch <em class="gesperrt">Körper</em>, liebes Herz,
+und noch dazu ganz respectable.«</p>
+
+<p>»Du weichst mir aus,« rief die Frau, »und ich
+leugne, daß unser Auge nur allein für <em class="gesperrt">Körper</em> geschaffen
+ist. Der Schatten ist kein Körper und wir
+sehen ihn doch.«</p>
+
+<p>»Aber nur, wenn er auf einem Körper liegt, doch
+nie allein und selbständig in der Luft.«</p>
+
+<p>»Ich habe auch jene Gestalt nicht frei in der Luft
+gesehen,« sagte die Frau, die fest entschlossen schien,
+den einmal gefaßten Gedanken auch festzuhalten,
+»sondern vielleicht nur auf dem Hintergrund der
+Wand&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Du bringst mich noch zur Verzweiflung, Herz,
+mit Deinem Gespenst,« sagte Bertling, während ein
+tiefer Seufzer seine Brust hob &ndash; »wer Dir nur in
+aller Welt die tollen Gedanken in den Kopf gesetzt
+haben kann.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_060" title="60"> </a>
+»Und nennst Du eine feste, innige Ueberzeugung
+mit diesem Namen, Theodor?«</p>
+
+<p>»Meine liebe Auguste,« flehte der Mann dringend,
+»mißverstehe mich nicht. Ich will Dir ja bei Gott
+nicht wehe thun, aber wie in aller Welt soll ich Dich
+nur überzeugen, daß &ndash; daß Du Dich wirklich und
+wahrhaftig geirrt und ein körperliches Wesen mit
+einem geistigen in eine ganz unglückselige Verbindung
+bringst? &ndash; Aber das hätte Alles nichts zu sagen,
+Herz, denn von <em class="gesperrt">diesem</em> Irrthum hoff' ich Dich mit
+der Zeit zu überzeugen; nur <em class="gesperrt">Das</em> beunruhigt mich, und
+noch dazu in der peinlichsten Weise, daß sich bei Dir
+eine &ndash; ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll &ndash;
+eine solche unglückselige Idee festgesetzt hat, die Du
+für eine Ahnung nahen Todes hältst. Wenn Du mich
+nur ein ganz klein wenig liebst, so bekämpfe diesen Gedanken
+mit allen Kräften, und von dem Uebrigen
+fürchte ich Nichts für Dich. Willst Du mir das versprechen?«</p>
+
+<p>»Aber lieber Theodor,« fragte die Frau &ndash; »kann
+man denn eine <em class="gesperrt">Ueberzeugung</em> noch bekämpfen?«</p>
+
+<p>Der Mann seufzte recht aus voller Brust.
+Endlich sagte er:</p>
+
+<p>»Dagegen läßt sich nicht streiten, und wir können
+nur hoffen, daß der liebe Gott noch Alles zum Besten
+<a class="pagenum" name="page_061" title="61"> </a>
+wendet. Ich selber werde mir aber jetzt die größte
+Mühe geben, um Dir den Patron, der mich heute
+Abend mit seinem Besuch beehrte, als ein sehr körperliches
+Wesen vorzustellen, und wenn ich erst einmal
+<em class="gesperrt">eine</em> Flanke Deines Luftschlosses niedergerannt habe,
+dann hoffe ich auch mit dem Uebrigen fertig zu werden.
+Bis dahin bitte ich Dich nur um eins und das mußt
+Du mir versprechen: Dich nicht absichtlich trüben Gedanken
+hinzugeben, sondern sie, so viel das nur irgend
+in Deinen Kräften steht, zu bewältigen &ndash; das Uebrige
+findet sich dann. Thust Du mir den Gefallen?«</p>
+
+<p>»Von Herzen gern,« sagte die Frau seufzend, »ach
+Du weißt ja nicht, Theodor, wie furchtbar schmerzlich
+mir selber das Gefühl ist und ich will ja gern Alles
+thun um es zu ersticken.«</p>
+
+<p>»Dann wird auch noch Alles gut gehen, mein
+Kind,« erwiderte mit erleichtertem Herzen Bertling,
+indem er sie an sich zog und küßte &ndash; »und nun gilt
+es vor allen Dingen, meinen flüchtig gewordenen Besuch
+aufzutreiben, und da mir die Polizei zu Gebote
+steht, hoffe ich, daß das nicht so schwer sein soll.«</p>
+
+<p>»Ich fürchte, Du wirst ihn nicht finden,« sagte
+Auguste.</p>
+
+<p>»Das laß <em class="gesperrt">meine</em> Sorge sein,« lächelte ihr Mann
+&ndash; »und nun wollen wir Thee trinken.«</p>
+
+
+
+
+<h3>Viertes Capitel.<a class="pagenum" name="page_062" title="62"> </a><br />
+
+<b>Die Kartenschlägerin.</b></h3>
+
+
+<p>Bertling stand sonst nicht gern vor acht Uhr
+Morgens auf, und liebte es seinen Caffee im Bett zu
+trinken. Er gehörte auch zu den ruhigen Naturen, die
+sich durch kein Ereigniß, durch keine Sorge den Nachtschlaf
+rauben lassen, sondern Alles, was sie bedrücken
+oder quälen könnte, über Tag abmachen. Heute war
+er aber doch schon um sieben Uhr auf den Füßen und
+vollständig angezogen, und ging jetzt selber aus, um
+vor allen Dingen der Polizei eine genaue Personalbeschreibung
+seines gestrigen Besuches zu geben, wie
+ebenfalls eine gute Belohnung auf dessen Ausfindigmachung
+zu setzen. Natürlich durfte der Mann, wenn
+wirklich gefunden, durch Nichts belästigt werden; nur
+seinen Namen und seine Wohnung wollte er wissen,
+und ihn dann selber aufsuchen.</p>
+
+<p>Die Polizei entwickelte auch eine ganz besondere
+Thätigkeit, denn zehn Thaler waren nicht immer so
+leicht zu verdienen. Nach allen Seiten breiteten sich
+ihre Diener aus und hatten auch in der That schon
+den ersten Tag in den verschiedenen Revieren einige
+zwanzig Leute aufgetrieben, die der gegebenen Beschreibung
+<a class="pagenum" name="page_063" title="63"> </a>
+allenfalls entsprachen, den Justizrath aber
+in nicht geringe Verlegenheit setzten. Er bekam nämlich
+dadurch einige zwanzig Adressen von ihm völlig
+unbekannten Leuten, die in den verschiedensten Theilen
+der Stadt sämmtlich die 3te oder 4te Etage zu bewohnen
+schienen und wohl oder übel mußte er seine Wanderung
+danach beginnen, denn zu sich citiren konnte
+er sie natürlich nicht.</p>
+
+<p>Wie man sich denken kann, fand er auch die
+Hälfte von ihnen nicht einmal beim ersten Besuch zu
+Haus, und wenn er sie fand, sah er sich wieder und
+wieder getäuscht, denn der <em class="gesperrt">Rechte</em> war nicht unter
+ihnen. Vier Tage lang aber setzte er mit unverdrossener
+Mühe seine Versuche fort, immer aufs Neue
+getäuscht, aber immer auf's Neue hoffend, daß ihm
+der nächste Name den Gesuchten vorführen würde.</p>
+
+<p>Dabei hegte er noch immer den stillen Glauben,
+daß der Mann, der an jenem Abend jedenfalls etwas
+von ihm gewollt, vielleicht sogar von selber wiederkehren
+würde &ndash; aber er sah sich darin ebenso getäuscht,
+wie in seinen eigenen Versuchen ihn aufzufinden.
+Der räthselhafte Mensch schien wie in den
+Boden hinein verschwunden.</p>
+
+<p>Am Meisten beunruhigte ihn dabei seine Frau.
+Sie wußte recht gut, wen er die ganzen Tage über,
+<a class="pagenum" name="page_064" title="64"> </a>
+mit Vernachlässigung aller seiner nothwendigsten Geschäfte,
+gesucht habe; nie aber, wenn er körperlich ermattet
+und geistig abgespannt zum Mittags- oder
+Abendbrot heim kam, frug sie ihn nach dem Resultat
+seiner heutigen Suche &ndash; sie schien das schon vorher
+zu wissen, sondern nickte nur immer still und schweigend
+mit dem Kopf, als ob sie hätte sagen wollen:
+Es ist ja natürlich &ndash; wie kannst Du ein Wesen in
+der Stadt finden wollen, das gar nicht auf der Erde
+körperlich existirt &ndash; und dem Justizrath war es dann
+jedesmal, als ob er wie ein Maschinenwerk frisch
+aufgezogen wäre, und die Zeit gar nicht erwarten
+könne, in der er wieder anfinge zu laufen.</p>
+
+<p>Er war heute Nachmittag aber erst um vier Uhr
+fortgegangen, weil einige nothwendige Arbeiten erledigt
+werden <em class="gesperrt">mußten</em>, um sieben Uhr hatte er außerdem
+eine Sitzung und seiner Frau gesagt, daß er heute nicht
+vor neun Uhr nach Hause kommen könne &ndash; wäre er
+aber im Stande sich früher loszumachen, so thäte er es
+sicher. Dann ging er jedoch zu Janisch hinüber und bat
+die junge Frau, ob sie heute Nachmittag nicht ein wenig
+die Freundin besuchen könne. Sie sei heute so merkwürdig
+niedergeschlagen, und da er durch nothwendige
+Geschäfte abgehalten wäre, würde es ihm eine große
+Beruhigung sein, wenn sie ihr Gesellschaft leisten wollte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_065" title="65"> </a>
+Die stets heitere und freundliche Hofräthin versprach
+das von Herzen gern, ja meinte, sie hätte
+es sich heute sogar schon selber vorgenommen gehabt,
+Augusten aufzusuchen, da sie &ndash; einen Scherz vorhabe
+bei dem sie ihre Mitwirkung wünsche.</p>
+
+<p>»Sie sind ein Engel,« sagte der Justizrath mit
+einer, an ihm ganz ungewohnten Galanterie, denn
+durch die freundliche Zusage schien sich ihm eine Last
+vom Herzen zu wälzen, und vollständig versichert, daß
+seine Frau jetzt für den Nachmittag und Abend Zerstreuung
+und also keine Zeit habe, ihren trüben Gedanken
+nachzuhängen, ging er mit Ernst und gutem
+Willen auf's Neue an die undankbare Arbeit, eine
+unbestimmte Persönlichkeit, von der er weder Namen,
+Stand noch Wohnung wußte, in der ziemlich weitläufigen
+Stadt aufzusuchen.</p>
+
+<p>Die Hofräthin Janisch hielt indessen Wort; kaum
+eine halbe Stunde später war sie drüben bei der
+Freundin und hatte ihr so viel zu erzählen und plauderte
+dabei so liebenswürdig, daß Auguste das sonst so
+schwer auf ihr lastende Gefühl endlich ganz vergessen
+zu haben schien. Bertling würde seine herzinnige
+Freude daran gehabt haben, wenn er sie in dieser
+Zeit hätte sehen können.</p>
+
+<p>Indessen war die Dämmerung hereingebrochen.
+<a class="pagenum" name="page_066" title="66"> </a>
+Eben aber wie Licht gebracht werden sollte, sagte
+Pauline:</p>
+
+<p>»Hör einmal, liebes Herz, ich &ndash; ich habe etwas
+vor, bei dem Du mir helfen sollst &ndash; willst Du? &ndash;
+es ist nur ein Scherz.«</p>
+
+<p>»Von Herzen gern, was ist es?«</p>
+
+<p>»In Eurem Hause wohnt eine Frau &ndash; nun wie
+heißt sie doch gleich &ndash; eine Frau Heßling oder&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Heßberger? Das ist die Schuhmachers Frau,
+gleich über uns. Meinst Du die?«</p>
+
+<p>»Ganz recht. Ihr Mann arbeitet für uns und
+die Frau &ndash; aber Du darfst mich nicht auslachen,
+Schatz &ndash; die Frau soll ganz vortrefflich Karten
+schlagen können.«</p>
+
+<p>Auguste lächelte. »Ich habe auch schon davon
+gehört,« nickte sie leise vor sich hin, »und der Mann
+hat dabei die komische Eigenschaft, daß er das für eine
+Kunst des Teufels hält, es der Frau aber doch nicht
+verbietet, weil sie Geld damit verdient. Um aber
+das Unheil abzuwenden, das dadurch auf ihn fallen
+könnte, singt er jedes Mal, so lange die Frau mit solch
+unheiliger Beschäftigung hantirt, im Nebenzimmer
+und mit lauter Stimme geistliche Lieder, die in der
+Nähe schauerlich klingen müssen, denn schon aus der
+<a class="pagenum" name="page_067" title="67"> </a>
+oberen Etage herunter haben sie uns oft zur Verzweiflung
+getrieben. Bei Gewittern macht er es ebenso.«</p>
+
+<p>»Das stimmt Alles,« lächelte Pauline, »und jetzt
+wollte ich Dir nur mittheilen, Schatz, daß ich gesonnen
+bin, Dich diesen musikalischen Ohrenschmaus ganz in
+der Nähe genießen zu lassen.«</p>
+
+<p>»Mich,« frug Auguste erstaunt &ndash; »was hast Du
+denn vor?«</p>
+
+<p>»Nichts weniger« lachte Pauline, »als mir von
+Frau Heßberger heute Abend die Karten legen zu
+lassen und in dem dunklen Buche des Schicksals zu
+lesen, während ihr Gatte durch ein paar passende
+oder unpassende Gesangbuchverse die bösen Geister
+fern hält.«</p>
+
+<p>»Aber Pauline&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Und Du sollst mich begleiten,« rief diese muthwillig
+&ndash; »ich will mich nicht umsonst schon die ganze
+Woche darauf gefreut haben.«</p>
+
+<p>Auguste schüttelte nachdenkend mit dem Kopf &ndash;
+es war ihr nicht ganz recht; die Aufforderung kam ihr
+aber auch so unerwartet und plötzlich, daß sie nicht
+gleich einen richtigen Grund wußte, sie abzulehnen.</p>
+
+<p>»Man soll doch eigentlich nicht mit den Geheimnissen
+der Zukunft sein Spiel treiben« sagte sie endlich
+leise.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_068" title="68"> </a>
+»Aber Herzensschatz,« lachte Pauline, »Du
+glaubst doch nicht etwa, daß Frau Heßberger, die den
+ganzen Tag über Schuhe einfaßt, oder ihrem Gatten
+den Pechdrath zu seiner Arbeit zurecht macht, Abends
+eine wirkliche Sybille würde und mehr von den Geheimnissen
+der Zukunft errathen könnte, als wir anderen armen
+Sterblichen auch?«</p>
+
+<p>»Wozu dann aber einen solchen Versuch machen?«</p>
+
+<p>»Verstehst Du denn keinen Spaß?« lachte Pauline
+&ndash; »ich freue mich wie ein Kind darauf, ihre geheimnißvollen
+Zubereitungen zu sehen und die Orakelsprüche,
+während ihr Gatte den Teufel fern hält, &ndash;
+aus ihrem Munde zu hören. So was erlebt man doch
+nicht alle Tage, und bequemer wie wir es von hier aus
+haben, bekommt man es auch sobald nicht wieder.«</p>
+
+<p>»Aber was sollen die Leute dazu sagen, wenn wir
+hinauf zu der Frau gehen?«</p>
+
+<p>»Und wer braucht es zu erfahren? &ndash; Deine Rieke
+schickst Du ein paar Wege in die Stadt, wobei sie
+immer so viel für sich selber zu besorgen hat, daß sie
+doch vor einer Stunde nicht wieder kommt, und in
+der Hälfte der Zeit haben wir unseren Besuch gemacht.«</p>
+
+<p>»Und wenn die Frau selber darüber plaudert?«</p>
+
+<p>»Das thun derartige Leute nie, denn sie wissen,
+<a class="pagenum" name="page_069" title="69"> </a>
+daß sie sich dadurch ihre ganze Kundschaft vertreiben
+würden. Wo es aber ihren eigenen Nutzen betrifft,
+sind solche Menschen klug genug. Thu mirs nur zu
+Gefallen, Auguste; ich habe mich schon so lange darauf
+gefreut und kann doch nicht gut allein hinauf gehen.«</p>
+
+<p>»Wenn es mein Mann erfahren sollte, würde er
+böse darüber werden &ndash; ich kenne Bertling.«</p>
+
+<p>»Lachen wird er,« rief Pauline »wenn wir ihm
+nachher die ganze Geschichte erzählen &ndash; es giebt ja
+doch einen Hauptspaß und Du darfst ihn mir nicht
+verderben. Außerdem brauchst Du Dir ja auch gar
+Nichts prophezeihen zu lassen, wenn Du irgend glaubst,
+daß es Deinem Mann &ndash; den ich übrigens für vernünftiger
+halte &ndash; fatal sein könnte. Du gehst nur als
+Ehrendame mit, setzest Dich ruhig auf einen Stuhl
+&ndash; oder wenn der nicht da sein sollte, auf einen
+Schusterschemel und hörst zu.«</p>
+
+<p>Auguste lächelte still vor sich hin, als sie sich das
+Bild im Geist herauf beschwor, die muntere Freundin
+ließ auch mit Bitten nicht nach, und wußte alle ihre
+Bedenken so geschickt und mit solchem Humor zu beseitigen,
+daß sie sich endlich nicht länger weigern konnte
+und mochte, und Pauline sprang jetzt, fröhlich in die
+Hände schlagend ordentlich wie ein Kind, das ein
+neues Spielzeug bekommen hat, in der Stube herum.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_070" title="70"> </a>
+Ein Auftrag für Rieke, um diese zu entfernen,
+war bald gefunden und kaum sahen sie das Mädchen
+über die Straße gehen, als die beiden Frauen
+ihre Tücher umhingen und in die dritte Etage hinanstiegen.</p>
+
+<p>Nach der Frau Heßberger aber brauchten sie nicht
+lange zu fragen, denn gleich rechts von der Treppe
+war die enge, dunkle Küche, in der die Dame eben
+beschäftigt schien die Abendsuppe anzurichten. Eine
+gewöhnliche Küchenlampe verbreitete ein mattes trübes
+Licht in dem niederen, eben nicht besonders sauber gehaltenen
+Raum, in den aber des Schusters Frau
+ganz vortrefflich hineinpaßte und sich auch wohl darin
+zu fühlen schien.</p>
+
+<p>Wie sie die leichten Schritte auf der Treppe hörte,
+nahm sie aber mit der Rechten, während die Linke
+noch immer in der Suppe rührte, die Lampe auf und
+hielt sie über den Kopf, um darunter hinweg besser erkennen
+zu können, wer der fremde Besuch sei. &ndash; Unerwartet
+kam er ihr ja überhaupt nicht, denn es geschah
+gar nicht etwa so selten, daß sie von den verschiedensten
+Damen der Stadt und zwar von Damen
+<em class="gesperrt">jeden</em> Ranges in der Gesellschaft, gerade um diese
+Zeit des Abends, oder auch noch später, aufgesucht und
+mit ihrer Kunst in Anspruch genommen wurde &ndash; und
+<a class="pagenum" name="page_071" title="71"> </a>
+sie verdiente mehr damit wie ihr Mann, trotz allem
+Fleiß, mit Ahle und Draht.</p>
+
+<p>Auguste schämte sich fast ein wenig des Besuchs
+und hielt sich noch immer scheu zurück, ihre keckere
+Freundin aber, die überhaupt die Leitung des Ganzen
+übernommen hatte, trat auf die Frau zu und wollte
+eben ihr Anliegen vortragen, als die Kartenschlägerin
+sie jeder Ansprache überhob, indem sie mit einer
+Höflichkeitsbewegung, die als ein Mittelding zwischen
+Knix und Verbeugung gelten konnte, sagte:</p>
+
+<p>»Nun, da kommen Sie ja doch noch, Frau Hofräthin;
+habe Sie schon eine halbe Stunde erwartet,
+und dachte beinah es wäre etwas dazwischen gekommen.
+Bitte treten Sie näher Frau Justizräthin
+&ndash; freut mich ja recht sehr, Sie auch einmal oben bei
+mir zu sehen.«</p>
+
+<p>Auguste erschrak beinahe, denn sie stand noch in
+dem halbdüsteren Vorsaal und zum Theil von der
+Freundin gedeckt, Pauline aber wandte ihr halblachend
+den Kopf zu und sagte dann:</p>
+
+<p>»Schön, meine liebe Frau Heßberger, daß Sie
+uns erwartet haben; dann ist wohl auch bei Ihnen
+Alles hergerichtet?«</p>
+
+<p>»Alles, beste Frau Hofräthin, Alles,« erwiderte
+aber Frau Heßberger, ohne sich außer Fassung bringen
+<a class="pagenum" name="page_072" title="72"> </a>
+zu lassen. »Das versteht sich doch aber auch von selbst,
+wenn man so vornehmen Besuch erhofft; die Stühle
+sind schon zum Tisch gerückt; habe weiter nichts drin
+zu thun, wie nur die Lichter anzuzünden.«</p>
+
+<p>Pauline wurde selber ein wenig stutzig, die Frau
+ließ ihr aber keine Zeit zu weiteren Fragen und nur
+mit den Worten: »Erlauben Sie, daß ich vorangehe«
+&ndash; öffnete sie die Thür zur Werkstätte, in welcher ihr
+Gatte und ein Lehrjunge hinter ein paar erleuchteten
+Glaskugeln arbeiteten.</p>
+
+<p>Der alte Heßberger, eine kleine untersetzte Gestalt
+mit einer schwarzen, Gott weiß wie alten, fettglänzenden
+Mütze und eine Brille auf, kauerte auf seinem
+Schemel und schaute, als sich die Thür öffnete, von
+seiner Arbeit gar nicht auf. Mürrisch sah er vor sich
+nieder, und machte auch nicht den geringsten Versuch
+selbst zu irgend einer Art von Gruß. Der Besuch
+galt nicht ihm, so viel wußte er recht gut, weshalb
+also brauchte er sich darum zu kümmern.</p>
+
+<p>Auch selbst der Lehrjunge warf nur einen raschen
+und scheuen Blick nach den Damen hinüber, denn der
+gegenüber sitzende Meister beobachtete ihn über die
+Brille weg dann und wann, und ein, auf dem offenen
+Gesangbuch dicht neben ihm liegender Knieriem
+mochte wohl eine versuchte Neugier von seiner Seite
+<a class="pagenum" name="page_073" title="73"> </a>
+schon manchmal auf frischer That ertappt und bestraft
+haben.</p>
+
+<p>Es ist möglich, daß das mürrische Temperament
+des Alten die einzige Ursache dieser Gleichgültigkeit
+war, viel wahrscheinlicher aber, daß er es eher aus
+Rücksichten für den Besuch selber unterließ, von diesem
+die geringste Notiz zu nehmen, oder nehmen zu lassen,
+denn er wußte recht gut, daß die Damen, die solcher
+Art bei Nacht und Nebel zu seiner Frau kamen, nicht
+erkannt und am Liebsten gar nicht gesehen sein
+wollten &ndash; warum ihnen also nicht darin willfahren,
+da sie doch immer gut bezahlten.</p>
+
+<p>Die Frau bog indessen rasch zwischen einem Haufen
+der verschiedensten Leisten und Lederstücke und dem
+Ofen hindurch nach der dort befindlichen Thür, öffnete
+diese und entzündete zwei auf dem mit einer alten verwaschenen
+Caffeeserviette bedeckten Tisch stehende Talglichter;
+Auguste und Pauline waren ihr indeß gefolgt,
+und ehe sie die Thür hinter ihnen schloß, rief sie nur
+noch dem Lehrjungen zu, die Suppe für den Meister
+herein zu holen und drehte dann den Schlüssel im
+Schloß um.</p>
+
+<p>Pauline, während ihre Freundin kaum aufzuschauen
+wagte, sah sich indessen in dem kleinen Gemach um,
+das allerdings nicht glänzend genannt werden konnte,
+<a class="pagenum" name="page_074" title="74"> </a>
+aber doch sehr zu seinem Vortheil gegen Küche und
+Werkstätte abstach.</p>
+
+<p>Es war ein nicht sehr großes Gemach, das allem
+Anschein nach zum Wohn- und Schlafzimmer der
+Eheleute diente. Zwei Betten standen &ndash; Fuß-
+und Kopfende an der einen Wand, durch nichts als
+ein paar alte Decken von buntem Kattun verhüllt.
+An den Fenstern hingen aber Gardinen, ja standen sogar
+zwei Blumentöpfe mit den ersten Kindern des
+Frühlings, Primeln und Hyacinthen, und an beiden
+Seiten des kleinen Spiegels, aus dem eine Ecke fehlte,
+waren ein paar schauerliche Oelgemälde angebracht,
+die jedenfalls »Herrn und Madame Heßberger« im
+Sonntagsstaat &ndash; vielleicht als junge Eheleute darstellen
+sollten. Waren sie indessen mit der Zeit so
+nachgedunkelt, oder verhüllte die jetzige Düsterheit des
+Gemachs ihre vielleicht sonst sichtbaren Umrisse: in
+diesem Augenblick ließ sich auf dem einen Bilde Nichts
+als die Contour eines Kopfes und ein riesiges Jabot
+erkennen, während auf dem anderen nur die weit ausflügelnde
+Haube der Frau und eine Hand sichtbar blieb,
+in der sie ein weißes Taschentuch emporhielt.</p>
+
+<p>Unter dem Spiegel hingen noch ein paar Silhouetten
+in unkennbaren Formen.</p>
+
+<p>Daß die Frau übrigens auf einen Besuch vorbereitet
+<a class="pagenum" name="page_075" title="75"> </a>
+gewesen, wenn sie das überhaupt nicht jeden
+Abend war, zeigte in der That die ganze Vorrichtung
+des Tisches neben dem für die beiden Gäste zwei gepolsterte
+Stühle mit altmodischen hohen Lehnen standen
+und auf diese nöthigte auch die Frau Heßberger ihren
+Besuch und sagte freundlich:</p>
+
+<p>»Setzen Sie sich, meine Damen, Sie brauchen
+mir gar Nichts vorher zu sagen, ich weiß schon ohnedies
+weshalb Sie hergekommen sind &ndash; bitte nehmen
+Sie Platz, und wir wollen dann gleich einmal versuchen
+ob ich Ihnen helfen kann.«</p>
+
+<p>»Und wissen Sie wirklich was ich Sie fragen will,
+Frau Heßberger?« frug Pauline, die in dem Augenblick
+doch etwas von ihrer vorherigen Ausgelassenheit
+verloren zu haben schien.</p>
+
+<p>»Warum sollt ich nicht, Frau Hofräthin, warum
+sollt ich nicht und wie könnte ich mich unterfangen
+Zukünftiges voraus zu sagen, wenn ich nicht das Vergangene
+und wirklich Geschehene wüßte&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber ich begreife nur nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Lieber Gott« sagte des Schusters Frau, mit
+einem frommen Blick nach oben, »wir begreifen
+Manches nicht auf dieser Welt, Frau Hofräthin, und
+leben in unserer Unschuld so in den Tag hinein. &ndash;
+Wenn man aber ein Bischen tiefer sehen lernt, Frau
+<a class="pagenum" name="page_076" title="76"> </a>
+Hofräthin, dann bekommt man eine andere Meinung
+von der Sache &ndash; Gottes Wege sind wunderbar.«</p>
+
+<p>Es war ordentlich als ob das das Stichwort für
+ihren Gatten im Nebenzimmer gewesen wäre, denn in
+demselben Moment begann er mit seinem schauerlich
+näselnden Ton, das gewöhnliche Präservativmittel
+gegen den bösen Feind und dessen Einwirkungen,
+irgend ein endloses Lied aus dem Gesangbuch. Der
+würdevolle Vortrag wurde aber heute leider durch
+etwas gestört; der Schuhmacher hatte nämlich noch
+keine Zeit bekommen, um seine Suppe zu essen, und
+daß er Beides mit einander zu verbinden suchte, that
+dem Einen Eintrag und ließ ihn das Andere nicht
+recht genießen &ndash; aber es mußte eben gehen.</p>
+
+<p>Die Frau, ohne auf den plötzlichen Gesangsausbruch
+auch nur im Mindesten zu achten, holte indessen
+von dem kleinen Tisch unter dem Spiegel, auf dem
+einige vergoldete Tassen, zwei blaue Glasvasen mit
+Schilfblüthen und ein paar grell bemalte Gypsfiguren
+standen, ein Spiel ziemlich oft gebrauchter
+Karten, mit denen sie sich in einer Art von geschäftsmäßiger
+Eile auf einen hohen Rohrschemel setzte und
+dabei links und rechts auf die Lehnstühle wieß, um
+die Damen dadurch einzuladen Platz zu nehmen.</p>
+
+<p>Pauline hatte im Stillen gehofft in dem Zimmer
+<a class="pagenum" name="page_077" title="77"> </a>
+der Kartenprophetin eine Menge wunderbarer und
+unheimlicher Dinge zu finden, die mit ihrer Kunst in
+Verbindung standen &ndash; einen schwarzen Kater z.&nbsp;B.
+der schnurrend neben der Wahrsagerin saß und auf ihre
+Worte horchte &ndash; düstere Tapeten vielleicht und einen
+Todtenkopf von magischen Zeichen umgeben. Aber
+von alledem zeigte sich nichts, denn der bunt gemalte
+Gipspapagei und Napoleon&nbsp;I., die auf dem Tisch
+unter dem Spiegel standen und sich &ndash; beide von einer
+Größe &ndash; einander starr ansahen, konnten doch wahrlich
+nicht als derartige Symbole gelten. Das ganze
+Zimmer zeigte überhaupt Nichts, was nicht auch in
+der Wohnung jedes anderen Handwerkers zu finden
+gewesen wäre &ndash; die Karten selber vielleicht ausgenommen.</p>
+
+<p>Die Aufmerksamkeit der kleinen lebendigen Frau
+wurde aber bald ausschließlich auf die Karten gelenkt,
+denn die Frau Heßberger begann jetzt in feierlicher
+Weise sie zu mischen, und dazu tönte der, nur zeitweise
+von der Suppe unterbrochene Gesang des Schusters
+dazwischen &ndash; und wie laut die alte Schwarzwälder
+Uhr an der Wand da mit hinein tickte.</p>
+
+<p>Endlich war das Spiel gehörig vorbereitet und die
+Frau sagte plötzlich, indem sie die Karten der rechts
+von ihr sitzenden Hofräthin zum Abheben hinlegte:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_078" title="78"> </a>
+»Also Sie wollen vor allen Dingen wissen, meine
+verehrte Frau Hofräthin, ob Sie etwas Gestohlenes
+wieder bekommen werden und &ndash; wo der Dieb zu
+suchen ist.«</p>
+
+<p>»Das allerdings« lächelte die kleine Frau &ndash; »aber
+es wird doch wohl nöthig sein zu sagen was es ist.«</p>
+
+<p>»Das sehen wir ja aus den bunten Blättern« erwiderte
+ruhig die Kartenschlägerin.</p>
+
+<p>»In der That?«</p>
+
+<p>Die Frau antwortete nicht mehr; sie legte in der
+gewöhnlichen Weise ihre Karten auf den Tisch und
+während sie sich mit den gerade nicht überreinlichen
+Fingern der rechten Hand das Kinn strich, betrachtete
+sie die Kombination der verschiedenen Blätter mit
+leisem und prüfendem Kopfnicken.</p>
+
+<p>Augustens und Paulinens Blicke hafteten jetzt
+wirklich mit Spannung auf den Zügen der Alten, die
+aber ihre Gegenwart ganz vergessen zu haben schien,
+wie sie selber auch in diesem Augenblick gar nicht
+mehr das schauerliche Lied des Schuhmachers in der
+nächsten Stube hörten.</p>
+
+<p>Endlich brach die Alte das Schweigen und sagte:</p>
+
+<p>»Jawohl &ndash; ich hab es mir gleich gedacht &ndash; das
+kann nur ein Hausdieb sein &ndash; aus dem Secretair
+heraus&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_079" title="79"> </a>
+»Hat sie Recht?« frug Auguste nur mit einem
+Blick über den Tisch hinüber die Freundin und diese
+nickte ihr halbverstohlen zu.</p>
+
+<p>»Nur ein Hausdieb &ndash; aber er hat es schlau angefangen
+&ndash; da die Treff Sieben mit der Caro sechs,
+die den Coeur Buben in der Mitte haben &ndash;&nbsp;&ndash; aber
+der Bube selber war es nicht, doch hat er es fortgetragen
+und es wird nie wieder zum Vorschein kommen&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ja aber beste Frau Heßberger,« sagte Pauline
+mit einem schelmischen Blick auf die Künstlerin &ndash;
+»daß es Jemand fortgetragen hat, wußte ich schon vorher,
+und jetzt möchte ich nur erfahren <em class="gesperrt">wer</em>; dann ist
+es doch vielleicht möglich dem gestohlenen Gegenstand
+auf die Spur zu kommen.«</p>
+
+<p>»Nicht so leicht,« sagte die Frau kopfschüttelnd &ndash;
+»da liegt es, die Caro zehn sagt es deutlich &ndash; ein
+Corallen-Halsband mit goldenem Schloß &ndash; das ist
+leicht versteckt. &ndash; Aber der Dieb hat seine Spuren
+zurückgelassen &ndash; da gehen sie Treff zwei, Pike zwei,
+Treff vier, Pike vier, &ndash; deutlich hin zu der Pike-Dame
+&ndash; ich sehe ein Mädchen mit grünem Band auf der
+Haube, die etwas in die Taschen steckt und dann langsam
+die Straße hinunter geht.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»In den Karten?«</p>
+
+<p>»Dort unten an der Ecke trifft sie mit dem Coeurbuben
+<a class="pagenum" name="page_080" title="80"> </a>
+zusammen &ndash; aber den kann ich nicht deutlich
+erkennen,« fuhr die Frau fort, ohne den Einwurf zu
+beantworten. »Er ist zu weit entfernt.«</p>
+
+<p>»Also die Pike-Dame mit dem grünen Band auf
+der Haube,« nickte Pauline lächelnd, »da wäre schon
+eine ziemlich deutliche Spur gefunden, denn ich kenne
+eine junge Dame, die ein grünes Band auf der Haube
+trägt. &ndash; Wenn wir nur den Coeur Buben ausfindig
+machen könnten, dem sie das Gestohlene gegeben hat.«</p>
+
+<p>»Das ist nicht so leicht,« sagte die Kartenschlägerin,
+die ihre Blätter indessen aufmerksam betrachtet hatte
+&ndash; »hier zieht sich eine lange Linie von Treff
+und Pike zwischen ihm und Ihrer Karte durch, Frau
+Hofräthin. &ndash; Er kann nur durch die Pike-Dame mit
+dem grünen Band ermittelt werden.«</p>
+
+<p>»Der Wink ist deutlich genug, und ich werde ihn
+befolgen,« lächelte die Hofräthin &ndash; »herzlichen Dank
+Frau Heßberger &ndash; Sie haben mir gezeigt, daß Sie
+in Ihrer Kunst Meisterin sind« und dabei drückte sie
+der geschmeichelten Schusters Frau einen harten Thaler
+in die Hand.</p>
+
+<p>»Und soll ich Ihnen auch sagen, was Sie wissen
+möchten, Frau Justizräthin?« wandte sich die Kartenkünstlerin
+jetzt an Auguste, die ein wohl aufmerksamer,
+aber bis dahin doch theilnahmloser Zuschauer des
+<a class="pagenum" name="page_081" title="81"> </a>
+Ganzen gewesen war. Sie hatte dabei die über den
+Tisch gelegten Karten wieder zusammengerafft und
+fing von Neuem an zu mischen.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen sehr,« sagte aber Auguste, fast
+ängstlich, »ich &ndash; ich habe meine Freundin nur
+begleitet.«</p>
+
+<p>»Und doch liegt Ihnen etwas auf dem Herzen,
+Kind, was Sie um Alles in der Welt davon herunter
+haben möchten,« fuhr die Frau geschwätzig fort, ohne
+sich irre machen zu lassen. &ndash; »Da heben Sie nur einmal
+ab, die alte Heßbergern weiß oft mehr, als andere
+Leute zu glauben scheinen.«</p>
+
+<p>Augusten war es, als ob ihr Jemand einen Stich
+ins Herz gegeben. &ndash; Oh, wohl lag ihr etwas auf dem
+Herzen &ndash; aber was wußte die Frau davon &ndash; was
+<em class="gesperrt">konnte</em> sie davon wissen.</p>
+
+<p>»Heben Sie nur ab, Frau Justizräthin,« drängte
+die Alte »&ndash;&nbsp;es ist ja nichts Unrechtes, was man damit
+thut. &ndash; Was wir vom Schicksal nicht erfahren
+<em class="gesperrt">sollen</em>, erfahren wir doch nicht, so viel Mühe wir uns
+auch damit geben.«</p>
+
+<p>»So thu ihr doch den Willen,« lächelte Pauline &ndash;
+»oder soll ich für Dich abheben?«</p>
+
+<p>»Nein, das muß die Frau Justizräthin selber thun,«
+wandte aber die Frau ein; »sonst bekommen wir nachher
+<a class="pagenum" name="page_082" title="82"> </a>
+Confusion. So ists recht &ndash; danke Ihnen Madamchen;
+nun wollen wir gleich einmal sehen, ob wir
+Ihnen nicht helfen können« und in der alten Weise
+die Karten auslegend, bedeckte Sie mit ihnen den Tisch,
+schüttelte dabei aber, wie über die Reihenfolge erstaunt,
+langsam mit dem Kopf.</p>
+
+<p>Auguste hatte fast willenlos ihren Wunsch befolgt,
+aber das Herz schlug ihr dabei so fieberhaft, die Brust
+war ihr so beengt, sie hätte jetzt Gott weiß was darum
+gegeben, nur von hier fort zu sein.</p>
+
+<p>»Hm, hm, hm, hm« murmelte da die Alte vor sich
+hin, indem sie die Karten prüfend betrachtete und immer
+stärker dazu mit dem Kopf schüttelte, »das ist ja
+eine ganz wunderliche Geschichte &ndash; da geht Ihr Lebensfaden
+so glatt durch das halbe Spiel, und da
+kommt auf einmal ein fremder Mann mit einem
+grauen Rock dazwischen&nbsp;&ndash;.«</p>
+
+<p>Auguste wollte sich krampfhaft von ihrem Stuhl
+heben, aber sie vermochte es nicht &ndash; willenlos brach
+sie zurück; Pauline jedoch bemerkte zu ihrem Schrecken,
+daß Leichenblässe ihre Züge deckte, und sie kaum im
+Stande war, sich noch aufrecht zu halten. Pauline
+behielt auch in der That nur eben noch Zeit zuzuspringen
+und sie zu halten, sonst wäre sie unfehlbar von
+ihrem Stuhl herabgestürzt. Trotzdem wurde sie nicht
+<a class="pagenum" name="page_083" title="83"> </a>
+ohnmächtig; es schien nur als ob eine plötzliche
+Schwäche über sie gekommen sei und sie bat mit leiser
+Stimme um ein Glas Wasser. Darnach fühlte sie
+sich etwas gestärkt, aber jetzt bestand Pauline wieder
+darauf, daß sie des Schuhmachers Wohnung augenblicklich
+verließen &ndash; machte sie sich doch längst schon
+insgeheim Vorwürfe darüber, die Freundin überredet
+zu haben, sie hier herauf zu begleiten.</p>
+
+<p>»Fühlst Du Dich stark genug Herz, mit mir fortzugehen?«
+frug sie leise, indem sie ihren Arm um
+Augusten legte.</p>
+
+<p>»Ja, ja,« rief diese rasch und heftig, indem sie sich
+ohne Hülfe aufrichtete &ndash; »komm fort &ndash; mir ist es
+als wenn ich hier sterben müßte.«</p>
+
+<p>»Bitte leuchten Sie uns,« bat Pauline, indem sie
+dabei Augusten umfaßt hielt.</p>
+
+<p>»Aber beste Frau Hofräthin.«</p>
+
+<p>»Wenn mir die Freundin hier krank wird, mache
+ich Sie dafür verantwortlich,« rief die kleine Frau
+heftig. &ndash; »Nehmen Sie Ihr Licht, rasch!«</p>
+
+<p>Sie sprach das mit einem so befehlenden, ja
+drohenden Ton, daß die bis dahin noch so feierliche
+Frau Heßberger ganz beweglich wurde. Sie griff auch
+rasch ein Licht auf und während ihr Mann mit dem
+geleerten Suppennapf neben sich, noch an den letzten
+<a class="pagenum" name="page_084" title="84"> </a>
+Versen seines endlosen Liedes brüllte, schritten die
+beiden Damen durch die Werkstätte. Aber erst draußen
+auf der Treppe, als Auguste wieder freie und frische
+Luft schöpfte, athmete sie auf und schweigend stiegen
+die Freundinnen in die untere Wohnung, wo sich die
+Justizräthin erschöpft in einen Stuhl warf.</p>
+
+<p>»Aber lieber Herzensschatz,« nahm hier Pauline
+das Wort, nachdem sie sich vorher überzeugt hatte, daß
+sie allein im Zimmer waren &ndash; »wie, um Gottes
+Willen hat Dich das Gewäsch der alten Kaffeeschwester
+auch nur im Mindesten aufregen können. Du bist doch
+vernünftig genug an derlei Unsinn nicht wirklich zu
+glauben.«</p>
+
+<p>»Wir hätten gar nicht hinauf gehen sollen,« sagte
+Auguste leise &ndash; »ich wußte vorher wie es werden
+würde.«</p>
+
+<p>»Aber soll man sich denn nicht einmal derartige
+Dinge mit ansehen? Ist es denn nicht interessant zu
+beobachten wie die Menschen einander betrügen und
+wie sie betrogen sein wollen?«</p>
+
+<p>»Aber hat sie Dir denn nicht von Deinem verlorenen
+Schmuck gesagt? Woher konnte Sie das wissen?«</p>
+
+<p>»Woher?« lachte Pauline, »als ob derartiges
+Volk nicht überall herum spionirte, und mit ein klein
+<a class="pagenum" name="page_085" title="85"> </a>
+wenig Mutterwitz begabt, leicht im Stande wäre,
+irgend etwas Glaubbares hinzustellen. Die Phantasie
+der Gläubigen trägt freiwillig dazu bei und der Ruf
+einer Prophetin ist fix und fertig. &ndash; Denkst Du nicht,
+daß sie bei meinen Dienstboten schon herum gehorcht
+hat, ja zehn gegen eins möchte ich wetten, daß ein' oder
+die andere Person schon bei ihr gewesen ist, um sich
+Raths zu erholen; aber das will ich schon herausbekommen,
+verlaß Dich darauf.«</p>
+
+<p>»Und die Frau mit der grünen Schleife?«</p>
+
+<p>»Es geht allerdings eine Wäscherin bei uns aus
+und ein,« sagte die Hofräthin, »die eine grüne Schleife
+auf der Haube trägt, und der wird sie oft genug begegnet
+sein. Ich habe aber nicht den geringsten Grund
+auf die in jeder Hinsicht achtbare Person irgend einen
+Verdacht zu werfen. Jedenfalls hat sie auch nur
+ganz auf gut Glück hin die genannt, eben so wie bei
+Dir den Mann im grauen Rock.«</p>
+
+<p>»Nein, nein,« rief aber Auguste rasch und heftig
+und warf den Blick dabei scheu umher &ndash; »da liegt
+ein tieferes Geheimniß zum Grunde und <em class="gesperrt">das</em> gerade
+drohte mir da oben die Besinnung zu rauben.«</p>
+
+<p>»Es war so dumpf und heiß in der Stube, daß
+mir selber fast unwohl geworden ist,« sagte die Hofräthin.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_086" title="86"> </a>
+»Der graue Mann existirt,« flüsterte da Auguste
+»und unerklärlich bleibt es mir, wie sie davon wissen
+konnte, denn gegen keinen Menschen in der Welt habe
+ich mich darüber ausgesprochen, als gegen meinen
+Mann.«</p>
+
+<p>Pauline schüttelte mit dem Kopf, endlich sagte sie:</p>
+
+<p>»Und darf ich wissen, was es damit zu bedeuten
+hat?«</p>
+
+<p>»Ja,« hauchte Auguste &ndash; »aber nicht heute &ndash;
+nicht jetzt Pauline &ndash; ich bin schon überdies zu aufgeregt,
+und fürchte, daß &ndash; daß es noch mehr der Fall
+sein würde, wenn ich &ndash; jene wunderliche Erscheinung
+frisch herauf beschwören wollte. Morgen &ndash; morgen
+früh, wenn die Sonne scheint und alles licht und hell
+um uns ist &ndash; nicht jetzt &ndash; nicht jetzt.«</p>
+
+<p>»Gut mein liebes Herz,« sagte Pauline, die gar
+nicht daran dachte sie jetzt zu drängen &ndash; »bis morgen
+kann ich Dir dann auch vielleicht von mir Auskunft
+geben, wie weit die Prophezeihung der Schusters Frau
+wirklich zutrifft und ob sie eben mehr weiß wie andere
+Leute.«</p>
+
+<p>Auguste erwiderte nichts darauf: sie nickte nur
+schweigend mit dem Kopf und Pauline fühlte, daß sie
+ihr keinen größeren Gefallen thun konnte, als sie jetzt
+allein und ungestört zu lassen. Sie nahm auch kurzen
+<a class="pagenum" name="page_087" title="87"> </a>
+Abschied von ihr und ging, sann aber unterwegs hin
+und her darüber, was der sonst so ruhigen Freundin
+geschehen sein müsse, um sie in eine so überreizte Stimmung
+zu versetzen, denn es war ja nicht möglich, daß
+die albernen Vermuthungen der Schusters Frau wirklich
+einen Einfluß auf sie ausgeübt haben sollten.
+Doch das gedachte sie morgen Alles herauszubekommen
+&ndash; heute ließ sich doch nichts mehr an der Sache thun.</p>
+
+
+
+
+<h3>Fünftes Capitel.<br />
+
+<b>Die böse Nacht.</b></h3>
+
+
+<p>Als der Justizrath an diesem Abend um neun
+Uhr nach Hause kam, war seine Frau schon zu Bett
+gegangen. Sie hatte, wie das Mädchen sagte, heftige
+Kopfschmerzen gehabt und sich zeitig niedergelegt.
+Als Bertling hinüber ging, schlief Auguste und er
+trat noch in sein Arbeitszimmer, um die heute eingelaufene
+Correspondenz zu lesen und zu beantworten
+&ndash; hatte er doch den ganzen Tag keine Zeit dazu gefunden.</p>
+
+<p>Es war bald halb zwölf Uhr, ehe er selber sein
+Lager suchte und die Frau schlief noch immer, aber
+<a class="pagenum" name="page_088" title="88"> </a>
+unruhig. Sie schien zu träumen, hob den Arm und
+öffnete die Lippen, sprach aber Nichts und lag gleich
+darauf wieder still und ruhig. Sie hatte das in der
+letzten Zeit öfter gethan, auch wohl gesprochen, aber
+immer nur unzusammenhängende Worte, ohne sich
+später je eines Traumes bewußt zu sein, und Bertling
+beunruhigte sich also nicht weiter darüber. Unwillkürlich
+fiel ihm aber doch wieder jener wunderliche
+und so geheimnißvoll verschwundene Besuch ein, den
+er bis dahin vergeblich in der ganzen Stadt gesucht.
+War nicht die ganze Polizei nach dem Mann im
+grauen Rock ausgewesen, ohne auch nur auf die entfernteste
+Spur zu kommen? und schien es nicht fast,
+als ob er die Stadt in gerade so räthselhafter Weise
+verlassen hätte, wie damals Bertlings eigenes
+Zimmer?</p>
+
+<p>Mit den Gedanken suchte der Justizrath sein
+Lager und war bald, von den vielen Arbeiten dieses
+Tages ermüdet, sanft eingeschlafen. &ndash; Seiner Meinung
+nach konnte er aber kaum die Augen geschlossen
+haben, als er seinen Namen rufen hörte:</p>
+
+<p>»Theodor! &ndash; Theodor!«</p>
+
+<p>Noch schlaftrunken richtete er sich empor &ndash;
+»Weckst Du mich Auguste?« frug er.</p>
+
+<p>»Und Du kannst schlafen,« sagte die Frau mit
+<a class="pagenum" name="page_089" title="89"> </a>
+vorwurfsvollem aber weichem Ton &ndash; »schlafen in der
+<em class="gesperrt">letzten</em> Stunde, die wir noch beisammen sind?«</p>
+
+<p>»Aber Auguste,« sagte der Mann erschreckt und
+war in dem einen Moment auch vollkommen munter
+geworden &ndash; »was hast Du nur &ndash; was sprichst Du
+da? Sicherlich hast Du geträumt &ndash; ich bin ja bei
+Dir Herz, wache nur ordentlich auf.«</p>
+
+<p>»Ach ich war so glücklich,« sagte da die Frau, mit
+einem Ton, der ordentlich in seine Seele schnitt &ndash;
+»so glücklich die kurze Zeit mit Dir &ndash; und muß nun
+fort.«</p>
+
+<p>Bertling wußte gar nicht wie er aus dem Bett kam,
+so rasch fuhr er in seine Kleider und zündete dann
+ein Licht an.</p>
+
+<p>Auguste lag, die Augen geschlossen, die Arme
+vor sich ausgestreckt, aber die Hände gefaltet, in
+ihrem Bett und große helle Thränen liefen ihr über
+die Wangen. Bertling aber hielt das immer noch für
+einen einfachen, schweren Traum, der ja augenblicklich
+weichen mußte, so wie er sie nur weckte.</p>
+
+<p>»Mein liebes Herz,« sagte er, seinen Arm um
+ihre Schultern legend &ndash; »wach auf, Du träumst ja
+nur&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Und hast Du schon Jemanden gesehen, der mit
+offenen Augen träumt?« sagte sie, sich im Bett aufrichtend
+<a class="pagenum" name="page_090" title="90"> </a>
+und ihn groß ansehend &ndash; »Träumst Du
+denn jetzt?«</p>
+
+<p>»Aber von was sprichst Du?«</p>
+
+<p>Sie antwortete ihm nicht gleich. &ndash; Während er
+sich zu ihr auf die Bettkante setzte, hatte sein Fuß
+den Stuhl ein klein wenig verschoben und sie schien
+dem Geräusch zu horchen.</p>
+
+<p>»Ich glaube sie kommen schon,« flüsterte sie
+scheu und faßte seinen Arm mit allen Kräften.</p>
+
+<p>»Wer, mein Herz? wer?« bat der Mann, der
+jetzt peinlich besorgt um die Arme wurde, die wie er
+sich nicht mehr verhehlen konnte mit wachenden
+Augen phantasirte. »Wer soll denn jetzt mitten in
+der Nacht zu uns kommen?«</p>
+
+<p>»Mitten in der Nacht? &ndash; ja es ist gerade zwölf
+Uhr vorbei,« flüsterte sie &ndash; »das ist die Zeit, in der
+die schwarzen Männer kommen und mich abholen. &ndash;
+Oh Gott,« seufzte sie dabei &ndash; »und jetzt hat mich
+Alles verlassen &ndash; selbst Theodor ist fort und ich
+allein kann mich ja nicht gegen sie wehren.«</p>
+
+<p>»Aber beste Auguste« rief Bertling bestürzt &ndash;
+»was sprichst Du nur &ndash; ich bin ja bei Dir hier.«</p>
+
+<p>»Fort &ndash; fort &ndash; wer bist Du?« &ndash; sagte sie und
+stieß ihn mit beiden Armen heftig von sich &ndash; »was
+willst Du hier &ndash; und wie kommst Du hier herein?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_091" title="91"> </a>
+»Aber ich bin es ja &ndash; Dein Theodor &ndash; kennst
+Du mich denn nicht?«</p>
+
+<p>»Deine Stimme ist es &ndash; ja,« sagte die Frau,
+indem sie ihn ein paar Momente ruhig und fest betrachtete
+&ndash; »aber das Gesicht kenne ich nicht &ndash; das
+ist mir fremd &ndash; geh fort &ndash; geh fort!« und sie warf
+sich dabei zurück und barg ihr Gesicht im Kissen.
+Dort lag sie still und regungslos viele Minuten lang
+und Bertling wußte nicht, was er beginnen sollte.
+Vorsichtig legte er den Finger auf ihren Arm. &ndash;
+Der Puls ging vollkommen ruhig und eher langsamer
+als rascher wie gewöhnlich. &ndash; Vielleicht schlief
+sie jetzt ein; er wollte sie wenigstens unter keiner Bedingung
+stören, setzte das Licht fort, daß es ihr nicht
+auf die Augen scheinen konnte und ließ sich dann behutsam
+und geräuschlos auf einem Lehnstuhl nieder,
+um dort abzuwarten, ob sie noch einmal erwache.</p>
+
+<p>So mochte er über eine Stunde gesessen haben
+und dachte gerade daran, das Licht auszulöschen und
+selber wieder zu Bett zu gehen, als er die Frau leise
+wimmern hörte.</p>
+
+<p>Vorsichtig stand er auf &ndash; sie lag noch genau so
+wie vorher, nur das Gesicht hatte sie mehr nach oben
+gerichtet, damit sie frei athmen konnte, aber beide
+<a class="pagenum" name="page_092" title="92"> </a>
+Augen hielt sie mit den Händen bedeckt und weinte
+still und leise.</p>
+
+<p>»Auguste,« sagte der Mann da, indem er wieder
+zu ihr trat, »was hast Du nur? &ndash; Sage es mir &ndash;
+ich bitte Dich darum.«</p>
+
+<p>Sie schien ihn nicht zu hören, aber ihr Weinen
+wurde heftiger und brach endlich in nicht laute, doch
+deutliche Klagen aus.</p>
+
+<p>»Fort &ndash; fort muß ich von hier, wo ich <em class="gesperrt">so</em> glücklich
+war!« wimmerte sie. &ndash; »Ach nur so wenig Jahre
+durfte ich mit Theodor zusammen sein und jetzt
+kommen die bösen schwarzen Männer und wollen mich
+fortschleppen und in die kalte häßliche Erde legen. &ndash;
+Oh was hab ich ihnen nur gethan? &ndash; Aber sie hassen
+mich hier &ndash; Alle &ndash; Keiner hat mich lieb &ndash; Keiner
+&ndash; und der Einzige, der mir gut war, Theodor, hat
+mich nun auch verlassen.«</p>
+
+<p>»Auguste,« bat Bertling in Todesangst, »Du
+brichst mir das Herz mit solchen Reden. &ndash; Ich bin
+ja hier &ndash; bin bei Dir und werde Dich nie verlassen.«
+Dabei drückte er sie fest an sich und küßte ihre Stirn
+aber sie schien jetzt weder seine Worte zu hören, noch
+seine Berührung zu fühlen. Wieder lag sie viele
+Minuten lang still und regungslos, und nur das
+<a class="pagenum" name="page_093" title="93"> </a>
+schwere Athmen verrieth, daß sie lebe &ndash; endlich fuhr
+sie leise fort:</p>
+
+<p>»Oh daß Theodor von mir gegangen ist &ndash; er
+war so lieb, so gut mit mir &ndash; und ich habe ihn so oft
+gekränkt, aber es doch nie &ndash; nie böse gemeint. &ndash;
+Er <em class="gesperrt">mußte</em> es doch wissen, wie ich ihn liebe &ndash; und
+doch ist er fort.«</p>
+
+<p>»Aber ich bin ja bei Dir, Herz &ndash; so höre doch
+nur! hier lege Deine Hand auf mein Gesicht &ndash; fühlst
+Du denn nicht, daß ich bei Dir bin &ndash; daß ich Dich
+nie verlassen werde?«</p>
+
+<p>»Ja &ndash; <em class="gesperrt">Alle</em> haben mich verlassen,« rief die Frau
+eintönig &ndash; »und jetzt schleichen sich die schwarzen
+Männer herein und tragen mich fort &ndash; und wenn
+dann Theodor zurückkommt &ndash; wie er sich wundern
+wird, wenn ich nicht mehr da bin! und wie traurig
+wird er sein, &ndash; armer &ndash; armer Theodor.«</p>
+
+<p>Bertling war außer sich. Er fühlte, daß alle seine
+Worte nichts halfen. Die Unglückliche hörte in diesem
+eigenthümlichen Zustand weder was er sagte, noch
+fühlte sie den um sie geschlagenen Arm und die heißen
+Thränen, die auf ihr Antlitz fielen und sich mit den
+ihrigen mischten.</p>
+
+<p>Wieder lag sie eine halbe Stunde etwa in einem
+solchen fast bewußtlosen Zustand und mit geschlossenen
+<a class="pagenum" name="page_094" title="94"> </a>
+Augen. Das Licht brannte düster und Bertling
+schritt leise zu der Lampe, um diese zu entzünden. Er
+glaubte, daß vielleicht helleres Licht die aufgeregten
+Sinne eher beruhigen würde. Wie er die Glocke aber
+wieder aufsetzte, wobei ein leicht klirrendes Geräusch
+nicht zu vermeiden war, richtete sich die Kranke
+plötzlich rasch und erschreckt empor und horchte mit
+weit geöffneten Augen der Thür zu.</p>
+
+<p>»Was hast Du denn Auguste, &ndash; Was horchst
+Du so nach der Thür?« frug ihr Mann um sie zu beschwichtigen.
+Sie verstand jetzt was er sagte, ja schien
+ihn auch zu kennen und vergessen zu haben, daß sie
+früher über seine Abwesenheit geklagt und scheu erwiderte
+sie:</p>
+
+<p>»Hörst Du denn nicht die Schritte auf der Treppe?
+&ndash; sie kommen um mich abzuholen und unten im
+Haus steht der graue Mann, der mich auch erwartet.
+Oh ich wußte ja, daß sie noch kommen würden, wenn
+es auch schon zwölf Uhr vorbei ist.«</p>
+
+<p>»Aber mein liebes süßes Herz,« bat Bertling, der
+sich schon dadurch etwas beruhigt fühlte, daß er doch
+jetzt mit ihr reden konnte. &ndash; »Zwölf Uhr vorbei &ndash;
+es ist schon fünf Uhr und die Sonne wird gleich aufgehen.«
+&ndash; Er hoffte sie dadurch, daß er sie glauben
+mache, es sei Morgen, rascher zu beruhigen. Die
+<a class="pagenum" name="page_095" title="95"> </a>
+Kranke aber schüttelte unwillig mit dem Kopf und
+rief:</p>
+
+<p>»Täusche mich nicht &ndash; es fehlen nur noch ein
+paar Minuten an halb Zwei &ndash; sieh doch nach.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Bertling sah unwillkürlich nach seiner Uhr und
+Auguste hatte vollkommen recht. Sie wußte genau,
+welche Zeit es war. Ehe er ihr aber noch etwas erwidern
+konnte, nickte sie ernst und traurig mit dem
+Kopf und sagte:</p>
+
+<p>»Ja &ndash; ja &ndash; so muß es sein &ndash; <em class="gesperrt">Du</em> wirst jetzt
+oben wohnen und <em class="gesperrt">ich</em> unten &ndash; und wir werden nie
+wieder zusammen kommen.«</p>
+
+<p>»Aber, wo willst Du <em class="gesperrt">unten</em> wohnen, mein Kind,«
+lächelte der Mann, der ihre Gedanken abzulenken
+suchte, &ndash; »das untere Logis hat ja der Doktor Pellert
+gemiethet.«</p>
+
+<p>»Wer spricht denn davon,« sagte sie finster &ndash; »in
+der Erde, mein' ich &ndash; wenn sie mich begraben haben.
+Sie kommen ja gleich.«</p>
+
+<p>»Aber meine Auguste!«</p>
+
+<p>»Und ich war so glücklich« fuhr sie leise, mit zum
+Herzen dringender Stimme fort &ndash; »so unsagbar glücklich
+&ndash; aber nur für eine kurze &ndash; kurze Zeit.
+Jetzt muß es sein und ich will mich auch nicht länger
+<a class="pagenum" name="page_096" title="96"> </a>
+sträuben &ndash; ich kann mich ja doch nicht gegen die vier
+schwarzen Männer wehren.«</p>
+
+<p>»Und bin ich nicht hier Dich zu vertheidigen?«</p>
+
+<p>»Was kannst <em class="gesperrt">Du</em> gegen die <em class="gesperrt">viere</em> ausrichten!«
+erwiderte sie kopfschüttelnd, »und sie sind stark &ndash; <em class="gesperrt">sehr</em>
+stark. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit &ndash; hier den
+Ring nimm mir vom Finger &ndash; den schwarzen Ring
+&ndash; den sollst Du Paulinen von mir geben.«</p>
+
+<p>»Aber Auguste.«</p>
+
+<p>»So nimm denn doch den Ring &ndash; sie kommen ja,«
+bat sie mit einer Stimme, die ihm durch Mark und
+Bein schnitt und es blieb ihm Nichts übrig, als ihrem
+Wunsch zu willfahren und ihr den Ring abzunehmen;
+fürchtete er doch sie durch Widerspruch nur noch so viel
+mehr aufzureizen. Wie er das aber gethan, stürzten
+ihm selber die Thränen aus den Augen und sie umfassend
+jammerte er: »Meine liebe &ndash; liebe Auguste.«</p>
+
+<p>»Lebe wohl Theodor,« sagte sie da und schlang ihre
+Arme fest und fast krampfhaft um seinen Nacken &ndash;
+»lebe wohl und tausend, tausend Dank für alles Liebe
+und Gute, das Du mir gethan.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber Du gehst ja nicht von mir &ndash; Du bleibst
+ja bei mir, nie &ndash; nie im Leben trennen wir uns mehr,«
+flüsterte der Mann in Todesangst.</p>
+
+<p>»Es muß ja sein,« tröstete sie ihn leise &ndash; »weine
+<a class="pagenum" name="page_097" title="97"> </a>
+deshalb nicht &ndash; oh <em class="gesperrt">Du</em> hast es ja auch gut &ndash; <em class="gesperrt">Du</em>
+kannst draußen im Sonnenlicht, auf der schönen Erde
+bleiben &ndash; aber mich &ndash; mich legen sie in das dunkle
+kalte Grab und ich bin noch so jung &ndash; so jung und
+schon sterben &ndash; oh es ist recht, recht hart.«</p>
+
+<p>»Auguste &ndash; ich halte das nicht länger aus,« flehte
+der Mann, dem die Aufregung fast den Athem nahm
+&ndash; »so komm doch nur zu Dir &ndash; es ist ja Alles nur
+ein böser Traum.«</p>
+
+<p>Unten auf der Straße rasselte in diesem Augenblick
+ein Wagen über das Pflaster; der Schall klang
+deutlich herauf.</p>
+
+<p>»Da sind sie,« flüsterte die Kranke erbebend &ndash;
+»oh Gott wie <em class="gesperrt">schnell</em> sie kommen &ndash; wie furchtbar
+schnell. &ndash; Jetzt muß ich fort &ndash; oh Gott, oh Gott
+schon jetzt. Nein ich will nicht &ndash; sie sollen mich nicht
+weg von Dir nehmen &ndash; ich will bei Dir bleiben« &ndash;
+und krampfhaft klammerte sie sich um seinen Hals.&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»Du gehst auch nicht fort Herz &ndash; nie im Leben
+lasse ich Dich,« &ndash; rief Bertling, &ndash; »wir bleiben ja
+beisammen &ndash; oh so komm doch zu Dir. &ndash; Hier &ndash;
+hier,« sagte er und griff ein neben dem Bett stehendes
+Glas Wasser auf, &ndash; »trink einmal Auguste &ndash; das
+wird Dir gut thun &ndash; trink einen langen Zug &ndash; viel
+&ndash; mehr noch, mehr.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_098" title="98"> </a>
+Er hatte sich fast gewaltsam von ihr losgemacht
+und ihr das Glas an die Lippen gehalten. Wie sie
+das Wasser daran fühlte nahm sie einen kleinen Schluck
+und als er es ihr wieder und wieder aufdrang, trank
+sie mehr, bis sie das ganze Glas geleert. Dabei sah
+sie ihn mit einem wilden verstörten Blick an.</p>
+
+<p>»Meine Auguste« bat Bertling, ihr Haupt an sich
+pressend, »ist Dir jetzt besser? &ndash; kannst Du Dich besinnen?«</p>
+
+<p>Sie drängte ihn langsam von sich &ndash; sah ihn an
+&ndash; blickte im Zimmer umher und sagte leise:</p>
+
+<p>»Was ist denn mit mir vorgegangen?«</p>
+
+<p>»Du hast geträumt Herz &ndash; schwer und furchtbar
+geträumt« rief ihr Gatte, »oh Gott sei ewig Dank,
+daß es vorüber ist.«</p>
+
+<p>»Geträumt? &ndash; von was?« frug die Frau, die
+jetzt augenscheinlich ihre volle Besinnung wieder erlangt
+hatte. Bertling hütete sich aber wohl irgend
+eines ihrer Traum-Bilder auch nur zu erwähnen und
+ausweichend sagte er:</p>
+
+<p>»Oh nichts, Herz &ndash; lauter tolles verworrenes
+Zeug; wild durch einander hast Du gesprochen von
+Gesellschaften, Theater, Kleidern, Besuchen und was
+weiß ich.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Sonderbar,« flüsterte die Frau nachdenkend vor
+<a class="pagenum" name="page_099" title="99"> </a>
+sich hin »ich kann mich doch auf gar Nichts mehr besinnen.
+Aber mir ist mein Kopf so schwer &ndash; so furchtbar
+schwer und die Augen brennen mir, als ob ich geweint
+hätte. Wie viel Uhr ist es?«</p>
+
+<p>»Es wird bald zwei Uhr sein.«</p>
+
+<p>»So spät schon und Du bist noch angezogen? &ndash;
+Du hast wohl wieder so lange gearbeitet?«</p>
+
+<p>»Ja &ndash; ich hatte so viele Briefe zu schreiben &ndash;
+aber lege Dich jetzt hin und schlafe. Ich will auch zu
+Bett gehen.«</p>
+
+<p>»Oh wie mir mein Kopf brennt &ndash; ich kann gar
+nicht mehr denken,« sagte die Frau und preßte ihre
+Stirne mit beiden Händen, &ndash; »am Ende werd ich
+noch krank.«</p>
+
+<p>»Mach Dir keine Sorge mein Herz,« beruhigte sie
+aber der Mann, »morgen wird schon Alles wieder
+besser &ndash; wieder ganz gut sein. &ndash; Gute Nacht, mein
+Kind.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Gute Nacht, Theodor,« sagte die Frau &ndash; legte
+sich auf die Seite und war auch in wenigen Minuten
+fest und sanft eingeschlafen.</p>
+
+
+
+
+<h3>Sechstes Capitel.<a class="pagenum" name="page_100" title="100"> </a><br />
+
+<b>Die Begegnung.</b></h3>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen, wo aber Auguste völlig
+gesund und mit keiner Ahnung des Geschehenen, nur
+mit etwas Kopfschmerzen erwachte, ging Bertling in
+aller Früh zu seinem Hausarzt, um diesem das Vorgefallene
+mitzutheilen. Er hatte ihm schon früher
+einmal von der fixen Idee Augustens gesagt, der Doctor
+nahm das aber damals &ndash; vielleicht auch nur um
+den Mann nicht zu beunruhigen &ndash; außerordentlich
+leicht und versicherte ihn, daß solche Fälle gar nicht
+etwa vereinzelt daständen. Es sei ein Blutandrang
+nach dem Kopf und viel Bewegung in freier Luft &ndash;
+vielleicht auch eine blutreinigende Kur das Beste dagegen.
+Keinesfalls sollte er sich Sorgen deshalb machen.
+&ndash; Heute jedoch, als der Arzt die Phantasien dieser
+Nacht erfuhr, in denen der »graue Mann« auch wieder
+seine Rolle gespielt, zeigte er sich schon bedenklicher
+und meinte, Gefahr sei nur in so fern vorhanden, daß
+die Phantasie der Kranken ihr noch einmal &ndash; und
+also zu dem gefürchteten dritten Mal &ndash; die Gestalt
+des Mannes im grauen Rock vorspiegeln könne, ehe
+man im Stande sei sie zu überzeugen, daß die erste
+Erscheinung weiter Nichts als ein Phantasiebild, die
+<a class="pagenum" name="page_101" title="101"> </a>
+zweite aber ein wirklich menschliches Individuum
+gewesen sei &ndash; wie das aber zu thun, ohne daß man
+des Grauen habhaft werde, vermöge er nicht abzusehen,
+und daß der Graue nicht zu bekommen war, das
+wußte der Justizrath besser als irgend Jemand in der
+Stadt. Welche Mühe hatte er sich deshalb nicht
+schon gegeben und welchen Erfolg damit erzielt? &ndash;
+es war wirklich zum Verzweifeln.</p>
+
+<p>Der Doctor versprach übrigens im Lauf des Vormittags
+bei der Justizräthin vorzusprechen, um sich
+selber einmal von ihrem Gesundheitszustand zu überzeugen.
+Vielleicht ließ sich dann auch das Gespräch
+&ndash; natürlich mit der gehörigen Vorsicht &ndash; auf das
+eigentliche Krankheitsobjekt lenken und möglich, daß
+ja doch die Vernunftgründe eines Dritten und völlig
+Unparteiischen irgend einen wohlthätigen Einfluß auf
+sie ausüben konnten.</p>
+
+<p>Bertling seufzte tief auf, denn er am Besten fühlte
+das Trügerische einer solchen Hoffnung, aber was
+anderes ließ sich thun und auch dieser Versuch mußte
+gemacht werden, wenn er auch nicht das Geringste
+davon erhoffte. Er fürchtete sich aber, lange von zu
+Haus fortzubleiben, denn er wußte nicht, wie sich Auguste
+heute morgen nach der furchtbaren Aufregung
+der letzten Nacht befinden würde. Er bat also den
+<a class="pagenum" name="page_102" title="102"> </a>
+Doctor seinen Besuch nicht zu lange zu verschieben
+und schritt dann sehr niedergeschlagen und den Kopf
+voll trüber, wirrer Gedanken die Straße hinab, in
+der Richtung seiner eigenen Wohnung zu. Er achtete
+dabei auch gar nicht auf die ihm Begegnenden und
+erst als Jemand an ihm vorüber ging, der ihn grüßte,
+faßte er unwillkürlich an seinen eigenen Hut und
+warf einen flüchtigen Blick auf ihn, ohne sich jedoch
+in seinem Gang aufzuhalten. Im Weiterschreiten
+fiel ihm aber der fast schüchterne Gruß des vollkommen
+fremden Mannes auf &ndash; wo hatte er nur das Gesicht
+&ndash; wie ein Messerstich traf es ihn plötzlich ins Herz
+&ndash; <em class="gesperrt">das war der Graue</em> und mit dem Gedanken
+schon fuhr er auch herum und zurück, ihm nach &ndash;
+daß er dabei gegen eine alte würdige Dame anrannte
+und sie beinah über den Haufen geworfen hätte, fühlte
+er kaum, hielt sich wenigstens nicht einmal lange genug,
+auch nur zu einer Entschuldigung auf, denn mit
+peinigender Angst erfüllte ihn in dem Moment der Gedanke,
+daß ihm der Fremde wieder wie damals, selbst
+unter den Händen weg entschwinden könnte. Wenn er
+jetzt irgendwo in ein Haus getreten wäre &ndash; wenn er
+die nächste Quergasse erreicht hätte &ndash; nein &ndash; Gott
+sei ewig Dank &ndash; dort ging er noch und mit wenigen
+hastigen Schritten war er an seiner Seite.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_103" title="103"> </a>
+Der Fremde, als er Jemanden neben sich halten
+sah, schaute auch zu ihm empor und der Justizrath
+hätte laut aufjubeln mögen, als er in dem ihm zugewandten
+Gesicht wirklich den Besuch von jenem Abend
+erkannte, dessen Züge sich ihm in der Zwischenzeit oh,
+nur zu scharf und deutlich eingeprägt. Er war aber
+auch fest entschlossen, den Mann jetzt nicht wieder los
+zu lassen, bis er ihn seiner Frau gebracht, und wenn
+er nicht gutwillig ging, ei dann hätte er selbst die Polizei
+zu Hülfe gerufen, sogar auf die Gefahr hin eine
+Klage wegen unverschuldeter Gefängnißhaft gegen sich
+anhängig gemacht zu sehen.</p>
+
+<p>Der Fremde sah dabei etwas erstaunt, ja bestürzt
+zu ihm auf, denn er ebenfalls hatte den Justizrath
+gleich beim ersten Begegnen wieder erkannt und begriff
+jetzt natürlich nicht, was der Mann eigentlich
+von ihm wolle. Dieser ließ ihm aber nicht lange Zeit
+darüber nachzudenken und fast unwillkürlich die Hand
+auf seine Schulter legend (denn wenn er es sich auch
+nicht selber gestehen mochte, war es doch ein fast unbewußtes
+Gefühl, das ihn leitete, sich vor allen Dingen
+zu überzeugen, er habe es wirklich mit einem <em class="gesperrt">körperlichen</em>
+Wesen zu thun), sagte er freundlich:</p>
+
+<p>»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber &ndash; hatte ich
+nicht das Vergnügen, Sie vor einiger Zeit einmal
+<a class="pagenum" name="page_104" title="104"> </a>
+Abends auf ganz kurze Zeit bei mir zu sehen? &ndash; Ich
+bin der Justizrath Bertling &ndash; wenn Sie sich auf
+meine Person nicht mehr besinnen sollten?«</p>
+
+<p>Der Mann schien etwas verlegen und sah den Justizrath
+fast wie scheu an; endlich stotterte er:</p>
+
+<p>»Ich weiß in der That nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ich will Ihrem Gedächtniß zu Hülfe kommen,«
+fuhr aber der Justizrath in der neu erwachenden Angst
+fort, daß der Mann leugnen könnte oder er sich doch am
+Ende in der Person geirrt, »meine Frau kam damals
+gerade nach Haus und von einem leichten Unwohlsein
+ergriffen, wurde sie in der Thür ohnmächtig. Sie besinnen
+sich gewiß.«</p>
+
+<p>»Herr &ndash; Herr Justizrath,« stammelte der Mann
+»ich &ndash; ich &ndash; kann nicht recht begreifen&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Bertling, der nicht ohne Grund fürchtete, der
+Mann könne Bedenken tragen, sein damaliges rasches,
+und allerdings etwas rätselhaftes Verschwinden einzugestehen,
+denn wie konnte er wissen, in welchem Zusammenhang
+das mit der jetzigen Frage stand &ndash;
+suchte ihn nur vor allen Dingen darüber zu beruhigen.
+&ndash; »Lieber Herr,« sagte er, »Sie müssen mir vorher
+die Bemerkung erlauben, daß ich Ihre Antwort nur
+als eine mir persönlich erwiesene Gefälligkeit betrachte
+und ich sehe ein, daß es vorher nöthig ist, Ihnen die
+<a class="pagenum" name="page_105" title="105"> </a>
+Beweggründe meines, Ihnen vielleicht sonderbar erscheinenden
+Betragens mitzutheilen. Aber wir können
+das nicht auf offener Straße abmachen, dürfte ich Sie
+deßhalb bitten mit mir einen kurzen Moment in jenes
+Caffeehaus zu treten; wir sind dort ungestört und ich
+gebe Ihnen mein Wort, daß Sie damit ein gutes
+Werk thun.«</p>
+
+<p>Der Fremde war augenscheinlich in der größten
+Verlegenheit, wie denn auch sein ganzes Wesen etwas
+Schüchternes, ja Gedrücktes zeigte. Der Einladung
+<em class="gesperrt">konnte</em> er aber nicht gut ausweichen. Mit einer ziemlich
+ungeschickten Verbeugung und ohne ein Wort zu
+erwidern, willigte er ein und schritt neben dem Justiz-Rath
+dem Caffeehaus zu. Bertling ließ ihn auch
+dabei nicht aus den Augen, denn er hatte immer noch
+das unbestimmte Gefühl, als ob ihm der eben so glücklich
+Aufgefundene durch einen der Trottoirsteine, wie
+durch eine Versenkung auf dem Theater verschwinden
+könnte, und wollte sich später keine Vernachlässigung
+vorzuwerfen haben.</p>
+
+<p>Im Restaurationslocal endlich angelangt, ließ er zwei
+Tassen Caffee und Cigarren bringen und als Beides vor
+ihnen stand und der Kellner sich mit seiner Bezahlung
+zurückgezogen hatte, that Bertling das Vernünftigste,
+was sich unter diesen Umständen thun ließ und erzählte
+<a class="pagenum" name="page_106" title="106"> </a>
+dem Fremden, ohne vorher eine weitere Frage
+an ihn zu richten, das seltsame Zusammentreffen eines
+Traumes seiner Frau mit seiner eignen Erscheinung,
+wobei sein plötzliches und unbeachtetes Verschwinden
+natürlich alle die überspannten Ideen der Kranken bestätigen
+mußte.</p>
+
+<p>Der kleine Mann in dem dunklen Rock schien
+während dieses Berichtes ordentlich aufzuthauen. Zuerst
+hatte er die angezündete Cigarre nur schüchtern
+und mit der äußersten Spitze in den Mund genommen,
+daß er kaum daran ziehen konnte und seinen
+Caffee halb kalt werden lassen &ndash; jetzt begann er mit
+augenscheinlichem Behagen den Dampf des guten
+Blattes einzuziehen und that auch einen Schluck aus
+seiner Tasse und als der Justizrath ihm endlich gestand,
+daß er die ganze Stadt schon habe durch Polizei absuchen
+lassen, um seiner nur habhaft zu werden und
+seine arme Frau von ihrem unglückseligen Wahne zu
+befreien, lächelte er sogar still vor sich hin und leerte
+dabei seine Tasse bis zum letzten Tropfen. Bei der
+nun wieder an ihn gerichteten Frage des Justizraths,
+ob er es nicht gewesen sei, der ihn an jenem Abend
+besucht habe und zu welchem Zweck, wurde er allerdings
+wieder ein wenig verlegen und sogar roth, aber
+er leugnete nicht mehr und sagte:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_107" title="107"> </a>
+»Wenn Ihnen <em class="gesperrt">das</em> eine Beruhigung gewährt, Herr
+Justizrath, so kann ich Ihnen gestehen, daß ich wirklich
+an jenem Abend in Ihrer Stube war und nur bedauere&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Kellner! Eine Flasche Wein &ndash; von Ihrem Besten
+&ndash; bringen Sie Champagner!« rief aber Bertling,
+der sich in diesem Augenblicke wirklich Mühe geben
+mußte, dem kleinen Mann nicht um den Hals zu fallen.</p>
+
+<p>»Aber Herr Justizrath&nbsp;&ndash;«.</p>
+
+<p>»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und trinken
+Sie ein Glas Wein mit mir,« rief aber dieser in
+größter Aufregung »und, wenn Sie ein <em class="gesperrt">Bad</em> von
+Champagner haben wollten, ich verschaffte es Ihnen
+jetzt. Nun aber sagen Sie mir auch, weshalb Sie
+so rasch verschwanden, mich nicht wieder aufsuchten und
+wo Sie, vor allen Dingen, die ganze Zeit gesteckt
+haben, denn kein einziger meiner Spürhunde konnte
+auch nur auf Ihre Fährte kommen.«</p>
+
+<p>»Lieber Gott,« sagte der kleine Mann mit einem
+schweren Seufzer &ndash; »die Sache ist außerordentlich
+einfach und leicht erklärt, denn &ndash; wenn ich mich auch
+in einer gedrückten Lage befinde, habe ich doch nicht
+die geringste Ursache mich derselben zu schämen, da sie
+mich ohne mein Verschulden getroffen hat.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_108" title="108"> </a>
+»Darf ich es wissen?« frug der Justizrath, während
+der Kellner Wein und Gläser auf den Tisch stellte
+&ndash; »vielleicht kann ich helfen.«</p>
+
+<p>»Ich stamme aus Königsberg« erzählte der kleine
+Mann, »und hatte durch Protection eine Anstellung als
+Lehrer in Mainz erhalten; dort ernährte ich mich aber
+nur kümmerlich, als ich die Nachricht erhielt, daß in
+meiner Vaterstadt ein guter Posten für mich offen geworden
+und ich dort an einem der ersten Gymnasien
+mit einem ganz vortrefflichen Gehalt einrücken könne.
+Ich gab meine Stelle in Mainz auf und machte mich
+auf den Weg. Schon seit längerer Zeit aber kränkelnd,
+erfaßte mich hier in Alburg ein heftiges Fieber,
+das eine Weiterreise unmöglich machte. Glücklicher
+Weise fand ich bei guten Menschen ein Unterkommen
+aber meine kleine Baarschaft schmolz entsetzlich zusammen
+und kaum wieder hergestellt, erfaßte mich die
+Angst, daß ich, wenn ich nicht rechtzeitig am Ort meiner
+Bestimmung eintreffen könnte, am Ende auch gar
+die Anstellung verlieren und dann gänzlich brodlos sein
+würde. Ich schrieb nach Königsberg, erhielt aber von
+dort nicht so rasche Antwort und in meiner Herzensangst
+beschloß ich mich an <em class="gesperrt">Sie</em>, Herr Justizrath, zu
+wenden und Sie um ein Darlehn zu ersuchen, das
+<a class="pagenum" name="page_109" title="109"> </a>
+ich Ihnen von meiner Vaterstadt aus leicht zurückerstatten
+konnte.«</p>
+
+<p>»Aber woher kannten Sie mich?«</p>
+
+<p>»Nicht Sie, Herr Justizrath, aber Sie haben einen
+Bruder in Königsberg, bei dem ich ein Jahr Hauslehrer
+war und auf dessen Zeugniß ich mich mit gutem
+Gewissen berufen durfte. Wie aber der Unfall mit
+Ihrer Frau Gemahlin stattfand, von dem ich keine
+Ahnung haben konnte, daß ich selber die unschuldige
+Ursache gewesen, da fühlte ich doch recht gut, daß das
+ein sehr schlecht gewählter Moment sei, um ein Darlehn
+zu erbitten und ich beschloß lieber am nächsten Morgen
+wieder vorzusprechen. Wie ich Sie mit der ohnmächtigen
+Dame beschäftigt sah, verließ ich das Zimmer
+und ging nach Haus.«</p>
+
+<p>»Aber warum kamen Sie nicht am nächsten Morgen?«</p>
+
+<p>»Weil ich noch an dem nämlichen Abend einen
+Brief von Königsberg erhielt, worin mir angezeigt
+wurde, daß es mit meinem Eintreffen dort Zeit bis
+zum Ersten nächsten Monats habe. Jetzt war ich im
+Stande mir mein Reisegeld vielleicht selber zu verdienen
+und brauchte Niemanden weiter zu belästigen.
+Der Mann, bei dem ich die Zeit gewohnt, war Copist,
+hatte aber in der letzten Zeit so viel drängende Arbeiten
+<a class="pagenum" name="page_110" title="110"> </a>
+erhalten, daß er sich außer Stande sah, sie allein
+zu beendigen. Ich übernahm einen Theil und da mir
+noch vierzehn Tage Zeit bleiben, so hoffe ich bis dahin
+mein Reisegeld wenigstens zusammen gespart zu haben.«</p>
+
+<p>»Und wieviel brauchen Sie dazu?« frug der Justizrath,
+der bis jetzt der einfachen Erzählung mit der
+gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war, ohne den
+Erzählenden auch nur mit einer Sylbe zu unterbrechen.
+Nur eingeschenkt und getrunken hatte er dazu und
+seinen Gast ebenfalls stillschweigend durch Zuschieben
+des Glases genöthigt.</p>
+
+<p>»Im Ganzen und mit dem, was ich hier noch zu
+zahlen habe, etwa 20 Thaler, aber 9 davon habe ich
+mir schon verdient &ndash; oh ich bin sehr fleißig gewesen
+die Zeit über und in den langen Tagen gar nicht aus
+meinem Zimmer, ja nicht ein einziges Mal an frische
+Luft gekommen. Nur heute <em class="gesperrt">mußte</em> ich ausgehen und
+war eben im Begriff mir frisches Papier zu holen,
+denn ich kann nicht gut einen Tag versäumen.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Herr,« sagte da der Justizrath, »dagegen
+werde ich Einspruch erheben. Ihren heutigen
+Tag müssen Sie mir widmen, aber Sie sollen dadurch
+nicht zu Schaden kommen. Es gilt hier meine Frau
+zu überzeugen, daß sie sich durch einen Wahn, durch
+ein zufälliges Begegnen hat täuschen lassen und wenn
+<a class="pagenum" name="page_111" title="111"> </a>
+Sie mir dazu behilflich sein wollen, so verfügen Sie
+über meine Casse. Mit Vergnügen steht Ihnen dann
+Alles zu Diensten, was Sie zu Ihrer Reise und vielleicht
+noch für sonstige Ausrüstung gebrauchen.«</p>
+
+<p>»Herr Justizrath,« stammelte der Mann.</p>
+
+<p>»Und glauben Sie um Gottes Willen nicht,«
+setzte Bertling rasch hinzu, »daß Sie mir dadurch zu
+irgend einem Dank verpflichtet würden; nein im Gegentheil,
+werde ich mich nachher noch immer als Ihren
+Schuldner betrachten und sollten Sie je in Verlegenheit
+kommen, so bitte ich Sie, sich vertrauensvoll an
+mich zu wenden.«</p>
+
+<p>»Aber war ich nicht selber die Ursache dieses Unfalls?«</p>
+
+<p>»Nein,« versetzte der Justizrath &ndash; »in Ihnen
+repräsentirte sich nur die frühere eingebildete Erscheinung
+und durch Sie hoffe ich deshalb meine Frau
+nicht allein zu überzeugen, daß ihre zweite Gespenstervision
+ein Irrthum war, sondern sie wird, während
+sie hierin die Täuschung erkennt, auch einsehen, daß das
+<em class="gesperrt">erste</em> Traumbild nur in ihrer Phantasie gewurzelt
+haben konnte. Also wollen Sie sich mir heute zur
+Verfügung stellen?«</p>
+
+<p>»Von Herzen gern,« sagte der kleine Mann, der
+durch den ungewohnten Champagner seine ganze Schüchternheit
+<a class="pagenum" name="page_112" title="112"> </a>
+verloren zu haben schien. »Befehlen Sie über
+mich und was in meinen Kräften steht, will ich mit
+Freuden thun, &ndash; habe ich doch dadurch auch einen
+Theil dessen gut zu machen, was ich, freilich vollkommen
+ahnungslos, selber über Sie herauf beschworen.«</p>
+
+<p>»Gut,« genehmigte Bertling, sich vergnügt die
+Hände reibend. &ndash; »So kommen Sie denn jetzt mit
+zu meinem Arzt und dort wollen wir das Weitere
+bereden, wie wir es am Besten anzufangen haben.
+Den Mittag sind Sie ohnedies mein Gast, wenn wir
+vielleicht auch noch nicht bei mir zu Hause diniren
+können. Vorher muß ich aber meine Frau jedenfalls
+auf Ihre Begegnung vorbereitet haben.«</p>
+
+
+
+
+<h3>Siebentes Capitel.<br />
+
+<b>Schluß.</b></h3>
+
+
+<p>Der Doctor, eben im Begriff seine Patienten zu besuchen,
+war nicht wenig erstaunt, den Justizrath mit
+dem erbeuteten und so lange ersehnten Unruhestifter
+eintreffen zu sehen, nahm aber auch zu viel Interesse an
+der Sache, um nicht seine eigenen, selbst sehr nothwendigen
+Gänge für kurze Zeit aufzuschieben und das Nähere
+mit dem Justizrath zu bereden. Aufmerksam hörte
+<a class="pagenum" name="page_113" title="113"> </a>
+er zunächst den kurzen Bericht an, der ihm über das
+Zusammentreffen gegeben wurde und die Frage war
+nur jetzt, wie Auguste mit ihrem leibhaften Traumbild
+zusammen gebracht werden konnte, ohne ihr einen
+neuen Schreck zu verursachen, der diesmal dauernde
+Folgen haben konnte.</p>
+
+<p>Das zeigte sich denn auch nicht so leicht und die
+Männer überlegten zusammen eine ganze Weile hin
+und her, wie es am zweckmäßigsten zu arrangiren
+wäre. Der Justizrath schlug vor, den »grauen Mann«
+gleich zum Mittag-Essen mit nach Haus zu nehmen,
+um im hellen Sonnen-Licht jeden Gedanken an den
+häßlichen Spuck zu zerstören, &ndash; aber dagegen protestirte
+der Arzt.</p>
+
+<p>»Damit setzen Sie Alles auf eine Karte,« rief er
+heftig aus, »denn Sie können gar nicht wissen, wie
+sich in dem Geist Ihrer Frau das Bild dieser geglaubten
+Spukgestalt erhalten oder entwickelt hat;
+bringen Sie ihr aber jetzt den Mann am hellen Tag,
+der dann natürlich mit einer höflichen, alltäglichen
+Verbeugung in's Zimmer tritt, so bürgt uns kein
+Mensch dafür, daß sie ihn als denselben wieder erkennt,
+den sie in jener <em class="gesperrt">Nacht</em> gesehen und dann ist
+<em class="gesperrt">Alles</em> verloren, denn nachher haben wir <em class="gesperrt">kein</em> Mittel
+weiter, ihr zu beweisen, daß sie sich getäuscht. Unser
+<a class="pagenum" name="page_114" title="114"> </a>
+Pulver ist verschossen und wir müssen der Natur und
+den Begebenheiten eben ihren Lauf lassen, ohne im
+Stande zu sein, an irgend einer Stelle hülfreich einzugreifen.«</p>
+
+<p>»Aber was Anderes <em class="gesperrt">können</em> wir thun?« rief der
+Justizrath &ndash; »der Gefahr, daß sie ihn nicht wieder
+erkennt, sind wir ja doch immer ausgesetzt.«</p>
+
+<p>»Doch nicht immer,« sagte der Doctor, der ein
+paar Minuten mit raschen Schritten in seinem Zimmer
+auf- und abgegangen war &ndash; »ich glaube, ich weiß
+einen Ausweg.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Doctor&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich einmal sehen,« fuhr dieser fort.
+&ndash; »Jetzt habe ich keine Zeit, denn ich <em class="gesperrt">muß</em> meine
+Patienten besuchen; vor Dunkelwerden können wir
+aber auch gar nichts in der Sache thun, und bis dahin
+bin ich in Ihrem Hause und bei Ihrer Frau. Bis
+dahin aber darf auch dieser Herr Ihrer Frau nicht
+vor Augen kommen. Speisen Sie zusammen im
+Hôtel &ndash; eine Ausrede ist bald gefunden, machen Sie,
+was Sie wollen, aber bringen Sie ihn nicht vor der
+Abenddämmerung in Ihr Haus.«</p>
+
+<p>»Und dann?«</p>
+
+<p>»Dann führen Sie ihn heimlich, ohne daß Ihre
+Frau etwas davon erfährt, in Ihr Zimmer, zünden
+<a class="pagenum" name="page_115" title="115"> </a>
+wie gewöhnlich Ihre Lampe an, die auch ein wenig
+düster brennen darf und lassen sich den Herrn dann
+auf den nämlichen Stuhl setzen, auf dem er an jenem
+Abend gesessen hat und zwar genau in der nämlichen
+Stellung, den rechten Arm über der Lehne. &ndash; Ich
+glaube, Sie erwähnten das gegen mich.«</p>
+
+<p>»Ja wohl.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Schön. Sie selber kommen dann zu uns herüber,
+oder geben mir ein Zeichen daß Alles bereit ist und
+überlassen das Andere mir. Wollen Sie es so
+machen?«</p>
+
+<p>»Bester Doctor, ich füge mich in Allem Ihrem
+Willen,« sagte der Justizrath, »aber &ndash; halten Sie
+es nicht für möglich, daß Auguste durch die plötzliche
+Wiederholung der Erscheinung zum Tod erschrecken
+könnte?«</p>
+
+<p>»Natürlich darf sie den Herrn da nicht unvorbereitet
+antreffen,« rief der Doctor &ndash; »doch Sie wollen
+das ja mir überlassen. Außerdem werde ich noch vorher
+zu der kleinen Hofräthin Janisch gehen, sie in das
+Geheimniß einweihen und sie bitten uns zu unterstützen.
+Für jetzt ersuche ich Sie aber, mich zu entschuldigen,
+denn meine Zeit ist gemessen.«</p>
+
+<p>»Und Sie vergessen nicht, noch vor Dunkelwerden
+zu mir zu kommen?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_116" title="116"> </a>
+»Ich vergesse nie etwas,« sagte der Doctor, nahm
+seinen Hut und stieg ohne Weiteres voran die Treppe
+hinunter.</p>
+
+<p>Der Justizrath war jetzt ein wenig in Verlegenheit,
+was er mit seinem Schutzbefohlenen oder eigentlich
+Gefangenen, bis zum Mittagsessen anfangen
+solle, noch dazu da er auch gern einmal nach Haus
+gegangen wäre und ihn dorthin doch nicht mitnehmen
+konnte. Ueberließ er ihn aber bis dahin sich selbst, so
+war er der Gefahr ausgesetzt, ihn nicht wieder zu
+finden und das durfte er unter keiner Bedingung riskiren.
+Da blieb ihm nur ein Ausweg, mit dem Fremden
+in dessen Behausung zu gehen, um sich selber zu
+überzeugen, wo er wohne und wieder zu finden wäre.</p>
+
+<p>Das geschah denn auch und nachdem Bertling
+in einer vollkommen abgelegenen Straße vier steile
+dunkle Treppen hinauf geklettert war, konnte er mit
+einiger Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen. Er
+band dem kleinen Mann aber noch einmal auf die
+Seele, das Haus um keinen Preis zu verlassen, bis
+er selber zurückkäme, was aber bald geschehen würde,
+da er ihn um ein Uhr zum Mittagessen abhole.</p>
+
+<p>Seine Frau fand der Justizrath noch ziemlich abgemattet,
+aber doch ruhig; sie hatte von dem, was sie
+die vorige Nacht mit wachenden Augen geträumt, keine
+<a class="pagenum" name="page_117" title="117"> </a>
+Ahnung und sie fühlte nur die Folgen der unnatürlichen
+Aufregung, ohne sich dieser im Geringsten bewußt
+zu sein.</p>
+
+<p>Um ein Uhr oder etwas vorher, entschuldigte sich
+Bertling, daß er mit einem Geschäftsfreund zu Mittag
+speisen müsse, da sie Beide, außer der Zeit, sehr beschäftigt
+wären, und er Vielerlei mit ihm zu besprechen
+hätte &ndash; zu sich hätte er ihn aber heute nicht einladen
+mögen, da Auguste doch noch so angegriffen sei.</p>
+
+<p>Auguste dankte ihm dafür, denn sie befand sich in
+der That nicht in der Stimmung einen fremden Besuch
+zu empfangen; sie fühlte sich auch nie wohler, als
+wenn sie allein gelassen wurde und ihr Mann versprach
+ihr ja auch außerdem noch vor Abend wieder zu
+Haus zu sein und dann heute ganz bei ihr zu bleiben.</p>
+
+<p>Sie aß allein auf ihrem Zimmer und legte sich
+dann ein wenig auf das Sopha, um auszuruhen; der
+Kopf that ihr weh und das Herz war ihr so schwer,
+als ob irgend ein nahendes Unheil sie bedrohe. Sie
+fing auch fast an, den dämmernden Abend zu fürchten
+und bereute schon, Theodor nicht gebeten zu haben,
+noch vor der Zeit zurück zu kehren. &ndash; Aber sie durfte
+auch nicht so kindisch sein. Wenn er seine Geschäfte
+besorgt hatte, kam er ja ohnedies schon immer von
+selber nach Hause.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_118" title="118"> </a>
+Sie sollte aber ihren Nachmittag heute nicht
+allein verbringen, denn etwa um fünf Uhr kam Pauline
+herüber. Wenn diese aber auch lachend das
+Zimmer der Freundin betrat, erschrak sie doch sichtlich
+über deren bleiches Aussehen, über ihre tiefliegenden
+Augen und den schmerzlichen Zug um den Mund.
+Auf ihre theilnehmenden Fragen gab ihr Auguste aber
+nur ausweichende Antworten; sie scheute sich selbst der
+Freundin gegenüber das einzugestehen, was ihr die
+Brust beengte und ihr Herz mit einer wohl unbestimmten,
+aber nichts desto weniger peinigenden Angst
+erfüllte und Pauline, die das herausfühlte, war
+freundlich genug, auf ihren Wunsch einzugehen. Ihr
+lag aber jetzt besonders daran, die Freundin zu zerstreuen,
+und ohne daß Auguste es merkte, wußte sie
+das Gespräch auf das Abenteuer mit der Kartenschlägerin
+zu bringen. Nicht mit Unrecht glaubte sie, daß
+jene Aufregung wesentlich dazu beigetragen hatte, sie
+niederzudrücken, und war das wirklich der Fall, so
+kannte sie ein Mittel sie wieder aufzurichten.</p>
+
+<p>»Denke Dir nur Schatz,« lachte sie, ganz wieder
+in ihrer, alten fröhlichen Laune, »ich bin jetzt unserer
+Kartenschlägerin auf die Spur gekommen.«</p>
+
+<p>»Auf die Spur? &ndash; wie so?«</p>
+
+<p>»Oder ich habe wenigstens einen Beweis erhalten,
+<a class="pagenum" name="page_119" title="119"> </a>
+was es mit ihrer Kunst für eine Bewandniß
+hat.«</p>
+
+<p>»In der That? &ndash; aber durch was?« frug Auguste
+gespannt.</p>
+
+<p>»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort,
+»daß ich bei ihr anfragen wollte, wo ein mir gestohlenes
+Corallen-Halsband hingekommen sei und wo
+ich den Dieb zu suchen hätte. Sie ließ mich aber die
+Frage gar nicht stellen, denn jedenfalls hatte sie am
+Brunnen von unseren Mägden erfahren, daß ich das
+Halsband vermisse. In den letzten drei Tagen war
+auch wirklich bei uns von nichts Anderem gesprochen
+worden, und meine Köchin, wie ich es mir gedacht, schon
+bei der Alten gewesen, um sie um Rath zu fragen.«</p>
+
+<p>»Also wirklich,« sagte Auguste.</p>
+
+<p>»Du weißt auch, daß sie meinen Verdacht auf
+irgend eine Dame mit grünen Haubenbändern lenken
+wollte.«</p>
+
+<p>»Allerdings &ndash; hatte sie sich geirrt?«</p>
+
+<p>»Das Komische bei der Sache ist das,« lachte
+Pauline, »daß gar Niemand das Halsband gestohlen
+hat, sondern daß ich es heute morgen selber in einer
+kleinen Schieblade meines Secretairs fand, wohinein
+ich es neulich, wahrscheinlich in großer Zerstreutheit
+gelegt.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_120" title="120"> </a>
+»Es war gar nicht gestohlen?«</p>
+
+<p>»Gott bewahre, folglich konnte die »Dame« mit
+den grünen Haubenbändern auch nicht der Dieb sein.
+Jetzt hab' ich der Sache aber näher nachgeforscht und
+von meinen Leuten erfahren, daß die alte Frau Heßberger
+eine ganz besondere Wuth auf meine Wäscherin
+hat, weil diese sie irgend einmal, wer weiß aus welchem
+Grund, ich glaube wegen Verleumdung, verklagt
+hat, und die Alte fünf Thaler Strafe zahlen mußte.
+Die Schusters-Frau scheint eine ganz durchtriebene
+Person zu sein und ich glaube, es ist sehr unnöthig,
+daß ihr liebenswürdiger Gatte, während sie ihre
+<em class="gesperrt">Kunst</em> ausübt, geistliche Lieder singt, um den Teufel
+fernzuhalten, es scheint Alles sehr natürlich zuzugehen.
+&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber woher wußte sie&nbsp;&ndash;« wollte Auguste fragen,
+brach aber rasch und plötzlich mitten darin ab.</p>
+
+<p>»Was, mein Herz?« frug Pauline &ndash; »etwa das,
+was sie Dir von einem <em class="gesperrt">grauen Mann</em> sagte? Das
+wolltest Du mir ja heute erzählen und ich bin fest
+überzeugt, wir kommen der Sache ebenfalls auf die
+Spur. &ndash; Sieh mein Herz, mit all den Geistergeschichten
+läuft es ja doch jedesmal auf blinden Lärm
+hinaus, denn auch das was uns die Frau Präsidentin
+damals als <em class="gesperrt">Thatsache</em> von der Kammgarnspinnerei
+<a class="pagenum" name="page_121" title="121"> </a>
+erzählte, hat sich als ein einfacher Betrug herausgestellt.«</p>
+
+<p>»Als Betrug?«</p>
+
+<p>»Gewiß und gestern Abend haben sie die Thäter
+erwischt. Aber nun erzähle mir auch, was <em class="gesperrt">Dich</em>
+drückt.«</p>
+
+<p>Auguste zögerte noch, aber sie hatte der Freundin
+einmal versprochen, ihr das Geheimniß mitzutheilen
+und es that ihr selber wohl, irgend Jemand zu haben,
+dem sie ihr Herz vollkommen ausschütten konnte. So
+erzählte sie denn auch jetzt, während der Abend schon
+wieder zu grauen begann, von der ersten Erscheinung,
+die sie in ihres Mannes Zimmer gehabt und wollte
+eben zu dem zweiten Begegnen mit dem unheimlichen
+Wesen übergehen, als sie laute Stimmen auf dem
+Vorsaal hörten.</p>
+
+<p>»Die Frau Justizräthin zu Haus?« &ndash; Es war
+des Doctors Stimme, die Magd erwiderte etwas
+darauf und gleich darauf klopfte es an die Thür.</p>
+
+<p>Es war der Arzt, der seine Patientin zu besuchen
+kam. Er freute sich übrigens sie so wohl und munter
+zu finden und meinte, nach ein paar hingeworfenen
+Fragen: &ndash; »Aber wie mir scheint, habe ich die Damen
+in einer wichtigen Unterhaltung gestört &ndash; thut mir
+leid, aber wir Aerzte kommen oft ungelegen.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_122" title="122"> </a>
+»In einer Unterhaltung,« sagte da Pauline, »die
+auch <em class="gesperrt">Sie</em> angeht, lieber Doctor, denn sie betrifft
+Augustens Krankheit ebenfalls mit &ndash; bitte, erzähle
+weiter, liebes Herz.«</p>
+
+<p>»Aber Pauline,« sagte die Frau erschreckt, »das ist
+nicht Recht. Das was ich Dir erzählte, war nur für
+<em class="gesperrt">Dich</em> bestimmt.«</p>
+
+<p>»Aber mein gutes Kind,« sagte die junge Frau
+»wenn ich nicht sehr irre, so hat gerade diese Phantasie
+auf Dein körperliches Befinden den größten und
+zwar nachtheiligsten Einfluß ausgeübt, und wie kann
+Dich ein Arzt wieder herstellen, wenn er nicht die <em class="gesperrt">Ursache</em>
+Deiner Krankheit erfährt.«</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Frau Hofräthin, daß Sie mir
+da beistehen,« sagte der Doctor »und bitte Sie nun
+selber, beste Frau, mir nichts vorzuenthalten. Außerdem
+wissen Sie, wie ich Ihnen und Ihrem Mann zugethan
+bin und schon als <em class="gesperrt">Freund</em> des Hauses, als
+der ich mich doch betrachten darf, ersuche ich Sie dringend
+mir Alles mitzutheilen.«</p>
+
+<p>Die Justizräthin sträubte sich noch ein wenig, aber
+es half ihr Nichts; der Doctor versicherte sie dabei,
+daß ihr eigener Mann ihm schon einen Theil vertraut
+habe, er wisse also doch einmal, um was es sich
+handele und solcher Art gedrängt, erzählte Auguste
+<a class="pagenum" name="page_123" title="123"> </a>
+denn das zweite, räthselhafte Begegnen jener Erscheinung,
+ja verhehlte sogar nicht, daß sie von einer
+Wiederholung derselben das Schlimmste fürchte.</p>
+
+<p>Der Doctor hatte ihr schweigend zugehört &ndash;
+draußen wurde wieder eine Thür geöffnet und sein
+scharfes Ohr vernahm leise Schritte im Vorsaal.
+Er wußte, der Justiz-Rath war mit dem Mann im
+grauen Rock eingetroffen. Der Abend brach dabei
+immer mehr herein und der Doctor bat, daß man die
+Lampe anzünden möge, da eben die Dämmerstunden
+die besten Hülfsgenossen solcher Phantasien seien.
+Pauline fügte jetzt auch noch die Geschichte der Kartenschlägerin
+hinzu, zu der der Doctor nur lächelnd den
+Kopf schüttelte; endlich aber sagte er:</p>
+
+<p>»Also, Sie fürchten eine <em class="gesperrt">dritte</em> Erscheinung,
+liebe Frau Justizräthin, weil Sie durch die zweite die
+Bestätigung der ersten erhalten haben?«</p>
+
+<p>»Ja,« hauchte die Frau.</p>
+
+<p>»Sie würden auch« &ndash; fuhr der Doktor fort, »wie
+Sie mir ja selber gestanden haben, ohne die zweite
+geneigt gewesen sein, die erste als eine bloße Phantasie,
+als eine Ueberreizung Ihrer Nerven anzusehen, nicht
+wahr?«</p>
+
+<p>»&ndash; Ja&nbsp;&ndash;« erwiderte die Frau wieder, doch
+etwas zögernd.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_124" title="124"> </a>
+»Schön,« nickte der Doctor vor sich hin, »wenn
+ich nun hier mit meinem Zauberstab« und er hob
+seinen Stock, den er noch in der Hand hielt, »Ihnen
+selber die Erscheinung zum dritten und letzten Mal
+heraufbeschwören würde, wobei ich Ihnen zugleich beweisen
+könnte, daß wir es mit nichts Anderem, als
+einem vollkommen compacten Wesen aus Fleisch und
+Blut zu thun haben, &ndash; würden Sie mir dann zugestehen,
+daß Sie sich geirrt, und daß solche Erscheinungen
+im Allgemeinen, und hier auch im Besondern,
+nie und nimmer als etwas Anderes betrachtet werden
+dürfen, wie als krankhafte Ausgeburten der
+Phantasie?«</p>
+
+<p>»Jene Erscheinung heraufbeschwören?« frug Auguste
+ordentlich erschreckt.</p>
+
+<p>»Ja &ndash; aber nicht etwa aus dem Boden, wie
+einen Geist, sondern wie es sich gebührt, die Treppe
+herauf,« lachte der Doctor. »Würden Sie mir versprechen,
+sich recht tapfer dabei zu halten und ehe
+Sie uns wieder ohnmächtig werden, erst einmal genau
+zu prüfen, ob Sie es mit einem Geist oder einem
+wirklichen Menschen zu thun haben?«</p>
+
+<p>»Ich begreife Sie nicht,« &ndash; stammelte die Frau.</p>
+
+<p>»Ist Ihr Mann nicht zurückgekehrt?« sagte der
+Doctor und horchte nach dessen Thür hinüber &ndash; »ich
+<a class="pagenum" name="page_125" title="125"> </a>
+dächte, ich hätte ihn in seiner Stube gehört &ndash; he
+Justizrath?« rief er, indem er aufstand und an jene
+Thür klopfte.</p>
+
+<p>»Ja ich komme gleich« &ndash; antwortete Bertlings
+Stimme.</p>
+
+<p>»Und wann soll ich ihn sehen?« rief die Frau, die
+sich einer leichten Anwandlung von Furcht nicht erwehren
+konnte.</p>
+
+<p>»Wann? &ndash; jetzt gleich, wenn Sie wollen,« lachte
+der Arzt. »Vorher muß ich Ihnen aber noch bemerken,
+daß der berühmte Mann im grauen Rock, vor dem
+Sie einen solchen Respect haben, richtig aufgefunden
+ist &ndash; denn was spürte die Polizei nicht heraus, wenn
+man ihr nur ihre Zeit läßt &ndash; und er hat sich als ein
+vollkommen achtbares, aber auch eben so harmloses
+Individuum herausgestellt, das damals nicht etwa
+ein überirdischer Auftrag, sondern ein sehr irdisches
+Verlangen nach einer kleinen Summe Geldes zu
+Ihrem Gatten getrieben hatte. Der gute Mann ist
+aber etwas schüchterner Natur und da Sie bei seinem
+Anblick ohnmächtig wurden, hielt er sich für
+überflüssig und ging seiner Wege. Diesmal wird er
+aber nicht verschwinden und ich frage Sie jetzt noch
+einmal, fühlen Sie sich in diesem Augenblick stark genug,
+Ihrem vermutheten Gespenst nicht allein noch
+<a class="pagenum" name="page_126" title="126"> </a>
+einmal zu begegnen, sondern ihm auch guten Abend
+zu sagen und nachher sogar eine Tasse Thee mit ihm
+zu trinken?«</p>
+
+<p>»Doctor &ndash; wenn Sie mir <em class="gesperrt">die</em> Ueberzeugung
+geben könnten!« rief die Frau, indem sie von ihrem
+Stuhl emporsprang.</p>
+
+<p>»Schön« sagte der Doctor, »dann bitte, geben
+Sie mir Ihren Arm. &ndash; Sie sind ja sonst ein vernünftiges
+Frauchen,« setzte er herzlich hinzu, »und
+werden sich doch wahrhaftig Ihren klaren Verstand
+nicht von einer bloßen Einbildung todtschlagen lassen.
+&ndash; Also jetzt kommt die Geisterbeschwörung und danach
+hoffe ich Sie wieder so munter und heiter zu
+sehen, wie nur je.«</p>
+
+<p>Er ließ ihr auch keine Zeit zu weiteren Einwendungen,
+nahm ihren Arm und führte sie der Thür
+von ihres Gatten Zimmer zu.</p>
+
+<p>»Können wir eintreten?« rief er hier, indem er
+anklopfte.</p>
+
+<p>»Nur herein!« tönte des Justizraths frische Stimme,
+allein als der Doctor die Thür aufwarf, fühlte
+er wie die Justizräthin an seinem Arm zusammenzuckte.
+Pauline war jedoch schon an ihre andere
+Seite getreten, um sie im Nothfall zu unterstützen.
+Aber die junge Frau hatte nicht zu viel versprochen,
+<a class="pagenum" name="page_127" title="127"> </a>
+wenn sie sagte, daß sie sich stark fühlte und doch gehörte
+viel Willenskraft dazu, dem was sie bis dahin
+für eine furchtbare Wirklichkeit gehalten &ndash; eine Botschaft
+aus der Geisterwelt &ndash; jetzt wieder, genau wie an
+jenem Abend, zu begegnen und ruhig dabei zu bleiben.</p>
+
+<p>Auf dem Tisch stand die Lampe und warf ihren
+düsteren Schein über das kleine Gemach, links neben
+dem Tisch saß der Justizrath &ndash; rechts neben dem
+Ofen, den rechten Arm über die Stuhllehne, das
+etwas bleiche Antlitz der Thür zugedreht &ndash; Auguste
+mußte tief Athem holen, denn ein unsagbares Etwas
+schnürte ihr die Brust zusammen, &ndash; saß der Mann
+im grauen Rock, genau wie sie ihn an jenem Abend
+gesehen, in jeder Miene, in jeder Falte seines Rockes.</p>
+
+<p>»So meine liebe Frau Justizräthin«, rief aber der
+Doctor jetzt &ndash; »hier habe ich also das Vergnügen
+Ihnen unseren Buzemann, unser Schreckgespenst vorzustellen.
+Herrn Conrad Wohlmeier aus Königsberg
+&ndash; Herr Wohlmeier, Frau Justizräthin Bertling
+&ndash; bitte reichen Sie ihr die Hand, damit sie nicht
+etwa glaubt, Sie beständen blos aus Kohlenstoff und
+Stickstoffgas.«</p>
+
+<p>Der kleine Mann war etwas verlegen von seinem
+Stuhl aufgestanden und der ihn noch immer starr ansehenden
+Frau die Hand entgegenreichend, sagte er:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_128" title="128"> </a>
+»Frau Justizräthin, es sollte mir unendlich leid
+thun, wenn Sie mich für einen Geist gehalten haben. &ndash;
+Ich bin nur ein armer Gymnasiallehrer, der&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bravo«! rief der Doctor lachend aus, »das war
+eine vortreffliche Rede, die Sie da gehalten haben, und
+nun, meine liebe Frau Justizräthin, sind Sie jetzt überzeugt,
+daß Sie Ihrem guten Mann ganz nutzlos eine
+Menge Sorge und Noth gemacht und sich selber in besonders
+thörichter Weise gequält und geängstigt haben?«</p>
+
+<p>»Lieber Doctor &ndash; wie soll ich Ihnen danken?«
+sagte die Frau, während Bertling auf sie zu ging und
+sie umarmte und küßte.</p>
+
+<p>»Und jetzt!« rief Pauline lachend aus, »wollen wir
+auch noch den letzten Zeugen herein holen, der eine ganz
+vortreffliche Erklärung abgeben kann, woher die Frau
+Heßberger etwas von dem Mann im grauen Rock gewußt«
+&ndash; und damit sprang sie nach der Thür des
+Doctors, um die Rieke herein zu rufen &ndash; aber die
+Thür war fest verschlossen und der Schlüssel abgezogen.
+&ndash;</p>
+
+<p>»Nun was ist das?« frug sie &ndash; »die Thür ist
+ja zu.«</p>
+
+<p>»Hm, ja,« lachte der Justizrath, aber doch etwas
+verlegen, »da ich &ndash; da ich doch nicht wissen konnte,
+wie die Sache heute ablief, so&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_129" title="129"> </a>
+»So hat er die Thür abgeschlossen, daß ihm der
+Geist nicht wieder davonlaufen konnte!« jubelte der
+Doctor &ndash; »das ist vortrefflich. Justizrath, Sie sind
+ein Schlaukopf.«</p>
+
+<p>Die Rieke wurde indessen hereingeholt und bestätigte,
+was sie schon an dem Nachmittag der Justizräthin
+gestanden, daß sie an jenem Abend die Frau
+Heßberger unten im Haus getroffen und sie gefragt
+habe, ob sie keinen Mann in einem grauen Rock gesehen,
+der so plötzlich weg gewesen wäre und über den
+sich die Frau so geängstigt hätte, daß sie ohnmächtig
+geworden wäre. Danach konnte sich die Kartenschlägerin
+wohl denken, daß die Erwähnung jenes Mannes
+noch frisch in der Erinnerung der Justizräthin sein
+würde und in der Art solcher Frauen benutzte sie das
+geschickt genug.</p>
+
+<p>Der Doctor schwur übrigens, daß er der Gesellschaft
+da oben über kurz oder lang das Handwerk legen
+lassen werde, denn er versicherte, daß ihm in letzter
+Zeit schon verschiedene Fälle vorgekommen wären, wo
+sie mit ihren so genannten Prophezeihungen Unheil gestiftet
+oder den Leuten sehr unnöthiger Weise Kummer
+und Herzeleid bereitet hätten.</p>
+
+<p>Unter der Zeit deckte die Rieke den Tisch und die
+kleine Gesellschaft setzte sich dann unter Lachen und
+<a class="pagenum" name="page_130" title="130"> </a>
+heiteren Gesprächen &ndash; die Justizräthin zwischen den
+Doctor und »den Mann im grauen Rock« &ndash; zu dem
+frugalen aber fröhlichen Mahle nieder. Von dem Abend
+an aber verließen jene bösen Träume die Justizräthin,
+denn zu fest hatte sie an die Erscheinung geglaubt, um
+nicht jetzt, wo ihr der unleugbare Beweis des Gegentheils
+geworden, auch nicht die ganze Gespensterfurcht
+fallen zu lassen. Der Justizrath aber, seinem Wort getreu,
+und nur zu glücklich, sein liebes Weib von jenem
+unheilvollen Gedanken geheilt zu sehen, beschenkte den
+kleinen Lehrer noch an dem nämlichen Abend so reichlich,
+daß er am nächsten Morgen, jeder Sorge enthoben,
+seine Heimreise und dann seine Stellung in der Vaterstadt
+antreten konnte.</p>
+
+
+
+
+<h2>Die Folgen einer telegraphischen Depesche.<a class="pagenum" name="page_131" title="131"> </a></h2>
+
+
+<p class="center"><b>Telegraphische Depesche</b></p>
+
+<p class="center">Dr. A. Müller Leipzig &ndash;straße 15.</p>
+
+<p class="center">Herzlichsten Glückwunsch &ndash; heutigen Geburtstag noch oft
+wiederkehren &ndash; Alle wohl &ndash; tausendmal grüßen &ndash; Inniger
+Freundschaft.</p>
+
+<p class="signature"><span class="gesperrt">Mehlig</span>.</p>
+
+<p>Obige Depesche war Morgens Früh, sieben Uhr
+in Berlin aufgegeben worden, gelangte durch den
+Drath nach Leipzig und wurde dem erst gestern angestellten
+Depeschenträger Lorenz als erste Besorgung
+zur augenblicklichen Beförderung übergeben.</p>
+
+<p>Lorenz lief was er laufen konnte, warf am richtigen
+Haus angelangt, noch einen flüchtigen Blick auf
+die Adresse, zog dann die Klingel an der Hausthür,
+und wurde ohne Weiteres eingelassen.</p>
+
+<p>Wie er die Hausflur betrat, öffnete sich rechts eine
+Thür. Ein ältliches Fräulein mit weißer Haube und
+Schürze kam heraus, und trug einen Präsentirteller
+<a class="pagenum" name="page_132" title="132"> </a>
+in der Hand, auf dem das, wahrscheinlich eben
+gebrauchte Kaffeeservice stand; Lorenz trat auf sie zu.</p>
+
+<p>»Telegrafische Depesche!« sagte er und hielt ihr
+das Couvert mit dem rothen Streifen entgegen.</p>
+
+<p>»Jesus Maria und Joseph!« schrie die Dame,
+schlug in blankem Entsetzen die Hände über den Kopf
+zusammen und ließ das ganze Kaffeeservice auf die
+Erde fallen.</p>
+
+<p>»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte
+Lorenz, indem er sich bückte und die halbe Kaffeekanne
+aufhob, den Präsentirteller aber liegen ließ.</p>
+
+<p>»Von wem ist sie denn?« schrie aber die Dame,
+ohne selbst in dem Augenblick des zerbrochenen Geschirrs
+zu achten.</p>
+
+<p>»Ja das weeß ich Sie werklich nich,« sagte Lorenz,
+»aber sie is für den Herrn Doctor Müller.«</p>
+
+<p>»Doctor Müller? &ndash; Sie Ungeheuer Sie, was
+bringen Sie mir denn da das entsetzliche Papier?«
+rief die Dame mit vor Zorn gerötheten Wangen.</p>
+
+<p>»Aber ich bitte Sie um tausend Gottes Willen
+mein bestes Mamsellchen!«</p>
+
+<p>»Jetzt kann mir Ihr Telegraph mein Service
+bezahlen,« zürnte aber die schöne Wüthende, »das ist
+ja ärger wie Einbruch und Diebstahl! oh, das herrliche
+Porcellan!« Sie kniete neben den Scherben nieder
+<a class="pagenum" name="page_133" title="133"> </a>
+und begann die auseinander gesprengten Stücke, allerdings
+vergebens, wieder zusammenzupassen. Lorenz
+wurde es aber unheimlich und wenn er auch nicht recht
+begriff weshalb die Dame so erschreckt sei, hielt er
+dies doch für einen passenden Moment sich aus dem
+Staub zu machen. Doctor Müller wohnte jedenfalls
+oben. In Gedanken behielt er auch die halbe Kaffeekanne
+bis zur Treppe in der Hand, dort legte er sie
+aber vorsichtig auf die erste Stufe und stieg dann
+rasch hinauf in die Bel-Etage.</p>
+
+<p>Hier mußte er wieder klingeln. Ein Dienstmädchen
+öffnete ihm die Thür.</p>
+
+<p>»Telegrafische Depesche!« sagte Lorenz und hielt
+ihr das Papier entgegen. Kaum war aber das Wort
+heraus, als das Mädchen ihm die Thür wieder vor
+der Nase zuschlug und er hörte nur noch wie sie drin
+über den Gang stürzte und in ein Zimmer hineinschrie:
+»O Du lieber Gott eine telegraphische Depesche.«
+Ein lauter Schrei antwortete &ndash; ängstlich hin und
+wiederlaufende Schritte wurden drinnen laut und
+Niemand schien sich weiter um Lorenz zu bekümmern.</p>
+
+<p>»Hm,« dachte dieser, »das is mer doch eene kuriose
+Geschichte &ndash; was se nur derbei haben? &ndash; wenn se
+nich bald kommen, bimmele ich noch eenmal.«</p>
+
+<p>Schon hatte er die Hand zum zweitenmale nach
+<a class="pagenum" name="page_134" title="134"> </a>
+der Klingel ausgestreckt, als es drinnen wieder laut
+wurde. Deutlich konnte er die Schritte einer Anzahl
+von Personen hören, die auf die Saalthür zukamen
+und diese wurde endlich wieder halb geöffnet.</p>
+
+<p>Wenn Lorenz nicht selber so erschreckt gewesen
+wäre, hätte er gern gelacht, denn auf dem Gang drinnen
+stand die wunderlichste Procession, die er in seinem
+ganzen Leben gesehen. Vorn ein Herr mit einem
+dicken rothen Gesicht und feuerrothem Backenbart,
+einem sehr schmutzigen Schlafrock, darunter die zusammengebundenen
+Unterhosen und ein Paar niedergetretene
+Pantoffeln. Hinter ihm stand eine Dame, ebenfalls
+im höchsten Morgennegligée mit weißer Nachtjacke
+und Unterrock. Rechts und links von diesen beiden
+drängten sich zwei Dienstboten herbei, Neugierde und
+Furcht in den bleichen Gesichtern und vier oder fünf
+Kinder schauten dazu mit den noch ungewaschenen und
+ungekämmten Köpfen vor, wo sie irgend Raum finden
+konnten diese durchzuschieben.</p>
+
+<p>»Telegrafische Depesche für Herrn Doctor Müller,«
+sagte Lorenz, um diesmal keine Verwechslung des
+Namens möglich zu machen.</p>
+
+<p>»Müller? &ndash; Holzkopf!« schrie aber der Herr im
+Schlafrock und warf die Thür von innen wieder dermaßen
+<a class="pagenum" name="page_135" title="135"> </a>
+in's Schloß, daß Lorenz kaum Zeit behielt zurückzuspringen.</p>
+
+<p>Etwas erstaunt blieb er, mit seiner Depesche in der
+Hand, jetzt an der Schwelle stehn, fing aber doch nun
+an zu glauben, daß die ganze Sache irgend etwas
+Furchtbares und Gefährliches in sich trage, das mit den
+geheimnißvollen Telegraphendrähten natürlich in directer
+Verbindung stehen mußte, und daß jetzt mehr als
+je daran liege, die richtige Person dafür zu finden. Vor
+allen Dingen suchte er deshalb, ehe er sich weiteren
+Mißverständnissen aussetzte, die Wohnung des besagten
+Doctor Müller ausfindig zu machen und der Zeitungsjunge,
+der eben das Tageblatt brachte, diente
+ihm dabei als untrügliche Quelle.</p>
+
+<p>»Doctor Müller?« sagte dieser &ndash; »eine Treppe
+höher, können gleich das Tageblatt mit hinaufnehmen
+&ndash; doch Treppen genug zu laufen.«</p>
+
+<p>Lorenz übernahm die Besorgung und befand sich
+bald zu seiner innigen Beruhigung an der rechten
+Thür. Ein kleines weißes Schild mit dem Namen
+des Dr. Müller darauf zeigte ihm, daß er sein Ziel
+erreicht habe.</p>
+
+<p>An dieser Vorsaalthür war keine Schelle. Er
+klopfte erst ein paar Mal, und da ihm Niemand antwortete,
+drückte er die Klinke nieder und trat ein.
+<a class="pagenum" name="page_136" title="136"> </a>
+Auf dem Vorsaal sah er auch Niemanden und die Küche
+stand leer, in der nächsten Stube hörte er aber Stimmen,
+ging dort hinüber und klopfte an.</p>
+
+<p>Wie sich die Thür öffnete glänzte ihm ein mit
+Blumen, Torten und Geschenken bedeckter Tisch entgegen
+und eine junge allerliebste kleine Frau frug ihn
+freundlich was er wünsche. Lorenz, der außerordentlich
+gutmüthigen Herzens war, dachte aber mit Zagen
+an die Verwirrung, die er parterre und im ersten Stock
+schon angerichtet hatte und wünschte, mit dem unbestimmten
+Bewußtsein, daß er der Träger irgend einer
+furchtbaren Nachricht wäre, diese der jungen hübschen
+Frau so vorsichtig als möglich beizubringen.</p>
+
+<p>»Ach heren Se,« sagte er deshalb &ndash; »erschrecken
+Sie nich &ndash; es is Sie was vom Telegrafen.«</p>
+
+<p>Die junge Frau sah ihn stier an, hob langsam den
+rechten Arm in die Höh und brach mit dem kaum hörbaren
+Schrei: »Er ist todt!« bewußtlos zusammen.
+Ihr Gatte hatte auch in der That kaum Zeit sie aufzufangen
+und vor einem vielleicht schlimmen Sturze
+zu bewahren.</p>
+
+<p>»Um Gottes Willen, was ist?« frug er dabei
+den wie halb vom Schlag gerührten Depeschenträger
+»eine Telegraphische Depesche? &ndash; woher?«</p>
+
+<p>»Nun, da Sie's doch schon einmal wissen,« sagte
+<a class="pagenum" name="page_137" title="137"> </a>
+Lorenz, inniges Mitleid in den erschreckten Zügen &ndash;
+»es is Sie richtig vom Telegrafen.«</p>
+
+<p>Der junge Mann trug sein armes, bewußtloses
+Frauchen auf das Sopha, wo er sie den Händen der
+jammernd herbeistürzenden Schwiegermutter übergab.
+Das Kind, das die Wärterin auf dem Arme trug,
+fing dabei an zu schreien, die Köchin war ebenfalls
+herein gekommen und stand schluchzend und händeringend
+an der Thür und mit zitternden Händen
+erbrach jetzt Dr. Müller die Depesche, deren Buchstaben
+ihm im Anfang vor den Augen flirrten und tanzten.
+Endlich las er leise vor sich hin:</p>
+
+<p class="center">Herzlichen Glückwunsch &ndash; heutigen Geburtstag
+&ndash; noch oft wiederkehren &ndash; Alle wohl &ndash;
+tausendmal grüßen &ndash; liebe Frau auch. Inniger
+Freundschaft.</p>
+
+<p class="signature">Mehlig.</p>
+
+<p>Erst am Schluß und wie ihm das Bewußtsein
+dämmerte um was es sich hier handele, knitterte er
+das Papier in der Hand zusammen, drehte einen Ball
+daraus und schleuderte diesen mit aller Gewalt auf
+den Boden.</p>
+
+<p>»Ist er todt?« sagte Lorenz in theilnehmendem
+Mitgefühl.</p>
+
+<p>»Gehen Sie zum Teufel,« rief Dr. Müller in
+<a class="pagenum" name="page_138" title="138"> </a>
+leicht verzeihlichem Aerger &ndash; »Sie und Ihre telegraphische
+Depesche &ndash; solchen Glückwunsch möcht ich
+mir nächstes Jahr noch einmal zum Geburtstag
+wünschen &ndash; meine arme Frau kann den Tod davon
+haben.«</p>
+
+<p>»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte
+Lorenz, Niemand bekümmerte sich aber mehr um ihn,
+denn die Uebrigen waren jetzt sämmtlich um die Ohnmächtige
+beschäftigt, so daß er die Gelegenheit für
+passend hielt, sich so rasch und unbemerkt als möglich
+zu entfernen. Durch das Haus mußte er aber noch
+einmal förmlich Spießruthen laufen.</p>
+
+<p>»Ach Sie Unglücksvogel,« sagte das Kindermädchen,
+das ihm mit einer Vase frischen Wassers, um der
+Frau zu helfen, an der Thür begegnete.</p>
+
+<p>»Das nächste Mal erkundigen Sie sich vorher
+nach dem Namen, Sie Dingsda« &ndash; sagte der Herr
+in dem schmutzigen Schlafrock, der an der Saalthür
+in der ersten Etage ganz besonders auf ihn gewartet
+haben mußte, als er dort rasch und geräuschlos vorbeigleiten
+wollte, und unten in der Hausflur saß die
+Mamsell noch immer bei den Scherben, die sie vergebens
+zusammenpaßte.</p>
+
+<p>Auch diese empfing ihn wieder mit einer Fluth von
+Vorwürfen, Lorenz aber hielt sich nicht auf und floh
+<a class="pagenum" name="page_139" title="139"> </a>
+aus dem Haus hinaus, als ob er hätte stehlen wollen
+und dabei erwischt worden wäre.</p>
+
+<p>Erst nach langer Zeit gewöhnte er sich auch an
+diese unausbleiblichen Folgen derartiger Depeschen,
+und als ich ihn neulich sprach, hatte er sogar eine Art
+statistischer Tabelle aufgestellt, nach der er berechnet
+haben wollte, daß durchschnittlich auf je vier telegraphische
+Depeschen &ndash; denn nicht alle laufen so unglücklich
+ab, &ndash; eine Ohnmacht und zwei zerbrochene Tassen,
+nur auf die sechste oder siebente aber ein ernstlicher
+Unfall folge.</p>
+
+<p>»S'is was Scheenes um en Telegrafen,« sagte er
+dabei, »aber Gott bewahre Eenen vor ener telegrafischen
+Depesche!«</p>
+
+
+
+
+<h2>Der Polizeiagent.<a class="pagenum" name="page_140" title="140"> </a></h2>
+
+
+<h3>I.<br />
+
+<b>Im Packwagen.</b></h3>
+
+
+<p>Es war im Juli des Jahres 18&ndash;, als der von
+Cassel kommende Schnellzug in Guntershausen hielt
+und dort solch eine Unzahl von Passagieren vorfand,
+daß die Schaffner kaum Rath und Aushilfe wußten.
+Alle Welt befand sich aber auch gerade in dieser Zeit
+unterwegs und die Züge &ndash; da das andauernd
+schlechte Wetter bisher die Reisenden zurückgehalten
+&ndash; waren bei dem ersten warmen Sonnenstrahl gar
+nicht auf einen so plötzlichen Andrang berechnet gewesen.</p>
+
+<p>Uebrigens machte man möglich, was eben möglich
+zu machen war. Alle vorhandenen Wagen wurden
+eingeschoben, jeder noch freie Platz dritter Klasse &ndash;
+zum großen Aergerniß mit Hutschachteln und Reisetaschen
+reich bepackter Damen &ndash; auf das gewissenhafteste
+<a class="pagenum" name="page_141" title="141"> </a>
+ausgefüllt und dann in die zweite, ja sogar
+selbst in die erste Klasse hineingeschoben was eben hineinging.
+Die nächsten Stationen nahmen ja auch wieder
+Reisende ab, und nach und nach regulirte sich alles.</p>
+
+<p>Durch diesen Aufenthalt hatte sich der Schnellzug
+aber auch um eine gute halbe Stunde verspätet und
+war eben zum Abfahren fertig, als noch ein leichter
+Einspänner angerasselt kam und ein einzelner Herr,
+eine kleine lederne Reisetasche in der Hand, heraus
+und darauf zusprang.</p>
+
+<p>»Zu spät,« rief ihm der Oberschaffner entgegen
+und gab den verhängnißvollen schrillenden Pfiff; »wir
+haben alle Personenwagen besetzt.«</p>
+
+<p>Der Fremde, der augenscheinlich kein Neuling auf
+Reisen war, warf einen raschen, prüfenden Blick
+über die lange Wagenreihe und sah Kopf an Kopf in
+den Fenstern &ndash; aber die Schiebethür des Packwagens
+stand noch halb geöffnet.</p>
+
+<p>»Dann werde ich mich bis zur nächsten Station
+bei den Koffern einquartiren,« lachte er und ohne
+die Einwilligung des Schaffners abzuwarten, der
+übrigens auch nichts dagegen hatte, sprang er auf den
+Wagentritt und in den Packwagen hinein. Bei einem
+solchen Andrang von Personen mußte sich ein jeder
+helfen so gut er eben konnte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_142" title="142"> </a>
+»Das ist eigentlich nicht erlaubt&nbsp;&ndash;« sagte der
+Packmeister; aber der Fremde kannte genau die
+Sprache, die hier alleinige Geltung hatte, und dem
+Packmeister ein Stück Geld in die sich unwillkürlich
+öffnende Hand drückend, lachte er:</p>
+
+<p>»Ich führe ganz vortreffliche Cigarren bei mir
+und wenn ich nicht im Wege bin, erlauben Sie mir
+wohl eine Viertelstunde Ihnen hier Gesellschaft zu
+leisten.«</p>
+
+<p>»Haben Sie denn ein Billet?« frug der Mann
+und sein <em class="gesperrt">Gefühl</em> sagte ihm, daß er ein großes Silberstück
+in der Hand hielt.</p>
+
+<p>»Noch nicht &ndash; ich bin eben erst, wie der Zug abgehen
+wollte, mit einem Einspänner von Melsungen
+herüber gekommen. Mein Billet nehme ich auf der
+nächsten Station.«</p>
+
+<p>»Na da setzen Sie sich nur da drüben auf den Koffer,
+in Treysa gibt's Platz,« bemerkte der Packmeister,
+während der Fremde seine Cigarrentasche herausnahm
+und sie dem Manne hinhielt.</p>
+
+<p>»Mit Erlaubniß &ndash; danke schön« &ndash; die Bekanntschaft
+war gemacht, der Zug überdies in Bewegung
+und der Passagier, bis ein anderer Platz für ihn gefunden
+werden konnte, rechtsgültig untergebracht.</p>
+
+<p>Eine Cigarre wirkt überhaupt oft Wunder und
+<a class="pagenum" name="page_143" title="143"> </a>
+die Menschen, die sich diesen Genuß aus ein oder dem
+andern Grunde versagen, wissen und ahnen gar nicht,
+wie sehr sie sich oft selber dadurch im Lichte stehen.
+Mit einer Cigarre ist jeder im Stande, augenblicklich
+auf indirecte Art eine Unterhaltung anzuknüpfen, indem
+man nur einen Reisegefährten um Feuer bittet.
+Ist dieser in der Stimmung, darauf einzugehen, so
+giebt er die eigene Cigarre zum Anzünden. Paßt es
+ihm aber nicht, so bleibt ihm immer noch ein Ausweg
+&ndash; er reicht dann dem Bittenden einfach ein
+Schwefelholz. Der Empfänger dankt, zündet seine
+Cigarre an, wirft das Holz weg und betrachtet sich
+als abgewiesen.</p>
+
+<p>Mit einer dargebotenen Cigarre gewinne ich mir
+außerdem das Herz unzähliger Menschen, die der
+<em class="gesperrt">nicht</em> rauchende Reisende in gemeiner Weise durch
+schnöde Fünf- und Zehn-Groschenstücke gewinnen muß.
+&ndash; Sitz' ich auf der Post neben dem Postillion auf
+dem Bock, so öffnet mir eine Cigarre sein ganzes Herz;
+ich erfahre nicht allein die außerordentlichen Eigenschaften
+seiner Pferde, sondern auch die Familiengeheimnisse
+des Posthalters und erweiche ich dasselbe
+sogar noch mit einem Glase Bier, so liegt sein eigenes
+Innere offen vor mir da. Selbst der gröbste Schaffner
+wird rücksichtsvoll, sobald er die ihm dargereichte
+<a class="pagenum" name="page_144" title="144"> </a>
+Cigarrentasche erblickt &ndash; man soll nämlich derartigen
+Leuten nie eine einzelne Cigarre hingeben, weil sie
+außerordentlich mißtrauisch sind und leicht Verdacht
+schöpfen können, man führe besondere »Wasunger«
+Sorten bei sich für solchen Zweck und das verletzt
+ihr Ehrgefühl.</p>
+
+<p>Auch der Packmeister war gesprächig geworden &ndash;
+die Cigarre schmeckte ausgezeichnet &ndash; und erzählte
+von dem, was ihm natürlich am nächsten lag, von
+der ewigen unausgesetzten Plackerei, so daß man seines
+Lebens kaum mehr froh werden könnte. Die ganze Welt
+reise jetzt &ndash; wie er meinte &ndash; in die Bäder. Er reiste
+auch in einem fort &ndash; alle Wochen drei Mal in die
+Bäder, kam aber nie hin und hatte kaum Zeit, sich
+Morgens ordentlich zu waschen, viel weniger zu baden.
+In seinem Packwagen stecke er dazu wie eine Schnecke
+in ihrem Haus, nur daß die Schnecke nicht ununterbrochen
+Koffer und Hutschachteln ein- und auszuladen
+hätte. »Sehen Sie« &ndash; setzte er dann hinzu &ndash; »so
+gewöhnt man sich aber daran, daß ich schon Nachts
+in meinem eigenen Bett &ndash; wenn ich meine Nacht daheim
+hatte und ich schlafe dicht am Bahnhof &ndash; im
+Traum, sowie ich nur die verdammte Locomotive
+pfeifen hörte, Bettdecke und Kopfkissen in die Stube
+hineingefeuert habe, weil ich glaubte, es wäre Station
+<a class="pagenum" name="page_145" title="145"> </a>
+und ich müßte ausladen. Es ist Sie ein Hundeleben.«</p>
+
+<p>Wieder pfiff diese nämliche Locomotive. Der Zug
+hielt an einer der kleinen Stationen und drei Koffer
+gingen hier ab, und ein anderer Koffer mit zwei Reisesäcken
+und eine Kiste kam hinzu. Der Fremde mußte
+aber noch sitzen bleiben, denn der Aufenthalt dauerte zu
+kurze Zeit, um ein Billet lösen zu können.</p>
+
+<p>»Ich begreife nicht,« sagte der Fremde, »wie Sie
+sich da immer so zurecht finden, daß Sie gleich wissen
+was expedirt wird und was dableibt. Kommt da nicht
+auch oft ein Irrthum vor?«</p>
+
+<p>»Doch selten,« meinte der Packmeister, indem er
+seine bei der Expedition ausgegangene Cigarre wieder
+mit einem Schwefelhölzchen anzündete &ndash; »man bekommt
+Uebung darin. Nur heute wär mir's in dem
+Wirrwarr bald schief gegangen, denn in Guntershausen
+hatte ich aus Versehen den nämlichen Koffer
+hinausgeschoben, auf dem Sie da sitzen. Glücklicherweise
+kriegte ihn der Eigenthümer noch zur rechten Zeit
+in die Nase &ndash; und das bischen Spectakel, was der
+machte! Aber es war ja noch kein Malheur passirt
+und so schoben wir ihn wieder herein. Den Packmeister
+möchte ich überhaupt sehen, dem nicht schon einmal
+ein falscher Koffer entwischt ist &ndash; der Telegraph
+<a class="pagenum" name="page_146" title="146"> </a>
+bringt das aber alles wieder in Ordnung. &ndash; Staatseinrichtung
+das mit dem Telegraphen.«</p>
+
+<p>Der Fremde hatte sich, während der Mann sprach
+fast unwillkührlich den Koffer angesehen, auf dem er
+saß, und stand jetzt auf und las das kleine Messingschild.
+Es enthielt nur die zwei Worte »<i>Comte
+Kornikoff</i>.«</p>
+
+<p>»Und wie sah der Herr aus, dem der Koffer gehörte?«
+frug er endlich.</p>
+
+<p>»Oh, ein kleines, schmächtiges Männchen,«
+meinte der Packmeister, »mit einem pechschwarzen
+Schnurrbart und einer blauen Brille.«</p>
+
+<p>»Wohin geht denn der Koffer heute?«</p>
+
+<p>»Nach Frankfurt &ndash; ich war ja ganz confus und
+glaubte, er ginge nach Cassel, weil ich gestern den
+Packwagen dorthin hatte.«</p>
+
+<p>Wieder pfiff die Locomotive und während der
+Packmeister von seinem Geschäft in Anspruch genommen
+wurde, betrachtete der Fremde das Schild noch
+genauer, aber er sprach nichts weiter darüber und da
+sie gleich darauf in Treysa hielten, mußte er dort
+aussteigen und ein Billet lösen. Hier war auch eine
+große Zahl von Passagieren abgegangen und Platz genug
+geworden.</p>
+
+<p>»Wohin fahren Sie?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_147" title="147"> </a>
+»Frankfurt&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Die vorderen Wagen.«</p>
+
+<p>Der Fremde schritt an der Reihe hinauf und sah
+in die verschiedenen Coupés hinein. In dem einen
+saß ein Herr und eine Dame. Der Herr trug eine
+blaue Brille. Er öffnete sich selber die Thür, stieg
+ein, grüßte und nahm dann in der einen Ecke Platz.</p>
+
+<p>Der Herr mit der blauen Brille schien das nicht
+gern zu sehen &ndash; er schaute aus dem Wagenfenster
+als ob er einen Schaffner herbeirufen wollte, und
+warf dann einen forschenden Blick auf den Fremden.
+Dieser aber kümmerte sich nicht darum, legte seine
+kleine Reisetasche in das Netz hinauf und machte es
+sich dann vollkommen bequem.</p>
+
+<p>»Bitte, Ihr Billet, mein Herr&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Hier&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Sie haben aber erste Klasse.«</p>
+
+<p>»Es sitzen einige Damen erster Klasse,« sagte der
+Fremde, »und da ich den Herrn da rauchen sah, nahm
+ich <em class="gesperrt">hier</em> Platz. Die Dame wird mir wohl das Anzünden
+einer Cigarre erlauben.«</p>
+
+<p>Die letzten Worte waren, wie halb fragend an
+die Dame gerichtet, deren Gesichtszüge sich aber nicht
+im Geringsten dabei veränderten. Sie mußte den
+Sinn derselben gar nicht verstanden haben.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_148" title="148"> </a>
+Der Schaffner coupirte das Billet und die Passagiere
+waren allein; da aber der Fremde der Artigkeit
+Genüge leisten wollte, nahm er seine Cigarrentasche
+heraus und aus dieser eine Cigarre und sagte dann
+noch einmal, sich an den Herrn wendend:</p>
+
+<p>»Die Dame scheint meine Frage nicht verstanden
+zu haben. Sie erlaubt mir wohl, daß ich rauche?«</p>
+
+<p>»Sprechen Sie Englisch?« frug der Herr in dieser
+Sprache zurück &ndash; »ich verstehe kein Deutsch&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ich muß sehr bedauern,« sagte der Fremde achselzuckend,
+aber wieder in deutscher Sprache. Die Unterhaltung
+war dadurch unmöglich geworden, die
+Pantomine indeß zu deutlich gewesen und der Herr
+mit der blauen Brille reichte dem, wie es schien eben
+nicht willkommenen Reisegefährten seine brennende
+Cigarre zum Anzünden, die dieser dankend annahm
+und dann zurückgab.</p>
+
+<p>Die Dame hatte den Kopf halb abgewandt und
+sah zu dem geöffneten Fenster hinaus. Der Fremde
+warf unwillkürlich den Blick nach ihr hinüber und
+mußte sich gestehen, daß er selten, wenn je in seinem
+Leben, ein schöneres Gesicht, regelmäßigere Züge,
+feurigere Augen und einen tadelloseren Teint gesehen
+habe. Und wie schön mußte das Mädchen oder die
+Frau erst sein, wenn sie <em class="gesperrt">lächelte</em>, denn jetzt zog eine
+<a class="pagenum" name="page_149" title="149"> </a>
+Mischung von Trotz und Stolz &ndash; vielleicht der Unwille
+über des Fremden Gegenwart, die fein geschnittenen
+Lippen zusammen und gab dem lieben Antlitz
+etwas Finsteres und Hartes, was ihm doch sonst gewiß
+nicht eigen war.</p>
+
+<p>Ein kurzes Gespräch entspann sich jetzt zwischen
+dem Herrn und der Dame, auf welches der Fremde aber
+nicht zu achten schien, denn er nahm ein Eisenbahnbuch
+aus der Tasche und blätterte darin. Die Dame sagte,
+ohne jedoch den Blick von der Landschaft wegzuwenden,
+ebenfalls in englischer Sprache:</p>
+
+<p>»Wer ist der Fremde?«</p>
+
+<p>»Ich weiß es nicht,« lautete die Antwort, »aber
+wir brauchen uns seinetwegen nicht zu geniren; er versteht
+kein Englisch.«</p>
+
+<p>»Aber er sieht englisch aus.«</p>
+
+<p>»Bewahre,« lachte der Mann &ndash; »er hat auch
+nicht ein einziges englisches Stück Zeug an seinem
+Körper &ndash; die Reisetasche ist ebenfalls deutsch, gerade
+so wie sein Handbuch.«</p>
+
+<p>»Er ist lästig, wir hätten erster Classe fahren sollen.«</p>
+
+<p>»Liebes Herz, das schützt uns nicht vor Gesellschaft,
+denn der Herr hat ebenfalls ein Billet erster Classe
+und ist nur hier eingestiegen, weil er mich rauchen
+sah.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_150" title="150"> </a>
+»Dein fatales Rauchen.« &ndash; Die Unterhaltung
+stockte und der Herr mit der blauen Brille warf noch
+einen prüfenden Blick nach seinem Reisegefährten hinüber,
+der aber gar nicht auf ihn achtete und sich vollständig
+mit seiner Cigarre und seinem Buch beschäftigte.
+Nur dann und wann hob er den Blick und
+schaute nach beiden Seiten auf die Landschaft hinaus
+und streifte dann damit, wenn auch nur flüchtig, den
+Fremden.</p>
+
+<p>Es war eine kleine, aber zierliche schlanke Gestalt,
+sehr elegant, aber fast zu sorgfältig gekleidet, auch mit
+mehr Schmuck als ein wirklich vornehmer Mann zu
+zeigen pflegt. Die Hände aber hatten etwas wirklich
+Aristokratisches &ndash; sie waren weiß und zart geformt
+und wenn er den Mund zum Sprechen öffnete, zeigte
+er zwei Reihen auffallend weißer Zähne. Sein Haar
+war braun und etwas gelockt, der Schnurrbart aber
+von tiefer Schwärze, jedenfalls gefärbt. Die Augen
+ließen sich nicht erkennen, da sie von der blauen Brille
+bedeckt wurden. Trotzdem aber, daß er nur englisch
+zu sprechen schien, war er vollkommen nach französischer
+Mode gekleidet. Nur die junge Dame trug in
+ihrem Putz und Reiseanzug den entschieden englischen
+Charakter, wie auch entschieden englische Züge.
+Ihren Begleiter würde man weit eher für einen
+<a class="pagenum" name="page_151" title="151"> </a>
+Franzosen als für einen Sohn Albions gehalten
+haben.</p>
+
+<p>Mehrere Stationen blieben die Drei allein in
+ihrem Coupé. Die Dame war müde geworden und
+hatte &ndash; soweit es die Bewegung des Wagens erlaubte
+&ndash; ein wenig geschlafen. In Gießen aber kamen noch
+eine Anzahl Passagiere hinzu und zwei von diesen, ein
+Herr und eine Dame, stiegen in dies nämliche Coupé.
+Wieder ein Paar Engländer und die Dame, wenn
+auch schon ziemlich in den Jahren, doch mit den unvermeidlichen,
+langen Hobelspahnlocken, die ihr vorn
+fast bis zum Gürtel nieder hingen; der Herr mit
+einem breitränderigen, schwarzen Filzhut, einem kleinen,
+sehr mageren Schnurrbart und einer Cigarre im
+Munde &ndash; lauter continentale Reiseerinnerungen,
+die wieder fallen müssen, sobald der Eigenthümer derselben
+den Boden seines Vaterlandes aufs neue betritt.</p>
+
+<p>Wenn sich die beiden Herren aber auch ziemlich
+kalthöflich gegeneinander verneigten, so schienen die
+Damen dagegen schon beim ersten Blick die gemeinsame
+Nationalität erkannt zu haben, und kaum saß
+die Neuhinzugekommene, als sie auch ein lebhaftes
+Gespräch mit ihrer jungen Nachbarin begann, an dem
+sich diese ebenfalls zu freuen schien, denn ihr Gemahl
+oder Begleiter hatte sie wenig genug unterhalten.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_152" title="152"> </a>
+Engländer auf dem Continent &ndash; wie könnte es
+ihnen auch an Stoff zur Unterhaltung fehlen &ndash; Vereinigt
+sie nicht ein gemeinsames Leid und Elend?
+Werden sie nicht gleichmäßig von allen Wirthen, Kellnern,
+Droschkenkutschern, Gepäckträgern und Lohnbedienten
+geprellt, und <em class="gesperrt">kann</em> ein wirklicher Engländer
+ohne Lohnbedienten auf dem Continent durchkommen,
+denn spricht er je die Sprache des Landes, auf dem er
+eine freie Zeit zubringen will? &ndash; Unter hunderten
+kaum einer.</p>
+
+<p>Das Gespräch &ndash; sowie nur die ersten Fragen über
+woher und wohin erledigt waren, drehte sich auch nur
+um diesen Gegenstand, und der Herr mit dem breitkrämpigen
+Hut nahm bald lebhaften Theil daran.</p>
+
+<p>Er kam mit seiner Frau natürlich von London,
+hatte vier Wochen zur Reise bestimmt, zwei davon
+schon nützlich verwandt, und schien fest entschlossen,
+auch die andern beiden noch daran zu setzen, um sich
+in jeder nur erreichbaren Stadt Deutschlands über
+die Wirthe im Einzelnen und das Volk im Allgemeinen
+zu ärgern, und dann mit dem stolzen Bewußtsein
+nach Hause zurückzukehren, daß es doch nur <em class="gesperrt">ein</em> England
+in der Welt gäbe.</p>
+
+<p>Die junge Frau kam, wie sie sagte, mit ihrem
+Mann von Hannover, wo sie ein Jahr bei Freunden
+<a class="pagenum" name="page_153" title="153"> </a>
+zugebracht. Sie beabsichtigten jetzt auf einen Monat
+nach Frankfurt oder auch vielleicht in ein benachbartes
+Bad zu gehen, um ihre Gesundheit, die durch den längeren
+Aufenthalt in dem rauhen Lande angegriffen sei,
+wieder herzustellen.</p>
+
+<p>»Und wo werden Sie in Frankfurt wohnen?«</p>
+
+<p>Sie wußten es noch nicht &ndash; der Herr mit dem
+breiträndrigen Hut schlug die »Stadt Hull« als ein
+sehr billiges, ihm besonders empfohlenes Gasthaus
+vor. Uebrigens könne man ja vorher über den Preis
+von »<i>board and lodging</i>« akkordiren &ndash; <em class="gesperrt">er</em> thäte das
+immer, wenn es auch ein wenig »schäbig« aussehe &ndash;
+den deutschen Wirthen gegenüber sei man sich das aber
+schuldig.</p>
+
+<p>Beide Parteien beschlossen deshalb, in Stadt Hull
+zu übernachten und gemeinschaftlich zu essen &ndash; »es
+sei das billiger.« Morgen konnte man dann auch zusammen
+einen Lohnbedienten nehmen, und sparte dadurch
+die halbe Auslage &ndash; der morgende Tag würde
+überhaupt ein sehr angestrengter werden, denn es gab
+in Frankfurt &ndash; nach Murray &ndash; eine Unmasse von
+Sehenswürdigkeiten, die nun einmal durchgekostet werden
+<em class="gesperrt">mußten</em>, wenn man nicht die Reise umsonst gemacht
+haben wollte.</p>
+
+<p>Der Herr mit der blauen Brille hatte sich nicht
+<a class="pagenum" name="page_154" title="154"> </a>
+sehr an der Unterhaltung betheiligt. Er schien keine
+Freude daran zu finden. Auch die Aufforderung, gemeinsam
+in Stadt Hull zu logiren, beantwortete er
+zweideutig, während die junge Dame augenblicklich
+bestimmt zusagte. Dann lehnte er sich in seine Ecke
+zurück und schlief &ndash; er verhielt sich wenigstens von
+da an vollkommen ruhig, wenn man auch der blauen
+Brillengläser wegen nicht einmal sehen konnte, ob er
+nur die Augen geschlossen hielt.</p>
+
+<p>Es war indessen dunkel geworden &ndash; die übrigen
+Passagiere wurden ebenfalls müde, und nur auf der
+vorletzten Station unterbrach der Schaffner noch einmal
+die Stille, indem er die Billete nach Frankfurt
+abforderte.</p>
+
+<p>Der Fremde mit der blauen Brille schien wirklich
+eingeschlafen zu sein. Er fuhr, als ihn der Schaffner,
+der neben ihm durch das Fenster sah, auf die Schulter
+klopfte, ordentlich wie erschreckt in die Höhe und sah
+sich wild und verstört um &ndash; er hatte jedenfalls geträumt,
+und suchte dann, als er begriff was man von
+ihm wolle, in der Westentasche nach seinem Billet.</p>
+
+<p>Ein kleiner weißer Streifen Papier fiel dabei auf
+die Erde und der Fremde mit der Reisetasche, der
+jenem schräg gegenüber saß, stellte den Fuß darauf.
+Dann war wieder alles still; der mit der blauen
+<a class="pagenum" name="page_155" title="155"> </a>
+Brille lehnte sich in seine Ecke zurück und sein halbes
+<i>Vis-à-vis</i> nahm sein Taschentuch heraus, ließ es wie
+zufällig fallen und hob den Zettel damit auf &ndash; es
+war der Gepäckschein.</p>
+
+<p>Bald darauf rasselte der Zug mit einem markdurchschneidenden
+Pfeifen &ndash; daß Einem die eigene
+Lunge weh that, wenn man es nur hörte &ndash; in den
+Frankfurter Bahnhof ein, und der Fremde mit der
+kleinen Reisetasche war der erste, der aus dem Wagen
+sprang und zu dem Güterkarren eilte. Hatte er indessen
+unredliche Absichten dabei gehabt, so sollte er die
+vereitelt sehen, denn es dauerte eine Ewigkeit, bis der,
+wie es schien, wohlgemerkte Koffer, auf den der Schein
+lautete, zum Vorschein kam, und bis dahin war der
+rechtmäßige Eigenthümer schon ebenfalls herbei gekommen
+und erkannte sein Gepäck. Vergebens suchte er
+indessen in allen Taschen nach seinem Schein und
+fluchte auf deutsch, englisch und französisch, daß ihm
+die Beamten sein Gepäck nicht ohne denselben ausliefern
+wollten.</p>
+
+<p>Der Fremde hatte sich etwas zurückgezogen und
+stand im Schatten eines Pfeilers &ndash; jedenfalls machte
+er da die Entdeckung, daß der Herr mit der blauen
+Brille nicht allein vollkommen gut deutsch, sondern
+auch französisch sprach, und sich in beiden Sprachen
+<a class="pagenum" name="page_156" title="156"> </a>
+erbot, seine Koffer zu öffnen und dadurch zu
+beweisen, daß er der Eigentümer sei.</p>
+
+<p>Der Inspektor kam endlich heran und ersuchte ihn
+sehr artig, nur so lange zu warten, bis das übrige
+Gepäck fortgenommen sei; wenn er dann die passenden
+Schlüssel producire, möge er seine Koffer mit fortnehmen.</p>
+
+<p>Der Fremde zeigte Anfangs viel Ungeduld, und
+erklärte mit dem nächsten Zuge nach Mainz noch weiter
+zu wollen, der Inspektor bedeutete ihm aber, daß
+er dann hätte besser auf seinen Gepäckschein Acht
+geben sollen &ndash; den Zug nach Mainz erreiche er indessen
+doch nicht mehr, da derselbe schon vor einer
+Viertelstunde abgegangen, weil sich der Schnellzug
+verspätet habe. Es blieb ihm zuletzt kein anderer Ausweg,
+als dem gegebenen Rath zu folgen, und als seine
+Koffer wirklich zurückgeblieben, und er sich durch seine
+Schlüssel als der rechtmäßige Eigenthümer legitimiren
+konnte, bekam er endlich sein Gepäck und ließ es
+&ndash; einen großen und einen kleineren Koffer &ndash; in die
+durch die Dame schon in Besitz genommene offene
+Droschke schaffen.</p>
+
+<p>Dicht dahinter hielt noch eine verschlossene Droschke
+<em class="gesperrt">ohne</em> Gepäck; sonst hatten sämmtliche Wagen, selbst
+die Omnibusse, schon die Bahn verlassen, und der
+<a class="pagenum" name="page_157" title="157"> </a>
+Kutscher fuhr jetzt, auf die Anweisung des Reisenden,
+nicht nach der Stadt Hull, sondern nach dem »<i>Hôtel
+Methlein</i>.«</p>
+
+<p>Die andere Droschke folgte in etwa zwanzig Schritt
+Entfernung nach, und hielt, als die erste in den Thorweg
+einfuhr. Ein Reisender mit einer kleinen Reisetasche
+in der Hand stieg aus, befahl dem Droschkenkutscher
+zu warten, und betrat dann zu Fuß das nämliche Hotel.</p>
+
+<p>Dort angekommen legte der Reisende nur eben in
+dem ihm bezeichneten Zimmer sein geringes Gepäck
+ab, bestellte sich unten im Speisesaal etwas zu essen
+und verließ dann noch einmal das Hotel, um nach
+dem Telegraphenbureau zu fahren. Dort gab er folgende
+Depesche auf:</p>
+
+<p class="center"><i>Mr. Burton, Union Hôtel, Hannover.</i></p>
+
+<p class="center">Ist ein Graf Kornikoff ein Jahr in Hannover
+gewesen? &ndash; Fremdenliste nachsehen. Kommen Sie
+so rasch als möglich hierher. &ndash; Bin ich abgereist,
+liegt ein Brief im Hotel.&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p class="signature"><i>H.</i></p>
+
+<p>Dann kehrte er ins Hotel zurück und verzehrte
+sein Abendbrod, das ihm der Kellner brachte.</p>
+
+<p>Der Saal war leer; nur vier Herren saßen an
+einem Tisch und schienen, schon ziemlich angetrunken,
+<a class="pagenum" name="page_158" title="158"> </a>
+den Geburtstag des einen zu feiern, der mit schwerer
+Zunge noch eine Flasche moussirenden Rheinwein bestellte.
+Um den Fremden bekümmerte sich Niemand.</p>
+
+<p>Dieser aß das ihm vorgesetzte Beefsteak, trank
+seine Flasche Wein dazu und wartete es ruhig ab, bis
+ihm der Kellner das Fremdenbuch brachte. In dasselbe
+schrieb er sich ein als W. Hallinger, Particulier aus
+Breslau und blätterte dann die Seiten nach den dort
+eingetragenen Namen durch.</p>
+
+<p>Ganz zuletzt &ndash; dicht über seinem eigenen Autograph
+&ndash; standen seine Reisegefährten eingetragen:
+»Comte Kornikoff und Frau, aus Petersburg &ndash; von
+Hannover nach Frankfurt.«</p>
+
+<p>Der Kellner hatte dabei bemerkt Nr. 6 und 7.</p>
+
+<p>»Wollen Sie morgen früh geweckt sein?« frug
+ihn der Portier, als er seine Flasche beendet und seine
+Cigarre ausgeraucht hatte, und eben im Begriff stand
+zu Bett zu gehen.</p>
+
+<p>»Wann geht der erste Zug?«</p>
+
+<p>»Wohin?«</p>
+
+<p>»Nach Mainz oder Wiesbaden.«</p>
+
+<p>»Sechs Uhr.«</p>
+
+<p>»Gehen da noch mehrere Passagiere ab?«</p>
+
+<p>»Jawohl,« erwiederte der Portier, auf die für den
+Hausknecht bestimmte Tafel zeigend &ndash; »Nr. 5, Nr. 17
+<a class="pagenum" name="page_159" title="159"> </a>
+und Nr. 37 lassen sich wecken. Soll ich Sie ebenfalls
+notiren?«</p>
+
+<p>»Ach, ich weiß nicht; ich bin müde heut Abend.
+Ich werde wohl erst mit dem zweiten Zug fahren.«</p>
+
+<p>»Sehr wohl, mein Herr &ndash; Kellner, Licht auf Nr. 8.
+Angenehme Ruhe.«</p>
+
+<p>Der Fremde stieg auf sein Zimmer hinauf und
+sah vor Nr. 7 ein Paar Herrenstiefeln und ein Paar
+lederne Damenschuhe stehen. Im Hotel schlief aber
+schon alles; es war spät geworden, da sich der Zug
+überhaupt verspätet hatte und der »Particulier Hallinger«
+suchte ebenfalls sein Lager.</p>
+
+
+
+
+<h3>II.<br />
+
+<b>Der Bundesgenosse.</b></h3>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen war der Fremde, der sich
+in dem Fremdenbuch als Particulier Hallinger eingeschrieben
+hatte, trotzdem daß er nicht geweckt wurde,
+ziemlich früh wieder munter, aber es schlug 8 Uhr, und
+die Stiefel und die Damenschuhe standen noch immer
+vor Nr. 7, ohne hereingeholt zu sein. Erst gegen
+neun Uhr schienen die Insassen jenes Zimmers ordentlich
+munter zu werden, und um halb zehn Uhr wurde
+Kaffee bestellt. Aber erst gegen zwölf Uhr ging der
+Herr aus, und zwar allein &ndash; die Dame blieb auf
+<a class="pagenum" name="page_160" title="160"> </a>
+ihrem Zimmer. Wie der Kellner aussagte, fühlte sich
+die Dame nicht ganz wohl, und wollte heute ausruhen
+&ndash; er hatte wenigstens nicht in das Zimmer gedurft,
+und das Stubenmädchen mußte den Kaffee hinein
+tragen. Wahrscheinlich lag sie noch im Bette.</p>
+
+<p>Der Fremde blieb übrigens den ganzen Tag zu
+Haus, und schickte nur einen Brief an <i>Messrs. Burton
+&amp; Burton, London, 12 Fleetstreet</i> durch den
+Hausknecht auf die Post. Thatsache war übrigens,
+daß er sich ungemein für seine Nachbarschaft zu interessiren
+schien, denn als der Herr wieder nach Hause
+kam, rückte er sich leise einen Stuhl an die verschlossene
+Verbindungsthür und horchte stundenlang mit
+einer merkwürdigen Ausdauer dem da drüben gehaltenen
+Gespräch, jedoch ohne besonderen Nutzen. Die
+laut gesprochenen Worte waren vollständig gleichgültiger
+Natur, und das andere konnte er eben nicht verstehen.</p>
+
+<p>Zu Mittag aß er an der Table d'hôte, aber von
+Nr. 6 oder 7 ließ sich niemand dabei blicken. Die
+Dame schien sich noch angegriffen von der Reise zu
+fühlen und Beide speisten auf ihrem Zimmer.</p>
+
+<p>Erst Nachmittags begegnete er dem »Grafen
+Kornikoff« auf der Treppe und dieser sah ihn etwas
+überrascht durch seine blaue Brille an. Der Fremde
+<a class="pagenum" name="page_161" title="161"> </a>
+heuchelte aber vollständige Gleichgültigkeit, nahm nicht
+die geringste Notiz von ihm, und that wenigstens so,
+als ob er ihn gar nicht wieder erkenne.</p>
+
+<p>So verging der Tag, ohne daß die beiden Reisenden
+Miene gemacht hätten, Frankfurt wieder zu verlassen.
+Der Oberkellner, mit dem sich Herr Hallinger
+über die »bildschöne junge Frau« unterhielt, wußte
+wenigstens nicht das Geringste davon. Abends aber,
+als der Schnellzug von Hannover erwartet wurde, ging
+Hallinger hinaus auf den Bahnhof, und brauchte, als
+der Zug endlich einlief, auch nicht lange nach dem Erwarteten
+zu suchen. Dieser hatte ihn schon von seinem
+Coupé aus bemerkt und kam rasch auf ihn zu.</p>
+
+<p>»Hamilton! nun, was Neues?«</p>
+
+<p>»Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur, Mr.
+Burton,« sagte dieser, indem er achtungsvoll seinen
+Hut berührte. »Aber wo ist Ihr Gepäck?«</p>
+
+<p>»Nichts als die Reisetasche hier.«</p>
+
+<p>»Desto besser, auf der Jagd darf man nicht unnöthigen
+Plunder mitschleppen. Kommen Sie, ich habe
+schon eine Droschke«.</p>
+
+<p>»Gehen wir nicht lieber zu Fuß?«</p>
+
+<p>»Es ist zu weit &ndash; und fahren ist sicherer.«</p>
+
+<p>»Und was <em class="gesperrt">haben</em> Sie nun entdeckt?« frug der
+junge Engländer, als Beide eingestiegen waren und
+<a class="pagenum" name="page_162" title="162"> </a>
+davon rasselten &ndash; die Unterhaltung wurde auch in
+englischer Sprache geführt.</p>
+
+<p>»Das will ich Ihnen mit kurzen Worten sagen,«
+berichtete der fälschlich als deutscher Particulier eingetragene
+Fremde. »Durch einen reinen Zufall war
+ich genöthigt, ein Paar Stationen in einem Packwagen
+zu fahren, und fand dort einen Koffer, dessen
+Messingschild den Namen »<i>Comte Kornikoff</i>« trug.«</p>
+
+<p>»Und Sie glauben, daß jener Schuft Kornik
+dahinter stecke?«</p>
+
+<p>»Durch den Namen allein wäre ich vielleicht nicht
+einmal darauf gefallen,« fuhr Hamilton fort, »aber das
+französische Wort <i>Comte</i> war jedenfalls später zu dem
+Namen gravirt, denn es nahm nicht den Raum ein,
+den ihm der Graveur gegeben hätte, wenn er es von
+Anfang an darauf gesetzt. Ebenso schien das <i>off</i> hinzugefügt.«</p>
+
+<p>»Und die Beschreibung des Eigenthümers paßt?«
+rief Mr. Burton rasch.</p>
+
+<p>»Ja und nein. Wohl in der Gestalt, aber sonst
+nicht ganz; der dunkelblonde Backenbart fehlt«.</p>
+
+<p>»Der kann abrasirt sein.«</p>
+
+<p>»Das ist möglich &ndash; aber er trägt einen vollkommen
+schwarzen Schnurrbart und eine blaue Brille«.</p>
+
+<p>»Der Schnurrbart ist vielleicht gefärbt.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_163" title="163"> </a>
+»Das vermuthe ich selber. &ndash; Die Dame ist bei
+ihm.«</p>
+
+<p>»Miss Fallow?«</p>
+
+<p>»Unter dem Namen der Gräfin Kornikoff natürlich,
+&ndash; wenn das nämlich der von uns Gesuchte ist.
+Sie kennen ihn doch genau?«</p>
+
+<p>»Als ob er mein leiblicher Bruder wäre. Er war
+ja sieben Jahre in meines Vaters Haus und die beiden
+letzten als Hauptcassirer, wo er sich &ndash; wer weiß durch
+was, verleiten ließ, diesen bedeutenden Kassendiebstahl
+zu begehen.«</p>
+
+<p>»Wahrscheinlich durch eben diese junge Dame,«
+sagte Hamilton, »von der ich ganz allerliebste Sachen
+gehört habe. Ihr eigentlicher Name ist Lucy Fallow,
+Tochter eines Schneidermeisters in London, aber die
+Eltern sind beide todt. Es sollen ganz ordentliche
+Leute gewesen sein. Das junge Mädchen hatte, ihres
+anständigen Benehmens wegen und da sie wirklich
+nicht ungebildet ist, ein Paar Jahr mit einer vornehmen
+Familie reisen können, und dann später auch noch hie
+und da Unterricht in Musik gegeben. Dadurch kam
+sie auch in Lady Clives Haus, von wo aus sie jetzt
+beschuldigt wird, einen sehr werthvollen Schmuck entwendet
+zu haben.«</p>
+
+<p>»Der sich dann vielleicht in ihrem Koffer findet.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_164" title="164"> </a>
+»Beinah hätte ich diese beiden Koffer erwischt,«
+lächelte Hamilton leise vor sich hin, »aber ich durfte
+kein Aufsehen erregen, bis ich nicht durch <em class="gesperrt">Sie</em> hier
+Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte.
+Die Dame kennen Sie nicht selber?«</p>
+
+<p>»Nein &ndash; ich habe sie nie gesehen.«</p>
+
+<p>»Und von einem Grafen Kornikoff in Hannover
+auch nichts gehört?«</p>
+
+<p>»Nicht das Geringste. Kein Mensch wußte dort
+etwas von ihm, und er stand nicht einmal in einem
+Fremdenblatt. Er kann nur durchgereist sein, und
+Sie werden gewiß die richtige Spur gefunden haben.
+Uebrigens müssen wir vorher die nöthigen Schritte
+auf der Polizei thun.«</p>
+
+<p>»Ist schon alles geschehen,« sagte Hamilton. »Ich
+habe den Verhaftsbefehl für das Pärchen schon in der
+Tasche, und den Burschen mit seiner Donna fest, sowie
+Sie mir nur bestätigen, daß er der Rechte ist.«</p>
+
+<p>»Ich hätte im Leben nicht geglaubt,« sagte Mr.
+Burton, »daß Sie dem Betrüger sobald auf die Spur
+kämen. Es geht alles nach Wunsch. Apropos, haben
+Sie denn die Dame auch zu sehen bekommen?«</p>
+
+<p>»Ich bin ja mit ihnen in <em class="gesperrt">einem</em> Coupé gefahren,«
+lachte Hamilton, »und sie ahnten dabei wahrscheinlich
+nicht, daß sie einen geheimen Polizisten bei sich im
+<a class="pagenum" name="page_165" title="165"> </a>
+Wagen hatten. Nun ich denke, wir werden noch länger
+Reisegefährten bleiben. Aber da sind wir &ndash; jetzt
+haben wir nur darauf zu sehen, daß uns die Herrschaften
+nicht etwa morgen in aller Früh durchbrennen.
+Wollen wir gleich auf Ihr Zimmer gehen?«</p>
+
+<p>»Ich muß erst etwas essen; ich bin ganz ausgehungert.«</p>
+
+<p>»Schön &ndash; dann kommen Sie mit in den Speisesaal,
+wir finden ihn um diese Zeit fast leer.«</p>
+
+<p>Sie bogen rechts ein, um den Saal zu betreten.
+Als aber Hamilton die Hand nach der Thür ausstreckte,
+öffnete sich diese, und Graf Kornikoff trat heraus, warf
+einen flüchtigen Blick auf die Beiden und schritt dann
+langsam über den Vorsaal, der Treppe zu.</p>
+
+<p>»Das war er,« flüsterte Hamilton seinem Begleiter zu
+&ndash; »wenn er Sie nur nicht erkannt hat.«</p>
+
+<p>Unwillkührlich drehte Burton den Kopf nach ihm
+um, konnte aber die schmächtige Gestalt des Herrn nur
+noch sehen, wie er eben um die Ecke bog, ohne jedoch
+dabei zurückzuschauen.</p>
+
+<p>»Das glaub ich kaum,« sagte Burton, »denn der
+Moment war zu rasch, und dann hätte er doch auch
+jedenfalls irgend ein unwillkürliches Zeichen der Ueberraschung
+gegeben. In der Verkleidung und mit der
+blauen Brille und dem schwarzen Schnurrbart würde
+<a class="pagenum" name="page_166" title="166"> </a>
+ich selber aber nie im Leben diesen Mr. Kornik vermuthet
+haben. Wenn Sie sich nur nicht geirrt, denn
+in dem Fall versäumen wir hier viel Zeit.«</p>
+
+<p>»Ist es denn nicht wenigstens seine Gestalt?« frug
+Hamilton.</p>
+
+<p>»Die nämliche Gestalt allerdings,« bestätigte
+Burton, »aber das Gesicht konnte ich &ndash; unvorbereitet
+wie ich außerdem war &ndash; unmöglich in der Geschwindigkeit
+erkennen. Wann geht der erste Zug morgen
+früh?«</p>
+
+<p>»Erst um sechs Uhr.«</p>
+
+<p>»Ah, dann ist ja voller Tag,« sagte Burton, »und
+im schlimmsten Fall halten wir ihn mit Gewalt zurück.
+Wäre es aber nicht besser, wir äßen auf unserem
+Zimmer?«</p>
+
+<p>»Jetzt kommt er nicht mehr herunter,« meinte Hamilton.
+»Jedenfalls setzen Sie sich mit dem Rücken
+der Thür zu, und wenn er dann ja noch einmal den
+Saal betreten sollte, so werde ich bald sehen, was er
+für ein Gesicht dabei macht.«</p>
+
+<p>Hamilton hatte übrigens Recht. Graf Kornikoff
+ließ sich nicht mehr blicken und als die Beiden ihr
+Abendbrod beendet hatten, gingen sie auf Mr. Burtons
+Zimmer hinauf, das einen Stock höher als Hamiltons
+lag, um dort noch Manches zu besprechen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_167" title="167"> </a>
+Burton hatte sich jedoch vorher, auf Hamiltons
+Rath unter einem französischen Namen in das Fremdenbuch
+eingetragen, um doch jede nöthige Vorsicht zu
+gebrauchen. Auch verabsäumte der schlaue Polizeibeamte
+nicht, vor Schlafengehen noch einmal die Tafel
+des Portiers zu revidiren, ob sich vielleicht Nr. 6 oder
+7 darauf befand, um früh geweckt zu werden. Das
+war aber nicht der Fall, und Hamilton glaubte jetzt
+selber, daß jener Herr, wenn es wirklich der Gesuchte
+gewesen, Mr. Burton in dem Moment ihres augenblicklichen
+und unerwarteten Begegnens nicht erkannt
+haben <em class="gesperrt">konnte</em>. Er brauchte also auch Nichts zu überstürzen.</p>
+
+
+
+
+<h3>III.<br />
+
+<b>Entwischt.</b></h3>
+
+
+<p>Mitternacht war lange vorüber, als sich Hamilton
+endlich erschöpft und ziemlich ermüdet auf sein Lager
+warf, aber trotzdem befand er sich schon um fünf Uhr
+angekleidet wieder draußen auf dem Gang, denn heute
+sollte er ja den Lohn seiner Bemühungen ernten, und
+die Zeit durfte ihn nicht lässig finden.</p>
+
+<p>Das Schuhwerk stand indeß noch immer friedlich
+dort draußen, des Hausknechts gewärtig, aber die Bewohner
+des Zimmers mußten auf sein &ndash; sollten sie
+doch am Ende heute morgen abfahren wollen? »Nein,
+<a class="pagenum" name="page_168" title="168"> </a>
+mein lieber Mr. Kornik,« lachte der Engländer still
+vor sich hin, »da wir Sie so hübsch in der Falle haben,
+wollen wir auch Acht geben, daß Sie uns nicht wieder
+durch die Finger schlüpfen.«</p>
+
+<p>In dem Augenblick wurde in Nr. 7 die Klingel gezogen
+und Hamilton trat in seine Stube zurück, ließ
+aber die Thür angelehnt. Er horchte &ndash; aber er
+konnte nicht hören, daß irgend jemand ein Wort sprach.
+Ein Paar Stühle wurden gerückt und Schiebladen
+ziemlich geräuschvoll auf- und zugemacht, aber keine
+Sylbe wurde laut. Hatte sich das junge Ehepaar vielleicht
+gezankt?</p>
+
+<p>Draußen klopfte der Kellner an Nr. 7 an.</p>
+
+<p>»<i>Walk in</i>.«</p>
+
+<p>Die Thür öffnete sich.</p>
+
+<p>»<i>Do you speak english?</i>« lautete die Frage
+der Dame.</p>
+
+<p>Der Kellner antwortete leise einige Worte, die
+Hamilton nicht verstehen konnte, aber die Frage mußte
+verneinend beantwortet sein, denn die Dame erwiderte
+gleich darauf heftig:</p>
+
+<p>»<i>So send somebody with whom I can
+speak</i>.«</p>
+
+<p>Der Kellner &ndash; Hamilton sah durch die Thürspalte,
+es war ein ganz junger Bursch, der augenscheinlich
+<a class="pagenum" name="page_169" title="169"> </a>
+gar nicht wußte, was die Dame von ihm
+wollte &ndash; eilte wieder die Treppe hinab. »Aber alle
+Wetter, wo stak denn Mr. Kornik, der doch ganz vortrefflich
+deutsch sprach?«</p>
+
+<p>Hamilton erschrak. Hatte der Verbrecher wirklich
+gestern Abend Burton erkannt und sich selber in
+Sicherheit gebracht? Darüber mußte er Gewißheit
+haben &ndash; aber seine Stiefeln standen noch vor der
+Thür. War er vielleicht krank geworden?</p>
+
+<p>Er stieg rasch die Treppe hinunter zum Portier,
+den er auch schon auf seinem Posten fand.</p>
+
+<p>»Ah, Portier, wissen Sie vielleicht, wann der Herr
+auf Nr. 7 wieder abreisen wird?«</p>
+
+<p>»Auf Nr. 7?«</p>
+
+<p>»Graf Kornikoff, glaube ich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ah &ndash; ja der Herr Graf, kann ich wirklich nicht
+sagen. Er wollte heute Abend wieder kommen.«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Wieder</em> kommen?«</p>
+
+<p>»Ja &ndash; er ist heute Morgen halb zwei Uhr mit
+Extrapost nach dem Taunusgebirg gefahren.«</p>
+
+<p>»<i>The devil he is</i>,« murmelte Hamilton leise
+und verblüfft vor sich hin, »und hat er Gepäck mitgenommen?«
+frug er laut.</p>
+
+<p>»Nur eine Reisetasche &ndash; die Dame ist ja noch
+hier.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_170" title="170"> </a>
+»Haben Sie ihn denn gesehen?«</p>
+
+<p>»Natürlich &ndash; ich habe die Tasche ja an den
+Wagen getragen.«</p>
+
+<p>»Aber wann, um Gottes Willen, schlafen Sie
+denn?«</p>
+
+<p>»Ich? &ndash; <em class="gesperrt">nie</em>,« lächelte der Mann in voller
+Ruhe. Aber Hamilton hatte andere Dinge im Kopf,
+als sich mit dem Portier zu unterhalten. Mit wenigen
+Sätzen war er oben an Mr. Burtons Zimmer, den
+er auch schon vollständig angekleidet und seiner wartend
+traf.</p>
+
+<p>»Er ist fort,« rief er diesem ganz außer Athem
+entgegen, »richtig durchgebrannt. Er <em class="gesperrt">muß</em> Sie gestern
+Abend erkannt haben. Der Lump ist mit allen Hunden
+gehetzt.«</p>
+
+<p>»Und was jetzt?«</p>
+
+<p>»Ich muß augenblicklich nach, denn der Postillon,
+der ihn gefahren hat, wird zurück sein und weiß jedenfalls
+die Station. Dort findet sich dann die weitere
+Spur.«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Mit</em> der Donna?«</p>
+
+<p>»Nein, die ist zurückgeblieben, die überlasse ich
+jetzt Ihnen. Wahrscheinlich hat sie auch einen Theil
+von Ihres Vaters Geldern in Verwahrung &ndash; jedenfalls
+den Schmuck. &ndash; Hier ist der Verhaftsbefehl für
+<a class="pagenum" name="page_171" title="171"> </a>
+Kornik und seine Begleiterin &ndash; mir kann er doch
+nichts helfen, denn er gilt, von den Frankfurter Behörden
+ausgestellt, nur für das hiesige Gebiet. Das
+ist eine verzweifelte Wirthschaft in Deutschland, wo
+ein Mann in einer einzigen Stunde in drei verschiedener
+Herren Länder sein kann.</p>
+
+<p>»Aber wie bekomme ich heraus, ob das auch in
+der That jene berüchtigte Miss Fallow ist, bester Hamilton?
+Die Flucht des Grafen, wenn er wirklich
+geflohen, bleibt allerdings sehr verdächtig und ich
+zweifle kaum, daß Sie auf der richtigen Fährte sind,
+aber es &ndash; wäre doch eine ganz fatale Geschichte,
+<em class="gesperrt">wenn</em> wir es nicht mit den rechten Leuten zu thun
+hätten, und jetzt einer wildfremden und ganz unschuldigen
+Dame Unannehmlichkeiten bereiteten.«</p>
+
+<p>»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!« lachte
+Hamilton. »Daß ich Ihnen aus diesem Grafen Kornikoff
+den richtigen und unverfälschten Kornik herausschäle,
+darauf können Sie sich fest verlassen, und dies
+junge, wirklich wunderhübsche Geschöpf, was ihn begleitet,
+hätte sich dem Lump auch nicht an den Hals
+geworfen, wenn sie nicht schon vorher durch ein <em class="gesperrt">Verbrechen</em>
+mit einander verbunden gewesen wären.
+Nein, die einzige Sorge, die ich habe, ist die, daß <em class="gesperrt">Ihnen</em>
+die junge Dame einmal ebenso eines Morgens
+<a class="pagenum" name="page_172" title="172"> </a>
+unter den Händen fortschlüpft, wie ich mir in fabelhaft
+alberner Weise habe den Hauptschuldigen entwischen
+lassen, und wenn ich ihn nicht wieder bekäme, wäre
+das ein Nagel zu meinem Sarg. Aber noch hab' ich
+Hoffnung &ndash; ich <em class="gesperrt">kenne</em> den Herrn jetzt, denn ich habe
+ihn mir <em class="gesperrt">genau</em> angesehen und wenn er sich wirklich
+auch den schwarzen Schnurrbart abrasirte und die
+blaue Brille in die Tasche steckte, so denke ich ihm doch
+auf den Hacken zu sitzen, ehe er es sich versieht.«</p>
+
+<p>»Er wird direkt über die Grenze nach Frankreich
+fliehen.«</p>
+
+<p>»Daran habe ich auch schon gedacht, denn Geld
+genug hat er bei sich, aber dagegen hilft der Telegraph.
+An die beiden Grenzstationen werde ich jetzt vor allen
+Dingen genau telegraphiren, und wenn ich da nur ein
+Wort mit einfließen lasse, daß der Herr mit dem Revolutionscomité
+in London in Verbindung stände, passen
+sie auf wie die Heftelmacher.«</p>
+
+<p>»Und sie wollen dem Kornik nach?«</p>
+
+<p>»Augenblicklich, so wie ich die Depeschen befördert
+habe. Ich nehme jetzt ohne weiteres Extrapost und
+treffe ich ihn, so telegraphire ich ungesäumt.«</p>
+
+<p>»Und ich lasse unterdessen die Dame verhaften?«</p>
+
+<p>»Das ist das Sicherste. Sie können ja Bürgschaft
+leisten, wenn es verlangt werden sollte. Auf
+<a class="pagenum" name="page_173" title="173"> </a>
+dem Gerichte finden Sie auch Jemand, der englisch
+spricht.«</p>
+
+<p>»Abscheuliche Geschichte,« murmelte der junge
+Burton zwischen den Zähnen, »daß uns der Lump auch
+gestern Abend gerade so zur unrechten Zeit in den Weg
+laufen mußte.«</p>
+
+<p>»Das ist jetzt nicht zu ändern,« rief aber der weit
+entschiednere Hamilton &ndash; »wir haben immer noch
+Glück gehabt, das Volk Hühner so rasch anzutreffen
+und zu sprengen. Jetzt halten Sie nur Ihren Part fest,
+und ich glaube Ihnen garantiren zu können, daß ich
+<em class="gesperrt">meine</em> Hälfte ebenfalls zur rechten Zeit einbringe.«</p>
+
+<p>»Und wissen Sie gewiß, daß Kornik die Stadt verlassen
+hat?«</p>
+
+<p>»Gar kein Zweifel &ndash; aber das erfahre ich ja auch
+gleich auf der Post. Jetzt wollen wir nur noch einmal
+hinunter und sehen, ob wir nichts mehr von der Donna
+zu hören bekommen.«</p>
+
+<p>Es war in der That das Einzige, was sie thun
+konnten. Sie fanden die Thür aber wieder geschlossen
+und Hamilton wandte sich unten an den Oberkellner,
+um womöglich etwas Näheres zu erfahren.</p>
+
+<p>»Ach, Oberkellner, meine Rechnung &ndash; ich reise ab.«</p>
+
+<p>»Zu Befehl, mein Herr&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Apropos, was war denn das heute Morgen für
+<a class="pagenum" name="page_174" title="174"> </a>
+ein Lärm auf Nr. 7? Meine schöne Nachbarin schien
+ja sehr in Eifer.«</p>
+
+<p>Der Oberkellner lächelte.</p>
+
+<p>»Der Herr Gemahl hat die Nacht eine kleine Extrafahrt
+gemacht und die Dame scheint eifersüchtig zu
+sein.«</p>
+
+<p>»Es scheint als ob er heimlich auf und davon gegangen
+wäre,« sagte Mr. Burton leise zu Hamilton.
+Dieser zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>»Gott weiß es,« erwiderte er, »aber das werden
+Sie jetzt herausbekommen. Lassen Sie sich nur nicht
+etwa von Thränen rühren, denn wir haben es hier
+mit einer abgefeimten Kokette zu thun, der auch Thränen
+zu Gebote stehen, wenn sie dieselben braucht. Ich
+aber darf keinen Augenblick Zeit mehr verlieren. Auf
+die Koffer in Korniks Zimmer legen Sie augenblicklich
+Beschlag und lassen sie visitiren. Kornik hat wahrscheinlich
+alle Papiere entfernt und mitgenommen;
+aber in der Eile bleibt doch noch manchmal ein oder
+die andere Kleinigkeit zurück, die leicht zum Verräther
+wird.«</p>
+
+<p>»Und wenn sie sich weigert? &ndash; wenn sie sich auf
+ihren Rang, vielleicht sogar auf einen, wer weiß wie
+erhaltenen Paß beruft? Die Behörden hier werden
+sie in Schutz nehmen.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_175" title="175"> </a>
+»Gott bewahre,« sagte Hamilton, »Sie haben ja
+das Duplicat unserer englischen Vollmachten mit
+der Personalbeschreibung der beiden Verbrecher in
+Händen. Korniks Flucht hat ihn dabei schon verdächtig
+gemacht und das wenigste, was man Ihnen
+zugestehen kann, ist eine Durchsuchung der Effecten im
+Beisein eines Polizeibeamten, und dann die Detenirung
+der Person selber in Frankfurt, bis ich mit ihrem
+Helfershelfer zurückkomme. In dem Fall können Sie
+dieselbe meinetwegen &ndash; natürlich unter polizeilicher
+Aufsicht &ndash; so lange hier im Hotel lassen.«</p>
+
+<p>»Eine unangenehme Geschichte bleibt es immer,«
+sagte Mr. Burton, mit dem Kopf schüttelnd.</p>
+
+<p>»Unangenehm, <i>by George</i>,« lachte Hamilton &ndash;
+»bedenken Sie, daß 20,000 Pfd. Sterling Ihres
+Geschäfts dabei auf dem Spiel stehen, von dem
+Schmuck, der ebenfalls auf 3000 taxirt ist, gar nicht
+zu reden. Und nun ade; hoffentlich bringe ich Ihnen
+bald den Patron selber. Verlassen Sie nur die Stadt
+nicht« &ndash; und mit den Worten rasch zu dem kleinen
+Stehpult tretend, hinter welchem sich der Oberkellner
+befand, berichtigte er seine Rechnung und sprang gleich
+darauf draußen in eine Droschke, um seine Verfolgung
+anzutreten.</p>
+
+
+
+
+<h3>IV.<a class="pagenum" name="page_176" title="176"> </a><br />
+
+<b>Die schöne Fremde.</b></h3>
+
+
+<p>Mr. Burton blieb in einer nichts weniger als
+behaglichen Stimmung zurück, denn er hatte ganz
+plötzlich die <em class="gesperrt">Leitung</em> einer Angelegenheit bekommen,
+in der er bis jetzt nur gedacht hatte als Zeuge, und
+vielleicht als Kläger aufzutreten.</p>
+
+<p>James Burton war überhaupt der Mann nicht,
+in irgend einer Angelegenheit entschieden und selbständig
+zu <em class="gesperrt">handeln</em>; er verhielt sich am liebsten passiv.</p>
+
+<p>In einer der ersten bürgerlichen Familien seines
+Vaterlandes erzogen, in den besten Schulen herangebildet,
+in der besten Gesellschaft aufgewachsen, war er
+von edlem, offenem Charakter, dem sich ein gesunder
+Verstand und ein weiches Herz paarte. Das letztere
+lief ihm aber nur zu oft mit dem ersteren davon, und
+selber unfähig eine unrechtliche Handlung zu begehen,
+gab es für ihn auch nichts Schrecklicheres auf der
+Welt, als solche einem anderen zuzutrauen.</p>
+
+<p>Nichtsdestoweniger bekam er es hier mit einer nicht
+wegzuläugnenden Thatsache zu thun, denn William Kornik,
+von seinem Vater mit Wohlthaten überhäuft und
+in eine ehrenvolle und einträgliche Stellung gebracht,
+hatte das Vertrauen seines Hauses auf eine so nichtswürdige
+Weise getäuscht und mißbraucht, daß ein Zweifel
+<a class="pagenum" name="page_177" title="177"> </a>
+an seiner Unehrlichkeit nicht mehr stattfinden konnte.
+Gegen diesen würde er auch mit rücksichtsloser Strenge
+vorgegangen sein, aber jetzt bekam er plötzlich den Auftrag,
+gegen eine <em class="gesperrt">Frau</em> einzuschreiten, deren Betheiligung
+an dem Raub allerdings wahrscheinlich, aber
+keineswegs völlig erwiesen war. Und doch sah er auch
+recht gut ein, daß Hamilton Recht hatte, wenn er verlangte,
+die jedenfalls sehr verdächtige Person wenigstens
+so lange fest und unter Aufsicht zu halten, bis
+er mit dem wirklichen Verbrecher zurückkehren könne.
+Nur daß <em class="gesperrt">ihm</em> dazu der Auftrag geworden, war ihm
+fatal, und er hätte vielleicht eine große Summe Geldes
+gegeben, um sich davon loszukaufen, aber das ging
+eben nicht, und es blieb ihm nichts andres übrig, als
+sich der einmal übernommenen Pflicht nun auch nach
+besten Kräften zu unterziehen. Er hoffte dabei im
+Stillen, daß die Dame sehr stolz und frech gegen ihn
+auftreten würde, und war fest entschlossen, sich nicht
+einschüchtern zu lassen. Um den verbrecherischen Erwerb
+des Geldes <em class="gesperrt">mußte</em> sie ja wissen, sie wäre sonst
+nicht heimlich mit ihm geflohen, und wenn sich dann
+auch noch herausstellte, daß sie den Schmuck der Lady
+Clive entwendet hatte, dann brauchte er auch weiter
+kein Mitleiden mit ihr zu haben, und jede Rücksicht
+hörte von selbst auf.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_178" title="178"> </a>
+Nichtsdestoweniger konnte er sich doch nicht entschließen,
+die Höflichkeit soweit außer Acht zu lassen,
+als sich vor zwölf Uhr bei ihr melden zu lassen. Aber
+er traute ihr deshalb doch nicht; denn Mr. Kornik
+war ihm auf viel zu rasche Art abhanden gekommen,
+um nicht etwas Aehnliches auch von seiner Frau oder
+Gefährtin zu fürchten. Er ging deshalb, sehr zum Erstaunen
+des Portiers, der gar nicht wußte, was er von
+dem unruhigen Gast denken sollte, und ihn frug, ob er
+vielleicht Zahnschmerzen habe, die langen Stunden
+theils auf dem Vorsaal, theils auf der Treppe auf und
+ab &ndash; denn das verzweifelte Haus hatte ja zwei Ausgänge
+&ndash; und horchte verschiedene Male oben an der
+Thür, um sich zu versichern, daß nicht der zweite
+Vogel ebenfalls heimlich ausgeflogen sei.</p>
+
+<p>Aber diese Furcht schien grundlos zu sein. Das
+Stubenmädchen, dem er auf der Treppe begegnete,
+brachte das Frühstück hinauf, ein Glas Madeira und
+ein Beefsteak, die verlassene Frau nahm also noch substantielle
+Nahrung zu sich, und als es endlich auf
+sämmtlichen Frankfurter Uhren &ndash; was bekanntlich
+eine lange Zeit dauert &ndash; zwölf geschlagen hatte, faßte
+er so viel Muth, der Dame seine Karte hinaufzuschicken
+und anfragen zu lassen, ob er das Vergnügen haben
+könne, ihr seine Aufwartung zu machen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_179" title="179"> </a>
+Das klang allerdings nicht wie das Vorspiel einer
+criminellen Untersuchung, aber die gewöhnlichen Gesetze
+der Höflichkeit durften doch auch nicht außer Acht
+gelassen werden. Höflichkeit schadet nie, und man hat
+dadurch oft schon mehr erreicht, als durch sogenannte
+gerade Derbheit, was man im gewöhnlichen Leben auch
+wohl <em class="gesperrt">Grobheit</em> nennt.</p>
+
+<p>Die Antwort lautete umgehend zurück, daß die
+Dame sich glücklich schätzen würde, ihn zu begrüßen
+und nur noch um wenige Minuten bäte, um ihre
+Morgentoilette zu beenden.</p>
+
+<p>Die wenigen Minuten dauerten allerdings noch
+eine reichliche halbe Stunde, aber Mr. Burton war
+gar nicht böse darüber, denn er bekam dadurch nur noch
+so viel mehr Zeit sich zu sammeln, und sich ernstlich
+vorzunehmen, diese Person allerdings mit jeder Artigkeit,
+aber auch mit jeder, hier unumgänglich nöthigen
+Strenge zu behandeln. Was half es auch, Rücksicht
+auf ein Wesen zu nehmen, das sich an einen Menschen
+wie diesen Kornik soweit weggeworfen hatte, sogar
+Theilnehmerin seiner <em class="gesperrt">Verbrechen</em> zu werden. Dabei
+überlegte er sich auch, daß es weit besser sein würde,
+im Anfang keine einzige Frage derselben zu beantworten,
+sondern vor allen Dingen erst alles herauszubekommen,
+was <em class="gesperrt">sie</em> wußte. Volle Aufrichtigkeit konnte
+<a class="pagenum" name="page_180" title="180"> </a>
+allein ja auch jetzt ihre Strafe mildern und ihrem
+Vergehen das Gehässige der Verstocktheit nehmen, und
+durch <em class="gesperrt">ihr</em> Geständniß bekamen sie außerdem gleich ein
+Hauptzeugniß gegen den jetzt noch flüchtigen Verbrecher.</p>
+
+<p>Mitten in diesen Betrachtungen wurde er durch
+die Klingel auf Nr. 7 gestört, die den Kellner herbeirief.
+&ndash; Dieser erschien gleich darauf wieder und meldete
+Herrn Burton, die Dame erwarte ihn.</p>
+
+<p>Also der Augenblick war gekommen, und mit festen
+Schritten stieg er die Treppe hinan. Wußte er doch
+auch schon vorher, wie er die Dame finden würde,
+die so ewig lang gebraucht hatte, ihre Toilette zu
+machen: im vollen Staat natürlich, um ihm zu imponiren
+und jede Frage nach einer begangenen Schuld
+gleich von vorn herein abzuschneiden. Aber er lächelte
+trotzig vor sich hin, denn er wußte, daß eine derartige
+plumpe List bei ihm nicht das Geringste helfen würde.
+Er ließ sich eben nicht verblüffen.</p>
+
+<p>Mit festen Schritten stieg er die Stufen hinan
+und klopfte an &ndash; aber doch nicht zu laut. »<i>Walk in</i>,«
+hörte er von einer fast schüchternen Stimme rufen,
+und als er die Thür öffnete, blieb er ordentlich bestürzt
+auf der Schwelle stehen, denn vor sich sah er das lieblichste
+Wesen, das er in seinem ganzen Leben noch mit
+Augen geschaut.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_181" title="181"> </a>
+Mitten in der Stube stand die junge Fremde &ndash; nicht
+etwa in voller Toilette, mit Schmuck und Flittertand
+behangen, wie er eigentlich gehofft hatte sie zu finden,
+sondern in einem einfachen, schneeweißen Morgenanzug,
+der ihre Schönheit nur um so reizender erscheinen
+ließ, und während ihr blaues Auge feucht von einer
+halbzerdrückten Thräne schien, streckte sie dem Eintretenden
+die Hand entgegen und sagte, mit vor Bewegung
+zitternder Stimme:</p>
+
+<p>»Sie sendet mir der liebe Gott, mein Herr &ndash; Ihr
+Name ist mir zwar fremd, aber aus Ihrer Karte sehe
+ich, daß Sie ein Landsmann sind, also ein Freund,
+der mich in der größten Noth meines Lebens trifft,
+und mir gewiß, wenn er nicht helfen kann, doch rathen
+wird.«</p>
+
+<p>»Madam,« sagte der junge Burton, durch diese
+keineswegs erwartete Anrede ganz außer Fassung
+gebracht, indem er die ihm gereichte Hand nahm und
+fast ehrfurchtsvoll an seine Lippen hob, »ich &ndash; ich
+begreife nicht recht &ndash; ich gestehe, daß ich &ndash; Sie entschuldigen
+vor allen Dingen meinen Besuch.«</p>
+
+<p>»Ich würde Sie darum gebeten haben,« sagte die
+junge Frau herzlich, »wenn ich gewußt hätte, daß ein
+Landsmann mit mir unter einem Dache wohnt; aber
+das Fremdenbuch, das ich mir heute Morgen bringen
+<a class="pagenum" name="page_182" title="182"> </a>
+ließ, zeigte keinen einzigen englischen Namen &ndash; doch
+ich darf nicht selbstsüchtig sein,« unterbrach sie sich
+rasch &ndash; »Sie sind da &ndash; ich sehe in dem edlen Ausdruck
+Ihrer Züge, daß ich auf Ihren Beistand rechnen
+kann, und nun erst vor allen Dingen, <em class="gesperrt">Ihre</em> Angelegenheit.
+Lösen Sie mir das Räthsel, das Sie, einen
+vollkommen Fremden, gerade in dieser Stunde zu
+mir hergeführt &ndash; und bitte, nehmen Sie Platz &ndash; oh
+verzeihen Sie der Aufregung, in der Sie mich gefunden,
+daß ich Sie schon so lange hier im Zimmer habe
+stehen lassen.«</p>
+
+<p>Damit führte sie ihn mit einfacher Unbefangenheit
+zu dem kleinen mit rothem Plüsch überzogenen
+Sopha und nahm dicht neben ihm Platz, so daß es
+dem jungen Manne ganz beklommen zu Muthe wurde.
+Auch die Frage diente nicht dazu, ihm seine ruhige
+Ueberlegung wieder zu geben, denn konnte er <em class="gesperrt">dem</em>
+Wesen neben ihm jetzt mit kalten, dürren Worten sagen,
+daß er hierher gekommen sei, um sie des <em class="gesperrt">Diebstahls</em>
+zu bezüchtigen und in Haft zu halten? Es war ordentlich
+als ob ihm die innere Bewegung die Kehle zusammenschnürte
+und er brauchte geraume Zeit, um nur ein
+Wort des Anfangs zu finden.</p>
+
+<p>Die junge Frau an seiner Seite ließ ihm dabei
+vollkommen Zeit sich zu fassen, und nur wie schüchtern
+<a class="pagenum" name="page_183" title="183"> </a>
+blickte sie ihn mit ihren großen seelenvollen Augen
+an. Und diese Augen sollten jemals die Helfershelfer
+eines Verbrechens gewesen sein? Es war nicht
+möglich; Hamilton hatte den größten nur denkbaren
+Mißgriff gemacht, und ihn selber jetzt in eine Lage gebracht,
+wo er mit Vergnügen tausend Pfund Sterling
+bezahlt hätte, um nur mit Ehren wieder heraus
+zu sein.</p>
+
+<p>Endlich fühlte er aber doch, daß er nicht länger
+schweigen konnte, ohne sich lächerlich zu machen, und
+begann, wenn auch anfangs noch mit leiser, unsicherer
+Stimme.</p>
+
+<p>»Madam &ndash; Sie &ndash; Sie müssen mich wirklich
+entschuldigen, wenn ich Sie von vornherein mit einer
+Frage belästige, die &ndash; die eigentlich Ihren &ndash; Ihren
+Herrn Gemahl betrifft &ndash; dem auch &ndash; dem auch vorzugsweise
+mein Besuch galt; denn ich würde nicht gewagt
+haben, <em class="gesperrt">Sie</em> zu stören. Aber &ndash; seine so plötzliche
+Abreise &ndash; und mitten in der Nacht hat einen Verdacht
+erweckt, der&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Einen <em class="gesperrt">Verdacht</em>?«</p>
+
+<p>»Uebrigens,« lenkte Burton ein, da ihm plötzlich
+wieder beifiel, daß er ja vorher Alles hatte hören wollen,
+was die Dame <em class="gesperrt">ihm</em> sagen würde, um danach sein
+eigenes Handeln zu regeln &ndash; »hängt alles vielleicht mit
+<a class="pagenum" name="page_184" title="184"> </a>
+dem zusammen, wegen dessen Sie selber meinen Rath
+verlangen, und wenn Sie nur die Freundlichkeit
+haben wollten&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber einen <em class="gesperrt">Verdacht</em>?« &ndash; sagte die junge Dame
+rasch und erschreckt, indem sie ihre zitternde Hand auf
+seinen Arm legte und in der gespanntesten Erwartung
+mit ihren schönen Augen an seinen Lippen hing. &ndash;
+»Welcher Verdacht könnte auf ihm ruhen? &ndash; In welcher
+Verbindung können Sie mit ihm stehen? Oh,
+spannen Sie mich nicht länger auf die Folter &ndash; machen
+Sie mich nicht unglücklicher, als ich es schon bin.
+Ach, ich hatte ja gehofft, daß <em class="gesperrt">Sie</em> gerade mir Hülfe
+und Trost bringen sollten; tragen Sie nicht dazu bei,
+meine Unruhe durch längeres Schweigen noch zu vermehren.«</p>
+
+<p>Mr. Burton fand sich so in die Enge getrieben,
+daß er schon gar keinen möglichen Ausweg mehr sah.
+<em class="gesperrt">Er</em> war ja auch eigentlich verpflichtet zuerst zu sprechen.
+<em class="gesperrt">Er</em> hatte eine Unterredung mit ihr erbeten, nicht
+<em class="gesperrt">sie</em> mit ihm, und wenn ihn auch ein wahrhaft verzweifelter
+Gedanke einmal einen Moment erfaßte, sich
+aus der ganzen Geschichte durch irgend eine Ausrede
+hinaus zu lügen, fiel ihm doch ums Leben nicht das
+Geringste, auch nur einigermaßen Glaubwürdige bei.
+Es blieb ihm also nichts übrig, als der jungen Dame
+<a class="pagenum" name="page_185" title="185"> </a>
+&ndash; natürlich so schonend wie das nur irgend geschehen
+konnte &ndash; die Wahrheit zu sagen, und dabei war er
+auch im Stande zu sehen, welchen Eindruck die Beschuldigung
+auf sie machen würde &ndash; danach wollte er
+dann handeln.</p>
+
+<p>»Madam,« sagte er, aber noch immer verlegen &ndash;
+»beruhigen Sie sich &ndash; es wird sich ja noch alles aufklären.
+&ndash; Ich selber &ndash; ich bin ja fest überzeugt, daß
+<em class="gesperrt">Sie</em> der &ndash; unangenehmen Sache, um die es sich handelt,
+vollständig fern stehen. &ndash; Es ist auch noch nicht
+einmal ganz fest bestimmt, ob ihr Herr &ndash; Herr Gemahl
+auch wirklich jene Persönlichkeit ist, die wir
+suchen &ndash; die ganze Sache kann ja möglicher Weise ein
+Irrthum sein, und nur der dringende Verdacht, den
+mein Begleiter gegen mich ausgesprochen hat, veranlaßt
+mich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber ich verstehe Sie gar nicht,« sagte die junge
+Dame, und sah dabei gar so lieb und doch so entsetzlich
+unglücklich aus, daß ihm ordentlich das eigene
+Herz weh that.</p>
+
+<p>»Ich <em class="gesperrt">muß</em> deutlicher reden,« fuhr Mr. Burton
+fort, der sie nicht länger in dieser Aufregung lassen
+durfte. »Also hören Sie. Mein Name ist James Burton.
+Ich bin seit diesem Jahre Theilhaber der Firma
+meines Vaters Burton &amp; Burton in London. Seit
+<a class="pagenum" name="page_186" title="186"> </a>
+sieben Jahren hatten wir einen jungen Mann in unserm
+Geschäft, einen Polen, Namens Kornik, der sich
+durch seine Geschicklichkeit und Umsicht so in meines
+Vaters Vertrauen einschlich, daß er ihn vor zwei Jahren
+zu unserm Hauptcassirer machte. Mein Vater
+wußte nicht, daß er eine Schlange in seinem Busen
+nährte. Vor etwa acht Tagen verschwand dieser
+Mensch plötzlich aus London und zwar an einem
+Sonnabend Abend, wodurch er etwa vierzig Stunden
+Vorsprung bekam, denn da nicht der geringste Verdacht
+auf ihm lastete, fiel auch sein Ausbleiben am
+Montag Morgen nicht so rasch auf, wie das sonst vielleicht
+der Fall gewesen wäre. Nur weil mein Vater
+fürchtete, daß er könne unwohl geworden sein, schickte
+er in seine Wohnung hinüber, die sich unmittelbar
+neben uns befand, und hörte hier zu seinen Erstaunen,
+daß Mr. Kornik sowohl Sonnabend als auch Sonntag
+Abend nicht nach Hause gekommen sei.«</p>
+
+<p>»Aber was, um Gottes Willen, habe ich mit dem
+allen zu thun?« unterbrach ihn die junge Dame, erstaunt
+mit dem Kopf schüttelnd.</p>
+
+<p>»Erlauben Sie mir,« fuhr Mr. Burton, in der
+Erinnerung an das Geschehene wärmer werdend fort:
+»Der erste Gedanke meines Vaters war, daß ihm ein
+Unglück begegnet sein könne; ein anderer Commis aber
+<a class="pagenum" name="page_187" title="187"> </a>
+in unserem Haus mußte doch etwas bemerkt haben,
+was ihm verdächtig vorkam. Er bat uns dringend,
+keine Zeit zu versäumen und die Kasse zu revidiren, und
+da stellte sich denn bald das Entsetzliche heraus, daß
+eine <em class="gesperrt">sehr</em> bedeutende Summe fehlte, die, nach den
+über Tag eingegangenen Erkundigungen, gegen 20,000
+Pfd. Sterling betrug.«</p>
+
+<p>»Mein Vater wandte sich augenblicklich an die
+Polizei, und ein sehr gewandter Detective, der uns
+besuchte, und der zur Verfolgung bestimmt wurde, gerieth
+noch an dem nämlichen Tag auf eine andere Spur,
+die, wie er meinte, sicherer zur Entdeckung des Verbrechers
+führen konnte. Derselbe war nämlich, wie der
+Polizeiagent sehr rasch herausbrachte, mit einer jungen
+sehr &ndash; ge &ndash; sehr gewandten Dame bekannt geworden
+und als an dem nämlichen Tag eine andere Klage
+gegen diese einlief, daß sie in dem Haus einer Lady,
+wo sie Stunden gab, einen werthvollen Schmuck
+entwandt haben sollte, ebenfalls aber nirgends aufzufinden
+war, und seit dem nämlichen Abend fehlte, wie
+jener Kornik &ndash; so blieb zuletzt kein Zweifel, daß beide
+mitsammen geflohen sein mußten.«</p>
+
+<p>»Jetzt war kein Augenblick mehr zu verlieren um
+der Verbrecher habhaft zu werden. Lady Clive &ndash; so
+hieß jene Dame &ndash; setzte selber eine namhafte Summe
+<a class="pagenum" name="page_188" title="188"> </a>
+für den Polizeibeamten aus; da dieser aber weder die
+Dame noch unsern frühern Kassirer persönlich kannte,
+entschloß ich mich ihn zu begleiten, und wir begannen
+gemeinschaftlich unsere etwas ungewisse Fahrt.«</p>
+
+<p>»Und jetzt?« frug die Fremde, anscheinend in
+größter Spannung.</p>
+
+<p>»Indessen,« fuhr Mr. Burton fort, »wurde kein
+mögliches Mittel versäumt um die beiden aufzufinden,
+falls sie sich noch in England aufhalten sollten. Zugleich
+telegraphirten wir an die nächsten Hafenplätze. Mein
+ganz vortrefflicher und gewandter Begleiter war aber
+schon auf eine Spur gekommen, die ihn nach Hamburg
+führte. Mit dem Hamburg Packet waren nämlich am
+Sonnabend Abend zwei Personen abgegangen, die der
+Beschreibung vollkommen entsprachen. Einer der Kassenleute
+in dem Office des Dampfboots behauptete
+sogar, Kornik an jenem Abend mit einer Reisetasche an
+dem Landungsplatz des Dampfboots gesehen zu haben.
+Wir folgten augenblicklich, verloren aber die Spur in
+Hamburg wieder, und glaubten sie erst in Hannover
+&ndash; freilich, wie sich später erwies, irrthümlich &ndash;
+wieder zu finden. Dort ließ mich Mr. Hamilton
+zurück, während er selber, von einer Art polizeilichen
+Instinkts getrieben, nach Frankfurt vorauseilte und
+hierher zu &ndash; zufälliger Weise &ndash; mit Ihnen und
+<a class="pagenum" name="page_189" title="189"> </a>
+Ihrem Herrn Gemahl die Reise in einem Coupé
+machte.«</p>
+
+<p>Ein leises Zittern flog über den Körper der Frau,
+aber ihre Züge verriethen keine Spur von Ueberraschung,
+und nur mit mehr erstaunter als bewegter
+Stimme sagte sie:</p>
+
+<p>»Und jetzt?«&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»Und jetzt,« fuhr Mr. Burton verlegen fort,
+»glaubte er, durch mehrere sonderbar zusammentreffende
+Umstände jenen aus London mit unserem Geld
+entflohenen Kornik in dem &ndash; Sie dürfen mir nicht
+zürnen, denn Sie haben die volle Wahrheit verlangt
+&ndash; in dem &ndash; Grafen Kornikoff wieder zu finden, da
+sich dieser heute Nacht so heimlich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Heiliger Gott der Welt!« rief die junge Frau,
+entsetzt emporspringend: »reden Sie nicht aus. Darf
+ich denn meinen Ohren trauen? In dem Grafen
+Kornikoff vermuthen Sie den entsprungenen Verbrecher?
+Und dann ist, <em class="gesperrt">Ihrer</em> Meinung nach &ndash; seine
+Begleiterin jene Diebin des Diamantenschmucks?«</p>
+
+<p>»<i>But Madam!</i>« rief Mr. Burton, ebenfalls
+erschreckt von seinem Sitz aufspringend, »ich sage Ihnen
+ja«&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»O mein Vater im Himmel, selbst das noch,« rief
+aber das schöne Weib, die Arme wie flehend emporstreckend,
+<a class="pagenum" name="page_190" title="190"> </a>
+»auch das noch &ndash; auch das noch in meinem
+Jammer und Elend. &ndash; Aber kommen Sie,« fuhr sie
+leidenschaftlich fort, indem Sie plötzlich wieder Mr.
+Burtons Arm ergriff und ihn fast mit Gewalt zu
+ihrem Koffer zog &ndash; »<em class="gesperrt">ich</em> bin nur ein armes schwaches
+Weib, hilflos und ohne Schutz im fremden Lande &ndash;
+aber Sie haben vielleicht ein Recht, der Spur eines
+verübten Verbrechens nachzuforschen. <em class="gesperrt">Ich</em> habe nichts
+als meinen ehrlichen Namen, aber den kann ich, Gott
+sei Dank, mir erhalten und Ihnen bin ich noch dazu
+verpflichtet, mir die Gelegenheit zu geben mich zu
+rechtfertigen. Mir schwindelt der Kopf, wenn ich mir
+denke, daß Sie auch nur eine Stunde länger mich in
+einem so furchtbaren Verdacht haben sollten.«</p>
+
+<p>»<i>But, my dear Madam</i>,« rief Burton, jetzt vergebens
+bemüht, zu Worte zu kommen. Die Frau ließ
+ihn nicht.</p>
+
+<p>»Nein, nein,« fuhr sie immer erregter fort und
+schloß mit vor Eifer zitternden Händen ihren Koffer
+auf, warf den Deckel zurück und riß die dort
+sorgfältig und glatt eingepackten Stücke wild und
+leidenschaftlich heraus. »Da &ndash; hier &ndash; hier ist alles
+was ich auf der Welt mein nenne &ndash; da meine Wäsche
+&ndash; da meine Kleider,« fuhr sie fort die genannten
+Sachen, ohne daß es Burton verhindern konnte, über
+<a class="pagenum" name="page_191" title="191"> </a>
+den Boden streuend, »hier mein Schmuck &ndash; eine
+dürftige Korallenkette mit einem goldenen Kreuzchen,
+das Erbtheil meiner seligen Mutter &ndash; und wie ich
+<em class="gesperrt">früher</em> ihren Tod beklagte, jetzt danke ich Gott, daß
+sie diese Stunde nicht erlebte. &ndash; Hier meine&nbsp;&ndash;« sie
+konnte nicht weiter &ndash; ihr Gefühl überwältigte sie.
+Sie richtete sich auf und wollte zum nächsten Stuhl
+schwanken, aber sie vermochte es nicht und wäre zu
+Boden gesunken, wenn sie nicht James Burton in
+seinen Armen aufgefangen hätte.</p>
+
+<p>Das war eine böse Situation für den jungen Mann
+&ndash; der warme Körper der jungen Frau ruhte an seinem
+Herzen, und vergebens suchte er sie durch tausend
+Trostesworte ins Leben zurückzurufen. &ndash; Und wie
+ihr Herz dabei schlug &ndash; er wußte sich keines Rathes,
+als sie aufs Sopha zu tragen &ndash; und als er sie in die
+Höhe hob, trafen seine Lippen unwillkührlich auf die
+ihrigen und ruhten einen Moment darauf. Endlich
+raffte er sich empor. Er wollte nach Hilfe rufen, aber
+er wagte es nicht &ndash; was mußten die Leute im Hotel
+davon denken, wenn er in einer solchen Situation mit
+der jungen Dame getroffen wurde? Auf dem Waschtisch
+stand ein Glas Eau de Cologne &ndash; damit benetzte er
+ihr Taschentuch, hielt es ihr unter die Nase und rieb
+ihr Schläfe und Puls, und als das alles nicht helfen
+<a class="pagenum" name="page_192" title="192"> </a>
+wollte, tauchte er das Handtuch in kaltes Wasser und
+legte es ihr um die Stirn. Aber es dauerte wohl zehn
+Minuten, ehe er sie zum Bewußtsein zurückrief, und
+<em class="gesperrt">als</em> sie endlich erwachte, befand sie sich in einem so
+furchtbar überreizten Zustande, daß sie den über ihr
+lehnenden Arm des jungen Mannes ergriff, ihre
+Stirn dagegen lehnte und bitterlich weinte.</p>
+
+<p>Mr. Burton that das unter solchen Umständen
+Zweckmäßigste &ndash; er ließ sie sich ausweinen und es
+gewährte ihm sogar einige Beruhigung, daß er sie
+dabei mit seinem linken Arm stützen und halten konnte.
+Aber diese Schwäche dauerte nicht lange. Die junge
+Frau zeigte eine ungemeine Willenskraft, dieses
+augenblickliche Erliegen ihres Körpers zu bewältigen,
+und mit leiser Stimme sagte sie:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen &ndash; ich fühle mich stärker &ndash; es
+ist vorbei. Lassen sie mich jetzt Alles wissen &ndash; o verhehlen
+Sie mir nichts &ndash; ich <em class="gesperrt">muß</em> es ja erfahren
+und dann habe auch ich Ihnen ein Geständniß abzulegen.
+&ndash; Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen.
+Zürnen sie mir nicht, meiner Heftigkeit wegen.«</p>
+
+<p>»Oh, daß ich Ihnen beweisen könnte, wie innigen
+Antheil ich an Ihrem Schicksal nehme,« rief Mr.
+Burton bewegt aus.</p>
+
+<p>»Und wo ist ihr Begleiter jetzt?« frug die junge
+<a class="pagenum" name="page_193" title="193"> </a>
+Frau, die noch immer halb von seinem Arm gehalten
+wurde.</p>
+
+<p>»Ich weiß es nicht,« sagte Mr. Burton mit einer
+gewissen Genugthuung, ihr darauf keine bestimmte
+Antwort geben zu können. »Er folgt jenem Grafen
+Kornikoff, um sich sicher zu stellen, ob er es in diesem
+mit dem vermutheten Kornik zu thun hat. Nun aber
+sagen sie auch mir, dear Madam &ndash; wie kommen Sie
+in die Gesellschaft jenes Mannes? &ndash; wie lernten
+Sie ihn kennen, und hatten Sie keine Ahnung, daß
+er ein Betrüger sei?«</p>
+
+<p>»Ich kann es mir <em class="gesperrt">jetzt</em> noch nicht denken,« rief
+die Unglückliche &ndash; »es ist nicht möglich &ndash; er hätte
+ja, <em class="gesperrt">wenn</em> es wahr wäre, ein tausendfaches Verbrechen
+an mir selber verübt. O lassen Sie mich noch
+an seine Unschuld glauben.«</p>
+
+<p>»Wie gern wollte ich Sie in dieser Täuschung
+lassen,« sagte Mr. Burton, »aber ich muß gestehen,
+daß viele, viele Umstände dagegen sprechen.«</p>
+
+<p>»Dann finden wir auch in seinem Koffer Aufschluß
+über das Vergehen,« rief da die Dame plötzlich,
+indem sie sich vom Sopha emporrichtete. »Er hat
+sein ganzes Gepäck zurückgelassen und nicht allein zu
+Ihrer, nein auch zu meiner Genugthuung muß ich
+<a class="pagenum" name="page_194" title="194"> </a>
+jetzt darauf bestehen, daß Sie es auf das Genaueste
+untersuchen.«</p>
+
+<p>Mr. Burton wollte sie davon zurückhalten, weil
+er nicht mit Unrecht fürchtete, daß sie sich dabei aufs
+neue zu sehr aufregen würde, aber sie bestand fest
+darauf und da ihm selber daran lag, das hinterlassene
+Eigenthum jenes Menschen nachzusehen, gab er endlich
+ihrem Wunsche nach. Vergebens aber durchsuchten
+sie jetzt den ganzen, ziemlich geräumigen Koffer;
+es fand sich nichts, was irgend einen Aufschluß hätte
+geben können. Ganz unten aber in der Ecke lag ein
+zusammengedrücktes Papier &ndash; ein altes Couvert, in
+das ein Paar alte Hemdknöpfchen und eine Westenschnalle
+eingewickelt waren, und auf dem Couvert
+stand die Adresse:</p>
+
+<p class="center"><i>W. Kornik Esqre<br />
+Care of Messrs. Burton &amp; Burton &ndash; London.</i></p>
+
+<p>Mr. Burton entfaltete das Couvert, las es, und
+reichte es dann schweigend, aber mit einem beredten
+Blick der Dame. Diese aber hatte kaum das Auge
+darauf geworfen, als sie mit leiser, entsetzter Stimme
+sagte:</p>
+
+<p>»Vater im Himmel! also doch,« und ihr Antlitz in
+ihren Händen bergend, stand sie wohl eine Minute
+still und schweigend und wie ineinandergebrochen.
+<a class="pagenum" name="page_195" title="195"> </a>
+Endlich richtete sie sich wieder empor, und dem jungen
+Mann noch einmal die Hand entgegenstreckend,
+sagte sie:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Mr. Burton &ndash; danke Ihnen
+recht von Herzen, daß Sie den Schleier gelüftet haben,
+der mich von einem Abgrund trennte. Wenn Sie
+aber jetzt Ihrer Güte gegen mich die Krone aufsetzen
+&ndash; wenn Sie mich für ewig verpflichten wollen, dann
+lassen Sie mich jetzt nur für <em class="gesperrt">eine</em> kurze Stunde
+allein, um mich zu sammeln. Ich kann jetzt nicht
+danken &ndash; ich bin es nicht im Stande &ndash; meine Glieder
+versagen mir den Dienst. In einer Stunde kommen
+Sie wieder zu mir, dann sollen Sie alles erfahren,
+was mich betrifft, und wir können dann vielleicht
+gemeinschaftlich berathen, was zu thun, wie Ihnen &ndash;
+wie mir zu helfen ist. Wollen Sie mir das versprechen?«</p>
+
+<p>»Madam,« sagte Mr. Burton mit tiefem Gefühl,
+und jetzt vollständig überzeugt, daß dies liebliche Wesen
+nie und nimmer eine Mitschuldige sein könne, &ndash;
+»Sie haben ganz über mich zu befehlen und was in
+meinen Kräften steht, mich Ihnen nützlich zu machen,
+soll gewiß geschehen. Fassen Sie Muth, und vor
+Allem, fassen Sie Vertrauen zu mir und ich hoffe, es
+soll noch alles gut werden. Ich lasse Sie jetzt allein &ndash;
+in einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen &ndash; vielleicht
+<a class="pagenum" name="page_196" title="196"> </a>
+ist auch bis dahin schon Nachricht über den Flüchtling
+eingetroffen. &ndash; Sorgen Sie nicht,« setzte er aber herzlich
+hinzu, als er dem wehmüthigen Blick begegnete,
+der auf ihm haftete. &ndash; »Sie haben einen <em class="gesperrt">Freund</em>
+gefunden.« &ndash; Und die Hand, die er noch immer in
+der seinen hielt, an seine Lippen pressend, durchrieselte
+es ihn ordentlich wie mit süßen Schauern,
+als er einen leisen Druck derselben zu fühlen glaubte.
+Aber er ließ sie los, verbeugte sich vor der jungen
+Dame ehrfurchtsvoll und stieg dann rasch in sein
+Zimmer hinauf, um die Erlebnisse der letzten Stunde
+noch einmal an seiner Erinnerung vorüberziehen zu
+lassen.</p>
+
+
+
+
+<h3>V.<br />
+
+<b>Die Verfolgung.</b></h3>
+
+
+<p>Hamilton warf sich an dem Morgen, nachdem er
+sechs verschiedene telegraphische Depeschen aufgegeben,
+in einer ganz verzweifelten Stimmung in sein Coupé,
+denn von dem zurückgekehrten Postillon hatte er erfahren,
+daß dieser den Passagier um 4 Uhr heute Morgen
+in <em class="gesperrt">Soden</em> vor der Post abgesetzt, und er konnte jetzt
+den Zug benutzen, um diesen Platz so rasch als möglich
+zu erreichen. Aber wieder und wieder machte er
+sich selber dabei die bittersten Vorwürfe, daß er die
+<a class="pagenum" name="page_197" title="197"> </a>
+Flucht des schon ganz sicher geglaubten Verbrechers
+nur seinem eigenen Leichtsinn, seiner eigenen bodenlosen
+Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
+Mr. Burton selber begegnet sei, <em class="gesperrt">mußte</em> er wissen,
+daß er sich verrathen sah und deshalb keinen Augenblick
+versäumen dürfe, um sich der ihm drohenden
+Gefahr zu entziehen. Und <em class="gesperrt">das</em> hatte er übersehen &ndash;
+er, der sich selber für so schlau und in seinem Fach
+geschickt gehalten &ndash; auf so plumpe Weise, nur durch
+die Geistesgegenwart des Diebes, der durch keine
+Bewegung verrathen, daß er seinen Verfolger erkannt
+habe, hatte er sich täuschen und überlisten lassen.</p>
+
+<p>Und wie war es jetzt möglich, in diesem Gewühl
+von Fremden einen einzelnen Menschen wieder ausfindig
+zu machen, der weiter nichts zu thun brauchte,
+als sich einen anderen Rock zu kaufen, die blaue Brille
+abzulegen, den schwarzen Schnurrbart zu rasiren,
+um aufs neue völlig unkenntlich zu sein; und daß er
+derartige Vorsicht <em class="gesperrt">nicht</em> versäumen würde, darüber
+durfte er kaum in Zweifel sein.</p>
+
+<p>Das Einzige, was ihn noch einigermaßen beruhigte,
+war, daß sie wenigstens die Dame unter sicherer
+Aufsicht hatten; denn es schien nicht wahrscheinlich,
+daß sich der Flüchtling so leicht und für immer
+von dem schönen, verführerischen Wesen getrennt
+<a class="pagenum" name="page_198" title="198"> </a>
+haben sollte, nur um sich selber in Sicherheit zu bringen.
+In irgend einer Verbindung mit ihr blieb er
+gewiß, oder suchte eine solche auf eine oder die andere
+Art wieder anzuknüpfen, und wenn dann Mr. Burton
+nur einigermaßen seine Schuldigkeit that, so lief er
+ihnen schon dadurch wieder ins Netz.</p>
+
+<p>Allerdings hätte Kornik die Dame schon recht
+gut in dieser Nacht entführen können &ndash; es wäre
+das eben so leicht gewesen als allein zu entfliehen, aber
+er mußte auch wissen, daß er den Verfolger dann
+dicht auf den Hacken gehabt hätte und so leicht er
+<em class="gesperrt">jetzt</em> hoffen konnte, ihn über die Richtung zu täuschen,
+die er genommen, so ganz unmöglich wäre das in der
+Begleitung seiner Frau gewesen, die seine Bewegung
+nicht allein hemmte, sondern auch eine viel breitere
+und leichter erkennbare Spur hinterließ. Schon mit
+all dem Gepäck wäre er nicht von der Stelle gekommen.</p>
+
+<p>Das alles aber machte es, je mehr er darüber
+nachdachte, nur soviel wahrscheinlicher, daß er Deutschland
+nicht schon verlassen habe. Nur aus dem Weg
+mußte er sich für kurze Zeit halten, und wo konnte
+er das besser thun, gerade in der Saison, als in
+irgend einem der zahllosen Seitenthäler des Rheins
+oder der benachbarten Gebirge, wo eine Unmasse von
+<a class="pagenum" name="page_199" title="199"> </a>
+Fremden herüber und hinüber strömte, und ein einzelner
+Mann völlig unbeachtet in der Menge verschwand.</p>
+
+<p>Aber trotzalledem gab Hamilton die Hoffnung
+nicht auf. Das gehetzte Wild hatte allerdings einen
+Vorsprung gewonnen, aber die Fährte war doch noch
+warm &ndash; es lag keine Nacht darauf und er selber war
+gerade der Mann dazu, ihr mit allem nur erdenkbaren
+Eifer zu folgen. Es stand ja auch nicht allein ein
+reicher Lohn auf dem Erfolg, nein, seine Ehre als
+Detective auf dem Spiel, den schon gehaltenen Verbrecher
+nicht wieder entschlüpfen zu lassen, und er
+gab sich selber das Wort, nicht Mühe nicht Kosten zu
+scheuen, um ihn wieder zurück zu bringen.</p>
+
+<p>In Soden angekommen erkundigte er sich aber
+vergebens auf dem Bahnhof nach einem Herrn, der
+nur irgend zu seiner Beschreibung paßte. Es war
+freilich auch nicht wahrscheinlich, daß er sich dort
+gezeigt habe, denn nach Frankfurt würde er nicht so
+rasch zurückkehren, aber Hamilton wollte sich von jetzt
+an keine Vorwürfe mehr machen, auch nur das Geringste
+versäumt zu haben. Einquartirt hatte sich der
+Herr aber dort <em class="gesperrt">nicht</em>, so viel lag außer Zweifel; mit
+dem Mustern der Gasthäuser brauchte er deshalb
+keine Zeit zu verlieren und das Wichtigste blieb, die
+<a class="pagenum" name="page_200" title="200"> </a>
+Straßen zu untersuchen, die von hier aus in die Berge
+und besonders nach dem Rhein zu führten.</p>
+
+<p>Das aber zeigte sich bald als ein sehr schwierig
+Stück Arbeit, denn es hielten sich viele Fremde in
+Soden auf, und bei dem wundervollen Wetter besuchte
+ein großer Theil derselben in früher Morgenstunde
+die benachbarten Berge. Wer wollte da den Einzelnen
+controlliren, der sich zwischen ihnen befunden
+hatte? Außerdem gab es eine Legion von Führern
+in dem Badeort, die sich theilweis unterwegs, oder
+da und dort einquartirt befanden; es wäre rein unmöglich
+gewesen, sie alle aufzusuchen und einzeln auszufragen.</p>
+
+<p>Hamilton ließ aber deshalb den Muth nicht sinken.
+Unermüdlich streifte er Straße auf, Straße ab
+und frug bald da, bald dort in den Häusern. Nur in
+einem, in dem letzten Häuschen, das auf dem Weg
+nach Königstein lag, hörte er, daß ein einzelner Herr
+dort sehr früh vorbeigegangen sei, ob er aber einen
+Schnurrbart gehabt oder eine blaue Brille und Gepäck
+getragen, wer sollte das jetzt noch wissen? Ein
+Führer hatte ihn nicht begleitet.</p>
+
+<p>Das war keine Spur und Hamilton wollte sich
+schon kopfschüttelnd abwenden, um in Soden erst
+etwas zu Mittag zu essen und dann seine Versuche zu
+<a class="pagenum" name="page_201" title="201"> </a>
+erneuern, als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
+hatte, sagte:</p>
+
+<p>»Ja, en Schnorres hat er schon gehat, un en
+Täschche aa ungerm Arm getrage.«</p>
+
+<p>»Einen Schnorres? was ist das?« frug Hamilton.</p>
+
+<p>»Nu Hoor unner der Nas,« sagte die Frau.</p>
+
+<p>»Ja un ganz schwarz war er« &ndash; sagte die Kleine.</p>
+
+<p>»So mein Kind,« sagte Hamilton, der sie aufmerksam
+betrachtete, »also ein Täschchen hat er unter
+dem Arm getragen? groß?«</p>
+
+<p>»Na &ndash; kleen &ndash; vun <em class="gesperrt">Ledder</em> &ndash; en hibsch
+Täschche.«</p>
+
+<p>»Und der ist dort hinaus zu gegangen?«</p>
+
+<p>Die Frau bestätigte das &ndash; eine Brille schien er
+aber nicht aufgehabt zu haben; das Kind wollte wenigstens
+nichts derartiges bemerkt haben und eine
+blaue Brille wäre ihm gewiß aufgefallen.</p>
+
+<p>Das war allerdings eine Spur, wenn auch nur
+eine außerordentlich schwache, Hamilton beschloß aber
+doch, ihr zu folgen und ohne weiter einen Moment
+Zeit zu verlieren, drückte er dem Kinde ein Geldstück
+in die Hand und eilte dann so rasch er konnte nach
+Soden wieder auf die Post, um dort Extrapost nach
+Königstein zu nehmen. Nur so viel Zeit gönnte er sich,
+um etwas zu essen und zu trinken, so lange die Pferde
+<a class="pagenum" name="page_202" title="202"> </a>
+angespannt wurden &ndash; dann ging es vorwärts, was
+die Thiere laufen konnten.</p>
+
+<p>In Königstein selber &ndash; denn unterwegs, so oft er
+sich auch nach dem Gesuchten erkundigte, erhielt er
+doch keine Auskunft &ndash; war die Nachforschung nicht
+so schwer. Es gab dort nur zwei halbwegs anständige
+Wirthshäuser und in dem einen erfuhr er denn auch,
+daß ein einzelner Herr mit einem sehr schwarzen
+Schnurrbart und etwas brauner Gesichtsfarbe da gefrühstückt
+habe, dann aber weiter <em class="gesperrt">gegangen</em> sei, ohne
+daß sich natürlich irgend Jemand um ihn bekümmert
+hätte. Eine lederne kleine Reisetasche mit Stahlbügel
+führte er bei sich, eine Geldtasche hatte er umhängen,
+und auch noch einen Riemen umgeschnallt gehabt
+&ndash; das wollte der Wirth deutlich gesehen haben &ndash;
+weiter wußte er nichts.</p>
+
+<p>»In was für Geld hat er seine Zeche bezahlt?«</p>
+
+<p>»In Gulden und Kreuzern &ndash; der Landesmünze.«</p>
+
+<p>Hamilton war nicht halb sicher, daß er wirklich
+auf der Spur des Gesuchten sei, aber was blieb ihm
+jetzt anderes übrig, als ihr, da er sie einmal aufgenommen,
+auch weiter zu folgen, er würde sich sonst
+immer wieder Vorwürfe gemacht haben, eine wahrscheinliche
+Bahn aufgegeben zu haben, um dafür wild
+und verloren in der Welt herumzusuchen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_203" title="203"> </a>
+Von hier aus schien der Flüchtling aber wirklich
+den Waldweg eingeschlagen zu haben, denn auf keiner
+Straße war er mehr gesehen worden, auch konnte er
+sich keinen Führer genommen haben, denn das hätte
+sich jedenfalls ausgesprochen. Wohin jetzt? Es war
+bald Abend, als Hamilton erschöpft in das Gasthaus
+zurückkehrte, wo er mit einer Flasche Wein und der
+Eisenbahnkarte vor sich, seinen weiteren Schlachtplan
+überlegte. Er fühlte dabei recht gut, daß er von jetzt
+an auf gut Glück weiter suchen müsse. Nur eine Andeutung
+seines zukünftigen Weges fand er in der
+Richtung, in welcher Königstein von Soden lag &ndash;
+direkt nach dem Lahnthal zu, und der beschloß er auch
+jetzt zu folgen. Allerdings mochte sich der Flüchtige
+rechts oder links abgewandt haben, um entweder
+Gießen oder den Rhein zu erreichen. Das letztere
+blieb aber immer das Wahrscheinlichste.</p>
+
+<p>Zu Fuß gedachte er aber die Tour nicht zu verfolgen,
+und er beschloß deshalb, hier zu übernachten,
+und am nächsten Morgen mit einem Einspänner, womöglich
+noch vor Tag, aufzubrechen. Dazu war es
+aber nöthig, noch heute Abend einen Wagen zu bestellen.
+Ein Mann wurde ihm da bezeichnet, der einen
+Einspänner zu vermiethen hätte. Zu dem ging er ungesäumt
+und erkundigte sich.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_204" title="204"> </a>
+»Ja, mein lieber Herr,« sagte dieser achselzuckend,
+»wenn Sie ein paar Stunden früher gekommen
+wären, so hätten Sie mit einem andern Herrn fahren
+können, der dieselbe Tour macht. Der hat aber
+meinen einzigen Einspänner mitgenommen. Das Pferd
+hätte Sie beide prächtig fortgebracht.«</p>
+
+<p>»Ein einzelner Herr?« frug Hamilton rasch,
+»heute Mittag?«</p>
+
+<p>»Jawohl &ndash; etwa um elf Uhr.«</p>
+
+<p>»Und wie sah er aus?«</p>
+
+<p>»Ja, lieber Gott, wie sah er aus &ndash; wie ein Berliner,
+mit einem schwarzen Schnurrbart und einer
+Reisetasche.«</p>
+
+<p>»Und haben Sie nicht einen zweispännigen
+Wagen?«</p>
+
+<p>»Thut mir leid &ndash; die Pferde sind jetzt alle
+draußen. Wenn Sie aber das dran wenden wollen,
+warum nehmen Sie nicht Postpferde?«</p>
+
+<p>»Ist denn eine Poststation hier im Ort? Ich
+hatte keine Ahnung davon, denn ich bin im Gasthaus
+vorgefahren.«</p>
+
+<p>»Ja gewiß, und die <em class="gesperrt">müssen</em> Ihnen Pferde
+schaffen.«</p>
+
+<p>Hamilton hörte nichts weiter und saß, kaum eine
+<a class="pagenum" name="page_205" title="205"> </a>
+Viertelstunde später wieder in seiner Extrapost. Jetzt
+zweifelte er auch keinen Augenblick mehr, daß er auf
+der richtigen Spur sei und versprach dem Postillon
+ein tüchtiges Trinkgeld, wenn er ordentlich zufahren
+würde.</p>
+
+<p>Auf der nächsten Station fand er aber seine
+Nachtfahrt schon unterbrochen. Die Wege kreuzten sich
+hier, und er <em class="gesperrt">durfte</em> nicht weiter fahren, aus Furcht,
+die falsche Straße einzuschlagen. Er mußte dort übernachten,
+aber schon vor Tag war er wieder auf, und
+wie er nun die Gewißheit erlangte, daß der Flüchtige
+die Straße nach Norden eingeschlagen, folgte er derselben
+mit Extrapost und versprach dem Postillon ein
+fürstliches Trinkgeld, wenn er den Gesuchten einholte,
+ehe er die Eisenbahn erreichte.</p>
+
+<p>Das wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn
+Kornik sich verfolgt gewußt und dann keine Zeit
+versäumt hätte. Er schien sich aber vollkommen sicher
+zu fühlen, denn als sie nach Camburg kamen, hörten
+sie daß er dort geschlafen hätte und ziemlich spät
+Morgens wieder aufgebrochen sei.</p>
+
+<p>Jetzt galt es, ihm den Vorsprung abzugewinnen
+und näher und näher rückten sie auch hinan, bis sie
+dicht vor Limburg einem rückreitenden Postillon begegneten,
+der ihnen sagte, daß sie die Extrapost voraus
+<a class="pagenum" name="page_206" title="206"> </a>
+vielleicht noch vor der Stadt einholen könnten, wenn
+sie die Pferde nicht schonten.</p>
+
+<p>Und wahrlich sie schonten die Pferde nicht, was
+sie laufen konnten, liefen sie. Aber nach der Bahn zu
+führte der Weg steil thalab, der unglückselige Wagen
+hatte keinen Hemmschuh und mußte mit der Kette
+eingelegt werden; zu rasch <em class="gesperrt">durfte</em> er da nicht fahren,
+wenn er nicht riskiren wollte ein Rad zu brechen.
+Als sie endlich Limburg dicht vor sich sahen, war die
+verfolgte Extrapost nirgend zu erkennen, wohl aber
+pfiff gerade der von Gießen kommende Zug in den
+Bahnhof ein, und hielt dort gerade lang genug, daß
+ihn Hamilton, als er mit seinen, ordentlich mit Schaum
+bedeckten Thieren heranrasselte, konnte wieder davonkeuchen
+sehen. &ndash; Er war zu spät gekommen.</p>
+
+
+
+
+<h3>VI.<br />
+
+<b>Im Kursaal.</b></h3>
+
+
+<p>Es war ein verzweifelter Moment, aber Hamilton
+nicht der Mann, sich dadurch beirren zu lassen.
+Daß Kornik <em class="gesperrt">diesen</em> Zug benutzt hatte, daran zweifelte
+er keinen Augenblick, sowie er nur auf dem
+Bahnhof anfuhr und ihn nicht traf. Zum Ueberfluß
+fanden sie aber auch noch die Extrapost, die ihn hierher
+gebracht, und der Postillon derselben bestätigte,
+<a class="pagenum" name="page_207" title="207"> </a>
+daß der Herr, den er gefahren, mit dem letzten Zug
+»nach dem Rhein« abgegangen sei.</p>
+
+<p>Es war 5 Uhr 55 &ndash; der nächste Zug ging 6 Uhr
+30 &ndash; also noch eine halbe Stunde Zeit. Hamilton
+fuhr mit seinem Wagen gleich vor dem Polizeigebäude
+vor, die Herrn hatten es sich aber schon bequem
+gemacht, und er fand nur noch einen Aktuar,
+der Schriftstücke in einer Privatsache durchsah.</p>
+
+<p>Glücklicherweise schien dies ein ziemlich intelligenter
+Mann, der seinen Bericht aufmerksam anhörte.
+Als er ihn beendigt hatte, sagte er:</p>
+
+<p>»Mein lieber Herr &ndash; dieser Zug, der eben Limburg
+verlassen hat, geht allerdings heute Abend noch
+nach Coblenz, aber ich weiß nicht, ob der Herr, dem
+Sie nachsetzen, gerade ein Interresse daran haben
+kann, Coblenz diese Nacht zu erreichen. Er kann
+natürlich nicht ahnen, daß Sie ihm so dicht auf den
+Fersen sitzen &ndash; vorausgesetzt nämlich, daß es wirklich
+der Richtige ist, und wenn Sie <em class="gesperrt">meinem</em> Rath
+folgen wollen, so thun Sie, was ich Ihnen jetzt sage.
+Fahren Sie mit dem nächsten Zug nach Ems &ndash; nicht
+weiter &ndash; besuchen Sie dort heute Abend &ndash; mit
+jeder nöthigen Vorsicht natürlich, den Spielsaal, und
+finden Sie dann &ndash; was ich aber bezweifele &ndash; Ihren
+Mann <em class="gesperrt">nicht</em>, dann nehmen Sie heute Abend noch in
+<a class="pagenum" name="page_208" title="208"> </a>
+Ems einen Wagen, den Sie für Geld überall bekommen
+können, fahren direkt nach Coblenz, und passen
+morgen früh an den Bahnzügen auf. Ich wenigstens,
+wenn ich an Ihrer Stelle einen solchen Patron zu verfolgen
+hätte, würde genau so handeln, und wenn ich
+nicht sehr irre, gut dabei fahren.«</p>
+
+<p>»Ems ist nassauisch, nicht wahr?« frug Hamilton.</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte der Aktuar.</p>
+
+<p>»Könnten Sie dann,« fuhr Hamilton fort, indem
+er seine Legitimationspapiere aus der Tasche holte,
+»mir auf Grundlage dieser Schriftstücke einen Verhaftsbefehl
+für das betreffende Individuum ausstellen?«</p>
+
+<p>Der Aktuar sah die Papiere, bei denen sich eine
+in Hamburg beglaubigte Uebersetzung befand, aufmerksam
+durch und sagte dann lächelnd:</p>
+
+<p>»Eigentlich, und nach unserem gewöhnlichen Gerichtsverfahren
+würde die Sache mehr Umstände
+machen, und nicht so rasch beseitigt werden können,
+unter den obwaltenden Verhältnissen aber denke ich,
+daß ich die Verantwortlichkeit auf mich nehmen kann.
+Sie <em class="gesperrt">müssen</em> mit dem nächsten Zug fort, wenn Sie
+den Gesuchten nicht versäumen wollen. Setzen Sie
+sich einen Augenblick; ich denke, wir können das alles
+noch in Ordnung bringen.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_209" title="209"> </a>
+Der alte Aktuar war ein wahres Juwel. Hamilton
+hätte sich an keinen besseren Menschen wenden können.
+In kaum zehn Minuten hatte er einen Verhaftsbefehl
+für die Nassauischen Lande gegen jenen Mr. Kornik ausgestellt.
+Und nicht einmal einen Kreuzer mehr als die
+üblichen und nicht zu vermeidenden Sporteln wollte er
+dafür nehmen, und wie gern hätte ihm der junge
+Mann seine Arbeit zehn- und zwanzigfach bezahlt!</p>
+
+<p>Jetzt war alles in Ordnung &ndash; Hamilton beschloß,
+den ihm gegebenen Rath gewissenhaft zu befolgen,
+und dem alten Herrn auf das herzlichste dankend,
+eilte er so rasch er konnte nach dem Bahnhof zurück.</p>
+
+<p>Seine Zeit war ihm auch nur eben knapp genug
+zugemessen; kaum hatte er dort sein Billet gelöst, so
+wurde der Zug schon signalirt; zehn Minuten später
+braußte er heran, hielt, nahm seine wenigen Passagiere
+auf und keuchte in ruheloser Hast weiter, das freundliche
+Lahnthal hinab.</p>
+
+<p>Aber Hamilton hatte kein Auge für die liebliche
+Scenerie, die ihn umgab &ndash; so war er in seine eigenen
+Gedanken vertieft, daß er ordentlich emporschrak als
+sie in den ersten Tunnel eintauchten. Nur das Bild
+des Flüchtigen schwebte vor seiner Seele, und selbst
+daß er Schlaf und Ruhe entbehrt hatte, um diesen zu
+erreichen und einzuholen, fühlte er nicht. Der Zug
+<a class="pagenum" name="page_210" title="210"> </a>
+flog mit reißender Schnelle dahin, aber ihm kam es
+noch immer vor, als ob er in seinem Leben nicht so
+langsam gefahren wäre. Jetzt glitten sie an den grünen
+Hängen des freundlichen Thales dahin &ndash; jetzt wieder
+öffnete der Berg seinen Schlund, um sie in seine
+düstere Tiefe aufzunehmen, und aufs neue schossen sie
+hinaus in den dämmernden Abend. Aber Hamiltons
+Augen schienen für das alles keine Sehkraft zu haben,
+so theilnahmlos, so unbewußt selbst streifte sein Blick
+darüber hin, bis endlich der schrille Pfiff der Locomotive
+die Nähe der Station Ems anzeigte und eine
+Masse Spaziergänger, Herren zu Fuß und Damen
+und Kinder auf Eseln, in der unmittelbaren Nähe
+der Bahn sichtbar wurden. Es war spät geworden
+und die Leute eilten jetzt nach Haus, denn so heiß die
+Tage auch sein mochten, die Nächte blieben kühl und
+frisch genug.</p>
+
+<p>Aber diese kümmerten den Polizeimann nicht, der
+recht gut wußte, daß der, den <em class="gesperrt">er</em> suchte, sich nicht
+unter ihnen befand, selbst <em class="gesperrt">wenn</em> es noch hell genug
+gewesen wäre, einzelne Physiognomien der da draußen
+Wandernden zu erkennen, an denen sich nur die
+lichten Kleider unterscheiden ließen.</p>
+
+<p>Der Zug hielt, aber selbst jetzt noch war Hamilton
+einen Augenblick unschlüssig, ob er nicht lieber sitzen
+<a class="pagenum" name="page_211" title="211"> </a>
+bleiben und bis nach Oberlahnstein und Coblenz mitfahren
+solle; denn ließ es sich denken, daß der Flüchtige
+gerade hier ausgestiegen sei? Derartige Menschen sind
+allerdings furchtbar leichtsinnig, und der alte Aktuar
+hatte am Ende doch Recht gehabt, wenn er ihm rieth,
+die Spielbank jedenfalls einmal ein Paar Stunden zu
+besuchen. Verloren war immer kaum viel Zeit dabei,
+denn kam er jetzt auch nach Coblenz, so mußte er doch
+die Nacht dort liegen bleiben, um bei dem Abgang des
+ersten Morgen-Zuges erst am Bahnhof zu sein. Er
+folgte also dem Rath des alten Mannes, stieg aus
+und ging in das dicht am Bahnhof gelegene Hotel
+zum Guttenberg, um dort erst etwas andere Toilette
+zu machen. Er wollte sich nämlich nicht der Gefahr
+aussetzen, daß er von dem schlauen Verbrecher zuerst
+erkannt würde, denn er zweifelte keinen Augenblick
+daran, daß Kornik ihn an jenem Abend eben so gut
+bemerkt habe, wie seinen Begleiter Burton, und ihm
+deshalb jetzt eben so rasch ausweichen würde, wie
+jenem.</p>
+
+<p>In seiner Tasche trug er einen leichten hellen
+Sommerrock, den zog er an, setzte eine hellgrüne
+Brille auf und borgte sich noch außerdem vom Kellner
+einen Cylinderhut. Mit dieser ganz geringen Veränderung
+seiner Toilette, die er dadurch vervollständigte,
+<a class="pagenum" name="page_212" title="212"> </a>
+daß er ein weißes Halstuch statt seines bisher getragenen
+schwarzen nahm, fühlte er sich ziemlich sicher,
+wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick erkannt
+zu werden. Kornik hatte ihn ja überhaupt nur die
+kurze Zeit im Coupé gesehen, und ihn dabei keineswegs
+seiner Beachtung so besonders werth gehalten.
+Dann aß er etwas und hielt es nun an der Zeit, das
+jetzt besonders frequentirte Kurhaus zu besuchen.</p>
+
+<p>Es war indessen völlig Nacht geworden; unterwegs
+traf er nur noch einzelne Leute, die vom Kurhaus
+weg über die Brücke in ihre am andern Ufer liegende
+Quartiere gingen, das Kurhaus selber aber war noch
+hell und brillant erleuchtet und auch in der That der
+einzige Platz in dem ganzen Badeort, den man Abends
+besuchen konnte und wo man Gesellschaft fand. Die
+anderen zahllosen Hotels schienen nur zum Essen zu
+dienen, denn in ihren Sälen versetzten riesige Tische,
+deren Zwischenraum vollständig mit Stühlen ausgefüllt
+war, jeden nur einigermaßen möglichen Platz.
+Man konnte sich in keinen von ihnen wohnlich fühlen.</p>
+
+<p>Das Kurhaus dagegen vereinigte alles, was sich
+von Pracht und Eleganz nur denken ließ &ndash; ein reichhaltiges
+Lesezimmer mit bequemen Fauteuils, einen
+prachtvollen Saal zu Concerten oder Spiel- und Tanzplätzen
+der Kinder und Damen, und dann den unheilvollen
+<a class="pagenum" name="page_213" title="213"> </a>
+Magnet für die Spieler, die grünen Tische,
+von denen der verführerische Klang des Metalls in
+alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte,
+und seine Opfer erbarmungslos an- und nachher
+auszog.</p>
+
+<p>Es ist eine Schmach für Deutschland, daß wir
+noch diese vergoldeten Schandhöhlen in unseren Gauen
+dulden &ndash; es ist eine doppelte Schmach für die Regierungen,
+die sie begünstigen und gestatten, und alle die
+Opfer, die jährlich fallen, müssen einst auf ihren
+Seelen brennen.</p>
+
+<p>Napoleon&nbsp;III. hat die Spielhöllen aus seinem
+Reich verbannt, und die Spieler damit über die
+Grenzen getrieben. Geschah das aber nur deshalb,
+daß sie in <em class="gesperrt">Deutschland</em> ihre gesetzliche Aufnahme
+finden sollten? und müssen wir nicht vor Scham erröthen,
+wenn wir dieses französische Unwesen mit französischen
+Marken und Marqueuren im Herzen unseres
+Vaterlandes eingenistet finden? Aber es <em class="gesperrt">ist</em> so. Trotz
+der gerechten Entrüstung, die allgemein darüber
+herrscht, müssen wir jetzt geschehen lassen, daß andere
+Nationen die Achseln darüber zucken und uns bedauern
+oder &ndash; verachten, <em class="gesperrt">müssen</em> wir es geschehen lassen,
+sage ich, denn</p>
+
+<div class="poetry">
+ <a class="pagenum" name="page_214" title="214"> </a>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse">»wollten wir alle zusammen schmeißen</div>
+ <div class="verse">wir könnten sie doch nicht Lügner heißen.«</div>
+ </div>
+</div>
+
+<p>Wenn wir es denn aber trotz allem und allem
+unter unseren Augen so frech fortgeführt sehen, so
+gehört es sich, daß sich jeder <em class="gesperrt">rechtliche</em> Mann
+wenigstens dagegen verwahrt, diese Schandbuden gut
+zu heißen. Das Ausland möge erfahren, daß die
+<em class="gesperrt">deutsche Nation</em> unschuldig ist an diesem Werk, und
+keinen Silberling von dem Blutgeld verlangt, das es
+einzelnen Fürsten einbringen mag. Hammerschlag
+auf Hammerschlag folge auf das Gewissen der Vertreter
+deutscher Nation, bis sie endlich wach gerüttelt
+werden &ndash; sie sollen sich wenigstens nicht beklagen
+dürfen, daß man sie nicht geweckt hätte.</p>
+
+<p>Hamilton dachte freilich an nichts derartiges, als
+er das hell erleuchtete Portal betrat, an welchem ein
+gallonirter Portier und ein sehr einfach gekleideter
+Polizeidiener &ndash; zur Wache, daß das heilige Spiel
+nicht etwa gestört würde &ndash; auf Posten standen. Der
+Portier wollte übrigens Schwierigkeiten machen, als
+er Hamiltons hellen Rock sah &ndash; er schien ihm für die
+Spielhölle nicht anständig genug gekleidet, aber neben
+ihm schritt eine bis auf den halben Busen decoltirte
+Französin frech vorüber, welcher der Lakai eine tiefe,
+ehrfurchtsvolle Verbeugung machte. Hamilton wußte
+<a class="pagenum" name="page_215" title="215"> </a>
+indessen, welchen Zauber in einem solchen Fall ein
+Guldenstück ausüben würde, und der augenblicklich
+zahm gewordene Portier schmunzelte auch so vergnügt
+darüber hinweg, daß seinem Eintritt nichts weiter im
+Wege stand.</p>
+
+<p>Wenige Secunden später befand er sich, von dem
+jetzt dienstbaren Geist willig geleitet, im Lesecabinet,
+aus dem eine Thür unmittelbar in den großen Spielsaal
+führte.</p>
+
+<p>Dort saßen nur ihm vollkommen fremde Menschen,
+ein langbeiniger Engländer, der gewissenhaft
+die Times durcharbeitete, ein kleiner beweglicher
+Franzose, der über dem Charivari schmunzelte, und
+ein Paar andere Badegäste, die gleichgültig und aus
+Langeweile die verschiedenen continentalen Zeitungen
+durchblätterten.</p>
+
+<p>Er hielt sich dort nicht auf und öffnete die Thür,
+die in den Spielsalon führte, aber anfangs nur halb,
+um erst einen Ueberblick über die verschiedenen Gestalten
+zu gewinnen, und nicht früher gesehen zu werden,
+als er selber sah. Aber es hätte dieser Vorsicht
+nicht einmal bedurft, denn die dort Befindlichen hatten
+nur Ohr für den monotonen Ruf des Croupiers, nur
+Auge für den grünen Tisch, und die darauf genähten
+bunten Lappen. Wer kümmerte sich von allen denen
+<a class="pagenum" name="page_216" title="216"> </a>
+um den einzelnen Fremden, wenn er nicht selber als
+stark Spielender &ndash; mit Glück oder Unglück blieb sich
+gleich &ndash; ihr Interesse für einen Augenblick in Anspruch
+nahm.</p>
+
+<p>Hamilton trat an die Spieler dicht hinan, um die
+einzelnen Gesichter derselben mustern zu können &ndash;
+aber er fand kein bekanntes darunter. Es war ein
+buntes Gemisch von leidenschaftlich erregten, abstoßenden
+Physiognomien, unter denen sich nur hie und da
+die kalten speculirenden Züge alter abgefeimter, und
+ruhig ihre Zeit abwartender Spieler, auszeichneten.
+Auch viele »Damen« standen dicht von den Uebrigen
+gedrängt am Tisch, wenn solche Frauenzimmer den
+Namen von Damen überhaupt verdienen. Eine von
+diesen saß sogar neben dem Croupier &ndash; es war der
+Lockvogel der Gesellschaft, ein junges, üppiges Weib,
+tief decoltirt, mit dunklen vollen Locken und reichem
+Brillantschmuck; andere drängten, jede Weiblichkeit
+bei Seite lassend, zwischen die ihnen nur unwillig
+Raum gebenden Zuschauer hinein, um ihr Geld in
+wilder Hast auf eine Nummer zu schieben.</p>
+
+<p>Hamiltons Blick streifte gleichgültig darüber hin,
+und wie er sich langsam selber um den Tisch bewegte,
+entging kein irgendwo eingeschobener Kopf seinem
+forschendem Auge. Da hörte er auch in einem kleineren
+<a class="pagenum" name="page_217" title="217"> </a>
+Nebenzimmer das Klimpern des Geldes und die
+monotonen Worte: »<i>le jeu est fait</i>« &ndash; denen lautlose
+Stille folgte, und wollte eben auch jenes Gemach
+betreten, als er wie festgewurzelt auf der Schwelle
+blieb, denn <em class="gesperrt">dort</em> stand Kornik &ndash; bleich wohl jetzt, von
+der Erregung des Spiels, und mit gierigem Blick an
+der abgezogenen Karte hängend &ndash; aber unverkennbar
+derselbe, mit dem er an jenem Tag gefahren. Er
+hatte es auch nicht einmal für nöthig gehalten, den
+verrätherischen Schnurrbart abzurasiren, oder sein
+Haar anders zu tragen, er mußte sich heute Abend
+hier vollkommen sicher fühlen. Nur die blaue Brille
+fehlte.</p>
+
+<p>Im ersten Moment fürchtete Hamilton fast sich
+zu bewegen, daß nicht der Blick des Verbrechers ihn
+vor der Zeit traf. Aber es war das eine vollkommen
+nutzlose Angst, denn der <em class="gesperrt">Spieler</em> hatte nur Augen
+für die vor ihm abgezogenen Karten &ndash; weiter existirte
+in diesem Moment keine Welt für ihn. Vorsichtig zog
+sich der Polizeiagent deshalb wieder zurück, bis er sich
+im Nebenzimmer gedeckt wußte, schritt dann durch den
+Saal und auf den dort stationirten Polizeidiener zu.</p>
+
+<p>Mit wenigen Worten machte er diesem auch begreiflich
+was er wollte &ndash; derartige kleine Zwischenfälle
+kamen gar nicht etwa so selten in diesen Spielhöllen
+<a class="pagenum" name="page_218" title="218"> </a>
+vor &ndash; und überraschte dabei den Portier auf
+das angenehmste, indem er ihm zwei große Silberstücke
+&ndash; er sah gar nicht nach, was &ndash; in die Hand
+drückte, mit dem Auftrag, so rasch als irgend möglich
+Polizeimannschaft zur Hülfe herbeizuholen. Die befand
+sich übrigens stets in der Nähe. Ein verzweifelter
+Spieler hatte sich wohl schon dann und wann einmal,
+zum Letzten und Aeußersten getrieben, an der
+heiligen Kasse selber vergriffen und nachher sein Heil
+in rascher Flucht gesucht, und dagegen mußten die
+Herren freilich geschützt werden. Wenn auch ein
+<em class="gesperrt">Raub</em>, war das Geld doch ein <em class="gesperrt">gesetzlich</em> gewonnener,
+und die Regierung fühlte sich verpflichtet, dessen
+Schutz zu überwachen.</p>
+
+<p>Hamilton traute indessen seinem Mann da drinnen
+noch lange nicht genug, um ihn länger, als unumgänglich
+nöthig war, sich selber zu überlassen; er
+war ihm damals in Frankfurt auf zu schlaue Weise
+durch die Finger geschlüpft, während er ihn eben so
+sicher geglaubt wie gerade jetzt. Aber er selber kannte
+die Leidenschaft des Spiels noch viel zu wenig, um zu
+wissen, daß er in diesem einen viel sicheren Bundesgenossen
+hatte, als in einem schönen Weibe, und als
+er in Begleitung des Polizeidieners jenes Zimmer wieder
+betrat, stand Kornik noch eben so fest und regungslos,
+<a class="pagenum" name="page_219" title="219"> </a>
+eben so nur in dem einen Gedanken der Karten absorbirt,
+an seinem Tisch, wie er ihn vorhin verlassen.</p>
+
+<p>Der Polizeibeamte übereilte sich aber jetzt nicht
+im geringsten. Er wußte, daß ihm sein Opfer nicht
+mehr entgehen konnte, und hielt es für viel gerathener,
+den Herrn nicht früher zu beunruhigen, als er der
+herbeigerufenen Hilfe sicher war. Nur seine grüne
+Brille nahm er ab.</p>
+
+<p>»Welcher ist es denn?« flüsterte ihm der dicht
+hinter ihm gehende Polizeidiener zu. Hamilton machte
+eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand und
+trat dann, von jenem gefolgt, an Kornik hinan. Er
+stand jetzt so nahe bei ihm, daß seine Schulter die des
+Polen berührte, der aber nicht daran dachte, auch nur
+den Kopf nach ihm umzudrehen.</p>
+
+<p>Jetzt hatte derselbe gerade gewonnen; es standen
+vielleicht 40 oder 50 Louisd'or auf dem grünen Tisch &ndash;
+er ließ den Satz stehen, die Karten fielen und der Croupier
+zog mit seiner hölzernen Schaufel das Gold ein.</p>
+
+<p>Mit einem leisen, zwischen den Lippen gemurmelten
+Fluch schob sich Kornik seine Geldtasche vor, um
+wahrscheinlich neue Summen auf die trügerischen
+Blätter zu setzen, als er eine Hand auf seiner Schulter
+fühlte und Hamilton mit ruhiger, aber absichtlich
+lauter Stimme sagte:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_220" title="220"> </a>
+»Sie sind mein Gefangener, im Namen der
+Königin.«</p>
+
+<p>Der Pole wandte ihm jetzt rasch und erschreckt sein
+Antlitz zu und Leichenblässe deckte im Nu seine Züge,
+als er das nur zu wohl gemerkte Gesicht des Mannes
+aus Frankfurt neben sich sah. Aber auch nicht für
+ein Moment verlor er seine Geistesgegenwart, und dem
+Blick desselben kalt und ruhig begegnend, sagte er:</p>
+
+<p>»Das Spiel hat Ihnen wohl den Verstand verwirrt
+&ndash; stören Sie mich nicht,« und in die Geldtasche
+greifend, wollte er, ohne den Fremden weiter zu
+beachten, sich wieder über den Tisch beugen, als sich
+Hamilton aber, seiner Sache zu gewiß, an den Polizeidiener
+wandte und sagte:</p>
+
+<p>»Verhaften Sie den Herrn &ndash; ich werde Sie
+augenblicklich auf das Bureau begleiten.«</p>
+
+<p>»Keine Störung hier, meine Herren, wenn ich
+bitten darf,« rief plötzlich ein kleines hageres Männchen,
+das schon bei den ersten Worten an den Spieltisch
+getreten war. »Wenn Sie etwas mit einander
+auszumachen haben, ersuche ich Sie, in ein Nebenzimmer
+zu treten.«</p>
+
+<p>»Ich werde <em class="gesperrt">Sie</em> nicht um Erlaubniß fragen,
+wenn ich Ihre Wirthschaft hier für einen Augenblick
+unterbreche,« sagte Hamilton trotzig &ndash; »ich habe
+<a class="pagenum" name="page_221" title="221"> </a>
+ein Recht diesen Mann zu verhaften, wo ich ihn finde.«</p>
+
+<p>»Dann führen Sie ihn ab, Polizeidiener,« sagte
+der Kleine in seinem braunen Rock ruhig &ndash; »oder ich
+mache Sie für jede Unordnung hier verantwortlich.«</p>
+
+<p>»Ich habe mit den Herrn nichts zu thun,« rief
+der Pole trotzig, »was wollen Sie von mir? &ndash; lassen
+Sie mich los.«</p>
+
+<p>Eine Anzahl von Menschen sammelte sich um die
+beiden, und die Spieler zogen ihr Geld ein, weil sie
+vielleicht einen Kampf und dadurch die Sicherheit
+ihrer Bank gefährdet fürchteten, denn es gab leider
+eine Menge von Menschen, die das dort aufgethürmte
+Geld für <em class="gesperrt">gestohlen</em> hielten, und sich wenig Gewissen
+daraus gemacht hätten, es fortzuraffen.</p>
+
+<p>»Bitte, meine Herren, gehen Sie in ein Nebenzimmer,«
+drängte aber jetzt nochmals der kleine Braune,
+»Sie sind dort vollkommen ungestört &ndash; Jean, Bertrand
+hierher &ndash; sorgen Sie für Ordnung.«</p>
+
+<p>Der Pole warf den Blick umher; er sah sich
+augenscheinlich nach einem Weg zur Flucht um, aber
+Hamiltons Hand hatte seinen Arm wie eine Schraube
+gefaßt und der Polizeiagent sagte mit leiser, aber
+drohender Stimme:</p>
+
+<p>»Es hilft Ihnen nichts. Flucht ist für Sie unmöglich.
+<a class="pagenum" name="page_222" title="222"> </a>
+Sie sind mein Gefangener; ergeben Sie
+sich gutwillig, Sie haben keinen Ausweg mehr, und
+Wiederstand kann Ihre Lage nur verschlimmern.«</p>
+
+<p>Es war einen Augenblick, als ob sich der Pole
+den drohenden Worten nicht fügen wolle, und fast unwillkürlich
+zuckte er mit der Hand empor. Aber ein
+umhergeworfener Blick mußte ihn überzeugen, daß er
+mit Gewalt nichts ausrichten könne, denn eine Menge
+von Neugierigen, die sich im benachbarten Salon
+umhergetrieben, hörten kaum die in einem Spielsaal
+ganz ungewohnten, lauten Stimmen, als sie hereindrängten,
+und den einzigen Ausgang vollständig verstopften.</p>
+
+<p>Der eine Blick genügte, und verächtlich lächelnd
+aber mit voller Ruhe sagte der Mann:</p>
+
+<p>»Hier herrscht jedenfalls ein Irrthum. Ich bin
+Graf Kornikoff, hier ist mein russischer Paß, und ich
+stelle mich damit unter den Schutz unseres Gesandten.
+Nassau ist mit dem russischen Thron verwandt und
+wird dessen Unterthanen nicht ungestraft beleidigen
+lassen.«</p>
+
+<p>Mit den Worten nahm er ein Papier aus seiner
+Brusttasche und hielt es Hamilton vor.</p>
+
+<p>»Es kann sein,« sagte dieser, »daß Ihr Paß in
+Ordnung ist. Die gefährlichsten Charaktere haben
+<a class="pagenum" name="page_223" title="223"> </a>
+gewöhnlich die besten Pässe. In dem Falle werden
+Sie sich aber um so weniger weigern mir zu folgen,
+da ich bereit bin, Ihnen vollständige Genugthuung
+zu geben, wenn ich Sie ohne hinreichenden Grund
+verhaftet habe. Die Herren hier werden mir aber
+zugeben, daß man, auch selbst mit einem guten Paß
+versehen, doch stehlen kann, und auf die Klage eines
+Diebstahls verhafte ich Sie hiermit.«</p>
+
+<p>»Gut denn, führen Sie ihn fort und übernehmen
+dabei die Verantwortung für alle Folgen,« sagte der
+kleine Herr mit dem braunen Rock ungeduldig &ndash;
+»aber Sie sehen doch ein, daß Sie hier das Spiel
+und Vergnügen völlig dabei unbetheiligter Herren
+und Damen nicht länger stören dürfen. Herr Polizeicommissar,
+ich bitte Sie, daß Sie diesem Unfug
+ein Ende machen, oder ich werde mich morgen ernstlich
+bei der Behörde deshalb beklagen.«</p>
+
+<p>Der Polizeicommissar war in der That herbeigekommen,
+und Hamilton, der ihn an seiner Uniform
+erkannte, frug ihn leise:</p>
+
+<p>»Wer ist denn dieser kleine Tyrann?«</p>
+
+<p>»Einer der Spielpächter,« sagte der Mann mit
+einem verächtlichen Blick auf den Braunen, und
+setzte dann laut hinzu, »beklagen Sie sich bei wem
+Sie wollen, Monsieur, Sie werden uns aber hier
+<a class="pagenum" name="page_224" title="224"> </a>
+wohl noch erlauben, unsere Schuldigkeit zu thun,
+selbst <em class="gesperrt">wenn</em> Ihre achtbare Gesellschaft einen Augenblick
+gestört werden solle. Und Sie, mein Herr,«
+wandte er sich an den Gefangenen, »folgen Sie uns
+jetzt auf das Bureau &ndash; ich werde die Sache dort
+untersuchen.«</p>
+
+<p>»Sie werden mir bezeugen, daß ich nicht den geringsten
+Wiederstand geleistet habe,« sagte der Pole
+ruhig &ndash; »kommen Sie, meine Herren. Ich wünsche
+noch an dem Spiel hier Theil zu nehmen, und je
+eher wir diese fatale Sache beendigen, desto besser.«</p>
+
+<p>Damit wandte er sich entschlossen dem Ausgang
+zu &ndash; die Leute gaben ihm Raum und wenige Secunden
+später standen sie am Ausgang des Kurhauses.</p>
+
+<p>»Es wäre besser, wir legten ihm Handschellen an,«
+sagte Hamilton, sich zu dem Polizeicommissar überbiegend.</p>
+
+<p>»Er kann uns hier nicht entschlüpfen,« erwiederte
+dieser kopfschüttelnd &ndash; »und ich möchte keine Gewaltmaßregeln
+gebrauchen, bis ich die Sache näher untersucht
+habe.«</p>
+
+<p>Der Pole schritt ruhig und festen Schrittes zwischen
+zwei Polizisten dahin &ndash; dicht hinter ihm folgte
+Hamilton mit dem Commissar, und eine Anzahl von
+Neugierigen schloß sich dem Zuge an, um zu sehen,
+<a class="pagenum" name="page_225" title="225"> </a>
+was die Sache für ein Ende nähme. So schritten sie
+langsam durch den Kurgarten dem kleinen viereckigen
+Regierungsgebäude zu, das dicht an der Brücke liegt,
+und der Gefangene schien selber nichts sehnlicheres zu
+wünschen, als diese Scene bald zu Ende gebracht zu
+sehen.</p>
+
+<p>»Haben wir noch weit?« frug er einen der ihn
+escortirenden Leute.</p>
+
+<p>»Oh bewahre,« sagte dieser, indem er mit dem
+ausgestreckten Arm auf das vor ihnen liegende Gebäude
+zeigte, »das ist das Haus.« In demselben Moment
+stieß er aber auch einen Schrei aus, denn ein schwerer
+Schlag, jedenfalls mit einem sogenannten »<i>life preserver</i>«
+geführt, schmetterte ihn bewußtlos zu Boden,
+während der Gefangene mit flüchtigen Sätzen über
+die schmale Brücke hinüber eilte.</p>
+
+<p>Aber er hatte flüchtigere Füße hinter sich. Wie
+ein Tiger auf seine Beute, so schoß Hamilton hinter
+ihm drein, und noch ehe er das Ende der Brücke erreichte,
+streckte er schon den Arm aus, um ihn am
+Kragen zu packen. Da wandte sich der zur Verzweiflung
+getriebene Verbrecher, und einen Revolver vorreißend,
+drückte er ihn gerade auf die Brust seines
+Verfolgers ab.</p>
+
+<p>Hamilton wäre verloren gewesen, aber zu seinem
+<a class="pagenum" name="page_226" title="226"> </a>
+Glück versagte die Schußwaffe, und ehe Kornik zum
+zweiten Male abdrücken konnte, schmetterte ihn der
+Schlag des Polizeimanns zu Boden. Aber selbst
+damit begnügte sich dieser nicht, und mit einer ganz
+außerordentlichen Gewandtheit faßte er ihm beide
+Hände, legte sie zusammen und wenige Secunden
+später knackten die vortrefflichen Darbies oder Handschellen
+in ihr Schloß und er wußte jetzt, daß er seinen
+Gefangenen sicher hatte.</p>
+
+<p>»Alle Wetter,« sagte der nachkeuchende Polizeicommissar,
+»das war doch gut, daß Sie schneller laufen
+konnten.«</p>
+
+<p>»Wenn Sie <em class="gesperrt">meinem</em> Rath gefolgt wären, konnte
+uns das erspart werden,« meinte Hamilton finster,
+»denn ich verdanke mein Leben jetzt nur einem schlechten
+Zündhütchen.«</p>
+
+<p>»Er hat schießen wollen?«</p>
+
+<p>»Dort liegt der Revolver &ndash; Sie sehen, daß Sie
+es hier mit einem gefährlichen Verbrecher zu thun
+haben.«</p>
+
+<p>»Da wollen wir ihn doch lieber binden.«</p>
+
+<p>»Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter &ndash; er ist
+fest und sicher. Sein Sie nur so gut und lassen ihn
+jetzt durch Ihre Leute in festen Gewahrsam bringen.«</p>
+
+
+
+
+<h3>VII.<a class="pagenum" name="page_227" title="227"> </a><br />
+
+<b>Die gerettete Unschuld.</b></h3>
+
+
+<p>Mr. Burton befand sich an dem Morgen in einer
+fast fieberhaften Aufregung, denn wie er schon lange
+jeden Glauben an die Mitschuld des armen &ndash; oh so
+wunderbar schönen Weibes abgeschüttelt hatte, gingen
+ihm andere Pläne wild und wirr durch den Kopf.
+Immer aufs neue malte er sich den Augenblick aus,
+wo er sie in seinem Arm gehalten, wo seine Lippen
+zum ersten Mal in Angst und Liebe die ihrigen
+berührt, und nur der Gedanke quälte ihn noch, in
+welchem Verhältniß sie zu dem unwürdigen Menschen
+gestanden haben, wie sie mit ihm bekannt werden
+konnte. Hatte er sie unter seinem falschen Namen
+getäuscht? &ndash; ihrer Familie heimlich vielleicht entführt?
+&ndash; alle ihre Klagen schienen darauf hinzudeuten, wie
+verworfen mußte er dann &ndash; wie elend sie, die arme
+Unschuldige, Verrathene sein? und war es da nicht
+seine Pflicht, &ndash; wo er wenn auch selber unschuldiger
+Weise, all diesen Jammer über sie gebracht &ndash; ihr
+auch wieder zu helfen so gut er konnte? Er schien
+fest entschlossen, und von dem Augenblick an fühlte er
+sich auch wieder ruhiger und zufriedener.</p>
+
+<p>James Burton, kaum zum Mannesalter herangereift,
+<a class="pagenum" name="page_228" title="228"> </a>
+war ein seelensguter Mensch mit weichem, für
+alles Gute und Schöne leicht empfänglichem Herzen.
+Er hatte dabei &ndash; in den glücklichsten und unabhängigsten
+Verhältnissen erzogen &ndash; noch nie Gelegenheit
+bekommen, den Täuschungen und Wiederwärtigkeiten
+des Lebens zu begegnen. Weil er selber gut und ohne
+Falsch war, hielt er alle Menschen für eben so
+rechtlich und brav, und selbst an Korniks Schuld
+hatte er so lange nicht glauben mögen, bis auch der
+letzte Zweifel zur Unmöglichkeit wurde. Wie leicht
+vertraute er da diesen lieben treuen Augen &ndash; wie
+glücklich fühlte er sich selbst, daß es <em class="gesperrt">ihm</em> verstattet
+gewesen, jenem holden Wesen den Schmerz und die
+furchtbare Seelenqual erspart zu haben, von dem
+zwar geschickten und tüchtigen, aber auch vollkommen
+rücksichtslosen Polizeimann examinirt zu werden. Er
+schämte sich jetzt fast vor sich selber, daß er ihr auch
+nur verstattet hatte, ihren Koffer auszupacken &ndash; wie
+niedrig mußte sie von ihm denken! &ndash; aber er war ja
+auch gar nicht im Stande gewesen, sie daran zu verhindern,
+so leidenschaftlich erregt zeigte sie sich nur
+bei der Möglichkeit eines Verdachts. Aber natürlich
+&ndash; wenn er <em class="gesperrt">sich</em> in <em class="gesperrt">ihre</em> Stelle dachte, würde er
+genau so gehandelt haben.</p>
+
+<p>Die Stunde, die sie erbeten hatte, um sich nur
+<a class="pagenum" name="page_229" title="229"> </a>
+von den ersten furchtbaren Eindrücken der über sie hereingebrochenen
+Catastrophe zu sammeln, verging ihm
+in diesen Gedanken rascher, als er es selbst geglaubt.
+Gewissenhaft aber bis zur letzten Minute ausharrend,
+stieg er dann wieder zu ihr hinab, klopfte leise an,
+und sah sich dem zauberischen Wesen noch einmal
+gegenüber.</p>
+
+<p>Zeit zum Aufräumen schien sie allerdings noch
+nicht gefunden zu haben, denn die umhergestreuten
+Sachen der beiden Koffer lagen noch immer so wild
+und wirr durch einander, wie er sie verlassen hatte.
+Aber wer mochte ihr das verdenken? Auch in ihrem
+leichten, reizenden Morgenanzug war sie noch; &ndash;
+wenn unsere Seele zerrissen ist, wie können wir da an
+den Körper denken?</p>
+
+<p>Trotzdem schien sie sich gesammelt zu haben. Sie
+sah etwas bleich aus, aber sie war ruhiger geworden,
+und dem Eintretenden lächelnd die Hand entgegenstreckend,
+sagte sie herzlich:</p>
+
+<p>»Oh wie danke ich Ihnen, daß Sie, um den ich
+es wahrlich nicht verdient habe, mir diese zarte
+Rücksicht gezeigt. In dem Gedanken fand ich auch
+allein meinen Trost, daß Gott mich doch noch nicht
+verlassen haben könnte, da er <em class="gesperrt">Sie</em> mir zugeführt.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_230" title="230"> </a>
+»Verehrte &ndash; <em class="gesperrt">liebe</em> Frau,« sagte Burton bewegt,
+»sein Sie unbesorgt. Wenn auch in einem fremden
+Lande, steht Ihnen doch jetzt ein Landsmann zur Seite,
+und ich habe mir nur erlaubt, Sie jetzt noch einmal
+zu stören, um mit Ihnen gemeinschaftlich zu berathen,
+welche Schritte wir am besten thun können, um &ndash;
+das Geschehene gerade nicht ungeschehen zu machen,
+das ist nicht möglich, aber Sie doch jedenfalls aus
+einer Lage zu befreien, die Ihrer unwürdig ist. Um
+mir das zu erleichtern, muß ich Sie aber bitten, mir
+Ihr <em class="gesperrt">volles</em> Vertrauen zu schenken. Nur dann bin ich
+im Stande die Maßregeln zu ergreifen, die für Sie
+die zweckmäßigsten sein würden. Daß es dabei nicht
+an meinem guten Willen fehlt, davon können Sie sich
+versichert halten.«</p>
+
+<p>»Mein <em class="gesperrt">volles</em> Vertrauen soll Ihnen werden,«
+sagte die junge Frau, leicht erröthend &ndash; »aber bitte,
+setzen Sie sich zu mir, Sie sollen alles erfahren &ndash;
+und nun,« fuhr sie fort, während sich Burton neben
+ihr auf dem Canapé niederließ, indem sie ihre Hand
+auf seinen Arm legte &ndash; »erzählen Sie mir vorher
+ausführlich, wie Sie dem Verbrecher auf die Spur
+gekommen sind, und welche Hoffnung Sie jetzt haben,
+ihn seiner Strafe zu überliefern. Es ist das Einzige
+jetzt, worauf ich hoffen kann, daß sein Geständniß
+<a class="pagenum" name="page_231" title="231"> </a>
+Ihnen beweisen muß, wie doppelt nichtswürdig er an
+mir selber dabei gehandelt.«</p>
+
+<p>»Aber, verehrte Frau,« sagte Burton etwas verlegen
+&ndash; »schon vorher theilte ich Ihnen alles mit,
+und der Eindruck, den die traurige Erzählung auf
+Sie machte&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Vorher,« sagte die junge Frau &ndash; »und in der
+entsetzlichen Aufregung, in der ich mich befand, tönten
+die Worte nur wie Donnerschläge an mein Ohr &ndash;
+ich begriff wohl ihre Furchtbarkeit, aber nicht ihren
+Sinn und vieles ist mir dabei unklar geblieben &ndash;
+besonders, welche Spur Sie <em class="gesperrt">jetzt</em> von dem Verbrecher
+haben, daß Sie hoffen können ihn einzuholen, und
+wer der Herr ist, der ihn verfolgt.«</p>
+
+<p>Der Bitte, während <em class="gesperrt">diese</em> Augen so treu und
+vertrauend in die seinen schauten, konnte Burton
+nicht wiederstehen. Es war ihm dabei sogar Bedürfniß
+geworden, sich &ndash; ihr gegenüber &ndash; seines bisherigen
+eigenen Verhaltens wegen zu rechtfertigen,
+wobei er hervorhob, daß er mit der Verfolgung der
+Dame eigentlich gar nichts zu thun und Lady Clive
+im Leben nicht gesprochen habe, noch persönlich kenne.
+Auch von dem Schmuck selber wußte er nichts, als
+was ihm Hamilton darüber beiläufig mitgetheilt.</p>
+
+<p>»Und jetzt?« frug die junge Dame weiter, die der
+<a class="pagenum" name="page_232" title="232"> </a>
+Erzählung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt
+war &ndash; »wo jener Betrüger &ndash; dem Gott verzeihen
+möge, was er an mir gethan, und wie er mich
+<em class="gesperrt">doppelt</em> verrathen hat &ndash; wo jener Betrüger geflohen ist,
+haben Sie noch Hoffnung, ihn wieder zu ereilen?«</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte Burton &ndash; »Mr. Hamilton,
+mein Begleiter, ist einer der schlauesten und gewandtesten
+Detectivs Englands. Er spricht drei oder vier
+verschiedene fremde Sprachen, und hat schon daheim
+die scheinbar unmöglichsten Dinge ausgeführt. Dieser
+Kornik hatte außerdem viel zu kurzen Vorsprung, um
+mich nicht fest glauben zu machen, daß ihn Hamilton
+ereilt, da er noch dazu die unbegreifliche Unvorsichtigkeit
+beging, von hier mit Extrapost zu fliehen. Wir
+finden das aber so oft im Leben, daß schlechte Menschen
+irgend ein Verbrechen mit der größten und raffinirtesten
+Schlauheit ausführen, und jede Kleinigkeit,
+jeden möglichen Zufall dabei berücksichtigen, und
+nachher, wenn ihnen alles nach Wunsch geglückt, sich
+selber auf die plumpste Weise dabei verrathen.«</p>
+
+<p>»Aber ehe er ihn eingeholt hat, kehrt er nicht
+hierher zurück?«</p>
+
+<p>»Ich glaube kaum,« sagte Mr. Burton, »doch
+fehlt mir darüber jede Gewißheit. Er wird mir unter
+allen Umständen in der nächsten Zeit schon telegraphiren,
+<a class="pagenum" name="page_233" title="233"> </a>
+denn ich habe ihm versprechen müssen, hier zu
+bleiben, bis er zurückkehrt.«</p>
+
+<p>»Und glauben Sie, daß er den Verbrecher, wenn
+er ihn einholen sollte &ndash; mit hierher bringt?«</p>
+
+<p>»Ich zweifle kaum &ndash; aber auch darüber bin ich
+nicht im Stande, Ihnen eine bestimmte Auskunft zu
+geben. Nur davon dürfen wir überzeugt sein, daß Mr.
+Hamilton alles in der praktischsten Weise ausführen
+wird, denn er versteht sein Fach aus dem Grunde.
+<em class="gesperrt">Hat</em> er die Spur gefunden, so ist Mr. Kornik auch
+verloren.«</p>
+
+<p>Es schien fast, als ob die junge Dame um einen
+Schatten bleicher wurde &ndash; und wer konnte es ihr
+verdenken, daß ihr die Erinnerung an den Mann, der
+sie so furchtbar hintergangen, entsetzlich war? Endlich
+sagte sie leise:</p>
+
+<p>»Wenn sich das alles bestätigt, was Sie mir erzählt,
+verehrter Herr &ndash; und ich kann kaum mehr
+daran zweifeln, dann <em class="gesperrt">verdient</em> er die Strafe, die ihn
+erreichen wird, im vollem Maße. Aber wie er auch
+<em class="gesperrt">Ihr</em> Haus betrogen und hintergangen haben mag, es
+ist nichts im Vergleich mit dem, was er an mir und
+meinem zukünftigen Leben verbrochen.«</p>
+
+<p>»Aber wie konnte er Sie so lange täuschen?« frug
+Burton und erröthete dabei fast selber über die Frage.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_234" title="234"> </a>
+»Du lieber Gott,« seufzte die Unglückliche &ndash;
+»was weiß ein armes unerfahrenes Mädchen von der
+Welt? Er kam in meiner Eltern Haus, in das ihn
+zuerst mein Bruder eingeführt &ndash; es mögen jetzt zwei
+Monate sein &ndash; und sein offenes, heiteres Wesen
+gewann ihm mein Herz &ndash; sein angemaßter Rang
+schmeichelte meiner Eitelkeit. Er erzählte mir dabei
+von seinen Gütern in Polen, und wie glücklich &ndash; wie
+selig ihn mein Besitz machen würde, und ich &ndash; war
+schwach genug, es ihm zu glauben. Aber mein Vater
+verweigerte seine Einwilligung. Er kannte die Menschen
+besser, als seine thörichte Jenny. Er verlangte
+von Kornikoff den Ausweis eines hinreichenden Vermögens
+sowohl, wie die Erlaubniß seiner eigenen
+Eltern zu unserer Verbindung, und dieser, ungeduldig
+und stürmisch, drang in mich, mit ihm zu fliehen.«</p>
+
+<p>Jenny barg beschämt ihr Antlitz in ihren Händen
+und James Burton hörte der Erzählung mit einiger
+Verlegenheit schweigend zu. Er hätte das liebliche
+Wesen so gern getröstet, aber es fielen ihm in diesem
+Augenblick um die Welt keine passenden Worte dafür
+ein und es entstand dadurch eine kurze peinliche Pause.
+Endlich fuhr die junge Frau, aber jetzt tief erröthend,
+fort:</p>
+
+<p>»Schon unterwegs fing ich an, an dem Charakter
+<a class="pagenum" name="page_235" title="235"> </a>
+meines Bräutigams zu zweifeln. Wir entkamen glücklich
+auf einem Dampfer, der nach Hamburg bestimmt
+war, und er hatte mir versprochen, daß jenes Fahrzeug
+in Helgoland anlegen würde, wo wir uns trauen
+lassen könnten &ndash; aber es legte nicht an, und in Hamburg,
+wo er ausging, um einen Geistlichen zu suchen,
+wie er sagte, kehrte er ebenfalls unverrichteter Sache
+zurück, versicherte mich aber, er habe bestimmt gehört,
+daß wir hier in Frankfurt &ndash; einer freien deutschen
+Stadt &ndash; unser Ziel leicht erreichen könnten. Ich
+folgte ihm auch hierher &ndash; immer noch als Braut &ndash;
+nicht als Gattin« &ndash; setzte sie mit leiser, kaum hörbarer
+Stimme hinzu &ndash; »und ich danke jetzt Gott, daß
+ich standhaft blieb und meinem guten Engel mehr
+folgte als jenem Teufel.«</p>
+
+<p>Es wäre unmöglich, die Gefühle zu schildern, die
+James Burtons Seele bei dieser einfachen und doch
+so ergreifenden Erzählung bestürmten; sein Herz schlug
+hörbar in der Brust, und fast seiner selbst unbewußt,
+ergriff er mit zitterndem Arm die Hand seiner Nachbarin,
+die sie ihm willenlos überließ.</p>
+
+<p>»Gott sei Dank,« flüsterte er endlich mit bewegter
+Stimme &ndash; »so brauche ich mir auch länger keine
+Vorwürfe zu machen, denn unser Erscheinen hier war
+ja dann nur zu Ihrem Heil.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_236" title="236"> </a>
+»<em class="gesperrt">Ihnen</em> verdanke ich meine Rettung,« sagte da
+Jenny herzlich, und wie sie sich halb dabei zu ihm überbog,
+umfaßte er mit seinem Arm die bebende Gestalt des
+Mädchens. Aber nicht einmal auf ihre Stirn wagte
+er einen Kuß zu drücken, aus Furcht sie zu beleidigen,
+und sich gewaltsam aufrichtend, rief er leidenschaftlich
+bewegt aus:</p>
+
+<p>»Dann ist auch noch alles, alles gut. Trocknen
+Sie Ihre Thränen, mein liebes, liebes Fräulein &ndash;
+die Versöhnung mit Ihren Eltern übernehme ich &ndash;
+übernimmt mein Vater, Sie kehren zu ihnen zurück
+und die Erinnerung an das Vergangene soll eine
+fröhliche Zukunft Sie vergessen machen.«</p>
+
+<p>»Und auch Sie wollen nach England zurück?«
+frug rasch die junge Fremde.</p>
+
+<p>»Gewiß,« rief Burton &ndash; »sobald ich nur Nachricht
+von Hamilton habe. Aber noch heute schreibe
+ich nach Haus &ndash; wie heißen Ihre Eltern, mein bestes
+Fräulein &ndash; was ist Ihr Vater? Halten Sie diese
+Fragen nicht für bloße Neugierde; es giebt keinen
+Menschen auf der Welt, der jetzt ein innigeres Interesse
+an Ihnen nähme, als ich selber.«</p>
+
+<p>»Mein Vater,« sagte Jenny leise, »ist Geistlicher,
+der Reverend Benthouse in Islington. Vielleicht ist
+Ihnen der Name bekannt. Er hat viel geschrieben.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_237" title="237"> </a>
+»Das nicht,« sagte Hamilton erröthend, »denn ich
+muß leider zu meiner Schande bekennen, daß ich mich
+bis jetzt, und in jugendlichem Leichtsinn weniger mit
+einer religiösen Lectüre befaßt habe, als ich vielleicht
+gesollt &ndash; aber erlauben Sie, daß ich mir den Namen
+notire &ndash; und jetzt,« sagte er, als er sein Taschenbuch
+wieder einsteckte, »verlasse ich Sie. Wir dürfen den
+müßigen Leuten hier im Hotel Nichts zu reden geben
+&ndash; schon Ihrer selbst wegen, aber Sie sollen von nun
+an auch nicht mehr allein sein. Ich werde augenblicklich
+ein Kammermädchen für Sie engagiren, die
+Ihnen zugleich Gesellschaft leisten kann. Junge Mädchen,
+der englischen Sprache mächtig, sind gewiß
+genug in Frankfurt aufzutreiben; der Wirth kann
+mir da jedenfalls Auskunft geben. Keine Widerrede,
+Miß,« setzte er lächelnd hinzu, als sie sich &ndash; wie es
+schien mit dem Plan nicht ganz einverstanden zeigte
+&ndash; »Sie stehen von nun an, bis ich Sie Ihren Eltern
+wieder zurückführen kann, unter <em class="gesperrt">meinem</em> Schutz,
+und da müssen Sie sich schon eine kleine Tyrannei
+gefallen lassen.«</p>
+
+<p>»Aber wie kann ich Ihnen das, was Sie jetzt an
+mir thun, nur je im Leben wieder danken,« sagte das
+junge Mädchen gerührt &ndash; »womit habe ich das alles
+verdient?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_238" title="238"> </a>
+»Durch Ihr Unglück,« erwiederte Burton herzlich,
+indem er ihre Hand an seine Lippen hob, und
+wenige Minuten später fand er sich schon unten mit
+dem Wirth in eifrigem Gespräch, um eine passende
+und anständige Person herbeizuschaffen.</p>
+
+<p>Das ging auch in der That weit rascher, als er
+selber vermuthet hatte. Ganz unmittelbar in der
+Nähe des Hotels wohnte ein junges Mädchen, die
+schon einige Jahre in England zugebracht und &ndash; wenn
+sie sich auch nicht auf längere Zeit binden konnte,
+doch gern erbötig war, die Stelle einer Gesellschafterin
+für kurze Zeit zu übernehmen. Mr. Burton führte
+sie selber der jungen Dame zu, und Elisa zeigte sich
+als ein so liebenswürdiges, einfaches Wesen, daß ein
+Zurückweisen derselben zur Unmöglichkeit wurde.</p>
+
+
+
+
+<h3>VIII.<br />
+
+<b>Hamiltons Rückkehr.</b></h3>
+
+
+<p>Den übrigen Theil des Tages verbrachte James
+Burton in einer unbeschreiblichen Unruhe, denn immer
+und immer war es ihm, als wenn er bei seiner jungen
+Schutzbefohlenen nachfragen müsse, ob ihr nichts
+fehle, ob sie nicht noch irgend einen Wunsch habe, den
+er ihr befriedigen könne, und ordentlich mit Gewalt
+<a class="pagenum" name="page_239" title="239"> </a>
+mußte er sich davon zurückhalten, sie nicht weiter zu
+belästigen.</p>
+
+<p>Am allerliebsten hätte er auch in der Stadt eine
+Unmasse von Sachen für sie eingekauft, um sie zu
+zerstreuen oder ihr eine Freude zu machen. Aber das
+ging doch unmöglich an, denn das hätte jedenfalls ihr
+Zartgefühl verletzt &ndash; er durfte es nicht wagen. Eine
+ordentliche Beruhigung gewährte es ihm aber, zu
+wissen, daß das arme verlassene Wesen jetzt jemand habe,
+gegen den es sich aussprechen konnte, und er begnügte
+sich an dem Tage nur einfach damit, die Hälfte der
+Zeit vollkommen nutzlose Fensterpromenade zu machen,
+denn es ließ sich dort niemand blicken, und die andere
+Hälfte unten im Haus und auf der Treppe auf und
+ab zu laufen, um wenigstens ihre Thür anzusehen.</p>
+
+<p>Wenn er es sich auch noch nicht gestehen wollte,
+so war er doch bis über die Ohren in seine reizende
+Landsmännin verliebt.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen war er allerdings zu früher
+Stunde wieder auf, aber erst um zwölf Uhr
+wagte er es, sich zu erkundigen, wie Miß Benthouse
+geschlafen hätte.</p>
+
+<p>Sie empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln,
+aber &ndash; sie sah nicht so wohl aus wie gestern. Ihre
+Wangen waren bleicher, ihre Augen zeigten, wenn
+<a class="pagenum" name="page_240" title="240"> </a>
+auch nur leicht schattirte Ringe &ndash; sie schien auch zerstreut
+und unruhig und Burton, voller Zartgefühl,
+glaubte darin nur eine Andeutung zu finden, daß sie
+allein zu sein wünsche und empfahl sich bald wieder.
+Vorher aber frug sie ihn noch, ob er keine Nachricht
+von Mr. Hamilton erhalten habe, was er verneinen
+mußte.</p>
+
+<p>Jetzt aber, mit der Furcht, daß sie erkranken könne
+&ndash; und nach all den letzten furchtbaren Aufregungen
+schien das wahrlich kein Wunder &ndash; wich er fast gar
+nicht mehr von ihrer Schwelle, und der Portier selber,
+der eigentlich alles wissen soll, wußte nicht aus
+dem wunderlichen Fremden klug zu werden.</p>
+
+<p>Dieser ruhte auch nicht eher, bis er gegen Abend
+die neue Gesellschafterin einmal auf dem Gange traf,
+um sie nach dem Befinden der jungen Dame zu
+fragen.</p>
+
+<p>»Sie scheint ungemein aufgeregt,« lautete die
+Antwort derselben &ndash; »sie hat keinen Augenblick Ruhe,
+und wohl zehn Mal schon gesucht mich fortzuschicken,
+um allein zu sein. Sie ist jedenfalls recht leidend und
+ich werde eine unruhige Nacht mit ihr haben.«</p>
+
+<p>»Mein liebes Fräulein,« sagte Burton, dadurch
+nur noch viel mehr beunruhigt &ndash; »ich bitte Sie recht
+dringend, sie nicht einen Augenblick außer Acht zu
+<a class="pagenum" name="page_241" title="241"> </a>
+lassen. Stoßen Sie sich nicht an das geringe Salär,
+was Sie gefordert haben, es wird mir eine Freude
+sein, Ihnen jede Mühe nach meinen Kräften zu vergüten.«</p>
+
+<p>»Ich thue ja gern schon von selber, was in meinen
+Kräften steht,« sagte das junge Mädchen freundlich
+&ndash; »die Dame wird gewiß mit mir zufrieden sein.
+Verlassen Sie sich auf mich &ndash; ich werde treulich
+über sie wachen.«</p>
+
+<p>So verging der Abend und nur noch einmal
+schickte Miß Benthouse zu Mr. Burton hinüber, um
+zu hören, ob er noch keine Nachricht bekommen habe.
+Er mußte es wieder verneinen und wäre gern noch
+einmal zu ihr geeilt, aber Elisa sagte ihm, daß sich die
+junge Dame aufs Bett gelegt hätte, um besser ruhen
+zu können, und er durfte sie da nicht stören.</p>
+
+<p>Es war zwölf Uhr geworden, und er wollte sich
+eben zu Bett begeben, als es an seiner Thür pochte.
+Er öffnete rasch, denn er fürchtete eine Botschaft, daß
+sich Jennys Krankheitszustand verschlimmert hätte,
+aber es war nur der Diener des Telegraphenamtes,
+der ihm &ndash; unter dem Namen, mit dem er sich in das
+Fremdenbuch eingetragen &ndash; eine Depesche brachte.
+Sie mußte von Hamilton sein.</p>
+
+<p>Er hatte sich nicht geirrt. Sie enthielt die wenigen,
+<a class="pagenum" name="page_242" title="242"> </a>
+aber freilich gewichtigen Worte, von Ems aus
+datirt:</p>
+
+<p>»Ich habe ihn &ndash; morgen früh komme ich &ndash;
+Hamilton.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank,« rief Burton jubelnd aus, »jetzt
+nehmen die Leiden dieses armen Mädchens bald ein
+Ende.«</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen ließ er sich schon in aller
+Frühe erkundigen, wie Miss Benthouse geschlafen
+hätte &ndash; sie schlief noch, und Elise kam selber heraus,
+um ihm das zu sagen. Gern hätte er sie auch jetzt die
+Nachricht wissen lassen, die er noch gestern Nacht durch
+den Telegraphen bekommen, aber er fürchtete, das
+durch eine Fremde zu thun &ndash; er wollte es ihr lieber
+selbst sagen, wenn er sie um zwölf Uhr wieder besuchte.</p>
+
+<p>Um die Zeit bis dahin zu vertreiben, frühstückte
+er unten und las die Zeitungen.</p>
+
+<p>So war endlich die lang ersehnte Stunde herangerückt,
+und unzählige Mal hatte er schon nach der
+Uhr gesehen. Er war in sein Zimmer gegangen, um
+noch vorher Toilette zu machen und wollte eben hinuntergehen,
+als es stark an seine Thür pochte, und auf
+sein lautes »<i>Walk in</i>« &ndash; diese sich öffnete und <em class="gesperrt">Hamilton</em>
+auf der Schwelle stand.</p>
+
+<p>»<i>Well Sir</i>,« lachte dieser, »<i>how are you?</i>«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_243" title="243"> </a>
+»Mr. Hamilton,« rief Burton, fast ein wenig bestürzt
+über die so plötzliche Erscheinung des Mannes.
+»Schon wieder zurück? &ndash; das ist fabelhaft schnell gegangen.«</p>
+
+<p>»So? beim Himmel! Sie machen gerade ein Gesicht,
+Sir, als ob es Ihnen zu schnell gegangen wäre,«
+lächelte Hamilton. »Aber ich habe wirklich Glück
+gehabt &ndash; die Einzelheiten erzähle ich Ihnen jedoch
+später und nur für jetzt so viel, daß ich ihn in Ems
+beim Spiel erwischte und ihn dort auch fest und sicher
+sitzen habe. Mit Ausnahme von etwa zweitausend Pfund,
+die er verreist oder verspielt, oder zum Theil
+auch wohl hier seiner Donna zurückgelassen hat,
+fand sich noch alles Geld glücklich bei ihm, was jetzt
+unter Siegel bei den Gerichten deponirt ist &ndash; Apropos
+&ndash; die Dame haben Sie doch noch hier?«</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte Burton etwas verlegen, »aber
+Mr. Hamilton, mit der Dame&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Machen wir natürlich keine Umstände,« unterbrach
+ihn Hamilton gleichgültig, »und schaffen sie einfach
+nach England zurück. Dort mögen die Gerichte
+dann das saubere Pärchen confrontiren. Mr. Burton,
+ich gebe Ihnen mein Wort, ich wäre meines Lebens
+nie wieder froh geworden, wenn ich diesen Hauptlump,
+diesen Kornik nicht erwischt hätte. Haben Sie
+<a class="pagenum" name="page_244" title="244"> </a>
+denn indessen bei der Person hier etwas gefunden, und
+hat sie nicht auch etwa Lust gezeigt, durchzubrennen?«</p>
+
+<p>»Mein lieber Mr. Hamilton,« sagte Burton jetzt
+noch verlegener als vorher &ndash; »ich habe &ndash; während
+Sie abwesend waren, eine Entdeckung anderer Art
+gemacht, die als ziemlich sicher feststellt, daß die &ndash;
+junge Dame an der ganzen Sache vollkommen unschuldig
+ist.«</p>
+
+<p>»Sie befindet sich doch noch hier im Hotel und in
+Nr. 7?« frug Hamilton rasch und fast wie erschreckt.</p>
+
+<p>»Allerdings,« bestätigte Burton, »aber nicht als
+Gefangene. Miss Jenny Benthouse ist die Tochter
+eines englischen Geistlichen &ndash; ihr Vater wohnt in
+Islington &ndash; sie wurde von jenem Burschen unter
+seinem falschen Namen und unzähligen Lügen entführt,
+und ich &ndash; werde sie jetzt ihren Eltern zurückgeben.«</p>
+
+<p>»So?« sagte Hamilton, der dem kurzen Bericht
+aufmerksam zugehört hatte, während es aber wie ein
+verstecktes Lächeln um seine Lippen zuckte &ndash; »aber
+bitte entschuldigen Sie einen Augenblick, ich bin gleich
+wieder bei Ihnen. Apropos, Sie haben so vollständige
+Toilette gemacht. Wollten Sie ausgehen?«</p>
+
+<p>»Nein &ndash; auf keinen Fall eher wenigstens, als bis
+wir uns über diesen Punkt verständigt haben.«</p>
+
+<p>»Gut, dann bin ich gleich wieder da« &ndash; und mit
+<a class="pagenum" name="page_245" title="245"> </a>
+den Worten glitt er zur Thür hinaus und unten in
+den Thorweg, wo ein Paar Lohndiener standen.</p>
+
+<p>»Sind Sie beschäftigt?« redete er den einen an.</p>
+
+<p>»Ich stehe vollkommen zu Befehl.«</p>
+
+<p>»Schön &ndash; dann haben Sie die Güte und bleiben
+Sie bis auf weiteres in der ersten Etage, wo Sie Nr.
+7 und 6 scharf im Auge behalten. Sollte dort eine
+Dame <em class="gesperrt">ausgehen</em> wollen &ndash; Sie verstehen mich &ndash; so
+rufen Sie mich, so rasch Sie möglicher Weise können,
+von Nr. 26 ab. Sie haben doch begriffen, was ich von
+Ihnen verlange?«</p>
+
+<p>»Vollkommen.«</p>
+
+<p>»Gut &ndash; es soll Ihr Schade nicht sein &ndash; der
+Portier unten braucht übrigens nichts davon zu wissen
+&ndash; und indessen schicken Sie mir einmal einen Kellner
+mit einer Flasche Sherry und zwei Gläsern und
+einigen guten Cigarren auf Nr. 26.«</p>
+
+<p>Mit den Worten stieg er selber wieder die Treppe
+hinauf, horchte einen Augenblick an Nr. 7, wo er zu
+seinem Erstaunen Stimmen vernahm, und kehrte dann
+zu Mr. Burton zurück, der mit untergeschlagenen
+Armen, und offenbar sehr aufgeregt, in seinem Zimmer
+auf und ab ging.</p>
+
+<p>»Unsere junge Dame da unten scheint Besuch zu
+<a class="pagenum" name="page_246" title="246"> </a>
+haben,« sagte er &ndash; »ich hörte wenigstens eben
+Stimmen in ihrem Zimmer.«</p>
+
+<p>»Bitte, setzen Sie sich, Mr. Hamilton,« bat ihn James
+Burton, »wir müssen über diese Sache, die das höchste
+Zartgefühl erfordert, erst ins Klare kommen, nachher
+ist alles andere, was wir zu thun haben, Kleinigkeit.«</p>
+
+<p>»Sehr gut,« sagte Hamilton &ndash; »ah, da kommt
+auch schon der Wein. Bitte, setzen Sie nur dorthin.
+Mr. Burton, Sie müssen mich entschuldigen, aber ich
+habe unterwegs solch nichtswürdiges Zeug von Cigarren
+bekommen, daß ich eine ordentliche Sehnsucht nach
+einem guten Blatt fühle &ndash; nehmen Sie nicht auch
+eine? &ndash; und ein Glas Wein thut mir ebenfalls
+Noth, denn ich habe die ganze Nacht keine drei Stunden
+geschlafen und überhaupt eine abscheuliche Tour
+gehabt.«</p>
+
+<p>»Und wie erwischten Sie diesen Kornik?«</p>
+
+<p>»Das alles nachher &ndash; jetzt bitte erzählen Sie
+mir einmal vor allen Dingen, welche wichtige Entdeckung
+Sie hier indeß gemacht haben,« und mit den
+Worten setzte er sich bequem in einem der Fauteuils
+zurecht, zündete seine Cigarre an und sippte an seinem
+Wein.</p>
+
+<p>Mr. Burton nahm ebenfalls eine Cigarre und es
+war fast, als ob er nicht recht wisse, wie er eigentlich
+<a class="pagenum" name="page_247" title="247"> </a>
+beginnen solle. Aber der Beamte <em class="gesperrt">mußte</em> alles erfahren,
+er <em class="gesperrt">durfte</em> ihm nichts verschweigen, schon
+Jennys wegen, und nach einigem Zögern erzählte er
+jetzt dem Agenten die ganzen Umstände seines Zusammentreffens
+mit der jungen Dame, und gerieth zuletzt
+dabei so in Feuer, daß er selbst die kleinsten Umstände
+mit einer Lebendigkeit und Wahrheit wiedergab, die er
+sich selber gar nicht zugetraut hätte.</p>
+
+<p>Hamilton unterbrach ihn mit keinem Wort. Nur
+den Namen von Jennys Vater ließ er sich genau angeben
+und notirte ihn, und während James Burton
+weiter sprach, nahm er Dinte und Feder, schrieb etwas
+in sein Taschenbuch und riß das Blatt dann heraus.
+Auf demselben stand nichts weiter als eine telegraphische
+Depesche, die also lautete:</p>
+
+<p>Burton und Burton, London. Existirt in Islington
+Reverend Benthouse &ndash; religiöser Schriftsteller
+&ndash; ist ihm kürzlich eine Tochter entführt &ndash; Antwort
+gleich. Hamilton.</p>
+
+<p>Mr. Burton dann um Entschuldigung bittend,
+daß er ihn einen Augenblick unterbreche, stand er auf
+und verließ das Zimmer. Am Treppengeländer rief
+er den Lohndiener an.</p>
+
+<p>»Geben Sie diese Depesche an den Portier zur
+augenblicklichen Besorgung auf das Telegraphenamt.
+<a class="pagenum" name="page_248" title="248"> </a>
+Hier ist der Betrag dafür und das für den Boten.
+Nichts bemerkt bis jetzt?«</p>
+
+<p>»Nicht das Geringste.«</p>
+
+<p>»Gut &ndash; <em class="gesperrt">Sie</em> bleiben auf Ihrem Posten.«</p>
+
+<p>Als er in das Zimmer zu Mr. Burton zurückgekommen
+war, nahm er seinen alten Platz wieder ein
+und ließ seinen Gefährten ruhig auserzählen, ohne
+ihn auch nur mit einem Wort darin zu stören. Erst
+als er vollkommen geendet hatte und der junge Mann
+ihn mit sichtlicher Erregung ansah, um sein Urtheil
+über die Sache zu hören, sagte er ruhig:</p>
+
+<p>»Und wissen Sie nun, <i>my dear Sir</i>, welches der
+gescheuteste Streich war, den Sie in der ganzen Zeit
+meiner Abwesenheit gemacht haben?«</p>
+
+<p>»Nun?« frug Burton gespannt.</p>
+
+<p>»Daß Sie der jungen Dame eine Gesellschafterin
+gegeben haben.«</p>
+
+<p>»Ich durfte sie nicht so lange allein und ohne weibliche
+Begleitung lassen,« rief Burton rasch.</p>
+
+<p>»Nein,« sagte Hamilton, und ein eigenes spöttisches
+Lächeln zuckte um seine Lippen &ndash; »sie wäre
+Ihnen sonst schon am ersten Tage durchgebrannt,
+gerade wie ihr Begleiter mir.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Mr. Burton,« sagte Hamilton ernst, »zürnen
+<a class="pagenum" name="page_249" title="249"> </a>
+Sie mir nicht, wenn ich vom Leben andere Anschauungen
+habe als Sie, glauben Sie einem Manne, der
+in diesen Fach mehr Erfahrungen gesammelt hat, als
+Sie vielleicht für möglich halten. Danken Sie aber
+auch Gott, daß ich gerade Ihnen jetzt zur Seite stehe,
+denn Sie wären sonst von einer erzkoketten und durchtriebenen
+Schwindlerin überlistet worden und hätten
+nachher, außer dem Schaden, auch für den Spott nicht
+zu sorgen gebraucht.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton,« sagte Burton gereizt, »Sie
+mißbrauchen Ihre Stellung gegen mich, wenn Sie
+unehrbietig von einer Dame sprechen, die gegenwärtig
+unter <em class="gesperrt">meinem</em> Schutze steht.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Mr. Burton,« sagte Hamilton vollkommen
+ruhig &ndash; »lassen Sie uns vor allen Dingen
+die Sache kaltblütig besprechen, denn die Polizei darf,
+wie Sie mir zugestehen werden, keine Gefühlspolitik
+treiben.«</p>
+
+<p>»Die Polizei ist gewohnt,« sagte Burton, »in
+jedem Menschen einen Verbrecher zu suchen.«</p>
+
+<p>»Bis er uns nicht wenigstens das Gegentheil
+beweisen kann,« lächelte Hamilton &ndash; »aber jetzt
+lassen Sie mich auch einmal reden, denn Sie werden
+mir zugeben, daß ich <em class="gesperrt">Ihrem</em> Bericht ebenfalls mit
+der größten Aufmerksamkeit gefolgt bin.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_250" title="250"> </a>
+»So reden Sie, aber hoffen Sie nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bitte verschwören Sie nichts, bis Sie mich nicht
+gehört haben.« Und ohne seines Begleiters Unmuth
+auch nur im Geringsten zu beachten, erzählte er ihm
+jetzt seine Verfolgung des flüchtigen Verbrechers, sein
+Auffinden desselben und dessen Gefangennahme. Er
+setzte hinzu, daß Kornik, nachdem man die bedeutende
+Summe von Banknoten und andere hinreichende Beweise
+für seine Schuld bei ihm gefunden, völlig gebrochen
+gewesen war und alles gestanden hatte.
+Ebenso sagte er aus, daß er mit einer jungen Dame,
+Lucy Fallow, von London geflüchtet sei, obgleich er
+von dem Raub des Brillantschmucks nichts wissen
+wollte.</p>
+
+<p>»Und legen Sie den geringsten Werth auf das
+Zeugniß eines solchen Schurken?« frug Burton heftig.</p>
+
+<p>»Was die Aussage über den Brillantschmuck betrifft,
+nein,« erwiederte ruhig der Polizeimann, »denn
+ich bin fest davon überzeugt, <em class="gesperrt">daß</em> er darum gewußt
+hat, und erwartete sogar, denselben bei ihm zu finden.
+Er fand sich aber auch nicht einmal in der Reisetasche,
+die der Herr, wie sich später auswies, beim Portier
+des Kurhauses deponirt hatte. Die Dame hat ihn
+also noch jedenfalls in Besitz.«</p>
+
+<p>»Aber ich habe Ihnen ja schon dreimal gesagt,
+<a class="pagenum" name="page_251" title="251"> </a>
+daß ich nicht allein <em class="gesperrt">ihren</em> Koffer, sondern auch den
+dieses Kornik bis auf den Boden durchwühlt habe
+und nicht das geringste Schmuckähnliche hat sich gefunden,
+als eine Korallenschnur mit einem kleinen
+Kreuz daran &ndash; ein Andenken ihrer verstorbenen
+Mutter.«</p>
+
+<p>Hamilton pfiff leise und ganz wie in Gedanken
+durch die Zähne.</p>
+
+<p>»Mein bester Mr. Burton,« sagte er dann, »auf
+Ihr Durchsuchen der Koffer, in Gegenwart jener
+Sirene, gebe ich auch keinen rothen Pfifferling &ndash; ich
+werde das Ding selber besorgen.«</p>
+
+<p>»Und ich erkläre ihnen, Mr. Hamilton,« sagte
+Burton mit finster zusammengezogenen Brauen,
+»daß Sie das <em class="gesperrt">nicht</em> thun werden. Sie haben Ihren
+Auftrag erfüllt; der Verbrecher ist geständig in Ihren
+Händen, und meine Gegenwart dabei nicht länger
+nöthig, so werde ich denn, noch heut Nachmittag, in
+Begleitung der jungen Dame, die Rückreise nach England
+antreten.«</p>
+
+<p>»Mit der Vollmacht für ihre Verhaftung in der
+Tasche,« lächelte Hamilton.</p>
+
+<p>»Diese Vollmachten,« rief Burton leidenschaftlich,
+indem er die beiden Papiere aus der Tasche nahm,
+in Stücke riß, und vor Hamilton niederwarf, »sind
+<a class="pagenum" name="page_252" title="252"> </a>
+auf eine <em class="gesperrt">Verbrecherin</em> ausgestellt, nicht auf Miss
+Benthouse. Da haben Sie die Fetzen und jetzt stehe
+ich frei und unabhängig hier und will sehen, wer es
+wagen wird die junge Dame zu beleidigen.«</p>
+
+<p>Hamilton erwiederte kein Wort. Schweigend erhob
+er sich, las die auf den Boden geworfenen Stücke
+auf, legte sie in ein Packet zusammen und steckte sie in
+seine Tasche.</p>
+
+<p>»Ist das Ihr letztes Wort, Mr. Burton?« sagte
+er endlich, indem er vor dem jungen Manne stehen
+blieb &ndash; »wollen Sie sich nicht erst einmal die Sache
+eine <em class="gesperrt">Nacht</em> ruhig überlegen? Bedenken Sie, in welche
+höchst fatale Lage Sie nur Ihrem Vater gegenüber
+kämen, &ndash; von Lady Clive und den englischen Gerichten
+gar nicht zu reden &ndash; wenn es sich später <em class="gesperrt">doch</em>
+herausstellen sollte, daß Sie sich geirrt haben.«</p>
+
+<p>»Es ist mein letztes Wort,« sagte der junge Mann
+bestimmt; »denn ich muß meine Schutzbefohlene diesem
+schmähligen Verdacht entziehen, der auf ihr lastet.
+Um 4 Uhr 20 geht der Schnellzug nach Köln ab; diesen
+werde ich benutzen, und es versteht sich von selbst,
+daß ich auch jede Verantwortung für diesen Schritt
+einzig und allein trage.«</p>
+
+<p>Hamilton war aufgestanden und ging mit raschen
+<a class="pagenum" name="page_253" title="253"> </a>
+Schritten in dem kleinen Gemach auf und ab. Endlich
+sagte er ruhig:</p>
+
+<p>»Sie wissen doch, Mr. Burton, welchen <em class="gesperrt">Doppel</em>auftrag
+<em class="gesperrt">ich</em> von London mit bekommen habe und wie
+ich, wenn ich danach handle, nur meine Pflicht thue.«</p>
+
+<p>»Das weiß ich, Mr. Hamilton,« sagte Burton,
+durch den viel milderen Ton des Polizeimannes auch
+rasch wieder versöhnend gestimmt, »und ich gebe Ihnen
+mein Wort, daß ich Ihnen deshalb keinen Groll nachtragen
+werde. Aber auch mir müssen Sie dafür
+zugestehen, daß ich &ndash; wo mir keine Pflicht weiter obliegt
+&ndash; mein Herz sprechen lasse.«</p>
+
+<p>»Es ist ein ganz verzweifeltes Ding, wenn das
+Herz mit dem Verstande durchgeht« &ndash; sagte Hamilton
+trocken.</p>
+
+<p>»Haben Sie keine Furcht, daß das bei mir geschieht.«</p>
+
+<p>»So erfüllen Sie mir wenigstens die Bitte,«
+wandte sich Hamilton noch einmal an den jungen
+Mann, »den ersten Schnellzug nicht zu benutzen und
+den Abend abzuwarten. Ich habe vorhin nach London
+telegraphirt &ndash; warten Sie erst die Antwort ab, Mr.
+Burton; es ist auch Ihres eigenen Selbst wegen, daß
+ich Sie darum ersuche.«</p>
+
+<p>»Ich bin alt genug, Mr. Hamilton,« lächelte James
+Burton, »auf mein eigenes Selbst vollkommen
+<a class="pagenum" name="page_254" title="254"> </a>
+gut Acht zu geben. Es thut mir leid, Ihren Wunsch
+nicht erfüllen zu können, denn mir brennt der Boden
+hier unter den Füßen. Um 4 Uhr 20 fahre ich und
+werde dann daheim meinem Vater Bericht abstatten,
+mit welchem Eifer und günstigem Erfolg Sie hier
+unsere Sache betrieben haben. In London hoffe ich
+Sie jedenfalls wiederzusehen.«</p>
+
+<p>Es lag eine so kalte, abweisende Höflichkeit in dem
+Ton, daß Hamilton die Meinung der Worte nicht
+falsch verstehen konnte: Mr. Burton wünschte allein
+zu sein und Hamilton sagte, ihn freundlich grüßend:</p>
+
+<p>»Also auf Wiedersehen, Mr. Burton,« und verließ
+dann, ohne ein Wort weiter, das Zimmer.</p>
+
+
+
+
+<h3>IX.<br />
+
+<b>Die Catastrophe.</b></h3>
+
+
+<p>James Burton sah nach seiner Uhr &ndash; es war
+schon fast zwei geworden, ohne daß er Jenny gesehen
+&ndash; was mußte sie von ihm denken? Aber jetzt
+konnte er ihr auch gute Nachricht bringen, und ohne
+einen Moment länger zu säumen, griff er nach seinem
+Hut und eilte hinab.</p>
+
+<p>Auf dem Gang wanderte ein Lohndiener hin und
+her, der stehen blieb, als er auf die Thür zuging. Er
+hielt aber einen Moment davor, ehe er anklopfte, denn
+<a class="pagenum" name="page_255" title="255"> </a>
+er hörte eine ziemlich heftige Stimme, die in Aerger
+zu sein schien. War das Jenny? &ndash; hatte vielleicht
+Hamilton gewagt? &ndash; er klopfte rasch an. Es war
+jetzt plötzlich alles ruhig da drinnen. Da ging die
+Thür auf und Elise schaute heraus, um erst zu sehen
+wer klopfe. Sie öffnete, als sie den jungen Mann
+erkannte.</p>
+
+<p>Jenny stand an ihrem Koffer, emsig mit Packen
+beschäftigt, als er das Zimmer betrat, und erröthete
+leicht, aber sie begrüßte ihn desto freundlicher und gab
+auch über ihr Befinden hinlänglich befriedigende Antwort.</p>
+
+<p>Elise zog sich in die Nebenstube zurück und Jenny
+frug jetzt, mit ihrem alten, gewinnenden Lächeln:</p>
+
+<p>»Und so lange haben Sie mich auf Ihren Besuch
+warten lassen? Ich wußte vor langer Weile gar nicht,
+was <em class="gesperrt">ich</em> angeben sollte und habe deshalb meine Sachen
+wieder zusammengepackt.«</p>
+
+<p>»Aber nicht meine eigene Unachtsamkeit hielt mich
+von Ihnen entfernt, Miss Jenny,« sagte Burton herzlich,
+»sondern eine wichtige Verhandlung, die ich mit
+unserem Agenten hatte. Mr. Hamilton ist zurückgekehrt.«</p>
+
+<p>»In der That?« sagte die junge Dame, aber jeder
+Blutstropfen wich dabei aus ihrem Gesicht, und so
+<a class="pagenum" name="page_256" title="256"> </a>
+vielen Zwang sie sich anthat, mußte sie doch die
+Stuhllehne ergreifen, um nicht umzusinken.</p>
+
+<p>»Aber weshalb erschreckt Sie das?« sagte Burton
+erstaunt. »Die Erinnerung an jenen Elenden,
+den jetzt seine gerechte Strafe ereilen wird, mag Ihnen
+peinlich sein, aber sie darf nie wieder als Schreckbild
+vor Ihre Seele treten.«</p>
+
+<p>»Und er hat ihn gefunden?« sagte Jenny, sich
+gewaltsam sammelnd &ndash; »oh, wenn ich nur das
+Schreckliche vergessen könnte?«</p>
+
+<p>»Er hat ihn nicht nur gefunden,« bestätigte der
+junge Mann, »sondern der Unglückliche hat auch
+sein ganzes Verbrechen eingestanden. Was half ihm
+auch Leugnen seiner Schuld, wo man die Beweise
+derselben in seinem Besitz fand?«</p>
+
+<p>»Und jetzt?«</p>
+
+<p>»Lassen wir den Elenden,« sagte Burton freundlich,
+»Mr. Hamilton, der mit allen nöthigen Papieren
+dazu versehen ist, wird seine Weiterbeförderung nach
+England übernehmen. Ich selbst reise heute Nachmittag
+mit dem Schnellzug nach London ab, und da
+Sie Ihren Koffer schon gepackt haben,« setzte er
+lächelnd hinzu &ndash; »so biete ich Ihnen, mein werthes
+Fräulein, an, in meiner Begleitung und unter meinem
+Schutz nach England zurückzukehren.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_257" title="257"> </a>
+»Sie wollten&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Sie dürfen sich mir wie einem Bruder anvertrauen,«
+sagte James Burton herzlich, »und ich bürge
+Ihnen dafür, daß ich durchführe, was ich unternommen
+&ndash; trotz allen Hamiltons der Welt,« setzte er mit
+leisem Trotz hinzu.</p>
+
+<p>»So wiedersetzte sich der Herr dem, daß ich Sie
+begleiten dürfe?« fragte rasch und mißtrauisch die
+Fremde.</p>
+
+<p>»Lassen wir das,« lächelte aber Burton, »ich bin
+mein eigener Herr und in <em class="gesperrt">meiner</em> Begleitung steht
+Niemandem ein Recht zu, Sie auch nur nach Paß
+oder Namen zu fragen. Und Sie gehen mit?«</p>
+
+<p>»Wie könnte und dürfte ich einer solchen Großmuth
+entgegenstreben?« sagte das junge Mädchen
+demüthig &ndash; »ich vertraue Ihnen ganz.«</p>
+
+<p>»Herzlichen, herzlichen Dank dafür,« rief Burton
+bewegt, »und Sie sollen es nicht bereuen. Jetzt aber
+lasse ich Sie allein, um noch alles Nöthige zu ordnen,
+denn ich muß selbst noch packen und die Wirthsrechnung,
+wie Ihrer Gesellschafterin Honorar, in Ordnung bringen.
+Sie müssen mir auch schon gestatten, für die
+kurze Zeit unserer Reise Ihren Cassirer zu spielen.
+Beruhigen Sie sich,« setzte er lächelnd hinzu, als er
+ihre Verlegenheit bemerkte &ndash; »ich gleiche das später
+<a class="pagenum" name="page_258" title="258"> </a>
+schon alles mit Ihrem Herrn Vater wieder aus, und
+werde Sorge tragen, daß ich nicht zu Schaden komme.
+Also auf Wiedersehen, Miss &ndash; aber beeilen Sie sich
+ein wenig, denn wir haben kaum noch anderthalb
+Stunden Zeit bis zu Abgang des Zuges,« und ihre
+Hand leicht an seine Lippen hebend, verließ er rasch
+das Zimmer.</p>
+
+<p>Sobald er unten mit dem Wirth abgerechnet und
+seine Sachen gepackt hatte, wollte er noch einmal Hamilton
+aufsuchen, um von diesem Abschied zu nehmen.
+Es that ihm fast leid, ihn so rauh behandelt zu haben.
+Der Polizeiagent war aber, gleich nachdem er ihn verlassen,
+ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt.</p>
+
+<p>Eigentlich war ihm das lieb, denn er fühlte sich
+ihm gegenüber nicht recht behaglich; zu reden hatte er
+überdies weiter nichts mit ihm, und was Kornik
+betraf, so besaß er ja selber alle die nöthigen Instruktionen
+und Vollmachten. Er hatte ja nur die Reise
+nach dem Continent mitgemacht, um die Identität
+seiner Person zu bestätigen &ndash; jetzt, mit all den vorliegenden
+Beweisen und dem eigenen Geständniß des
+Verbrechens war seine Anwesenheit unnöthig geworden.</p>
+
+<p>Die Zeit bis halb vier Uhr verging ihm auch mit
+den nöthigen Vorrichtungen rasch genug &ndash; jetzt war
+<a class="pagenum" name="page_259" title="259"> </a>
+alles abgemacht und in Ordnung, und ebenso fand er
+Jenny schon in ihrem Reisekleid, aber in merkwürdig
+erregter Stimmung. Sie sah bleich und angegriffen
+aus, und drehte sich rasch und fast erschreckt um, als er
+die Thür öffnete.</p>
+
+<p>»Sind Sie fertig?«</p>
+
+<p>»Und gehen wir wirklich?«</p>
+
+<p>»Zweifeln Sie daran? Es ist alles bereit, und
+bis wir am Bahnhof sind und unser Gepäck aufgegeben
+haben, wird die Zeit auch ziemlich verflossen sein
+&ndash; Miss Elise,« wandte er sich dann an das junge
+Mädchen, indem er ihr ein kleines Packet überreichte
+&ndash; »Ihre Anwesenheit ist auf kürzere Zeit in Anspruch
+genommen, als ich selbst vermuthete, so bitte ich denn,
+dieses für Ihre Mühe als Erinnerung an uns zu betrachten.
+Und nun,« fuhr Burton fort, als sich das
+junge Mädchen dankend und erröthend verbeugte &ndash;
+indem er die Klingelschnur zog &ndash; »mag der Hausknecht
+Ihr Gepäck hinunterschaffen. Eine Droschke
+wartet schon auf uns, und ich will selber recht von
+Herzen froh sein, wenn wir erst unterwegs sind.«</p>
+
+<p>Draußen wurden Schritte laut &ndash; es klopfte an.</p>
+
+<p>»Herein!« rief Burton &ndash; die Thür öffnete sich
+und auf der Schwelle, seinen Hut auf dem Kopf, stand
+<a class="pagenum" name="page_260" title="260"> </a>
+&ndash; Hamilton und warf einen ruhigen, forschenden
+Blick über die Gruppe.</p>
+
+<p>Er sah den Ausdruck der Ueberraschung in Burtons
+Zügen, aber sein Auge haftete jetzt fest auf der
+jungen Dame an seiner Seite, deren Antlitz eine Aschfarbe
+überzog.</p>
+
+<p>»Sie entschuldigen, meine Herrschaften,« sagte der
+Polizist mit eisiger Kälte, »wenn ich hier vielleicht ungerufen
+oder ungewünscht erscheinen sollte, aber meine
+Pflicht schreibt es mir so vor. Mein Herr &ndash; Sie
+sind mein Gefangener, im Namen der Königin!«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Ihr</em> Gefangener?« lachte Burton trotzig auf,
+aber Hamilton trat zur Seite und drei Polizeidiener
+standen hinter ihm, während er auf Burton zeigend,
+zu diesen gewandt, fortfuhr:</p>
+
+<p>»Den Herrn da verhaften Sie und führen ihn
+auf sein Zimmer oder bewachen ihn hier, bis Ihr
+Commissär kommt. Er wird sich nicht wiedersetzen,
+denn er weiß, daß er der Gewalt weichen muß &ndash; im
+schlimmsten Fall aber brauchen <em class="gesperrt">Sie</em> Gewalt, und
+jene Dame dort&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Die junge Fremde hatte mit starrem Entsetzen den
+Eintritt des nur zu rasch wiedererkannten Reisegefährten
+bemerkt, und im ersten Moment war es wirklich,
+als ob der Schreck sie gelähmt und zu jeder Bewegung
+<a class="pagenum" name="page_261" title="261"> </a>
+unfähig gemacht hätte. Wie aber des Furchtbaren
+Blicke auf sie fielen, schien es auch, als ob sie
+erst dadurch wieder Leben gewönne, und ehe sie Jemand
+daran verhindern konnte, glitt sie in das Nebenzimmer,
+neben dessen Thür sie stand, warf diese zu und
+schob den Riegel vor.</p>
+
+<p>»Einer von Ihnen auf Posten draußen, daß sie
+uns nicht entwischt,« rief Hamilton rasch, indem er
+nach der Thür sprang, aber sie schon nicht mehr öffnen
+konnte &ndash; »und alarmiren Sie die Leute unten, daß
+sie vor den Fenstern von Nr. 6 Wache halten.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton, Sie werden mir für dieses Betragen
+Rede stehen!« rief Burton außer sich »&ndash;&nbsp;<em class="gesperrt">wer</em>
+giebt Ihnen ein Recht, mich zu verhaften?«</p>
+
+<p>»Mein bester Herr«, rief Hamilton, indem er
+vergebens versuchte, die Thür aufzudrücken &ndash; »von
+einem <em class="gesperrt">Recht</em> ist hier vorläufig gar keine Rede. Sie
+weichen nur der Gewalt. Alles andere machen wir
+später ab.«</p>
+
+<p>»Aber ich dulde nicht&nbsp;&ndash;« rief Burton und wollte
+sich zwischen ihn und die Thüre werfen, um die Geliebte
+zu schützen.</p>
+
+<p>»Halt, mein Herzchen!« riefen aber die Polizeidiener,
+ein Paar baumstarke Burschen, indem sie ihn
+<a class="pagenum" name="page_262" title="262"> </a>
+mit ihren Fäusten packten &ndash; »nicht von der Stelle,
+oder es setzt was.«</p>
+
+<p>»Um Gottes Willen«, rief Elise, zum Tod erschreckt,
+»was geht hier vor?«</p>
+
+<p>»Mein liebes Fräulein,« sagte Hamilton, sich an
+sie wendend in deutscher Sprache &ndash; »beunruhigen Sie
+sich nicht &ndash; gar nichts was <em class="gesperrt">Sie</em> betreffen könnte.
+Gehen Sie ruhig nach Hause, Sie haben nicht die geringste
+Belästigung zu fürchten. Soviel kann ich Ihnen
+aber sagen, daß jene Dame <em class="gesperrt">keine</em> Begleitung weiter
+nach England braucht, da ich das selber übernehmen
+werde. &ndash; Ah, da ist der Herr Commissär &ndash; Sie
+kommen wie gerufen, verehrter Herr &ndash; das hier,«
+fuhr er fort, indem er auf James Burton zeigte &ndash;
+»ist jener Kornik, von dem ich Ihnen sagte, und seine
+Dulcinea hat sich eben in dies Zimmer geflüchtet,
+von wo aus sie uns aber ebenfalls nicht mehr entwischen
+kann.«</p>
+
+<p>»Kornik? &ndash; ich?« rief Burton, indem er sich wie
+rasend unter dem Griff der Polizeidiener wand &ndash;
+»Schuft Du &ndash; ich selber bin hergekommen, jenen
+Kornik zu verhaften.«</p>
+
+<p>»Und wo haben Sie die Beweise?« sagte Hamilton
+ruhig in englischer Sprache.</p>
+
+<p>»In Deiner eigenen Tasche sind sie,« schrie Burton
+<a class="pagenum" name="page_263" title="263"> </a>
+wie außer sich &ndash; »das Papier, das ich Dir vor
+die Füße warf.«</p>
+
+<p>Hamilton achtete gar nicht auf ihn.</p>
+
+<p>»Herr Commissär,« sagte er, sich an den Polizeibeamten
+wendend &ndash; »jener Herr da, dem ich von
+England aus nachgesetzt bin, hat sich schon unter
+fremdem Namen in das hiesige Gasthofsbuch geschrieben.
+Sie haben meine Instruktionen und Vollmachten
+gelesen. Sie werden Sorge dafür tragen,
+daß er uns nicht entwischt, während ich jetzt die
+<em class="gesperrt">Dame</em> herbeizuschaffen suche.« Und ohne weiter ein
+Wort zu verlieren nahm er den dicht neben ihm stehenden
+kleinen Koffer und stieß ihn mit solcher Kraft
+und Gewalt gegen die Füllung der Thür, daß diese
+vor dem schweren Stoß zusammenbrach. Im nächsten
+Moment griff er durch die gemachte Oeffnung hindurch
+und schloß die Thür von innen auf.</p>
+
+<p>Wie es schien, hatte aber die junge Fremde gar
+keinen Versuch zur Flucht gemacht. Sie stand, ihre
+Mantille fest um sich her geschlungen, mitten in der
+Stube, und den Verhaßten mit finsterem Trotz messend,
+sagte sie:</p>
+
+<p>»Betragen Sie sich wie ein Gentleman, daß Sie
+zu einer Lady auf solche Art ins Zimmer brechen?«</p>
+
+<p>»Miss«, erwiederte der Polizeibeamte kalt, »ich
+<a class="pagenum" name="page_264" title="264"> </a>
+bin noch nicht fest überzeugt, ob ich es hier wirklich
+mit einer <em class="gesperrt">Lady</em> zu thun habe. Vor der Hand sind Sie
+meine Gefangene. Im Namen der Königin, Miss
+Lucy Fallow, verhafte ich Sie hier auf Anklage eines
+Juwelendiebstahls.«</p>
+
+<p>»Und welche Beweise haben Sie für eine so
+freche Lüge?« rief das junge Mädchen verächtlich.</p>
+
+<p>»Danach suchen wir eben«, lachte Hamilton, jetzt,
+da ihm der Ueberfall gelungen war, wieder ganz in
+seinem Element &ndash; »Herr Commissär, haben Sie die
+Güte gehabt, die Frauen mitzubringen?«</p>
+
+<p>»Sie stehen draußen.«</p>
+
+<p>»Bitte, rufen Sie die beiden herein &ndash; ich wünsche
+die Gefangene <em class="gesperrt">genau</em> durchsucht zu haben, ob sie den
+bewußten Schmuck an ihrem Körper vielleicht verborgen
+hat. Wir beide werden indeß die Koffer revidiren.«</p>
+
+<p>Eine handfeste Frau &ndash; die Gattin eines der
+Polizeidiener, trat jetzt ein, von einem anderen jungen
+Mädchen, wahrscheinlich ihrer Tochter, gefolgt, beide
+aber von einer Statur, die für einen solchen Zweck
+nichts zu wünschen übrig ließ, und Hamilton betrat
+jetzt wieder das Zimmer, in dem Burton dem englisch
+sprechenden Commissär seine eigene Stellung erklärte
+und ihn dringend aufforderte, nicht zu dulden, daß
+<em class="gesperrt">zwei</em> unschuldige Menschen in so niederträchtiger
+<a class="pagenum" name="page_265" title="265"> </a>
+Weise behandelt würden. Seine Erklärung aber, die
+er dabei gab, daß er seine Vollmacht selber zerrissen
+habe, der falsche Namen, unter dem er selber zugestand
+sich in das Fremdenbuch eingetragen zu haben, und
+die Thatsache, die er nicht läugnen konnte oder wollte,
+daß Hamilton wirklich ein hochgestellter Polizeibeamter
+in England sei, sprachen zu sehr gegen ihn. Der
+Commissär zuckte die Achseln, bedauerte, nur nach den
+Instruktionen handeln zu können, die er von oben empfinge,
+und ersuchte Mr. Burton dann in seinem
+eigenen Interesse, sich seinen Anordnungen geduldig
+zu fügen, da sonst für ihn daraus die größten Unannehmlichkeiten
+entstehen könnten.</p>
+
+<p>Er wollte ihn jetzt auch auf sein eigenes Zimmer
+führen lassen, als Hamilton zurückkehrte und den
+Commissar ersuchte, dem Herrn zu erlauben, hier zu
+bleiben. Er wünsche, daß er Zeuge der Verhandlung
+sei.</p>
+
+<p>Ohne weiteres ging er jetzt daran, den Koffer der
+Dame auf das genaueste zu revidiren; obgleich sich
+aber, in einem geheimen Gefach darin, eine Menge
+der verschiedensten Schmuck- und Werthsachen vorfanden,
+waren die gesuchten Brillanten doch nicht dabei.
+Auch in Korniks Koffer ließ sich keine Spur davon
+entdecken. Fortgebracht konnte sie dieselben aber nicht
+<a class="pagenum" name="page_266" title="266"> </a>
+haben, da sie ja gerade, im Begriff abzureisen, überrascht
+war, also gewiß auch alles werthvolle Besitzthum bei
+sich trug. Außerdem wußte Hamilton genau, daß sie
+&ndash; wenigstens seitdem er zurückgekehrt war &ndash; kein
+Packet auf die Post gegeben hatte, also trug sie es
+wahrscheinlich am Körper versteckt.</p>
+
+<p>Aber auch diese Vermuthung erwies sich als falsch.
+Die Frau kehrte, während der Gefangenen unter Aufsicht
+des jungen Mädchens gestattet wurde, wieder
+ihre Toilette zu machen, in das Zimmer zurück, und
+brachte nur ein kleines weiches Päckchen mit, das sie
+bei ihr verborgen gefunden hatten. Sie überreichte
+es dem Commissär, der es öffnete und englische Banknoten
+zum Werth von etwa achthundert Pfund darin
+fand. Vier Noten von 100 Pfund Sterling waren
+darunter.</p>
+
+<p>»Da bekommen wir Licht,« rief aber Hamilton
+rasch, als er sie erblickte &ndash; »von den Hundert Pfund-Noten
+habe ich die Nummern, und die wollen wir
+nachher einmal vergleichen. Vorher aber werden
+wir das Zimmer untersuchen müssen, in daß sich
+Madame geflüchtet hat. Möglich doch, daß sie die
+Zeit benutzte, in der sie dort eingeschlossen war, um
+ein oder das andere in Sicherheit zu bringen.«</p>
+
+<p>»Ich habe alles genau nachgesehen,« sagte die
+<a class="pagenum" name="page_267" title="267"> </a>
+Frau des Polizeidieners kopfschüttelnd &ndash; »in alle
+Polster hineingefühlt und die Gardinen ausgeschüttelt,
+selbst in den Ofen gefühlt und den Teppich genau
+nachgesehen. Es steckt nirgends was.«</p>
+
+<p>»Kann ich eintreten?« rief Hamilton an die Thür
+klopfend, denn er war nicht gewohnt sich auf die Aussagen
+Anderer zu verlassen. Das junge Mädchen, das zur
+Wache dort geblieben war, öffnete. Die junge Fremde
+stand fertig angezogen, aber todtenbleich, wieder mitten
+im Zimmer und ihre Augen funkelten dem Polizeibeamten
+in Zorn und Haß entgegen. Hamilton war
+aber nicht der Mann, davon besondere Notiz zu nehmen.
+Das erste, was er that, war, die Jalousieen
+aufzustoßen, um hinreichend Licht zu bekommen, dann
+untersuchte er Tapeten und Bilder &ndash; auch hinter den
+Spiegel sah er, rückte sich den Tisch zu den Fenstern
+und stieg hinauf, um oben auf die Gardinen zu fühlen.
+Er fand nichts, aber er ruhte auch nicht &ndash; der Teppich
+zeigte nicht die geringsten Unebenheiten. &ndash; Er
+rückte das Sopha ab und fühlte daran hin &ndash; aber
+es ließ sich kein harter Gegenstand bemerken.</p>
+
+<p>Wie seine Hand an der mit grobem Kattun bezogenen
+Hinterwand des Sophas hinfuhr, gerieth sein
+Finger in eine nur wenig geöffnete Nath. Er zog
+das Sopha jetzt ganz zum Licht, die Rückseite dem
+<a class="pagenum" name="page_268" title="268"> </a>
+Fenster zugewandt, nahm sein Messer heraus und
+trennte ohne Weiteres die Nath bis hinunter auf.
+Während er mit dem rechten Arm in die gemachte
+Oeffnung hineinfuhr, streifte sein Blick die Gestalt
+der Gefangenen, die augenblicklich gleichgiltig auszusehen
+suchte, aber es konnte ihm nicht entgehen, daß sie
+seinen Bewegungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit
+folgte.</p>
+
+<p>»Ah, Mylady,« rief er da plötzlich, indem seine
+Finger einen fremdartigen Gegenstand trafen &ndash; »ob
+ich es mir nicht gedacht habe, daß Sie die Ihnen verstattete
+Zeit hier im Zimmer auf geschickte Weise benutzen
+würden. Sie sehen mir gerade danach aus,
+als ob Sie nicht zu den »Grünen« gehörten &ndash; was
+haben wir denn da? &ndash; eine reizende Kette und da
+hängt auch ein Ohrring darin &ndash; da wird der andere
+ja wohl auch nicht weit sein &ndash; es kann nichts helfen,
+der Tapezierer muß wieder gut machen, was ich jetzt
+hier verderbe« &ndash; und er riß, ohne weitere Rücksicht
+auf den Schaden, den er anrichtete, Werg und Kuhhaare
+heraus, bis er den gesuchten Ohrring, der
+etwas weiter hinabgefallen war, fand. Auch eine
+Broche, aus einem einzigen großen Brillant bestehend,
+kam mit dem Werg zu Tag.</p>
+
+<p>»Leugnen Sie jetzt <em class="gesperrt">noch</em>, Madame?« sagte Hamilton,
+<a class="pagenum" name="page_269" title="269"> </a>
+indem er sich aufrichtete und der Verbrecherin
+das gefundene Geschmeide entgegenhielt. Aber die
+Gefragte würdigte ihn keines Blicks; schweigend und
+finster, wie er sie damals im Coupé gesehen, starrte
+sie vor sich nieder, und nur die rechte Hand hielt sie
+krampfhaft geballt, die Zähne fest und wild zusammengebissen
+und die Augen, die von solchem Liebesreiz
+strahlen konnten, sprühten Feuer.</p>
+
+<p>»Haben Sie etwas gefunden?« rief ihm der Commissär
+entgegen.</p>
+
+<p>»Alles was wir suchen,« erwiederte Hamilton
+ruhig &ndash; »aber ist denn der Lohndiener noch nicht vom
+Telegraphenamt zurück?«</p>
+
+<p>»Eben gekommen. Er wartet im anderen Zimmer
+auf Sie.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank &ndash; jetzt treffen alle Beweise zusammen,«
+rief Hamilton aus. »Ich ersuche Sie indeß,
+Herr Commissär, diese junge Dame in <em class="gesperrt">sehr</em>
+gute Obhut zu nehmen, denn sie ist mit allen Hunden
+gehetzt.«</p>
+
+<p>»Haben Sie keine Angst &ndash; wir werden das saubere
+Pärchen sicher verwahren.«</p>
+
+<p>»Den <em class="gesperrt">Herrn</em> kann ich Ihnen vielleicht abnehmen,«
+lächelte der Polizeiagent, indem er in das benachbarte
+Zimmer trat und dort die für ihn eingetroffene Depesche
+<a class="pagenum" name="page_270" title="270"> </a>
+in Empfang nahm. Er erbrach sie und las die
+Worte:</p>
+
+<p class="center">»In Islington giebt es keinen Geistlichen Benthouse.
+&ndash; In ganz London nicht.</p>
+
+<p class="signature">Burton.</p>
+
+<p class="center">Mr. Hamilton, Telegraphenbureau Frankfurt a. M.«</p>
+
+<p>Hamilton trat zum Tisch, auf den er den Schmuck
+und die telegraphische Depesche legte, dann nahm er
+aus seiner Tasche die Liste der gestohlenen Banknoten,
+die er mit den bei der jungen Dame gefundenen verglich
+und einige roth anstrich, dann fügte er diesen
+noch ein anderes Papier bei, die genaue Beschreibung
+des im Hause der Lady Clive gestohlenen Schmucks,
+und als er damit fertig war, sagte er freundlich zu
+Burton:</p>
+
+<p>»Dürfte ich Sie <em class="gesperrt">jetzt</em> einmal bitten, Mr. Burton,
+sich diese kleine Bescheerung anzusehen? Es wird interessant
+für Sie sein. &ndash; Lassen Sie den Gefangenen
+nur los, meine Herren.«</p>
+
+<p>»Sie werden sich nie Ihres nichtswürdigen Betragens
+wegen entschuldigen können,« sagte Burton finster,
+indem er aber doch der Aufforderung Folge leistete.</p>
+
+<p>»Auch dann nicht?« frug Hamilton, »wenn ich
+Sie überzeuge, daß Sie einer großen &ndash; einer recht
+großen Gefahr entgangen sind?« frug Hamilton.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_271" title="271"> </a>
+»Einer Gefahr? &ndash; wie so?«</p>
+
+<p>»Der Gefahr, das Schlimmste zu erleben, was
+ein anständiger Mann, außer dem Verlust seiner
+Ehre, erleben kann &ndash; sich lächerlich zu machen.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bitte, lesen Sie hier die Depesche Ihres Herrn
+Vaters &ndash; seine Antwort auf meine Anfrage von heute
+Morgen. &ndash; So &ndash; und hier haben Sie die Nummern der
+aufgefundenen Banknoten &ndash; und hier endlich die genaue
+Beschreibung des Schmucks, von Lady Clives
+eigener, sehr zierlicher Hand. Zweifeln Sie <em class="gesperrt">jetzt</em> noch
+daran, daß Sie es nicht mit einer Miss Jenny Benthouse,
+sondern mit der leichtfertigen Lucy Fallow zu thun
+hatten? &ndash; Pst &ndash; lieber Freund, die Sache ist abgemacht«
+&ndash; sagte aber der Agent, als er sah, wie bestürzt
+der junge Burton diesen nicht wegzuläugnenden
+Beweisen gegenüber stand. &ndash; »Nur noch einen Blick
+werfen Sie jetzt auf die junge Dame,« fuhr er dabei
+fort, während er zugleich die Thür aufstieß und nach
+der trotzig und wild dastehenden Gestalt des Mädchens
+zeigte. &ndash; »Glauben Sie, das <em class="gesperrt">jene</em> Dame Ihnen
+bis London gefolgt wäre, und nicht vorher Mittel und
+Wege gefunden hätte, Ihnen unterwegs zu entschlüpfen?
+Uebrigens habe ich schon von Ems aus, so wie
+ich Korniks Geständniß erhielt, nach London an Lady
+<a class="pagenum" name="page_272" title="272"> </a>
+Clive telegraphirt und sie gebeten, mir Jemanden zur
+Recognoscirung des jungen Frauenzimmers herzusenden.
+Der kann schon, wenn sie ihn rasch befördert
+hat, morgen Mittag eintreffen, und dann, nachdem
+jeder Vorsicht Genüge geleistet und die äußerste
+Rücksicht genommen ist, um nicht eine Unschuldige zu
+belästigen, werden Sie mir doch zugeben, Mr. Burton,
+daß ich meine Pflicht erfüllt habe.«</p>
+
+<p>James Burton schwieg und sah ein Paar Secunden
+still vor sich nieder; aber sein besseres Gefühl gewann
+doch die Oberhand. Er sah ein, daß er sich von
+einer Betrügerin hatte täuschen lassen, und Hamilton
+die Hand reichend, sagte er herzlich:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Sir &ndash; ich werde Ihnen das nie
+vergessen.«</p>
+
+<p>»Ein desto schlechteres Gedächtniß werde <em class="gesperrt">ich</em> dann
+für unser letztes kleines Intermezzo haben,« lachte der
+Polizeiagent, die dargebotene Hand derb schüttelnd,
+»und nun, mein lieber Mr. Burton, reisen Sie, wenn
+Sie <em class="gesperrt">meinem</em> Rath folgen wollen, so rasch Sie mögen,
+nach England zurück. Für die beiden Schuldigen
+werde ich schon Sorge tragen, und in sehr kurzer Zeit
+denke ich Ihnen nachzufolgen.«</p>
+
+<p>Dem Commissär erklärte Hamilton bald den Zusammenhang
+der Verhaftung Mr. Burtons, den er
+<a class="pagenum" name="page_273" title="273"> </a>
+dadurch nur hatte so lange aufhalten wollen, bis er
+die Beweise von der Schuld jener Person beischaffte
+&ndash; das war geschehen und er selber brachte jetzt die an
+dem Morgen von Burton zerrissene und von ihm wieder
+sorgfältig zusammengeklebte Vollmacht zum Vorschein,
+die als beste Legitimation für ihn dienen konnte.</p>
+
+<p>Am nächsten Tag traf richtig ein Polizeibeamter,
+der Miss Lucy Fallow persönlich kannte, in Frankfurt
+ein, und Hamilton erhielt die Genugthuung, seinen
+ersten Verdacht völlig bestätigt zu finden. Gleich
+danach reiste James Burton allein ab, während Hamilton
+noch einige Tage brauchte, bis er die Uebersendung
+der Wertpapiere und Banknoten durch die Nassauische
+Regierung nach England reguliren konnte.
+Dann erst folgte er mit seinen Gefangenen nach England,
+von denen er aber nur das Mädchen hinüberbrachte.</p>
+
+<p>Kornik machte unterwegs einen verzweifelten Fluchtversuch
+und sprang, während der Zug im vollen Gange
+war, zwischen Lüttich und Namür aus dem Fenster
+des Waggons; aber er verletzte sich dabei so furchtbar,
+daß er starb, ehe man ihn auf die nächste Station
+transportiren konnte.</p>
+
+
+
+
+<h2>Eine Heimkehr aus der weiten Welt.<a class="pagenum" name="page_274" title="274"> </a></h2>
+
+
+<p>Was auch Andere dagegen sagen mögen; es ist
+schon der Mühe werth eine größere Reise zu unternehmen,
+nur um wieder zu kommen.</p>
+
+<p>Manche Freude, manches Glück blüht uns »armen
+Sterblichen« hier auf dieser schönen Welt, keine aber
+so voll und reich und herrlich, als die Freude des
+Wiedersehens nach langer Trennung &ndash; keine so rein
+und selig, als die Rückkehr in das Vaterland. Soll
+ich dir deshalb, lieber Leser, erzählen wie mir zu
+Muthe war, als ich nach einer Abwesenheit von 39
+Monden von Weib und Kind, zurück in die Heimath
+kehrte? &ndash; Ich will's versuchen.</p>
+
+<p>Ich kam damals &ndash; im Juni 52 &ndash; nach einer
+ununterbrochenen Seereise von 129 Tagen direct von
+Batavia. Siebzehn von den 129 hatten wir uns allein
+bei faulem Wetter in Canal und Nordsee herumgetrieben
+&ndash; 17 Tage auf einer Strecke, die wir recht
+<a class="pagenum" name="page_275" title="275"> </a>
+gut hätten in <em class="gesperrt">dreien</em> zurücklegen können. Und so dicht
+dabei an der heimischen Küste; es war eine verzweifelte
+Zeit; doch sie ging auch vorbei, und endlich,
+endlich rasselte der Anker in die Tiefe.</p>
+
+<p>Das ist ein wunderbar ergreifender Ton, den
+man nicht allein <em class="gesperrt">hört</em>, sondern auch <em class="gesperrt">fühlt</em>, denn das
+ganze Schiff rasselt und zittert mit, und wie die Eisenschaufel
+nur den Boden berührt und mit einem Ruck
+festhakt, fühlt man sich auch daheim.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Ich war daheim!</em> ob Bremen, ob Sachsen, ob
+Oestreich, solchen Unterschied kennt man nur innerhalb
+der verschiedenen Grenzpfähle: für uns Deutsche da
+draußen ist alles nur ein Deutschland, ein Vaterland,
+und wie die Matrosen nach oben liefen, die Segel festzumachen,
+und die Kette indessen, soweit das anging,
+eingezogen und um die Winde geschlagen wurde, hing
+mein Blick an dem grünen Ufer des Weserstrandes,
+an dem Mastenwald des nicht fernen Bremerhafens,
+und konnte sich nicht losreißen von dem lieben, lieben
+Bild.</p>
+
+<p>Aber nicht lange sollte mir Zeit zum Schauen
+bleiben. Der Lootse hatte uns schon gesagt, daß wir
+wahrscheinlich noch zeitig genug nach Bremerhafen
+kämen, um das Nachmittags-Dampfboot nach Bremen
+zu benutzen. Alle unsere Sachen waren gepackt. Jetzt
+<a class="pagenum" name="page_276" title="276"> </a>
+dampfte das Boot aus dem Hafen heraus und legte
+bei &ndash; jetzt kam ein kleines Boot vom Ufer ab, uns
+hinüber zu führen. Kisten und Koffer wurden Hals
+über Kopf hinunter gehoben, kaum blieb mir noch Zeit,
+den Seeleuten, mit denen ich so lange Monde als einziger
+Passagier verlebt, die Hand zu schütteln, und
+schon glitten wir über den stillen Strom, dem, unserer
+harrenden, Dampfer zu.</p>
+
+<p>An Bord fanden wir eine große Gesellschaft von
+Herren und Damen und hier zum ersten Mal dachte
+ich daran, daß ich ja in Bremerhafen, ehe ich die
+»Stadt« selber betrat, meine etwas sehr mitgenommene
+Toilette hatte erneuen wollen. Mein Schuhwerk
+besonders befand sich in höchst traurigen Umständen,
+und meine <em class="gesperrt">besten</em> Schuh waren querüber vollständig
+aufgeplatzt. Aber das ging jetzt nicht mehr an &ndash; wer
+kannte mich auch und wo behielt ich Zeit mich jetzt um
+<em class="gesperrt">solche</em> Dinge zu bekümmern? &ndash; Den Strom hinauf
+glitten wir, der für mich der Erinnerungen so viele
+trug, und wie Dorf nach Dorf hinter uns blieb, wie
+die Sonne tiefer und tiefer sank, und hie und da schon
+einzelne Hügel aus dem flachen Land hervorschauten,
+grüßten mich die Nachtigallen, die lieben Waldsänger
+unserer Heimath mit ihrem zaubrisch süßen Sang.</p>
+
+<p>Und weiter flog das Boot; hinter dem Rad stand
+<a class="pagenum" name="page_277" title="277"> </a>
+ich, aus dem die Wellen schäumten, horchte den Nachtigallen
+am Ufer, und schaute nach den alten gemüthlichen
+Dorfkirchthürmen hinüber, bis von weitem, aber
+schon mit einbrechender Dunkelheit, die Thürme der
+alten Handelsstadt Bremen herüber blickten.</p>
+
+<p>Jetzt hielt das Boot; dicht unter den dunkeln
+Häusermassen lagen wir, in welche nur schmale
+schräge Einschnitte &ndash; kleine Gäßchen, die zum Ufer
+hinunterführen &ndash; einliefen; Karrenführer kamen an
+Bord, denen ich mein Gepäck übergab, und wenige
+Secunden später stand ich zum ersten Mal wieder nach
+129 Tagen draußen auf <em class="gesperrt">Pflaster</em>, auf <em class="gesperrt">deutschem</em>
+Grund und Boden, und es war mir zu Muthe, als ob
+ich hätte über den Boden <em class="gesperrt">fliegen</em> können.</p>
+
+<p>Von da an war jeder Schritt, den ich weiter that,
+ein <em class="gesperrt">Genuß</em> für mich und langsam, ganz langsam
+verfolgte ich im Anfang meinen Weg, den frohen
+Becher nun auch ordentlich auszukosten.</p>
+
+<p>In vielen Häusern war schon Licht angezündet,
+und die Leute saßen drin bei ihrem Abendbrod, hie
+und da aber standen sie auch noch plaudernd, und sich
+des schönen Sommerabends freuend, in den Thüren
+&ndash; auch <em class="gesperrt">deutsch</em> sprachen sie, gutes ehrliches deutsch,
+nicht mehr malayisch oder holländisch, oder englisch,
+französisch, spanisch oder was sonst noch, was ich seit
+<a class="pagenum" name="page_278" title="278"> </a>
+den letzten Jahren gewohnt war, vor fremden Thüren
+zu hören &ndash; die Männer rauchten lange Pfeifen, die
+Frauen strickten lange Strümpfe, und die Kinder
+hetzten sich über den Weg hinüber und herüber, und
+lachten und jubelten.</p>
+
+<p>So wanderte ich mitten zwischen ihnen durch,
+noch ein Fremder und Heimathloser in der weiten
+Stadt, und doch vielleicht der glücklichste Mensch, den
+in diesem Augenblick ganz Bremen umschloß.</p>
+
+<p>Jetzt hatte ich endlich das Handlungshaus erreicht,
+in dem ich Briefe für mich von daheim finden sollte.
+&ndash; Die ersten wieder seit langer, langer Zeit, denn
+die <em class="gesperrt">letzten</em> Briefe, die ich vor sechs Monaten in
+Batavia erhalten, waren noch außerdem über sechs
+Monate alt gewesen.</p>
+
+<p>Der Chef war nicht zu Haus, aber ein junger
+Mann vom Geschäft, dem ich meinen Namen nannte,
+sagte: »er glaube, daß ein Brief für mich oben liegen
+müsse,« und wie entsetzlich langsam ging er die Treppe
+hinauf, danach zu suchen. &ndash; Endlich waren wir oben
+&ndash; zwei, drei Gefache suchte er durch &ndash; da war er
+richtig &ndash; ich hielt ihn fest in der Hand und weiß
+wahrhaftig nicht, wie ich wieder aus dem Haus und
+durch die Stadt in mein Hotel gekommen bin; aber ich
+sah die Leute nicht mehr, die vor den Häusern standen,
+<a class="pagenum" name="page_279" title="279"> </a>
+oder an ihren hellerleuchteten Tischen saßen. So
+rasch mich meine Füße trugen, eilte ich in den Lindenhof,
+ließ mir ein Zimmer geben, bestellte Licht und
+Thee und saß kaum zehn Minuten später am geöffneten
+Fenster vor den lieben, lieben Zeilen, die mir
+Kunde von den Meinen brachten. &ndash; Dann erst gab
+ich mich den übrigen Genüssen hin, und wer nicht
+selber einmal solang von daheim fort und besonders so
+viele Wochen, ja Monate hintereinander auf See
+gewesen, wird schwer begreifen können, mit welch behaglichem
+Gefühl den seemüden Wanderer alle jene
+tausend Kleinigkeiten erfüllen, die wir im gewöhnlichen
+Leben gar nicht mehr beachten, und deren <em class="gesperrt">Dasein</em>
+wir oft nur bemerken, wenn sie einmal <em class="gesperrt">fehlen</em>.</p>
+
+<p>Erstlich die Annehmlichkeit von frischem <em class="gesperrt">Fleisch</em>,
+frischer <em class="gesperrt">Butter</em>, <em class="gesperrt">Milch</em> und <em class="gesperrt">Eiern</em> &ndash; dann das
+Bewußtsein, daß das Theezeug <em class="gesperrt">fest</em> auf dem Tisch
+stand, und nicht brauchte in hölzerne Gestelle eingestemmt
+zu werden &ndash; und doch war ich mit meiner
+Tasse noch im Anfang außerordentlich vorsichtig. Dazu
+das Geräusch rollender Wagen auf dem Pflaster unten,
+das Schlagen der großen Thurmuhren, das ich in einer
+Ewigkeit nicht gehört, das Lachen und Plaudern der
+Menschen unten auf dem großen freien Platz, und kein
+Schaukeln dabei, kein Hin- und Wiederwerfen &ndash;
+<a class="pagenum" name="page_280" title="280"> </a>
+Alles das genoß ich einzeln und mit vollem geizenden
+Bewußtsein dieser wenigen Momente, und wenn es
+mir auch im Anfang noch manchmal so vorkommen
+wollte, als ob der Lehnstuhl auf dem ich saß leise hin
+und herschwankte, &ndash; das alte Gefühl noch von dem
+Schiffe her &ndash; überzeugte ich mich doch bald, daß das
+nur Täuschung sei.</p>
+
+<p>Indessen war es dunkel und still draußen in der
+Stadt geworden; wieder und wieder hatte ich den
+Brief gelesen und lag jetzt in meinem Stuhl am offenen
+Fenster, eine ganze Welt voll Seligkeit im Herzen.</p>
+
+<p>Unten wurden murmelnde Menschenstimmen laut
+&ndash; ich hatte sie schon eine Weile wie im Traum gehört,
+aber nicht darauf geachtet; auch ein paar Laternen
+sah ich über den Platz kommen. Da plötzlich klangen
+von vier kräftigen Männerstimmen die Töne des herrlichen
+Mendelssohn'schen Liedes:</p>
+
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse">»Wer hat dich, du schöner Wald,</div>
+ <div class="verse">Aufgestellt so hoch da droben ...«</div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">zu mir herauf, das <em class="gesperrt">erste</em> deutsche Lied und Männerchor
+wieder, das ich seit langen Jahren hörte, und
+wie hatte ich mich danach gesehnt. &ndash; Neben mir öffnete
+sich ein Fenster &ndash; es fiel mir jetzt wieder ein,
+daß eine berühmte Opernsängerin meine Nachbarin
+war, die hier in Bremen gastirt hatte und morgen
+<a class="pagenum" name="page_281" title="281"> </a>
+früh wieder abreiste. Der Kellner hatte mir davon
+gesprochen, als er das Theegeschirr hinausnahm.</p>
+
+<p>Und jetzt verklangen die Töne, um wieder mit
+einem anderen, lebendigeren Liede zu beginnen; aber
+voll und weich klangen sie zu mir herauf &ndash; voll und
+weich war mir das Herz dabei geworden und &ndash; ich
+brauche mich deshalb nicht zu schämen, daß mir die
+hellen Thränen in den Bart liefen.</p>
+
+<p>Noch immer saß ich so, und die Sänger waren
+schon lange fortgezogen; die Uhren in der Stadt
+brummten die zehnte Stunde, als ein anderer, nicht
+so harmonischer Ton all' die schwermüthigen Gedanken
+im Nu verscheuchte.</p>
+
+<p>»Tuht!« blies der Nachtwächter unten und sang
+sein melancholisch Lied, und ich sah den dunklen Schatten
+des Mannes unten mit schwerem Schritt über
+den Platz schreiten, folgte ihm mit den Augen so weit
+ich konnte, und horchte auf die, aus ferneren Stadttheilen
+herüberschallenden Antworten noch lange,
+lange. &ndash; Und dann kamen Nachtschwärmer, die einen
+Hausschlüssel hatten und ich hörte wie die Thüren
+auf- und wieder zugemacht wurden &ndash; und dann schlugen
+die Uhren wieder ein Viertel, Halb, drei Viertel
+und Elf. Immer konnte ich mich noch nicht losreißen
+von dem Platz am Fenster, bis ich endlich lange nach
+<a class="pagenum" name="page_282" title="282"> </a>
+elf mein weiches Lager suchte. Und wie herrlich
+schlief ich, denn meine alte Seegras-Matratze an
+Bord hatte ich in den vier Monaten so hart wie ein
+Bret gelegen, und das weiche Roßhaarbett bot einen
+neuen Genuß.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen war ich früh auf den Füßen,
+Manches zu besorgen, meine mitgebrachten Kisten auf
+die Fracht zu geben und liebe Freunde zu besuchen.
+Eine Zeitung hatte ich noch nicht in die Hand bekommen
+und das Einzige, was ich bis jetzt von einer politischen
+Neugestaltung der letzten 8 Monate wußte, war
+die Wahl Louis Napoleons zum Präsidenden der Republik.
+Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen
+anriefen, hatte uns ein altes Stück englischer Zeitung
+&ndash; halb durchgerissen, mit einer tüchtigen Steinkohle
+als Gewicht hineingewickelt &ndash; zugeworfen &ndash;
+darauf fanden wir einen Theil der Einzugsfeierlichkeiten
+des neuen Präsidenten beschrieben &ndash; das war Alles
+was wir von Europa überhaupt erfuhren &ndash; und sonderbarer
+Weise gleich das Wichtigste.</p>
+
+<p>Freund Andree, den ich in Bremen antraf, ersetzte
+mir aber alle Zeitungen, denn mit kurzen bündigen
+Worten gab er mir einen flüchtigen, aber vortrefflichen
+Ueberblick des Geschehenen &ndash; du lieber Gott, es war
+wenig Tröstliches, das ich erfuhr &ndash; wie traurig sah
+<a class="pagenum" name="page_283" title="283"> </a>
+es in dem armen Deutschland aus, und was war aus
+der Freiheit, aus den Freiheiten geworden, die wir
+48 erträumt. Der alte Fluch der Uneinigkeit hatte
+wieder seine giftigen Früchte getragen, und Alles was
+ich aus dem Sturm der letzten Jahre gerettet fand
+&ndash; und das überhaupt der Mühe des Aufhebens
+lohnte, war: die <em class="gesperrt">Erinnerung</em> an das Parlament;
+das Bewußtsein, daß wir ein solches wirklich <em class="gesperrt">gehabt</em>
+hatten, daß es also nicht zu den Schattenbildern gehörte
+und uns einmal, es möchte nun dauern so lange
+es wollte, wieder werden <em class="gesperrt">mußte</em>. &ndash; Jetzt freilich
+feierte der Bundestag wieder seine Ferien wie vordem
+&ndash; ein Dorn im Fleisch der Deutschen, ein Spott
+und Hohn für das Ausland. &ndash; Die <em class="gesperrt">deutschen</em>
+Schiffe, die noch draußen auf der Rhede von Bremerhafen
+unter der schwarz-roth-goldenen Flagge
+lagen, warteten auf den Hammer des Auctionators,
+die Schmach von Schleswig-Holstein und Olmütz
+brannte auf unserem Herzen und &ndash; was ich außerdem
+von Bekannten und Freunden hatte, saß im
+Zuchthaus oder war verbannt. Tröstliche Nachrichten
+für einen Heimkehrenden; aber es überraschte mich
+kaum. Als ich Deutschland im März 49 verließ,
+saß der mit den deutschen Farben bewimpelte Staatskarren
+schon fest im Schlamm, und man brauchte
+<a class="pagenum" name="page_284" title="284"> </a>
+damals kein Prophet zu sein, ihm sein Schicksal vorher
+zu sagen. Das Alles hatte sich jetzt erfüllt, die
+Reaction grünte und blühte, und wie in der Argentinischen
+Republik, that es den würdigen Staatsmännern
+nur leid, daß sie nicht auch Wald und Himmel
+mit ihren respectiven Landesfarben schwarz und weiß
+oder schwarz und gelb oder weiß und blau anstreichen
+konnten.</p>
+
+<p>Was half's! Es mußte ertragen werden, und nur
+die <em class="gesperrt">Hoffnung</em> konnte uns selbst unser damaliger
+Zustand nicht rauben.</p>
+
+<p>In Bremen besorgte ich so rasch als möglich was
+ich zu besorgen hatte, fuhr dann nach Hamburg hinüber,
+dort einige von Sidney herübergeschickte Sachen,
+meist Indianische Waffen, in Empfang zu nehmen,
+und eilte nun, so rasch mich Dampf und Eisenschienen
+bringen konnten, nach Leipzig, meine damals in
+Wien lebende Familie wieder zu sehen.</p>
+
+<p>Unterwegs mußte ich erst noch an der Preußischen
+Grenze eine Paßplackerei überwinden. Mein Paß
+war seit drei Monaten verfallen und außerdem in
+einem Zustand, wie ihn ein Preußischer Grenzbeamter
+wohl kaum je unter Händen gehabt. In Brasilien
+und besonders in der Argentinischen Republik
+wie in Batavia, selbst von den französischen Behörden
+<a class="pagenum" name="page_285" title="285"> </a>
+auf Tahiti war freilich allen Anforderungen, die
+selbst ein deutsches Postbüreau stellen konnte, genügt;
+an allen übrigen Landungsplätzen hatte sich aber kein
+Mensch um einen Paß bekümmert, und ich war nicht
+leichtsinnig genug gewesen, mir unnöthige Laufereien
+und Geldausgaben zu machen. Nur um die ganze
+Route auf dem Paß zu haben visirte ich ihn mir, aus
+angeborenem Pflichtgefühl, dort selbst, und diese Mißachtung
+eines <em class="gesperrt">officiellen</em> Visum schien die Polizeibeamten
+am meisten zu erschüttern. Trotzdem behandelten
+sie mich humaner als ich erwartet hatte, und
+mit einem sanften Verweis über mein rücksichtsloses
+Handeln: »Aber lieber Herr, Sie reisen in der ganzen
+Welt herum und lassen nirgends visiren,« wurde
+mir erlaubt, meine Reise ungehindert fortzusetzen.</p>
+
+<p>In Leipzig, wo ich einen Tag bleiben mußte, kam
+ich Abends spät an, und wollte noch meinen dort wohnenden
+Schwager aufsuchen. Seine Adresse hatte ich;
+ich wußte nämlich die Straße und Hausnummer, es
+war aber schon so dunkel, daß ich die Nummer nicht
+mehr erkennen konnte, und die vollkommen menschenleere
+Quergasse langsam niederschreitend, hoffte ich
+an irgend einem Haus einen Menschen zu finden, den
+ich fragen konnte.</p>
+
+<p>Da verließ Jemand vor mir eine Thür und ging
+<a class="pagenum" name="page_286" title="286"> </a>
+die Straße hinab; es war ein Mann in Hemdsärmeln,
+jedenfalls ein Markthelfer, mehr konnte ich in
+der Dunkelheit nicht erkennen. Als ich ihn eingeholt,
+frug ich ihn, ob er nicht zufällig wisse, in welcher Gegend
+hier Nr. 22 liege.</p>
+
+<p>»Ja wohl, Herr Gerstäcker,« sagte der Mann so
+ruhig, als ob er mir noch gestern und alle Tage hier
+in derselben Straße begegnet wäre, und wir jetzt
+hellen Sonnenschein und nicht finstere Nacht gehabt
+hätten. Es lag ordentlich etwas Geisterhaftes in dieser
+Nennung meines Namens unter solchen Umständen,
+und unwillkührlich frug ich, »aber kennen Sie
+mich denn?« &ndash; »Na, werd' ich <em class="gesperrt">Sie</em> nicht kennen,«
+sagte der Mann &ndash; »da drüben ist gleich das Haus.«
+&ndash; Incognito hätte ich <em class="gesperrt">hier</em> nicht reisen können.</p>
+
+<p>Den nächsten Tag verbrachte ich, wie schon gesagt,
+in Leipzig, um vor allen Dingen einen neuen Paß
+nach Oestreich zu bekommen. Ein merkwürdiges Gefühl
+war es mir aber dabei, durch die alten bekannten
+Straßen zu gehen und in den Läden, in den Fenstern
+die nämlichen Menschen mit der nämlichen Beschäftigung
+zu sehen, wie ich sie vor langen Jahren verlassen
+hatte. Die waren nicht fort gewesen in der
+ganzen Zeit; die hatten Tag für Tag ihrem Beruf an
+derselben Stelle obgelegen und während mir eine
+<a class="pagenum" name="page_287" title="287"> </a>
+Fluth von Erinnerungen durch die Seele ging, kannte
+die ihre kein anderes Bild, als diese selben engen
+Straßen boten.</p>
+
+<p>So sitzen hier Leute, die ich mich besinnen kann
+auf der nämlichen Stelle gesehen zu haben, als ich
+noch, ein Knabe, da in die Schule ging. Sie kamen
+mir damals schon alt und ehrwürdig vor und sahen
+heute genau noch so aus; nur daß sie früher keine
+grauen Haare hatten. Dieselben Menschen sind immer
+dageblieben, und wo bin ich indessen herumgewandert
+&ndash; was hab' ich erlebt &ndash; was gesehen &ndash; und wie
+drängt es mich noch immer neuen Scenen entgegen
+zu eilen, während diese still und genügsam in dem
+engen Kreise sich bewegen, den ihnen die eigene Wahl
+oder das Schicksal angewiesen. Und wenn wir sterben,
+ruhen wir vielleicht neben einander, und die Erinnerung
+ist todt und fort.</p>
+
+<p>Und soll ich dir, freundlicher Leser, jetzt erzählen,
+wie ich nach Brünn kam, bis wohin mir meine Frau
+mit dem Kind entgegen fahren wollte &ndash; wie ich mich
+von Nachtfahrten und übermäßiger Anstrengung zum
+Tod erschöpft in meinen Kleidern auf das Bett geworfen
+hatte, den um Mitternacht eintreffenden Zug dann
+zu erwarten? Wie mich der Kellner nicht geweckt, und
+plötzlich mitten in der Nacht Frau und Kind, die ich
+<a class="pagenum" name="page_288" title="288"> </a>
+in 39 Monden nicht gesehen, im Zimmer standen, und
+wie der kleine, indessen vierjährig gewordene Bursch,
+seine Aermchen um meinen Nacken legte und mit
+seiner lieben Stimme flüsterte: »du weggelaufener
+Papa?« &ndash; Es geht nicht &ndash; es geht wahrhaftig nicht,
+Worte sind nicht im Stande das zu beschreiben; das
+muß erlebt, empfunden sein, und &ndash; ich möchte gleich
+wieder auf Reisen gehen, nur um <em class="gesperrt">den</em> Augenblick noch
+einmal zu erleben.</p>
+
+
+
+
+<h2>Wenn wir einmal sterben.<a class="pagenum" name="page_289" title="289"> </a></h2>
+
+
+<p>Oft, wenn ich in meinem Zimmer sitze und mein
+Blick über die aus allen Welttheilen zusammengetragenen
+Gegenstände schweift, die mir so lieb sind, weil
+sich an jedes einzelne eine, oft freudige, oft bittere Erinnerung
+knüpft, fällt mir eine Scene aus früherer Zeit
+ein.</p>
+
+<p>In einem großen alten Hause in ** hatte ein
+alter Herr viele lange Jahre hindurch so abgeschlossen
+gelebt, daß er mit Niemandem da draußen &ndash; wenigstens
+nie direkt &ndash; in Berührung kam. Eine alte
+Haushälterin und ein alter Gärtner besorgten seine
+Arbeiten, und nur Abends, wenn in dem obersten
+Erkerstübchen, wo die alte Haushälterin schlief, Licht
+angezündet wurde, sah man, daß die Leute drinnen
+noch lebten, denn sonst ließ sich den ganzen Tag keine
+Seele, weder an einem der dicht verhangenen Fenster
+noch in der Thür blicken.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_290" title="290"> </a>
+Der Eigenthümer selber verließ seine Wohnung
+nie &ndash; einen Tag im Jahre ausgenommen &ndash; am ersten
+Weihnachtsfeiertag, und dann auch nur &ndash; mochte
+es wettern und stürmen, wie es wollte &ndash; um hinaus
+auf den Gottesacker zu gehen und daselbst ein Grab
+zu besuchen. Allerdings hatten sich die Müßiggänger
+in der Stadt schon die größte Mühe gegeben, um herauszubekommen,
+wer unter dem kleinen einfachen
+Hügel ruhe, an dem der Greis eine volle Stunde
+betete &ndash; aber vergebens. Kein Kreuz, keine Tafel
+kündete den Namen. Der frühere Todtengräber war
+gestorben, aus dem Buch, das er mit wunderlichen
+Zeichen und Figuren geführt, ließ sich nichts Bestimmtes
+mehr herausfinden, und die Leute sahen sich
+gezwungen, ihre eigenen Geschichten darüber zu ersinnen.
+Es läßt sich denken, daß die abenteuerlichsten
+Gerüchte die Stadt durchliefen &ndash; aber auch nur eine
+Zeit lang. Wie der alte Herr Jahr nach Jahr das
+nämliche trieb, dabei Niemandem etwas in den Weg
+legte, wurde man es endlich müde, sich um ihn zu
+bekümmern, und erst sein Tod erweckte die schon fast
+vergessenen Gerüchte von Neuem &ndash; allein auch sein
+Tod brachte keine Aufklärung über sein früheres Leben.</p>
+
+<p>Wie es mit dem Testament gewesen war, weiß
+ich nicht mehr, nur soviel erinnere ich mich, daß die
+<a class="pagenum" name="page_291" title="291"> </a>
+Erben keineswegs zufrieden sein mußten, denn große
+Legate waren den Dienern vermacht, und die außerordentlich
+einfache und dadurch fast werthlose Einrichtung
+des Hauses sollte in dessen Räumen selber öffentlich
+versteigert werden.</p>
+
+<p>Nach alle dem läßt es sich denken, daß ein großer
+Theil der Bewohner von ** neugierig war, die
+Räume zu betreten, die bis jetzt von dem alten wunderlichen
+Mann als unnahbares Heiligthum verschlossen
+und verriegelt gehalten waren. Die von dem
+Magistrat herbeorderten Beamten hatten wirklich ihre
+Noth, die zudringlichen Gaffer in ihren Schranken zu
+halten, damit sich im Gedränge nicht auch verworfenes
+Gesindel mit einschlich und die Hand an fremdes
+Eigenthum legte.</p>
+
+<p>Stube nach Stube wurde deshalb nur derart geöffnet,
+daß man eine andere erst aufschloß, wenn die
+in der einen befindlichen Gegenstände verkauft und
+ihren jetzigen Besitzern überwiesen waren. Dadurch bekamen
+es die Neugierigen endlich satt, sich nur herumstoßen
+und drängen zu lassen, ohne weiter etwas zu
+sehen, als öde Zimmer und altmodische Möbel und
+Schränke. Nach und nach verliefen sich die Meisten
+und es blieben fast nur Solche zurück, die wirklich
+Lust zu kaufen hatten.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_292" title="292"> </a>
+So gelangten wir endlich, nachdem eine Masse
+von Schränken, Tischen, Stühlen, alten Bildern, zu
+Spinneweb gewaschenen Gardinen und hundert andern
+Kleinigkeiten verkauft oder vielmehr um einen Spottpreis
+verschleudert waren, in die Studirstube des alten
+Mannes &ndash; wenn ein Platz so genannt werden kann,
+in dem ein nur wenig benutzter Schreibtisch und ein
+kleines dürftiges Regal mit einigen zwanzig, meist
+französischen und holländischen Büchern stand.</p>
+
+<p>Der Verstorbene war augenscheinlich kein Gelehrter
+gewesen, das aber hier jedenfalls der Platz, wo er
+seine meiste Zeit, die langen Jahre seiner Einsamkeit,
+träumend und durch nichts gestört verbracht, und es
+überkam mich ein eigenes und drückendes Gefühl, als
+ich die kalten, gleichgültigen Gesichter sah, die sich
+hier jetzt mit prüfenden Blicken in dem engen Raum
+umschauten und die Gegenstände taxirten. Es war
+mir, als ob ein Grab entweiht würde, das Grab einer
+Seele, deren Träume bis jetzt hier eingesargt gewesen.</p>
+
+<p>Aber was kümmerte das die Käufer oder den
+Auctionator, der Stück nach Stück ruhig und gleichmüthig
+unter den Hammer brachte! Vor dem Tische
+stand ein alter, mit Leder überzogener Lehnstuhl, über
+dem Tisch hing ein kleines, ziemlich mittelmäßig ausgeführtes
+Bild, eine Landschaft mit einer alten knorrigen
+<a class="pagenum" name="page_293" title="293"> </a>
+Eiche im Vordergrund, die an dem Ufer eines
+Weihers stand. Unter der Eiche lag ein Frauenhut
+und ein Brief. In dem Lehnstuhl war der alte Mann
+gestorben, und auf dem Tisch stand ein kleines flaches
+Mahagonikästchen.</p>
+
+<p>Ein Jude kaufte den Tisch, den Lehnstuhl und nachher
+das Kästchen auch, das Bild, da Niemand darauf
+bieten wollte, bekam er zu. In dem Kästchen stak der
+Schlüssel, er öffnete es, es lagen einige Sachen darin,
+und er wühlte mit der Hand darin herum. Als ihm
+das Kästchen zugeschlagen war, drehte er es um und
+schüttete den Inhalt auf den Boden. Es enthielt auch
+nichts Aufhebenswerthes: ein paar trockene, schon fast
+verkrümelte Blumen, ein Stückchen Holz mit ein paar
+dürren Blättern, ein paar Streifen vergilbtes Papier
+mit unleserlichen Zügen, ein kleines blauseidenes Band,
+einen zerschnittenen Handschuh und noch eine Anzahl
+anderer, eben so werthloser verwitterter Dinge. Was
+sollte der Käufer mit dem Plunder machen? er wurde
+später mit dem übrigen Staub und Gerumpel hinaus
+gekehrt, und doch war er das Heiligthum eines ganzen
+Lebens gewesen.</p>
+
+<p>Und wenn <em class="gesperrt">wir</em> einmal sterben?</p>
+
+<p>In meinem Zimmer hängen eine Unmasse von
+werthlosen Dingen, Waffen aus allen Welttheilen
+<a class="pagenum" name="page_294" title="294"> </a>
+von Stein, Holz, Stahl, Wallroß- und Haifischzähnen,
+und wenn ich einmal sterbe, finden sie vielleicht ihren
+Weg in ein Naturaliencabinet, wo dann der Aufseher
+mit Hülfe des Katalogs den Besuchern erklären kann:
+das Stück stammt dort, jenes von da her, diese Waffen
+führen die australischen Eingebornen, jene sind auf
+den Südseeinseln, in Afrika, in Californien, in Südamerika,
+in China, in Java daheim &ndash; das bleibt
+Alles, denn die Erinnerung ist todt, die ihnen jetzt
+Leben verleiht.</p>
+
+<p>Jenes alte lederne Jagdhemd, mit seinen indianischen
+Ausfranzungen, habe ich aus selbsterlegten
+Hirschdecken auch selber gegerbt und genäht und manches
+lange Jahr getragen; jenes alte Messer führte
+ich zweiundzwanzig Jahr in Freud und Leid; jene
+Bolas holte ich mir aus den chilenischen Cordilleren,
+und wie der Blick darauf fällt, sitze ich wieder bei dem
+tollen Trinkgelage jener Stämme, sehe die mit trübem
+Aepfelwein gefüllten Kuhhörner im Kreis herumgehen
+und die junge dicke Kazikentochter mir gegenüber,
+die mir jenes Diadem von bunten Perlen gab. Die
+Lanze dort schleuderte einst ein australischer Wilder
+nach mir; jene Mumienhand steckte mir ein junger
+ägyptischer Epigone unter den Tempelsäulen von Karnak
+in die Tasche, da ich sie ihm nicht um den üblichen
+<a class="pagenum" name="page_295" title="295"> </a>
+Sixpence abkaufen wollte; jenen Bogen erhandelte
+ich von einem californischen Indianer um selbstgegrabenes
+Gold aus seinen Bergen. Mit diesen Stücken
+trockenen Guiavenholzes rieb sich ein bildschönes
+Mädchen auf Tahiti einst Feuer, um ihre Cigarre
+daran anzuzünden; jenen Wallfischzahn brach ich selber
+aus dem Kiefer eines frischgefangenen Cachelot;
+den Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß arbeitete
+ich mir inmitten eines furchtbaren Sturmes am
+Cap Horn; das Hirschgeweih da oben holte ich mir
+aus der Bandong-Ebene in Java, und jene kleinen
+ungeschickt geschnittenen Figuren aus vegetablischem
+Elfenbein kaufte ich auf dem Markt zu Quito.</p>
+
+<p>Und welche Unzahl von Kleinigkeiten, die ein
+Anderer unbedingt zum Kehrichthaufen verdammen
+würde, bilden die Schätze, die ich um mich her aufgehäuft!
+Vier Steinbrocken, die jeder Geologe verächtlich
+bei Seite werfen würde: ein gewöhnliches Stück
+Kalkstein mit ein paar dunklen Flecken darauf &ndash; die
+Schweißtropfen meines ersten starken Gemsbocks, den
+ich hoch am Karwendelgebirg in Tyrol in voller Flucht
+durch's Herz schoß; ein gewöhnlicher Kieselstein, aus
+den Wassern des Pozuzu in Peru &ndash; die Erinnerung
+an den Uebergang jenes reißenden Bergstromes, an
+einer einzelnen wilden Rebe; ein kleines Stück Granit
+<a class="pagenum" name="page_296" title="296"> </a>
+vom 16,000 Fuß hohen Gipfel der Cordilleren
+in Peru; ein anderes verwittertes Gestein vom höchsten
+Paß der La Plata-Staaten nach Chile; eine
+gelbe Feder vom Kopf eines Kakadu, des ersten,
+leider nicht des einzigen, den ich im australischen Wald
+erlegen und verzehren mußte, um nicht zu verhungern;
+ein langes Stück Koralle, das ein australisches Mädchen
+als einzigen Schmuck und Kleidungsstück durch
+den Nasenknorpel trug; ein rothes Band, das ich, in
+dem jetzt verschütteten Mendoza, im Knopfloch führen
+mußte, um unter Rosa's Regierung einen Paß auf
+der Polizei zu bekommen; der alte hölzerne Quirl
+und Löffel, mit dem ich in Ecuador tagtäglich, lange
+Monate hindurch meine Chocolade quirlte und rührte;
+selbstgewaschenes Gold aus Californien; Silber aus
+Cerro de Pasco, der höchsten Stadt der Welt; Wüstensand
+aus Aegypten; künstliche Federblumen aus
+Brasilien, und was mein Schreibtisch an geheimen
+Schätzen birgt, an trockenen Blumen und an Liebeszeichen
+aus der Jugendzeit, Du lieber Gott, was Anderes
+ist das, als was der Trödler dort in dem alten
+Haus, aus jenem Mahagonikasten auf die Erde schüttete:
+&ndash; und doch ein Lebensalter hindurch mit dem
+eigenen Herzblut erkauft und gehegt und gepflegt!</p>
+
+<p>Und wer von uns Allen hat nicht solche Liebeszeichen,
+<a class="pagenum" name="page_297" title="297"> </a>
+wem von uns Allen ruft nicht ein Band, ein
+trocknes Blatt, ein alter, wieder und wieder gelesener
+Brief alte Liebe und, wenn auch schmerzliche, Erinnerungen
+der Seele wach? und wenn wir einmal
+sterben? dann kommen rauhe Hände und zerstören
+diese »Leichen unserer Erinnerung,« denn das
+Leben fehlt ihnen, was ihnen diese für uns eingehaucht.</p>
+
+<p>Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?
+Nein, es ist nicht möglich, denn sie bilden einen Theil,
+und zwar den edelsten Theil unseres Selbst; sie sind
+die kleinen unscheinbaren, aber trotzdem unzerreißbaren
+Glieder jener Kette, die uns an die Heimath
+binden. Sie sind die Tröster in mancher bitteren, sorgenschweren
+Stunde, die Märchenerzähler unserer
+eigenen Jugend, und wie der Mensch, wenn ihm die
+Hoffnung genommen würde, zum Selbstmörder werden
+müßte, und wie er deshalb die Hoffnung hegt
+und pflegt, weil er mit ihr die Brücke zu seiner Zukunft
+baut, so hält er auch die kleinen Zeichen fest als
+theure Gaben der Vergangenheit.</p>
+
+<p>Wohl wäre es besser, wir selber vernichteten diese
+kleinen unscheinbaren Liebesboten, wenn wir einmal
+fühlen, daß unser Ende naht; aber wer fühlt das?
+Wer mag es sich bis zum letzten entscheidenden Augenblick
+<a class="pagenum" name="page_298" title="298"> </a>
+wohl eingestehen: Jetzt ist vorbei, jetzt weist der Zeiger
+auf die letzte Stunde? Nicht Einer aus Tausenden.
+Noch mit zitternder Hand, mit schon halbgebrochenem
+Auge fällt unser Blick darauf, und wenn wir dann
+sterben, dann fliegt mit unsrer Seele auch die Seele
+unserer Reliquien &ndash; Gott nur weiß wohin, und
+unsere Leichen werden Staub.</p>
+
+<hr />
+
+
+
+
+<div class="tnote break">
+
+<h2 class="nobreak margtop2">Hinweise zur Transkription</h2>
+
+
+<p class="noindent">Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Offensichtliche
+Satzfehler wurden korrigiert, bei Zweifeln der Originaltext beibehalten.
+Eine Liste der vorgenommenen Änderungen befindet sich hier am Buchende,
+Änderungen der Zeichensetzung sind nicht aufgeführt.</p>
+
+
+<h3><b>Änderungen</b></h3>
+
+<p class="noindent"><i>Seitenangabe<br />
+originaler Text<br />
+geänderter Text</i></p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_001">Seite 1</a><br />
+als er, vierzehn Tage später, um Bertha Vollmer anhielt<br />
+als er, vierzehn Tage später, um Bertha <b>W</b>ollmer anhielt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_003">Seite 3</a><br />
+und wenn sie ihn auch nie ein unfreundlich Gesicht<br />
+und wenn sie ih<b>m</b> auch nie ein unfreundlich Gesicht</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_014">Seite 14</a><br />
+freundlich ihn empfing, wenn er endlich znrückkehrte<br />
+freundlich ihn empfing, wenn er endlich z<b>u</b>rückkehrte</p>
+
+<p class="noindent">
+Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihn genommen<br />
+Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ih<b>m</b> genommen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_015">Seite 15</a><br />
+wo die Gattin plötzlich, unvorbereiiet abgerufen wurde<br />
+wo die Gattin plötzlich, unvorberei<b>t</b>et abgerufen wurde</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_021">Seite 21</a><br />
+ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmischs Wetter<br />
+ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisch<b>e</b>s Wetter</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_036">Seite 36</a><br />
+ihre verschiedenen Freundinen einmal wieder aufzusuchen<br />
+ihre verschiedenen Freundin<b>n</b>en einmal wieder aufzusuchen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_039">Seite 39</a><br />
+sie selbst in ihrer Mitte<b>e</b> in Individum entdeckten<br />
+sie selbst in ihrer Mitte <b>e</b>in Individu<b>u</b>m entdeckten</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_040">Seite 40</a><br />
+als das sie sich wunderten<br />
+als da<b>ß</b> sie sich wunderten</p>
+
+<p class="noindent">
+diesen doch sicher höchst<b>en</b> interessanten Fall<br />
+diesen doch sicher höchst interessanten Fall</p>
+
+<p class="noindent">
+erst auf äußere Veranlassang von sich gegeben<br />
+erst auf äußere Veranlass<b>u</b>ng von sich gegeben</p>
+
+<p class="noindent">
+E ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!<br />
+E<b>s</b> ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_043">Seite 43</a><br />
+sagte die Frau Präsidentin mit einer <b>einer</b> wegwerfenden Bewegung<br />
+sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung</p>
+
+<p class="noindent">
+von der kleinen lehhaften Hofräthin dabei warm unterstützt<br />
+von der kleinen le<b>b</b>haften Hofräthin dabei warm unterstützt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_047">Seite 47</a><br />
+Drittes Kapitel<br />
+Drittes <b>C</b>apitel</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_048">Seite 48</a><br />
+um den Justizrath sein Gesicht zuzukehren<br />
+um de<b>m</b> Justizrath sein Gesicht zuzukehren</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_049">Seite 49</a><br />
+<b>n</b>eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend<br />
+eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_054">Seite 54</a><br />
+Bertling aber, ärgerlich darüber, das er eine verfehlte<br />
+Bertling aber, ärgerlich darüber, da<b>ß</b> er eine verfehlte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_069">Seite 69</a><br />
+wie ein Kind, daß ein neues Spielzeug bekommen hat<br />
+wie ein Kind, da<b>s</b> ein neues Spielzeug bekommen hat</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_072">Seite 72</a><br />
+beobachtete ihn über die Brlle weg<br />
+beobachtete ihn über die Br<b>i</b>lle weg</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_073">Seite 73</a><br />
+während ihre Freundin kam aufzuschauen wagte<br />
+während ihre Freundin ka<b>u</b>m aufzuschauen wagte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_074">Seite 74</a><br />
+An den Feustern hingen aber Gardinen<br />
+An den Fe<b>n</b>stern hingen aber Gardinen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_077">Seite 77</a><br />
+denn die Frau Heßbeger begann jetzt in feierlicher Weise<br />
+denn die Frau Heßbe<b>r</b>ger begann jetzt in feierlicher Weise</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_081">Seite 81/82</a><br />
+sonst bekommen wir nach-ihre Confusion<br />
+sonst bekommen wir nach<b>her</b> Confusion</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_116">Seite 116</a><br />
+abgelegenen Straße vier steile<b>n</b> dunkle<b>n</b> Treppen hinauf geklettert<br />
+abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_118">Seite 118</a><br />
+wußte sie das Gespäch auf das Abenteuer<br />
+wußte sie das Gesp<b>r</b>äch auf das Abenteuer</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_119">Seite 119</a><br />
+»Du er<b>r</b>innerst Dich doch,« fuhr Pauline fort<br />
+»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_132">Seite 132</a><br />
+mit vor Zorn ger<b>r</b>ötheten Wangen<br />
+mit vor Zorn gerötheten Wangen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_138">Seite 138</a><br />
+»Bitte tausendmal um Entschnldigung,« sagte Lorenz<br />
+»Bitte tausendmal um Entsch<b>u</b>ldigung,« sagte Lorenz</p>
+
+<p class="noindent">
+sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Lase frischen Wassers<br />
+sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer <b>V</b>ase frischen Wassers</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_141">Seite 141</a><br />
+werde ich <b>ich</b> mich bis zur nächsten Station bei den Koffern<br />
+werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_144">Seite 144</a><br />
+die Cigarre schmeckte ausgezeichet<br />
+die Cigarre schmeckte ausgezeich<b>n</b>et</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_150">Seite 150</a><br />
+Reiseanzug den entschieden englichen Charakter<br />
+Reiseanzug den entschieden engli<b>s</b>chen Charakter</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_152">Seite 152</a><br />
+Engländer auf den Continent<br />
+Engländer auf de<b>m</b> Continent</p>
+
+<p class="noindent">
+Gepäckträgern und Lohnbedienteu geprellt<br />
+Gepäckträgern und Lohnbediente<b>n</b> geprellt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_155">Seite 155</a><br />
+nach seinem Schein uud fluchte auf deutsch<br />
+nach seinem Schein u<b>n</b>d fluchte auf deutsch</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_156">Seite 156</a><br />
+kein anderer Ausweg, als den gegebenen Rath zu folgen<br />
+kein anderer Ausweg, als de<b>m</b> gegebenen Rath zu folgen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_164">Seite 164</a><br />
+Gewißheit über die Persönlichkiet erlangen konnte<br />
+Gewißheit über die Persönlichk<b>ei</b>t erlangen konnte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_173">Seite 173</a><br />
+meine Hälfte ebenfalls zur rechteu Zeit einbringe<br />
+meine Hälfte ebenfalls zur rechte<b>n</b> Zeit einbringe</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_179">Seite 179</a><br />
+um ihre Morgentoilete zu beenden<br />
+um ihre Morgentoilet<b>t</b>e zu beenden</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_181">Seite 181</a><br />
+in voller Toilete, mit Schmuck und Flittertand<br />
+in voller Toilet<b>t</b>e, mit Schmuck und Flittertand</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_182">Seite 182</a><br />
+verzeihen Sie der Aufregumg, in der Sie<br />
+verzeihen Sie der Aufregu<b>n</b>g, in der Sie</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_184">Seite 184</a><br />
+schon gar keinen möglicheu Ausweg mehr sah<br />
+schon gar keinen mögliche<b>n</b> Ausweg mehr sah</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_190">Seite 190</a><br />
+Ich habe nichts als meinem ehrlichen Namen<br />
+Ich habe nichts als meine<b>n</b> ehrlichen Namen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_196">Seite 196</a><br />
+diesen Platz so rasch als möglich zu erreicheu<br />
+diesen Platz so rasch als möglich zu erreiche<b>n</b></p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_197">Seite 197</a><br />
+Unachtsamkeit verdanke, den wie dieser einmal<br />
+Unachtsamkeit verdanke, den<b>n</b> wie dieser einmal</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_200">Seite 200</a><br />
+ob er aber einen Schnurrbatt gehabt<br />
+ob er aber einen Schnurrba<b>r</b>t gehabt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_201">Seite 201</a><br />
+als ein kleines Mädchen, daß dabei gestanden<br />
+als ein kleines Mädchen, da<b>s</b> dabei gestanden</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_204">Seite 204</a><br />
+»J gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«<br />
+»J<b>a</b> gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_211">Seite 211</a><br />
+und borgte sich noch außerden vom Kellner<br />
+und borgte sich noch außerde<b>m</b> vom Kellner</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_213">Seite 213</a><br />
+alle harmlosen Spiele nnd Vergnügungen hinübertönte<br />
+alle harmlosen Spiele <b>u</b>nd Vergnügungen hinübertönte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_214">Seite 214</a><br />
+wollten wir alle zusammen schmeißeu<br />
+wollten wir alle zusammen schmeiße<b>n</b></p>
+
+<p class="noindent">
+der Lakai eine tiefe, erfurchtsvolle Verbeugung machte<br />
+der Lakai eine tiefe, e<b>h</b>rfurchtsvolle Verbeugung machte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_216">Seite 216</a><br />
+jede Weiblichket bei Seite lassend<br />
+jede Weiblichke<b>i</b>t bei Seite lassend</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_217">Seite 217</a><br />
+das Klimpern des Geldes und die montonen Worte<br />
+das Klimpern des Geldes und die mon<b>o</b>tonen Worte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_234">Seite 234</a><br />
+aber es fielen ihm in diesen Augenblick<br />
+aber es fielen ihm in diese<b>m</b> Augenblick</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_236">Seite 236</a><br />
+und die Erinn<b>n</b>erung an das Vergangene soll<br />
+und die Erinnerung an das Vergangene soll</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_242">Seite 242</a><br />
+nehmen die Leiden dieses armen Mädchen bald ein Ende<br />
+nehmen die Leiden dieses armen Mädchen<b>s</b> bald ein Ende</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_243">Seite 243</a><br />
+zweitausend Pfund, die er vereist oder verspielt<br />
+zweitausend Pfund, die er ver<b>r</b>eist oder verspielt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_251">Seite 251</a><br />
+zusammengezogenen Brau<b>n</b>en, daß Sie daß nicht thun<br />
+zusammengezogenen Brauen, daß Sie da<b>s</b> nicht thun</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_255">Seite 255</a><br />
+haben Sie mich auf Ihrem Besuch warten lassen<br />
+haben Sie mich auf Ihre<b>n</b> Besuch warten lassen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_262">Seite 262</a><br />
+weiter nach England braucht, da ich daß selber<br />
+weiter nach England braucht, da ich da<b>s</b> selber</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_282">Seite 282</a><br />
+Ein Fischerboot im Canal, daß wir wegen Zeitungen<br />
+Ein Fischerboot im Canal, da<b>s</b> wir wegen Zeitungen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_295">Seite 295</a><br />
+geschnittenen Figuren aus vegetablischen Elfenbein<br />
+geschnittenen Figuren aus vegetablische<b>m</b> Elfenbein</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_297">Seite 297</a><br />
+Und könn<b>n</b>en wir uns deshalb von ihnen trennen?<br />
+Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?</p>
+
+</div>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44239 ***</div>
+</body>
+</html>
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+The Project Gutenberg EBook of Unter Palmen und Buchen. Erster Band., by
+Friedrich Gerstäcker
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
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+Title: Unter Palmen und Buchen. Erster Band.
+ Unter Buchen. Gesammelte Erzählungen.
+
+Author: Friedrich Gerstäcker
+
+Release Date: November 20, 2013 [EBook #44239]
+
+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UNTER PALMEN UND BUCHEN. ***
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+ Unter Palmen und Buchen.
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+ Erster Band.
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+ Unter Buchen.
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+ Gesammelte Erzählungen
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+ Friedrich Gerstäcker.
+
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+
+
+
+
+ Inhaltsverzeichniß.
+
+
+ Seite
+ Eine alltägliche Geschichte 1
+
+ Die Vision 16
+
+ Folgen einer telegraphischen Depesche 131
+
+ Der Polizeiagent 140
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+ Eine Heimkehr aus der weiten Welt 274
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+ Wenn wir einmal sterben 289
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+Eine alltägliche Geschichte.
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+Es war auf einem Balle in der Erholung, daß Dr. Kuno Brethammer Fräulein
+Bertha Wollmer kennen lernte -- oder vielmehr zum ersten Male sah, und
+sich sterblich in sie verliebte.
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+Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid, einen sehr hübschen
+Kornblumenkranz im blonden Haar und sah wirklich allerliebst aus. Aber
+es bleibt immer ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine Hausfrau
+auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte der letzte Ort dazu sein,
+denn dort ist Alles in Licht gehüllt, und er wird geblendet und
+berauscht, wo er gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen auf dem
+rechten Fleck haben müßte.
+
+Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahl nicht zu bereuen, denn
+Bertha Wollmer war nicht allein ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit
+Geschmack zu kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav,
+ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später herausstellte,
+vortreffliche Wirtschafterin. -- Der Doctor hätte auf der Welt keine
+bessere Lebensgefährtin finden können.
+
+Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden. Er war etwa 34 Jahre
+alt, Advocat mit einer recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen,
+galt in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen Mann,
+schuldete keinem Menschen einen Pfennig und als er, vierzehn Tage
+später, um Bertha Wollmer anhielt, sagte das Mädchen nicht =nein=, und
+Vater und Mutter sagten =ja=, worauf dann noch in der nächsten Woche
+die Verlobungskarten ausgeschickt wurden. Zwei Monate später fand die
+Hochzeit statt.
+
+So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich miteinander, und Dr.
+Brethammer sah mit jedem Tage mehr ein, daß er eine außerordentlich
+glückliche Wahl getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib
+danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von Herzen, aber -- wie
+das oft so im Leben geht -- das, was sein ganzes Glück hier bildete,
+wurde ihm -- durch Nichts gestört -- endlich zur =Gewohnheit= und er
+=vernachlässigte=, was er hätte hegen und pflegen sollen.
+
+Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb nie geringer wurde,
+aber er vernachlässigte auch =die Form=, die in einem gewissen Grade in
+allen Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit seiner Frau,
+ja heftig, und wenn er auch dabei nicht die Grenzen überschritt, die
+jeder gebildete Mensch inne halten wird, that er ihr doch oft -- gewiß
+unabsichtlich -- recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein heftiges Wort
+entfahren war, hätte er es von Herzen gern widerrufen mögen, aber -- das
+ging leider nicht an, denn -- er durfte sich an seiner Autorität nichts
+vergeben.
+
+Nur zu =einer= Entschuldigung ließ er sich herbei: »Du weißt, ich
+bin jähzornig,« sagte er, »wenn's aber auch oft ein Bischen rauh
+herauskommt, so ist es ja doch nicht so schlimm gemeint und eben so
+rasch vergessen.«
+
+Ja, das war allerdings der Fall; =er= hatte es eben so rasch vergessen,
+aber =sie= nicht, und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht
+zeigte, wenn sie ihn immer bei sich entschuldigte und sein oft
+mürrisches Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er außer dem
+Hause gehabt -- ein =kleiner= Stachel blieb von jeder dieser Scenen in
+ihrem Herzen zurück, so viel Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung
+daran zu bannen; =einen= kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke
+zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei es noch so schnell
+vorübergezogen, und in einsamen Stunden konnte sie oft recht traurig
+darüber werden.
+
+Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der Vater mit großer und
+wirklich inniger Liebe hing -- und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen
+ab! -- Es ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und mußte sich
+oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur zum Mittagsessen zu kommen, aber
+Abends um sechs Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt,
+und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben bei Frau und Kindern
+zu sitzen, um sich seines häuslichen Glückes zu freuen, aber -- »er
+mußte dann doch ein wenig Zerstreuung haben« -- wie er sich selbst
+vorlog -- er mußte den Geschäftsstaub abschütteln und mit einem »Glas
+Bier« hinunterspühlen, und das geschah am besten im Wirthshaus, wo man
+nicht gezwungen war zu reden -- wenn man nicht reden wollte -- wo
+man einmal eine Partie Scat oder Billard spielte, um die ärgerlichen
+Geschäftsgedanken aus dem Kopf zu bringen -- und wie die Ausreden alle
+hießen, mit denen er allein =sich selber= betrog, denn seine Frau fühlte
+besser den wahren Grund.
+
+Er =amüsirte= sich nicht zu Haus. Er hatte seine Frau und Kinder
+unendlich lieb und würde Alles für sie gethan, jedes wirklich große
+Opfer für sie gebracht haben aber -- er verstand nicht, sich mit ihnen
+zu beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei Karten und Billard.
+
+Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau dabei! Er mochte noch
+so spät Abends zum Essen kommen, nie zeigte sie ihm ein unfreundliches
+Gesicht, nie frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder --
+wenigstens das jüngste -- waren dann schon meist zu Bett gebracht; er
+konnte ihnen nicht einmal mehr »gute Nacht« sagen, und ärgerlich über
+sich selber -- so sehr er auch vermied es sich selber einzugestehen --
+verzehrte er schweigend sein Abendbrod.
+
+Das waren die Momente, wo ihm der älteste Knabe ängstlich aus dem Weg
+ging, denn hatte er irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es
+in einer solchen Stunde, dann konnte er =sehr= böse und =sehr= heftig
+werden -- und die arme Mutter =litt= besonders schwer darunter.
+
+Wie oft nahm er sich vor, die Abende in seiner Familie, bei den Seinen
+zuzubringen, und er wußte ja, wie sich seine Frau darüber gefreut haben
+würde. So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so sorgsam sie
+auf Alles achtete, was dem Gatten eine Freude machen oder zu seiner
+Bequemlichkeit dienen konnte, so verständig war sie in jeder andern
+Hinsicht, und es gab Nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte mit ihr
+unterhalten mögen, Nichts, worin sie nicht im Stande gewesen wäre,
+einen vernünftigen Rath zu ertheilen. Er kannte und schätzte diese
+Eigenschaften an ihr -- er liebte sie dafür nur desto mehr, aber --
+wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte, daß sich die Spieltische
+besetzten oder die gewöhnliche _quatre tour_ zusammenkam, dann ließ es
+ihn nicht länger zu Hause ruhn.
+
+Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden, da sie aber nie
+gegen ihn klagte und ein häufiger wiederkehrendes Unwohlsein stets so
+viel als möglich vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden
+nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte, achtete er selber nicht
+viel darauf, oder hielt es doch keineswegs für gefährlich. Er hatte in
+der That =sehr= viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug -- nur
+seiner Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten lassen. Sobald er
+das aber ja einmal fühlte, wollte er es auch stets wieder gut machen,
+und überhäufte sie mit Geschenken -- ja, wo er einen Wunsch an ihren
+Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn -- soweit er eben mit Geld erfüllt
+werden konnte -- nur seine Abende widmete er ihr nicht. -- Er wollte
+auch eine Erholung haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit gegen
+die Seinen mäßigte er sich eben so wenig.
+
+»Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin,« sagte er in einer halben
+Abwehr, in halber Entschuldigung; »Ihr wißt wie's gemeint ist,« und
+damit war die Sache für =ihn= abgemacht, aber nicht für die Frau.
+
+Er war auch jetzt zu Zeiten, in Gegenwart Fremder heftig gegen sie,
+und fuhr sie rauh an. Er meinte es wirklich nicht so bös, wie die Worte
+klangen, aber es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen,
+so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen, wie weh er ihr
+gethan.
+
+So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft in X. gegründet
+worden und Brethammer Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball
+eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt, ja er kaufte
+ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid und that wirklich Alles, um sie zu
+überreden, ihm die Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie
+unwohl sei, aber er wollte es ihr nicht glauben, und erst als sie ihm
+mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten, und wie große Mühe
+sie sich gegeben, es nicht zu zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm
+auch ihr bleicheres Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen auf.
+Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon oft unwohl gewesen
+und hatte sich immer wieder erholt, auch diesmal würde es sicher
+vorübergehen, wenn sie sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen
+jedenfalls das Vernünftigste, daß sie =nicht= auf den Ball ging.
+
+Der Winter verging, Bertha wurde in der That nicht kränker, aber sie
+blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte sich zuletzt an diesen Zustand. Er
+hatte anfangs seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan -- und
+ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! -- auf die Länge der Zeit aber
+vergaß er das wieder -- es war ja nicht mehr nöthig. Seine _quatre tour_
+und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte sich ganz vortrefflich
+dabei. Kam er dann Abends nach Haus -- ob er sich auch einmal um eine
+halbe oder ganze Stunde verspätet hatte -- fand er den Tisch gedeckt,
+und war es so spät geworden, daß die Kinder zu Bett geschickt werden
+mußten, so setzte sich sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.
+
+Im Frühjahr schienen Bertha's Leiden heftiger wiederzukehren, und der
+Arzt kam fast täglich, aber auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte
+selber nicht, daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als es wirklich war,
+oder vielleicht mehr vor ihm verbarg, als sie hätte thun sollen; aber
+sie fürchtete, dem Gatten das Haus dadurch noch ungemüthlicher zu
+machen, und trug deshalb lieber Alles allein.
+
+Eines Abends, im Mai, saß Dr. Brethammer wieder am Kartentisch und zwar
+in einem Garten, etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin
+die kleine Gesellschaft bei schönem Wetter allabendlich auswanderte, als
+ein Bote hereingestürzt kam und ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es
+standen nur wenige Worte darauf:
+
+»Komm zu mir. -- Bertha.« Aber die Worte waren mit zitternder Hand
+geschrieben, und den Mann überkam, als er sie gelesen, eine ganz
+sonderbare Angst.
+
+Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha krank geworden? daß sie
+fortwährend krank gewesen, wollte er sich gar nicht gestehen, aber der
+Bote wußte weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen und gut
+bezahlt, damit er so schnell wie möglich diesen Brief übergeben sollte.
+-- Mitten im Spiel hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe
+übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte er in die Stadt
+zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt -- unten im Hause traf er sein
+Mädchen, die eben aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.
+
+»Was um Gotteswillen ist vorgefallen -- meine Frau --?«
+
+»O gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!« rief das Mädchen. »Sie hat so
+danach verlangt, Sie noch einmal zu sehen.«
+
+Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf kam. Der Arzt stand neben
+dem Bett, streckte ihm die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ
+das Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche, die kalte Hand
+seines treuen Weibes mit Küssen und Thränen bedeckend.
+
+»Mein Kuno,« flüsterte die zitternde Stimme, »o wie lieb das von Dir
+ist, daß Du noch einmal gekommen bist -- mir ist nur so kurze Zeit
+geblieben -- das Alles brach so schnell herein.«
+
+»Bertha, Bertha, Du kannst -- Du darfst mich nicht verlassen,«
+schluchzte der Mann und schlang seinen Arm krampfhaft um sie.
+
+»Du thust mir weh,« bat sie leise, »fasse Dich Kuno, es muß sein -- ich
+muß fort von Dir und den Kindern -- o sei gut mit ihnen, Kuno -- sei
+nicht so rauh und heftig mehr -- sie sind ja lieb und brav, und Du, --
+hast sie ja auch so lieb.«
+
+Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen, mit bebender Stimme
+gesprochenen Bitte lag ein so furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen
+Gefühlen, seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte geben
+konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die Sterbende auf das Bett, und
+ihre Hand lag auf seinem Haupt und drückte es leise an sich.
+
+»Kuno,« hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.
+
+»Bertha, meine Bertha!« rief der Mann, sein Antlitz zu ihr hebend,
+»fühlst Du Dich besser?«
+
+»Leb wohl!«
+
+»Bertha!« stöhnte der Unglückliche, »Bertha!«
+
+»Mach mir den Abschied nicht schwer,« bat die Frau, »die Kinder habe ich
+schon geküßt, ehe Du kamst -- ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß
+mich ausreden,« flehte sie, »mir bleibt nicht mehr viel Zeit und das
+Sprechen wird mir schwer -- leb wohl, Kuno -- habe noch Dank -- tausend
+Dank für all das Liebe und Gute, was Du mir gethan -- sei mir nicht bös,
+wenn ich vielleicht --«
+
+»Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das Herz --«
+
+»Es ist gut -- es ist vorbei -- es wird Licht um mich -- leb' wohl Kuno
+-- sei gut mit den Kindern -- auf Wiedersehen!«
+
+»Bertha!« -- -- es war vorbei. Der Mann knieete neben der Leiche seiner
+Frau, und es war ihm, als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein
+und trostlos in einer Wüste stände.
+
+Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie ein Traum. Fremde Leute kamen
+und gingen ein und aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige
+Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht, und selbst als sie die
+Leiche in den Sarg legten, blieb er still und theilnahmlos. Die Kinder
+kamen über Tag zu ihm, hingen an seinem Hals und weinten; er preßte
+sie fest an sich und küßte sie und blieb dann wieder allein bei der
+Geschiedenen.
+
+Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft werden mußte, und
+jetzt war es, als ob er sich dem widersetzen wolle. Aber es traten eine
+Masse Leute in's Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit ihm
+sprachen und ihm zuredeten, daß er sich den Unglücksfall nicht so schwer
+zu Herzen nehmen solle. Er hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er
+fühlte, daß was hier geschah -- eben geschehen =mußte=, und duldete
+Alles.
+
+Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern nach Haus zurück, schloß
+sich hier in sein Zimmer ein und weinte sich recht von Herzen aus.
+Danach wurde ihm etwas leichter -- und es ist ein altes und wahres
+Sprüchwort -- die Zeit mildert =jeden= Schmerz, denn das Menschenherz
+wäre sonst nicht im Stande zu tragen, was nach und nach ihm aufgehoben
+bleibt. =Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber -- die Zeit mildert und
+sühnt keine Schuld.=
+
+Den =Verlust= der Gattin hätte er ertragen -- mit bitterem Weh wohl, es
+ist wahr, denn er hatte sie treu und innig geliebt, aber mit Jahr und
+Tag wäre die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie mehr ihr
+treues Auge wieder schauen zu können, mehr in den Hintergrund getreten,
+und ihm nur die Erinnerung an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt aber
+nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht allein das Gefühl der
+=Schuld=, nein auch die =Reue= über vergangene Zeit mit dem Bewußtsein,
+diese nie zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen oder
+ungeschehen machen zu können, und das bohrte sich ihm in's Herz, nicht
+mit der Zeit weichend, nein, mit den wachsenden Jahren fester und fester
+und unzerstörbarer.
+
+Draußen die Welt merkte Nichts davon; er war immer ernst und
+abgeschlossen für sich gewesen, und daß er sich jetzt vielleicht noch
+etwas zurückgezogener hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim
+in seiner jetzt verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die
+Geschiedene mahnend vor ihm empor, und je weniger Vorwürfe sie ihm je im
+Leben gemacht hatte, desto mehr machte er sich jetzt selber.
+
+Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus die er mit vollkommen
+gleichgültigen Menschen draußen bei den Karten oder hinter dem
+Wirthstische verbracht, während seine Bertha daheim mit einer wahren
+Engelsgeduld auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn empfing,
+=wenn= er endlich zurückkehrte. Wieder und wieder malte er sich die
+einzelnen Fälle aus, wo er rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie
+ein rauhes und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt, und vor
+Scham und Reue hätte er in die Erde sinken mögen, wenn er sich jetzt
+überlegte, wie er damals immer -- immer Unrecht gehabt, und das nur,
+=wenn= er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte =eingestehen=
+mögen.
+
+Aber das Alles kam jetzt =zu spät= -- zu spät für =ihn= wenigstens.
+Er hatte einen Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen
+wurde -- keine Reue brachte ihn je zurück, und daß er sich jetzt elend
+und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine begangene Sünde.
+
+Für ihn war es zu spät -- =aber noch nicht für Viele, die diese Zeilen
+lesen=. Viele, viele halten in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz --
+und vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war der Zweck dieser
+Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt, da es noch =für sie= Zeit ist,
+ausmalen möchten, wo die Gattin =plötzlich, unvorbereitet= abgerufen
+wurde, und die Reue des Mannes dann =zu spät= kam, und =nie, nie= wieder
+gut gemacht werden konnte.
+
+
+
+
+Die Vision.
+
+
+Erstes Capitel.
+
+Die Sturmnacht.
+
+In Alburg, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen Stadt, lebte der
+Justizrath =Bertling= in glücklicher und zufriedener Ehe mit seiner
+jungen Frau.
+
+Bertling war ein ruhiger, behäbiger Charakter, der die Welt gern an
+sich kommen ließ, und nichts weniger liebte als unnütze und unnöthige
+Aufregungen. Er hatte auch in der That besonders deshalb sein
+Junggesellenleben aufgegeben, um sein Haus gemüthlich zu machen, und
+sich -- bisher vermißte -- Bequemlichkeiten zu verschaffen; aber er
+liebte nichtsdestoweniger seine Frau von ganzem Herzen und fühlte sich
+glücklich in ihrem Besitz.
+
+=Auguste= paßte auch vortrefflich für ihn, und zwar nicht etwa durch
+eine Aehnlichkeit ihres Charakters, sondern eher durch einen Gegensatz,
+durch welchen sich die beiden Gatten vollständig ergänzten, denn man
+darf ja nicht glauben, daß zu einer glücklichen Ehe stets gleiche
+Neigungen und Ansichten, gleiche Tugenden und Fehler gehören. Auguste
+war denn auch, während ihr Mann ganz entschieden dem praktischen und
+realen Leben angehörte, weit mehr schwärmerischer Natur, ohne jedoch im
+Geringsten überspannt zu sein. Unermüdlich thätig in ihrem Hausstand,
+beschäftigte sie sich aber auch gern mit Lectüre, und vorzüglich
+mit solcher, die einer ideellen Richtung angehörte. Sie phantasirte
+vortrefflich auf dem Piano, und liebte es sogar, selbst noch =nach=
+ihrer Verheirathung -- was ihr Gatte entschieden mißbilligte -- bei
+mondhellen Nächten im Garten zu sitzen.
+
+Lebhaft und heiter dabei, mit einem warmen Gefühl für alles Schöne, wob
+sie bald mit diesen Tugenden und Vorzügen einen ganz eigenen Zauber um
+ihre Häuslichkeit, dem sich ihr Gatte nicht entziehen konnte und wollte,
+so daß er bald von anderen Frauen, =ihren= Männern gegenüber, als das
+Muster eines vortrefflichen Ehemannes aufgestellt wurde.
+
+So hatten die jungen Leute -- denn der Justizrath zählte kaum ein
+und dreißig und seine Frau erst zwanzig Jahr -- etwa zwei Jahre
+in glücklicher, durch nichts gestörte Ehe gelebt, als eine schwere
+Krankheit -- ein damals in Alburg umgehendes Nervenfieber -- die junge
+Frau erfaßte und lange Wochen auf das Lager warf.
+
+Ihr Mann wich in dieser Zeit fast nicht von ihrer Seite und nur die
+wichtigsten Geschäfte konnten ihn abrufen -- ja oft versäumte er selbst
+diese und ganze Nächte hindurch wachte er neben ihrem Bett. Allerdings
+paßte ihm das nicht zu seinem sonst gewohnten, bequemen Leben, aber die
+Angst, sein Weib durch irgend eine Vernachlässigung zu verlieren, oder
+auch nur ihren Zustand gefährlicher zu machen, ließ ihn das Alles nicht
+achten, und so ward ihm denn auch endlich die wohlverdiente Freude zu
+Theil, die schlimmste Krisis überstanden und die geliebte Frau nach und
+nach genesen zu sehen. Aber es dauerte lange -- sehr lange, bis sie sich
+wieder vollständig von dem überstandenen Leiden erholen konnte.
+
+Der Körper gewann dabei noch verhältnißmäßig am Schnellsten die frühere
+Frische wieder, wenn auch die Wangen bleicher, die Augen glänzender
+schienen, als sie sonst gewesen. Sie hatte aber in ihrer Krankheit
+besonders viel phantasirt und dabei oft ganz laut und deutlich die
+tollsten, wunderlichsten Dinge gesprochen. Darum bedurfte es weit
+längerer Zeit, ehe der Geist wieder Herr über diese Träume wurde,
+die sich mit der Erinnerung früherer wirklich erlebter Scenen so
+vermischten, daß sie oft anhaltend nachdenken mußte, um das Wahre
+von dem Falschen und Eingebildeten oder nur Geträumten zu sondern und
+auszuscheiden.
+
+Auch das gab sich nach und nach oder stumpfte sich doch wenigstens ab.
+Die Erinnerungen an diese Träume wurden unbestimmter, wenn auch einzelne
+von ihnen noch manchmal wiederkehrten und sie oft, mitten in der Nacht,
+plötzlich und ängstlich auffahren machten, ja sogar wieder bestimmte
+Bilder und Eindrücke annahmen.
+
+Bertling behagte das nicht recht, denn er wurde dadurch ein paar Mal
+sehr nutzloser Weise alarmirt. Einmal -- und noch dazu in einer sehr
+kalten Nacht -- behauptete seine Frau nämlich bei ihrem plötzlichen
+Erwachen, es wäre Jemand im Zimmer und unter das Sopha gekrochen -- sie
+habe es deutlich gehört, ja sogar den Schatten durch das Zimmer gleiten
+sehen. Bertling protestirte gegen die Möglichkeit, aber es half ihm
+nichts; um seine Frau nur endlich zu beruhigen, mußte er aufstehen und
+die Sache untersuchen, was er denn gründlich mit Hülfe einer Elle that.
+Natürlich fand er nicht das geringste Verdächtige, vielweniger einen
+dort versteckten Menschen, und Beide lachten nachher über dies kleine
+Abenteuer, -- aber der Justizrath trug doch einen Schnupfen davon, der
+ihn sogar auf ein paar Tage zwang das Bett zu hüten.
+
+Das andere Mal wollte Auguste im Nebenzimmer ein verdächtiges Flüstern
+gehört haben und wenn sich auch dieses nach sorgfältiger nächtlicher
+Untersuchung, die der Justizrath im Schlafrock, in der Linken das Licht,
+in der Rechten den Feuerhaken, vornahm, als unbegründet herausstellte,
+so wurde der Mann doch durch diesen verschiedentlich erweckten Verdacht
+endlich selber so mißtrauisch gemacht, daß er sich für weitere derartige
+Fälle stillschweigend rüstete. Er holte nämlich ein Paar alte, schon
+lange zur Rumpelkammer verurtheilte Sattelpistolen hervor, reinigte
+und lud sie und gab ihnen einen Platz in der obersten Schieblade
+seiner Kommode, um sie bei einer etwa wieder vorzunehmenden Patrouille
+wenigstens bei der Hand zu haben.
+
+Wochen vergingen indeß, ohne daß sich eine derartige Scene wiederholt
+hätte, und Bertling beruhigte sich endlich vollständig mit dem Gedanken,
+daß jene Ideen nur die Nachwehen der überstandenen Krankheit gewesen
+seien; der jetzt kräftig gewordene Körper nun aber alle derartigen
+Phantasiebilder ausgestoßen, und für die Zukunft unmöglich gemacht habe.
+
+Auguste war in der That wieder so frisch und lebenslustig als je
+geworden, wenn ihre Gesichtsfarbe auch etwas »intressanter« als früher
+geblieben sein mochte. Sie sah bleicher aus, als sie sonst gethan, aber
+keineswegs kränklich oder leidend und besuchte auch wieder gern und
+oft Gesellschaften und Bälle, wobei es manchmal einige Schwierigkeiten
+hatte, den etwas phlegmatischen Gatten für solche Vergnügungen
+mitzubegeistern.
+
+Auch gestern Abend war in der »Erholung« ein brillanter Ball gewesen,
+auf dem Auguste bis vier Uhr morgens getanzt, während ihr Gatte, als
+treuer Gefährte, bis etwa um zwei Uhr Whist gespielt, und noch ein paar
+Stunden in einer bequemen Sophaecke verträumt hatte. Heute sollte dafür
+recht früh zu Bett gegangen werden, und die beiden Eheleute saßen Abends
+allein zusammen in der Stube am Theetisch.
+
+Es war im Februar, aber ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches
+Wetter. Noch vor wenigen Tagen hatte harter Frost die Erde gedeckt;
+heute peitschte der Regen die kaum aufgethauten Fenster und die
+Windsbraut heulte zwischen den Giebeln und riß an Thüren und
+Fensterflügeln, wie zornig darüber, daß es einen Platz geben solle, in
+den man ihr, der Gewaltigen, den Eintritt verweigere.
+
+Und wie das draußen durch die Straßen fegte! Der Justizrath war
+aufgestanden und ans Fenster getreten, denn die Unterhaltung wollte
+heute nicht recht fließen. Seine Frau war abgespannt, klagte über ein
+leichtes Kopfweh und Brennen in den Augen und war schon ein paar Mal,
+wie krampfhaft zusammengefahren -- jedenfalls in Folge des gestrigen
+Balles.
+
+Unten brannten die Gaslaternen, aber sie erleuchteten die Straße nicht,
+sondern warfen nur einen matten, flackernden Schein auf das schmutzige,
+von halbgeschmolzenem Eis bedeckte Pflaster, denn selbst die
+Glasscheiben schützten die Flammen nicht vor =diesem= Sturm, der sie
+rastlos hin und her wehte und manchmal auszulöschen drohte. Die Straße
+selbst war menschenleer, denn wer heute nicht nothgedrungen =mußte=,
+verließ wohl nicht das schützende Haus, um sich einem solchen Unwetter
+preiszugeben. Nur dann und wann floh ein einzelner später Wanderer
+entweder mit dem Wind durch aufspritzenden Schmutz und Schlamm dahin,
+oder kämpfte -- den Oberkörper weit vorn über gebeugt -- =gegen= den
+Sturm, und dem Wetter in die Zähne, seine beschwerliche Bahn.
+
+In langen Zwischenpausen rollte auch wohl einmal ein festgeschlossener
+Wagen vorüber, aber das Geräusch desselben machte die gleich nachher
+wieder eintretende Oede nur noch fühlbarer, als daß es sie unterbrochen
+hätte.
+
+Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken bedeckt, und der hinter
+ihnen stehende Vollmond konnte nicht mehr thun, als daß er manchmal ihre
+riesigen, beweglichen Massen in einem matten Phosphorschimmer sichtbar
+werden ließ. Aber selbst dies geschah nur auf Momente, und jedes
+Mal darnach war es, als ob der Sturm nur Athem geholt und neue Kraft
+gewonnen hätte, um so viel rasender zum Kampf herbei zu eilen.
+
+»Merkwürdig, wie das da draußen tobt und gießt,« brach der Justizrath
+endlich das lange Schweigen indem er den Rauch seiner Cigarre gegen die
+Fensterscheiben blies. »Das ist nun Februar mit Mondschein im Kalender
+wo man eigentlich eine hellkalte, ruhige Winternacht zu fordern hätte.
+'S ist aber gerade, als ob die ganze Welt ihre Jahreszeiten umdrehte,
+denn eingehalten werden sie wahrlich nicht mehr zur rechten Zeit.«
+
+Er hatte sich dabei wieder dem Tische zugedreht, und sah jetzt wie seine
+Frau mit gespannter Aufmerksamkeit auf dem Sopha saß, als ob sie auf
+irgend etwas horche. Zu gleicher Zeit drang, durch die Wände und Decke
+aber gedämpft, der Ton einer Menschenstimme zu ihnen herüber, die
+jedenfalls ein geistliches Lied in lang gezogenen, schnarrenden Tönen
+sang. Der Justizrath lachte.
+
+»Das ist der verrückte Schuhmacher über uns, der jedesmal bei einem
+Sturm, aber besonders bei einem Gewitter, den Herr Zebaoth anschreit,
+und sich als größten Sünder des ganzen Weltalls denuncirt. Wenn diese
+Narrheit nicht auch ihre komische Seite hätte, könnte es Einem wirklich
+unheimlich dabei werden.«
+
+Der Justizrath hatte Recht. Die Stimme klang in der That unheimlich in
+diesem Aufruhr der Elemente und wenn der Wind dazu durch den Schornstein
+heulte und in die Schlüssellöcher pfiff, gab es einen Dreiklang, der
+Einem hätte das Haar zu Berge treiben können. Die Frau schauderte
+auch in sich selbst zusammen, allein sie erwiderte kein Wort, und der
+Justizrath, dem ihr Zucken nicht entging, fuhr fort:
+
+»Man kann nur gar nichts dagegen machen; nicht einmal polizeilich
+verbieten darf ich es ihm, denn geistliche Lieder zu singen ist eben
+nichts Strafbares, und daß der Mensch so eine gellende Stimme hat,
+lieber Gott, dafür kann er nichts; ich bezweifle sogar, daß er es selber
+weiß. Uebrigens -- es ist ihm vielleicht in anderer Weise beizukommen,
+denn seine Frau soll sich auch mit Kartenschlagen und allem möglichen
+anderen abergläubischen Hocuspocus beschäftigen, und wenn ich darin
+einmal einen Halt dafür bekomme, dann wollen wir der Geschichte rasch
+ein Ende machen.«
+
+»Was war das?« flüsterte die Frau und fuhr wie erschreckt halb von ihrem
+Sitz empor.
+
+»Was? -- das Klappern?« sagte der Justizrath, »wahrscheinlich hat wieder
+Jemand die Hausthür unten aufgelassen und was nicht festgenagelt
+ist, rasselt bei dem Sturm hin und her. Das wird eine vergnügte Nacht
+werden.«
+
+»Es war mir als ob Jemand klopfe --«
+
+»Nun jetzt kommt kein Besuch mehr,« lachte der Mann, »und wenn --«
+
+In dem Augenblick war es, als ob der Sturm seinen ganzen Angriff nur auf
+diesen Punkt concentrirt hätte. Mit einem wahren Wuthgeheul fuhr es den
+Schornstein herunter, und riß draußen an den Fenstern. Zu gleicher Zeit
+flog die Stubenthür auf und der kalte Zug strömte voll ins Zimmer, daß
+die Lampe hoch und düster aufflackerte.
+
+»Alle Wetter!« rief der Justizrath, erschreckt zur Thür springend und
+diese wieder schließend, »das wird denn doch beinah zu toll und das alte
+Nest so windschief, daß weder Fenster noch Thüren länger in ihren Fugen
+bleiben. Wenn der Wirth das nicht spätestens bis zum Frühjahr aus dem
+Grunde wieder herstellen läßt, kündige ich ihm wirklich das Logis. Man
+kann ja die Stuben auch fast gar nicht mehr erheizen.«
+
+Die Frau war, als die Thür aufflog, allerdings erschreckt
+zusammengefahren, hatte sich aber nicht weiter gerührt und saß jetzt
+still und regungslos. Nur mit ihrem Blick strich sie langsam, als ob sie
+irgend Jemandem mit den Augen folge, von der Thür fort, durchs Zimmer,
+bis zu dem Stuhl am Ofen, auf dem er stier und fest haften blieb.
+
+Ihr Mann hatte nicht gleich auf sie geachtet. Er zog die neben der
+Thür befindliche Klingel, um das Dienstmädchen herbeizurufen und befahl
+diesem dann nach der Hausthür hinunter zu sehen, wie auch den Hausmann
+zu bitten, daß er dieselbe heute Abend verschlossen halte. Man konnte es
+ja wahrlich hier oben im Hause vor Zug nicht aushalten.
+
+Darnach trat er in die Stube zurück, und es fiel ihm jetzt auf, daß
+seine Frau noch keine Silbe über die Störung geäußert hatte. Wie er sich
+ihr aber zuwandte, konnte ihm auch unmöglich der stiere, staunende
+Blick entgehen, den Auguste noch immer unverwandt auf den einen Punkt
+gerichtet hielt. Unwillkürlich sah er rasch dort hinüber, es ließ sich
+aber nicht das geringste Außergewöhnliche erkennen. Dort stand nur
+ein leerer Stuhl, und darüber hing ein alter Kupferstich, der eine
+Prügelscene aus irgend einer holländischen Dorfschenke darstellte.
+
+»Nun?« sagte er endlich und jetzt selber erstaunt -- »was hast Du nur?«
+
+Statt aller Antwort und ohne den Blick von dem festgehaltenen Punkt
+zu nehmen, hob die junge Frau langsam den rechten Arm in die Höhe und
+deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle.
+
+»Ja aber mein Kind --« wiederholte der Mann bestürzt, denn er konnte
+sich das wunderliche Betragen der Frau nicht erklären -- »ich begreife
+noch immer nicht, was Du willst. Was ist denn dort, und weshalb deutest
+Du auf den Stuhl und siehst so bestürtzt aus, als ob Dir ein Geist
+erschienen wäre?«
+
+»Siehst Du ihn nicht?« sagte die Frau leise, ohne ihre Stellung auch nur
+um eines Haares Breite zu verändern.
+
+»Wen denn?« rief Bertling halb ärgerlich und halb erschreckt noch einmal
+den Kopf nach der bezeichneten Richtung zu drehend.
+
+»Den fremden Mann,« erwiderte die Frau, die Worte aber viel mehr
+hauchend als sprechend, »der dort auf dem Stuhl am Ofen sitzt.«
+
+»Den fremden Mann? -- aber Kind, ich bitte Dich um Gotteswillen.«
+
+»Sprich nicht so laut. Wenn er die Augen zu mir hebt, ist es immer, als
+ob mir ein Messer durch die Seele ginge.«
+
+»Aber wie sollte denn der hierher gekommen sein,« lachte Bertling
+gutmüthig -- »sei doch vernünftig.«
+
+»Wie die Thür aufging,« flüsterte die Frau »trat er herein, ging still
+am Ofen vorüber und setzte sich dort nieder -- aber siehst Du ihn denn
+nicht?«
+
+»Mein liebes Herz« suchte sie der Justizrath zu beschwichtigen -- »wenn
+dort irgend Jemand auf dem Stuhle säße, so müßte ich ihn allerdings
+auch sehen, nicht wahr? Aber ich sehe Nichts als den leeren Stuhl. Komm
+Schatz, das ist wieder einer von Deinen häßlichen Träumen -- schüttle
+ihn ab -- Nun? -- ist er noch da?« setzte er lachend hinzu, als die Frau
+wie warnend die Hand gegen ihn hob.
+
+»Pst! sei ruhig!« sagte sie tonlos -- »jetzt regt er sich. Er sieht Dich
+an.«
+
+Bertling wurde es, dieser so bestimmt ausgesprochenen Ueberzeugung
+gegenüber, selber ein wenig unheimlich zu Muthe, wenn er auch recht
+gut wußte, daß das Ganze weiter Nichts sein konnte als eines jener
+verworrenen Traumbilder, von denen er gehofft hatte, daß sie bei seiner
+Frau nie mehr wiederkehren würden. Möglicher Weise hatten aber hier
+verschiedene Factoren zusammengewirkt, um den Geist der noch nicht
+vollständig Genesenen zu überreizen und krankhaft aufzuregen. Die
+Abspannung nach der gestern durchschwärmten Nacht -- das heutige
+Unwetter mit dem fatalen Klappern der Fenster und Thüren, der heulende
+Sturm, der da oben seine Gesangbuchverse abwimmernde Schuhmacher,
+vielleicht ein flüchtiges Unwohlsein mit in den Kauf; wer konnte denn
+wissen wie das Alles auf sie eingewirkt hatte und es blieb deshalb
+vor allen Dingen nöthig, sie von der Nichtexistenz ihres Traumbildes
+thatsächlich zu überzeugen -- nachher beruhigte sich ihre
+Einbildungskraft schon von selber.
+
+»Aber mein liebes Herz,« sagte er endlich -- »so mach' doch nur einmal
+diesem häßlichen Traum ein Ende -- -- --«
+
+»Traum?« rief aber jetzt die Frau ungeduldig, wenn auch immer noch mit
+vorsichtig gedämpfter Stimme -- »was Du nur mit Deinem Traum willst. Man
+träumt doch nur wenn man schläft, doch schlafe ich jetzt oder schläfst
+Du?«
+
+»Aber ich selber sehe doch gar Nichts.«
+
+»Nichts? Siehst Du denn nicht den kleinen grauen Mann dort neben dem
+Ofen sitzen, wie er den rechten Arm auf der Stuhllehne liegen hat und
+hier herüber sieht? Was er nur will. --«
+
+»Aber meine liebe Auguste so sei doch vernünftig,« rief der Justizrath,
+durch den Zustand wirklich beängstigt. »So überzeuge Dich doch nur
+selber.« --
+
+»Quäle mich nur nicht,« bat die Frau -- »von was soll ich mich denn
+überzeugen? Sehe ich ihn denn nicht da sitzen? -- Daß sie ihn nur
+hereingelassen haben.«
+
+»Nun gut,« rief Bertling, der wohl einsah, daß bloße Vernunftgründe
+nicht das Geringste fruchten würden, »dann will ich Dir =beweisen=,
+daß Du Dich irrst, und nachher wirst Du mir doch Recht geben. Sitzt er
+=noch= da?«
+
+Die Frau nickte mit dem Kopf.
+
+»Schön,« sagte Bertling, indem er entschlossen um den Tisch herum ging
+und der bezeichneten Stelle zuschritt, »dann wollen wir doch einmal
+sehen wie er sich =jetzt= benimmt.«
+
+Der Blick der Frau haftete aber nicht mehr auf dem Stuhl, sondern hob
+sich ein wenig und strich dann wieder langsam durch die Stube und zur
+Thür zurück.
+
+»Nun sieh,« sagte ihr Mann jetzt, indem er sich -- wenn auch mit
+einem unbehaglichen Gefühl auf denselben Stuhl niederließ, auf dem das
+Traumbild sitzen sollte -- »Du wirst mir doch jetzt zugeben, daß der
+Stuhl vollkommen leer war, oder Dein grauer Herr müßte mich sonst auf
+dem Schooß haben. -- Nun? -- was siehst Du denn jetzt wieder nach der
+Thür?«
+
+»Ja er ist fort,« lachte die Frau still vor sich hin. »Wie Du nur um
+den Tisch herumgingst, stand er auf, glitt wieder der Thür zu -- und
+hinaus.«
+
+»Aber die Thür ist ja noch fest zu. Er kann doch nicht --«
+
+Bertling hatte kaum Zeit zuzuspringen und seine Frau aufzufangen, denn
+ihr gehobener Arm sank matt am Körper herab, und die ganze Gestalt
+schien in sich selbst zusammenzubrechen. Sie konnte nicht ohnmächtig
+sein, aber es war als ob nach der gehabten Aufregung eine völlige
+Erschlaffung ihrer Glieder einträte. Er hatte sie auch kaum aufgehoben
+und auf das Sopha gelegt, als sie in einen festen Schlaf fiel.
+
+Der aber dauerte nicht lange. Schon nach kaum einer Viertelstunde wachte
+sie wieder auf und sah sich etwas verstört im Zimmer um.
+
+»Hab ich mich denn hier zum Schlafen niedergelegt?« sagte sie leise und
+sinnend -- »es muß ja schon spät sein.«
+
+Bertling hielt es für das Beste, von dem stattgefundenen Anfall heute
+Abend gar nichts zu erwähnen, da er nicht wissen konnte, wie es die
+Leidende aufnehmen würde. Wenn sie morgen wieder frisch und munter war,
+wollte er es ihr erzählen, und sie lachte dann wahrscheinlich selbst
+darüber.
+
+»Es ist halb zehn, mein Kind,« sagte er, »und Du bist müde von der
+gestern durchschwärmten Nacht. Ich glaube es ist das Beste wir gehen zur
+Ruhe.«
+
+»Ja,« sagte die Frau nach einer kleinen Pause, in der sie, wie
+überlegend, vor sich niedersah -- »ich muß wirklich hier eingeschlafen
+sein, denn ich habe schon geträumt. -- Was einem doch dabei für
+wunderliche Dinge durch den Kopf ziehen. -- Ich werde lieber schlafen
+gehen.«
+
+
+Zweites Capitel.
+
+Die Kaffeegesellschaft.
+
+Am nächsten Morgen schien Auguste die gestrige Erscheinung vollständig
+vergessen zu haben; sie erwähnte wenigstens kein Wort davon, und
+Bertling hatte sich in der Nacht ebenso überlegt, die ganze Sache weiter
+gar nicht zu berühren. Es würde sie nur beunruhigt haben, und konnte
+doch zu weiter nichts nützen. Er hätte freilich gern gewußt, ob ihr jede
+Erinnerung an die eingebildete Traumform verschwunden sei -- und fast
+vermuthete er das Gegentheil, denn sie blieb an diesem Tag besonders
+nachdenkend, hörte manchmal mitten in ihrer Arbeit auf und sah eine
+Weile still vor sich nieder. Aber er mochte sie auch nicht fragen, denn
+hatte sie es wirklich vergessen, so mußte sie dadurch nur mißtrauisch
+gemacht werden.
+
+Auch der Arzt, mit dem er darüber sprach, rieth ihm in keinerlei Weise
+auf jenen Zustand hinzudeuten. Solche Erscheinungen kämen -- wie
+er meinte -- im geistigen Leben der Frauen gar nicht so selten vor,
+stumpften sich aber, wenn man ihnen Ruhe ließe, gewöhnlich mit der Zeit
+von selber ab. Das einzige wirksame Mittel dagegen sei Zerstreuung --
+leichte, am besten humoristische Lectüre, geselliger Verkehr etc. -- Sie
+dürfte nicht zuviel allein gelassen werden, dann wichen diese Zustände
+auch von selber wieder.
+
+Bertling irrte sich übrigens, wenn er glaubte, jene eingebildete
+Erscheinung wäre spurlos und vielleicht unbewußt an seiner Frau
+vorübergegangen. Unmittelbar nach ihrer halben Ohnmacht besann sie sich
+allerdings nicht gleich darauf und schlief in ihrer damaligen Abspannung
+auch bald ein. Aber selbst schon in der Nacht kam ihr die Erinnerung
+des scheinbar Erlebten, und am nächsten Morgen, als das schon fast
+verschwommene Bild wieder klarer und deutlicher vor ihre Seele trat,
+malte sie sich die Einzelheiten mehr und mehr im Stillen aus, bis sie
+auch die kleinsten, unbedeutendsten Umstände wieder scharf und bestimmt
+herausgefunden hatte. -- Aber sie erwähnte gegen ihren Gatten nichts
+davon.
+
+Einmal wollte sie ihn nicht ängstigen, weil er jenem Phantasiegebild
+vielleicht zu viel Wichtigkeit beigelegt hätte, und dann -- war
+sie selber noch nicht einmal mit sich im Klaren, ob es wirklich ein
+Phantasiegebild gewesen sei oder nicht. Sie fürchtete auch den Spott
+ihres Mannes, wenn sie ihm nur eine Andeutung gemacht hätte, daß sie
+eine solche Erscheinung für möglich halte, und grübelte dabei im Stillen
+weiter über das Geschehene.
+
+In dieser Zeit, in welcher sie sich auch immer noch etwas angegriffen
+fühlte, ging sie wenig aus und da ihr Mann durch eine Masse dringender
+Geschäfte über Tag abgehalten wurde, ihr Gesellschaft zu leisten, las
+sie viel -- jetzt aber am liebsten Bücher, die sich mit dem geistigen
+Leben des Menschen beschäftigten und oft Dinge besprachen, die ihr
+in ihrem überdieß aufgeregten und reizbaren Zustand weit besser fern
+gehalten wären. So kam ihr auch das Buch der Seherin von Prevorst in die
+Hände, und gab ihrem, schon außerdem zum Uebernatürlichen neigenden
+Sinn, nur noch mehr Nahrung.
+
+Wenn es überhaupt auf Erden Menschen gab, die mit jener, von anderen
+Sterblichen nur geahnten Welt in unmittelbarer Verbindung standen, die
+mit ihren körperlichen Augen das sehen konnten was um sie her =bestand=,
+während es der Masse verborgen und unsichtbar blieb, warum sollte sie
+dann nicht auch zu diesen gehören können? -- warum sollte gerade das,
+was sie deutlich und klar =geschaut= hatte, nur allein bei ihr eine
+Täuschung der Sinne gewesen sein? Daß aber etwas Aehnliches nicht allein
+möglich, sondern schon wirklich an den verschiedensten Orten =geschehen=
+sei, davon liefert ihr gerade die Seherin von Prevorst den sichersten
+Beweis, denn das Buch brachte beglaubigte Thatsachen, und immer fester
+wurzelte bei ihr die Ueberzeugung, daß auch sie zu jenen bevorzugten
+Wesen gehöre.
+
+Keineswegs erweckte aber dies, sich nach und nach bei ihr bildende
+Bewußtsein, ihre Furcht vor dem, was ihr etwa noch begegnen könne. Im
+Gegentheil freute sie sich viel eher einer solchen Kraft, und beschloß
+sogar mit ruhigem kalten Blut Alles zu prüfen, was ihr in solcher Art an
+übernatürlichen Gebilden auftauchen und sichtbar werden sollte.
+
+Trotz dieser geistigen Stärke, die sie gewonnen zu haben glaubte, litt
+aber doch ihr Körper unter der fast gewaltsam hervorgerufenen Aufregung,
+und wenn auch Bertling den wahren Grund nicht ahnte, konnte ihm doch
+nicht entgehen, daß seine Frau in der letzten Zeit sichtbar bleicher und
+leidender geworden sei. Er schrieb das aber dem vielen Stuben sitzen
+zu, und bat sie mehr an die frische Luft zu gehen und sich Bewegung
+zu machen. Ja er drang sogar in sie -- was er sonst nie gethan -- ihre
+verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen, und dann und wann
+auch bei sich zu sehen, da er mit Recht von einer solchen Zerstreuung
+wohlthätige Wirkung für sie hoffte.
+
+Auguste, wenn sie auch nicht das Bedürfniß danach fühlte, beschloß doch
+seinen Wunsch zu erfüllen. Die langen Stunden, die sie daheim allein
+saß, wurden ihr selber zuletzt drückend, und außerdem hatte sie ja
+manche Bekannte, mit der sie recht gern verkehrte und wo sie wußte, daß
+sie gern gesehen war.
+
+Am Besten von Allen hatte sie stets mit einer Jugendfreundin, der
+jetzigen Hofräthin =Janisch=, harmonirt; Pauline Janisch war eine
+prächtige junge Frau, aufgeweckt dabei und lebenslustig, und da sie in
+müssigen Stunden auch gern ein wenig schwärmte und ganz vorzüglich
+für alles Uebersinnliche leicht empfänglich war -- ohne sich aber davon
+beherrschen zu lassen -- fühlte sie sich zu dieser besonders hingezogen.
+
+Pauline wohnte in der nämlichen Straße mit ihr; als sie dieselbe aber
+heute aufsuchte, bewegte sie sich in dem zwar kleinen, doch gewählten
+Kreis einer Caffeegesellschaft, wo allerdings nichts Uebersinnliches
+gesprochen wurde. Nur über die allergebräuchlichsten Themata solcher
+Zusammenkünfte fand eine Verhandlung statt, als da sind: Theater und
+was dazu gehört -- nämlich das Privatleben der Bühnenmitglieder --
+Dienstboten-Noth, Sittengeschichte der Stadt mit Vorlage einzelner,
+besonders hervorzuhebender Beispiele, und Klagen über die Vergnügungen
+und Beschäftigungen der Männer =außer= dem Haus.
+
+Erst das eintreffende Tageblatt gab der Unterhaltung -- nachdem man
+zwei Verlobungsanzeigen und ein Heirathsgesuch gründlich betrachtet
+und erschöpft hatte -- eine andere Wendung, und zwar durch einen
+wunderlichen Vorfall in der Stadt selber, der in dieser Nummer eine
+Erwähnung fand.
+
+Ein in der äußersten Vorstadt gelegenes Haus nämlich, das früher einmal
+zu einer Knopffabrik benutzt worden, jetzt aber schon seit mehreren
+Jahren, durch das Scheitern des Unternehmens leer und verödet stand, war
+vor Zeiten in den Ruf gekommen, daß es dort umgehe, und man hatte sich
+Monde lang die merkwürdigsten Geschichten davon erzählt. Anderes kam
+aber dazwischen, das ganze Gebäude wurde außerdem nicht mehr benutzt,
+und da Niemand darin wohnte, schlief auch das Gerücht endlich ein, bis
+der jetzige Eigenthümer vor ganz kurzer Zeit die ziemlich vom Wetter
+mitgenommenen Baulichkeiten an einen Fremden verkaufte, der dort eine
+Kammergarnspinnerei anlegen wollte.
+
+Jetzt erinnerte man sich allerdings wieder lebhaft der früheren
+Gerüchte, die aber in den ersten Wochen auch nicht die geringste
+Bestätigung fanden. Der Fabrikant war mit zwölf oder sechszehn Arbeitern
+dort eingezogen und die Leute, die größtentheils noch nicht einmal von
+den Gerüchten gehört haben konnten, hatten die Nächte, die sie dort
+zugebracht, vortrefflich und ungestört geschlafen. -- Es dachte schon
+Niemand mehr an die früheren Spuckgeschichten.
+
+Da erzählte man sich in der Stadt, sämmtliche Arbeiter in der Fabrick
+hätten ihrem Brodherren den Dienst gekündigt. Es wurde dem anfangs
+widersprochen, aber das Gerücht fand immer festeren Boden bis denn das
+Tageblatt heute die Nachricht ganz sicher bestätigte. Es geschah das
+durch die Aufforderung des Fabrikherrn, um neue Arbeiter herbeizurufen,
+da sich die bisherigen, wie hier gedruckt stand, »durch abergläubischen
+Unsinn hätten bewegen lassen, seinen Dienst zu quittiren.«
+
+Es blieb jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen, daß die bisherigen
+Gerüchte nicht gelogen haben konnten, sondern etwas Wahres an der Sache
+sein müsse und die Aufregung der kleinen Gesellschaft wurde noch erhöht,
+als sich plötzlich herausstellte, daß sie selbst in ihrer Mitte ein
+Individuum entdeckten, das ihnen von dem, jetzt jedes andere Interesse
+verschlingenden Platz die genauesten und direktesten Nachrichten geben
+konnte.
+
+Es war das die Frau Präsident Cossel, eine schon ältliche Dame mit etwas
+rother Nase, aber einem sehr entschieden energischen Zug um den Mund.
+Die Dame hielt sich auch in der That nie bei Vermuthungen auf, sondern
+sprach stets was sie wußte oder nicht wußte auf das aller Bestimmteste
+aus. Widerspruch duldete sie nie und wenn man behauptet, daß die Haare
+den Charakter des Menschen darthun, so mochte das recht gut auch bei der
+Frau Präsidentin ihre Bestätigung finden, denn eben so starr und fest
+gerollt wie die vier falschen Locken, die sie vorgebunden trug, war ihr
+Gemüth.
+
+»Es ist richtig -- ich weiß es; es spukt drüben,« sagte sie, indem
+sie ihre Tasse zum vierten Mal zum Füllen reichte, und ihre schönen
+Zuhörerinnen zweifelten viel weniger an der, jetzt als unumstößlich
+festgestellten Thatsache, als daß sie sich wunderten, wie die Frau
+Präsidentin diesen doch sicher höchst interessanten Fall so lange still
+bei sich getragen und wirklich erst auf äußere Veranlassung von sich
+gegeben habe.
+
+Die Frau Präsidentin wohnte aber dem besagten Fabrikgebäude schräg
+gegenüber, und konnte also, als allernächste Nachbarin desselben --
+wenn irgend Jemand, Näheres darüber wissen. Die Neugier der Damen war --
+hierbei sehr verzeihlich -- auf das Höchste gespannt.
+
+»Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!« -- Gegen die =Thatsache=
+war Nichts mehr einzuwenden, und es blieb jetzt nur noch übrig die
+Einzelheiten derselben zu erfahren. Die Frau Präsidentin wußte Alles.
+
+Die ersten Nächte waren die neu eingezogenen Leute vollkommen
+unbelästigt geblieben, nur zu bald aber brach plötzlich -- und natürlich
+genau um Mitternacht -- ein donnerndes Getöse im ganzen Hause los, daß
+den Insassen das Haar auf dem Kopfe sträubte. Ketten klirrten über die
+Treppen, die Balken krachten, als ob furchtbare Gewichte darauf geworfen
+würden, die Thüren schlugen auf und zu, die Fenster klapperten -- und
+das bei sternenheller Nacht und todter Windstille -- und ein unheimlich
+flackernder Schein zuckte aus einer Stube in die andere durch das ganze
+Haus. Das Nämliche wiederholte sich in den folgenden Nächten, nur
+mit der Zugabe, daß den Schlafenden die Decken weggerissen wurden.
+Allerdings glaubten die Leute anfangs an einen Schabernack, den ihnen
+muthwillige Gesellen spielten, und um kein Aufsehen zu erregen, wurde
+die Polizei heimlich von dem Unfug in Kenntniß gesetzt und traf in einer
+der Nächte kurz vor zwölf Uhr dort ein, um die Urheber auf frischer That
+zu ertappen. Ja ihr Aufpassen half ihnen nichts, denn erwischen konnten
+sie Niemand, während gerade ihnen am tollsten mitgespielt wurde. Es
+schlug ihnen die Hüte vom Kopf und die Stöcke aus der Hand, und die
+Leute verließen -- wie die Frau Präsidentin behauptete -- in Entsetzen
+das Haus.
+
+Von =der= Nacht an waren die übrigen Arbeiter aber auch nicht mehr zu
+halten, und obgleich der Fabrikherr -- aus leicht zu errathenden Gründen
+-- ein tiefes Stillschweigen über alles Vorgefallene beobachtete, und
+die Leute selber sich ebenfalls schienen das Wort gegeben zu haben,
+nichts über die Sache verlauten zu lassen, war doch das allein der wahre
+Thatbestand.
+
+»Und woher es die Frau Präsidentin wußte?« -- wie die etwas muthwillige
+Frau Hofräthin Janisch frug. -- Die Dame blitzte sie zwischen den Locken
+hervor mit einem wahren Dolchblick an.
+
+»Woher ich das weiß, Frau Hofräthin?« wiederholte sie, und absichtlich
+mit etwas gehobener Stimme -- »ich denke, ich habe meine Quellen --
+selbst wenn mein Mann nicht Präsident wäre, Sie wissen doch wohl --
+oder =sollten= es wenigstens wissen, daß es zwischen Ehegatten kein
+Amtsgeheimniß giebt. -- Aber noch mehr,« setzte sie plötzlich mit
+geheimnißvollem Ton hinzu, »Sie wissen doch, daß sich der junge Belldan
+gestern Morgen um's Leben gebracht hat?«
+
+»Ei gewiß,« sagte die Frau Kreisräthin Barthels, »das ist ja
+stadtbekannt. Er soll ein paar falsche Wechsel ausgestellt haben, und
+wie ihn sein Vater aus dem Hause stoßen wollte, ging er in das Holz und
+schoß sich eine Kugel durch den Kopf.«
+
+»Bah,« sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung und
+ganz entschiedener Betonung der nächsten Worte, »der junge Mensch hat
+nie falsche Wechsel gemacht, aber aus Uebermuth die letzte Nacht in dem
+Spukhaus geschlafen und darnach -- konnte er nicht länger leben.«
+
+Was er dort gesehen hatte vermochte die Frau freilich selber nicht zu
+sagen, aber schon die Andeutung war interressant genug, um eine weitere
+Besprechung derselben außer Frage zu stellen und das Gespräch, einmal in
+diese Bahn gelenkt, blieb nun natürlich in dem nämlichen Gleis und
+ging von dem Spukhaus auf Gespenstergeschichten und Erscheinungen im
+Allgemeinen über.
+
+Der Abend rückte dabei heran, aber die Gesellschaft protestirte von der
+kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt, gegen die Forderung
+der Präsidentin, Licht herbeizuschaffen. Es ging Nichts über eine solche
+Unterhaltung in der Dämmerung und als jetzt die Gaslaterne draußen auf
+der Straße angezündet wurde, und ein ordentlich unheimliches Streiflicht
+in das düstere Zimmer warf, rückten die Damen nur desto näher zusammen
+und die Frau Kreisräthin behauptete, es gäbe doch gar kein wonnigeres
+Gefühl in der Welt, als »wenn es Einen so ein Bischen gruselte.«
+
+Nur Auguste, Bertlings Frau, hatte bis jetzt keinen Antheil an dem
+Gespräch genommen, als vielleicht hie oder da einmal eine Frage
+einzuwerfen, aber deshalb mit nicht weniger Aufmerksamkeit den
+verschiedenen Geschichten gelauscht, die bald von dieser bald von
+jener Dame zum Besten gegeben wurden und natürlich alle mit jener
+übersinnlichen Welt in Verbindung standen.
+
+In Alburg wurde auch noch das Tischklopfen und die Geisterschrift
+mit Hülfe einer besondern mit Bleistift verbundenen Vorrichtung
+leidenschaftlich getrieben und viele Damen beschäftigten sich heimlich
+damit -- öffentlich durften sie es ja nicht, weil man das vollkommen
+Nutzlose dieser Experimente lange eingesehen hatte, und die auslachte,
+die es trotzdem noch ausübten. Eine Masse von Beispielen wurden
+jetzt von entzifferten Briefen, von Zahlen, Nachrichten Entfernter,
+Schutzgeistern und all derartigen Ergebnissen der Zauberkunst erwähnt,
+dann sprang das Gespräch auf Ahnungen, Doppelgänger, Erscheinungen über
+und die Frau Präsidentin erklärte mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit --
+was die Thatsache außer allen Zweifel stellte, -- daß ihr erster Mann --
+Gott habe ihn selig -- ihr zwei Mal schon erschienen sei: Das erste Mal
+als sie sich wieder verlobt habe. -- Das zweite Mal bei -- einer andern
+Gelegenheit -- sie sagte nicht welcher -- und beide Male in seinem
+grauen Schlafrock mit rothem Futter und hellblauen Quasten wie »der
+Selige« immer daheim gekleidet gewesen.
+
+Auguste lehnte schweigend in ihrem Fauteuil, anscheinend theilnahmlos,
+aber mit ihrem Geist in reger Thätigkeit, und vor ihrem innern Auge
+stieg die Gestalt wieder empor, die sie an jenem Abend gesehen hatte. --
+Aber sie erwähnte kein Wort davon; es war das ihr eigenes Geheimniß, und
+es kam ihr der Gedanke, als ob sie jenes Wesen erzürnen müsse, wenn
+sie sein Dasein einem andern Menschen verrathe. So ganz mit sich selber
+beschäftigte sie sich dabei, daß sie ordentlich erschrak, als die
+kleine Gesellschaft plötzlich aufbrach, um in ihre eigenen Wohnungen
+zurückzukehren. Es war sieben Uhr und damit Zeit geworden daheim
+den Herren Ehegatten das Abendbrot zu bereiten. Der =Caffee= hatte
+überhaupt, durch solch Gespräch gewürzt, weit länger gedauert, als das
+sonst je der Fall gewesen.
+
+Die lebhafte Scene des Ankleidens und Abschiednehmens verdrängte jetzt
+auch bald all die düsteren Gedanken und Bilder, die den ganzen Abend
+über dem kleinen Kreis geschwebt. Es war Licht gebracht, und die Meisten
+hatten schon lange den ganzen heraufbeschworenen Spuk vergessen, --
+Auguste nicht.
+
+Sie nahm Abschied von der Freundin und ging die wenigen Schritte nach
+ihrer eigenen Wohnung, kaum etwas mehr als über die Straße hinüber, --
+allein immer aber war ihr Geist noch mit jenem Traumbild beschäftigt,
+das ihr durch die Unterhaltung da drüben wieder in ihrer ganzen Schärfe
+vor der Seele stand.
+
+Still und schweigend stieg sie die Stufen hinan -- die Vorsaalthür war
+offen -- auf dem Vorsaal selbst brannte kein Licht, aber die Gasflamme
+der Treppe warf ihren Schein durch das über der Thür angebrachte
+Fenster. Sie wußte bestimmt, ihr Mann war jetzt zu Haus und in seiner
+Stube, wo er gewöhnlich bis zum Abendbrot allein arbeitete. Sie ging
+durch ihr eigenes Zimmer nach seiner Thür, öffnete dieselbe, stand einen
+Moment in sprachlosem Entsetzen auf der Schwelle und brach dann mit
+einem halblautem Schrei und ehe ihr Gatte zuspringen und sie halten
+konnte, bewußtlos in sich zusammen.
+
+
+Drittes Capitel.
+
+Der unheimliche Besuch.
+
+Der Justizrath war an dem Abend beschäftigt gewesen, eingelaufene
+Actenstücke durchzusehen und zu erledigen. Die Zeit verging ihm dabei so
+rasch, daß er die Abwesenheit seiner Frau -- die er überdies bei Freund
+Janisch gut aufgehoben wußte, gar nicht bemerkte.
+
+Im Verlauf seiner Arbeit war er auch genöthigt gewesen ein paar Briefe
+zu schreiben, die noch vor sieben Uhr auf die Post mußten. Er hatte das
+Mädchen damit fortgeschickt und saß wieder über seinen Papieren als es
+draußen klingelte und er selber hingehen mußte, um zu öffnen.
+
+Draußen stand ein Fremder -- anständig angezogen, ein kleiner
+schmächtiger Mann in dunkler Kleidung, der mit dem Hute in der Hand sehr
+bescheiden frug, ob er die Ehre habe den Herrn Justizrath Bertling zu
+sprechen.
+
+»Mein Name ist Bertling, was steht zu Ihren Diensten?«
+
+»Würden Sie mir gestatten ein paar Worte allein an Sie zu richten?«
+frug der kleine Mann, wie schüchtern, und seine weiten, glänzenden Augen
+hafteten dabei fragend auf dem Justizrath.
+
+Diesem war die Störung eben nicht besonders gelegen, aber der Fremde sah
+so bescheiden und anspruchslos aus und seine Frage klang so dringend,
+daß er ihm die Bitte auch nicht abschlagen mochte.
+
+»Dann sein Sie so gut und kommen Sie mit in mein Zimmer,« sagte der
+Justizrath und ging seinem, etwas späten Besuch voran, ohne jedoch die
+Vorsaalthür wieder zuschließen.
+
+Im Studierzimmer Bertlings brannte die Lampe etwas düster, aber doch
+hell genug, um die Züge des Fremden ziemlich deutlich erkennen zu
+können. Er hatte eine hohe Stirn, von der er das schwarze schon dünn
+gewordene Haar zurückgestrichen trug, und ein paar große sprechende
+Augen, aber seine Züge sahen bleich und leidend aus; die Backenknochen
+traten auffallend hervor und in dem ganzen Wesen des Mannes lag etwas
+Scheues und Gedrücktes. Der Justizrath nöthigte ihn durch eine
+Bewegung mit der Hand auf das Sopha, aber der Fremde schien diese Ehre
+abzulehnen, denn er ließ sich auf dem nächsten Stuhl am Ofen nieder,
+und zwar seitwärts, um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren und dabei
+legte er den rechten Arm über die Lehne des nämlichen Stuhles.
+
+Bertling entging übrigens nicht, daß sich sein Besuch durch irgend etwas
+gedrückt fühlte, und theils aus angeborener Gutmüthigkeit, theils mit
+dem Wunsch die unwillkommene Störung so viel als möglich abzukürzen,
+sagte er freundlich:
+
+»Und mit was kann ich Ihnen dienen?«
+
+Der Fremde hatte noch keine Zeit zum Antworten gehabt, als nebenan eine
+Thür ging und da Bertling, der recht gut wußte, daß das Mädchen kaum von
+der Post zurück sein konnte, eben aufstehen wollte, um nachzusehen,
+wer da wäre, öffnete sich die Seitenthür -- seine Frau stand auf der
+Schwelle, hob langsam den rechten Arm und brach dann, ohne weiter
+ein Wort, eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend, besinnungslos
+zusammen.
+
+In tödtlichem Schreck sprang ihr Gatte zu, hob ihren Kopf auf sein Knie,
+strich ihr in seiner Herzensangst die Stirn, rieb ihr die Schläfe und
+rief sie mit allen Liebesnamen, um sie zum Leben zurückzubringen. Als
+das aber Alles vergeblich blieb, hob er sie auf und trug sie auf ihr
+eigenes Sopha im nächsten Zimmer und sprang dann zurück nach der Lampe.
+Er wollte dabei den Fremden bitten, ihm sein Anliegen ein ander Mal
+vorzutragen, aber der Stuhl war leer -- der Fremde fort -- er hatte
+ihn gar nicht weggehen sehen, aber auch jetzt wahrlich keine Zeit, sich
+weiter um ihn zu bekümmern. Er trug die Lampe hinüber und rieb Stirn und
+Schläfe seiner Frau mit Eau de Cologne.
+
+Glücklicher Weise kam auch jetzt das Mädchen, das recht frisches Wasser
+bringen mußte, und nach wenigen Minuten schlug Auguste die Augen wieder
+auf. Anfangs freilich schaute sie noch scheu und wie furchtsam umher,
+als sie sich aber in ihrem eigenen Zimmer fand, beruhigte sie sich bald
+und lehnte jetzt nur noch etwas bleich und erschöpft im Sopha.
+
+»Aber ich bitte Dich um Gottes Willen, liebes Kind, was hattest Du denn
+nur auf einmal« frug jetzt Bertling durch diese plötzliche Ohnmacht
+nicht wenig beunruhigt -- »warst Du denn schon vorher unwohl?«
+
+»Nein,« sagte die Frau leise, »mir fehlte gar nichts, aber -- als ich in
+Dein Zimmer kam --«
+
+»Ich habe heut Nachmittag sehr viel geraucht,« ergänzte Bertling,
+»und der rasche Wechsel aus der frischen Luft in den Tabacksqualm hat
+vielleicht den Unfall herbeigerufen.«
+
+»Nein,« wiederholte die Frau mit dem Kopf schüttelnd, »das -- das war
+es nicht -- ich war vollkommen gesund -- an den Tabacksgeruch bin ich ja
+auch gewöhnt, aber -- als ich in Dein Zimmer trat sah ich --«
+
+»Aber was denn mein süßes liebes Herz,« bat der Mann, »so sprich doch
+nur; Du ängstigt mich ja noch viel mehr durch Dein Schweigen. -- Was
+sahst Du denn?«
+
+»Denselben grauen Mann,« hauchte die Frau mit kaum hörbarer Stimme
+»-- den ich bei dem Sturm in Deinem Zimmer sah --«
+
+»Aber liebes, liebes Kind,« bat der Mann erschreckt und zugleich
+beunruhigt, daß seine Frau jenes Traumbild, wie er im Stillen gehofft,
+nicht etwa vergessen habe, sondern noch voll und scharf im
+Gedächtniß trage -- »sieh nur, was für einen tollen Streich Dir Deine
+Einbildungskraft gespielt hat. Das war ja doch kein Gespenst, was Du
+gesehen, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, der kurz vor Dir zu
+mir kam und mich zu sprechen wünschte.«
+
+»So hast Du ihn diesmal auch gesehen?« rief die Frau rasch und
+erschreckt.
+
+»Gewiß,« lächelte Bertling, »und er ist auch gar nicht wie ein Geist
+eingetreten, sondern hat draußen geklingelt und ich habe ihm selber die
+Vorsaalthür aufgemacht.«
+
+»Und ist er =noch= bei Dir?« rief die Frau, sich rasch im Sopha
+aufrichtend.
+
+»Nein,« lautete die Antwort -- »wie Du ohnmächtig wurdest, muß er
+fortgegangen sein, denn als ich nach der Lampe zurücksprang, war er
+verschwunden.«
+
+»Verschwunden?«
+
+»Nun hoffentlich nicht in die Luft,« lachte Bertling, aber doch etwas
+verlegen, denn es fiel ihm jetzt auf einmal ein, daß der Fremde in
+seinem ganzen Wesen wirklich etwas Räthselhaftes gehabt habe, und
+dabei merkwürdig rasch aus dem Zimmer gewesen sei. Wie =war= er nur
+hinausgekommen, denn er erinnerte sich nicht gesehen oder gehört zu
+haben, daß die Thür geöffnet wurde, was ihm doch kaum hätte entgehen
+können -- »er -- er wird fortgegangen sein, als er sah, daß ich mich
+nicht weiter mit ihm abgeben konnte.«
+
+Seine Frau erwiderte nichts darauf. Sie schaute eine ganze Weile sinnend
+vor sich nieder, endlich sagte sie leise:
+
+»Er saß auf dem nämlichen Stuhl, auf dem ich ihn damals gesehen habe
+-- genau so wie in jener Nacht, mit dem rechten Arm auf der Lehne --
+er trug den nämlichen grauen Rock und sah eben so bleich aus und hatte
+dieselben großen geisterhaften Augen.«
+
+»Aber liebe, liebe Auguste« bat der Mann, jetzt wirklich beunruhigt, »so
+gieb Dich doch nur nicht solch thörichten kindischen Gedanken hin, und
+mische nicht eine wirklich menschliche, wahrscheinlich sehr unbedeutende
+Persönlichkeit, mit Deinen Traumbildern zusammen. -- Uebrigens,« setzte
+er rasch hinzu -- »muß ihm ja auch die Rieke auf der Treppe begegnet
+sein, denn sie kam unmittelbar nach Dir -- Rieke!« rief er dann zur Thür
+hinaus -- »Rieke!«
+
+»Jawohl --«
+
+»Kommen Sie einmal einen Augenblick herein.«
+
+Die Gerufene steckte den Kopf zur Thür herein.
+
+»Soll ich was?«
+
+»Wie Sie vorhin zurückkamen, ist Ihnen da Niemand im Haus begegnet?«
+
+»Doch, Herr Justizrath --«
+
+»Nun siehst Du, liebes Kind -- und wie sah er aus?«
+
+»Er!« sagte die Köchin etwas erstaunt -- »es war die Heßbergern, dem
+Schuhmacher seine Frau von oben, die noch einmal unten in den Laden
+ging, um für ihren Mann Branntewein zu holen. Der kriegt Abends immer
+Durst, und sie trinkt dann auch mit.«
+
+»Unsinn,« brummte der Justizrath -- »was geht mich die Frau an -- ich
+will wissen, ob Sie im Haus keinem =Mann= begegnet sind?«
+
+»Einem Mann?«
+
+»Einem anständig gekleideten Herrn in einem grauen oder dunklen Rock,
+der hier oben bei mir war?«
+
+»Ich habe Niemanden gesehen,« sagte das Mädchen erstaunt mit dem
+Kopf schüttelnd »und so lange ich hier oben bin, ist auch Niemand
+fortgegangen, denn ich habe die Thür gleich hinter mir zugeriegelt und
+die Kette vorgehangen.«
+
+Die Frau nickte leise vor sich hin, Bertling aber, ärgerlich darüber,
+daß er eine verfehlte Zeugenaussage veranlaßt, rief:
+
+»Nun, denn ist er =vorher= gegangen; die Rieke kann ihm auch eigentlich
+gar nicht begegnet sein, denn er muß doch eine ganze Weile früher die
+Stube verlassen haben. So viel bleibt sicher, in den Boden hinein ist
+er nicht verschwunden -- gehen Sie nur wieder an Ihre Arbeit Rieke -- es
+ist gut --.«
+
+Die Rieke zog sich an das Heiligthum ihres Heerdes zurück, griff dort
+die Wassereimer auf und ging nach dem Brunnen hinunter, um frisches
+Wasser zu holen. Unten im Haus begegnet ihr des Schusters Frau und das
+Mädchen, mit dem eben bestandenen Examen noch im Kopf sagte zu dieser:
+
+»Haben =Sie= denn vorhin einen Mann gesehen, Heßbergern, der von uns
+herunterkam, wie Sie aus dem Haus gingen?«
+
+»Ich? -- nein,« sagte die Frau -- »was für einen Mann?«
+
+»Ja ich weiß es auch nicht, er soll einen grauen Rock angehabt haben.«
+
+»Und was ist mit dem?«
+
+»Gott weiß es,« brummte die Rieke -- »er muß auf einmal weggewesen sein
+und Niemand hat ihn fortgehen sehen, und jetzt glaub ich, ängstigt sich
+die Frau darüber und ist sogar ohnmächtig geworden. -- Na Nichs für
+ungut« und damit schwenkte sie mit ihren Eimern zur Thür hinaus.
+
+Der Justizrath ging indessen ein paar Mal im Zimmer auf und ab, aber er
+dachte dabei nicht an den vollkommen gleichgültigen Fremden, sondern der
+Zustand seiner Frau beunruhigte ihn immer ernsthafter. So reizbar und
+erregt war sie noch nie gewesen, und während er geglaubt, daß sie all
+die alten Phantasieen längst und für immer vergessen hätte, fühlte er
+jetzt daß sie dieselben grade im Gegentheil still bei sich getragen und
+darüber vielleicht die ganze Zeit gebrütet habe. Wie um Gottes Willen
+konnte er ihr das nur aus dem Kopf bringen!
+
+»Es ist doch merkwürdig« sagte die Frau endlich nach längerer Pause,
+»daß =zwei= Personen denselben Gegenstand gesehen haben sollten.«
+
+»Gegenstand -- Thorheit!« brummte aber der Justiz-Rath. »Thu' mir den
+einzigen Gefallen, liebes Kind, und sprich nicht von Gegenständen, wo es
+sich um eine einfache vollkommen gleichgültige Persönlichkeit handelt.
+Gedulde Dich nur eine kurze Zeit, der Mensch kommt wahrscheinlich morgen
+früh wieder zu mir, und dann erlaubst Du mir wohl, daß ich ihn Dir
+vorstellen darf --«
+
+»Und bist Du wirklich überzeugt, daß es ein =Mensch= war?«
+
+»Aber Auguste --«
+
+»Hast Du ihn berührt?«
+
+»Ich? -- hm ich kann mich nicht besinnen -- es war auch keine
+Gelegenheit dazu da, denn einem fremden Menschen giebt man doch
+nicht gleich die Hand -- aber er ist doch wie andere Sterbliche
+hereingekommen.«
+
+»Hat er sich selber die Thür aufgemacht?«
+
+Der Justizrath sann einen Augenblick nach -- »Nein« sagte er dann,
+»das konnte er nicht, sie war ja verschlossen -- aber er muß sie selber
+wieder aufgemacht haben, um hinaus zu kommen; das wirst Du mir doch
+zugeben.«
+
+Auguste war aufgestanden, ging auf den Justizrath zu, legte ihren
+rechten Arm um seinen Nacken und ihr Haupt an seine Brust lehnend, sagte
+sie leise und bittend:
+
+»Sei nur nicht böse, Theodor, sieh ich kann ja Nichts dafür; und ich
+-- mir möchte das Herz selber darüber brechen, aber -- ich fühle es
+deutlich in mir, es ist eine Ahnung aus jener Welt, gegen die wir nicht
+ankämpfen können, mag sich der Verstand auch dawider sträuben wie er
+will. -- Wenn mir der =graue Mann= zum =dritten= Mal erscheint -- so
+=sterb= ich.«
+
+»Auguste, ich bitte Dich um Gottes Willen« rief jetzt der Mann in
+Todesangst, indem er sie fest an sich preßte -- »gieb nicht solchen
+furchtbaren Gedanken Raum. Sieh Kind, man hat ja Beispiele, daß Menschen
+nur allein einer solchen fixen Idee erlegen sind, wenn sie sich erst
+einmal in ihrem Geiste festgesetzt hatte. Erst war Trübsinn, dann
+Schwermuth die Folge und im Körper nahm Schwäche zu, je mehr jene Idee
+im Hirn seine verderblichen Wurzeln schlug.«
+
+»Aber Du sprichst immer von einer =Idee=, Theodor,« sagte die Frau --
+»habe ich denn die Gestalt nicht zwei Mal deutlich gesehen, so deutlich,
+wie ich Dich selber hier vor mir sehe?«
+
+»Das zweite Mal, ja, das gebe ich zu,« sagte der Mann in verzweifelter
+Resignation, und jetzt nur bemüht diese Phantasie durch Vernunftgründe
+zu bannen -- »denn das unglückselige Menschenkind, das gerade in der
+Zeit zu mir kommen mußte -- und ich wollte, Gott verzeih mir die Sünde,
+er hätte sonst was gethan -- saß wirklich da. Aber das erste Mal, liebes
+gutes Herz =mußt= Du mir doch zugeben, daß es nur das Spiegelbild einer
+Deiner Träume gewesen sein kann.«
+
+Die Frau antwortete nicht, schüttelte aber nur leise und kaum merklich
+mit dem Kopf.
+
+»Sieh, liebes Kind,« fuhr Bertling, der die Bewegung an seiner Schulter
+fühlte, fort: »Du wirst mir doch zugeben, daß ein Geist -- wenn wir
+wirklich annehmen wollen, es =gäbe= derartige Wesen, denen verstattet
+sei auf der Erde herumzuwandern und Unheil anzustiften -- körperlos sein
+muß, also nur ein Hauch, verdichtete Luft höchstens. Was aber keinen
+Körper hat, kann man ja doch nicht sehen, wenigstens nicht mit =unseren=
+Augen, die ja doch auch nur körperlich sind.«
+
+»Ich antworte Dir darauf durch ein anderes Beispiel,« sagte die Frau,
+sich von seiner Schulter emporrichtend. »Wir wissen doch, daß die Sterne
+am Himmel stehen, aber trotzdem sieht sie das Menschenauge am Tag nicht,
+mag der Himmel so rein sein wie er will -- aber man hat Vorrichtungen
+für das Auge, wodurch man sie doch erkennen kann, und warum sollte nicht
+das Auge einzelner Menschen so beschaffen sein, daß sie einzelne Dinge
+sehen können, die Anderen unsichtbar bleiben.«
+
+»Aber die Sterne sind auch =Körper=, liebes Herz, und noch dazu ganz
+respectable.«
+
+»Du weichst mir aus,« rief die Frau, »und ich leugne, daß unser Auge nur
+allein für =Körper= geschaffen ist. Der Schatten ist kein Körper und wir
+sehen ihn doch.«
+
+»Aber nur, wenn er auf einem Körper liegt, doch nie allein und
+selbständig in der Luft.«
+
+»Ich habe auch jene Gestalt nicht frei in der Luft gesehen,« sagte die
+Frau, die fest entschlossen schien, den einmal gefaßten Gedanken auch
+festzuhalten, »sondern vielleicht nur auf dem Hintergrund der Wand --«
+
+»Du bringst mich noch zur Verzweiflung, Herz, mit Deinem Gespenst,«
+sagte Bertling, während ein tiefer Seufzer seine Brust hob -- »wer Dir
+nur in aller Welt die tollen Gedanken in den Kopf gesetzt haben kann.«
+
+»Und nennst Du eine feste, innige Ueberzeugung mit diesem Namen,
+Theodor?«
+
+»Meine liebe Auguste,« flehte der Mann dringend, »mißverstehe mich
+nicht. Ich will Dir ja bei Gott nicht wehe thun, aber wie in aller Welt
+soll ich Dich nur überzeugen, daß -- daß Du Dich wirklich und wahrhaftig
+geirrt und ein körperliches Wesen mit einem geistigen in eine ganz
+unglückselige Verbindung bringst? -- Aber das hätte Alles nichts zu
+sagen, Herz, denn von =diesem= Irrthum hoff' ich Dich mit der Zeit zu
+überzeugen; nur =Das= beunruhigt mich, und noch dazu in der peinlichsten
+Weise, daß sich bei Dir eine -- ich weiß gar nicht, wie ich es nennen
+soll -- eine solche unglückselige Idee festgesetzt hat, die Du für eine
+Ahnung nahen Todes hältst. Wenn Du mich nur ein ganz klein wenig liebst,
+so bekämpfe diesen Gedanken mit allen Kräften, und von dem Uebrigen
+fürchte ich Nichts für Dich. Willst Du mir das versprechen?«
+
+»Aber lieber Theodor,« fragte die Frau -- »kann man denn eine
+=Ueberzeugung= noch bekämpfen?«
+
+Der Mann seufzte recht aus voller Brust. Endlich sagte er:
+
+»Dagegen läßt sich nicht streiten, und wir können nur hoffen, daß der
+liebe Gott noch Alles zum Besten wendet. Ich selber werde mir aber
+jetzt die größte Mühe geben, um Dir den Patron, der mich heute Abend mit
+seinem Besuch beehrte, als ein sehr körperliches Wesen vorzustellen, und
+wenn ich erst einmal =eine= Flanke Deines Luftschlosses niedergerannt
+habe, dann hoffe ich auch mit dem Uebrigen fertig zu werden. Bis dahin
+bitte ich Dich nur um eins und das mußt Du mir versprechen: Dich nicht
+absichtlich trüben Gedanken hinzugeben, sondern sie, so viel das nur
+irgend in Deinen Kräften steht, zu bewältigen -- das Uebrige findet sich
+dann. Thust Du mir den Gefallen?«
+
+»Von Herzen gern,« sagte die Frau seufzend, »ach Du weißt ja nicht,
+Theodor, wie furchtbar schmerzlich mir selber das Gefühl ist und ich
+will ja gern Alles thun um es zu ersticken.«
+
+»Dann wird auch noch Alles gut gehen, mein Kind,« erwiderte mit
+erleichtertem Herzen Bertling, indem er sie an sich zog und küßte --
+»und nun gilt es vor allen Dingen, meinen flüchtig gewordenen Besuch
+aufzutreiben, und da mir die Polizei zu Gebote steht, hoffe ich, daß das
+nicht so schwer sein soll.«
+
+»Ich fürchte, Du wirst ihn nicht finden,« sagte Auguste.
+
+»Das laß =meine= Sorge sein,« lächelte ihr Mann -- »und nun wollen wir
+Thee trinken.«
+
+
+Viertes Capitel.
+
+Die Kartenschlägerin.
+
+Bertling stand sonst nicht gern vor acht Uhr Morgens auf, und liebte
+es seinen Caffee im Bett zu trinken. Er gehörte auch zu den ruhigen
+Naturen, die sich durch kein Ereigniß, durch keine Sorge den Nachtschlaf
+rauben lassen, sondern Alles, was sie bedrücken oder quälen könnte, über
+Tag abmachen. Heute war er aber doch schon um sieben Uhr auf den Füßen
+und vollständig angezogen, und ging jetzt selber aus, um vor allen
+Dingen der Polizei eine genaue Personalbeschreibung seines gestrigen
+Besuches zu geben, wie ebenfalls eine gute Belohnung auf dessen
+Ausfindigmachung zu setzen. Natürlich durfte der Mann, wenn wirklich
+gefunden, durch Nichts belästigt werden; nur seinen Namen und seine
+Wohnung wollte er wissen, und ihn dann selber aufsuchen.
+
+Die Polizei entwickelte auch eine ganz besondere Thätigkeit, denn zehn
+Thaler waren nicht immer so leicht zu verdienen. Nach allen Seiten
+breiteten sich ihre Diener aus und hatten auch in der That schon
+den ersten Tag in den verschiedenen Revieren einige zwanzig Leute
+aufgetrieben, die der gegebenen Beschreibung allenfalls entsprachen, den
+Justizrath aber in nicht geringe Verlegenheit setzten. Er bekam nämlich
+dadurch einige zwanzig Adressen von ihm völlig unbekannten Leuten, die
+in den verschiedensten Theilen der Stadt sämmtlich die 3te oder 4te
+Etage zu bewohnen schienen und wohl oder übel mußte er seine Wanderung
+danach beginnen, denn zu sich citiren konnte er sie natürlich nicht.
+
+Wie man sich denken kann, fand er auch die Hälfte von ihnen nicht einmal
+beim ersten Besuch zu Haus, und wenn er sie fand, sah er sich wieder
+und wieder getäuscht, denn der =Rechte= war nicht unter ihnen. Vier Tage
+lang aber setzte er mit unverdrossener Mühe seine Versuche fort, immer
+aufs Neue getäuscht, aber immer auf's Neue hoffend, daß ihm der nächste
+Name den Gesuchten vorführen würde.
+
+Dabei hegte er noch immer den stillen Glauben, daß der Mann, der an
+jenem Abend jedenfalls etwas von ihm gewollt, vielleicht sogar von
+selber wiederkehren würde -- aber er sah sich darin ebenso getäuscht,
+wie in seinen eigenen Versuchen ihn aufzufinden. Der räthselhafte Mensch
+schien wie in den Boden hinein verschwunden.
+
+Am Meisten beunruhigte ihn dabei seine Frau. Sie wußte recht gut, wen er
+die ganzen Tage über, mit Vernachlässigung aller seiner nothwendigsten
+Geschäfte, gesucht habe; nie aber, wenn er körperlich ermattet und
+geistig abgespannt zum Mittags- oder Abendbrot heim kam, frug sie ihn
+nach dem Resultat seiner heutigen Suche -- sie schien das schon vorher
+zu wissen, sondern nickte nur immer still und schweigend mit dem Kopf,
+als ob sie hätte sagen wollen: Es ist ja natürlich -- wie kannst Du ein
+Wesen in der Stadt finden wollen, das gar nicht auf der Erde körperlich
+existirt -- und dem Justizrath war es dann jedesmal, als ob er wie ein
+Maschinenwerk frisch aufgezogen wäre, und die Zeit gar nicht erwarten
+könne, in der er wieder anfinge zu laufen.
+
+Er war heute Nachmittag aber erst um vier Uhr fortgegangen, weil einige
+nothwendige Arbeiten erledigt werden =mußten=, um sieben Uhr hatte er
+außerdem eine Sitzung und seiner Frau gesagt, daß er heute nicht vor
+neun Uhr nach Hause kommen könne -- wäre er aber im Stande sich früher
+loszumachen, so thäte er es sicher. Dann ging er jedoch zu Janisch
+hinüber und bat die junge Frau, ob sie heute Nachmittag nicht ein
+wenig die Freundin besuchen könne. Sie sei heute so merkwürdig
+niedergeschlagen, und da er durch nothwendige Geschäfte abgehalten
+wäre, würde es ihm eine große Beruhigung sein, wenn sie ihr Gesellschaft
+leisten wollte.
+
+Die stets heitere und freundliche Hofräthin versprach das von Herzen
+gern, ja meinte, sie hätte es sich heute sogar schon selber vorgenommen
+gehabt, Augusten aufzusuchen, da sie -- einen Scherz vorhabe bei dem sie
+ihre Mitwirkung wünsche.
+
+»Sie sind ein Engel,« sagte der Justizrath mit einer, an ihm ganz
+ungewohnten Galanterie, denn durch die freundliche Zusage schien sich
+ihm eine Last vom Herzen zu wälzen, und vollständig versichert, daß
+seine Frau jetzt für den Nachmittag und Abend Zerstreuung und also keine
+Zeit habe, ihren trüben Gedanken nachzuhängen, ging er mit Ernst und
+gutem Willen auf's Neue an die undankbare Arbeit, eine unbestimmte
+Persönlichkeit, von der er weder Namen, Stand noch Wohnung wußte, in der
+ziemlich weitläufigen Stadt aufzusuchen.
+
+Die Hofräthin Janisch hielt indessen Wort; kaum eine halbe Stunde später
+war sie drüben bei der Freundin und hatte ihr so viel zu erzählen und
+plauderte dabei so liebenswürdig, daß Auguste das sonst so schwer auf
+ihr lastende Gefühl endlich ganz vergessen zu haben schien. Bertling
+würde seine herzinnige Freude daran gehabt haben, wenn er sie in dieser
+Zeit hätte sehen können.
+
+Indessen war die Dämmerung hereingebrochen. Eben aber wie Licht gebracht
+werden sollte, sagte Pauline:
+
+»Hör einmal, liebes Herz, ich -- ich habe etwas vor, bei dem Du mir
+helfen sollst -- willst Du? -- es ist nur ein Scherz.«
+
+»Von Herzen gern, was ist es?«
+
+»In Eurem Hause wohnt eine Frau -- nun wie heißt sie doch gleich -- eine
+Frau Heßling oder --«
+
+»Heßberger? Das ist die Schuhmachers Frau, gleich über uns. Meinst Du
+die?«
+
+»Ganz recht. Ihr Mann arbeitet für uns und die Frau -- aber Du darfst
+mich nicht auslachen, Schatz -- die Frau soll ganz vortrefflich Karten
+schlagen können.«
+
+Auguste lächelte. »Ich habe auch schon davon gehört,« nickte sie leise
+vor sich hin, »und der Mann hat dabei die komische Eigenschaft, daß
+er das für eine Kunst des Teufels hält, es der Frau aber doch nicht
+verbietet, weil sie Geld damit verdient. Um aber das Unheil abzuwenden,
+das dadurch auf ihn fallen könnte, singt er jedes Mal, so lange die
+Frau mit solch unheiliger Beschäftigung hantirt, im Nebenzimmer und mit
+lauter Stimme geistliche Lieder, die in der Nähe schauerlich klingen
+müssen, denn schon aus der oberen Etage herunter haben sie uns oft zur
+Verzweiflung getrieben. Bei Gewittern macht er es ebenso.«
+
+»Das stimmt Alles,« lächelte Pauline, »und jetzt wollte ich Dir nur
+mittheilen, Schatz, daß ich gesonnen bin, Dich diesen musikalischen
+Ohrenschmaus ganz in der Nähe genießen zu lassen.«
+
+»Mich,« frug Auguste erstaunt -- »was hast Du denn vor?«
+
+»Nichts weniger« lachte Pauline, »als mir von Frau Heßberger heute Abend
+die Karten legen zu lassen und in dem dunklen Buche des Schicksals
+zu lesen, während ihr Gatte durch ein paar passende oder unpassende
+Gesangbuchverse die bösen Geister fern hält.«
+
+»Aber Pauline --«
+
+»Und Du sollst mich begleiten,« rief diese muthwillig -- »ich will mich
+nicht umsonst schon die ganze Woche darauf gefreut haben.«
+
+Auguste schüttelte nachdenkend mit dem Kopf -- es war ihr nicht ganz
+recht; die Aufforderung kam ihr aber auch so unerwartet und plötzlich,
+daß sie nicht gleich einen richtigen Grund wußte, sie abzulehnen.
+
+»Man soll doch eigentlich nicht mit den Geheimnissen der Zukunft sein
+Spiel treiben« sagte sie endlich leise.
+
+»Aber Herzensschatz,« lachte Pauline, »Du glaubst doch nicht etwa,
+daß Frau Heßberger, die den ganzen Tag über Schuhe einfaßt, oder
+ihrem Gatten den Pechdrath zu seiner Arbeit zurecht macht, Abends
+eine wirkliche Sybille würde und mehr von den Geheimnissen der Zukunft
+errathen könnte, als wir anderen armen Sterblichen auch?«
+
+»Wozu dann aber einen solchen Versuch machen?«
+
+»Verstehst Du denn keinen Spaß?« lachte Pauline -- »ich freue mich wie
+ein Kind darauf, ihre geheimnißvollen Zubereitungen zu sehen und die
+Orakelsprüche, während ihr Gatte den Teufel fern hält, -- aus ihrem
+Munde zu hören. So was erlebt man doch nicht alle Tage, und bequemer wie
+wir es von hier aus haben, bekommt man es auch sobald nicht wieder.«
+
+»Aber was sollen die Leute dazu sagen, wenn wir hinauf zu der Frau
+gehen?«
+
+»Und wer braucht es zu erfahren? -- Deine Rieke schickst Du ein paar
+Wege in die Stadt, wobei sie immer so viel für sich selber zu besorgen
+hat, daß sie doch vor einer Stunde nicht wieder kommt, und in der Hälfte
+der Zeit haben wir unseren Besuch gemacht.«
+
+»Und wenn die Frau selber darüber plaudert?«
+
+»Das thun derartige Leute nie, denn sie wissen, daß sie sich dadurch
+ihre ganze Kundschaft vertreiben würden. Wo es aber ihren eigenen Nutzen
+betrifft, sind solche Menschen klug genug. Thu mirs nur zu Gefallen,
+Auguste; ich habe mich schon so lange darauf gefreut und kann doch nicht
+gut allein hinauf gehen.«
+
+»Wenn es mein Mann erfahren sollte, würde er böse darüber werden -- ich
+kenne Bertling.«
+
+»Lachen wird er,« rief Pauline »wenn wir ihm nachher die ganze
+Geschichte erzählen -- es giebt ja doch einen Hauptspaß und Du darfst
+ihn mir nicht verderben. Außerdem brauchst Du Dir ja auch gar Nichts
+prophezeihen zu lassen, wenn Du irgend glaubst, daß es Deinem Mann --
+den ich übrigens für vernünftiger halte -- fatal sein könnte. Du gehst
+nur als Ehrendame mit, setzest Dich ruhig auf einen Stuhl -- oder wenn
+der nicht da sein sollte, auf einen Schusterschemel und hörst zu.«
+
+Auguste lächelte still vor sich hin, als sie sich das Bild im Geist
+herauf beschwor, die muntere Freundin ließ auch mit Bitten nicht nach,
+und wußte alle ihre Bedenken so geschickt und mit solchem Humor zu
+beseitigen, daß sie sich endlich nicht länger weigern konnte und mochte,
+und Pauline sprang jetzt, fröhlich in die Hände schlagend ordentlich wie
+ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat, in der Stube herum.
+
+Ein Auftrag für Rieke, um diese zu entfernen, war bald gefunden und kaum
+sahen sie das Mädchen über die Straße gehen, als die beiden Frauen ihre
+Tücher umhingen und in die dritte Etage hinanstiegen.
+
+Nach der Frau Heßberger aber brauchten sie nicht lange zu fragen, denn
+gleich rechts von der Treppe war die enge, dunkle Küche, in der die Dame
+eben beschäftigt schien die Abendsuppe anzurichten. Eine gewöhnliche
+Küchenlampe verbreitete ein mattes trübes Licht in dem niederen, eben
+nicht besonders sauber gehaltenen Raum, in den aber des Schusters Frau
+ganz vortrefflich hineinpaßte und sich auch wohl darin zu fühlen schien.
+
+Wie sie die leichten Schritte auf der Treppe hörte, nahm sie aber mit
+der Rechten, während die Linke noch immer in der Suppe rührte, die Lampe
+auf und hielt sie über den Kopf, um darunter hinweg besser erkennen zu
+können, wer der fremde Besuch sei. -- Unerwartet kam er ihr ja überhaupt
+nicht, denn es geschah gar nicht etwa so selten, daß sie von den
+verschiedensten Damen der Stadt und zwar von Damen =jeden= Ranges in der
+Gesellschaft, gerade um diese Zeit des Abends, oder auch noch später,
+aufgesucht und mit ihrer Kunst in Anspruch genommen wurde -- und sie
+verdiente mehr damit wie ihr Mann, trotz allem Fleiß, mit Ahle und
+Draht.
+
+Auguste schämte sich fast ein wenig des Besuchs und hielt sich noch
+immer scheu zurück, ihre keckere Freundin aber, die überhaupt die
+Leitung des Ganzen übernommen hatte, trat auf die Frau zu und wollte
+eben ihr Anliegen vortragen, als die Kartenschlägerin sie jeder
+Ansprache überhob, indem sie mit einer Höflichkeitsbewegung, die als ein
+Mittelding zwischen Knix und Verbeugung gelten konnte, sagte:
+
+»Nun, da kommen Sie ja doch noch, Frau Hofräthin; habe Sie schon eine
+halbe Stunde erwartet, und dachte beinah es wäre etwas dazwischen
+gekommen. Bitte treten Sie näher Frau Justizräthin -- freut mich ja
+recht sehr, Sie auch einmal oben bei mir zu sehen.«
+
+Auguste erschrak beinahe, denn sie stand noch in dem halbdüsteren
+Vorsaal und zum Theil von der Freundin gedeckt, Pauline aber wandte ihr
+halblachend den Kopf zu und sagte dann:
+
+»Schön, meine liebe Frau Heßberger, daß Sie uns erwartet haben; dann ist
+wohl auch bei Ihnen Alles hergerichtet?«
+
+»Alles, beste Frau Hofräthin, Alles,« erwiderte aber Frau Heßberger,
+ohne sich außer Fassung bringen zu lassen. »Das versteht sich doch aber
+auch von selbst, wenn man so vornehmen Besuch erhofft; die Stühle sind
+schon zum Tisch gerückt; habe weiter nichts drin zu thun, wie nur die
+Lichter anzuzünden.«
+
+Pauline wurde selber ein wenig stutzig, die Frau ließ ihr aber keine
+Zeit zu weiteren Fragen und nur mit den Worten: »Erlauben Sie, daß ich
+vorangehe« -- öffnete sie die Thür zur Werkstätte, in welcher ihr Gatte
+und ein Lehrjunge hinter ein paar erleuchteten Glaskugeln arbeiteten.
+
+Der alte Heßberger, eine kleine untersetzte Gestalt mit einer schwarzen,
+Gott weiß wie alten, fettglänzenden Mütze und eine Brille auf, kauerte
+auf seinem Schemel und schaute, als sich die Thür öffnete, von seiner
+Arbeit gar nicht auf. Mürrisch sah er vor sich nieder, und machte auch
+nicht den geringsten Versuch selbst zu irgend einer Art von Gruß. Der
+Besuch galt nicht ihm, so viel wußte er recht gut, weshalb also brauchte
+er sich darum zu kümmern.
+
+Auch selbst der Lehrjunge warf nur einen raschen und scheuen Blick nach
+den Damen hinüber, denn der gegenüber sitzende Meister beobachtete ihn
+über die Brille weg dann und wann, und ein, auf dem offenen Gesangbuch
+dicht neben ihm liegender Knieriem mochte wohl eine versuchte Neugier
+von seiner Seite schon manchmal auf frischer That ertappt und bestraft
+haben.
+
+Es ist möglich, daß das mürrische Temperament des Alten die einzige
+Ursache dieser Gleichgültigkeit war, viel wahrscheinlicher aber, daß er
+es eher aus Rücksichten für den Besuch selber unterließ, von diesem die
+geringste Notiz zu nehmen, oder nehmen zu lassen, denn er wußte recht
+gut, daß die Damen, die solcher Art bei Nacht und Nebel zu seiner Frau
+kamen, nicht erkannt und am Liebsten gar nicht gesehen sein wollten
+-- warum ihnen also nicht darin willfahren, da sie doch immer gut
+bezahlten.
+
+Die Frau bog indessen rasch zwischen einem Haufen der verschiedensten
+Leisten und Lederstücke und dem Ofen hindurch nach der dort befindlichen
+Thür, öffnete diese und entzündete zwei auf dem mit einer alten
+verwaschenen Caffeeserviette bedeckten Tisch stehende Talglichter;
+Auguste und Pauline waren ihr indeß gefolgt, und ehe sie die Thür hinter
+ihnen schloß, rief sie nur noch dem Lehrjungen zu, die Suppe für den
+Meister herein zu holen und drehte dann den Schlüssel im Schloß um.
+
+Pauline, während ihre Freundin kaum aufzuschauen wagte, sah sich
+indessen in dem kleinen Gemach um, das allerdings nicht glänzend
+genannt werden konnte, aber doch sehr zu seinem Vortheil gegen Küche und
+Werkstätte abstach.
+
+Es war ein nicht sehr großes Gemach, das allem Anschein nach zum Wohn-
+und Schlafzimmer der Eheleute diente. Zwei Betten standen -- Fuß- und
+Kopfende an der einen Wand, durch nichts als ein paar alte Decken von
+buntem Kattun verhüllt. An den Fenstern hingen aber Gardinen, ja standen
+sogar zwei Blumentöpfe mit den ersten Kindern des Frühlings, Primeln und
+Hyacinthen, und an beiden Seiten des kleinen Spiegels, aus dem eine Ecke
+fehlte, waren ein paar schauerliche Oelgemälde angebracht, die
+jedenfalls »Herrn und Madame Heßberger« im Sonntagsstaat -- vielleicht
+als junge Eheleute darstellen sollten. Waren sie indessen mit der Zeit
+so nachgedunkelt, oder verhüllte die jetzige Düsterheit des Gemachs ihre
+vielleicht sonst sichtbaren Umrisse: in diesem Augenblick ließ sich auf
+dem einen Bilde Nichts als die Contour eines Kopfes und ein riesiges
+Jabot erkennen, während auf dem anderen nur die weit ausflügelnde Haube
+der Frau und eine Hand sichtbar blieb, in der sie ein weißes Taschentuch
+emporhielt.
+
+Unter dem Spiegel hingen noch ein paar Silhouetten in unkennbaren
+Formen.
+
+Daß die Frau übrigens auf einen Besuch vorbereitet gewesen, wenn sie
+das überhaupt nicht jeden Abend war, zeigte in der That die ganze
+Vorrichtung des Tisches neben dem für die beiden Gäste zwei gepolsterte
+Stühle mit altmodischen hohen Lehnen standen und auf diese nöthigte auch
+die Frau Heßberger ihren Besuch und sagte freundlich:
+
+»Setzen Sie sich, meine Damen, Sie brauchen mir gar Nichts vorher zu
+sagen, ich weiß schon ohnedies weshalb Sie hergekommen sind -- bitte
+nehmen Sie Platz, und wir wollen dann gleich einmal versuchen ob ich
+Ihnen helfen kann.«
+
+»Und wissen Sie wirklich was ich Sie fragen will, Frau Heßberger?«
+frug Pauline, die in dem Augenblick doch etwas von ihrer vorherigen
+Ausgelassenheit verloren zu haben schien.
+
+»Warum sollt ich nicht, Frau Hofräthin, warum sollt ich nicht und wie
+könnte ich mich unterfangen Zukünftiges voraus zu sagen, wenn ich nicht
+das Vergangene und wirklich Geschehene wüßte --«
+
+»Aber ich begreife nur nicht --«
+
+»Lieber Gott« sagte des Schusters Frau, mit einem frommen Blick nach
+oben, »wir begreifen Manches nicht auf dieser Welt, Frau Hofräthin, und
+leben in unserer Unschuld so in den Tag hinein. -- Wenn man aber ein
+Bischen tiefer sehen lernt, Frau Hofräthin, dann bekommt man eine andere
+Meinung von der Sache -- Gottes Wege sind wunderbar.«
+
+Es war ordentlich als ob das das Stichwort für ihren Gatten im
+Nebenzimmer gewesen wäre, denn in demselben Moment begann er mit seinem
+schauerlich näselnden Ton, das gewöhnliche Präservativmittel gegen den
+bösen Feind und dessen Einwirkungen, irgend ein endloses Lied aus dem
+Gesangbuch. Der würdevolle Vortrag wurde aber heute leider durch etwas
+gestört; der Schuhmacher hatte nämlich noch keine Zeit bekommen, um
+seine Suppe zu essen, und daß er Beides mit einander zu verbinden
+suchte, that dem Einen Eintrag und ließ ihn das Andere nicht recht
+genießen -- aber es mußte eben gehen.
+
+Die Frau, ohne auf den plötzlichen Gesangsausbruch auch nur im Mindesten
+zu achten, holte indessen von dem kleinen Tisch unter dem Spiegel, auf
+dem einige vergoldete Tassen, zwei blaue Glasvasen mit Schilfblüthen
+und ein paar grell bemalte Gypsfiguren standen, ein Spiel ziemlich oft
+gebrauchter Karten, mit denen sie sich in einer Art von geschäftsmäßiger
+Eile auf einen hohen Rohrschemel setzte und dabei links und rechts auf
+die Lehnstühle wieß, um die Damen dadurch einzuladen Platz zu nehmen.
+
+Pauline hatte im Stillen gehofft in dem Zimmer der Kartenprophetin eine
+Menge wunderbarer und unheimlicher Dinge zu finden, die mit ihrer Kunst
+in Verbindung standen -- einen schwarzen Kater z. B. der schnurrend
+neben der Wahrsagerin saß und auf ihre Worte horchte -- düstere Tapeten
+vielleicht und einen Todtenkopf von magischen Zeichen umgeben. Aber
+von alledem zeigte sich nichts, denn der bunt gemalte Gipspapagei und
+Napoleon I., die auf dem Tisch unter dem Spiegel standen und sich --
+beide von einer Größe -- einander starr ansahen, konnten doch wahrlich
+nicht als derartige Symbole gelten. Das ganze Zimmer zeigte überhaupt
+Nichts, was nicht auch in der Wohnung jedes anderen Handwerkers zu
+finden gewesen wäre -- die Karten selber vielleicht ausgenommen.
+
+Die Aufmerksamkeit der kleinen lebendigen Frau wurde aber bald
+ausschließlich auf die Karten gelenkt, denn die Frau Heßberger begann
+jetzt in feierlicher Weise sie zu mischen, und dazu tönte der, nur
+zeitweise von der Suppe unterbrochene Gesang des Schusters dazwischen
+-- und wie laut die alte Schwarzwälder Uhr an der Wand da mit hinein
+tickte.
+
+Endlich war das Spiel gehörig vorbereitet und die Frau sagte plötzlich,
+indem sie die Karten der rechts von ihr sitzenden Hofräthin zum Abheben
+hinlegte:
+
+»Also Sie wollen vor allen Dingen wissen, meine verehrte Frau Hofräthin,
+ob Sie etwas Gestohlenes wieder bekommen werden und -- wo der Dieb zu
+suchen ist.«
+
+»Das allerdings« lächelte die kleine Frau -- »aber es wird doch wohl
+nöthig sein zu sagen was es ist.«
+
+»Das sehen wir ja aus den bunten Blättern« erwiderte ruhig die
+Kartenschlägerin.
+
+»In der That?«
+
+Die Frau antwortete nicht mehr; sie legte in der gewöhnlichen Weise
+ihre Karten auf den Tisch und während sie sich mit den gerade nicht
+überreinlichen Fingern der rechten Hand das Kinn strich, betrachtete
+sie die Kombination der verschiedenen Blätter mit leisem und prüfendem
+Kopfnicken.
+
+Augustens und Paulinens Blicke hafteten jetzt wirklich mit Spannung auf
+den Zügen der Alten, die aber ihre Gegenwart ganz vergessen zu haben
+schien, wie sie selber auch in diesem Augenblick gar nicht mehr das
+schauerliche Lied des Schuhmachers in der nächsten Stube hörten.
+
+Endlich brach die Alte das Schweigen und sagte:
+
+»Jawohl -- ich hab es mir gleich gedacht -- das kann nur ein Hausdieb
+sein -- aus dem Secretair heraus --«
+
+»Hat sie Recht?« frug Auguste nur mit einem Blick über den Tisch hinüber
+die Freundin und diese nickte ihr halbverstohlen zu.
+
+»Nur ein Hausdieb -- aber er hat es schlau angefangen -- da die Treff
+Sieben mit der Caro sechs, die den Coeur Buben in der Mitte haben -- --
+aber der Bube selber war es nicht, doch hat er es fortgetragen und es
+wird nie wieder zum Vorschein kommen --«
+
+»Ja aber beste Frau Heßberger,« sagte Pauline mit einem schelmischen
+Blick auf die Künstlerin -- »daß es Jemand fortgetragen hat, wußte ich
+schon vorher, und jetzt möchte ich nur erfahren =wer=; dann ist es doch
+vielleicht möglich dem gestohlenen Gegenstand auf die Spur zu kommen.«
+
+»Nicht so leicht,« sagte die Frau kopfschüttelnd -- »da liegt es, die
+Caro zehn sagt es deutlich -- ein Corallen-Halsband mit goldenem
+Schloß -- das ist leicht versteckt. -- Aber der Dieb hat seine Spuren
+zurückgelassen -- da gehen sie Treff zwei, Pike zwei, Treff vier, Pike
+vier, -- deutlich hin zu der Pike-Dame -- ich sehe ein Mädchen mit
+grünem Band auf der Haube, die etwas in die Taschen steckt und dann
+langsam die Straße hinunter geht. --«
+
+»In den Karten?«
+
+»Dort unten an der Ecke trifft sie mit dem Coeurbuben zusammen -- aber
+den kann ich nicht deutlich erkennen,« fuhr die Frau fort, ohne den
+Einwurf zu beantworten. »Er ist zu weit entfernt.«
+
+»Also die Pike-Dame mit dem grünen Band auf der Haube,« nickte Pauline
+lächelnd, »da wäre schon eine ziemlich deutliche Spur gefunden, denn ich
+kenne eine junge Dame, die ein grünes Band auf der Haube trägt. -- Wenn
+wir nur den Coeur Buben ausfindig machen könnten, dem sie das Gestohlene
+gegeben hat.«
+
+»Das ist nicht so leicht,« sagte die Kartenschlägerin, die ihre Blätter
+indessen aufmerksam betrachtet hatte -- »hier zieht sich eine lange
+Linie von Treff und Pike zwischen ihm und Ihrer Karte durch, Frau
+Hofräthin. -- Er kann nur durch die Pike-Dame mit dem grünen Band
+ermittelt werden.«
+
+»Der Wink ist deutlich genug, und ich werde ihn befolgen,« lächelte die
+Hofräthin -- »herzlichen Dank Frau Heßberger -- Sie haben mir gezeigt,
+daß Sie in Ihrer Kunst Meisterin sind« und dabei drückte sie der
+geschmeichelten Schusters Frau einen harten Thaler in die Hand.
+
+»Und soll ich Ihnen auch sagen, was Sie wissen möchten, Frau
+Justizräthin?« wandte sich die Kartenkünstlerin jetzt an Auguste, die
+ein wohl aufmerksamer, aber bis dahin doch theilnahmloser Zuschauer des
+Ganzen gewesen war. Sie hatte dabei die über den Tisch gelegten Karten
+wieder zusammengerafft und fing von Neuem an zu mischen.
+
+»Ich danke Ihnen sehr,« sagte aber Auguste, fast ängstlich, »ich -- ich
+habe meine Freundin nur begleitet.«
+
+»Und doch liegt Ihnen etwas auf dem Herzen, Kind, was Sie um Alles in
+der Welt davon herunter haben möchten,« fuhr die Frau geschwätzig fort,
+ohne sich irre machen zu lassen. -- »Da heben Sie nur einmal ab, die
+alte Heßbergern weiß oft mehr, als andere Leute zu glauben scheinen.«
+
+Augusten war es, als ob ihr Jemand einen Stich ins Herz gegeben. -- Oh,
+wohl lag ihr etwas auf dem Herzen -- aber was wußte die Frau davon --
+was =konnte= sie davon wissen.
+
+»Heben Sie nur ab, Frau Justizräthin,« drängte die Alte »-- es ist ja
+nichts Unrechtes, was man damit thut. -- Was wir vom Schicksal nicht
+erfahren =sollen=, erfahren wir doch nicht, so viel Mühe wir uns auch
+damit geben.«
+
+»So thu ihr doch den Willen,« lächelte Pauline -- »oder soll ich für
+Dich abheben?«
+
+»Nein, das muß die Frau Justizräthin selber thun,« wandte aber die Frau
+ein; »sonst bekommen wir nachher Confusion. So ists recht -- danke Ihnen
+Madamchen; nun wollen wir gleich einmal sehen, ob wir Ihnen nicht helfen
+können« und in der alten Weise die Karten auslegend, bedeckte Sie
+mit ihnen den Tisch, schüttelte dabei aber, wie über die Reihenfolge
+erstaunt, langsam mit dem Kopf.
+
+Auguste hatte fast willenlos ihren Wunsch befolgt, aber das Herz schlug
+ihr dabei so fieberhaft, die Brust war ihr so beengt, sie hätte jetzt
+Gott weiß was darum gegeben, nur von hier fort zu sein.
+
+»Hm, hm, hm, hm« murmelte da die Alte vor sich hin, indem sie die Karten
+prüfend betrachtete und immer stärker dazu mit dem Kopf schüttelte, »das
+ist ja eine ganz wunderliche Geschichte -- da geht Ihr Lebensfaden so
+glatt durch das halbe Spiel, und da kommt auf einmal ein fremder Mann
+mit einem grauen Rock dazwischen --.«
+
+Auguste wollte sich krampfhaft von ihrem Stuhl heben, aber sie vermochte
+es nicht -- willenlos brach sie zurück; Pauline jedoch bemerkte zu ihrem
+Schrecken, daß Leichenblässe ihre Züge deckte, und sie kaum im Stande
+war, sich noch aufrecht zu halten. Pauline behielt auch in der That nur
+eben noch Zeit zuzuspringen und sie zu halten, sonst wäre sie unfehlbar
+von ihrem Stuhl herabgestürzt. Trotzdem wurde sie nicht ohnmächtig; es
+schien nur als ob eine plötzliche Schwäche über sie gekommen sei und sie
+bat mit leiser Stimme um ein Glas Wasser. Darnach fühlte sie sich
+etwas gestärkt, aber jetzt bestand Pauline wieder darauf, daß sie des
+Schuhmachers Wohnung augenblicklich verließen -- machte sie sich doch
+längst schon insgeheim Vorwürfe darüber, die Freundin überredet zu
+haben, sie hier herauf zu begleiten.
+
+»Fühlst Du Dich stark genug Herz, mit mir fortzugehen?« frug sie leise,
+indem sie ihren Arm um Augusten legte.
+
+»Ja, ja,« rief diese rasch und heftig, indem sie sich ohne Hülfe
+aufrichtete -- »komm fort -- mir ist es als wenn ich hier sterben
+müßte.«
+
+»Bitte leuchten Sie uns,« bat Pauline, indem sie dabei Augusten umfaßt
+hielt.
+
+»Aber beste Frau Hofräthin.«
+
+»Wenn mir die Freundin hier krank wird, mache ich Sie dafür
+verantwortlich,« rief die kleine Frau heftig. -- »Nehmen Sie Ihr Licht,
+rasch!«
+
+Sie sprach das mit einem so befehlenden, ja drohenden Ton, daß die bis
+dahin noch so feierliche Frau Heßberger ganz beweglich wurde. Sie
+griff auch rasch ein Licht auf und während ihr Mann mit dem geleerten
+Suppennapf neben sich, noch an den letzten Versen seines endlosen Liedes
+brüllte, schritten die beiden Damen durch die Werkstätte. Aber erst
+draußen auf der Treppe, als Auguste wieder freie und frische Luft
+schöpfte, athmete sie auf und schweigend stiegen die Freundinnen in die
+untere Wohnung, wo sich die Justizräthin erschöpft in einen Stuhl warf.
+
+»Aber lieber Herzensschatz,« nahm hier Pauline das Wort, nachdem sie
+sich vorher überzeugt hatte, daß sie allein im Zimmer waren -- »wie, um
+Gottes Willen hat Dich das Gewäsch der alten Kaffeeschwester auch nur
+im Mindesten aufregen können. Du bist doch vernünftig genug an derlei
+Unsinn nicht wirklich zu glauben.«
+
+»Wir hätten gar nicht hinauf gehen sollen,« sagte Auguste leise -- »ich
+wußte vorher wie es werden würde.«
+
+»Aber soll man sich denn nicht einmal derartige Dinge mit ansehen?
+Ist es denn nicht interessant zu beobachten wie die Menschen einander
+betrügen und wie sie betrogen sein wollen?«
+
+»Aber hat sie Dir denn nicht von Deinem verlorenen Schmuck gesagt? Woher
+konnte Sie das wissen?«
+
+»Woher?« lachte Pauline, »als ob derartiges Volk nicht überall herum
+spionirte, und mit ein klein wenig Mutterwitz begabt, leicht im Stande
+wäre, irgend etwas Glaubbares hinzustellen. Die Phantasie der Gläubigen
+trägt freiwillig dazu bei und der Ruf einer Prophetin ist fix und
+fertig. -- Denkst Du nicht, daß sie bei meinen Dienstboten schon herum
+gehorcht hat, ja zehn gegen eins möchte ich wetten, daß ein' oder die
+andere Person schon bei ihr gewesen ist, um sich Raths zu erholen; aber
+das will ich schon herausbekommen, verlaß Dich darauf.«
+
+»Und die Frau mit der grünen Schleife?«
+
+»Es geht allerdings eine Wäscherin bei uns aus und ein,« sagte die
+Hofräthin, »die eine grüne Schleife auf der Haube trägt, und der wird
+sie oft genug begegnet sein. Ich habe aber nicht den geringsten Grund
+auf die in jeder Hinsicht achtbare Person irgend einen Verdacht zu
+werfen. Jedenfalls hat sie auch nur ganz auf gut Glück hin die genannt,
+eben so wie bei Dir den Mann im grauen Rock.«
+
+»Nein, nein,« rief aber Auguste rasch und heftig und warf den Blick
+dabei scheu umher -- »da liegt ein tieferes Geheimniß zum Grunde und
+=das= gerade drohte mir da oben die Besinnung zu rauben.«
+
+»Es war so dumpf und heiß in der Stube, daß mir selber fast unwohl
+geworden ist,« sagte die Hofräthin.
+
+»Der graue Mann existirt,« flüsterte da Auguste »und unerklärlich bleibt
+es mir, wie sie davon wissen konnte, denn gegen keinen Menschen in der
+Welt habe ich mich darüber ausgesprochen, als gegen meinen Mann.«
+
+Pauline schüttelte mit dem Kopf, endlich sagte sie:
+
+»Und darf ich wissen, was es damit zu bedeuten hat?«
+
+»Ja,« hauchte Auguste -- »aber nicht heute -- nicht jetzt Pauline -- ich
+bin schon überdies zu aufgeregt, und fürchte, daß -- daß es noch mehr
+der Fall sein würde, wenn ich -- jene wunderliche Erscheinung frisch
+herauf beschwören wollte. Morgen -- morgen früh, wenn die Sonne scheint
+und alles licht und hell um uns ist -- nicht jetzt -- nicht jetzt.«
+
+»Gut mein liebes Herz,« sagte Pauline, die gar nicht daran dachte sie
+jetzt zu drängen -- »bis morgen kann ich Dir dann auch vielleicht
+von mir Auskunft geben, wie weit die Prophezeihung der Schusters Frau
+wirklich zutrifft und ob sie eben mehr weiß wie andere Leute.«
+
+Auguste erwiderte nichts darauf: sie nickte nur schweigend mit dem Kopf
+und Pauline fühlte, daß sie ihr keinen größeren Gefallen thun konnte,
+als sie jetzt allein und ungestört zu lassen. Sie nahm auch kurzen
+Abschied von ihr und ging, sann aber unterwegs hin und her darüber, was
+der sonst so ruhigen Freundin geschehen sein müsse, um sie in eine so
+überreizte Stimmung zu versetzen, denn es war ja nicht möglich, daß die
+albernen Vermuthungen der Schusters Frau wirklich einen Einfluß auf
+sie ausgeübt haben sollten. Doch das gedachte sie morgen Alles
+herauszubekommen -- heute ließ sich doch nichts mehr an der Sache thun.
+
+
+Fünftes Capitel.
+
+Die böse Nacht.
+
+Als der Justizrath an diesem Abend um neun Uhr nach Hause kam, war seine
+Frau schon zu Bett gegangen. Sie hatte, wie das Mädchen sagte, heftige
+Kopfschmerzen gehabt und sich zeitig niedergelegt. Als Bertling hinüber
+ging, schlief Auguste und er trat noch in sein Arbeitszimmer, um die
+heute eingelaufene Correspondenz zu lesen und zu beantworten -- hatte er
+doch den ganzen Tag keine Zeit dazu gefunden.
+
+Es war bald halb zwölf Uhr, ehe er selber sein Lager suchte und die Frau
+schlief noch immer, aber unruhig. Sie schien zu träumen, hob den Arm
+und öffnete die Lippen, sprach aber Nichts und lag gleich darauf wieder
+still und ruhig. Sie hatte das in der letzten Zeit öfter gethan, auch
+wohl gesprochen, aber immer nur unzusammenhängende Worte, ohne sich
+später je eines Traumes bewußt zu sein, und Bertling beunruhigte sich
+also nicht weiter darüber. Unwillkürlich fiel ihm aber doch wieder jener
+wunderliche und so geheimnißvoll verschwundene Besuch ein, den er
+bis dahin vergeblich in der ganzen Stadt gesucht. War nicht die ganze
+Polizei nach dem Mann im grauen Rock ausgewesen, ohne auch nur auf die
+entfernteste Spur zu kommen? und schien es nicht fast, als ob er die
+Stadt in gerade so räthselhafter Weise verlassen hätte, wie damals
+Bertlings eigenes Zimmer?
+
+Mit den Gedanken suchte der Justizrath sein Lager und war bald, von den
+vielen Arbeiten dieses Tages ermüdet, sanft eingeschlafen. -- Seiner
+Meinung nach konnte er aber kaum die Augen geschlossen haben, als er
+seinen Namen rufen hörte:
+
+»Theodor! -- Theodor!«
+
+Noch schlaftrunken richtete er sich empor -- »Weckst Du mich Auguste?«
+frug er.
+
+»Und Du kannst schlafen,« sagte die Frau mit vorwurfsvollem aber weichem
+Ton -- »schlafen in der =letzten= Stunde, die wir noch beisammen sind?«
+
+»Aber Auguste,« sagte der Mann erschreckt und war in dem einen Moment
+auch vollkommen munter geworden -- »was hast Du nur -- was sprichst Du
+da? Sicherlich hast Du geträumt -- ich bin ja bei Dir Herz, wache nur
+ordentlich auf.«
+
+»Ach ich war so glücklich,« sagte da die Frau, mit einem Ton, der
+ordentlich in seine Seele schnitt -- »so glücklich die kurze Zeit mit
+Dir -- und muß nun fort.«
+
+Bertling wußte gar nicht wie er aus dem Bett kam, so rasch fuhr er in
+seine Kleider und zündete dann ein Licht an.
+
+Auguste lag, die Augen geschlossen, die Arme vor sich ausgestreckt, aber
+die Hände gefaltet, in ihrem Bett und große helle Thränen liefen ihr
+über die Wangen. Bertling aber hielt das immer noch für einen einfachen,
+schweren Traum, der ja augenblicklich weichen mußte, so wie er sie nur
+weckte.
+
+»Mein liebes Herz,« sagte er, seinen Arm um ihre Schultern legend --
+»wach auf, Du träumst ja nur --«
+
+»Und hast Du schon Jemanden gesehen, der mit offenen Augen träumt?«
+sagte sie, sich im Bett aufrichtend und ihn groß ansehend -- »Träumst Du
+denn jetzt?«
+
+»Aber von was sprichst Du?«
+
+Sie antwortete ihm nicht gleich. -- Während er sich zu ihr auf die
+Bettkante setzte, hatte sein Fuß den Stuhl ein klein wenig verschoben
+und sie schien dem Geräusch zu horchen.
+
+»Ich glaube sie kommen schon,« flüsterte sie scheu und faßte seinen Arm
+mit allen Kräften.
+
+»Wer, mein Herz? wer?« bat der Mann, der jetzt peinlich besorgt um die
+Arme wurde, die wie er sich nicht mehr verhehlen konnte mit wachenden
+Augen phantasirte. »Wer soll denn jetzt mitten in der Nacht zu uns
+kommen?«
+
+»Mitten in der Nacht? -- ja es ist gerade zwölf Uhr vorbei,« flüsterte
+sie -- »das ist die Zeit, in der die schwarzen Männer kommen und mich
+abholen. -- Oh Gott,« seufzte sie dabei -- »und jetzt hat mich Alles
+verlassen -- selbst Theodor ist fort und ich allein kann mich ja nicht
+gegen sie wehren.«
+
+»Aber beste Auguste« rief Bertling bestürzt -- »was sprichst Du nur --
+ich bin ja bei Dir hier.«
+
+»Fort -- fort -- wer bist Du?« -- sagte sie und stieß ihn mit beiden
+Armen heftig von sich -- »was willst Du hier -- und wie kommst Du hier
+herein?«
+
+»Aber ich bin es ja -- Dein Theodor -- kennst Du mich denn nicht?«
+
+»Deine Stimme ist es -- ja,« sagte die Frau, indem sie ihn ein paar
+Momente ruhig und fest betrachtete -- »aber das Gesicht kenne ich nicht
+-- das ist mir fremd -- geh fort -- geh fort!« und sie warf sich dabei
+zurück und barg ihr Gesicht im Kissen. Dort lag sie still und regungslos
+viele Minuten lang und Bertling wußte nicht, was er beginnen sollte.
+Vorsichtig legte er den Finger auf ihren Arm. -- Der Puls ging
+vollkommen ruhig und eher langsamer als rascher wie gewöhnlich. --
+Vielleicht schlief sie jetzt ein; er wollte sie wenigstens unter keiner
+Bedingung stören, setzte das Licht fort, daß es ihr nicht auf die Augen
+scheinen konnte und ließ sich dann behutsam und geräuschlos auf einem
+Lehnstuhl nieder, um dort abzuwarten, ob sie noch einmal erwache.
+
+So mochte er über eine Stunde gesessen haben und dachte gerade daran,
+das Licht auszulöschen und selber wieder zu Bett zu gehen, als er die
+Frau leise wimmern hörte.
+
+Vorsichtig stand er auf -- sie lag noch genau so wie vorher, nur das
+Gesicht hatte sie mehr nach oben gerichtet, damit sie frei athmen
+konnte, aber beide Augen hielt sie mit den Händen bedeckt und weinte
+still und leise.
+
+»Auguste,« sagte der Mann da, indem er wieder zu ihr trat, »was hast Du
+nur? -- Sage es mir -- ich bitte Dich darum.«
+
+Sie schien ihn nicht zu hören, aber ihr Weinen wurde heftiger und brach
+endlich in nicht laute, doch deutliche Klagen aus.
+
+»Fort -- fort muß ich von hier, wo ich =so= glücklich war!« wimmerte
+sie. -- »Ach nur so wenig Jahre durfte ich mit Theodor zusammen sein und
+jetzt kommen die bösen schwarzen Männer und wollen mich fortschleppen
+und in die kalte häßliche Erde legen. -- Oh was hab ich ihnen nur
+gethan? -- Aber sie hassen mich hier -- Alle -- Keiner hat mich lieb --
+Keiner -- und der Einzige, der mir gut war, Theodor, hat mich nun auch
+verlassen.«
+
+»Auguste,« bat Bertling in Todesangst, »Du brichst mir das Herz mit
+solchen Reden. -- Ich bin ja hier -- bin bei Dir und werde Dich nie
+verlassen.« Dabei drückte er sie fest an sich und küßte ihre Stirn aber
+sie schien jetzt weder seine Worte zu hören, noch seine Berührung zu
+fühlen. Wieder lag sie viele Minuten lang still und regungslos, und
+nur das schwere Athmen verrieth, daß sie lebe -- endlich fuhr sie leise
+fort:
+
+»Oh daß Theodor von mir gegangen ist -- er war so lieb, so gut mit
+mir -- und ich habe ihn so oft gekränkt, aber es doch nie -- nie böse
+gemeint. -- Er =mußte= es doch wissen, wie ich ihn liebe -- und doch ist
+er fort.«
+
+»Aber ich bin ja bei Dir, Herz -- so höre doch nur! hier lege Deine Hand
+auf mein Gesicht -- fühlst Du denn nicht, daß ich bei Dir bin -- daß ich
+Dich nie verlassen werde?«
+
+»Ja -- =Alle= haben mich verlassen,« rief die Frau eintönig -- »und
+jetzt schleichen sich die schwarzen Männer herein und tragen mich fort
+-- und wenn dann Theodor zurückkommt -- wie er sich wundern wird, wenn
+ich nicht mehr da bin! und wie traurig wird er sein, -- armer -- armer
+Theodor.«
+
+Bertling war außer sich. Er fühlte, daß alle seine Worte nichts halfen.
+Die Unglückliche hörte in diesem eigenthümlichen Zustand weder was
+er sagte, noch fühlte sie den um sie geschlagenen Arm und die heißen
+Thränen, die auf ihr Antlitz fielen und sich mit den ihrigen mischten.
+
+Wieder lag sie eine halbe Stunde etwa in einem solchen fast bewußtlosen
+Zustand und mit geschlossenen Augen. Das Licht brannte düster und
+Bertling schritt leise zu der Lampe, um diese zu entzünden. Er glaubte,
+daß vielleicht helleres Licht die aufgeregten Sinne eher beruhigen
+würde. Wie er die Glocke aber wieder aufsetzte, wobei ein leicht
+klirrendes Geräusch nicht zu vermeiden war, richtete sich die Kranke
+plötzlich rasch und erschreckt empor und horchte mit weit geöffneten
+Augen der Thür zu.
+
+»Was hast Du denn Auguste, -- Was horchst Du so nach der Thür?« frug
+ihr Mann um sie zu beschwichtigen. Sie verstand jetzt was er sagte, ja
+schien ihn auch zu kennen und vergessen zu haben, daß sie früher über
+seine Abwesenheit geklagt und scheu erwiderte sie:
+
+»Hörst Du denn nicht die Schritte auf der Treppe? -- sie kommen um
+mich abzuholen und unten im Haus steht der graue Mann, der mich auch
+erwartet. Oh ich wußte ja, daß sie noch kommen würden, wenn es auch
+schon zwölf Uhr vorbei ist.«
+
+»Aber mein liebes süßes Herz,« bat Bertling, der sich schon dadurch
+etwas beruhigt fühlte, daß er doch jetzt mit ihr reden konnte. -- »Zwölf
+Uhr vorbei -- es ist schon fünf Uhr und die Sonne wird gleich aufgehen.«
+-- Er hoffte sie dadurch, daß er sie glauben mache, es sei Morgen,
+rascher zu beruhigen. Die Kranke aber schüttelte unwillig mit dem Kopf
+und rief:
+
+»Täusche mich nicht -- es fehlen nur noch ein paar Minuten an halb Zwei
+-- sieh doch nach. --«
+
+Bertling sah unwillkürlich nach seiner Uhr und Auguste hatte vollkommen
+recht. Sie wußte genau, welche Zeit es war. Ehe er ihr aber noch etwas
+erwidern konnte, nickte sie ernst und traurig mit dem Kopf und sagte:
+
+»Ja -- ja -- so muß es sein -- =Du= wirst jetzt oben wohnen und =ich=
+unten -- und wir werden nie wieder zusammen kommen.«
+
+»Aber, wo willst Du =unten= wohnen, mein Kind,« lächelte der Mann, der
+ihre Gedanken abzulenken suchte, -- »das untere Logis hat ja der Doktor
+Pellert gemiethet.«
+
+»Wer spricht denn davon,« sagte sie finster -- »in der Erde, mein' ich
+-- wenn sie mich begraben haben. Sie kommen ja gleich.«
+
+»Aber meine Auguste!«
+
+»Und ich war so glücklich« fuhr sie leise, mit zum Herzen dringender
+Stimme fort -- »so unsagbar glücklich -- aber nur für eine kurze --
+kurze Zeit. Jetzt muß es sein und ich will mich auch nicht länger
+sträuben -- ich kann mich ja doch nicht gegen die vier schwarzen Männer
+wehren.«
+
+»Und bin ich nicht hier Dich zu vertheidigen?«
+
+»Was kannst =Du= gegen die =viere= ausrichten!« erwiderte sie
+kopfschüttelnd, »und sie sind stark -- =sehr= stark. Aber ich habe nicht
+mehr viel Zeit -- hier den Ring nimm mir vom Finger -- den schwarzen
+Ring -- den sollst Du Paulinen von mir geben.«
+
+»Aber Auguste.«
+
+»So nimm denn doch den Ring -- sie kommen ja,« bat sie mit einer Stimme,
+die ihm durch Mark und Bein schnitt und es blieb ihm Nichts übrig, als
+ihrem Wunsch zu willfahren und ihr den Ring abzunehmen; fürchtete er
+doch sie durch Widerspruch nur noch so viel mehr aufzureizen. Wie er
+das aber gethan, stürzten ihm selber die Thränen aus den Augen und sie
+umfassend jammerte er: »Meine liebe -- liebe Auguste.«
+
+»Lebe wohl Theodor,« sagte sie da und schlang ihre Arme fest und fast
+krampfhaft um seinen Nacken -- »lebe wohl und tausend, tausend Dank für
+alles Liebe und Gute, das Du mir gethan. --«
+
+»Aber Du gehst ja nicht von mir -- Du bleibst ja bei mir, nie -- nie im
+Leben trennen wir uns mehr,« flüsterte der Mann in Todesangst.
+
+»Es muß ja sein,« tröstete sie ihn leise -- »weine deshalb nicht -- oh
+=Du= hast es ja auch gut -- =Du= kannst draußen im Sonnenlicht, auf der
+schönen Erde bleiben -- aber mich -- mich legen sie in das dunkle kalte
+Grab und ich bin noch so jung -- so jung und schon sterben -- oh es ist
+recht, recht hart.«
+
+»Auguste -- ich halte das nicht länger aus,« flehte der Mann, dem die
+Aufregung fast den Athem nahm -- »so komm doch nur zu Dir -- es ist ja
+Alles nur ein böser Traum.«
+
+Unten auf der Straße rasselte in diesem Augenblick ein Wagen über das
+Pflaster; der Schall klang deutlich herauf.
+
+»Da sind sie,« flüsterte die Kranke erbebend -- »oh Gott wie =schnell=
+sie kommen -- wie furchtbar schnell. -- Jetzt muß ich fort -- oh Gott,
+oh Gott schon jetzt. Nein ich will nicht -- sie sollen mich nicht weg
+von Dir nehmen -- ich will bei Dir bleiben« -- und krampfhaft klammerte
+sie sich um seinen Hals. --
+
+»Du gehst auch nicht fort Herz -- nie im Leben lasse ich Dich,« -- rief
+Bertling, -- »wir bleiben ja beisammen -- oh so komm doch zu Dir. --
+Hier -- hier,« sagte er und griff ein neben dem Bett stehendes Glas
+Wasser auf, -- »trink einmal Auguste -- das wird Dir gut thun -- trink
+einen langen Zug -- viel -- mehr noch, mehr.«
+
+Er hatte sich fast gewaltsam von ihr losgemacht und ihr das Glas an die
+Lippen gehalten. Wie sie das Wasser daran fühlte nahm sie einen kleinen
+Schluck und als er es ihr wieder und wieder aufdrang, trank sie mehr,
+bis sie das ganze Glas geleert. Dabei sah sie ihn mit einem wilden
+verstörten Blick an.
+
+»Meine Auguste« bat Bertling, ihr Haupt an sich pressend, »ist Dir jetzt
+besser? -- kannst Du Dich besinnen?«
+
+Sie drängte ihn langsam von sich -- sah ihn an -- blickte im Zimmer
+umher und sagte leise:
+
+»Was ist denn mit mir vorgegangen?«
+
+»Du hast geträumt Herz -- schwer und furchtbar geträumt« rief ihr Gatte,
+»oh Gott sei ewig Dank, daß es vorüber ist.«
+
+»Geträumt? -- von was?« frug die Frau, die jetzt augenscheinlich ihre
+volle Besinnung wieder erlangt hatte. Bertling hütete sich aber wohl
+irgend eines ihrer Traum-Bilder auch nur zu erwähnen und ausweichend
+sagte er:
+
+»Oh nichts, Herz -- lauter tolles verworrenes Zeug; wild durch einander
+hast Du gesprochen von Gesellschaften, Theater, Kleidern, Besuchen und
+was weiß ich. --«
+
+»Sonderbar,« flüsterte die Frau nachdenkend vor sich hin »ich kann mich
+doch auf gar Nichts mehr besinnen. Aber mir ist mein Kopf so schwer --
+so furchtbar schwer und die Augen brennen mir, als ob ich geweint hätte.
+Wie viel Uhr ist es?«
+
+»Es wird bald zwei Uhr sein.«
+
+»So spät schon und Du bist noch angezogen? -- Du hast wohl wieder so
+lange gearbeitet?«
+
+»Ja -- ich hatte so viele Briefe zu schreiben -- aber lege Dich jetzt
+hin und schlafe. Ich will auch zu Bett gehen.«
+
+»Oh wie mir mein Kopf brennt -- ich kann gar nicht mehr denken,« sagte
+die Frau und preßte ihre Stirne mit beiden Händen, -- »am Ende werd ich
+noch krank.«
+
+»Mach Dir keine Sorge mein Herz,« beruhigte sie aber der Mann, »morgen
+wird schon Alles wieder besser -- wieder ganz gut sein. -- Gute Nacht,
+mein Kind. --«
+
+»Gute Nacht, Theodor,« sagte die Frau -- legte sich auf die Seite und
+war auch in wenigen Minuten fest und sanft eingeschlafen.
+
+
+Sechstes Capitel.
+
+Die Begegnung.
+
+Am nächsten Morgen, wo aber Auguste völlig gesund und mit keiner Ahnung
+des Geschehenen, nur mit etwas Kopfschmerzen erwachte, ging Bertling in
+aller Früh zu seinem Hausarzt, um diesem das Vorgefallene mitzutheilen.
+Er hatte ihm schon früher einmal von der fixen Idee Augustens gesagt,
+der Doctor nahm das aber damals -- vielleicht auch nur um den Mann nicht
+zu beunruhigen -- außerordentlich leicht und versicherte ihn, daß solche
+Fälle gar nicht etwa vereinzelt daständen. Es sei ein Blutandrang
+nach dem Kopf und viel Bewegung in freier Luft -- vielleicht auch eine
+blutreinigende Kur das Beste dagegen. Keinesfalls sollte er sich Sorgen
+deshalb machen. -- Heute jedoch, als der Arzt die Phantasien dieser
+Nacht erfuhr, in denen der »graue Mann« auch wieder seine Rolle
+gespielt, zeigte er sich schon bedenklicher und meinte, Gefahr sei nur
+in so fern vorhanden, daß die Phantasie der Kranken ihr noch einmal --
+und also zu dem gefürchteten dritten Mal -- die Gestalt des Mannes im
+grauen Rock vorspiegeln könne, ehe man im Stande sei sie zu überzeugen,
+daß die erste Erscheinung weiter Nichts als ein Phantasiebild, die
+zweite aber ein wirklich menschliches Individuum gewesen sei -- wie das
+aber zu thun, ohne daß man des Grauen habhaft werde, vermöge er nicht
+abzusehen, und daß der Graue nicht zu bekommen war, das wußte der
+Justizrath besser als irgend Jemand in der Stadt. Welche Mühe hatte er
+sich deshalb nicht schon gegeben und welchen Erfolg damit erzielt? -- es
+war wirklich zum Verzweifeln.
+
+Der Doctor versprach übrigens im Lauf des Vormittags bei der
+Justizräthin vorzusprechen, um sich selber einmal von ihrem
+Gesundheitszustand zu überzeugen. Vielleicht ließ sich dann auch das
+Gespräch -- natürlich mit der gehörigen Vorsicht -- auf das eigentliche
+Krankheitsobjekt lenken und möglich, daß ja doch die Vernunftgründe
+eines Dritten und völlig Unparteiischen irgend einen wohlthätigen
+Einfluß auf sie ausüben konnten.
+
+Bertling seufzte tief auf, denn er am Besten fühlte das Trügerische
+einer solchen Hoffnung, aber was anderes ließ sich thun und auch dieser
+Versuch mußte gemacht werden, wenn er auch nicht das Geringste davon
+erhoffte. Er fürchtete sich aber, lange von zu Haus fortzubleiben,
+denn er wußte nicht, wie sich Auguste heute morgen nach der furchtbaren
+Aufregung der letzten Nacht befinden würde. Er bat also den Doctor
+seinen Besuch nicht zu lange zu verschieben und schritt dann sehr
+niedergeschlagen und den Kopf voll trüber, wirrer Gedanken die Straße
+hinab, in der Richtung seiner eigenen Wohnung zu. Er achtete dabei auch
+gar nicht auf die ihm Begegnenden und erst als Jemand an ihm vorüber
+ging, der ihn grüßte, faßte er unwillkürlich an seinen eigenen Hut und
+warf einen flüchtigen Blick auf ihn, ohne sich jedoch in seinem Gang
+aufzuhalten. Im Weiterschreiten fiel ihm aber der fast schüchterne Gruß
+des vollkommen fremden Mannes auf -- wo hatte er nur das Gesicht -- wie
+ein Messerstich traf es ihn plötzlich ins Herz -- =das war der Graue=
+und mit dem Gedanken schon fuhr er auch herum und zurück, ihm nach --
+daß er dabei gegen eine alte würdige Dame anrannte und sie beinah über
+den Haufen geworfen hätte, fühlte er kaum, hielt sich wenigstens nicht
+einmal lange genug, auch nur zu einer Entschuldigung auf, denn mit
+peinigender Angst erfüllte ihn in dem Moment der Gedanke, daß ihm der
+Fremde wieder wie damals, selbst unter den Händen weg entschwinden
+könnte. Wenn er jetzt irgendwo in ein Haus getreten wäre -- wenn er die
+nächste Quergasse erreicht hätte -- nein -- Gott sei ewig Dank -- dort
+ging er noch und mit wenigen hastigen Schritten war er an seiner Seite.
+
+Der Fremde, als er Jemanden neben sich halten sah, schaute auch zu ihm
+empor und der Justizrath hätte laut aufjubeln mögen, als er in dem ihm
+zugewandten Gesicht wirklich den Besuch von jenem Abend erkannte,
+dessen Züge sich ihm in der Zwischenzeit oh, nur zu scharf und deutlich
+eingeprägt. Er war aber auch fest entschlossen, den Mann jetzt nicht
+wieder los zu lassen, bis er ihn seiner Frau gebracht, und wenn er nicht
+gutwillig ging, ei dann hätte er selbst die Polizei zu Hülfe gerufen,
+sogar auf die Gefahr hin eine Klage wegen unverschuldeter Gefängnißhaft
+gegen sich anhängig gemacht zu sehen.
+
+Der Fremde sah dabei etwas erstaunt, ja bestürzt zu ihm auf, denn
+er ebenfalls hatte den Justizrath gleich beim ersten Begegnen wieder
+erkannt und begriff jetzt natürlich nicht, was der Mann eigentlich von
+ihm wolle. Dieser ließ ihm aber nicht lange Zeit darüber nachzudenken
+und fast unwillkürlich die Hand auf seine Schulter legend (denn wenn
+er es sich auch nicht selber gestehen mochte, war es doch ein fast
+unbewußtes Gefühl, das ihn leitete, sich vor allen Dingen zu überzeugen,
+er habe es wirklich mit einem =körperlichen= Wesen zu thun), sagte er
+freundlich:
+
+»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber -- hatte ich nicht das Vergnügen,
+Sie vor einiger Zeit einmal Abends auf ganz kurze Zeit bei mir zu sehen?
+-- Ich bin der Justizrath Bertling -- wenn Sie sich auf meine Person
+nicht mehr besinnen sollten?«
+
+Der Mann schien etwas verlegen und sah den Justizrath fast wie scheu an;
+endlich stotterte er:
+
+»Ich weiß in der That nicht --«
+
+»Ich will Ihrem Gedächtniß zu Hülfe kommen,« fuhr aber der Justizrath in
+der neu erwachenden Angst fort, daß der Mann leugnen könnte oder er sich
+doch am Ende in der Person geirrt, »meine Frau kam damals gerade nach
+Haus und von einem leichten Unwohlsein ergriffen, wurde sie in der Thür
+ohnmächtig. Sie besinnen sich gewiß.«
+
+»Herr -- Herr Justizrath,« stammelte der Mann »ich -- ich -- kann nicht
+recht begreifen --«
+
+Bertling, der nicht ohne Grund fürchtete, der Mann könne Bedenken
+tragen, sein damaliges rasches, und allerdings etwas rätselhaftes
+Verschwinden einzugestehen, denn wie konnte er wissen, in welchem
+Zusammenhang das mit der jetzigen Frage stand -- suchte ihn nur vor
+allen Dingen darüber zu beruhigen. -- »Lieber Herr,« sagte er, »Sie
+müssen mir vorher die Bemerkung erlauben, daß ich Ihre Antwort nur als
+eine mir persönlich erwiesene Gefälligkeit betrachte und ich sehe ein,
+daß es vorher nöthig ist, Ihnen die Beweggründe meines, Ihnen vielleicht
+sonderbar erscheinenden Betragens mitzutheilen. Aber wir können das
+nicht auf offener Straße abmachen, dürfte ich Sie deßhalb bitten mit
+mir einen kurzen Moment in jenes Caffeehaus zu treten; wir sind dort
+ungestört und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie damit ein gutes Werk
+thun.«
+
+Der Fremde war augenscheinlich in der größten Verlegenheit, wie denn
+auch sein ganzes Wesen etwas Schüchternes, ja Gedrücktes zeigte. Der
+Einladung =konnte= er aber nicht gut ausweichen. Mit einer ziemlich
+ungeschickten Verbeugung und ohne ein Wort zu erwidern, willigte er ein
+und schritt neben dem Justiz-Rath dem Caffeehaus zu. Bertling ließ ihn
+auch dabei nicht aus den Augen, denn er hatte immer noch das unbestimmte
+Gefühl, als ob ihm der eben so glücklich Aufgefundene durch einen der
+Trottoirsteine, wie durch eine Versenkung auf dem Theater verschwinden
+könnte, und wollte sich später keine Vernachlässigung vorzuwerfen haben.
+
+Im Restaurationslocal endlich angelangt, ließ er zwei Tassen Caffee und
+Cigarren bringen und als Beides vor ihnen stand und der Kellner sich mit
+seiner Bezahlung zurückgezogen hatte, that Bertling das Vernünftigste,
+was sich unter diesen Umständen thun ließ und erzählte dem Fremden,
+ohne vorher eine weitere Frage an ihn zu richten, das seltsame
+Zusammentreffen eines Traumes seiner Frau mit seiner eignen Erscheinung,
+wobei sein plötzliches und unbeachtetes Verschwinden natürlich alle die
+überspannten Ideen der Kranken bestätigen mußte.
+
+Der kleine Mann in dem dunklen Rock schien während dieses Berichtes
+ordentlich aufzuthauen. Zuerst hatte er die angezündete Cigarre nur
+schüchtern und mit der äußersten Spitze in den Mund genommen, daß er
+kaum daran ziehen konnte und seinen Caffee halb kalt werden lassen
+-- jetzt begann er mit augenscheinlichem Behagen den Dampf des guten
+Blattes einzuziehen und that auch einen Schluck aus seiner Tasse und als
+der Justizrath ihm endlich gestand, daß er die ganze Stadt schon habe
+durch Polizei absuchen lassen, um seiner nur habhaft zu werden und seine
+arme Frau von ihrem unglückseligen Wahne zu befreien, lächelte er sogar
+still vor sich hin und leerte dabei seine Tasse bis zum letzten Tropfen.
+Bei der nun wieder an ihn gerichteten Frage des Justizraths, ob er es
+nicht gewesen sei, der ihn an jenem Abend besucht habe und zu welchem
+Zweck, wurde er allerdings wieder ein wenig verlegen und sogar roth,
+aber er leugnete nicht mehr und sagte:
+
+»Wenn Ihnen =das= eine Beruhigung gewährt, Herr Justizrath, so kann ich
+Ihnen gestehen, daß ich wirklich an jenem Abend in Ihrer Stube war und
+nur bedauere --«
+
+»Kellner! Eine Flasche Wein -- von Ihrem Besten -- bringen Sie
+Champagner!« rief aber Bertling, der sich in diesem Augenblicke wirklich
+Mühe geben mußte, dem kleinen Mann nicht um den Hals zu fallen.
+
+»Aber Herr Justizrath --«.
+
+»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und trinken Sie ein Glas Wein mit
+mir,« rief aber dieser in größter Aufregung »und, wenn Sie ein =Bad= von
+Champagner haben wollten, ich verschaffte es Ihnen jetzt. Nun aber
+sagen Sie mir auch, weshalb Sie so rasch verschwanden, mich nicht wieder
+aufsuchten und wo Sie, vor allen Dingen, die ganze Zeit gesteckt haben,
+denn kein einziger meiner Spürhunde konnte auch nur auf Ihre Fährte
+kommen.«
+
+»Lieber Gott,« sagte der kleine Mann mit einem schweren Seufzer -- »die
+Sache ist außerordentlich einfach und leicht erklärt, denn -- wenn ich
+mich auch in einer gedrückten Lage befinde, habe ich doch nicht die
+geringste Ursache mich derselben zu schämen, da sie mich ohne mein
+Verschulden getroffen hat.«
+
+»Darf ich es wissen?« frug der Justizrath, während der Kellner Wein und
+Gläser auf den Tisch stellte -- »vielleicht kann ich helfen.«
+
+»Ich stamme aus Königsberg« erzählte der kleine Mann, »und hatte durch
+Protection eine Anstellung als Lehrer in Mainz erhalten; dort ernährte
+ich mich aber nur kümmerlich, als ich die Nachricht erhielt, daß in
+meiner Vaterstadt ein guter Posten für mich offen geworden und ich
+dort an einem der ersten Gymnasien mit einem ganz vortrefflichen Gehalt
+einrücken könne. Ich gab meine Stelle in Mainz auf und machte mich auf
+den Weg. Schon seit längerer Zeit aber kränkelnd, erfaßte mich hier
+in Alburg ein heftiges Fieber, das eine Weiterreise unmöglich machte.
+Glücklicher Weise fand ich bei guten Menschen ein Unterkommen aber
+meine kleine Baarschaft schmolz entsetzlich zusammen und kaum wieder
+hergestellt, erfaßte mich die Angst, daß ich, wenn ich nicht rechtzeitig
+am Ort meiner Bestimmung eintreffen könnte, am Ende auch gar die
+Anstellung verlieren und dann gänzlich brodlos sein würde. Ich schrieb
+nach Königsberg, erhielt aber von dort nicht so rasche Antwort und in
+meiner Herzensangst beschloß ich mich an =Sie=, Herr Justizrath, zu
+wenden und Sie um ein Darlehn zu ersuchen, das ich Ihnen von meiner
+Vaterstadt aus leicht zurückerstatten konnte.«
+
+»Aber woher kannten Sie mich?«
+
+»Nicht Sie, Herr Justizrath, aber Sie haben einen Bruder in Königsberg,
+bei dem ich ein Jahr Hauslehrer war und auf dessen Zeugniß ich mich
+mit gutem Gewissen berufen durfte. Wie aber der Unfall mit Ihrer Frau
+Gemahlin stattfand, von dem ich keine Ahnung haben konnte, daß ich
+selber die unschuldige Ursache gewesen, da fühlte ich doch recht gut,
+daß das ein sehr schlecht gewählter Moment sei, um ein Darlehn
+zu erbitten und ich beschloß lieber am nächsten Morgen wieder
+vorzusprechen. Wie ich Sie mit der ohnmächtigen Dame beschäftigt sah,
+verließ ich das Zimmer und ging nach Haus.«
+
+»Aber warum kamen Sie nicht am nächsten Morgen?«
+
+»Weil ich noch an dem nämlichen Abend einen Brief von Königsberg
+erhielt, worin mir angezeigt wurde, daß es mit meinem Eintreffen dort
+Zeit bis zum Ersten nächsten Monats habe. Jetzt war ich im Stande mir
+mein Reisegeld vielleicht selber zu verdienen und brauchte Niemanden
+weiter zu belästigen. Der Mann, bei dem ich die Zeit gewohnt, war
+Copist, hatte aber in der letzten Zeit so viel drängende Arbeiten
+erhalten, daß er sich außer Stande sah, sie allein zu beendigen. Ich
+übernahm einen Theil und da mir noch vierzehn Tage Zeit bleiben, so
+hoffe ich bis dahin mein Reisegeld wenigstens zusammen gespart zu
+haben.«
+
+»Und wieviel brauchen Sie dazu?« frug der Justizrath, der bis jetzt der
+einfachen Erzählung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war,
+ohne den Erzählenden auch nur mit einer Sylbe zu unterbrechen. Nur
+eingeschenkt und getrunken hatte er dazu und seinen Gast ebenfalls
+stillschweigend durch Zuschieben des Glases genöthigt.
+
+»Im Ganzen und mit dem, was ich hier noch zu zahlen habe, etwa 20
+Thaler, aber 9 davon habe ich mir schon verdient -- oh ich bin sehr
+fleißig gewesen die Zeit über und in den langen Tagen gar nicht aus
+meinem Zimmer, ja nicht ein einziges Mal an frische Luft gekommen. Nur
+heute =mußte= ich ausgehen und war eben im Begriff mir frisches Papier
+zu holen, denn ich kann nicht gut einen Tag versäumen.«
+
+»Mein lieber Herr,« sagte da der Justizrath, »dagegen werde ich
+Einspruch erheben. Ihren heutigen Tag müssen Sie mir widmen, aber Sie
+sollen dadurch nicht zu Schaden kommen. Es gilt hier meine Frau zu
+überzeugen, daß sie sich durch einen Wahn, durch ein zufälliges Begegnen
+hat täuschen lassen und wenn Sie mir dazu behilflich sein wollen, so
+verfügen Sie über meine Casse. Mit Vergnügen steht Ihnen dann Alles
+zu Diensten, was Sie zu Ihrer Reise und vielleicht noch für sonstige
+Ausrüstung gebrauchen.«
+
+»Herr Justizrath,« stammelte der Mann.
+
+»Und glauben Sie um Gottes Willen nicht,« setzte Bertling rasch hinzu,
+»daß Sie mir dadurch zu irgend einem Dank verpflichtet würden; nein
+im Gegentheil, werde ich mich nachher noch immer als Ihren Schuldner
+betrachten und sollten Sie je in Verlegenheit kommen, so bitte ich Sie,
+sich vertrauensvoll an mich zu wenden.«
+
+»Aber war ich nicht selber die Ursache dieses Unfalls?«
+
+»Nein,« versetzte der Justizrath -- »in Ihnen repräsentirte sich nur die
+frühere eingebildete Erscheinung und durch Sie hoffe ich deshalb meine
+Frau nicht allein zu überzeugen, daß ihre zweite Gespenstervision ein
+Irrthum war, sondern sie wird, während sie hierin die Täuschung
+erkennt, auch einsehen, daß das =erste= Traumbild nur in ihrer Phantasie
+gewurzelt haben konnte. Also wollen Sie sich mir heute zur Verfügung
+stellen?«
+
+»Von Herzen gern,« sagte der kleine Mann, der durch den ungewohnten
+Champagner seine ganze Schüchternheit verloren zu haben schien.
+»Befehlen Sie über mich und was in meinen Kräften steht, will ich mit
+Freuden thun, -- habe ich doch dadurch auch einen Theil dessen gut zu
+machen, was ich, freilich vollkommen ahnungslos, selber über Sie herauf
+beschworen.«
+
+»Gut,« genehmigte Bertling, sich vergnügt die Hände reibend. -- »So
+kommen Sie denn jetzt mit zu meinem Arzt und dort wollen wir das Weitere
+bereden, wie wir es am Besten anzufangen haben. Den Mittag sind Sie
+ohnedies mein Gast, wenn wir vielleicht auch noch nicht bei mir zu
+Hause diniren können. Vorher muß ich aber meine Frau jedenfalls auf Ihre
+Begegnung vorbereitet haben.«
+
+
+Siebentes Capitel.
+
+Schluß.
+
+Der Doctor, eben im Begriff seine Patienten zu besuchen, war nicht
+wenig erstaunt, den Justizrath mit dem erbeuteten und so lange ersehnten
+Unruhestifter eintreffen zu sehen, nahm aber auch zu viel Interesse an
+der Sache, um nicht seine eigenen, selbst sehr nothwendigen Gänge für
+kurze Zeit aufzuschieben und das Nähere mit dem Justizrath zu bereden.
+Aufmerksam hörte er zunächst den kurzen Bericht an, der ihm über das
+Zusammentreffen gegeben wurde und die Frage war nur jetzt, wie Auguste
+mit ihrem leibhaften Traumbild zusammen gebracht werden konnte, ohne ihr
+einen neuen Schreck zu verursachen, der diesmal dauernde Folgen haben
+konnte.
+
+Das zeigte sich denn auch nicht so leicht und die Männer überlegten
+zusammen eine ganze Weile hin und her, wie es am zweckmäßigsten zu
+arrangiren wäre. Der Justizrath schlug vor, den »grauen Mann« gleich zum
+Mittag-Essen mit nach Haus zu nehmen, um im hellen Sonnen-Licht
+jeden Gedanken an den häßlichen Spuck zu zerstören, -- aber dagegen
+protestirte der Arzt.
+
+»Damit setzen Sie Alles auf eine Karte,« rief er heftig aus, »denn
+Sie können gar nicht wissen, wie sich in dem Geist Ihrer Frau das Bild
+dieser geglaubten Spukgestalt erhalten oder entwickelt hat; bringen
+Sie ihr aber jetzt den Mann am hellen Tag, der dann natürlich mit einer
+höflichen, alltäglichen Verbeugung in's Zimmer tritt, so bürgt uns kein
+Mensch dafür, daß sie ihn als denselben wieder erkennt, den sie in jener
+=Nacht= gesehen und dann ist =Alles= verloren, denn nachher haben wir
+=kein= Mittel weiter, ihr zu beweisen, daß sie sich getäuscht. Unser
+Pulver ist verschossen und wir müssen der Natur und den Begebenheiten
+eben ihren Lauf lassen, ohne im Stande zu sein, an irgend einer Stelle
+hülfreich einzugreifen.«
+
+»Aber was Anderes =können= wir thun?« rief der Justizrath -- »der
+Gefahr, daß sie ihn nicht wieder erkennt, sind wir ja doch immer
+ausgesetzt.«
+
+»Doch nicht immer,« sagte der Doctor, der ein paar Minuten mit raschen
+Schritten in seinem Zimmer auf- und abgegangen war -- »ich glaube, ich
+weiß einen Ausweg.«
+
+»Mein lieber Doctor --«
+
+»Lassen Sie mich einmal sehen,« fuhr dieser fort. -- »Jetzt habe ich
+keine Zeit, denn ich =muß= meine Patienten besuchen; vor Dunkelwerden
+können wir aber auch gar nichts in der Sache thun, und bis dahin bin ich
+in Ihrem Hause und bei Ihrer Frau. Bis dahin aber darf auch dieser Herr
+Ihrer Frau nicht vor Augen kommen. Speisen Sie zusammen im Hôtel -- eine
+Ausrede ist bald gefunden, machen Sie, was Sie wollen, aber bringen Sie
+ihn nicht vor der Abenddämmerung in Ihr Haus.«
+
+»Und dann?«
+
+»Dann führen Sie ihn heimlich, ohne daß Ihre Frau etwas davon erfährt,
+in Ihr Zimmer, zünden wie gewöhnlich Ihre Lampe an, die auch ein wenig
+düster brennen darf und lassen sich den Herrn dann auf den nämlichen
+Stuhl setzen, auf dem er an jenem Abend gesessen hat und zwar genau in
+der nämlichen Stellung, den rechten Arm über der Lehne. -- Ich glaube,
+Sie erwähnten das gegen mich.«
+
+»Ja wohl. --«
+
+»Schön. Sie selber kommen dann zu uns herüber, oder geben mir ein
+Zeichen daß Alles bereit ist und überlassen das Andere mir. Wollen Sie
+es so machen?«
+
+»Bester Doctor, ich füge mich in Allem Ihrem Willen,« sagte der
+Justizrath, »aber -- halten Sie es nicht für möglich, daß Auguste durch
+die plötzliche Wiederholung der Erscheinung zum Tod erschrecken könnte?«
+
+»Natürlich darf sie den Herrn da nicht unvorbereitet antreffen,« rief
+der Doctor -- »doch Sie wollen das ja mir überlassen. Außerdem werde ich
+noch vorher zu der kleinen Hofräthin Janisch gehen, sie in das Geheimniß
+einweihen und sie bitten uns zu unterstützen. Für jetzt ersuche ich Sie
+aber, mich zu entschuldigen, denn meine Zeit ist gemessen.«
+
+»Und Sie vergessen nicht, noch vor Dunkelwerden zu mir zu kommen?«
+
+»Ich vergesse nie etwas,« sagte der Doctor, nahm seinen Hut und stieg
+ohne Weiteres voran die Treppe hinunter.
+
+Der Justizrath war jetzt ein wenig in Verlegenheit, was er mit seinem
+Schutzbefohlenen oder eigentlich Gefangenen, bis zum Mittagsessen
+anfangen solle, noch dazu da er auch gern einmal nach Haus gegangen wäre
+und ihn dorthin doch nicht mitnehmen konnte. Ueberließ er ihn aber bis
+dahin sich selbst, so war er der Gefahr ausgesetzt, ihn nicht wieder zu
+finden und das durfte er unter keiner Bedingung riskiren. Da blieb ihm
+nur ein Ausweg, mit dem Fremden in dessen Behausung zu gehen, um sich
+selber zu überzeugen, wo er wohne und wieder zu finden wäre.
+
+Das geschah denn auch und nachdem Bertling in einer vollkommen
+abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert war,
+konnte er mit einiger Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen. Er band
+dem kleinen Mann aber noch einmal auf die Seele, das Haus um keinen
+Preis zu verlassen, bis er selber zurückkäme, was aber bald geschehen
+würde, da er ihn um ein Uhr zum Mittagessen abhole.
+
+Seine Frau fand der Justizrath noch ziemlich abgemattet, aber doch
+ruhig; sie hatte von dem, was sie die vorige Nacht mit wachenden Augen
+geträumt, keine Ahnung und sie fühlte nur die Folgen der unnatürlichen
+Aufregung, ohne sich dieser im Geringsten bewußt zu sein.
+
+Um ein Uhr oder etwas vorher, entschuldigte sich Bertling, daß er mit
+einem Geschäftsfreund zu Mittag speisen müsse, da sie Beide, außer der
+Zeit, sehr beschäftigt wären, und er Vielerlei mit ihm zu besprechen
+hätte -- zu sich hätte er ihn aber heute nicht einladen mögen, da
+Auguste doch noch so angegriffen sei.
+
+Auguste dankte ihm dafür, denn sie befand sich in der That nicht in der
+Stimmung einen fremden Besuch zu empfangen; sie fühlte sich auch nie
+wohler, als wenn sie allein gelassen wurde und ihr Mann versprach ihr ja
+auch außerdem noch vor Abend wieder zu Haus zu sein und dann heute ganz
+bei ihr zu bleiben.
+
+Sie aß allein auf ihrem Zimmer und legte sich dann ein wenig auf das
+Sopha, um auszuruhen; der Kopf that ihr weh und das Herz war ihr so
+schwer, als ob irgend ein nahendes Unheil sie bedrohe. Sie fing auch
+fast an, den dämmernden Abend zu fürchten und bereute schon, Theodor
+nicht gebeten zu haben, noch vor der Zeit zurück zu kehren. -- Aber
+sie durfte auch nicht so kindisch sein. Wenn er seine Geschäfte besorgt
+hatte, kam er ja ohnedies schon immer von selber nach Hause.
+
+Sie sollte aber ihren Nachmittag heute nicht allein verbringen, denn
+etwa um fünf Uhr kam Pauline herüber. Wenn diese aber auch lachend
+das Zimmer der Freundin betrat, erschrak sie doch sichtlich über deren
+bleiches Aussehen, über ihre tiefliegenden Augen und den schmerzlichen
+Zug um den Mund. Auf ihre theilnehmenden Fragen gab ihr Auguste aber nur
+ausweichende Antworten; sie scheute sich selbst der Freundin gegenüber
+das einzugestehen, was ihr die Brust beengte und ihr Herz mit einer wohl
+unbestimmten, aber nichts desto weniger peinigenden Angst erfüllte und
+Pauline, die das herausfühlte, war freundlich genug, auf ihren Wunsch
+einzugehen. Ihr lag aber jetzt besonders daran, die Freundin zu
+zerstreuen, und ohne daß Auguste es merkte, wußte sie das Gespräch auf
+das Abenteuer mit der Kartenschlägerin zu bringen. Nicht mit Unrecht
+glaubte sie, daß jene Aufregung wesentlich dazu beigetragen hatte, sie
+niederzudrücken, und war das wirklich der Fall, so kannte sie ein Mittel
+sie wieder aufzurichten.
+
+»Denke Dir nur Schatz,« lachte sie, ganz wieder in ihrer, alten
+fröhlichen Laune, »ich bin jetzt unserer Kartenschlägerin auf die Spur
+gekommen.«
+
+»Auf die Spur? -- wie so?«
+
+»Oder ich habe wenigstens einen Beweis erhalten, was es mit ihrer Kunst
+für eine Bewandniß hat.«
+
+»In der That? -- aber durch was?« frug Auguste gespannt.
+
+»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort, »daß ich bei ihr anfragen
+wollte, wo ein mir gestohlenes Corallen-Halsband hingekommen sei und
+wo ich den Dieb zu suchen hätte. Sie ließ mich aber die Frage gar
+nicht stellen, denn jedenfalls hatte sie am Brunnen von unseren Mägden
+erfahren, daß ich das Halsband vermisse. In den letzten drei Tagen war
+auch wirklich bei uns von nichts Anderem gesprochen worden, und meine
+Köchin, wie ich es mir gedacht, schon bei der Alten gewesen, um sie um
+Rath zu fragen.«
+
+»Also wirklich,« sagte Auguste.
+
+»Du weißt auch, daß sie meinen Verdacht auf irgend eine Dame mit grünen
+Haubenbändern lenken wollte.«
+
+»Allerdings -- hatte sie sich geirrt?«
+
+»Das Komische bei der Sache ist das,« lachte Pauline, »daß gar Niemand
+das Halsband gestohlen hat, sondern daß ich es heute morgen selber
+in einer kleinen Schieblade meines Secretairs fand, wohinein ich es
+neulich, wahrscheinlich in großer Zerstreutheit gelegt.«
+
+»Es war gar nicht gestohlen?«
+
+»Gott bewahre, folglich konnte die »Dame« mit den grünen Haubenbändern
+auch nicht der Dieb sein. Jetzt hab' ich der Sache aber näher
+nachgeforscht und von meinen Leuten erfahren, daß die alte Frau
+Heßberger eine ganz besondere Wuth auf meine Wäscherin hat, weil
+diese sie irgend einmal, wer weiß aus welchem Grund, ich glaube wegen
+Verleumdung, verklagt hat, und die Alte fünf Thaler Strafe zahlen mußte.
+Die Schusters-Frau scheint eine ganz durchtriebene Person zu sein und
+ich glaube, es ist sehr unnöthig, daß ihr liebenswürdiger Gatte,
+während sie ihre =Kunst= ausübt, geistliche Lieder singt, um den Teufel
+fernzuhalten, es scheint Alles sehr natürlich zuzugehen. --«
+
+»Aber woher wußte sie --« wollte Auguste fragen, brach aber rasch und
+plötzlich mitten darin ab.
+
+»Was, mein Herz?« frug Pauline -- »etwa das, was sie Dir von einem
+=grauen Mann= sagte? Das wolltest Du mir ja heute erzählen und ich bin
+fest überzeugt, wir kommen der Sache ebenfalls auf die Spur. -- Sieh
+mein Herz, mit all den Geistergeschichten läuft es ja doch jedesmal auf
+blinden Lärm hinaus, denn auch das was uns die Frau Präsidentin damals
+als =Thatsache= von der Kammgarnspinnerei erzählte, hat sich als ein
+einfacher Betrug herausgestellt.«
+
+»Als Betrug?«
+
+»Gewiß und gestern Abend haben sie die Thäter erwischt. Aber nun erzähle
+mir auch, was =Dich= drückt.«
+
+Auguste zögerte noch, aber sie hatte der Freundin einmal versprochen,
+ihr das Geheimniß mitzutheilen und es that ihr selber wohl, irgend
+Jemand zu haben, dem sie ihr Herz vollkommen ausschütten konnte. So
+erzählte sie denn auch jetzt, während der Abend schon wieder zu grauen
+begann, von der ersten Erscheinung, die sie in ihres Mannes Zimmer
+gehabt und wollte eben zu dem zweiten Begegnen mit dem unheimlichen
+Wesen übergehen, als sie laute Stimmen auf dem Vorsaal hörten.
+
+»Die Frau Justizräthin zu Haus?« -- Es war des Doctors Stimme, die Magd
+erwiderte etwas darauf und gleich darauf klopfte es an die Thür.
+
+Es war der Arzt, der seine Patientin zu besuchen kam. Er freute sich
+übrigens sie so wohl und munter zu finden und meinte, nach ein paar
+hingeworfenen Fragen: -- »Aber wie mir scheint, habe ich die Damen in
+einer wichtigen Unterhaltung gestört -- thut mir leid, aber wir Aerzte
+kommen oft ungelegen.«
+
+»In einer Unterhaltung,« sagte da Pauline, »die auch =Sie= angeht,
+lieber Doctor, denn sie betrifft Augustens Krankheit ebenfalls mit --
+bitte, erzähle weiter, liebes Herz.«
+
+»Aber Pauline,« sagte die Frau erschreckt, »das ist nicht Recht. Das was
+ich Dir erzählte, war nur für =Dich= bestimmt.«
+
+»Aber mein gutes Kind,« sagte die junge Frau »wenn ich nicht sehr irre,
+so hat gerade diese Phantasie auf Dein körperliches Befinden den größten
+und zwar nachtheiligsten Einfluß ausgeübt, und wie kann Dich ein
+Arzt wieder herstellen, wenn er nicht die =Ursache= Deiner Krankheit
+erfährt.«
+
+»Ich danke Ihnen, Frau Hofräthin, daß Sie mir da beistehen,« sagte der
+Doctor »und bitte Sie nun selber, beste Frau, mir nichts vorzuenthalten.
+Außerdem wissen Sie, wie ich Ihnen und Ihrem Mann zugethan bin und schon
+als =Freund= des Hauses, als der ich mich doch betrachten darf, ersuche
+ich Sie dringend mir Alles mitzutheilen.«
+
+Die Justizräthin sträubte sich noch ein wenig, aber es half ihr Nichts;
+der Doctor versicherte sie dabei, daß ihr eigener Mann ihm schon einen
+Theil vertraut habe, er wisse also doch einmal, um was es sich handele
+und solcher Art gedrängt, erzählte Auguste denn das zweite, räthselhafte
+Begegnen jener Erscheinung, ja verhehlte sogar nicht, daß sie von einer
+Wiederholung derselben das Schlimmste fürchte.
+
+Der Doctor hatte ihr schweigend zugehört -- draußen wurde wieder eine
+Thür geöffnet und sein scharfes Ohr vernahm leise Schritte im Vorsaal.
+Er wußte, der Justiz-Rath war mit dem Mann im grauen Rock eingetroffen.
+Der Abend brach dabei immer mehr herein und der Doctor bat, daß man die
+Lampe anzünden möge, da eben die Dämmerstunden die besten Hülfsgenossen
+solcher Phantasien seien. Pauline fügte jetzt auch noch die Geschichte
+der Kartenschlägerin hinzu, zu der der Doctor nur lächelnd den Kopf
+schüttelte; endlich aber sagte er:
+
+»Also, Sie fürchten eine =dritte= Erscheinung, liebe Frau Justizräthin,
+weil Sie durch die zweite die Bestätigung der ersten erhalten haben?«
+
+»Ja,« hauchte die Frau.
+
+»Sie würden auch« -- fuhr der Doktor fort, »wie Sie mir ja selber
+gestanden haben, ohne die zweite geneigt gewesen sein, die erste als
+eine bloße Phantasie, als eine Ueberreizung Ihrer Nerven anzusehen,
+nicht wahr?«
+
+»-- Ja --« erwiderte die Frau wieder, doch etwas zögernd.
+
+»Schön,« nickte der Doctor vor sich hin, »wenn ich nun hier mit meinem
+Zauberstab« und er hob seinen Stock, den er noch in der Hand
+hielt, »Ihnen selber die Erscheinung zum dritten und letzten Mal
+heraufbeschwören würde, wobei ich Ihnen zugleich beweisen könnte, daß
+wir es mit nichts Anderem, als einem vollkommen compacten Wesen aus
+Fleisch und Blut zu thun haben, -- würden Sie mir dann zugestehen, daß
+Sie sich geirrt, und daß solche Erscheinungen im Allgemeinen, und hier
+auch im Besondern, nie und nimmer als etwas Anderes betrachtet werden
+dürfen, wie als krankhafte Ausgeburten der Phantasie?«
+
+»Jene Erscheinung heraufbeschwören?« frug Auguste ordentlich erschreckt.
+
+»Ja -- aber nicht etwa aus dem Boden, wie einen Geist, sondern wie es
+sich gebührt, die Treppe herauf,« lachte der Doctor. »Würden Sie mir
+versprechen, sich recht tapfer dabei zu halten und ehe Sie uns wieder
+ohnmächtig werden, erst einmal genau zu prüfen, ob Sie es mit einem
+Geist oder einem wirklichen Menschen zu thun haben?«
+
+»Ich begreife Sie nicht,« -- stammelte die Frau.
+
+»Ist Ihr Mann nicht zurückgekehrt?« sagte der Doctor und horchte nach
+dessen Thür hinüber -- »ich dächte, ich hätte ihn in seiner Stube gehört
+-- he Justizrath?« rief er, indem er aufstand und an jene Thür klopfte.
+
+»Ja ich komme gleich« -- antwortete Bertlings Stimme.
+
+»Und wann soll ich ihn sehen?« rief die Frau, die sich einer leichten
+Anwandlung von Furcht nicht erwehren konnte.
+
+»Wann? -- jetzt gleich, wenn Sie wollen,« lachte der Arzt. »Vorher muß
+ich Ihnen aber noch bemerken, daß der berühmte Mann im grauen Rock, vor
+dem Sie einen solchen Respect haben, richtig aufgefunden ist -- denn was
+spürte die Polizei nicht heraus, wenn man ihr nur ihre Zeit läßt -- und
+er hat sich als ein vollkommen achtbares, aber auch eben so harmloses
+Individuum herausgestellt, das damals nicht etwa ein überirdischer
+Auftrag, sondern ein sehr irdisches Verlangen nach einer kleinen Summe
+Geldes zu Ihrem Gatten getrieben hatte. Der gute Mann ist aber etwas
+schüchterner Natur und da Sie bei seinem Anblick ohnmächtig wurden,
+hielt er sich für überflüssig und ging seiner Wege. Diesmal wird er aber
+nicht verschwinden und ich frage Sie jetzt noch einmal, fühlen Sie
+sich in diesem Augenblick stark genug, Ihrem vermutheten Gespenst nicht
+allein noch einmal zu begegnen, sondern ihm auch guten Abend zu sagen
+und nachher sogar eine Tasse Thee mit ihm zu trinken?«
+
+»Doctor -- wenn Sie mir =die= Ueberzeugung geben könnten!« rief die
+Frau, indem sie von ihrem Stuhl emporsprang.
+
+»Schön« sagte der Doctor, »dann bitte, geben Sie mir Ihren Arm. -- Sie
+sind ja sonst ein vernünftiges Frauchen,« setzte er herzlich hinzu, »und
+werden sich doch wahrhaftig Ihren klaren Verstand nicht von einer
+bloßen Einbildung todtschlagen lassen. -- Also jetzt kommt die
+Geisterbeschwörung und danach hoffe ich Sie wieder so munter und heiter
+zu sehen, wie nur je.«
+
+Er ließ ihr auch keine Zeit zu weiteren Einwendungen, nahm ihren Arm und
+führte sie der Thür von ihres Gatten Zimmer zu.
+
+»Können wir eintreten?« rief er hier, indem er anklopfte.
+
+»Nur herein!« tönte des Justizraths frische Stimme, allein als der
+Doctor die Thür aufwarf, fühlte er wie die Justizräthin an seinem Arm
+zusammenzuckte. Pauline war jedoch schon an ihre andere Seite getreten,
+um sie im Nothfall zu unterstützen. Aber die junge Frau hatte nicht zu
+viel versprochen, wenn sie sagte, daß sie sich stark fühlte und
+doch gehörte viel Willenskraft dazu, dem was sie bis dahin für eine
+furchtbare Wirklichkeit gehalten -- eine Botschaft aus der Geisterwelt
+-- jetzt wieder, genau wie an jenem Abend, zu begegnen und ruhig dabei
+zu bleiben.
+
+Auf dem Tisch stand die Lampe und warf ihren düsteren Schein über das
+kleine Gemach, links neben dem Tisch saß der Justizrath -- rechts neben
+dem Ofen, den rechten Arm über die Stuhllehne, das etwas bleiche
+Antlitz der Thür zugedreht -- Auguste mußte tief Athem holen, denn ein
+unsagbares Etwas schnürte ihr die Brust zusammen, -- saß der Mann im
+grauen Rock, genau wie sie ihn an jenem Abend gesehen, in jeder Miene,
+in jeder Falte seines Rockes.
+
+»So meine liebe Frau Justizräthin«, rief aber der Doctor jetzt --
+»hier habe ich also das Vergnügen Ihnen unseren Buzemann, unser
+Schreckgespenst vorzustellen. Herrn Conrad Wohlmeier aus Königsberg --
+Herr Wohlmeier, Frau Justizräthin Bertling -- bitte reichen Sie ihr die
+Hand, damit sie nicht etwa glaubt, Sie beständen blos aus Kohlenstoff
+und Stickstoffgas.«
+
+Der kleine Mann war etwas verlegen von seinem Stuhl aufgestanden und der
+ihn noch immer starr ansehenden Frau die Hand entgegenreichend, sagte
+er:
+
+»Frau Justizräthin, es sollte mir unendlich leid thun, wenn Sie mich für
+einen Geist gehalten haben. -- Ich bin nur ein armer Gymnasiallehrer,
+der --«
+
+»Bravo«! rief der Doctor lachend aus, »das war eine vortreffliche Rede,
+die Sie da gehalten haben, und nun, meine liebe Frau Justizräthin, sind
+Sie jetzt überzeugt, daß Sie Ihrem guten Mann ganz nutzlos eine Menge
+Sorge und Noth gemacht und sich selber in besonders thörichter Weise
+gequält und geängstigt haben?«
+
+»Lieber Doctor -- wie soll ich Ihnen danken?« sagte die Frau, während
+Bertling auf sie zu ging und sie umarmte und küßte.
+
+»Und jetzt!« rief Pauline lachend aus, »wollen wir auch noch den letzten
+Zeugen herein holen, der eine ganz vortreffliche Erklärung abgeben kann,
+woher die Frau Heßberger etwas von dem Mann im grauen Rock gewußt« --
+und damit sprang sie nach der Thür des Doctors, um die Rieke herein
+zu rufen -- aber die Thür war fest verschlossen und der Schlüssel
+abgezogen. --
+
+»Nun was ist das?« frug sie -- »die Thür ist ja zu.«
+
+»Hm, ja,« lachte der Justizrath, aber doch etwas verlegen, »da ich -- da
+ich doch nicht wissen konnte, wie die Sache heute ablief, so --«
+
+»So hat er die Thür abgeschlossen, daß ihm der Geist nicht wieder
+davonlaufen konnte!« jubelte der Doctor -- »das ist vortrefflich.
+Justizrath, Sie sind ein Schlaukopf.«
+
+Die Rieke wurde indessen hereingeholt und bestätigte, was sie schon an
+dem Nachmittag der Justizräthin gestanden, daß sie an jenem Abend die
+Frau Heßberger unten im Haus getroffen und sie gefragt habe, ob sie
+keinen Mann in einem grauen Rock gesehen, der so plötzlich weg gewesen
+wäre und über den sich die Frau so geängstigt hätte, daß sie ohnmächtig
+geworden wäre. Danach konnte sich die Kartenschlägerin wohl denken,
+daß die Erwähnung jenes Mannes noch frisch in der Erinnerung der
+Justizräthin sein würde und in der Art solcher Frauen benutzte sie das
+geschickt genug.
+
+Der Doctor schwur übrigens, daß er der Gesellschaft da oben über kurz
+oder lang das Handwerk legen lassen werde, denn er versicherte, daß ihm
+in letzter Zeit schon verschiedene Fälle vorgekommen wären, wo sie mit
+ihren so genannten Prophezeihungen Unheil gestiftet oder den Leuten sehr
+unnöthiger Weise Kummer und Herzeleid bereitet hätten.
+
+Unter der Zeit deckte die Rieke den Tisch und die kleine Gesellschaft
+setzte sich dann unter Lachen und heiteren Gesprächen -- die
+Justizräthin zwischen den Doctor und »den Mann im grauen Rock« -- zu dem
+frugalen aber fröhlichen Mahle nieder. Von dem Abend an aber verließen
+jene bösen Träume die Justizräthin, denn zu fest hatte sie an die
+Erscheinung geglaubt, um nicht jetzt, wo ihr der unleugbare Beweis des
+Gegentheils geworden, auch nicht die ganze Gespensterfurcht fallen zu
+lassen. Der Justizrath aber, seinem Wort getreu, und nur zu glücklich,
+sein liebes Weib von jenem unheilvollen Gedanken geheilt zu sehen,
+beschenkte den kleinen Lehrer noch an dem nämlichen Abend so reichlich,
+daß er am nächsten Morgen, jeder Sorge enthoben, seine Heimreise und
+dann seine Stellung in der Vaterstadt antreten konnte.
+
+
+
+
+Die Folgen einer telegraphischen Depesche.
+
+
+ Telegraphische Depesche
+
+ Dr. A. Müller Leipzig --straße 15.
+
+Herzlichsten Glückwunsch -- heutigen Geburtstag noch oft wiederkehren --
+Alle wohl -- tausendmal grüßen -- Inniger Freundschaft.
+
+ =Mehlig=.
+
+Obige Depesche war Morgens Früh, sieben Uhr in Berlin aufgegeben
+worden, gelangte durch den Drath nach Leipzig und wurde dem erst
+gestern angestellten Depeschenträger Lorenz als erste Besorgung zur
+augenblicklichen Beförderung übergeben.
+
+Lorenz lief was er laufen konnte, warf am richtigen Haus angelangt,
+noch einen flüchtigen Blick auf die Adresse, zog dann die Klingel an der
+Hausthür, und wurde ohne Weiteres eingelassen.
+
+Wie er die Hausflur betrat, öffnete sich rechts eine Thür. Ein ältliches
+Fräulein mit weißer Haube und Schürze kam heraus, und trug einen
+Präsentirteller in der Hand, auf dem das, wahrscheinlich eben gebrauchte
+Kaffeeservice stand; Lorenz trat auf sie zu.
+
+»Telegrafische Depesche!« sagte er und hielt ihr das Couvert mit dem
+rothen Streifen entgegen.
+
+»Jesus Maria und Joseph!« schrie die Dame, schlug in blankem Entsetzen
+die Hände über den Kopf zusammen und ließ das ganze Kaffeeservice auf
+die Erde fallen.
+
+»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz, indem er sich bückte
+und die halbe Kaffeekanne aufhob, den Präsentirteller aber liegen ließ.
+
+»Von wem ist sie denn?« schrie aber die Dame, ohne selbst in dem
+Augenblick des zerbrochenen Geschirrs zu achten.
+
+»Ja das weeß ich Sie werklich nich,« sagte Lorenz, »aber sie is für den
+Herrn Doctor Müller.«
+
+»Doctor Müller? -- Sie Ungeheuer Sie, was bringen Sie mir denn da das
+entsetzliche Papier?« rief die Dame mit vor Zorn gerötheten Wangen.
+
+»Aber ich bitte Sie um tausend Gottes Willen mein bestes Mamsellchen!«
+
+»Jetzt kann mir Ihr Telegraph mein Service bezahlen,« zürnte aber die
+schöne Wüthende, »das ist ja ärger wie Einbruch und Diebstahl! oh, das
+herrliche Porcellan!« Sie kniete neben den Scherben nieder und begann
+die auseinander gesprengten Stücke, allerdings vergebens, wieder
+zusammenzupassen. Lorenz wurde es aber unheimlich und wenn er auch nicht
+recht begriff weshalb die Dame so erschreckt sei, hielt er dies doch
+für einen passenden Moment sich aus dem Staub zu machen. Doctor
+Müller wohnte jedenfalls oben. In Gedanken behielt er auch die
+halbe Kaffeekanne bis zur Treppe in der Hand, dort legte er sie aber
+vorsichtig auf die erste Stufe und stieg dann rasch hinauf in die
+Bel-Etage.
+
+Hier mußte er wieder klingeln. Ein Dienstmädchen öffnete ihm die Thür.
+
+»Telegrafische Depesche!« sagte Lorenz und hielt ihr das Papier
+entgegen. Kaum war aber das Wort heraus, als das Mädchen ihm die Thür
+wieder vor der Nase zuschlug und er hörte nur noch wie sie drin über
+den Gang stürzte und in ein Zimmer hineinschrie: »O Du lieber Gott eine
+telegraphische Depesche.« Ein lauter Schrei antwortete -- ängstlich hin
+und wiederlaufende Schritte wurden drinnen laut und Niemand schien sich
+weiter um Lorenz zu bekümmern.
+
+»Hm,« dachte dieser, »das is mer doch eene kuriose Geschichte -- was se
+nur derbei haben? -- wenn se nich bald kommen, bimmele ich noch eenmal.«
+
+Schon hatte er die Hand zum zweitenmale nach der Klingel ausgestreckt,
+als es drinnen wieder laut wurde. Deutlich konnte er die Schritte einer
+Anzahl von Personen hören, die auf die Saalthür zukamen und diese wurde
+endlich wieder halb geöffnet.
+
+Wenn Lorenz nicht selber so erschreckt gewesen wäre, hätte er gern
+gelacht, denn auf dem Gang drinnen stand die wunderlichste Procession,
+die er in seinem ganzen Leben gesehen. Vorn ein Herr mit einem dicken
+rothen Gesicht und feuerrothem Backenbart, einem sehr schmutzigen
+Schlafrock, darunter die zusammengebundenen Unterhosen und ein Paar
+niedergetretene Pantoffeln. Hinter ihm stand eine Dame, ebenfalls im
+höchsten Morgennegligée mit weißer Nachtjacke und Unterrock. Rechts und
+links von diesen beiden drängten sich zwei Dienstboten herbei, Neugierde
+und Furcht in den bleichen Gesichtern und vier oder fünf Kinder schauten
+dazu mit den noch ungewaschenen und ungekämmten Köpfen vor, wo sie
+irgend Raum finden konnten diese durchzuschieben.
+
+»Telegrafische Depesche für Herrn Doctor Müller,« sagte Lorenz, um
+diesmal keine Verwechslung des Namens möglich zu machen.
+
+»Müller? -- Holzkopf!« schrie aber der Herr im Schlafrock und warf die
+Thür von innen wieder dermaßen in's Schloß, daß Lorenz kaum Zeit behielt
+zurückzuspringen.
+
+Etwas erstaunt blieb er, mit seiner Depesche in der Hand, jetzt an der
+Schwelle stehn, fing aber doch nun an zu glauben, daß die ganze Sache
+irgend etwas Furchtbares und Gefährliches in sich trage, das mit den
+geheimnißvollen Telegraphendrähten natürlich in directer Verbindung
+stehen mußte, und daß jetzt mehr als je daran liege, die richtige
+Person dafür zu finden. Vor allen Dingen suchte er deshalb, ehe er sich
+weiteren Mißverständnissen aussetzte, die Wohnung des besagten Doctor
+Müller ausfindig zu machen und der Zeitungsjunge, der eben das Tageblatt
+brachte, diente ihm dabei als untrügliche Quelle.
+
+»Doctor Müller?« sagte dieser -- »eine Treppe höher, können gleich das
+Tageblatt mit hinaufnehmen -- doch Treppen genug zu laufen.«
+
+Lorenz übernahm die Besorgung und befand sich bald zu seiner innigen
+Beruhigung an der rechten Thür. Ein kleines weißes Schild mit dem Namen
+des Dr. Müller darauf zeigte ihm, daß er sein Ziel erreicht habe.
+
+An dieser Vorsaalthür war keine Schelle. Er klopfte erst ein paar Mal,
+und da ihm Niemand antwortete, drückte er die Klinke nieder und trat
+ein. Auf dem Vorsaal sah er auch Niemanden und die Küche stand leer, in
+der nächsten Stube hörte er aber Stimmen, ging dort hinüber und klopfte
+an.
+
+Wie sich die Thür öffnete glänzte ihm ein mit Blumen, Torten und
+Geschenken bedeckter Tisch entgegen und eine junge allerliebste kleine
+Frau frug ihn freundlich was er wünsche. Lorenz, der außerordentlich
+gutmüthigen Herzens war, dachte aber mit Zagen an die Verwirrung, die er
+parterre und im ersten Stock schon angerichtet hatte und wünschte, mit
+dem unbestimmten Bewußtsein, daß er der Träger irgend einer furchtbaren
+Nachricht wäre, diese der jungen hübschen Frau so vorsichtig als möglich
+beizubringen.
+
+»Ach heren Se,« sagte er deshalb -- »erschrecken Sie nich -- es is Sie
+was vom Telegrafen.«
+
+Die junge Frau sah ihn stier an, hob langsam den rechten Arm in die
+Höh und brach mit dem kaum hörbaren Schrei: »Er ist todt!« bewußtlos
+zusammen. Ihr Gatte hatte auch in der That kaum Zeit sie aufzufangen und
+vor einem vielleicht schlimmen Sturze zu bewahren.
+
+»Um Gottes Willen, was ist?« frug er dabei den wie halb vom Schlag
+gerührten Depeschenträger »eine Telegraphische Depesche? -- woher?«
+
+»Nun, da Sie's doch schon einmal wissen,« sagte Lorenz, inniges Mitleid
+in den erschreckten Zügen -- »es is Sie richtig vom Telegrafen.«
+
+Der junge Mann trug sein armes, bewußtloses Frauchen auf das Sopha, wo
+er sie den Händen der jammernd herbeistürzenden Schwiegermutter übergab.
+Das Kind, das die Wärterin auf dem Arme trug, fing dabei an zu schreien,
+die Köchin war ebenfalls herein gekommen und stand schluchzend und
+händeringend an der Thür und mit zitternden Händen erbrach jetzt Dr.
+Müller die Depesche, deren Buchstaben ihm im Anfang vor den Augen
+flirrten und tanzten. Endlich las er leise vor sich hin:
+
+Herzlichen Glückwunsch -- heutigen Geburtstag -- noch oft wiederkehren
+-- Alle wohl -- tausendmal grüßen -- liebe Frau auch. Inniger
+Freundschaft.
+
+ Mehlig.
+
+Erst am Schluß und wie ihm das Bewußtsein dämmerte um was es sich hier
+handele, knitterte er das Papier in der Hand zusammen, drehte einen Ball
+daraus und schleuderte diesen mit aller Gewalt auf den Boden.
+
+»Ist er todt?« sagte Lorenz in theilnehmendem Mitgefühl.
+
+»Gehen Sie zum Teufel,« rief Dr. Müller in leicht verzeihlichem Aerger
+-- »Sie und Ihre telegraphische Depesche -- solchen Glückwunsch möcht
+ich mir nächstes Jahr noch einmal zum Geburtstag wünschen -- meine arme
+Frau kann den Tod davon haben.«
+
+»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz, Niemand bekümmerte
+sich aber mehr um ihn, denn die Uebrigen waren jetzt sämmtlich um die
+Ohnmächtige beschäftigt, so daß er die Gelegenheit für passend hielt,
+sich so rasch und unbemerkt als möglich zu entfernen. Durch das Haus
+mußte er aber noch einmal förmlich Spießruthen laufen.
+
+»Ach Sie Unglücksvogel,« sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Vase
+frischen Wassers, um der Frau zu helfen, an der Thür begegnete.
+
+»Das nächste Mal erkundigen Sie sich vorher nach dem Namen, Sie Dingsda«
+-- sagte der Herr in dem schmutzigen Schlafrock, der an der Saalthür
+in der ersten Etage ganz besonders auf ihn gewartet haben mußte, als
+er dort rasch und geräuschlos vorbeigleiten wollte, und unten in der
+Hausflur saß die Mamsell noch immer bei den Scherben, die sie vergebens
+zusammenpaßte.
+
+Auch diese empfing ihn wieder mit einer Fluth von Vorwürfen, Lorenz
+aber hielt sich nicht auf und floh aus dem Haus hinaus, als ob er hätte
+stehlen wollen und dabei erwischt worden wäre.
+
+Erst nach langer Zeit gewöhnte er sich auch an diese unausbleiblichen
+Folgen derartiger Depeschen, und als ich ihn neulich sprach, hatte er
+sogar eine Art statistischer Tabelle aufgestellt, nach der er berechnet
+haben wollte, daß durchschnittlich auf je vier telegraphische Depeschen
+-- denn nicht alle laufen so unglücklich ab, -- eine Ohnmacht und
+zwei zerbrochene Tassen, nur auf die sechste oder siebente aber ein
+ernstlicher Unfall folge.
+
+»S'is was Scheenes um en Telegrafen,« sagte er dabei, »aber Gott bewahre
+Eenen vor ener telegrafischen Depesche!«
+
+
+
+
+Der Polizeiagent.
+
+
+I.
+
+Im Packwagen.
+
+Es war im Juli des Jahres 18--, als der von Cassel kommende Schnellzug
+in Guntershausen hielt und dort solch eine Unzahl von Passagieren
+vorfand, daß die Schaffner kaum Rath und Aushilfe wußten. Alle Welt
+befand sich aber auch gerade in dieser Zeit unterwegs und die Züge --
+da das andauernd schlechte Wetter bisher die Reisenden zurückgehalten
+-- waren bei dem ersten warmen Sonnenstrahl gar nicht auf einen so
+plötzlichen Andrang berechnet gewesen.
+
+Uebrigens machte man möglich, was eben möglich zu machen war. Alle
+vorhandenen Wagen wurden eingeschoben, jeder noch freie Platz dritter
+Klasse -- zum großen Aergerniß mit Hutschachteln und Reisetaschen reich
+bepackter Damen -- auf das gewissenhafteste ausgefüllt und dann in die
+zweite, ja sogar selbst in die erste Klasse hineingeschoben was eben
+hineinging. Die nächsten Stationen nahmen ja auch wieder Reisende ab,
+und nach und nach regulirte sich alles.
+
+Durch diesen Aufenthalt hatte sich der Schnellzug aber auch um eine gute
+halbe Stunde verspätet und war eben zum Abfahren fertig, als noch ein
+leichter Einspänner angerasselt kam und ein einzelner Herr, eine kleine
+lederne Reisetasche in der Hand, heraus und darauf zusprang.
+
+»Zu spät,« rief ihm der Oberschaffner entgegen und gab den
+verhängnißvollen schrillenden Pfiff; »wir haben alle Personenwagen
+besetzt.«
+
+Der Fremde, der augenscheinlich kein Neuling auf Reisen war, warf einen
+raschen, prüfenden Blick über die lange Wagenreihe und sah Kopf an Kopf
+in den Fenstern -- aber die Schiebethür des Packwagens stand noch halb
+geöffnet.
+
+»Dann werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
+einquartiren,« lachte er und ohne die Einwilligung des Schaffners
+abzuwarten, der übrigens auch nichts dagegen hatte, sprang er auf den
+Wagentritt und in den Packwagen hinein. Bei einem solchen Andrang von
+Personen mußte sich ein jeder helfen so gut er eben konnte.
+
+»Das ist eigentlich nicht erlaubt --« sagte der Packmeister; aber der
+Fremde kannte genau die Sprache, die hier alleinige Geltung hatte, und
+dem Packmeister ein Stück Geld in die sich unwillkürlich öffnende Hand
+drückend, lachte er:
+
+»Ich führe ganz vortreffliche Cigarren bei mir und wenn ich nicht
+im Wege bin, erlauben Sie mir wohl eine Viertelstunde Ihnen hier
+Gesellschaft zu leisten.«
+
+»Haben Sie denn ein Billet?« frug der Mann und sein =Gefühl= sagte ihm,
+daß er ein großes Silberstück in der Hand hielt.
+
+»Noch nicht -- ich bin eben erst, wie der Zug abgehen wollte, mit einem
+Einspänner von Melsungen herüber gekommen. Mein Billet nehme ich auf der
+nächsten Station.«
+
+»Na da setzen Sie sich nur da drüben auf den Koffer, in Treysa
+gibt's Platz,« bemerkte der Packmeister, während der Fremde seine
+Cigarrentasche herausnahm und sie dem Manne hinhielt.
+
+»Mit Erlaubniß -- danke schön« -- die Bekanntschaft war gemacht, der Zug
+überdies in Bewegung und der Passagier, bis ein anderer Platz für ihn
+gefunden werden konnte, rechtsgültig untergebracht.
+
+Eine Cigarre wirkt überhaupt oft Wunder und die Menschen, die sich
+diesen Genuß aus ein oder dem andern Grunde versagen, wissen und ahnen
+gar nicht, wie sehr sie sich oft selber dadurch im Lichte stehen. Mit
+einer Cigarre ist jeder im Stande, augenblicklich auf indirecte Art eine
+Unterhaltung anzuknüpfen, indem man nur einen Reisegefährten um Feuer
+bittet. Ist dieser in der Stimmung, darauf einzugehen, so giebt er die
+eigene Cigarre zum Anzünden. Paßt es ihm aber nicht, so bleibt ihm
+immer noch ein Ausweg -- er reicht dann dem Bittenden einfach ein
+Schwefelholz. Der Empfänger dankt, zündet seine Cigarre an, wirft das
+Holz weg und betrachtet sich als abgewiesen.
+
+Mit einer dargebotenen Cigarre gewinne ich mir außerdem das Herz
+unzähliger Menschen, die der =nicht= rauchende Reisende in gemeiner
+Weise durch schnöde Fünf- und Zehn-Groschenstücke gewinnen muß. -- Sitz'
+ich auf der Post neben dem Postillion auf dem Bock, so öffnet mir eine
+Cigarre sein ganzes Herz; ich erfahre nicht allein die außerordentlichen
+Eigenschaften seiner Pferde, sondern auch die Familiengeheimnisse des
+Posthalters und erweiche ich dasselbe sogar noch mit einem Glase Bier,
+so liegt sein eigenes Innere offen vor mir da. Selbst der gröbste
+Schaffner wird rücksichtsvoll, sobald er die ihm dargereichte
+Cigarrentasche erblickt -- man soll nämlich derartigen Leuten nie eine
+einzelne Cigarre hingeben, weil sie außerordentlich mißtrauisch sind und
+leicht Verdacht schöpfen können, man führe besondere »Wasunger« Sorten
+bei sich für solchen Zweck und das verletzt ihr Ehrgefühl.
+
+Auch der Packmeister war gesprächig geworden -- die Cigarre schmeckte
+ausgezeichnet -- und erzählte von dem, was ihm natürlich am nächsten
+lag, von der ewigen unausgesetzten Plackerei, so daß man seines Lebens
+kaum mehr froh werden könnte. Die ganze Welt reise jetzt -- wie er
+meinte -- in die Bäder. Er reiste auch in einem fort -- alle Wochen drei
+Mal in die Bäder, kam aber nie hin und hatte kaum Zeit, sich Morgens
+ordentlich zu waschen, viel weniger zu baden. In seinem Packwagen stecke
+er dazu wie eine Schnecke in ihrem Haus, nur daß die Schnecke nicht
+ununterbrochen Koffer und Hutschachteln ein- und auszuladen hätte.
+»Sehen Sie« -- setzte er dann hinzu -- »so gewöhnt man sich aber daran,
+daß ich schon Nachts in meinem eigenen Bett -- wenn ich meine Nacht
+daheim hatte und ich schlafe dicht am Bahnhof -- im Traum, sowie ich nur
+die verdammte Locomotive pfeifen hörte, Bettdecke und Kopfkissen in die
+Stube hineingefeuert habe, weil ich glaubte, es wäre Station und ich
+müßte ausladen. Es ist Sie ein Hundeleben.«
+
+Wieder pfiff diese nämliche Locomotive. Der Zug hielt an einer der
+kleinen Stationen und drei Koffer gingen hier ab, und ein anderer Koffer
+mit zwei Reisesäcken und eine Kiste kam hinzu. Der Fremde mußte aber
+noch sitzen bleiben, denn der Aufenthalt dauerte zu kurze Zeit, um ein
+Billet lösen zu können.
+
+»Ich begreife nicht,« sagte der Fremde, »wie Sie sich da immer so
+zurecht finden, daß Sie gleich wissen was expedirt wird und was
+dableibt. Kommt da nicht auch oft ein Irrthum vor?«
+
+»Doch selten,« meinte der Packmeister, indem er seine bei der Expedition
+ausgegangene Cigarre wieder mit einem Schwefelhölzchen anzündete -- »man
+bekommt Uebung darin. Nur heute wär mir's in dem Wirrwarr bald schief
+gegangen, denn in Guntershausen hatte ich aus Versehen den nämlichen
+Koffer hinausgeschoben, auf dem Sie da sitzen. Glücklicherweise kriegte
+ihn der Eigenthümer noch zur rechten Zeit in die Nase -- und das bischen
+Spectakel, was der machte! Aber es war ja noch kein Malheur passirt und
+so schoben wir ihn wieder herein. Den Packmeister möchte ich überhaupt
+sehen, dem nicht schon einmal ein falscher Koffer entwischt ist -- der
+Telegraph bringt das aber alles wieder in Ordnung. -- Staatseinrichtung
+das mit dem Telegraphen.«
+
+Der Fremde hatte sich, während der Mann sprach fast unwillkührlich den
+Koffer angesehen, auf dem er saß, und stand jetzt auf und las das kleine
+Messingschild. Es enthielt nur die zwei Worte »_Comte Kornikoff_.«
+
+»Und wie sah der Herr aus, dem der Koffer gehörte?« frug er endlich.
+
+»Oh, ein kleines, schmächtiges Männchen,« meinte der Packmeister, »mit
+einem pechschwarzen Schnurrbart und einer blauen Brille.«
+
+»Wohin geht denn der Koffer heute?«
+
+»Nach Frankfurt -- ich war ja ganz confus und glaubte, er ginge nach
+Cassel, weil ich gestern den Packwagen dorthin hatte.«
+
+Wieder pfiff die Locomotive und während der Packmeister von seinem
+Geschäft in Anspruch genommen wurde, betrachtete der Fremde das Schild
+noch genauer, aber er sprach nichts weiter darüber und da sie gleich
+darauf in Treysa hielten, mußte er dort aussteigen und ein Billet lösen.
+Hier war auch eine große Zahl von Passagieren abgegangen und Platz genug
+geworden.
+
+»Wohin fahren Sie?«
+
+»Frankfurt --«
+
+»Die vorderen Wagen.«
+
+Der Fremde schritt an der Reihe hinauf und sah in die verschiedenen
+Coupés hinein. In dem einen saß ein Herr und eine Dame. Der Herr trug
+eine blaue Brille. Er öffnete sich selber die Thür, stieg ein, grüßte
+und nahm dann in der einen Ecke Platz.
+
+Der Herr mit der blauen Brille schien das nicht gern zu sehen -- er
+schaute aus dem Wagenfenster als ob er einen Schaffner herbeirufen
+wollte, und warf dann einen forschenden Blick auf den Fremden. Dieser
+aber kümmerte sich nicht darum, legte seine kleine Reisetasche in das
+Netz hinauf und machte es sich dann vollkommen bequem.
+
+»Bitte, Ihr Billet, mein Herr --«
+
+»Hier --«
+
+»Sie haben aber erste Klasse.«
+
+»Es sitzen einige Damen erster Klasse,« sagte der Fremde, »und da ich
+den Herrn da rauchen sah, nahm ich =hier= Platz. Die Dame wird mir wohl
+das Anzünden einer Cigarre erlauben.«
+
+Die letzten Worte waren, wie halb fragend an die Dame gerichtet, deren
+Gesichtszüge sich aber nicht im Geringsten dabei veränderten. Sie mußte
+den Sinn derselben gar nicht verstanden haben.
+
+Der Schaffner coupirte das Billet und die Passagiere waren allein;
+da aber der Fremde der Artigkeit Genüge leisten wollte, nahm er seine
+Cigarrentasche heraus und aus dieser eine Cigarre und sagte dann noch
+einmal, sich an den Herrn wendend:
+
+»Die Dame scheint meine Frage nicht verstanden zu haben. Sie erlaubt mir
+wohl, daß ich rauche?«
+
+»Sprechen Sie Englisch?« frug der Herr in dieser Sprache zurück -- »ich
+verstehe kein Deutsch --«
+
+»Ich muß sehr bedauern,« sagte der Fremde achselzuckend, aber wieder in
+deutscher Sprache. Die Unterhaltung war dadurch unmöglich geworden, die
+Pantomine indeß zu deutlich gewesen und der Herr mit der blauen Brille
+reichte dem, wie es schien eben nicht willkommenen Reisegefährten seine
+brennende Cigarre zum Anzünden, die dieser dankend annahm und dann
+zurückgab.
+
+Die Dame hatte den Kopf halb abgewandt und sah zu dem geöffneten Fenster
+hinaus. Der Fremde warf unwillkürlich den Blick nach ihr hinüber
+und mußte sich gestehen, daß er selten, wenn je in seinem Leben,
+ein schöneres Gesicht, regelmäßigere Züge, feurigere Augen und einen
+tadelloseren Teint gesehen habe. Und wie schön mußte das Mädchen oder
+die Frau erst sein, wenn sie =lächelte=, denn jetzt zog eine Mischung
+von Trotz und Stolz -- vielleicht der Unwille über des Fremden
+Gegenwart, die fein geschnittenen Lippen zusammen und gab dem lieben
+Antlitz etwas Finsteres und Hartes, was ihm doch sonst gewiß nicht eigen
+war.
+
+Ein kurzes Gespräch entspann sich jetzt zwischen dem Herrn und der Dame,
+auf welches der Fremde aber nicht zu achten schien, denn er nahm ein
+Eisenbahnbuch aus der Tasche und blätterte darin. Die Dame sagte, ohne
+jedoch den Blick von der Landschaft wegzuwenden, ebenfalls in englischer
+Sprache:
+
+»Wer ist der Fremde?«
+
+»Ich weiß es nicht,« lautete die Antwort, »aber wir brauchen uns
+seinetwegen nicht zu geniren; er versteht kein Englisch.«
+
+»Aber er sieht englisch aus.«
+
+»Bewahre,« lachte der Mann -- »er hat auch nicht ein einziges englisches
+Stück Zeug an seinem Körper -- die Reisetasche ist ebenfalls deutsch,
+gerade so wie sein Handbuch.«
+
+»Er ist lästig, wir hätten erster Classe fahren sollen.«
+
+»Liebes Herz, das schützt uns nicht vor Gesellschaft, denn der Herr hat
+ebenfalls ein Billet erster Classe und ist nur hier eingestiegen, weil
+er mich rauchen sah.«
+
+»Dein fatales Rauchen.« -- Die Unterhaltung stockte und der Herr mit der
+blauen Brille warf noch einen prüfenden Blick nach seinem Reisegefährten
+hinüber, der aber gar nicht auf ihn achtete und sich vollständig mit
+seiner Cigarre und seinem Buch beschäftigte. Nur dann und wann hob er
+den Blick und schaute nach beiden Seiten auf die Landschaft hinaus und
+streifte dann damit, wenn auch nur flüchtig, den Fremden.
+
+Es war eine kleine, aber zierliche schlanke Gestalt, sehr elegant, aber
+fast zu sorgfältig gekleidet, auch mit mehr Schmuck als ein wirklich
+vornehmer Mann zu zeigen pflegt. Die Hände aber hatten etwas wirklich
+Aristokratisches -- sie waren weiß und zart geformt und wenn er den Mund
+zum Sprechen öffnete, zeigte er zwei Reihen auffallend weißer Zähne.
+Sein Haar war braun und etwas gelockt, der Schnurrbart aber von tiefer
+Schwärze, jedenfalls gefärbt. Die Augen ließen sich nicht erkennen,
+da sie von der blauen Brille bedeckt wurden. Trotzdem aber, daß er nur
+englisch zu sprechen schien, war er vollkommen nach französischer Mode
+gekleidet. Nur die junge Dame trug in ihrem Putz und Reiseanzug den
+entschieden englischen Charakter, wie auch entschieden englische Züge.
+Ihren Begleiter würde man weit eher für einen Franzosen als für einen
+Sohn Albions gehalten haben.
+
+Mehrere Stationen blieben die Drei allein in ihrem Coupé. Die Dame war
+müde geworden und hatte -- soweit es die Bewegung des Wagens erlaubte --
+ein wenig geschlafen. In Gießen aber kamen noch eine Anzahl Passagiere
+hinzu und zwei von diesen, ein Herr und eine Dame, stiegen in dies
+nämliche Coupé. Wieder ein Paar Engländer und die Dame, wenn auch
+schon ziemlich in den Jahren, doch mit den unvermeidlichen, langen
+Hobelspahnlocken, die ihr vorn fast bis zum Gürtel nieder hingen; der
+Herr mit einem breitränderigen, schwarzen Filzhut, einem kleinen, sehr
+mageren Schnurrbart und einer Cigarre im Munde -- lauter continentale
+Reiseerinnerungen, die wieder fallen müssen, sobald der Eigenthümer
+derselben den Boden seines Vaterlandes aufs neue betritt.
+
+Wenn sich die beiden Herren aber auch ziemlich kalthöflich gegeneinander
+verneigten, so schienen die Damen dagegen schon beim ersten Blick
+die gemeinsame Nationalität erkannt zu haben, und kaum saß die
+Neuhinzugekommene, als sie auch ein lebhaftes Gespräch mit ihrer jungen
+Nachbarin begann, an dem sich diese ebenfalls zu freuen schien, denn ihr
+Gemahl oder Begleiter hatte sie wenig genug unterhalten.
+
+Engländer auf dem Continent -- wie könnte es ihnen auch an Stoff zur
+Unterhaltung fehlen -- Vereinigt sie nicht ein gemeinsames Leid und
+Elend? Werden sie nicht gleichmäßig von allen Wirthen, Kellnern,
+Droschkenkutschern, Gepäckträgern und Lohnbedienten geprellt, und
+=kann= ein wirklicher Engländer ohne Lohnbedienten auf dem Continent
+durchkommen, denn spricht er je die Sprache des Landes, auf dem er eine
+freie Zeit zubringen will? -- Unter hunderten kaum einer.
+
+Das Gespräch -- sowie nur die ersten Fragen über woher und wohin
+erledigt waren, drehte sich auch nur um diesen Gegenstand, und der Herr
+mit dem breitkrämpigen Hut nahm bald lebhaften Theil daran.
+
+Er kam mit seiner Frau natürlich von London, hatte vier Wochen zur
+Reise bestimmt, zwei davon schon nützlich verwandt, und schien fest
+entschlossen, auch die andern beiden noch daran zu setzen, um sich in
+jeder nur erreichbaren Stadt Deutschlands über die Wirthe im Einzelnen
+und das Volk im Allgemeinen zu ärgern, und dann mit dem stolzen
+Bewußtsein nach Hause zurückzukehren, daß es doch nur =ein= England in
+der Welt gäbe.
+
+Die junge Frau kam, wie sie sagte, mit ihrem Mann von Hannover, wo sie
+ein Jahr bei Freunden zugebracht. Sie beabsichtigten jetzt auf einen
+Monat nach Frankfurt oder auch vielleicht in ein benachbartes Bad zu
+gehen, um ihre Gesundheit, die durch den längeren Aufenthalt in dem
+rauhen Lande angegriffen sei, wieder herzustellen.
+
+»Und wo werden Sie in Frankfurt wohnen?«
+
+Sie wußten es noch nicht -- der Herr mit dem breiträndrigen Hut schlug
+die »Stadt Hull« als ein sehr billiges, ihm besonders empfohlenes
+Gasthaus vor. Uebrigens könne man ja vorher über den Preis von »_board
+and lodging_« akkordiren -- =er= thäte das immer, wenn es auch ein wenig
+»schäbig« aussehe -- den deutschen Wirthen gegenüber sei man sich das
+aber schuldig.
+
+Beide Parteien beschlossen deshalb, in Stadt Hull zu übernachten und
+gemeinschaftlich zu essen -- »es sei das billiger.« Morgen konnte man
+dann auch zusammen einen Lohnbedienten nehmen, und sparte dadurch die
+halbe Auslage -- der morgende Tag würde überhaupt ein sehr angestrengter
+werden, denn es gab in Frankfurt -- nach Murray -- eine Unmasse von
+Sehenswürdigkeiten, die nun einmal durchgekostet werden =mußten=, wenn
+man nicht die Reise umsonst gemacht haben wollte.
+
+Der Herr mit der blauen Brille hatte sich nicht sehr an der Unterhaltung
+betheiligt. Er schien keine Freude daran zu finden. Auch die
+Aufforderung, gemeinsam in Stadt Hull zu logiren, beantwortete er
+zweideutig, während die junge Dame augenblicklich bestimmt zusagte.
+Dann lehnte er sich in seine Ecke zurück und schlief -- er verhielt
+sich wenigstens von da an vollkommen ruhig, wenn man auch der blauen
+Brillengläser wegen nicht einmal sehen konnte, ob er nur die Augen
+geschlossen hielt.
+
+Es war indessen dunkel geworden -- die übrigen Passagiere wurden
+ebenfalls müde, und nur auf der vorletzten Station unterbrach der
+Schaffner noch einmal die Stille, indem er die Billete nach Frankfurt
+abforderte.
+
+Der Fremde mit der blauen Brille schien wirklich eingeschlafen zu sein.
+Er fuhr, als ihn der Schaffner, der neben ihm durch das Fenster sah, auf
+die Schulter klopfte, ordentlich wie erschreckt in die Höhe und sah sich
+wild und verstört um -- er hatte jedenfalls geträumt, und suchte dann,
+als er begriff was man von ihm wolle, in der Westentasche nach seinem
+Billet.
+
+Ein kleiner weißer Streifen Papier fiel dabei auf die Erde und der
+Fremde mit der Reisetasche, der jenem schräg gegenüber saß, stellte
+den Fuß darauf. Dann war wieder alles still; der mit der blauen Brille
+lehnte sich in seine Ecke zurück und sein halbes _Vis-à-vis_ nahm sein
+Taschentuch heraus, ließ es wie zufällig fallen und hob den Zettel damit
+auf -- es war der Gepäckschein.
+
+Bald darauf rasselte der Zug mit einem markdurchschneidenden Pfeifen
+-- daß Einem die eigene Lunge weh that, wenn man es nur hörte -- in den
+Frankfurter Bahnhof ein, und der Fremde mit der kleinen Reisetasche war
+der erste, der aus dem Wagen sprang und zu dem Güterkarren eilte.
+Hatte er indessen unredliche Absichten dabei gehabt, so sollte er die
+vereitelt sehen, denn es dauerte eine Ewigkeit, bis der, wie es schien,
+wohlgemerkte Koffer, auf den der Schein lautete, zum Vorschein kam,
+und bis dahin war der rechtmäßige Eigenthümer schon ebenfalls herbei
+gekommen und erkannte sein Gepäck. Vergebens suchte er indessen in
+allen Taschen nach seinem Schein und fluchte auf deutsch, englisch
+und französisch, daß ihm die Beamten sein Gepäck nicht ohne denselben
+ausliefern wollten.
+
+Der Fremde hatte sich etwas zurückgezogen und stand im Schatten eines
+Pfeilers -- jedenfalls machte er da die Entdeckung, daß der Herr mit
+der blauen Brille nicht allein vollkommen gut deutsch, sondern auch
+französisch sprach, und sich in beiden Sprachen erbot, seine Koffer zu
+öffnen und dadurch zu beweisen, daß er der Eigentümer sei.
+
+Der Inspektor kam endlich heran und ersuchte ihn sehr artig, nur so
+lange zu warten, bis das übrige Gepäck fortgenommen sei; wenn er dann
+die passenden Schlüssel producire, möge er seine Koffer mit fortnehmen.
+
+Der Fremde zeigte Anfangs viel Ungeduld, und erklärte mit dem nächsten
+Zuge nach Mainz noch weiter zu wollen, der Inspektor bedeutete ihm aber,
+daß er dann hätte besser auf seinen Gepäckschein Acht geben sollen --
+den Zug nach Mainz erreiche er indessen doch nicht mehr, da derselbe
+schon vor einer Viertelstunde abgegangen, weil sich der Schnellzug
+verspätet habe. Es blieb ihm zuletzt kein anderer Ausweg, als dem
+gegebenen Rath zu folgen, und als seine Koffer wirklich zurückgeblieben,
+und er sich durch seine Schlüssel als der rechtmäßige Eigenthümer
+legitimiren konnte, bekam er endlich sein Gepäck und ließ es -- einen
+großen und einen kleineren Koffer -- in die durch die Dame schon in
+Besitz genommene offene Droschke schaffen.
+
+Dicht dahinter hielt noch eine verschlossene Droschke =ohne= Gepäck;
+sonst hatten sämmtliche Wagen, selbst die Omnibusse, schon die Bahn
+verlassen, und der Kutscher fuhr jetzt, auf die Anweisung des Reisenden,
+nicht nach der Stadt Hull, sondern nach dem »_Hôtel Methlein_.«
+
+Die andere Droschke folgte in etwa zwanzig Schritt Entfernung nach, und
+hielt, als die erste in den Thorweg einfuhr. Ein Reisender mit einer
+kleinen Reisetasche in der Hand stieg aus, befahl dem Droschkenkutscher
+zu warten, und betrat dann zu Fuß das nämliche Hotel.
+
+Dort angekommen legte der Reisende nur eben in dem ihm bezeichneten
+Zimmer sein geringes Gepäck ab, bestellte sich unten im Speisesaal
+etwas zu essen und verließ dann noch einmal das Hotel, um nach dem
+Telegraphenbureau zu fahren. Dort gab er folgende Depesche auf:
+
+ _Mr. Burton, Union Hôtel, Hannover._
+
+Ist ein Graf Kornikoff ein Jahr in Hannover gewesen? -- Fremdenliste
+nachsehen. Kommen Sie so rasch als möglich hierher. -- Bin ich
+abgereist, liegt ein Brief im Hotel. --
+
+ _H._
+
+Dann kehrte er ins Hotel zurück und verzehrte sein Abendbrod, das ihm
+der Kellner brachte.
+
+Der Saal war leer; nur vier Herren saßen an einem Tisch und schienen,
+schon ziemlich angetrunken, den Geburtstag des einen zu feiern, der mit
+schwerer Zunge noch eine Flasche moussirenden Rheinwein bestellte. Um
+den Fremden bekümmerte sich Niemand.
+
+Dieser aß das ihm vorgesetzte Beefsteak, trank seine Flasche Wein dazu
+und wartete es ruhig ab, bis ihm der Kellner das Fremdenbuch brachte. In
+dasselbe schrieb er sich ein als W. Hallinger, Particulier aus Breslau
+und blätterte dann die Seiten nach den dort eingetragenen Namen durch.
+
+Ganz zuletzt -- dicht über seinem eigenen Autograph -- standen seine
+Reisegefährten eingetragen: »Comte Kornikoff und Frau, aus Petersburg --
+von Hannover nach Frankfurt.«
+
+Der Kellner hatte dabei bemerkt Nr. 6 und 7.
+
+»Wollen Sie morgen früh geweckt sein?« frug ihn der Portier, als er
+seine Flasche beendet und seine Cigarre ausgeraucht hatte, und eben im
+Begriff stand zu Bett zu gehen.
+
+»Wann geht der erste Zug?«
+
+»Wohin?«
+
+»Nach Mainz oder Wiesbaden.«
+
+»Sechs Uhr.«
+
+»Gehen da noch mehrere Passagiere ab?«
+
+»Jawohl,« erwiederte der Portier, auf die für den Hausknecht bestimmte
+Tafel zeigend -- »Nr. 5, Nr. 17 und Nr. 37 lassen sich wecken. Soll ich
+Sie ebenfalls notiren?«
+
+»Ach, ich weiß nicht; ich bin müde heut Abend. Ich werde wohl erst mit
+dem zweiten Zug fahren.«
+
+»Sehr wohl, mein Herr -- Kellner, Licht auf Nr. 8. Angenehme Ruhe.«
+
+Der Fremde stieg auf sein Zimmer hinauf und sah vor Nr. 7 ein Paar
+Herrenstiefeln und ein Paar lederne Damenschuhe stehen. Im Hotel schlief
+aber schon alles; es war spät geworden, da sich der Zug überhaupt
+verspätet hatte und der »Particulier Hallinger« suchte ebenfalls sein
+Lager.
+
+
+II.
+
+Der Bundesgenosse.
+
+Am nächsten Morgen war der Fremde, der sich in dem Fremdenbuch als
+Particulier Hallinger eingeschrieben hatte, trotzdem daß er nicht
+geweckt wurde, ziemlich früh wieder munter, aber es schlug 8 Uhr, und
+die Stiefel und die Damenschuhe standen noch immer vor Nr. 7, ohne
+hereingeholt zu sein. Erst gegen neun Uhr schienen die Insassen jenes
+Zimmers ordentlich munter zu werden, und um halb zehn Uhr wurde Kaffee
+bestellt. Aber erst gegen zwölf Uhr ging der Herr aus, und zwar allein
+-- die Dame blieb auf ihrem Zimmer. Wie der Kellner aussagte, fühlte
+sich die Dame nicht ganz wohl, und wollte heute ausruhen -- er hatte
+wenigstens nicht in das Zimmer gedurft, und das Stubenmädchen mußte den
+Kaffee hinein tragen. Wahrscheinlich lag sie noch im Bette.
+
+Der Fremde blieb übrigens den ganzen Tag zu Haus, und schickte nur einen
+Brief an _Messrs. Burton & Burton, London, 12 Fleetstreet_ durch den
+Hausknecht auf die Post. Thatsache war übrigens, daß er sich ungemein
+für seine Nachbarschaft zu interessiren schien, denn als der Herr wieder
+nach Hause kam, rückte er sich leise einen Stuhl an die verschlossene
+Verbindungsthür und horchte stundenlang mit einer merkwürdigen Ausdauer
+dem da drüben gehaltenen Gespräch, jedoch ohne besonderen Nutzen. Die
+laut gesprochenen Worte waren vollständig gleichgültiger Natur, und das
+andere konnte er eben nicht verstehen.
+
+Zu Mittag aß er an der Table d'hôte, aber von Nr. 6 oder 7 ließ sich
+niemand dabei blicken. Die Dame schien sich noch angegriffen von der
+Reise zu fühlen und Beide speisten auf ihrem Zimmer.
+
+Erst Nachmittags begegnete er dem »Grafen Kornikoff« auf der Treppe und
+dieser sah ihn etwas überrascht durch seine blaue Brille an. Der Fremde
+heuchelte aber vollständige Gleichgültigkeit, nahm nicht die geringste
+Notiz von ihm, und that wenigstens so, als ob er ihn gar nicht wieder
+erkenne.
+
+So verging der Tag, ohne daß die beiden Reisenden Miene gemacht hätten,
+Frankfurt wieder zu verlassen. Der Oberkellner, mit dem sich Herr
+Hallinger über die »bildschöne junge Frau« unterhielt, wußte wenigstens
+nicht das Geringste davon. Abends aber, als der Schnellzug von Hannover
+erwartet wurde, ging Hallinger hinaus auf den Bahnhof, und brauchte, als
+der Zug endlich einlief, auch nicht lange nach dem Erwarteten zu suchen.
+Dieser hatte ihn schon von seinem Coupé aus bemerkt und kam rasch auf
+ihn zu.
+
+»Hamilton! nun, was Neues?«
+
+»Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur, Mr. Burton,« sagte dieser,
+indem er achtungsvoll seinen Hut berührte. »Aber wo ist Ihr Gepäck?«
+
+»Nichts als die Reisetasche hier.«
+
+»Desto besser, auf der Jagd darf man nicht unnöthigen Plunder
+mitschleppen. Kommen Sie, ich habe schon eine Droschke«.
+
+»Gehen wir nicht lieber zu Fuß?«
+
+»Es ist zu weit -- und fahren ist sicherer.«
+
+»Und was =haben= Sie nun entdeckt?« frug der junge Engländer, als Beide
+eingestiegen waren und davon rasselten -- die Unterhaltung wurde auch in
+englischer Sprache geführt.
+
+»Das will ich Ihnen mit kurzen Worten sagen,« berichtete der fälschlich
+als deutscher Particulier eingetragene Fremde. »Durch einen reinen
+Zufall war ich genöthigt, ein Paar Stationen in einem Packwagen zu
+fahren, und fand dort einen Koffer, dessen Messingschild den Namen
+»_Comte Kornikoff_« trug.«
+
+»Und Sie glauben, daß jener Schuft Kornik dahinter stecke?«
+
+»Durch den Namen allein wäre ich vielleicht nicht einmal darauf
+gefallen,« fuhr Hamilton fort, »aber das französische Wort _Comte_ war
+jedenfalls später zu dem Namen gravirt, denn es nahm nicht den Raum
+ein, den ihm der Graveur gegeben hätte, wenn er es von Anfang an darauf
+gesetzt. Ebenso schien das _off_ hinzugefügt.«
+
+»Und die Beschreibung des Eigenthümers paßt?« rief Mr. Burton rasch.
+
+»Ja und nein. Wohl in der Gestalt, aber sonst nicht ganz; der
+dunkelblonde Backenbart fehlt«.
+
+»Der kann abrasirt sein.«
+
+»Das ist möglich -- aber er trägt einen vollkommen schwarzen Schnurrbart
+und eine blaue Brille«.
+
+»Der Schnurrbart ist vielleicht gefärbt.«
+
+»Das vermuthe ich selber. -- Die Dame ist bei ihm.«
+
+»Miss Fallow?«
+
+»Unter dem Namen der Gräfin Kornikoff natürlich, -- wenn das nämlich der
+von uns Gesuchte ist. Sie kennen ihn doch genau?«
+
+»Als ob er mein leiblicher Bruder wäre. Er war ja sieben Jahre in meines
+Vaters Haus und die beiden letzten als Hauptcassirer, wo er sich -- wer
+weiß durch was, verleiten ließ, diesen bedeutenden Kassendiebstahl zu
+begehen.«
+
+»Wahrscheinlich durch eben diese junge Dame,« sagte Hamilton, »von der
+ich ganz allerliebste Sachen gehört habe. Ihr eigentlicher Name ist Lucy
+Fallow, Tochter eines Schneidermeisters in London, aber die Eltern sind
+beide todt. Es sollen ganz ordentliche Leute gewesen sein. Das junge
+Mädchen hatte, ihres anständigen Benehmens wegen und da sie wirklich
+nicht ungebildet ist, ein Paar Jahr mit einer vornehmen Familie reisen
+können, und dann später auch noch hie und da Unterricht in Musik
+gegeben. Dadurch kam sie auch in Lady Clives Haus, von wo aus sie jetzt
+beschuldigt wird, einen sehr werthvollen Schmuck entwendet zu haben.«
+
+»Der sich dann vielleicht in ihrem Koffer findet.«
+
+»Beinah hätte ich diese beiden Koffer erwischt,« lächelte Hamilton leise
+vor sich hin, »aber ich durfte kein Aufsehen erregen, bis ich nicht
+durch =Sie= hier Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte. Die
+Dame kennen Sie nicht selber?«
+
+»Nein -- ich habe sie nie gesehen.«
+
+»Und von einem Grafen Kornikoff in Hannover auch nichts gehört?«
+
+»Nicht das Geringste. Kein Mensch wußte dort etwas von ihm, und er stand
+nicht einmal in einem Fremdenblatt. Er kann nur durchgereist sein, und
+Sie werden gewiß die richtige Spur gefunden haben. Uebrigens müssen wir
+vorher die nöthigen Schritte auf der Polizei thun.«
+
+»Ist schon alles geschehen,« sagte Hamilton. »Ich habe den
+Verhaftsbefehl für das Pärchen schon in der Tasche, und den Burschen mit
+seiner Donna fest, sowie Sie mir nur bestätigen, daß er der Rechte ist.«
+
+»Ich hätte im Leben nicht geglaubt,« sagte Mr. Burton, »daß Sie dem
+Betrüger sobald auf die Spur kämen. Es geht alles nach Wunsch. Apropos,
+haben Sie denn die Dame auch zu sehen bekommen?«
+
+»Ich bin ja mit ihnen in =einem= Coupé gefahren,« lachte Hamilton, »und
+sie ahnten dabei wahrscheinlich nicht, daß sie einen geheimen Polizisten
+bei sich im Wagen hatten. Nun ich denke, wir werden noch länger
+Reisegefährten bleiben. Aber da sind wir -- jetzt haben wir nur darauf
+zu sehen, daß uns die Herrschaften nicht etwa morgen in aller Früh
+durchbrennen. Wollen wir gleich auf Ihr Zimmer gehen?«
+
+»Ich muß erst etwas essen; ich bin ganz ausgehungert.«
+
+»Schön -- dann kommen Sie mit in den Speisesaal, wir finden ihn um diese
+Zeit fast leer.«
+
+Sie bogen rechts ein, um den Saal zu betreten. Als aber Hamilton die
+Hand nach der Thür ausstreckte, öffnete sich diese, und Graf Kornikoff
+trat heraus, warf einen flüchtigen Blick auf die Beiden und schritt dann
+langsam über den Vorsaal, der Treppe zu.
+
+»Das war er,« flüsterte Hamilton seinem Begleiter zu -- »wenn er Sie nur
+nicht erkannt hat.«
+
+Unwillkührlich drehte Burton den Kopf nach ihm um, konnte aber die
+schmächtige Gestalt des Herrn nur noch sehen, wie er eben um die Ecke
+bog, ohne jedoch dabei zurückzuschauen.
+
+»Das glaub ich kaum,« sagte Burton, »denn der Moment war zu rasch, und
+dann hätte er doch auch jedenfalls irgend ein unwillkürliches Zeichen
+der Ueberraschung gegeben. In der Verkleidung und mit der blauen Brille
+und dem schwarzen Schnurrbart würde ich selber aber nie im Leben diesen
+Mr. Kornik vermuthet haben. Wenn Sie sich nur nicht geirrt, denn in dem
+Fall versäumen wir hier viel Zeit.«
+
+»Ist es denn nicht wenigstens seine Gestalt?« frug Hamilton.
+
+»Die nämliche Gestalt allerdings,« bestätigte Burton, »aber das Gesicht
+konnte ich -- unvorbereitet wie ich außerdem war -- unmöglich in der
+Geschwindigkeit erkennen. Wann geht der erste Zug morgen früh?«
+
+»Erst um sechs Uhr.«
+
+»Ah, dann ist ja voller Tag,« sagte Burton, »und im schlimmsten Fall
+halten wir ihn mit Gewalt zurück. Wäre es aber nicht besser, wir äßen
+auf unserem Zimmer?«
+
+»Jetzt kommt er nicht mehr herunter,« meinte Hamilton. »Jedenfalls
+setzen Sie sich mit dem Rücken der Thür zu, und wenn er dann ja noch
+einmal den Saal betreten sollte, so werde ich bald sehen, was er für ein
+Gesicht dabei macht.«
+
+Hamilton hatte übrigens Recht. Graf Kornikoff ließ sich nicht mehr
+blicken und als die Beiden ihr Abendbrod beendet hatten, gingen sie auf
+Mr. Burtons Zimmer hinauf, das einen Stock höher als Hamiltons lag, um
+dort noch Manches zu besprechen.
+
+Burton hatte sich jedoch vorher, auf Hamiltons Rath unter einem
+französischen Namen in das Fremdenbuch eingetragen, um doch jede nöthige
+Vorsicht zu gebrauchen. Auch verabsäumte der schlaue Polizeibeamte
+nicht, vor Schlafengehen noch einmal die Tafel des Portiers zu
+revidiren, ob sich vielleicht Nr. 6 oder 7 darauf befand, um früh
+geweckt zu werden. Das war aber nicht der Fall, und Hamilton glaubte
+jetzt selber, daß jener Herr, wenn es wirklich der Gesuchte gewesen, Mr.
+Burton in dem Moment ihres augenblicklichen und unerwarteten Begegnens
+nicht erkannt haben =konnte=. Er brauchte also auch Nichts zu
+überstürzen.
+
+
+III.
+
+Entwischt.
+
+Mitternacht war lange vorüber, als sich Hamilton endlich erschöpft und
+ziemlich ermüdet auf sein Lager warf, aber trotzdem befand er sich schon
+um fünf Uhr angekleidet wieder draußen auf dem Gang, denn heute sollte
+er ja den Lohn seiner Bemühungen ernten, und die Zeit durfte ihn nicht
+lässig finden.
+
+Das Schuhwerk stand indeß noch immer friedlich dort draußen, des
+Hausknechts gewärtig, aber die Bewohner des Zimmers mußten auf sein
+-- sollten sie doch am Ende heute morgen abfahren wollen? »Nein, mein
+lieber Mr. Kornik,« lachte der Engländer still vor sich hin, »da wir Sie
+so hübsch in der Falle haben, wollen wir auch Acht geben, daß Sie uns
+nicht wieder durch die Finger schlüpfen.«
+
+In dem Augenblick wurde in Nr. 7 die Klingel gezogen und Hamilton trat
+in seine Stube zurück, ließ aber die Thür angelehnt. Er horchte --
+aber er konnte nicht hören, daß irgend jemand ein Wort sprach. Ein Paar
+Stühle wurden gerückt und Schiebladen ziemlich geräuschvoll auf- und
+zugemacht, aber keine Sylbe wurde laut. Hatte sich das junge Ehepaar
+vielleicht gezankt?
+
+Draußen klopfte der Kellner an Nr. 7 an.
+
+»_Walk in_.«
+
+Die Thür öffnete sich.
+
+»_Do you speak english?_« lautete die Frage der Dame.
+
+Der Kellner antwortete leise einige Worte, die Hamilton nicht verstehen
+konnte, aber die Frage mußte verneinend beantwortet sein, denn die Dame
+erwiderte gleich darauf heftig:
+
+»_So send somebody with whom I can speak_.«
+
+Der Kellner -- Hamilton sah durch die Thürspalte, es war ein ganz junger
+Bursch, der augenscheinlich gar nicht wußte, was die Dame von ihm wollte
+-- eilte wieder die Treppe hinab. »Aber alle Wetter, wo stak denn Mr.
+Kornik, der doch ganz vortrefflich deutsch sprach?«
+
+Hamilton erschrak. Hatte der Verbrecher wirklich gestern Abend Burton
+erkannt und sich selber in Sicherheit gebracht? Darüber mußte er
+Gewißheit haben -- aber seine Stiefeln standen noch vor der Thür. War er
+vielleicht krank geworden?
+
+Er stieg rasch die Treppe hinunter zum Portier, den er auch schon auf
+seinem Posten fand.
+
+»Ah, Portier, wissen Sie vielleicht, wann der Herr auf Nr. 7 wieder
+abreisen wird?«
+
+»Auf Nr. 7?«
+
+»Graf Kornikoff, glaube ich --«
+
+»Ah -- ja der Herr Graf, kann ich wirklich nicht sagen. Er wollte heute
+Abend wieder kommen.«
+
+»=Wieder= kommen?«
+
+»Ja -- er ist heute Morgen halb zwei Uhr mit Extrapost nach dem
+Taunusgebirg gefahren.«
+
+»_The devil he is_,« murmelte Hamilton leise und verblüfft vor sich hin,
+»und hat er Gepäck mitgenommen?« frug er laut.
+
+»Nur eine Reisetasche -- die Dame ist ja noch hier.«
+
+»Haben Sie ihn denn gesehen?«
+
+»Natürlich -- ich habe die Tasche ja an den Wagen getragen.«
+
+»Aber wann, um Gottes Willen, schlafen Sie denn?«
+
+»Ich? -- =nie=,« lächelte der Mann in voller Ruhe. Aber Hamilton hatte
+andere Dinge im Kopf, als sich mit dem Portier zu unterhalten. Mit
+wenigen Sätzen war er oben an Mr. Burtons Zimmer, den er auch schon
+vollständig angekleidet und seiner wartend traf.
+
+»Er ist fort,« rief er diesem ganz außer Athem entgegen, »richtig
+durchgebrannt. Er =muß= Sie gestern Abend erkannt haben. Der Lump ist
+mit allen Hunden gehetzt.«
+
+»Und was jetzt?«
+
+»Ich muß augenblicklich nach, denn der Postillon, der ihn gefahren hat,
+wird zurück sein und weiß jedenfalls die Station. Dort findet sich dann
+die weitere Spur.«
+
+»=Mit= der Donna?«
+
+»Nein, die ist zurückgeblieben, die überlasse ich jetzt Ihnen.
+Wahrscheinlich hat sie auch einen Theil von Ihres Vaters Geldern in
+Verwahrung -- jedenfalls den Schmuck. -- Hier ist der Verhaftsbefehl für
+Kornik und seine Begleiterin -- mir kann er doch nichts helfen, denn
+er gilt, von den Frankfurter Behörden ausgestellt, nur für das hiesige
+Gebiet. Das ist eine verzweifelte Wirthschaft in Deutschland, wo ein
+Mann in einer einzigen Stunde in drei verschiedener Herren Länder sein
+kann.
+
+»Aber wie bekomme ich heraus, ob das auch in der That jene berüchtigte
+Miss Fallow ist, bester Hamilton? Die Flucht des Grafen, wenn er
+wirklich geflohen, bleibt allerdings sehr verdächtig und ich zweifle
+kaum, daß Sie auf der richtigen Fährte sind, aber es -- wäre doch eine
+ganz fatale Geschichte, =wenn= wir es nicht mit den rechten Leuten zu
+thun hätten, und jetzt einer wildfremden und ganz unschuldigen Dame
+Unannehmlichkeiten bereiteten.«
+
+»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!« lachte Hamilton. »Daß ich Ihnen
+aus diesem Grafen Kornikoff den richtigen und unverfälschten Kornik
+herausschäle, darauf können Sie sich fest verlassen, und dies junge,
+wirklich wunderhübsche Geschöpf, was ihn begleitet, hätte sich dem Lump
+auch nicht an den Hals geworfen, wenn sie nicht schon vorher durch ein
+=Verbrechen= mit einander verbunden gewesen wären. Nein, die einzige
+Sorge, die ich habe, ist die, daß =Ihnen= die junge Dame einmal ebenso
+eines Morgens unter den Händen fortschlüpft, wie ich mir in fabelhaft
+alberner Weise habe den Hauptschuldigen entwischen lassen, und wenn ich
+ihn nicht wieder bekäme, wäre das ein Nagel zu meinem Sarg. Aber noch
+hab' ich Hoffnung -- ich =kenne= den Herrn jetzt, denn ich habe ihn
+mir =genau= angesehen und wenn er sich wirklich auch den schwarzen
+Schnurrbart abrasirte und die blaue Brille in die Tasche steckte, so
+denke ich ihm doch auf den Hacken zu sitzen, ehe er es sich versieht.«
+
+»Er wird direkt über die Grenze nach Frankreich fliehen.«
+
+»Daran habe ich auch schon gedacht, denn Geld genug hat er bei sich,
+aber dagegen hilft der Telegraph. An die beiden Grenzstationen werde ich
+jetzt vor allen Dingen genau telegraphiren, und wenn ich da nur ein Wort
+mit einfließen lasse, daß der Herr mit dem Revolutionscomité in London
+in Verbindung stände, passen sie auf wie die Heftelmacher.«
+
+»Und sie wollen dem Kornik nach?«
+
+»Augenblicklich, so wie ich die Depeschen befördert habe. Ich nehme
+jetzt ohne weiteres Extrapost und treffe ich ihn, so telegraphire ich
+ungesäumt.«
+
+»Und ich lasse unterdessen die Dame verhaften?«
+
+»Das ist das Sicherste. Sie können ja Bürgschaft leisten, wenn es
+verlangt werden sollte. Auf dem Gerichte finden Sie auch Jemand, der
+englisch spricht.«
+
+»Abscheuliche Geschichte,« murmelte der junge Burton zwischen den
+Zähnen, »daß uns der Lump auch gestern Abend gerade so zur unrechten
+Zeit in den Weg laufen mußte.«
+
+»Das ist jetzt nicht zu ändern,« rief aber der weit entschiednere
+Hamilton -- »wir haben immer noch Glück gehabt, das Volk Hühner so rasch
+anzutreffen und zu sprengen. Jetzt halten Sie nur Ihren Part fest, und
+ich glaube Ihnen garantiren zu können, daß ich =meine= Hälfte ebenfalls
+zur rechten Zeit einbringe.«
+
+»Und wissen Sie gewiß, daß Kornik die Stadt verlassen hat?«
+
+»Gar kein Zweifel -- aber das erfahre ich ja auch gleich auf der Post.
+Jetzt wollen wir nur noch einmal hinunter und sehen, ob wir nichts mehr
+von der Donna zu hören bekommen.«
+
+Es war in der That das Einzige, was sie thun konnten. Sie fanden die
+Thür aber wieder geschlossen und Hamilton wandte sich unten an den
+Oberkellner, um womöglich etwas Näheres zu erfahren.
+
+»Ach, Oberkellner, meine Rechnung -- ich reise ab.«
+
+»Zu Befehl, mein Herr --«
+
+»Apropos, was war denn das heute Morgen für ein Lärm auf Nr. 7? Meine
+schöne Nachbarin schien ja sehr in Eifer.«
+
+Der Oberkellner lächelte.
+
+»Der Herr Gemahl hat die Nacht eine kleine Extrafahrt gemacht und die
+Dame scheint eifersüchtig zu sein.«
+
+»Es scheint als ob er heimlich auf und davon gegangen wäre,« sagte Mr.
+Burton leise zu Hamilton. Dieser zuckte die Achseln.
+
+»Gott weiß es,« erwiderte er, »aber das werden Sie jetzt herausbekommen.
+Lassen Sie sich nur nicht etwa von Thränen rühren, denn wir haben es
+hier mit einer abgefeimten Kokette zu thun, der auch Thränen zu Gebote
+stehen, wenn sie dieselben braucht. Ich aber darf keinen Augenblick
+Zeit mehr verlieren. Auf die Koffer in Korniks Zimmer legen Sie
+augenblicklich Beschlag und lassen sie visitiren. Kornik hat
+wahrscheinlich alle Papiere entfernt und mitgenommen; aber in der Eile
+bleibt doch noch manchmal ein oder die andere Kleinigkeit zurück, die
+leicht zum Verräther wird.«
+
+»Und wenn sie sich weigert? -- wenn sie sich auf ihren Rang, vielleicht
+sogar auf einen, wer weiß wie erhaltenen Paß beruft? Die Behörden hier
+werden sie in Schutz nehmen.«
+
+»Gott bewahre,« sagte Hamilton, »Sie haben ja das Duplicat unserer
+englischen Vollmachten mit der Personalbeschreibung der beiden
+Verbrecher in Händen. Korniks Flucht hat ihn dabei schon verdächtig
+gemacht und das wenigste, was man Ihnen zugestehen kann, ist eine
+Durchsuchung der Effecten im Beisein eines Polizeibeamten, und dann
+die Detenirung der Person selber in Frankfurt, bis ich mit ihrem
+Helfershelfer zurückkomme. In dem Fall können Sie dieselbe meinetwegen
+-- natürlich unter polizeilicher Aufsicht -- so lange hier im Hotel
+lassen.«
+
+»Eine unangenehme Geschichte bleibt es immer,« sagte Mr. Burton, mit dem
+Kopf schüttelnd.
+
+»Unangenehm, _by George_,« lachte Hamilton -- »bedenken Sie, daß 20,000
+Pfd. Sterling Ihres Geschäfts dabei auf dem Spiel stehen, von dem
+Schmuck, der ebenfalls auf 3000 taxirt ist, gar nicht zu reden. Und nun
+ade; hoffentlich bringe ich Ihnen bald den Patron selber. Verlassen Sie
+nur die Stadt nicht« -- und mit den Worten rasch zu dem kleinen Stehpult
+tretend, hinter welchem sich der Oberkellner befand, berichtigte er
+seine Rechnung und sprang gleich darauf draußen in eine Droschke, um
+seine Verfolgung anzutreten.
+
+
+IV.
+
+Die schöne Fremde.
+
+Mr. Burton blieb in einer nichts weniger als behaglichen Stimmung
+zurück, denn er hatte ganz plötzlich die =Leitung= einer Angelegenheit
+bekommen, in der er bis jetzt nur gedacht hatte als Zeuge, und
+vielleicht als Kläger aufzutreten.
+
+James Burton war überhaupt der Mann nicht, in irgend einer Angelegenheit
+entschieden und selbständig zu =handeln=; er verhielt sich am liebsten
+passiv.
+
+In einer der ersten bürgerlichen Familien seines Vaterlandes erzogen,
+in den besten Schulen herangebildet, in der besten Gesellschaft
+aufgewachsen, war er von edlem, offenem Charakter, dem sich ein gesunder
+Verstand und ein weiches Herz paarte. Das letztere lief ihm aber nur
+zu oft mit dem ersteren davon, und selber unfähig eine unrechtliche
+Handlung zu begehen, gab es für ihn auch nichts Schrecklicheres auf der
+Welt, als solche einem anderen zuzutrauen.
+
+Nichtsdestoweniger bekam er es hier mit einer nicht wegzuläugnenden
+Thatsache zu thun, denn William Kornik, von seinem Vater mit Wohlthaten
+überhäuft und in eine ehrenvolle und einträgliche Stellung gebracht,
+hatte das Vertrauen seines Hauses auf eine so nichtswürdige Weise
+getäuscht und mißbraucht, daß ein Zweifel an seiner Unehrlichkeit nicht
+mehr stattfinden konnte. Gegen diesen würde er auch mit rücksichtsloser
+Strenge vorgegangen sein, aber jetzt bekam er plötzlich den Auftrag,
+gegen eine =Frau= einzuschreiten, deren Betheiligung an dem Raub
+allerdings wahrscheinlich, aber keineswegs völlig erwiesen war. Und doch
+sah er auch recht gut ein, daß Hamilton Recht hatte, wenn er verlangte,
+die jedenfalls sehr verdächtige Person wenigstens so lange fest
+und unter Aufsicht zu halten, bis er mit dem wirklichen Verbrecher
+zurückkehren könne. Nur daß =ihm= dazu der Auftrag geworden, war ihm
+fatal, und er hätte vielleicht eine große Summe Geldes gegeben, um sich
+davon loszukaufen, aber das ging eben nicht, und es blieb ihm nichts
+andres übrig, als sich der einmal übernommenen Pflicht nun auch nach
+besten Kräften zu unterziehen. Er hoffte dabei im Stillen, daß die
+Dame sehr stolz und frech gegen ihn auftreten würde, und war
+fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Um den
+verbrecherischen Erwerb des Geldes =mußte= sie ja wissen, sie wäre
+sonst nicht heimlich mit ihm geflohen, und wenn sich dann auch noch
+herausstellte, daß sie den Schmuck der Lady Clive entwendet hatte,
+dann brauchte er auch weiter kein Mitleiden mit ihr zu haben, und jede
+Rücksicht hörte von selbst auf.
+
+Nichtsdestoweniger konnte er sich doch nicht entschließen, die
+Höflichkeit soweit außer Acht zu lassen, als sich vor zwölf Uhr bei ihr
+melden zu lassen. Aber er traute ihr deshalb doch nicht; denn Mr.
+Kornik war ihm auf viel zu rasche Art abhanden gekommen, um nicht etwas
+Aehnliches auch von seiner Frau oder Gefährtin zu fürchten. Er ging
+deshalb, sehr zum Erstaunen des Portiers, der gar nicht wußte, was er
+von dem unruhigen Gast denken sollte, und ihn frug, ob er vielleicht
+Zahnschmerzen habe, die langen Stunden theils auf dem Vorsaal, theils
+auf der Treppe auf und ab -- denn das verzweifelte Haus hatte ja zwei
+Ausgänge -- und horchte verschiedene Male oben an der Thür, um sich zu
+versichern, daß nicht der zweite Vogel ebenfalls heimlich ausgeflogen
+sei.
+
+Aber diese Furcht schien grundlos zu sein. Das Stubenmädchen, dem er auf
+der Treppe begegnete, brachte das Frühstück hinauf, ein Glas Madeira und
+ein Beefsteak, die verlassene Frau nahm also noch substantielle Nahrung
+zu sich, und als es endlich auf sämmtlichen Frankfurter Uhren -- was
+bekanntlich eine lange Zeit dauert -- zwölf geschlagen hatte, faßte
+er so viel Muth, der Dame seine Karte hinaufzuschicken und anfragen zu
+lassen, ob er das Vergnügen haben könne, ihr seine Aufwartung zu machen.
+
+Das klang allerdings nicht wie das Vorspiel einer criminellen
+Untersuchung, aber die gewöhnlichen Gesetze der Höflichkeit durften doch
+auch nicht außer Acht gelassen werden. Höflichkeit schadet nie, und
+man hat dadurch oft schon mehr erreicht, als durch sogenannte gerade
+Derbheit, was man im gewöhnlichen Leben auch wohl =Grobheit= nennt.
+
+Die Antwort lautete umgehend zurück, daß die Dame sich glücklich
+schätzen würde, ihn zu begrüßen und nur noch um wenige Minuten bäte, um
+ihre Morgentoilete zu beenden.
+
+Die wenigen Minuten dauerten allerdings noch eine reichliche halbe
+Stunde, aber Mr. Burton war gar nicht böse darüber, denn er bekam
+dadurch nur noch so viel mehr Zeit sich zu sammeln, und sich ernstlich
+vorzunehmen, diese Person allerdings mit jeder Artigkeit, aber auch
+mit jeder, hier unumgänglich nöthigen Strenge zu behandeln. Was half es
+auch, Rücksicht auf ein Wesen zu nehmen, das sich an einen Menschen
+wie diesen Kornik soweit weggeworfen hatte, sogar Theilnehmerin seiner
+=Verbrechen= zu werden. Dabei überlegte er sich auch, daß es weit besser
+sein würde, im Anfang keine einzige Frage derselben zu beantworten,
+sondern vor allen Dingen erst alles herauszubekommen, was =sie= wußte.
+Volle Aufrichtigkeit konnte allein ja auch jetzt ihre Strafe mildern und
+ihrem Vergehen das Gehässige der Verstocktheit nehmen, und durch =ihr=
+Geständniß bekamen sie außerdem gleich ein Hauptzeugniß gegen den jetzt
+noch flüchtigen Verbrecher.
+
+Mitten in diesen Betrachtungen wurde er durch die Klingel auf Nr. 7
+gestört, die den Kellner herbeirief. -- Dieser erschien gleich darauf
+wieder und meldete Herrn Burton, die Dame erwarte ihn.
+
+Also der Augenblick war gekommen, und mit festen Schritten stieg er die
+Treppe hinan. Wußte er doch auch schon vorher, wie er die Dame finden
+würde, die so ewig lang gebraucht hatte, ihre Toilette zu machen: im
+vollen Staat natürlich, um ihm zu imponiren und jede Frage nach einer
+begangenen Schuld gleich von vorn herein abzuschneiden. Aber er lächelte
+trotzig vor sich hin, denn er wußte, daß eine derartige plumpe List
+bei ihm nicht das Geringste helfen würde. Er ließ sich eben nicht
+verblüffen.
+
+Mit festen Schritten stieg er die Stufen hinan und klopfte an -- aber
+doch nicht zu laut. »_Walk in_,« hörte er von einer fast schüchternen
+Stimme rufen, und als er die Thür öffnete, blieb er ordentlich bestürzt
+auf der Schwelle stehen, denn vor sich sah er das lieblichste Wesen, das
+er in seinem ganzen Leben noch mit Augen geschaut.
+
+Mitten in der Stube stand die junge Fremde -- nicht etwa in voller
+Toilette, mit Schmuck und Flittertand behangen, wie er eigentlich
+gehofft hatte sie zu finden, sondern in einem einfachen, schneeweißen
+Morgenanzug, der ihre Schönheit nur um so reizender erscheinen ließ, und
+während ihr blaues Auge feucht von einer halbzerdrückten Thräne schien,
+streckte sie dem Eintretenden die Hand entgegen und sagte, mit vor
+Bewegung zitternder Stimme:
+
+»Sie sendet mir der liebe Gott, mein Herr -- Ihr Name ist mir zwar
+fremd, aber aus Ihrer Karte sehe ich, daß Sie ein Landsmann sind, also
+ein Freund, der mich in der größten Noth meines Lebens trifft, und mir
+gewiß, wenn er nicht helfen kann, doch rathen wird.«
+
+»Madam,« sagte der junge Burton, durch diese keineswegs erwartete Anrede
+ganz außer Fassung gebracht, indem er die ihm gereichte Hand nahm und
+fast ehrfurchtsvoll an seine Lippen hob, »ich -- ich begreife nicht
+recht -- ich gestehe, daß ich -- Sie entschuldigen vor allen Dingen
+meinen Besuch.«
+
+»Ich würde Sie darum gebeten haben,« sagte die junge Frau herzlich,
+»wenn ich gewußt hätte, daß ein Landsmann mit mir unter einem Dache
+wohnt; aber das Fremdenbuch, das ich mir heute Morgen bringen ließ,
+zeigte keinen einzigen englischen Namen -- doch ich darf nicht
+selbstsüchtig sein,« unterbrach sie sich rasch -- »Sie sind da --
+ich sehe in dem edlen Ausdruck Ihrer Züge, daß ich auf Ihren Beistand
+rechnen kann, und nun erst vor allen Dingen, =Ihre= Angelegenheit. Lösen
+Sie mir das Räthsel, das Sie, einen vollkommen Fremden, gerade in dieser
+Stunde zu mir hergeführt -- und bitte, nehmen Sie Platz -- oh verzeihen
+Sie der Aufregung, in der Sie mich gefunden, daß ich Sie schon so lange
+hier im Zimmer habe stehen lassen.«
+
+Damit führte sie ihn mit einfacher Unbefangenheit zu dem kleinen mit
+rothem Plüsch überzogenen Sopha und nahm dicht neben ihm Platz, so daß
+es dem jungen Manne ganz beklommen zu Muthe wurde. Auch die Frage diente
+nicht dazu, ihm seine ruhige Ueberlegung wieder zu geben, denn konnte
+er =dem= Wesen neben ihm jetzt mit kalten, dürren Worten sagen, daß er
+hierher gekommen sei, um sie des =Diebstahls= zu bezüchtigen und in Haft
+zu halten? Es war ordentlich als ob ihm die innere Bewegung die Kehle
+zusammenschnürte und er brauchte geraume Zeit, um nur ein Wort des
+Anfangs zu finden.
+
+Die junge Frau an seiner Seite ließ ihm dabei vollkommen Zeit sich
+zu fassen, und nur wie schüchtern blickte sie ihn mit ihren großen
+seelenvollen Augen an. Und diese Augen sollten jemals die Helfershelfer
+eines Verbrechens gewesen sein? Es war nicht möglich; Hamilton hatte
+den größten nur denkbaren Mißgriff gemacht, und ihn selber jetzt in eine
+Lage gebracht, wo er mit Vergnügen tausend Pfund Sterling bezahlt hätte,
+um nur mit Ehren wieder heraus zu sein.
+
+Endlich fühlte er aber doch, daß er nicht länger schweigen konnte,
+ohne sich lächerlich zu machen, und begann, wenn auch anfangs noch mit
+leiser, unsicherer Stimme.
+
+»Madam -- Sie -- Sie müssen mich wirklich entschuldigen, wenn ich Sie
+von vornherein mit einer Frage belästige, die -- die eigentlich Ihren
+-- Ihren Herrn Gemahl betrifft -- dem auch -- dem auch vorzugsweise mein
+Besuch galt; denn ich würde nicht gewagt haben, =Sie= zu stören. Aber
+-- seine so plötzliche Abreise -- und mitten in der Nacht hat einen
+Verdacht erweckt, der --«
+
+»Einen =Verdacht=?«
+
+»Uebrigens,« lenkte Burton ein, da ihm plötzlich wieder beifiel, daß er
+ja vorher Alles hatte hören wollen, was die Dame =ihm= sagen würde, um
+danach sein eigenes Handeln zu regeln -- »hängt alles vielleicht mit dem
+zusammen, wegen dessen Sie selber meinen Rath verlangen, und wenn Sie
+nur die Freundlichkeit haben wollten --«
+
+»Aber einen =Verdacht=?« -- sagte die junge Dame rasch und erschreckt,
+indem sie ihre zitternde Hand auf seinen Arm legte und in der
+gespanntesten Erwartung mit ihren schönen Augen an seinen Lippen hing.
+-- »Welcher Verdacht könnte auf ihm ruhen? -- In welcher Verbindung
+können Sie mit ihm stehen? Oh, spannen Sie mich nicht länger auf die
+Folter -- machen Sie mich nicht unglücklicher, als ich es schon bin.
+Ach, ich hatte ja gehofft, daß =Sie= gerade mir Hülfe und Trost
+bringen sollten; tragen Sie nicht dazu bei, meine Unruhe durch längeres
+Schweigen noch zu vermehren.«
+
+Mr. Burton fand sich so in die Enge getrieben, daß er schon gar keinen
+möglichen Ausweg mehr sah. =Er= war ja auch eigentlich verpflichtet
+zuerst zu sprechen. =Er= hatte eine Unterredung mit ihr erbeten, nicht
+=sie= mit ihm, und wenn ihn auch ein wahrhaft verzweifelter Gedanke
+einmal einen Moment erfaßte, sich aus der ganzen Geschichte durch
+irgend eine Ausrede hinaus zu lügen, fiel ihm doch ums Leben nicht das
+Geringste, auch nur einigermaßen Glaubwürdige bei. Es blieb ihm also
+nichts übrig, als der jungen Dame -- natürlich so schonend wie das nur
+irgend geschehen konnte -- die Wahrheit zu sagen, und dabei war er auch
+im Stande zu sehen, welchen Eindruck die Beschuldigung auf sie machen
+würde -- danach wollte er dann handeln.
+
+»Madam,« sagte er, aber noch immer verlegen -- »beruhigen Sie sich --
+es wird sich ja noch alles aufklären. -- Ich selber -- ich bin ja fest
+überzeugt, daß =Sie= der -- unangenehmen Sache, um die es sich handelt,
+vollständig fern stehen. -- Es ist auch noch nicht einmal ganz fest
+bestimmt, ob ihr Herr -- Herr Gemahl auch wirklich jene Persönlichkeit
+ist, die wir suchen -- die ganze Sache kann ja möglicher Weise ein
+Irrthum sein, und nur der dringende Verdacht, den mein Begleiter gegen
+mich ausgesprochen hat, veranlaßt mich --«
+
+»Aber ich verstehe Sie gar nicht,« sagte die junge Dame, und sah dabei
+gar so lieb und doch so entsetzlich unglücklich aus, daß ihm ordentlich
+das eigene Herz weh that.
+
+»Ich =muß= deutlicher reden,« fuhr Mr. Burton fort, der sie nicht länger
+in dieser Aufregung lassen durfte. »Also hören Sie. Mein Name ist James
+Burton. Ich bin seit diesem Jahre Theilhaber der Firma meines Vaters
+Burton & Burton in London. Seit sieben Jahren hatten wir einen jungen
+Mann in unserm Geschäft, einen Polen, Namens Kornik, der sich durch
+seine Geschicklichkeit und Umsicht so in meines Vaters Vertrauen
+einschlich, daß er ihn vor zwei Jahren zu unserm Hauptcassirer machte.
+Mein Vater wußte nicht, daß er eine Schlange in seinem Busen nährte. Vor
+etwa acht Tagen verschwand dieser Mensch plötzlich aus London und zwar
+an einem Sonnabend Abend, wodurch er etwa vierzig Stunden Vorsprung
+bekam, denn da nicht der geringste Verdacht auf ihm lastete, fiel auch
+sein Ausbleiben am Montag Morgen nicht so rasch auf, wie das sonst
+vielleicht der Fall gewesen wäre. Nur weil mein Vater fürchtete, daß er
+könne unwohl geworden sein, schickte er in seine Wohnung hinüber, die
+sich unmittelbar neben uns befand, und hörte hier zu seinen Erstaunen,
+daß Mr. Kornik sowohl Sonnabend als auch Sonntag Abend nicht nach Hause
+gekommen sei.«
+
+»Aber was, um Gottes Willen, habe ich mit dem allen zu thun?« unterbrach
+ihn die junge Dame, erstaunt mit dem Kopf schüttelnd.
+
+»Erlauben Sie mir,« fuhr Mr. Burton, in der Erinnerung an das Geschehene
+wärmer werdend fort: »Der erste Gedanke meines Vaters war, daß ihm ein
+Unglück begegnet sein könne; ein anderer Commis aber in unserem Haus
+mußte doch etwas bemerkt haben, was ihm verdächtig vorkam. Er bat uns
+dringend, keine Zeit zu versäumen und die Kasse zu revidiren, und
+da stellte sich denn bald das Entsetzliche heraus, daß eine =sehr=
+bedeutende Summe fehlte, die, nach den über Tag eingegangenen
+Erkundigungen, gegen 20,000 Pfd. Sterling betrug.«
+
+»Mein Vater wandte sich augenblicklich an die Polizei, und ein sehr
+gewandter Detective, der uns besuchte, und der zur Verfolgung bestimmt
+wurde, gerieth noch an dem nämlichen Tag auf eine andere Spur, die,
+wie er meinte, sicherer zur Entdeckung des Verbrechers führen konnte.
+Derselbe war nämlich, wie der Polizeiagent sehr rasch herausbrachte, mit
+einer jungen sehr -- ge -- sehr gewandten Dame bekannt geworden und als
+an dem nämlichen Tag eine andere Klage gegen diese einlief, daß sie
+in dem Haus einer Lady, wo sie Stunden gab, einen werthvollen Schmuck
+entwandt haben sollte, ebenfalls aber nirgends aufzufinden war, und seit
+dem nämlichen Abend fehlte, wie jener Kornik -- so blieb zuletzt kein
+Zweifel, daß beide mitsammen geflohen sein mußten.«
+
+»Jetzt war kein Augenblick mehr zu verlieren um der Verbrecher habhaft
+zu werden. Lady Clive -- so hieß jene Dame -- setzte selber eine
+namhafte Summe für den Polizeibeamten aus; da dieser aber weder die Dame
+noch unsern frühern Kassirer persönlich kannte, entschloß ich mich ihn
+zu begleiten, und wir begannen gemeinschaftlich unsere etwas ungewisse
+Fahrt.«
+
+»Und jetzt?« frug die Fremde, anscheinend in größter Spannung.
+
+»Indessen,« fuhr Mr. Burton fort, »wurde kein mögliches Mittel versäumt
+um die beiden aufzufinden, falls sie sich noch in England aufhalten
+sollten. Zugleich telegraphirten wir an die nächsten Hafenplätze. Mein
+ganz vortrefflicher und gewandter Begleiter war aber schon auf eine
+Spur gekommen, die ihn nach Hamburg führte. Mit dem Hamburg Packet
+waren nämlich am Sonnabend Abend zwei Personen abgegangen, die der
+Beschreibung vollkommen entsprachen. Einer der Kassenleute in dem
+Office des Dampfboots behauptete sogar, Kornik an jenem Abend mit einer
+Reisetasche an dem Landungsplatz des Dampfboots gesehen zu haben. Wir
+folgten augenblicklich, verloren aber die Spur in Hamburg wieder, und
+glaubten sie erst in Hannover -- freilich, wie sich später erwies,
+irrthümlich -- wieder zu finden. Dort ließ mich Mr. Hamilton zurück,
+während er selber, von einer Art polizeilichen Instinkts getrieben, nach
+Frankfurt vorauseilte und hierher zu -- zufälliger Weise -- mit Ihnen
+und Ihrem Herrn Gemahl die Reise in einem Coupé machte.«
+
+Ein leises Zittern flog über den Körper der Frau, aber ihre Züge
+verriethen keine Spur von Ueberraschung, und nur mit mehr erstaunter als
+bewegter Stimme sagte sie:
+
+»Und jetzt?« --
+
+»Und jetzt,« fuhr Mr. Burton verlegen fort, »glaubte er, durch mehrere
+sonderbar zusammentreffende Umstände jenen aus London mit unserem Geld
+entflohenen Kornik in dem -- Sie dürfen mir nicht zürnen, denn Sie haben
+die volle Wahrheit verlangt -- in dem -- Grafen Kornikoff wieder zu
+finden, da sich dieser heute Nacht so heimlich --«
+
+»Heiliger Gott der Welt!« rief die junge Frau, entsetzt emporspringend:
+»reden Sie nicht aus. Darf ich denn meinen Ohren trauen? In dem Grafen
+Kornikoff vermuthen Sie den entsprungenen Verbrecher? Und dann
+ist, =Ihrer= Meinung nach -- seine Begleiterin jene Diebin des
+Diamantenschmucks?«
+
+»_But Madam!_« rief Mr. Burton, ebenfalls erschreckt von seinem Sitz
+aufspringend, »ich sage Ihnen ja« --
+
+»O mein Vater im Himmel, selbst das noch,« rief aber das schöne Weib,
+die Arme wie flehend emporstreckend, »auch das noch -- auch das noch in
+meinem Jammer und Elend. -- Aber kommen Sie,« fuhr sie leidenschaftlich
+fort, indem Sie plötzlich wieder Mr. Burtons Arm ergriff und ihn fast
+mit Gewalt zu ihrem Koffer zog -- »=ich= bin nur ein armes schwaches
+Weib, hilflos und ohne Schutz im fremden Lande -- aber Sie
+haben vielleicht ein Recht, der Spur eines verübten Verbrechens
+nachzuforschen. =Ich= habe nichts als meinen ehrlichen Namen, aber
+den kann ich, Gott sei Dank, mir erhalten und Ihnen bin ich noch dazu
+verpflichtet, mir die Gelegenheit zu geben mich zu rechtfertigen. Mir
+schwindelt der Kopf, wenn ich mir denke, daß Sie auch nur eine Stunde
+länger mich in einem so furchtbaren Verdacht haben sollten.«
+
+»_But, my dear Madam_,« rief Burton, jetzt vergebens bemüht, zu Worte zu
+kommen. Die Frau ließ ihn nicht.
+
+»Nein, nein,« fuhr sie immer erregter fort und schloß mit vor Eifer
+zitternden Händen ihren Koffer auf, warf den Deckel zurück und riß die
+dort sorgfältig und glatt eingepackten Stücke wild und leidenschaftlich
+heraus. »Da -- hier -- hier ist alles was ich auf der Welt mein nenne
+-- da meine Wäsche -- da meine Kleider,« fuhr sie fort die genannten
+Sachen, ohne daß es Burton verhindern konnte, über den Boden streuend,
+»hier mein Schmuck -- eine dürftige Korallenkette mit einem goldenen
+Kreuzchen, das Erbtheil meiner seligen Mutter -- und wie ich =früher=
+ihren Tod beklagte, jetzt danke ich Gott, daß sie diese Stunde nicht
+erlebte. -- Hier meine --« sie konnte nicht weiter -- ihr Gefühl
+überwältigte sie. Sie richtete sich auf und wollte zum nächsten Stuhl
+schwanken, aber sie vermochte es nicht und wäre zu Boden gesunken, wenn
+sie nicht James Burton in seinen Armen aufgefangen hätte.
+
+Das war eine böse Situation für den jungen Mann -- der warme Körper der
+jungen Frau ruhte an seinem Herzen, und vergebens suchte er sie durch
+tausend Trostesworte ins Leben zurückzurufen. -- Und wie ihr Herz dabei
+schlug -- er wußte sich keines Rathes, als sie aufs Sopha zu tragen --
+und als er sie in die Höhe hob, trafen seine Lippen unwillkührlich
+auf die ihrigen und ruhten einen Moment darauf. Endlich raffte er sich
+empor. Er wollte nach Hilfe rufen, aber er wagte es nicht -- was mußten
+die Leute im Hotel davon denken, wenn er in einer solchen Situation mit
+der jungen Dame getroffen wurde? Auf dem Waschtisch stand ein Glas Eau
+de Cologne -- damit benetzte er ihr Taschentuch, hielt es ihr unter
+die Nase und rieb ihr Schläfe und Puls, und als das alles nicht helfen
+wollte, tauchte er das Handtuch in kaltes Wasser und legte es ihr um
+die Stirn. Aber es dauerte wohl zehn Minuten, ehe er sie zum Bewußtsein
+zurückrief, und =als= sie endlich erwachte, befand sie sich in einem so
+furchtbar überreizten Zustande, daß sie den über ihr lehnenden Arm des
+jungen Mannes ergriff, ihre Stirn dagegen lehnte und bitterlich weinte.
+
+Mr. Burton that das unter solchen Umständen Zweckmäßigste -- er ließ sie
+sich ausweinen und es gewährte ihm sogar einige Beruhigung, daß er
+sie dabei mit seinem linken Arm stützen und halten konnte. Aber diese
+Schwäche dauerte nicht lange. Die junge Frau zeigte eine ungemeine
+Willenskraft, dieses augenblickliche Erliegen ihres Körpers zu
+bewältigen, und mit leiser Stimme sagte sie:
+
+»Ich danke Ihnen -- ich fühle mich stärker -- es ist vorbei. Lassen sie
+mich jetzt Alles wissen -- o verhehlen Sie mir nichts -- ich =muß= es ja
+erfahren und dann habe auch ich Ihnen ein Geständniß abzulegen. --
+Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen. Zürnen sie mir nicht, meiner
+Heftigkeit wegen.«
+
+»Oh, daß ich Ihnen beweisen könnte, wie innigen Antheil ich an Ihrem
+Schicksal nehme,« rief Mr. Burton bewegt aus.
+
+»Und wo ist ihr Begleiter jetzt?« frug die junge Frau, die noch immer
+halb von seinem Arm gehalten wurde.
+
+»Ich weiß es nicht,« sagte Mr. Burton mit einer gewissen Genugthuung,
+ihr darauf keine bestimmte Antwort geben zu können. »Er folgt jenem
+Grafen Kornikoff, um sich sicher zu stellen, ob er es in diesem mit dem
+vermutheten Kornik zu thun hat. Nun aber sagen sie auch mir, dear Madam
+-- wie kommen Sie in die Gesellschaft jenes Mannes? -- wie lernten Sie
+ihn kennen, und hatten Sie keine Ahnung, daß er ein Betrüger sei?«
+
+»Ich kann es mir =jetzt= noch nicht denken,« rief die Unglückliche
+-- »es ist nicht möglich -- er hätte ja, =wenn= es wahr wäre, ein
+tausendfaches Verbrechen an mir selber verübt. O lassen Sie mich noch an
+seine Unschuld glauben.«
+
+»Wie gern wollte ich Sie in dieser Täuschung lassen,« sagte Mr. Burton,
+»aber ich muß gestehen, daß viele, viele Umstände dagegen sprechen.«
+
+»Dann finden wir auch in seinem Koffer Aufschluß über das Vergehen,«
+rief da die Dame plötzlich, indem sie sich vom Sopha emporrichtete. »Er
+hat sein ganzes Gepäck zurückgelassen und nicht allein zu Ihrer, nein
+auch zu meiner Genugthuung muß ich jetzt darauf bestehen, daß Sie es auf
+das Genaueste untersuchen.«
+
+Mr. Burton wollte sie davon zurückhalten, weil er nicht mit Unrecht
+fürchtete, daß sie sich dabei aufs neue zu sehr aufregen würde, aber
+sie bestand fest darauf und da ihm selber daran lag, das hinterlassene
+Eigenthum jenes Menschen nachzusehen, gab er endlich ihrem Wunsche nach.
+Vergebens aber durchsuchten sie jetzt den ganzen, ziemlich geräumigen
+Koffer; es fand sich nichts, was irgend einen Aufschluß hätte geben
+können. Ganz unten aber in der Ecke lag ein zusammengedrücktes Papier
+-- ein altes Couvert, in das ein Paar alte Hemdknöpfchen und eine
+Westenschnalle eingewickelt waren, und auf dem Couvert stand die
+Adresse:
+
+ _W. Kornik Esqre
+ Care of Messrs. Burton & Burton -- London._
+
+Mr. Burton entfaltete das Couvert, las es, und reichte es dann
+schweigend, aber mit einem beredten Blick der Dame. Diese aber hatte
+kaum das Auge darauf geworfen, als sie mit leiser, entsetzter Stimme
+sagte:
+
+»Vater im Himmel! also doch,« und ihr Antlitz in ihren Händen
+bergend, stand sie wohl eine Minute still und schweigend und wie
+ineinandergebrochen. Endlich richtete sie sich wieder empor, und dem
+jungen Mann noch einmal die Hand entgegenstreckend, sagte sie:
+
+»Ich danke Ihnen, Mr. Burton -- danke Ihnen recht von Herzen, daß Sie
+den Schleier gelüftet haben, der mich von einem Abgrund trennte. Wenn
+Sie aber jetzt Ihrer Güte gegen mich die Krone aufsetzen -- wenn Sie
+mich für ewig verpflichten wollen, dann lassen Sie mich jetzt nur für
+=eine= kurze Stunde allein, um mich zu sammeln. Ich kann jetzt nicht
+danken -- ich bin es nicht im Stande -- meine Glieder versagen mir den
+Dienst. In einer Stunde kommen Sie wieder zu mir, dann sollen Sie
+alles erfahren, was mich betrifft, und wir können dann vielleicht
+gemeinschaftlich berathen, was zu thun, wie Ihnen -- wie mir zu helfen
+ist. Wollen Sie mir das versprechen?«
+
+»Madam,« sagte Mr. Burton mit tiefem Gefühl, und jetzt vollständig
+überzeugt, daß dies liebliche Wesen nie und nimmer eine Mitschuldige
+sein könne, -- »Sie haben ganz über mich zu befehlen und was in meinen
+Kräften steht, mich Ihnen nützlich zu machen, soll gewiß geschehen.
+Fassen Sie Muth, und vor Allem, fassen Sie Vertrauen zu mir und ich
+hoffe, es soll noch alles gut werden. Ich lasse Sie jetzt allein -- in
+einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen -- vielleicht ist auch bis dahin
+schon Nachricht über den Flüchtling eingetroffen. -- Sorgen Sie nicht,«
+setzte er aber herzlich hinzu, als er dem wehmüthigen Blick begegnete,
+der auf ihm haftete. -- »Sie haben einen =Freund= gefunden.« -- Und die
+Hand, die er noch immer in der seinen hielt, an seine Lippen pressend,
+durchrieselte es ihn ordentlich wie mit süßen Schauern, als er einen
+leisen Druck derselben zu fühlen glaubte. Aber er ließ sie los,
+verbeugte sich vor der jungen Dame ehrfurchtsvoll und stieg dann rasch
+in sein Zimmer hinauf, um die Erlebnisse der letzten Stunde noch einmal
+an seiner Erinnerung vorüberziehen zu lassen.
+
+
+V.
+
+Die Verfolgung.
+
+Hamilton warf sich an dem Morgen, nachdem er sechs verschiedene
+telegraphische Depeschen aufgegeben, in einer ganz verzweifelten
+Stimmung in sein Coupé, denn von dem zurückgekehrten Postillon hatte er
+erfahren, daß dieser den Passagier um 4 Uhr heute Morgen in =Soden=
+vor der Post abgesetzt, und er konnte jetzt den Zug benutzen, um diesen
+Platz so rasch als möglich zu erreichen. Aber wieder und wieder machte
+er sich selber dabei die bittersten Vorwürfe, daß er die Flucht des
+schon ganz sicher geglaubten Verbrechers nur seinem eigenen Leichtsinn,
+seiner eigenen bodenlosen Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
+Mr. Burton selber begegnet sei, =mußte= er wissen, daß er sich verrathen
+sah und deshalb keinen Augenblick versäumen dürfe, um sich der ihm
+drohenden Gefahr zu entziehen. Und =das= hatte er übersehen -- er, der
+sich selber für so schlau und in seinem Fach geschickt gehalten -- auf
+so plumpe Weise, nur durch die Geistesgegenwart des Diebes, der durch
+keine Bewegung verrathen, daß er seinen Verfolger erkannt habe, hatte er
+sich täuschen und überlisten lassen.
+
+Und wie war es jetzt möglich, in diesem Gewühl von Fremden einen
+einzelnen Menschen wieder ausfindig zu machen, der weiter nichts zu
+thun brauchte, als sich einen anderen Rock zu kaufen, die blaue Brille
+abzulegen, den schwarzen Schnurrbart zu rasiren, um aufs neue völlig
+unkenntlich zu sein; und daß er derartige Vorsicht =nicht= versäumen
+würde, darüber durfte er kaum in Zweifel sein.
+
+Das Einzige, was ihn noch einigermaßen beruhigte, war, daß sie
+wenigstens die Dame unter sicherer Aufsicht hatten; denn es schien nicht
+wahrscheinlich, daß sich der Flüchtling so leicht und für immer von dem
+schönen, verführerischen Wesen getrennt haben sollte, nur um sich selber
+in Sicherheit zu bringen. In irgend einer Verbindung mit ihr blieb
+er gewiß, oder suchte eine solche auf eine oder die andere Art
+wieder anzuknüpfen, und wenn dann Mr. Burton nur einigermaßen seine
+Schuldigkeit that, so lief er ihnen schon dadurch wieder ins Netz.
+
+Allerdings hätte Kornik die Dame schon recht gut in dieser Nacht
+entführen können -- es wäre das eben so leicht gewesen als allein zu
+entfliehen, aber er mußte auch wissen, daß er den Verfolger dann dicht
+auf den Hacken gehabt hätte und so leicht er =jetzt= hoffen konnte, ihn
+über die Richtung zu täuschen, die er genommen, so ganz unmöglich wäre
+das in der Begleitung seiner Frau gewesen, die seine Bewegung nicht
+allein hemmte, sondern auch eine viel breitere und leichter erkennbare
+Spur hinterließ. Schon mit all dem Gepäck wäre er nicht von der Stelle
+gekommen.
+
+Das alles aber machte es, je mehr er darüber nachdachte, nur soviel
+wahrscheinlicher, daß er Deutschland nicht schon verlassen habe. Nur aus
+dem Weg mußte er sich für kurze Zeit halten, und wo konnte er das
+besser thun, gerade in der Saison, als in irgend einem der zahllosen
+Seitenthäler des Rheins oder der benachbarten Gebirge, wo eine Unmasse
+von Fremden herüber und hinüber strömte, und ein einzelner Mann völlig
+unbeachtet in der Menge verschwand.
+
+Aber trotzalledem gab Hamilton die Hoffnung nicht auf. Das gehetzte Wild
+hatte allerdings einen Vorsprung gewonnen, aber die Fährte war doch
+noch warm -- es lag keine Nacht darauf und er selber war gerade der Mann
+dazu, ihr mit allem nur erdenkbaren Eifer zu folgen. Es stand ja auch
+nicht allein ein reicher Lohn auf dem Erfolg, nein, seine Ehre als
+Detective auf dem Spiel, den schon gehaltenen Verbrecher nicht wieder
+entschlüpfen zu lassen, und er gab sich selber das Wort, nicht Mühe
+nicht Kosten zu scheuen, um ihn wieder zurück zu bringen.
+
+In Soden angekommen erkundigte er sich aber vergebens auf dem Bahnhof
+nach einem Herrn, der nur irgend zu seiner Beschreibung paßte. Es war
+freilich auch nicht wahrscheinlich, daß er sich dort gezeigt habe,
+denn nach Frankfurt würde er nicht so rasch zurückkehren, aber Hamilton
+wollte sich von jetzt an keine Vorwürfe mehr machen, auch nur das
+Geringste versäumt zu haben. Einquartirt hatte sich der Herr aber dort
+=nicht=, so viel lag außer Zweifel; mit dem Mustern der Gasthäuser
+brauchte er deshalb keine Zeit zu verlieren und das Wichtigste blieb,
+die Straßen zu untersuchen, die von hier aus in die Berge und besonders
+nach dem Rhein zu führten.
+
+Das aber zeigte sich bald als ein sehr schwierig Stück Arbeit, denn es
+hielten sich viele Fremde in Soden auf, und bei dem wundervollen
+Wetter besuchte ein großer Theil derselben in früher Morgenstunde die
+benachbarten Berge. Wer wollte da den Einzelnen controlliren, der sich
+zwischen ihnen befunden hatte? Außerdem gab es eine Legion von
+Führern in dem Badeort, die sich theilweis unterwegs, oder da und
+dort einquartirt befanden; es wäre rein unmöglich gewesen, sie alle
+aufzusuchen und einzeln auszufragen.
+
+Hamilton ließ aber deshalb den Muth nicht sinken. Unermüdlich streifte
+er Straße auf, Straße ab und frug bald da, bald dort in den Häusern. Nur
+in einem, in dem letzten Häuschen, das auf dem Weg nach Königstein lag,
+hörte er, daß ein einzelner Herr dort sehr früh vorbeigegangen sei,
+ob er aber einen Schnurrbart gehabt oder eine blaue Brille und Gepäck
+getragen, wer sollte das jetzt noch wissen? Ein Führer hatte ihn nicht
+begleitet.
+
+Das war keine Spur und Hamilton wollte sich schon kopfschüttelnd
+abwenden, um in Soden erst etwas zu Mittag zu essen und dann seine
+Versuche zu erneuern, als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
+hatte, sagte:
+
+»Ja, en Schnorres hat er schon gehat, un en Täschche aa ungerm Arm
+getrage.«
+
+»Einen Schnorres? was ist das?« frug Hamilton.
+
+»Nu Hoor unner der Nas,« sagte die Frau.
+
+»Ja un ganz schwarz war er« -- sagte die Kleine.
+
+»So mein Kind,« sagte Hamilton, der sie aufmerksam betrachtete, »also
+ein Täschchen hat er unter dem Arm getragen? groß?«
+
+»Na -- kleen -- vun =Ledder= -- en hibsch Täschche.«
+
+»Und der ist dort hinaus zu gegangen?«
+
+Die Frau bestätigte das -- eine Brille schien er aber nicht aufgehabt
+zu haben; das Kind wollte wenigstens nichts derartiges bemerkt haben und
+eine blaue Brille wäre ihm gewiß aufgefallen.
+
+Das war allerdings eine Spur, wenn auch nur eine außerordentlich
+schwache, Hamilton beschloß aber doch, ihr zu folgen und ohne weiter
+einen Moment Zeit zu verlieren, drückte er dem Kinde ein Geldstück in
+die Hand und eilte dann so rasch er konnte nach Soden wieder auf die
+Post, um dort Extrapost nach Königstein zu nehmen. Nur so viel Zeit
+gönnte er sich, um etwas zu essen und zu trinken, so lange die Pferde
+angespannt wurden -- dann ging es vorwärts, was die Thiere laufen
+konnten.
+
+In Königstein selber -- denn unterwegs, so oft er sich auch nach
+dem Gesuchten erkundigte, erhielt er doch keine Auskunft -- war die
+Nachforschung nicht so schwer. Es gab dort nur zwei halbwegs anständige
+Wirthshäuser und in dem einen erfuhr er denn auch, daß ein einzelner
+Herr mit einem sehr schwarzen Schnurrbart und etwas brauner
+Gesichtsfarbe da gefrühstückt habe, dann aber weiter =gegangen= sei,
+ohne daß sich natürlich irgend Jemand um ihn bekümmert hätte. Eine
+lederne kleine Reisetasche mit Stahlbügel führte er bei sich, eine
+Geldtasche hatte er umhängen, und auch noch einen Riemen umgeschnallt
+gehabt -- das wollte der Wirth deutlich gesehen haben -- weiter wußte er
+nichts.
+
+»In was für Geld hat er seine Zeche bezahlt?«
+
+»In Gulden und Kreuzern -- der Landesmünze.«
+
+Hamilton war nicht halb sicher, daß er wirklich auf der Spur des
+Gesuchten sei, aber was blieb ihm jetzt anderes übrig, als ihr, da er
+sie einmal aufgenommen, auch weiter zu folgen, er würde sich sonst immer
+wieder Vorwürfe gemacht haben, eine wahrscheinliche Bahn aufgegeben zu
+haben, um dafür wild und verloren in der Welt herumzusuchen.
+
+Von hier aus schien der Flüchtling aber wirklich den Waldweg
+eingeschlagen zu haben, denn auf keiner Straße war er mehr gesehen
+worden, auch konnte er sich keinen Führer genommen haben, denn das
+hätte sich jedenfalls ausgesprochen. Wohin jetzt? Es war bald Abend, als
+Hamilton erschöpft in das Gasthaus zurückkehrte, wo er mit einer Flasche
+Wein und der Eisenbahnkarte vor sich, seinen weiteren Schlachtplan
+überlegte. Er fühlte dabei recht gut, daß er von jetzt an auf gut Glück
+weiter suchen müsse. Nur eine Andeutung seines zukünftigen Weges fand er
+in der Richtung, in welcher Königstein von Soden lag -- direkt nach dem
+Lahnthal zu, und der beschloß er auch jetzt zu folgen. Allerdings mochte
+sich der Flüchtige rechts oder links abgewandt haben, um entweder
+Gießen oder den Rhein zu erreichen. Das letztere blieb aber immer das
+Wahrscheinlichste.
+
+Zu Fuß gedachte er aber die Tour nicht zu verfolgen, und er beschloß
+deshalb, hier zu übernachten, und am nächsten Morgen mit einem
+Einspänner, womöglich noch vor Tag, aufzubrechen. Dazu war es aber
+nöthig, noch heute Abend einen Wagen zu bestellen. Ein Mann wurde ihm
+da bezeichnet, der einen Einspänner zu vermiethen hätte. Zu dem ging er
+ungesäumt und erkundigte sich.
+
+»Ja, mein lieber Herr,« sagte dieser achselzuckend, »wenn Sie ein paar
+Stunden früher gekommen wären, so hätten Sie mit einem andern Herrn
+fahren können, der dieselbe Tour macht. Der hat aber meinen
+einzigen Einspänner mitgenommen. Das Pferd hätte Sie beide prächtig
+fortgebracht.«
+
+»Ein einzelner Herr?« frug Hamilton rasch, »heute Mittag?«
+
+»Jawohl -- etwa um elf Uhr.«
+
+»Und wie sah er aus?«
+
+»Ja, lieber Gott, wie sah er aus -- wie ein Berliner, mit einem
+schwarzen Schnurrbart und einer Reisetasche.«
+
+»Und haben Sie nicht einen zweispännigen Wagen?«
+
+»Thut mir leid -- die Pferde sind jetzt alle draußen. Wenn Sie aber das
+dran wenden wollen, warum nehmen Sie nicht Postpferde?«
+
+»Ist denn eine Poststation hier im Ort? Ich hatte keine Ahnung davon,
+denn ich bin im Gasthaus vorgefahren.«
+
+»Ja gewiß, und die =müssen= Ihnen Pferde schaffen.«
+
+Hamilton hörte nichts weiter und saß, kaum eine Viertelstunde später
+wieder in seiner Extrapost. Jetzt zweifelte er auch keinen Augenblick
+mehr, daß er auf der richtigen Spur sei und versprach dem Postillon ein
+tüchtiges Trinkgeld, wenn er ordentlich zufahren würde.
+
+Auf der nächsten Station fand er aber seine Nachtfahrt schon
+unterbrochen. Die Wege kreuzten sich hier, und er =durfte= nicht weiter
+fahren, aus Furcht, die falsche Straße einzuschlagen. Er mußte dort
+übernachten, aber schon vor Tag war er wieder auf, und wie er nun
+die Gewißheit erlangte, daß der Flüchtige die Straße nach Norden
+eingeschlagen, folgte er derselben mit Extrapost und versprach dem
+Postillon ein fürstliches Trinkgeld, wenn er den Gesuchten einholte, ehe
+er die Eisenbahn erreichte.
+
+Das wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn Kornik sich verfolgt
+gewußt und dann keine Zeit versäumt hätte. Er schien sich aber
+vollkommen sicher zu fühlen, denn als sie nach Camburg kamen, hörten
+sie daß er dort geschlafen hätte und ziemlich spät Morgens wieder
+aufgebrochen sei.
+
+Jetzt galt es, ihm den Vorsprung abzugewinnen und näher und näher
+rückten sie auch hinan, bis sie dicht vor Limburg einem rückreitenden
+Postillon begegneten, der ihnen sagte, daß sie die Extrapost voraus
+vielleicht noch vor der Stadt einholen könnten, wenn sie die Pferde
+nicht schonten.
+
+Und wahrlich sie schonten die Pferde nicht, was sie laufen konnten,
+liefen sie. Aber nach der Bahn zu führte der Weg steil thalab, der
+unglückselige Wagen hatte keinen Hemmschuh und mußte mit der Kette
+eingelegt werden; zu rasch =durfte= er da nicht fahren, wenn er nicht
+riskiren wollte ein Rad zu brechen. Als sie endlich Limburg dicht vor
+sich sahen, war die verfolgte Extrapost nirgend zu erkennen, wohl aber
+pfiff gerade der von Gießen kommende Zug in den Bahnhof ein, und hielt
+dort gerade lang genug, daß ihn Hamilton, als er mit seinen, ordentlich
+mit Schaum bedeckten Thieren heranrasselte, konnte wieder davonkeuchen
+sehen. -- Er war zu spät gekommen.
+
+
+VI.
+
+Im Kursaal.
+
+Es war ein verzweifelter Moment, aber Hamilton nicht der Mann, sich
+dadurch beirren zu lassen. Daß Kornik =diesen= Zug benutzt hatte, daran
+zweifelte er keinen Augenblick, sowie er nur auf dem Bahnhof anfuhr und
+ihn nicht traf. Zum Ueberfluß fanden sie aber auch noch die Extrapost,
+die ihn hierher gebracht, und der Postillon derselben bestätigte,
+daß der Herr, den er gefahren, mit dem letzten Zug »nach dem Rhein«
+abgegangen sei.
+
+Es war 5 Uhr 55 -- der nächste Zug ging 6 Uhr 30 -- also noch eine
+halbe Stunde Zeit. Hamilton fuhr mit seinem Wagen gleich vor dem
+Polizeigebäude vor, die Herrn hatten es sich aber schon bequem
+gemacht, und er fand nur noch einen Aktuar, der Schriftstücke in einer
+Privatsache durchsah.
+
+Glücklicherweise schien dies ein ziemlich intelligenter Mann, der seinen
+Bericht aufmerksam anhörte. Als er ihn beendigt hatte, sagte er:
+
+»Mein lieber Herr -- dieser Zug, der eben Limburg verlassen hat, geht
+allerdings heute Abend noch nach Coblenz, aber ich weiß nicht, ob
+der Herr, dem Sie nachsetzen, gerade ein Interresse daran haben kann,
+Coblenz diese Nacht zu erreichen. Er kann natürlich nicht ahnen, daß
+Sie ihm so dicht auf den Fersen sitzen -- vorausgesetzt nämlich, daß es
+wirklich der Richtige ist, und wenn Sie =meinem= Rath folgen wollen, so
+thun Sie, was ich Ihnen jetzt sage. Fahren Sie mit dem nächsten Zug
+nach Ems -- nicht weiter -- besuchen Sie dort heute Abend -- mit jeder
+nöthigen Vorsicht natürlich, den Spielsaal, und finden Sie dann -- was
+ich aber bezweifele -- Ihren Mann =nicht=, dann nehmen Sie heute Abend
+noch in Ems einen Wagen, den Sie für Geld überall bekommen können,
+fahren direkt nach Coblenz, und passen morgen früh an den Bahnzügen
+auf. Ich wenigstens, wenn ich an Ihrer Stelle einen solchen Patron zu
+verfolgen hätte, würde genau so handeln, und wenn ich nicht sehr irre,
+gut dabei fahren.«
+
+»Ems ist nassauisch, nicht wahr?« frug Hamilton.
+
+»Allerdings,« sagte der Aktuar.
+
+»Könnten Sie dann,« fuhr Hamilton fort, indem er seine
+Legitimationspapiere aus der Tasche holte, »mir auf Grundlage dieser
+Schriftstücke einen Verhaftsbefehl für das betreffende Individuum
+ausstellen?«
+
+Der Aktuar sah die Papiere, bei denen sich eine in Hamburg beglaubigte
+Uebersetzung befand, aufmerksam durch und sagte dann lächelnd:
+
+»Eigentlich, und nach unserem gewöhnlichen Gerichtsverfahren würde die
+Sache mehr Umstände machen, und nicht so rasch beseitigt werden
+können, unter den obwaltenden Verhältnissen aber denke ich, daß ich die
+Verantwortlichkeit auf mich nehmen kann. Sie =müssen= mit dem nächsten
+Zug fort, wenn Sie den Gesuchten nicht versäumen wollen. Setzen Sie
+sich einen Augenblick; ich denke, wir können das alles noch in Ordnung
+bringen.«
+
+Der alte Aktuar war ein wahres Juwel. Hamilton hätte sich an keinen
+besseren Menschen wenden können. In kaum zehn Minuten hatte er einen
+Verhaftsbefehl für die Nassauischen Lande gegen jenen Mr. Kornik
+ausgestellt. Und nicht einmal einen Kreuzer mehr als die üblichen und
+nicht zu vermeidenden Sporteln wollte er dafür nehmen, und wie gern
+hätte ihm der junge Mann seine Arbeit zehn- und zwanzigfach bezahlt!
+
+Jetzt war alles in Ordnung -- Hamilton beschloß, den ihm gegebenen
+Rath gewissenhaft zu befolgen, und dem alten Herrn auf das herzlichste
+dankend, eilte er so rasch er konnte nach dem Bahnhof zurück.
+
+Seine Zeit war ihm auch nur eben knapp genug zugemessen; kaum hatte er
+dort sein Billet gelöst, so wurde der Zug schon signalirt; zehn Minuten
+später braußte er heran, hielt, nahm seine wenigen Passagiere auf und
+keuchte in ruheloser Hast weiter, das freundliche Lahnthal hinab.
+
+Aber Hamilton hatte kein Auge für die liebliche Scenerie, die ihn umgab
+-- so war er in seine eigenen Gedanken vertieft, daß er ordentlich
+emporschrak als sie in den ersten Tunnel eintauchten. Nur das Bild des
+Flüchtigen schwebte vor seiner Seele, und selbst daß er Schlaf und Ruhe
+entbehrt hatte, um diesen zu erreichen und einzuholen, fühlte er nicht.
+Der Zug flog mit reißender Schnelle dahin, aber ihm kam es noch immer
+vor, als ob er in seinem Leben nicht so langsam gefahren wäre. Jetzt
+glitten sie an den grünen Hängen des freundlichen Thales dahin -- jetzt
+wieder öffnete der Berg seinen Schlund, um sie in seine düstere Tiefe
+aufzunehmen, und aufs neue schossen sie hinaus in den dämmernden Abend.
+Aber Hamiltons Augen schienen für das alles keine Sehkraft zu haben, so
+theilnahmlos, so unbewußt selbst streifte sein Blick darüber hin, bis
+endlich der schrille Pfiff der Locomotive die Nähe der Station Ems
+anzeigte und eine Masse Spaziergänger, Herren zu Fuß und Damen und
+Kinder auf Eseln, in der unmittelbaren Nähe der Bahn sichtbar wurden. Es
+war spät geworden und die Leute eilten jetzt nach Haus, denn so heiß die
+Tage auch sein mochten, die Nächte blieben kühl und frisch genug.
+
+Aber diese kümmerten den Polizeimann nicht, der recht gut wußte, daß
+der, den =er= suchte, sich nicht unter ihnen befand, selbst =wenn= es
+noch hell genug gewesen wäre, einzelne Physiognomien der da draußen
+Wandernden zu erkennen, an denen sich nur die lichten Kleider
+unterscheiden ließen.
+
+Der Zug hielt, aber selbst jetzt noch war Hamilton einen Augenblick
+unschlüssig, ob er nicht lieber sitzen bleiben und bis nach
+Oberlahnstein und Coblenz mitfahren solle; denn ließ es sich denken,
+daß der Flüchtige gerade hier ausgestiegen sei? Derartige Menschen sind
+allerdings furchtbar leichtsinnig, und der alte Aktuar hatte am Ende
+doch Recht gehabt, wenn er ihm rieth, die Spielbank jedenfalls einmal
+ein Paar Stunden zu besuchen. Verloren war immer kaum viel Zeit dabei,
+denn kam er jetzt auch nach Coblenz, so mußte er doch die Nacht dort
+liegen bleiben, um bei dem Abgang des ersten Morgen-Zuges erst am
+Bahnhof zu sein. Er folgte also dem Rath des alten Mannes, stieg aus und
+ging in das dicht am Bahnhof gelegene Hotel zum Guttenberg, um dort erst
+etwas andere Toilette zu machen. Er wollte sich nämlich nicht der Gefahr
+aussetzen, daß er von dem schlauen Verbrecher zuerst erkannt würde, denn
+er zweifelte keinen Augenblick daran, daß Kornik ihn an jenem Abend eben
+so gut bemerkt habe, wie seinen Begleiter Burton, und ihm deshalb jetzt
+eben so rasch ausweichen würde, wie jenem.
+
+In seiner Tasche trug er einen leichten hellen Sommerrock, den zog er
+an, setzte eine hellgrüne Brille auf und borgte sich noch außerdem vom
+Kellner einen Cylinderhut. Mit dieser ganz geringen Veränderung seiner
+Toilette, die er dadurch vervollständigte, daß er ein weißes Halstuch
+statt seines bisher getragenen schwarzen nahm, fühlte er sich ziemlich
+sicher, wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick erkannt zu werden.
+Kornik hatte ihn ja überhaupt nur die kurze Zeit im Coupé gesehen, und
+ihn dabei keineswegs seiner Beachtung so besonders werth gehalten.
+Dann aß er etwas und hielt es nun an der Zeit, das jetzt besonders
+frequentirte Kurhaus zu besuchen.
+
+Es war indessen völlig Nacht geworden; unterwegs traf er nur noch
+einzelne Leute, die vom Kurhaus weg über die Brücke in ihre am andern
+Ufer liegende Quartiere gingen, das Kurhaus selber aber war noch hell
+und brillant erleuchtet und auch in der That der einzige Platz in dem
+ganzen Badeort, den man Abends besuchen konnte und wo man Gesellschaft
+fand. Die anderen zahllosen Hotels schienen nur zum Essen zu dienen,
+denn in ihren Sälen versetzten riesige Tische, deren Zwischenraum
+vollständig mit Stühlen ausgefüllt war, jeden nur einigermaßen möglichen
+Platz. Man konnte sich in keinen von ihnen wohnlich fühlen.
+
+Das Kurhaus dagegen vereinigte alles, was sich von Pracht und Eleganz
+nur denken ließ -- ein reichhaltiges Lesezimmer mit bequemen Fauteuils,
+einen prachtvollen Saal zu Concerten oder Spiel- und Tanzplätzen der
+Kinder und Damen, und dann den unheilvollen Magnet für die Spieler, die
+grünen Tische, von denen der verführerische Klang des Metalls in
+alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte, und seine Opfer
+erbarmungslos an- und nachher auszog.
+
+Es ist eine Schmach für Deutschland, daß wir noch diese vergoldeten
+Schandhöhlen in unseren Gauen dulden -- es ist eine doppelte Schmach für
+die Regierungen, die sie begünstigen und gestatten, und alle die Opfer,
+die jährlich fallen, müssen einst auf ihren Seelen brennen.
+
+Napoleon III. hat die Spielhöllen aus seinem Reich verbannt, und die
+Spieler damit über die Grenzen getrieben. Geschah das aber nur deshalb,
+daß sie in =Deutschland= ihre gesetzliche Aufnahme finden sollten?
+und müssen wir nicht vor Scham erröthen, wenn wir dieses französische
+Unwesen mit französischen Marken und Marqueuren im Herzen unseres
+Vaterlandes eingenistet finden? Aber es =ist= so. Trotz der gerechten
+Entrüstung, die allgemein darüber herrscht, müssen wir jetzt geschehen
+lassen, daß andere Nationen die Achseln darüber zucken und uns bedauern
+oder -- verachten, =müssen= wir es geschehen lassen, sage ich, denn
+
+ »wollten wir alle zusammen schmeißen
+ wir könnten sie doch nicht Lügner heißen.«
+
+Wenn wir es denn aber trotz allem und allem unter unseren Augen so frech
+fortgeführt sehen, so gehört es sich, daß sich jeder =rechtliche=
+Mann wenigstens dagegen verwahrt, diese Schandbuden gut zu heißen.
+Das Ausland möge erfahren, daß die =deutsche Nation= unschuldig ist an
+diesem Werk, und keinen Silberling von dem Blutgeld verlangt, das es
+einzelnen Fürsten einbringen mag. Hammerschlag auf Hammerschlag folge
+auf das Gewissen der Vertreter deutscher Nation, bis sie endlich wach
+gerüttelt werden -- sie sollen sich wenigstens nicht beklagen dürfen,
+daß man sie nicht geweckt hätte.
+
+Hamilton dachte freilich an nichts derartiges, als er das hell
+erleuchtete Portal betrat, an welchem ein gallonirter Portier und ein
+sehr einfach gekleideter Polizeidiener -- zur Wache, daß das heilige
+Spiel nicht etwa gestört würde -- auf Posten standen. Der Portier wollte
+übrigens Schwierigkeiten machen, als er Hamiltons hellen Rock sah --
+er schien ihm für die Spielhölle nicht anständig genug gekleidet, aber
+neben ihm schritt eine bis auf den halben Busen decoltirte Französin
+frech vorüber, welcher der Lakai eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung
+machte. Hamilton wußte indessen, welchen Zauber in einem solchen Fall
+ein Guldenstück ausüben würde, und der augenblicklich zahm gewordene
+Portier schmunzelte auch so vergnügt darüber hinweg, daß seinem Eintritt
+nichts weiter im Wege stand.
+
+Wenige Secunden später befand er sich, von dem jetzt dienstbaren Geist
+willig geleitet, im Lesecabinet, aus dem eine Thür unmittelbar in den
+großen Spielsaal führte.
+
+Dort saßen nur ihm vollkommen fremde Menschen, ein langbeiniger
+Engländer, der gewissenhaft die Times durcharbeitete, ein kleiner
+beweglicher Franzose, der über dem Charivari schmunzelte, und ein Paar
+andere Badegäste, die gleichgültig und aus Langeweile die verschiedenen
+continentalen Zeitungen durchblätterten.
+
+Er hielt sich dort nicht auf und öffnete die Thür, die in den Spielsalon
+führte, aber anfangs nur halb, um erst einen Ueberblick über die
+verschiedenen Gestalten zu gewinnen, und nicht früher gesehen zu werden,
+als er selber sah. Aber es hätte dieser Vorsicht nicht einmal bedurft,
+denn die dort Befindlichen hatten nur Ohr für den monotonen Ruf des
+Croupiers, nur Auge für den grünen Tisch, und die darauf genähten bunten
+Lappen. Wer kümmerte sich von allen denen um den einzelnen Fremden, wenn
+er nicht selber als stark Spielender -- mit Glück oder Unglück blieb
+sich gleich -- ihr Interesse für einen Augenblick in Anspruch nahm.
+
+Hamilton trat an die Spieler dicht hinan, um die einzelnen Gesichter
+derselben mustern zu können -- aber er fand kein bekanntes darunter.
+Es war ein buntes Gemisch von leidenschaftlich erregten, abstoßenden
+Physiognomien, unter denen sich nur hie und da die kalten speculirenden
+Züge alter abgefeimter, und ruhig ihre Zeit abwartender Spieler,
+auszeichneten. Auch viele »Damen« standen dicht von den Uebrigen
+gedrängt am Tisch, wenn solche Frauenzimmer den Namen von Damen
+überhaupt verdienen. Eine von diesen saß sogar neben dem Croupier -- es
+war der Lockvogel der Gesellschaft, ein junges, üppiges Weib, tief
+decoltirt, mit dunklen vollen Locken und reichem Brillantschmuck; andere
+drängten, jede Weiblichkeit bei Seite lassend, zwischen die ihnen nur
+unwillig Raum gebenden Zuschauer hinein, um ihr Geld in wilder Hast auf
+eine Nummer zu schieben.
+
+Hamiltons Blick streifte gleichgültig darüber hin, und wie er
+sich langsam selber um den Tisch bewegte, entging kein irgendwo
+eingeschobener Kopf seinem forschendem Auge. Da hörte er auch in einem
+kleineren Nebenzimmer das Klimpern des Geldes und die monotonen Worte:
+»_le jeu est fait_« -- denen lautlose Stille folgte, und wollte eben
+auch jenes Gemach betreten, als er wie festgewurzelt auf der Schwelle
+blieb, denn =dort= stand Kornik -- bleich wohl jetzt, von der Erregung
+des Spiels, und mit gierigem Blick an der abgezogenen Karte hängend --
+aber unverkennbar derselbe, mit dem er an jenem Tag gefahren. Er
+hatte es auch nicht einmal für nöthig gehalten, den verrätherischen
+Schnurrbart abzurasiren, oder sein Haar anders zu tragen, er mußte sich
+heute Abend hier vollkommen sicher fühlen. Nur die blaue Brille fehlte.
+
+Im ersten Moment fürchtete Hamilton fast sich zu bewegen, daß nicht
+der Blick des Verbrechers ihn vor der Zeit traf. Aber es war das eine
+vollkommen nutzlose Angst, denn der =Spieler= hatte nur Augen für die
+vor ihm abgezogenen Karten -- weiter existirte in diesem Moment keine
+Welt für ihn. Vorsichtig zog sich der Polizeiagent deshalb wieder
+zurück, bis er sich im Nebenzimmer gedeckt wußte, schritt dann durch den
+Saal und auf den dort stationirten Polizeidiener zu.
+
+Mit wenigen Worten machte er diesem auch begreiflich was er wollte --
+derartige kleine Zwischenfälle kamen gar nicht etwa so selten in
+diesen Spielhöllen vor -- und überraschte dabei den Portier auf das
+angenehmste, indem er ihm zwei große Silberstücke -- er sah gar nicht
+nach, was -- in die Hand drückte, mit dem Auftrag, so rasch als irgend
+möglich Polizeimannschaft zur Hülfe herbeizuholen. Die befand sich
+übrigens stets in der Nähe. Ein verzweifelter Spieler hatte sich wohl
+schon dann und wann einmal, zum Letzten und Aeußersten getrieben, an der
+heiligen Kasse selber vergriffen und nachher sein Heil in rascher Flucht
+gesucht, und dagegen mußten die Herren freilich geschützt werden. Wenn
+auch ein =Raub=, war das Geld doch ein =gesetzlich= gewonnener, und die
+Regierung fühlte sich verpflichtet, dessen Schutz zu überwachen.
+
+Hamilton traute indessen seinem Mann da drinnen noch lange nicht genug,
+um ihn länger, als unumgänglich nöthig war, sich selber zu überlassen;
+er war ihm damals in Frankfurt auf zu schlaue Weise durch die Finger
+geschlüpft, während er ihn eben so sicher geglaubt wie gerade jetzt.
+Aber er selber kannte die Leidenschaft des Spiels noch viel zu wenig,
+um zu wissen, daß er in diesem einen viel sicheren Bundesgenossen hatte,
+als in einem schönen Weibe, und als er in Begleitung des Polizeidieners
+jenes Zimmer wieder betrat, stand Kornik noch eben so fest und
+regungslos, eben so nur in dem einen Gedanken der Karten absorbirt, an
+seinem Tisch, wie er ihn vorhin verlassen.
+
+Der Polizeibeamte übereilte sich aber jetzt nicht im geringsten. Er
+wußte, daß ihm sein Opfer nicht mehr entgehen konnte, und hielt es
+für viel gerathener, den Herrn nicht früher zu beunruhigen, als er der
+herbeigerufenen Hilfe sicher war. Nur seine grüne Brille nahm er ab.
+
+»Welcher ist es denn?« flüsterte ihm der dicht hinter ihm gehende
+Polizeidiener zu. Hamilton machte eine beschwichtigende Bewegung mit der
+Hand und trat dann, von jenem gefolgt, an Kornik hinan. Er stand jetzt
+so nahe bei ihm, daß seine Schulter die des Polen berührte, der aber
+nicht daran dachte, auch nur den Kopf nach ihm umzudrehen.
+
+Jetzt hatte derselbe gerade gewonnen; es standen vielleicht 40 oder 50
+Louisd'or auf dem grünen Tisch -- er ließ den Satz stehen, die Karten
+fielen und der Croupier zog mit seiner hölzernen Schaufel das Gold ein.
+
+Mit einem leisen, zwischen den Lippen gemurmelten Fluch schob sich
+Kornik seine Geldtasche vor, um wahrscheinlich neue Summen auf die
+trügerischen Blätter zu setzen, als er eine Hand auf seiner Schulter
+fühlte und Hamilton mit ruhiger, aber absichtlich lauter Stimme sagte:
+
+»Sie sind mein Gefangener, im Namen der Königin.«
+
+Der Pole wandte ihm jetzt rasch und erschreckt sein Antlitz zu und
+Leichenblässe deckte im Nu seine Züge, als er das nur zu wohl gemerkte
+Gesicht des Mannes aus Frankfurt neben sich sah. Aber auch nicht für ein
+Moment verlor er seine Geistesgegenwart, und dem Blick desselben kalt
+und ruhig begegnend, sagte er:
+
+»Das Spiel hat Ihnen wohl den Verstand verwirrt -- stören Sie mich
+nicht,« und in die Geldtasche greifend, wollte er, ohne den Fremden
+weiter zu beachten, sich wieder über den Tisch beugen, als sich Hamilton
+aber, seiner Sache zu gewiß, an den Polizeidiener wandte und sagte:
+
+»Verhaften Sie den Herrn -- ich werde Sie augenblicklich auf das Bureau
+begleiten.«
+
+»Keine Störung hier, meine Herren, wenn ich bitten darf,« rief plötzlich
+ein kleines hageres Männchen, das schon bei den ersten Worten an den
+Spieltisch getreten war. »Wenn Sie etwas mit einander auszumachen haben,
+ersuche ich Sie, in ein Nebenzimmer zu treten.«
+
+»Ich werde =Sie= nicht um Erlaubniß fragen, wenn ich Ihre Wirthschaft
+hier für einen Augenblick unterbreche,« sagte Hamilton trotzig -- »ich
+habe ein Recht diesen Mann zu verhaften, wo ich ihn finde.«
+
+»Dann führen Sie ihn ab, Polizeidiener,« sagte der Kleine in seinem
+braunen Rock ruhig -- »oder ich mache Sie für jede Unordnung hier
+verantwortlich.«
+
+»Ich habe mit den Herrn nichts zu thun,« rief der Pole trotzig, »was
+wollen Sie von mir? -- lassen Sie mich los.«
+
+Eine Anzahl von Menschen sammelte sich um die beiden, und die Spieler
+zogen ihr Geld ein, weil sie vielleicht einen Kampf und dadurch die
+Sicherheit ihrer Bank gefährdet fürchteten, denn es gab leider eine
+Menge von Menschen, die das dort aufgethürmte Geld für =gestohlen=
+hielten, und sich wenig Gewissen daraus gemacht hätten, es fortzuraffen.
+
+»Bitte, meine Herren, gehen Sie in ein Nebenzimmer,« drängte aber jetzt
+nochmals der kleine Braune, »Sie sind dort vollkommen ungestört -- Jean,
+Bertrand hierher -- sorgen Sie für Ordnung.«
+
+Der Pole warf den Blick umher; er sah sich augenscheinlich nach einem
+Weg zur Flucht um, aber Hamiltons Hand hatte seinen Arm wie eine
+Schraube gefaßt und der Polizeiagent sagte mit leiser, aber drohender
+Stimme:
+
+»Es hilft Ihnen nichts. Flucht ist für Sie unmöglich. Sie sind mein
+Gefangener; ergeben Sie sich gutwillig, Sie haben keinen Ausweg mehr,
+und Wiederstand kann Ihre Lage nur verschlimmern.«
+
+Es war einen Augenblick, als ob sich der Pole den drohenden Worten nicht
+fügen wolle, und fast unwillkürlich zuckte er mit der Hand empor. Aber
+ein umhergeworfener Blick mußte ihn überzeugen, daß er mit Gewalt
+nichts ausrichten könne, denn eine Menge von Neugierigen, die sich im
+benachbarten Salon umhergetrieben, hörten kaum die in einem Spielsaal
+ganz ungewohnten, lauten Stimmen, als sie hereindrängten, und den
+einzigen Ausgang vollständig verstopften.
+
+Der eine Blick genügte, und verächtlich lächelnd aber mit voller Ruhe
+sagte der Mann:
+
+»Hier herrscht jedenfalls ein Irrthum. Ich bin Graf Kornikoff, hier ist
+mein russischer Paß, und ich stelle mich damit unter den Schutz unseres
+Gesandten. Nassau ist mit dem russischen Thron verwandt und wird dessen
+Unterthanen nicht ungestraft beleidigen lassen.«
+
+Mit den Worten nahm er ein Papier aus seiner Brusttasche und hielt es
+Hamilton vor.
+
+»Es kann sein,« sagte dieser, »daß Ihr Paß in Ordnung ist. Die
+gefährlichsten Charaktere haben gewöhnlich die besten Pässe. In dem
+Falle werden Sie sich aber um so weniger weigern mir zu folgen, da ich
+bereit bin, Ihnen vollständige Genugthuung zu geben, wenn ich Sie ohne
+hinreichenden Grund verhaftet habe. Die Herren hier werden mir aber
+zugeben, daß man, auch selbst mit einem guten Paß versehen, doch stehlen
+kann, und auf die Klage eines Diebstahls verhafte ich Sie hiermit.«
+
+»Gut denn, führen Sie ihn fort und übernehmen dabei die Verantwortung
+für alle Folgen,« sagte der kleine Herr mit dem braunen Rock ungeduldig
+-- »aber Sie sehen doch ein, daß Sie hier das Spiel und Vergnügen völlig
+dabei unbetheiligter Herren und Damen nicht länger stören dürfen. Herr
+Polizeicommissar, ich bitte Sie, daß Sie diesem Unfug ein Ende machen,
+oder ich werde mich morgen ernstlich bei der Behörde deshalb beklagen.«
+
+Der Polizeicommissar war in der That herbeigekommen, und Hamilton, der
+ihn an seiner Uniform erkannte, frug ihn leise:
+
+»Wer ist denn dieser kleine Tyrann?«
+
+»Einer der Spielpächter,« sagte der Mann mit einem verächtlichen Blick
+auf den Braunen, und setzte dann laut hinzu, »beklagen Sie sich bei
+wem Sie wollen, Monsieur, Sie werden uns aber hier wohl noch erlauben,
+unsere Schuldigkeit zu thun, selbst =wenn= Ihre achtbare Gesellschaft
+einen Augenblick gestört werden solle. Und Sie, mein Herr,« wandte er
+sich an den Gefangenen, »folgen Sie uns jetzt auf das Bureau -- ich
+werde die Sache dort untersuchen.«
+
+»Sie werden mir bezeugen, daß ich nicht den geringsten Wiederstand
+geleistet habe,« sagte der Pole ruhig -- »kommen Sie, meine Herren. Ich
+wünsche noch an dem Spiel hier Theil zu nehmen, und je eher wir diese
+fatale Sache beendigen, desto besser.«
+
+Damit wandte er sich entschlossen dem Ausgang zu -- die Leute gaben ihm
+Raum und wenige Secunden später standen sie am Ausgang des Kurhauses.
+
+»Es wäre besser, wir legten ihm Handschellen an,« sagte Hamilton, sich
+zu dem Polizeicommissar überbiegend.
+
+»Er kann uns hier nicht entschlüpfen,« erwiederte dieser kopfschüttelnd
+-- »und ich möchte keine Gewaltmaßregeln gebrauchen, bis ich die Sache
+näher untersucht habe.«
+
+Der Pole schritt ruhig und festen Schrittes zwischen zwei Polizisten
+dahin -- dicht hinter ihm folgte Hamilton mit dem Commissar, und eine
+Anzahl von Neugierigen schloß sich dem Zuge an, um zu sehen, was die
+Sache für ein Ende nähme. So schritten sie langsam durch den Kurgarten
+dem kleinen viereckigen Regierungsgebäude zu, das dicht an der Brücke
+liegt, und der Gefangene schien selber nichts sehnlicheres zu wünschen,
+als diese Scene bald zu Ende gebracht zu sehen.
+
+»Haben wir noch weit?« frug er einen der ihn escortirenden Leute.
+
+»Oh bewahre,« sagte dieser, indem er mit dem ausgestreckten Arm auf
+das vor ihnen liegende Gebäude zeigte, »das ist das Haus.« In demselben
+Moment stieß er aber auch einen Schrei aus, denn ein schwerer Schlag,
+jedenfalls mit einem sogenannten »_life preserver_« geführt, schmetterte
+ihn bewußtlos zu Boden, während der Gefangene mit flüchtigen Sätzen über
+die schmale Brücke hinüber eilte.
+
+Aber er hatte flüchtigere Füße hinter sich. Wie ein Tiger auf seine
+Beute, so schoß Hamilton hinter ihm drein, und noch ehe er das Ende der
+Brücke erreichte, streckte er schon den Arm aus, um ihn am Kragen zu
+packen. Da wandte sich der zur Verzweiflung getriebene Verbrecher, und
+einen Revolver vorreißend, drückte er ihn gerade auf die Brust seines
+Verfolgers ab.
+
+Hamilton wäre verloren gewesen, aber zu seinem Glück versagte
+die Schußwaffe, und ehe Kornik zum zweiten Male abdrücken konnte,
+schmetterte ihn der Schlag des Polizeimanns zu Boden. Aber selbst
+damit begnügte sich dieser nicht, und mit einer ganz außerordentlichen
+Gewandtheit faßte er ihm beide Hände, legte sie zusammen und wenige
+Secunden später knackten die vortrefflichen Darbies oder Handschellen in
+ihr Schloß und er wußte jetzt, daß er seinen Gefangenen sicher hatte.
+
+»Alle Wetter,« sagte der nachkeuchende Polizeicommissar, »das war doch
+gut, daß Sie schneller laufen konnten.«
+
+»Wenn Sie =meinem= Rath gefolgt wären, konnte uns das erspart werden,«
+meinte Hamilton finster, »denn ich verdanke mein Leben jetzt nur einem
+schlechten Zündhütchen.«
+
+»Er hat schießen wollen?«
+
+»Dort liegt der Revolver -- Sie sehen, daß Sie es hier mit einem
+gefährlichen Verbrecher zu thun haben.«
+
+»Da wollen wir ihn doch lieber binden.«
+
+»Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter -- er ist fest und sicher. Sein
+Sie nur so gut und lassen ihn jetzt durch Ihre Leute in festen Gewahrsam
+bringen.«
+
+
+VII.
+
+Die gerettete Unschuld.
+
+Mr. Burton befand sich an dem Morgen in einer fast fieberhaften
+Aufregung, denn wie er schon lange jeden Glauben an die Mitschuld des
+armen -- oh so wunderbar schönen Weibes abgeschüttelt hatte, gingen ihm
+andere Pläne wild und wirr durch den Kopf. Immer aufs neue malte er sich
+den Augenblick aus, wo er sie in seinem Arm gehalten, wo seine Lippen
+zum ersten Mal in Angst und Liebe die ihrigen berührt, und nur der
+Gedanke quälte ihn noch, in welchem Verhältniß sie zu dem unwürdigen
+Menschen gestanden haben, wie sie mit ihm bekannt werden konnte. Hatte
+er sie unter seinem falschen Namen getäuscht? -- ihrer Familie heimlich
+vielleicht entführt? -- alle ihre Klagen schienen darauf hinzudeuten,
+wie verworfen mußte er dann -- wie elend sie, die arme Unschuldige,
+Verrathene sein? und war es da nicht seine Pflicht, -- wo er wenn auch
+selber unschuldiger Weise, all diesen Jammer über sie gebracht -- ihr
+auch wieder zu helfen so gut er konnte? Er schien fest entschlossen,
+und von dem Augenblick an fühlte er sich auch wieder ruhiger und
+zufriedener.
+
+James Burton, kaum zum Mannesalter herangereift, war ein seelensguter
+Mensch mit weichem, für alles Gute und Schöne leicht empfänglichem
+Herzen. Er hatte dabei -- in den glücklichsten und unabhängigsten
+Verhältnissen erzogen -- noch nie Gelegenheit bekommen, den Täuschungen
+und Wiederwärtigkeiten des Lebens zu begegnen. Weil er selber gut und
+ohne Falsch war, hielt er alle Menschen für eben so rechtlich und brav,
+und selbst an Korniks Schuld hatte er so lange nicht glauben mögen, bis
+auch der letzte Zweifel zur Unmöglichkeit wurde. Wie leicht vertraute
+er da diesen lieben treuen Augen -- wie glücklich fühlte er sich selbst,
+daß es =ihm= verstattet gewesen, jenem holden Wesen den Schmerz und die
+furchtbare Seelenqual erspart zu haben, von dem zwar geschickten und
+tüchtigen, aber auch vollkommen rücksichtslosen Polizeimann examinirt zu
+werden. Er schämte sich jetzt fast vor sich selber, daß er ihr auch nur
+verstattet hatte, ihren Koffer auszupacken -- wie niedrig mußte sie
+von ihm denken! -- aber er war ja auch gar nicht im Stande gewesen, sie
+daran zu verhindern, so leidenschaftlich erregt zeigte sie sich nur bei
+der Möglichkeit eines Verdachts. Aber natürlich -- wenn er =sich= in
+=ihre= Stelle dachte, würde er genau so gehandelt haben.
+
+Die Stunde, die sie erbeten hatte, um sich nur von den ersten
+furchtbaren Eindrücken der über sie hereingebrochenen Catastrophe
+zu sammeln, verging ihm in diesen Gedanken rascher, als er es selbst
+geglaubt. Gewissenhaft aber bis zur letzten Minute ausharrend, stieg
+er dann wieder zu ihr hinab, klopfte leise an, und sah sich dem
+zauberischen Wesen noch einmal gegenüber.
+
+Zeit zum Aufräumen schien sie allerdings noch nicht gefunden zu haben,
+denn die umhergestreuten Sachen der beiden Koffer lagen noch immer
+so wild und wirr durch einander, wie er sie verlassen hatte. Aber wer
+mochte ihr das verdenken? Auch in ihrem leichten, reizenden Morgenanzug
+war sie noch; -- wenn unsere Seele zerrissen ist, wie können wir da an
+den Körper denken?
+
+Trotzdem schien sie sich gesammelt zu haben. Sie sah etwas bleich aus,
+aber sie war ruhiger geworden, und dem Eintretenden lächelnd die Hand
+entgegenstreckend, sagte sie herzlich:
+
+»Oh wie danke ich Ihnen, daß Sie, um den ich es wahrlich nicht verdient
+habe, mir diese zarte Rücksicht gezeigt. In dem Gedanken fand ich auch
+allein meinen Trost, daß Gott mich doch noch nicht verlassen haben
+könnte, da er =Sie= mir zugeführt.«
+
+»Verehrte -- =liebe= Frau,« sagte Burton bewegt, »sein Sie unbesorgt.
+Wenn auch in einem fremden Lande, steht Ihnen doch jetzt ein Landsmann
+zur Seite, und ich habe mir nur erlaubt, Sie jetzt noch einmal zu
+stören, um mit Ihnen gemeinschaftlich zu berathen, welche Schritte wir
+am besten thun können, um -- das Geschehene gerade nicht ungeschehen zu
+machen, das ist nicht möglich, aber Sie doch jedenfalls aus einer Lage
+zu befreien, die Ihrer unwürdig ist. Um mir das zu erleichtern, muß ich
+Sie aber bitten, mir Ihr =volles= Vertrauen zu schenken. Nur dann bin
+ich im Stande die Maßregeln zu ergreifen, die für Sie die zweckmäßigsten
+sein würden. Daß es dabei nicht an meinem guten Willen fehlt, davon
+können Sie sich versichert halten.«
+
+»Mein =volles= Vertrauen soll Ihnen werden,« sagte die junge Frau,
+leicht erröthend -- »aber bitte, setzen Sie sich zu mir, Sie sollen
+alles erfahren -- und nun,« fuhr sie fort, während sich Burton neben ihr
+auf dem Canapé niederließ, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte --
+»erzählen Sie mir vorher ausführlich, wie Sie dem Verbrecher auf die
+Spur gekommen sind, und welche Hoffnung Sie jetzt haben, ihn seiner
+Strafe zu überliefern. Es ist das Einzige jetzt, worauf ich hoffen kann,
+daß sein Geständniß Ihnen beweisen muß, wie doppelt nichtswürdig er an
+mir selber dabei gehandelt.«
+
+»Aber, verehrte Frau,« sagte Burton etwas verlegen -- »schon vorher
+theilte ich Ihnen alles mit, und der Eindruck, den die traurige
+Erzählung auf Sie machte --«
+
+»Vorher,« sagte die junge Frau -- »und in der entsetzlichen Aufregung,
+in der ich mich befand, tönten die Worte nur wie Donnerschläge an mein
+Ohr -- ich begriff wohl ihre Furchtbarkeit, aber nicht ihren Sinn und
+vieles ist mir dabei unklar geblieben -- besonders, welche Spur Sie
+=jetzt= von dem Verbrecher haben, daß Sie hoffen können ihn einzuholen,
+und wer der Herr ist, der ihn verfolgt.«
+
+Der Bitte, während =diese= Augen so treu und vertrauend in die seinen
+schauten, konnte Burton nicht wiederstehen. Es war ihm dabei sogar
+Bedürfniß geworden, sich -- ihr gegenüber -- seines bisherigen eigenen
+Verhaltens wegen zu rechtfertigen, wobei er hervorhob, daß er mit der
+Verfolgung der Dame eigentlich gar nichts zu thun und Lady Clive im
+Leben nicht gesprochen habe, noch persönlich kenne. Auch von dem
+Schmuck selber wußte er nichts, als was ihm Hamilton darüber beiläufig
+mitgetheilt.
+
+»Und jetzt?« frug die junge Dame weiter, die der Erzählung mit der
+gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war -- »wo jener Betrüger -- dem
+Gott verzeihen möge, was er an mir gethan, und wie er mich =doppelt=
+verrathen hat -- wo jener Betrüger geflohen ist, haben Sie noch
+Hoffnung, ihn wieder zu ereilen?«
+
+»Allerdings,« sagte Burton -- »Mr. Hamilton, mein Begleiter, ist einer
+der schlauesten und gewandtesten Detectivs Englands. Er spricht drei
+oder vier verschiedene fremde Sprachen, und hat schon daheim die
+scheinbar unmöglichsten Dinge ausgeführt. Dieser Kornik hatte außerdem
+viel zu kurzen Vorsprung, um mich nicht fest glauben zu machen, daß ihn
+Hamilton ereilt, da er noch dazu die unbegreifliche Unvorsichtigkeit
+beging, von hier mit Extrapost zu fliehen. Wir finden das aber so oft im
+Leben, daß schlechte Menschen irgend ein Verbrechen mit der größten
+und raffinirtesten Schlauheit ausführen, und jede Kleinigkeit, jeden
+möglichen Zufall dabei berücksichtigen, und nachher, wenn ihnen
+alles nach Wunsch geglückt, sich selber auf die plumpste Weise dabei
+verrathen.«
+
+»Aber ehe er ihn eingeholt hat, kehrt er nicht hierher zurück?«
+
+»Ich glaube kaum,« sagte Mr. Burton, »doch fehlt mir darüber jede
+Gewißheit. Er wird mir unter allen Umständen in der nächsten Zeit schon
+telegraphiren, denn ich habe ihm versprechen müssen, hier zu bleiben,
+bis er zurückkehrt.«
+
+»Und glauben Sie, daß er den Verbrecher, wenn er ihn einholen sollte --
+mit hierher bringt?«
+
+»Ich zweifle kaum -- aber auch darüber bin ich nicht im Stande, Ihnen
+eine bestimmte Auskunft zu geben. Nur davon dürfen wir überzeugt sein,
+daß Mr. Hamilton alles in der praktischsten Weise ausführen wird, denn
+er versteht sein Fach aus dem Grunde. =Hat= er die Spur gefunden, so ist
+Mr. Kornik auch verloren.«
+
+Es schien fast, als ob die junge Dame um einen Schatten bleicher wurde
+-- und wer konnte es ihr verdenken, daß ihr die Erinnerung an den Mann,
+der sie so furchtbar hintergangen, entsetzlich war? Endlich sagte sie
+leise:
+
+»Wenn sich das alles bestätigt, was Sie mir erzählt, verehrter Herr --
+und ich kann kaum mehr daran zweifeln, dann =verdient= er die Strafe,
+die ihn erreichen wird, im vollem Maße. Aber wie er auch =Ihr= Haus
+betrogen und hintergangen haben mag, es ist nichts im Vergleich mit dem,
+was er an mir und meinem zukünftigen Leben verbrochen.«
+
+»Aber wie konnte er Sie so lange täuschen?« frug Burton und erröthete
+dabei fast selber über die Frage.
+
+»Du lieber Gott,« seufzte die Unglückliche -- »was weiß ein armes
+unerfahrenes Mädchen von der Welt? Er kam in meiner Eltern Haus, in das
+ihn zuerst mein Bruder eingeführt -- es mögen jetzt zwei Monate sein --
+und sein offenes, heiteres Wesen gewann ihm mein Herz -- sein angemaßter
+Rang schmeichelte meiner Eitelkeit. Er erzählte mir dabei von seinen
+Gütern in Polen, und wie glücklich -- wie selig ihn mein Besitz machen
+würde, und ich -- war schwach genug, es ihm zu glauben. Aber mein Vater
+verweigerte seine Einwilligung. Er kannte die Menschen besser, als
+seine thörichte Jenny. Er verlangte von Kornikoff den Ausweis eines
+hinreichenden Vermögens sowohl, wie die Erlaubniß seiner eigenen Eltern
+zu unserer Verbindung, und dieser, ungeduldig und stürmisch, drang in
+mich, mit ihm zu fliehen.«
+
+Jenny barg beschämt ihr Antlitz in ihren Händen und James Burton hörte
+der Erzählung mit einiger Verlegenheit schweigend zu. Er hätte das
+liebliche Wesen so gern getröstet, aber es fielen ihm in diesem
+Augenblick um die Welt keine passenden Worte dafür ein und es entstand
+dadurch eine kurze peinliche Pause. Endlich fuhr die junge Frau, aber
+jetzt tief erröthend, fort:
+
+»Schon unterwegs fing ich an, an dem Charakter meines Bräutigams zu
+zweifeln. Wir entkamen glücklich auf einem Dampfer, der nach Hamburg
+bestimmt war, und er hatte mir versprochen, daß jenes Fahrzeug in
+Helgoland anlegen würde, wo wir uns trauen lassen könnten -- aber es
+legte nicht an, und in Hamburg, wo er ausging, um einen Geistlichen zu
+suchen, wie er sagte, kehrte er ebenfalls unverrichteter Sache zurück,
+versicherte mich aber, er habe bestimmt gehört, daß wir hier in
+Frankfurt -- einer freien deutschen Stadt -- unser Ziel leicht erreichen
+könnten. Ich folgte ihm auch hierher -- immer noch als Braut -- nicht
+als Gattin« -- setzte sie mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu -- »und
+ich danke jetzt Gott, daß ich standhaft blieb und meinem guten Engel
+mehr folgte als jenem Teufel.«
+
+Es wäre unmöglich, die Gefühle zu schildern, die James Burtons Seele
+bei dieser einfachen und doch so ergreifenden Erzählung bestürmten;
+sein Herz schlug hörbar in der Brust, und fast seiner selbst unbewußt,
+ergriff er mit zitterndem Arm die Hand seiner Nachbarin, die sie ihm
+willenlos überließ.
+
+»Gott sei Dank,« flüsterte er endlich mit bewegter Stimme -- »so brauche
+ich mir auch länger keine Vorwürfe zu machen, denn unser Erscheinen hier
+war ja dann nur zu Ihrem Heil.«
+
+»=Ihnen= verdanke ich meine Rettung,« sagte da Jenny herzlich, und
+wie sie sich halb dabei zu ihm überbog, umfaßte er mit seinem Arm die
+bebende Gestalt des Mädchens. Aber nicht einmal auf ihre Stirn wagte er
+einen Kuß zu drücken, aus Furcht sie zu beleidigen, und sich gewaltsam
+aufrichtend, rief er leidenschaftlich bewegt aus:
+
+»Dann ist auch noch alles, alles gut. Trocknen Sie Ihre Thränen, mein
+liebes, liebes Fräulein -- die Versöhnung mit Ihren Eltern übernehme ich
+-- übernimmt mein Vater, Sie kehren zu ihnen zurück und die Erinnerung
+an das Vergangene soll eine fröhliche Zukunft Sie vergessen machen.«
+
+»Und auch Sie wollen nach England zurück?« frug rasch die junge Fremde.
+
+»Gewiß,« rief Burton -- »sobald ich nur Nachricht von Hamilton habe.
+Aber noch heute schreibe ich nach Haus -- wie heißen Ihre Eltern, mein
+bestes Fräulein -- was ist Ihr Vater? Halten Sie diese Fragen nicht für
+bloße Neugierde; es giebt keinen Menschen auf der Welt, der jetzt ein
+innigeres Interesse an Ihnen nähme, als ich selber.«
+
+»Mein Vater,« sagte Jenny leise, »ist Geistlicher, der Reverend
+Benthouse in Islington. Vielleicht ist Ihnen der Name bekannt. Er hat
+viel geschrieben.«
+
+»Das nicht,« sagte Hamilton erröthend, »denn ich muß leider zu meiner
+Schande bekennen, daß ich mich bis jetzt, und in jugendlichem Leichtsinn
+weniger mit einer religiösen Lectüre befaßt habe, als ich vielleicht
+gesollt -- aber erlauben Sie, daß ich mir den Namen notire -- und
+jetzt,« sagte er, als er sein Taschenbuch wieder einsteckte, »verlasse
+ich Sie. Wir dürfen den müßigen Leuten hier im Hotel Nichts zu reden
+geben -- schon Ihrer selbst wegen, aber Sie sollen von nun an auch nicht
+mehr allein sein. Ich werde augenblicklich ein Kammermädchen für Sie
+engagiren, die Ihnen zugleich Gesellschaft leisten kann. Junge
+Mädchen, der englischen Sprache mächtig, sind gewiß genug in Frankfurt
+aufzutreiben; der Wirth kann mir da jedenfalls Auskunft geben. Keine
+Widerrede, Miß,« setzte er lächelnd hinzu, als sie sich -- wie es schien
+mit dem Plan nicht ganz einverstanden zeigte -- »Sie stehen von nun
+an, bis ich Sie Ihren Eltern wieder zurückführen kann, unter =meinem=
+Schutz, und da müssen Sie sich schon eine kleine Tyrannei gefallen
+lassen.«
+
+»Aber wie kann ich Ihnen das, was Sie jetzt an mir thun, nur je im Leben
+wieder danken,« sagte das junge Mädchen gerührt -- »womit habe ich das
+alles verdient?«
+
+»Durch Ihr Unglück,« erwiederte Burton herzlich, indem er ihre Hand an
+seine Lippen hob, und wenige Minuten später fand er sich schon unten mit
+dem Wirth in eifrigem Gespräch, um eine passende und anständige Person
+herbeizuschaffen.
+
+Das ging auch in der That weit rascher, als er selber vermuthet hatte.
+Ganz unmittelbar in der Nähe des Hotels wohnte ein junges Mädchen, die
+schon einige Jahre in England zugebracht und -- wenn sie sich auch nicht
+auf längere Zeit binden konnte, doch gern erbötig war, die Stelle einer
+Gesellschafterin für kurze Zeit zu übernehmen. Mr. Burton führte
+sie selber der jungen Dame zu, und Elisa zeigte sich als ein so
+liebenswürdiges, einfaches Wesen, daß ein Zurückweisen derselben zur
+Unmöglichkeit wurde.
+
+
+VIII.
+
+Hamiltons Rückkehr.
+
+Den übrigen Theil des Tages verbrachte James Burton in einer
+unbeschreiblichen Unruhe, denn immer und immer war es ihm, als wenn
+er bei seiner jungen Schutzbefohlenen nachfragen müsse, ob ihr
+nichts fehle, ob sie nicht noch irgend einen Wunsch habe, den er
+ihr befriedigen könne, und ordentlich mit Gewalt mußte er sich davon
+zurückhalten, sie nicht weiter zu belästigen.
+
+Am allerliebsten hätte er auch in der Stadt eine Unmasse von Sachen für
+sie eingekauft, um sie zu zerstreuen oder ihr eine Freude zu machen.
+Aber das ging doch unmöglich an, denn das hätte jedenfalls ihr
+Zartgefühl verletzt -- er durfte es nicht wagen. Eine ordentliche
+Beruhigung gewährte es ihm aber, zu wissen, daß das arme verlassene
+Wesen jetzt jemand habe, gegen den es sich aussprechen konnte, und
+er begnügte sich an dem Tage nur einfach damit, die Hälfte der Zeit
+vollkommen nutzlose Fensterpromenade zu machen, denn es ließ sich dort
+niemand blicken, und die andere Hälfte unten im Haus und auf der Treppe
+auf und ab zu laufen, um wenigstens ihre Thür anzusehen.
+
+Wenn er es sich auch noch nicht gestehen wollte, so war er doch bis über
+die Ohren in seine reizende Landsmännin verliebt.
+
+Am nächsten Morgen war er allerdings zu früher Stunde wieder auf, aber
+erst um zwölf Uhr wagte er es, sich zu erkundigen, wie Miß Benthouse
+geschlafen hätte.
+
+Sie empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln, aber -- sie sah nicht
+so wohl aus wie gestern. Ihre Wangen waren bleicher, ihre Augen zeigten,
+wenn auch nur leicht schattirte Ringe -- sie schien auch zerstreut und
+unruhig und Burton, voller Zartgefühl, glaubte darin nur eine Andeutung
+zu finden, daß sie allein zu sein wünsche und empfahl sich bald wieder.
+Vorher aber frug sie ihn noch, ob er keine Nachricht von Mr. Hamilton
+erhalten habe, was er verneinen mußte.
+
+Jetzt aber, mit der Furcht, daß sie erkranken könne -- und nach all den
+letzten furchtbaren Aufregungen schien das wahrlich kein Wunder -- wich
+er fast gar nicht mehr von ihrer Schwelle, und der Portier selber, der
+eigentlich alles wissen soll, wußte nicht aus dem wunderlichen Fremden
+klug zu werden.
+
+Dieser ruhte auch nicht eher, bis er gegen Abend die neue
+Gesellschafterin einmal auf dem Gange traf, um sie nach dem Befinden der
+jungen Dame zu fragen.
+
+»Sie scheint ungemein aufgeregt,« lautete die Antwort derselben --
+»sie hat keinen Augenblick Ruhe, und wohl zehn Mal schon gesucht mich
+fortzuschicken, um allein zu sein. Sie ist jedenfalls recht leidend und
+ich werde eine unruhige Nacht mit ihr haben.«
+
+»Mein liebes Fräulein,« sagte Burton, dadurch nur noch viel mehr
+beunruhigt -- »ich bitte Sie recht dringend, sie nicht einen Augenblick
+außer Acht zu lassen. Stoßen Sie sich nicht an das geringe Salär, was
+Sie gefordert haben, es wird mir eine Freude sein, Ihnen jede Mühe nach
+meinen Kräften zu vergüten.«
+
+»Ich thue ja gern schon von selber, was in meinen Kräften steht,« sagte
+das junge Mädchen freundlich -- »die Dame wird gewiß mit mir zufrieden
+sein. Verlassen Sie sich auf mich -- ich werde treulich über sie
+wachen.«
+
+So verging der Abend und nur noch einmal schickte Miß Benthouse zu Mr.
+Burton hinüber, um zu hören, ob er noch keine Nachricht bekommen habe.
+Er mußte es wieder verneinen und wäre gern noch einmal zu ihr geeilt,
+aber Elisa sagte ihm, daß sich die junge Dame aufs Bett gelegt hätte, um
+besser ruhen zu können, und er durfte sie da nicht stören.
+
+Es war zwölf Uhr geworden, und er wollte sich eben zu Bett begeben,
+als es an seiner Thür pochte. Er öffnete rasch, denn er fürchtete eine
+Botschaft, daß sich Jennys Krankheitszustand verschlimmert hätte, aber
+es war nur der Diener des Telegraphenamtes, der ihm -- unter dem Namen,
+mit dem er sich in das Fremdenbuch eingetragen -- eine Depesche brachte.
+Sie mußte von Hamilton sein.
+
+Er hatte sich nicht geirrt. Sie enthielt die wenigen, aber freilich
+gewichtigen Worte, von Ems aus datirt:
+
+»Ich habe ihn -- morgen früh komme ich -- Hamilton.«
+
+»Gott sei Dank,« rief Burton jubelnd aus, »jetzt nehmen die Leiden
+dieses armen Mädchens bald ein Ende.«
+
+Am nächsten Morgen ließ er sich schon in aller Frühe erkundigen, wie
+Miss Benthouse geschlafen hätte -- sie schlief noch, und Elise kam
+selber heraus, um ihm das zu sagen. Gern hätte er sie auch jetzt die
+Nachricht wissen lassen, die er noch gestern Nacht durch den Telegraphen
+bekommen, aber er fürchtete, das durch eine Fremde zu thun -- er wollte
+es ihr lieber selbst sagen, wenn er sie um zwölf Uhr wieder besuchte.
+
+Um die Zeit bis dahin zu vertreiben, frühstückte er unten und las die
+Zeitungen.
+
+So war endlich die lang ersehnte Stunde herangerückt, und unzählige Mal
+hatte er schon nach der Uhr gesehen. Er war in sein Zimmer gegangen,
+um noch vorher Toilette zu machen und wollte eben hinuntergehen, als
+es stark an seine Thür pochte, und auf sein lautes »_Walk in_« -- diese
+sich öffnete und =Hamilton= auf der Schwelle stand.
+
+»_Well Sir_,« lachte dieser, »_how are you?_«
+
+»Mr. Hamilton,« rief Burton, fast ein wenig bestürzt über die so
+plötzliche Erscheinung des Mannes. »Schon wieder zurück? -- das ist
+fabelhaft schnell gegangen.«
+
+»So? beim Himmel! Sie machen gerade ein Gesicht, Sir, als ob es Ihnen zu
+schnell gegangen wäre,« lächelte Hamilton. »Aber ich habe wirklich Glück
+gehabt -- die Einzelheiten erzähle ich Ihnen jedoch später und nur für
+jetzt so viel, daß ich ihn in Ems beim Spiel erwischte und ihn dort auch
+fest und sicher sitzen habe. Mit Ausnahme von etwa zweitausend Pfund,
+die er verreist oder verspielt, oder zum Theil auch wohl hier seiner
+Donna zurückgelassen hat, fand sich noch alles Geld glücklich bei ihm,
+was jetzt unter Siegel bei den Gerichten deponirt ist -- Apropos -- die
+Dame haben Sie doch noch hier?«
+
+»Allerdings,« sagte Burton etwas verlegen, »aber Mr. Hamilton, mit der
+Dame --«
+
+»Machen wir natürlich keine Umstände,« unterbrach ihn Hamilton
+gleichgültig, »und schaffen sie einfach nach England zurück. Dort mögen
+die Gerichte dann das saubere Pärchen confrontiren. Mr. Burton, ich gebe
+Ihnen mein Wort, ich wäre meines Lebens nie wieder froh geworden, wenn
+ich diesen Hauptlump, diesen Kornik nicht erwischt hätte. Haben Sie denn
+indessen bei der Person hier etwas gefunden, und hat sie nicht auch etwa
+Lust gezeigt, durchzubrennen?«
+
+»Mein lieber Mr. Hamilton,« sagte Burton jetzt noch verlegener als
+vorher -- »ich habe -- während Sie abwesend waren, eine Entdeckung
+anderer Art gemacht, die als ziemlich sicher feststellt, daß die --
+junge Dame an der ganzen Sache vollkommen unschuldig ist.«
+
+»Sie befindet sich doch noch hier im Hotel und in Nr. 7?« frug Hamilton
+rasch und fast wie erschreckt.
+
+»Allerdings,« bestätigte Burton, »aber nicht als Gefangene. Miss Jenny
+Benthouse ist die Tochter eines englischen Geistlichen -- ihr Vater
+wohnt in Islington -- sie wurde von jenem Burschen unter seinem falschen
+Namen und unzähligen Lügen entführt, und ich -- werde sie jetzt ihren
+Eltern zurückgeben.«
+
+»So?« sagte Hamilton, der dem kurzen Bericht aufmerksam zugehört hatte,
+während es aber wie ein verstecktes Lächeln um seine Lippen zuckte --
+»aber bitte entschuldigen Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder
+bei Ihnen. Apropos, Sie haben so vollständige Toilette gemacht. Wollten
+Sie ausgehen?«
+
+»Nein -- auf keinen Fall eher wenigstens, als bis wir uns über diesen
+Punkt verständigt haben.«
+
+»Gut, dann bin ich gleich wieder da« -- und mit den Worten glitt er zur
+Thür hinaus und unten in den Thorweg, wo ein Paar Lohndiener standen.
+
+»Sind Sie beschäftigt?« redete er den einen an.
+
+»Ich stehe vollkommen zu Befehl.«
+
+»Schön -- dann haben Sie die Güte und bleiben Sie bis auf weiteres in
+der ersten Etage, wo Sie Nr. 7 und 6 scharf im Auge behalten. Sollte
+dort eine Dame =ausgehen= wollen -- Sie verstehen mich -- so rufen Sie
+mich, so rasch Sie möglicher Weise können, von Nr. 26 ab. Sie haben doch
+begriffen, was ich von Ihnen verlange?«
+
+»Vollkommen.«
+
+»Gut -- es soll Ihr Schade nicht sein -- der Portier unten braucht
+übrigens nichts davon zu wissen -- und indessen schicken Sie mir einmal
+einen Kellner mit einer Flasche Sherry und zwei Gläsern und einigen
+guten Cigarren auf Nr. 26.«
+
+Mit den Worten stieg er selber wieder die Treppe hinauf, horchte einen
+Augenblick an Nr. 7, wo er zu seinem Erstaunen Stimmen vernahm, und
+kehrte dann zu Mr. Burton zurück, der mit untergeschlagenen Armen, und
+offenbar sehr aufgeregt, in seinem Zimmer auf und ab ging.
+
+»Unsere junge Dame da unten scheint Besuch zu haben,« sagte er -- »ich
+hörte wenigstens eben Stimmen in ihrem Zimmer.«
+
+»Bitte, setzen Sie sich, Mr. Hamilton,« bat ihn James Burton, »wir
+müssen über diese Sache, die das höchste Zartgefühl erfordert, erst ins
+Klare kommen, nachher ist alles andere, was wir zu thun haben,
+Kleinigkeit.«
+
+»Sehr gut,« sagte Hamilton -- »ah, da kommt auch schon der Wein. Bitte,
+setzen Sie nur dorthin. Mr. Burton, Sie müssen mich entschuldigen, aber
+ich habe unterwegs solch nichtswürdiges Zeug von Cigarren bekommen, daß
+ich eine ordentliche Sehnsucht nach einem guten Blatt fühle -- nehmen
+Sie nicht auch eine? -- und ein Glas Wein thut mir ebenfalls Noth, denn
+ich habe die ganze Nacht keine drei Stunden geschlafen und überhaupt
+eine abscheuliche Tour gehabt.«
+
+»Und wie erwischten Sie diesen Kornik?«
+
+»Das alles nachher -- jetzt bitte erzählen Sie mir einmal vor allen
+Dingen, welche wichtige Entdeckung Sie hier indeß gemacht haben,« und
+mit den Worten setzte er sich bequem in einem der Fauteuils zurecht,
+zündete seine Cigarre an und sippte an seinem Wein.
+
+Mr. Burton nahm ebenfalls eine Cigarre und es war fast, als ob er nicht
+recht wisse, wie er eigentlich beginnen solle. Aber der Beamte =mußte=
+alles erfahren, er =durfte= ihm nichts verschweigen, schon Jennys
+wegen, und nach einigem Zögern erzählte er jetzt dem Agenten die ganzen
+Umstände seines Zusammentreffens mit der jungen Dame, und gerieth
+zuletzt dabei so in Feuer, daß er selbst die kleinsten Umstände mit
+einer Lebendigkeit und Wahrheit wiedergab, die er sich selber gar nicht
+zugetraut hätte.
+
+Hamilton unterbrach ihn mit keinem Wort. Nur den Namen von Jennys Vater
+ließ er sich genau angeben und notirte ihn, und während James
+Burton weiter sprach, nahm er Dinte und Feder, schrieb etwas in sein
+Taschenbuch und riß das Blatt dann heraus. Auf demselben stand nichts
+weiter als eine telegraphische Depesche, die also lautete:
+
+Burton und Burton, London. Existirt in Islington Reverend Benthouse --
+religiöser Schriftsteller -- ist ihm kürzlich eine Tochter entführt --
+Antwort gleich. Hamilton.
+
+Mr. Burton dann um Entschuldigung bittend, daß er ihn einen Augenblick
+unterbreche, stand er auf und verließ das Zimmer. Am Treppengeländer
+rief er den Lohndiener an.
+
+»Geben Sie diese Depesche an den Portier zur augenblicklichen Besorgung
+auf das Telegraphenamt. Hier ist der Betrag dafür und das für den Boten.
+Nichts bemerkt bis jetzt?«
+
+»Nicht das Geringste.«
+
+»Gut -- =Sie= bleiben auf Ihrem Posten.«
+
+Als er in das Zimmer zu Mr. Burton zurückgekommen war, nahm er seinen
+alten Platz wieder ein und ließ seinen Gefährten ruhig auserzählen,
+ohne ihn auch nur mit einem Wort darin zu stören. Erst als er vollkommen
+geendet hatte und der junge Mann ihn mit sichtlicher Erregung ansah, um
+sein Urtheil über die Sache zu hören, sagte er ruhig:
+
+»Und wissen Sie nun, _my dear Sir_, welches der gescheuteste Streich
+war, den Sie in der ganzen Zeit meiner Abwesenheit gemacht haben?«
+
+»Nun?« frug Burton gespannt.
+
+»Daß Sie der jungen Dame eine Gesellschafterin gegeben haben.«
+
+»Ich durfte sie nicht so lange allein und ohne weibliche Begleitung
+lassen,« rief Burton rasch.
+
+»Nein,« sagte Hamilton, und ein eigenes spöttisches Lächeln zuckte
+um seine Lippen -- »sie wäre Ihnen sonst schon am ersten Tage
+durchgebrannt, gerade wie ihr Begleiter mir.«
+
+»Mr. Hamilton --«
+
+»Mr. Burton,« sagte Hamilton ernst, »zürnen Sie mir nicht, wenn ich vom
+Leben andere Anschauungen habe als Sie, glauben Sie einem Manne, der
+in diesen Fach mehr Erfahrungen gesammelt hat, als Sie vielleicht für
+möglich halten. Danken Sie aber auch Gott, daß ich gerade Ihnen
+jetzt zur Seite stehe, denn Sie wären sonst von einer erzkoketten und
+durchtriebenen Schwindlerin überlistet worden und hätten nachher, außer
+dem Schaden, auch für den Spott nicht zu sorgen gebraucht.«
+
+»Mr. Hamilton,« sagte Burton gereizt, »Sie mißbrauchen Ihre Stellung
+gegen mich, wenn Sie unehrbietig von einer Dame sprechen, die
+gegenwärtig unter =meinem= Schutze steht.«
+
+»Mein lieber Mr. Burton,« sagte Hamilton vollkommen ruhig -- »lassen Sie
+uns vor allen Dingen die Sache kaltblütig besprechen, denn die Polizei
+darf, wie Sie mir zugestehen werden, keine Gefühlspolitik treiben.«
+
+»Die Polizei ist gewohnt,« sagte Burton, »in jedem Menschen einen
+Verbrecher zu suchen.«
+
+»Bis er uns nicht wenigstens das Gegentheil beweisen kann,« lächelte
+Hamilton -- »aber jetzt lassen Sie mich auch einmal reden, denn Sie
+werden mir zugeben, daß ich =Ihrem= Bericht ebenfalls mit der größten
+Aufmerksamkeit gefolgt bin.«
+
+»So reden Sie, aber hoffen Sie nicht --«
+
+»Bitte verschwören Sie nichts, bis Sie mich nicht gehört haben.« Und
+ohne seines Begleiters Unmuth auch nur im Geringsten zu beachten,
+erzählte er ihm jetzt seine Verfolgung des flüchtigen Verbrechers,
+sein Auffinden desselben und dessen Gefangennahme. Er setzte hinzu,
+daß Kornik, nachdem man die bedeutende Summe von Banknoten und andere
+hinreichende Beweise für seine Schuld bei ihm gefunden, völlig gebrochen
+gewesen war und alles gestanden hatte. Ebenso sagte er aus, daß er mit
+einer jungen Dame, Lucy Fallow, von London geflüchtet sei, obgleich er
+von dem Raub des Brillantschmucks nichts wissen wollte.
+
+»Und legen Sie den geringsten Werth auf das Zeugniß eines solchen
+Schurken?« frug Burton heftig.
+
+»Was die Aussage über den Brillantschmuck betrifft, nein,« erwiederte
+ruhig der Polizeimann, »denn ich bin fest davon überzeugt, =daß= er
+darum gewußt hat, und erwartete sogar, denselben bei ihm zu finden. Er
+fand sich aber auch nicht einmal in der Reisetasche, die der Herr, wie
+sich später auswies, beim Portier des Kurhauses deponirt hatte. Die Dame
+hat ihn also noch jedenfalls in Besitz.«
+
+»Aber ich habe Ihnen ja schon dreimal gesagt, daß ich nicht allein
+=ihren= Koffer, sondern auch den dieses Kornik bis auf den Boden
+durchwühlt habe und nicht das geringste Schmuckähnliche hat sich
+gefunden, als eine Korallenschnur mit einem kleinen Kreuz daran -- ein
+Andenken ihrer verstorbenen Mutter.«
+
+Hamilton pfiff leise und ganz wie in Gedanken durch die Zähne.
+
+»Mein bester Mr. Burton,« sagte er dann, »auf Ihr Durchsuchen der
+Koffer, in Gegenwart jener Sirene, gebe ich auch keinen rothen
+Pfifferling -- ich werde das Ding selber besorgen.«
+
+»Und ich erkläre ihnen, Mr. Hamilton,« sagte Burton mit finster
+zusammengezogenen Brauen, »daß Sie das =nicht= thun werden. Sie haben
+Ihren Auftrag erfüllt; der Verbrecher ist geständig in Ihren Händen, und
+meine Gegenwart dabei nicht länger nöthig, so werde ich denn, noch heut
+Nachmittag, in Begleitung der jungen Dame, die Rückreise nach England
+antreten.«
+
+»Mit der Vollmacht für ihre Verhaftung in der Tasche,« lächelte
+Hamilton.
+
+»Diese Vollmachten,« rief Burton leidenschaftlich, indem er die beiden
+Papiere aus der Tasche nahm, in Stücke riß, und vor Hamilton niederwarf,
+»sind auf eine =Verbrecherin= ausgestellt, nicht auf Miss Benthouse. Da
+haben Sie die Fetzen und jetzt stehe ich frei und unabhängig hier und
+will sehen, wer es wagen wird die junge Dame zu beleidigen.«
+
+Hamilton erwiederte kein Wort. Schweigend erhob er sich, las die auf
+den Boden geworfenen Stücke auf, legte sie in ein Packet zusammen und
+steckte sie in seine Tasche.
+
+»Ist das Ihr letztes Wort, Mr. Burton?« sagte er endlich, indem er vor
+dem jungen Manne stehen blieb -- »wollen Sie sich nicht erst einmal
+die Sache eine =Nacht= ruhig überlegen? Bedenken Sie, in welche höchst
+fatale Lage Sie nur Ihrem Vater gegenüber kämen, -- von Lady Clive
+und den englischen Gerichten gar nicht zu reden -- wenn es sich später
+=doch= herausstellen sollte, daß Sie sich geirrt haben.«
+
+»Es ist mein letztes Wort,« sagte der junge Mann bestimmt; »denn ich muß
+meine Schutzbefohlene diesem schmähligen Verdacht entziehen, der auf ihr
+lastet. Um 4 Uhr 20 geht der Schnellzug nach Köln ab; diesen werde
+ich benutzen, und es versteht sich von selbst, daß ich auch jede
+Verantwortung für diesen Schritt einzig und allein trage.«
+
+Hamilton war aufgestanden und ging mit raschen Schritten in dem kleinen
+Gemach auf und ab. Endlich sagte er ruhig:
+
+»Sie wissen doch, Mr. Burton, welchen =Doppel=auftrag =ich= von London
+mit bekommen habe und wie ich, wenn ich danach handle, nur meine Pflicht
+thue.«
+
+»Das weiß ich, Mr. Hamilton,« sagte Burton, durch den viel milderen Ton
+des Polizeimannes auch rasch wieder versöhnend gestimmt, »und ich gebe
+Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen deshalb keinen Groll nachtragen werde.
+Aber auch mir müssen Sie dafür zugestehen, daß ich -- wo mir keine
+Pflicht weiter obliegt -- mein Herz sprechen lasse.«
+
+»Es ist ein ganz verzweifeltes Ding, wenn das Herz mit dem Verstande
+durchgeht« -- sagte Hamilton trocken.
+
+»Haben Sie keine Furcht, daß das bei mir geschieht.«
+
+»So erfüllen Sie mir wenigstens die Bitte,« wandte sich Hamilton noch
+einmal an den jungen Mann, »den ersten Schnellzug nicht zu benutzen und
+den Abend abzuwarten. Ich habe vorhin nach London telegraphirt -- warten
+Sie erst die Antwort ab, Mr. Burton; es ist auch Ihres eigenen Selbst
+wegen, daß ich Sie darum ersuche.«
+
+»Ich bin alt genug, Mr. Hamilton,« lächelte James Burton, »auf mein
+eigenes Selbst vollkommen gut Acht zu geben. Es thut mir leid, Ihren
+Wunsch nicht erfüllen zu können, denn mir brennt der Boden hier unter
+den Füßen. Um 4 Uhr 20 fahre ich und werde dann daheim meinem Vater
+Bericht abstatten, mit welchem Eifer und günstigem Erfolg Sie hier
+unsere Sache betrieben haben. In London hoffe ich Sie jedenfalls
+wiederzusehen.«
+
+Es lag eine so kalte, abweisende Höflichkeit in dem Ton, daß Hamilton
+die Meinung der Worte nicht falsch verstehen konnte: Mr. Burton wünschte
+allein zu sein und Hamilton sagte, ihn freundlich grüßend:
+
+»Also auf Wiedersehen, Mr. Burton,« und verließ dann, ohne ein Wort
+weiter, das Zimmer.
+
+
+IX.
+
+Die Catastrophe.
+
+James Burton sah nach seiner Uhr -- es war schon fast zwei geworden,
+ohne daß er Jenny gesehen -- was mußte sie von ihm denken? Aber jetzt
+konnte er ihr auch gute Nachricht bringen, und ohne einen Moment länger
+zu säumen, griff er nach seinem Hut und eilte hinab.
+
+Auf dem Gang wanderte ein Lohndiener hin und her, der stehen blieb,
+als er auf die Thür zuging. Er hielt aber einen Moment davor, ehe er
+anklopfte, denn er hörte eine ziemlich heftige Stimme, die in Aerger zu
+sein schien. War das Jenny? -- hatte vielleicht Hamilton gewagt? -- er
+klopfte rasch an. Es war jetzt plötzlich alles ruhig da drinnen. Da ging
+die Thür auf und Elise schaute heraus, um erst zu sehen wer klopfe. Sie
+öffnete, als sie den jungen Mann erkannte.
+
+Jenny stand an ihrem Koffer, emsig mit Packen beschäftigt, als er
+das Zimmer betrat, und erröthete leicht, aber sie begrüßte ihn desto
+freundlicher und gab auch über ihr Befinden hinlänglich befriedigende
+Antwort.
+
+Elise zog sich in die Nebenstube zurück und Jenny frug jetzt, mit ihrem
+alten, gewinnenden Lächeln:
+
+»Und so lange haben Sie mich auf Ihren Besuch warten lassen? Ich wußte
+vor langer Weile gar nicht, was =ich= angeben sollte und habe deshalb
+meine Sachen wieder zusammengepackt.«
+
+»Aber nicht meine eigene Unachtsamkeit hielt mich von Ihnen entfernt,
+Miss Jenny,« sagte Burton herzlich, »sondern eine wichtige Verhandlung,
+die ich mit unserem Agenten hatte. Mr. Hamilton ist zurückgekehrt.«
+
+»In der That?« sagte die junge Dame, aber jeder Blutstropfen wich dabei
+aus ihrem Gesicht, und so vielen Zwang sie sich anthat, mußte sie doch
+die Stuhllehne ergreifen, um nicht umzusinken.
+
+»Aber weshalb erschreckt Sie das?« sagte Burton erstaunt. »Die
+Erinnerung an jenen Elenden, den jetzt seine gerechte Strafe ereilen
+wird, mag Ihnen peinlich sein, aber sie darf nie wieder als Schreckbild
+vor Ihre Seele treten.«
+
+»Und er hat ihn gefunden?« sagte Jenny, sich gewaltsam sammelnd -- »oh,
+wenn ich nur das Schreckliche vergessen könnte?«
+
+»Er hat ihn nicht nur gefunden,« bestätigte der junge Mann, »sondern der
+Unglückliche hat auch sein ganzes Verbrechen eingestanden. Was half
+ihm auch Leugnen seiner Schuld, wo man die Beweise derselben in seinem
+Besitz fand?«
+
+»Und jetzt?«
+
+»Lassen wir den Elenden,« sagte Burton freundlich, »Mr. Hamilton,
+der mit allen nöthigen Papieren dazu versehen ist, wird seine
+Weiterbeförderung nach England übernehmen. Ich selbst reise heute
+Nachmittag mit dem Schnellzug nach London ab, und da Sie Ihren Koffer
+schon gepackt haben,« setzte er lächelnd hinzu -- »so biete ich Ihnen,
+mein werthes Fräulein, an, in meiner Begleitung und unter meinem Schutz
+nach England zurückzukehren.«
+
+»Sie wollten --«
+
+»Sie dürfen sich mir wie einem Bruder anvertrauen,« sagte James Burton
+herzlich, »und ich bürge Ihnen dafür, daß ich durchführe, was ich
+unternommen -- trotz allen Hamiltons der Welt,« setzte er mit leisem
+Trotz hinzu.
+
+»So wiedersetzte sich der Herr dem, daß ich Sie begleiten dürfe?« fragte
+rasch und mißtrauisch die Fremde.
+
+»Lassen wir das,« lächelte aber Burton, »ich bin mein eigener Herr und
+in =meiner= Begleitung steht Niemandem ein Recht zu, Sie auch nur nach
+Paß oder Namen zu fragen. Und Sie gehen mit?«
+
+»Wie könnte und dürfte ich einer solchen Großmuth entgegenstreben?«
+sagte das junge Mädchen demüthig -- »ich vertraue Ihnen ganz.«
+
+»Herzlichen, herzlichen Dank dafür,« rief Burton bewegt, »und Sie sollen
+es nicht bereuen. Jetzt aber lasse ich Sie allein, um noch alles Nöthige
+zu ordnen, denn ich muß selbst noch packen und die Wirthsrechnung, wie
+Ihrer Gesellschafterin Honorar, in Ordnung bringen. Sie müssen mir auch
+schon gestatten, für die kurze Zeit unserer Reise Ihren Cassirer zu
+spielen. Beruhigen Sie sich,« setzte er lächelnd hinzu, als er ihre
+Verlegenheit bemerkte -- »ich gleiche das später schon alles mit Ihrem
+Herrn Vater wieder aus, und werde Sorge tragen, daß ich nicht zu Schaden
+komme. Also auf Wiedersehen, Miss -- aber beeilen Sie sich ein wenig,
+denn wir haben kaum noch anderthalb Stunden Zeit bis zu Abgang des
+Zuges,« und ihre Hand leicht an seine Lippen hebend, verließ er rasch
+das Zimmer.
+
+Sobald er unten mit dem Wirth abgerechnet und seine Sachen gepackt
+hatte, wollte er noch einmal Hamilton aufsuchen, um von diesem Abschied
+zu nehmen. Es that ihm fast leid, ihn so rauh behandelt zu haben. Der
+Polizeiagent war aber, gleich nachdem er ihn verlassen, ausgegangen und
+noch nicht zurückgekehrt.
+
+Eigentlich war ihm das lieb, denn er fühlte sich ihm gegenüber nicht
+recht behaglich; zu reden hatte er überdies weiter nichts mit ihm, und
+was Kornik betraf, so besaß er ja selber alle die nöthigen Instruktionen
+und Vollmachten. Er hatte ja nur die Reise nach dem Continent
+mitgemacht, um die Identität seiner Person zu bestätigen -- jetzt, mit
+all den vorliegenden Beweisen und dem eigenen Geständniß des Verbrechens
+war seine Anwesenheit unnöthig geworden.
+
+Die Zeit bis halb vier Uhr verging ihm auch mit den nöthigen
+Vorrichtungen rasch genug -- jetzt war alles abgemacht und in Ordnung,
+und ebenso fand er Jenny schon in ihrem Reisekleid, aber in merkwürdig
+erregter Stimmung. Sie sah bleich und angegriffen aus, und drehte sich
+rasch und fast erschreckt um, als er die Thür öffnete.
+
+»Sind Sie fertig?«
+
+»Und gehen wir wirklich?«
+
+»Zweifeln Sie daran? Es ist alles bereit, und bis wir am Bahnhof
+sind und unser Gepäck aufgegeben haben, wird die Zeit auch ziemlich
+verflossen sein -- Miss Elise,« wandte er sich dann an das junge
+Mädchen, indem er ihr ein kleines Packet überreichte -- »Ihre
+Anwesenheit ist auf kürzere Zeit in Anspruch genommen, als ich selbst
+vermuthete, so bitte ich denn, dieses für Ihre Mühe als Erinnerung
+an uns zu betrachten. Und nun,« fuhr Burton fort, als sich das junge
+Mädchen dankend und erröthend verbeugte -- indem er die Klingelschnur
+zog -- »mag der Hausknecht Ihr Gepäck hinunterschaffen. Eine Droschke
+wartet schon auf uns, und ich will selber recht von Herzen froh sein,
+wenn wir erst unterwegs sind.«
+
+Draußen wurden Schritte laut -- es klopfte an.
+
+»Herein!« rief Burton -- die Thür öffnete sich und auf der Schwelle,
+seinen Hut auf dem Kopf, stand -- Hamilton und warf einen ruhigen,
+forschenden Blick über die Gruppe.
+
+Er sah den Ausdruck der Ueberraschung in Burtons Zügen, aber sein Auge
+haftete jetzt fest auf der jungen Dame an seiner Seite, deren Antlitz
+eine Aschfarbe überzog.
+
+»Sie entschuldigen, meine Herrschaften,« sagte der Polizist mit eisiger
+Kälte, »wenn ich hier vielleicht ungerufen oder ungewünscht erscheinen
+sollte, aber meine Pflicht schreibt es mir so vor. Mein Herr -- Sie sind
+mein Gefangener, im Namen der Königin!«
+
+»=Ihr= Gefangener?« lachte Burton trotzig auf, aber Hamilton trat zur
+Seite und drei Polizeidiener standen hinter ihm, während er auf Burton
+zeigend, zu diesen gewandt, fortfuhr:
+
+»Den Herrn da verhaften Sie und führen ihn auf sein Zimmer oder bewachen
+ihn hier, bis Ihr Commissär kommt. Er wird sich nicht wiedersetzen,
+denn er weiß, daß er der Gewalt weichen muß -- im schlimmsten Fall aber
+brauchen =Sie= Gewalt, und jene Dame dort --«
+
+Die junge Fremde hatte mit starrem Entsetzen den Eintritt des nur zu
+rasch wiedererkannten Reisegefährten bemerkt, und im ersten Moment
+war es wirklich, als ob der Schreck sie gelähmt und zu jeder Bewegung
+unfähig gemacht hätte. Wie aber des Furchtbaren Blicke auf sie fielen,
+schien es auch, als ob sie erst dadurch wieder Leben gewönne, und ehe
+sie Jemand daran verhindern konnte, glitt sie in das Nebenzimmer, neben
+dessen Thür sie stand, warf diese zu und schob den Riegel vor.
+
+»Einer von Ihnen auf Posten draußen, daß sie uns nicht entwischt,« rief
+Hamilton rasch, indem er nach der Thür sprang, aber sie schon nicht mehr
+öffnen konnte -- »und alarmiren Sie die Leute unten, daß sie vor den
+Fenstern von Nr. 6 Wache halten.«
+
+»Mr. Hamilton, Sie werden mir für dieses Betragen Rede stehen!« rief
+Burton außer sich »-- =wer= giebt Ihnen ein Recht, mich zu verhaften?«
+
+»Mein bester Herr«, rief Hamilton, indem er vergebens versuchte, die
+Thür aufzudrücken -- »von einem =Recht= ist hier vorläufig gar keine
+Rede. Sie weichen nur der Gewalt. Alles andere machen wir später ab.«
+
+»Aber ich dulde nicht --« rief Burton und wollte sich zwischen ihn und
+die Thüre werfen, um die Geliebte zu schützen.
+
+»Halt, mein Herzchen!« riefen aber die Polizeidiener, ein Paar
+baumstarke Burschen, indem sie ihn mit ihren Fäusten packten -- »nicht
+von der Stelle, oder es setzt was.«
+
+»Um Gottes Willen«, rief Elise, zum Tod erschreckt, »was geht hier vor?«
+
+»Mein liebes Fräulein,« sagte Hamilton, sich an sie wendend in deutscher
+Sprache -- »beunruhigen Sie sich nicht -- gar nichts was =Sie= betreffen
+könnte. Gehen Sie ruhig nach Hause, Sie haben nicht die geringste
+Belästigung zu fürchten. Soviel kann ich Ihnen aber sagen, daß jene
+Dame =keine= Begleitung weiter nach England braucht, da ich das selber
+übernehmen werde. -- Ah, da ist der Herr Commissär -- Sie kommen wie
+gerufen, verehrter Herr -- das hier,« fuhr er fort, indem er auf James
+Burton zeigte -- »ist jener Kornik, von dem ich Ihnen sagte, und seine
+Dulcinea hat sich eben in dies Zimmer geflüchtet, von wo aus sie uns
+aber ebenfalls nicht mehr entwischen kann.«
+
+»Kornik? -- ich?« rief Burton, indem er sich wie rasend unter dem Griff
+der Polizeidiener wand -- »Schuft Du -- ich selber bin hergekommen,
+jenen Kornik zu verhaften.«
+
+»Und wo haben Sie die Beweise?« sagte Hamilton ruhig in englischer
+Sprache.
+
+»In Deiner eigenen Tasche sind sie,« schrie Burton wie außer sich --
+»das Papier, das ich Dir vor die Füße warf.«
+
+Hamilton achtete gar nicht auf ihn.
+
+»Herr Commissär,« sagte er, sich an den Polizeibeamten wendend -- »jener
+Herr da, dem ich von England aus nachgesetzt bin, hat sich schon unter
+fremdem Namen in das hiesige Gasthofsbuch geschrieben. Sie haben meine
+Instruktionen und Vollmachten gelesen. Sie werden Sorge dafür
+tragen, daß er uns nicht entwischt, während ich jetzt die =Dame=
+herbeizuschaffen suche.« Und ohne weiter ein Wort zu verlieren nahm er
+den dicht neben ihm stehenden kleinen Koffer und stieß ihn mit solcher
+Kraft und Gewalt gegen die Füllung der Thür, daß diese vor dem schweren
+Stoß zusammenbrach. Im nächsten Moment griff er durch die gemachte
+Oeffnung hindurch und schloß die Thür von innen auf.
+
+Wie es schien, hatte aber die junge Fremde gar keinen Versuch zur Flucht
+gemacht. Sie stand, ihre Mantille fest um sich her geschlungen, mitten
+in der Stube, und den Verhaßten mit finsterem Trotz messend, sagte sie:
+
+»Betragen Sie sich wie ein Gentleman, daß Sie zu einer Lady auf solche
+Art ins Zimmer brechen?«
+
+»Miss«, erwiederte der Polizeibeamte kalt, »ich bin noch nicht fest
+überzeugt, ob ich es hier wirklich mit einer =Lady= zu thun habe. Vor
+der Hand sind Sie meine Gefangene. Im Namen der Königin, Miss Lucy
+Fallow, verhafte ich Sie hier auf Anklage eines Juwelendiebstahls.«
+
+»Und welche Beweise haben Sie für eine so freche Lüge?« rief das junge
+Mädchen verächtlich.
+
+»Danach suchen wir eben«, lachte Hamilton, jetzt, da ihm der Ueberfall
+gelungen war, wieder ganz in seinem Element -- »Herr Commissär, haben
+Sie die Güte gehabt, die Frauen mitzubringen?«
+
+»Sie stehen draußen.«
+
+»Bitte, rufen Sie die beiden herein -- ich wünsche die Gefangene
+=genau= durchsucht zu haben, ob sie den bewußten Schmuck an ihrem Körper
+vielleicht verborgen hat. Wir beide werden indeß die Koffer revidiren.«
+
+Eine handfeste Frau -- die Gattin eines der Polizeidiener, trat jetzt
+ein, von einem anderen jungen Mädchen, wahrscheinlich ihrer Tochter,
+gefolgt, beide aber von einer Statur, die für einen solchen Zweck nichts
+zu wünschen übrig ließ, und Hamilton betrat jetzt wieder das Zimmer,
+in dem Burton dem englisch sprechenden Commissär seine eigene Stellung
+erklärte und ihn dringend aufforderte, nicht zu dulden, daß =zwei=
+unschuldige Menschen in so niederträchtiger Weise behandelt würden.
+Seine Erklärung aber, die er dabei gab, daß er seine Vollmacht selber
+zerrissen habe, der falsche Namen, unter dem er selber zugestand sich
+in das Fremdenbuch eingetragen zu haben, und die Thatsache, die er nicht
+läugnen konnte oder wollte, daß Hamilton wirklich ein hochgestellter
+Polizeibeamter in England sei, sprachen zu sehr gegen ihn. Der Commissär
+zuckte die Achseln, bedauerte, nur nach den Instruktionen handeln zu
+können, die er von oben empfinge, und ersuchte Mr. Burton dann in seinem
+eigenen Interesse, sich seinen Anordnungen geduldig zu fügen, da sonst
+für ihn daraus die größten Unannehmlichkeiten entstehen könnten.
+
+Er wollte ihn jetzt auch auf sein eigenes Zimmer führen lassen, als
+Hamilton zurückkehrte und den Commissar ersuchte, dem Herrn zu erlauben,
+hier zu bleiben. Er wünsche, daß er Zeuge der Verhandlung sei.
+
+Ohne weiteres ging er jetzt daran, den Koffer der Dame auf das genaueste
+zu revidiren; obgleich sich aber, in einem geheimen Gefach darin, eine
+Menge der verschiedensten Schmuck- und Werthsachen vorfanden, waren die
+gesuchten Brillanten doch nicht dabei. Auch in Korniks Koffer ließ sich
+keine Spur davon entdecken. Fortgebracht konnte sie dieselben aber nicht
+haben, da sie ja gerade, im Begriff abzureisen, überrascht war, also
+gewiß auch alles werthvolle Besitzthum bei sich trug. Außerdem wußte
+Hamilton genau, daß sie -- wenigstens seitdem er zurückgekehrt war --
+kein Packet auf die Post gegeben hatte, also trug sie es wahrscheinlich
+am Körper versteckt.
+
+Aber auch diese Vermuthung erwies sich als falsch. Die Frau kehrte,
+während der Gefangenen unter Aufsicht des jungen Mädchens gestattet
+wurde, wieder ihre Toilette zu machen, in das Zimmer zurück, und brachte
+nur ein kleines weiches Päckchen mit, das sie bei ihr verborgen gefunden
+hatten. Sie überreichte es dem Commissär, der es öffnete und englische
+Banknoten zum Werth von etwa achthundert Pfund darin fand. Vier Noten
+von 100 Pfund Sterling waren darunter.
+
+»Da bekommen wir Licht,« rief aber Hamilton rasch, als er sie erblickte
+-- »von den Hundert Pfund-Noten habe ich die Nummern, und die wollen
+wir nachher einmal vergleichen. Vorher aber werden wir das Zimmer
+untersuchen müssen, in daß sich Madame geflüchtet hat. Möglich doch, daß
+sie die Zeit benutzte, in der sie dort eingeschlossen war, um ein oder
+das andere in Sicherheit zu bringen.«
+
+»Ich habe alles genau nachgesehen,« sagte die Frau des Polizeidieners
+kopfschüttelnd -- »in alle Polster hineingefühlt und die Gardinen
+ausgeschüttelt, selbst in den Ofen gefühlt und den Teppich genau
+nachgesehen. Es steckt nirgends was.«
+
+»Kann ich eintreten?« rief Hamilton an die Thür klopfend, denn er war
+nicht gewohnt sich auf die Aussagen Anderer zu verlassen. Das junge
+Mädchen, das zur Wache dort geblieben war, öffnete. Die junge Fremde
+stand fertig angezogen, aber todtenbleich, wieder mitten im Zimmer
+und ihre Augen funkelten dem Polizeibeamten in Zorn und Haß entgegen.
+Hamilton war aber nicht der Mann, davon besondere Notiz zu nehmen. Das
+erste, was er that, war, die Jalousieen aufzustoßen, um hinreichend
+Licht zu bekommen, dann untersuchte er Tapeten und Bilder -- auch hinter
+den Spiegel sah er, rückte sich den Tisch zu den Fenstern und stieg
+hinauf, um oben auf die Gardinen zu fühlen. Er fand nichts, aber
+er ruhte auch nicht -- der Teppich zeigte nicht die geringsten
+Unebenheiten. -- Er rückte das Sopha ab und fühlte daran hin -- aber es
+ließ sich kein harter Gegenstand bemerken.
+
+Wie seine Hand an der mit grobem Kattun bezogenen Hinterwand des Sophas
+hinfuhr, gerieth sein Finger in eine nur wenig geöffnete Nath. Er zog
+das Sopha jetzt ganz zum Licht, die Rückseite dem Fenster zugewandt,
+nahm sein Messer heraus und trennte ohne Weiteres die Nath bis hinunter
+auf. Während er mit dem rechten Arm in die gemachte Oeffnung hineinfuhr,
+streifte sein Blick die Gestalt der Gefangenen, die augenblicklich
+gleichgiltig auszusehen suchte, aber es konnte ihm nicht entgehen, daß
+sie seinen Bewegungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgte.
+
+»Ah, Mylady,« rief er da plötzlich, indem seine Finger einen
+fremdartigen Gegenstand trafen -- »ob ich es mir nicht gedacht habe,
+daß Sie die Ihnen verstattete Zeit hier im Zimmer auf geschickte Weise
+benutzen würden. Sie sehen mir gerade danach aus, als ob Sie nicht zu
+den »Grünen« gehörten -- was haben wir denn da? -- eine reizende Kette
+und da hängt auch ein Ohrring darin -- da wird der andere ja wohl auch
+nicht weit sein -- es kann nichts helfen, der Tapezierer muß wieder
+gut machen, was ich jetzt hier verderbe« -- und er riß, ohne weitere
+Rücksicht auf den Schaden, den er anrichtete, Werg und Kuhhaare heraus,
+bis er den gesuchten Ohrring, der etwas weiter hinabgefallen war, fand.
+Auch eine Broche, aus einem einzigen großen Brillant bestehend, kam mit
+dem Werg zu Tag.
+
+»Leugnen Sie jetzt =noch=, Madame?« sagte Hamilton, indem er sich
+aufrichtete und der Verbrecherin das gefundene Geschmeide entgegenhielt.
+Aber die Gefragte würdigte ihn keines Blicks; schweigend und finster,
+wie er sie damals im Coupé gesehen, starrte sie vor sich nieder, und nur
+die rechte Hand hielt sie krampfhaft geballt, die Zähne fest und wild
+zusammengebissen und die Augen, die von solchem Liebesreiz strahlen
+konnten, sprühten Feuer.
+
+»Haben Sie etwas gefunden?« rief ihm der Commissär entgegen.
+
+»Alles was wir suchen,« erwiederte Hamilton ruhig -- »aber ist denn der
+Lohndiener noch nicht vom Telegraphenamt zurück?«
+
+»Eben gekommen. Er wartet im anderen Zimmer auf Sie.«
+
+»Gott sei Dank -- jetzt treffen alle Beweise zusammen,« rief Hamilton
+aus. »Ich ersuche Sie indeß, Herr Commissär, diese junge Dame in =sehr=
+gute Obhut zu nehmen, denn sie ist mit allen Hunden gehetzt.«
+
+»Haben Sie keine Angst -- wir werden das saubere Pärchen sicher
+verwahren.«
+
+»Den =Herrn= kann ich Ihnen vielleicht abnehmen,« lächelte der
+Polizeiagent, indem er in das benachbarte Zimmer trat und dort die für
+ihn eingetroffene Depesche in Empfang nahm. Er erbrach sie und las die
+Worte:
+
+»In Islington giebt es keinen Geistlichen Benthouse. -- In ganz London
+nicht.
+
+ Burton.
+
+Mr. Hamilton, Telegraphenbureau Frankfurt a. M.«
+
+Hamilton trat zum Tisch, auf den er den Schmuck und die telegraphische
+Depesche legte, dann nahm er aus seiner Tasche die Liste der gestohlenen
+Banknoten, die er mit den bei der jungen Dame gefundenen verglich und
+einige roth anstrich, dann fügte er diesen noch ein anderes Papier
+bei, die genaue Beschreibung des im Hause der Lady Clive gestohlenen
+Schmucks, und als er damit fertig war, sagte er freundlich zu Burton:
+
+»Dürfte ich Sie =jetzt= einmal bitten, Mr. Burton, sich diese kleine
+Bescheerung anzusehen? Es wird interessant für Sie sein. -- Lassen Sie
+den Gefangenen nur los, meine Herren.«
+
+»Sie werden sich nie Ihres nichtswürdigen Betragens wegen entschuldigen
+können,« sagte Burton finster, indem er aber doch der Aufforderung Folge
+leistete.
+
+»Auch dann nicht?« frug Hamilton, »wenn ich Sie überzeuge, daß Sie einer
+großen -- einer recht großen Gefahr entgangen sind?« frug Hamilton.
+
+»Einer Gefahr? -- wie so?«
+
+»Der Gefahr, das Schlimmste zu erleben, was ein anständiger Mann, außer
+dem Verlust seiner Ehre, erleben kann -- sich lächerlich zu machen.«
+
+»Mr. Hamilton --«
+
+»Bitte, lesen Sie hier die Depesche Ihres Herrn Vaters -- seine Antwort
+auf meine Anfrage von heute Morgen. -- So -- und hier haben Sie die
+Nummern der aufgefundenen Banknoten -- und hier endlich die genaue
+Beschreibung des Schmucks, von Lady Clives eigener, sehr zierlicher
+Hand. Zweifeln Sie =jetzt= noch daran, daß Sie es nicht mit einer Miss
+Jenny Benthouse, sondern mit der leichtfertigen Lucy Fallow zu thun
+hatten? -- Pst -- lieber Freund, die Sache ist abgemacht« -- sagte
+aber der Agent, als er sah, wie bestürzt der junge Burton diesen nicht
+wegzuläugnenden Beweisen gegenüber stand. -- »Nur noch einen Blick
+werfen Sie jetzt auf die junge Dame,« fuhr er dabei fort, während er
+zugleich die Thür aufstieß und nach der trotzig und wild dastehenden
+Gestalt des Mädchens zeigte. -- »Glauben Sie, das =jene= Dame Ihnen bis
+London gefolgt wäre, und nicht vorher Mittel und Wege gefunden hätte,
+Ihnen unterwegs zu entschlüpfen? Uebrigens habe ich schon von Ems aus,
+so wie ich Korniks Geständniß erhielt, nach London an Lady Clive
+telegraphirt und sie gebeten, mir Jemanden zur Recognoscirung des jungen
+Frauenzimmers herzusenden. Der kann schon, wenn sie ihn rasch befördert
+hat, morgen Mittag eintreffen, und dann, nachdem jeder Vorsicht Genüge
+geleistet und die äußerste Rücksicht genommen ist, um nicht eine
+Unschuldige zu belästigen, werden Sie mir doch zugeben, Mr. Burton, daß
+ich meine Pflicht erfüllt habe.«
+
+James Burton schwieg und sah ein Paar Secunden still vor sich nieder;
+aber sein besseres Gefühl gewann doch die Oberhand. Er sah ein, daß er
+sich von einer Betrügerin hatte täuschen lassen, und Hamilton die Hand
+reichend, sagte er herzlich:
+
+»Ich danke Ihnen, Sir -- ich werde Ihnen das nie vergessen.«
+
+»Ein desto schlechteres Gedächtniß werde =ich= dann für unser letztes
+kleines Intermezzo haben,« lachte der Polizeiagent, die dargebotene Hand
+derb schüttelnd, »und nun, mein lieber Mr. Burton, reisen Sie, wenn Sie
+=meinem= Rath folgen wollen, so rasch Sie mögen, nach England zurück.
+Für die beiden Schuldigen werde ich schon Sorge tragen, und in sehr
+kurzer Zeit denke ich Ihnen nachzufolgen.«
+
+Dem Commissär erklärte Hamilton bald den Zusammenhang der Verhaftung Mr.
+Burtons, den er dadurch nur hatte so lange aufhalten wollen, bis er die
+Beweise von der Schuld jener Person beischaffte -- das war geschehen und
+er selber brachte jetzt die an dem Morgen von Burton zerrissene und von
+ihm wieder sorgfältig zusammengeklebte Vollmacht zum Vorschein, die als
+beste Legitimation für ihn dienen konnte.
+
+Am nächsten Tag traf richtig ein Polizeibeamter, der Miss Lucy
+Fallow persönlich kannte, in Frankfurt ein, und Hamilton erhielt die
+Genugthuung, seinen ersten Verdacht völlig bestätigt zu finden. Gleich
+danach reiste James Burton allein ab, während Hamilton noch einige Tage
+brauchte, bis er die Uebersendung der Wertpapiere und Banknoten durch
+die Nassauische Regierung nach England reguliren konnte. Dann erst
+folgte er mit seinen Gefangenen nach England, von denen er aber nur das
+Mädchen hinüberbrachte.
+
+Kornik machte unterwegs einen verzweifelten Fluchtversuch und sprang,
+während der Zug im vollen Gange war, zwischen Lüttich und Namür aus dem
+Fenster des Waggons; aber er verletzte sich dabei so furchtbar, daß er
+starb, ehe man ihn auf die nächste Station transportiren konnte.
+
+
+
+
+Eine Heimkehr aus der weiten Welt.
+
+
+Was auch Andere dagegen sagen mögen; es ist schon der Mühe werth eine
+größere Reise zu unternehmen, nur um wieder zu kommen.
+
+Manche Freude, manches Glück blüht uns »armen Sterblichen« hier auf
+dieser schönen Welt, keine aber so voll und reich und herrlich, als die
+Freude des Wiedersehens nach langer Trennung -- keine so rein und selig,
+als die Rückkehr in das Vaterland. Soll ich dir deshalb, lieber Leser,
+erzählen wie mir zu Muthe war, als ich nach einer Abwesenheit von 39
+Monden von Weib und Kind, zurück in die Heimath kehrte? -- Ich will's
+versuchen.
+
+Ich kam damals -- im Juni 52 -- nach einer ununterbrochenen Seereise von
+129 Tagen direct von Batavia. Siebzehn von den 129 hatten wir uns allein
+bei faulem Wetter in Canal und Nordsee herumgetrieben -- 17 Tage auf
+einer Strecke, die wir recht gut hätten in =dreien= zurücklegen können.
+Und so dicht dabei an der heimischen Küste; es war eine verzweifelte
+Zeit; doch sie ging auch vorbei, und endlich, endlich rasselte der Anker
+in die Tiefe.
+
+Das ist ein wunderbar ergreifender Ton, den man nicht allein =hört=,
+sondern auch =fühlt=, denn das ganze Schiff rasselt und zittert mit, und
+wie die Eisenschaufel nur den Boden berührt und mit einem Ruck festhakt,
+fühlt man sich auch daheim.
+
+=Ich war daheim!= ob Bremen, ob Sachsen, ob Oestreich, solchen
+Unterschied kennt man nur innerhalb der verschiedenen Grenzpfähle: für
+uns Deutsche da draußen ist alles nur ein Deutschland, ein Vaterland,
+und wie die Matrosen nach oben liefen, die Segel festzumachen, und
+die Kette indessen, soweit das anging, eingezogen und um die Winde
+geschlagen wurde, hing mein Blick an dem grünen Ufer des Weserstrandes,
+an dem Mastenwald des nicht fernen Bremerhafens, und konnte sich nicht
+losreißen von dem lieben, lieben Bild.
+
+Aber nicht lange sollte mir Zeit zum Schauen bleiben. Der Lootse
+hatte uns schon gesagt, daß wir wahrscheinlich noch zeitig genug nach
+Bremerhafen kämen, um das Nachmittags-Dampfboot nach Bremen zu benutzen.
+Alle unsere Sachen waren gepackt. Jetzt dampfte das Boot aus dem Hafen
+heraus und legte bei -- jetzt kam ein kleines Boot vom Ufer ab, uns
+hinüber zu führen. Kisten und Koffer wurden Hals über Kopf hinunter
+gehoben, kaum blieb mir noch Zeit, den Seeleuten, mit denen ich so lange
+Monde als einziger Passagier verlebt, die Hand zu schütteln, und schon
+glitten wir über den stillen Strom, dem, unserer harrenden, Dampfer zu.
+
+An Bord fanden wir eine große Gesellschaft von Herren und Damen und hier
+zum ersten Mal dachte ich daran, daß ich ja in Bremerhafen, ehe ich
+die »Stadt« selber betrat, meine etwas sehr mitgenommene Toilette hatte
+erneuen wollen. Mein Schuhwerk besonders befand sich in höchst
+traurigen Umständen, und meine =besten= Schuh waren querüber vollständig
+aufgeplatzt. Aber das ging jetzt nicht mehr an -- wer kannte mich auch
+und wo behielt ich Zeit mich jetzt um =solche= Dinge zu bekümmern? --
+Den Strom hinauf glitten wir, der für mich der Erinnerungen so viele
+trug, und wie Dorf nach Dorf hinter uns blieb, wie die Sonne tiefer und
+tiefer sank, und hie und da schon einzelne Hügel aus dem flachen Land
+hervorschauten, grüßten mich die Nachtigallen, die lieben Waldsänger
+unserer Heimath mit ihrem zaubrisch süßen Sang.
+
+Und weiter flog das Boot; hinter dem Rad stand ich, aus dem die Wellen
+schäumten, horchte den Nachtigallen am Ufer, und schaute nach den alten
+gemüthlichen Dorfkirchthürmen hinüber, bis von weitem, aber schon mit
+einbrechender Dunkelheit, die Thürme der alten Handelsstadt Bremen
+herüber blickten.
+
+Jetzt hielt das Boot; dicht unter den dunkeln Häusermassen lagen wir, in
+welche nur schmale schräge Einschnitte -- kleine Gäßchen, die zum Ufer
+hinunterführen -- einliefen; Karrenführer kamen an Bord, denen ich mein
+Gepäck übergab, und wenige Secunden später stand ich zum ersten Mal
+wieder nach 129 Tagen draußen auf =Pflaster=, auf =deutschem= Grund
+und Boden, und es war mir zu Muthe, als ob ich hätte über den Boden
+=fliegen= können.
+
+Von da an war jeder Schritt, den ich weiter that, ein =Genuß= für mich
+und langsam, ganz langsam verfolgte ich im Anfang meinen Weg, den frohen
+Becher nun auch ordentlich auszukosten.
+
+In vielen Häusern war schon Licht angezündet, und die Leute saßen drin
+bei ihrem Abendbrod, hie und da aber standen sie auch noch plaudernd,
+und sich des schönen Sommerabends freuend, in den Thüren -- auch
+=deutsch= sprachen sie, gutes ehrliches deutsch, nicht mehr malayisch
+oder holländisch, oder englisch, französisch, spanisch oder was sonst
+noch, was ich seit den letzten Jahren gewohnt war, vor fremden Thüren zu
+hören -- die Männer rauchten lange Pfeifen, die Frauen strickten lange
+Strümpfe, und die Kinder hetzten sich über den Weg hinüber und herüber,
+und lachten und jubelten.
+
+So wanderte ich mitten zwischen ihnen durch, noch ein Fremder und
+Heimathloser in der weiten Stadt, und doch vielleicht der glücklichste
+Mensch, den in diesem Augenblick ganz Bremen umschloß.
+
+Jetzt hatte ich endlich das Handlungshaus erreicht, in dem ich Briefe
+für mich von daheim finden sollte. -- Die ersten wieder seit langer,
+langer Zeit, denn die =letzten= Briefe, die ich vor sechs Monaten in
+Batavia erhalten, waren noch außerdem über sechs Monate alt gewesen.
+
+Der Chef war nicht zu Haus, aber ein junger Mann vom Geschäft, dem ich
+meinen Namen nannte, sagte: »er glaube, daß ein Brief für mich oben
+liegen müsse,« und wie entsetzlich langsam ging er die Treppe hinauf,
+danach zu suchen. -- Endlich waren wir oben -- zwei, drei Gefache suchte
+er durch -- da war er richtig -- ich hielt ihn fest in der Hand und weiß
+wahrhaftig nicht, wie ich wieder aus dem Haus und durch die Stadt in
+mein Hotel gekommen bin; aber ich sah die Leute nicht mehr, die vor den
+Häusern standen, oder an ihren hellerleuchteten Tischen saßen. So rasch
+mich meine Füße trugen, eilte ich in den Lindenhof, ließ mir ein Zimmer
+geben, bestellte Licht und Thee und saß kaum zehn Minuten später am
+geöffneten Fenster vor den lieben, lieben Zeilen, die mir Kunde von den
+Meinen brachten. -- Dann erst gab ich mich den übrigen Genüssen hin, und
+wer nicht selber einmal solang von daheim fort und besonders so viele
+Wochen, ja Monate hintereinander auf See gewesen, wird schwer begreifen
+können, mit welch behaglichem Gefühl den seemüden Wanderer alle jene
+tausend Kleinigkeiten erfüllen, die wir im gewöhnlichen Leben gar nicht
+mehr beachten, und deren =Dasein= wir oft nur bemerken, wenn sie einmal
+=fehlen=.
+
+Erstlich die Annehmlichkeit von frischem =Fleisch=, frischer =Butter=,
+=Milch= und =Eiern= -- dann das Bewußtsein, daß das Theezeug =fest= auf
+dem Tisch stand, und nicht brauchte in hölzerne Gestelle eingestemmt
+zu werden -- und doch war ich mit meiner Tasse noch im Anfang
+außerordentlich vorsichtig. Dazu das Geräusch rollender Wagen auf dem
+Pflaster unten, das Schlagen der großen Thurmuhren, das ich in einer
+Ewigkeit nicht gehört, das Lachen und Plaudern der Menschen unten
+auf dem großen freien Platz, und kein Schaukeln dabei, kein Hin- und
+Wiederwerfen -- Alles das genoß ich einzeln und mit vollem geizenden
+Bewußtsein dieser wenigen Momente, und wenn es mir auch im Anfang noch
+manchmal so vorkommen wollte, als ob der Lehnstuhl auf dem ich saß leise
+hin und herschwankte, -- das alte Gefühl noch von dem Schiffe her --
+überzeugte ich mich doch bald, daß das nur Täuschung sei.
+
+Indessen war es dunkel und still draußen in der Stadt geworden; wieder
+und wieder hatte ich den Brief gelesen und lag jetzt in meinem Stuhl am
+offenen Fenster, eine ganze Welt voll Seligkeit im Herzen.
+
+Unten wurden murmelnde Menschenstimmen laut -- ich hatte sie schon eine
+Weile wie im Traum gehört, aber nicht darauf geachtet; auch ein paar
+Laternen sah ich über den Platz kommen. Da plötzlich klangen von vier
+kräftigen Männerstimmen die Töne des herrlichen Mendelssohn'schen
+Liedes:
+
+ »Wer hat dich, du schöner Wald,
+ Aufgestellt so hoch da droben ...«
+
+zu mir herauf, das =erste= deutsche Lied und Männerchor wieder, das
+ich seit langen Jahren hörte, und wie hatte ich mich danach gesehnt. --
+Neben mir öffnete sich ein Fenster -- es fiel mir jetzt wieder ein,
+daß eine berühmte Opernsängerin meine Nachbarin war, die hier in Bremen
+gastirt hatte und morgen früh wieder abreiste. Der Kellner hatte mir
+davon gesprochen, als er das Theegeschirr hinausnahm.
+
+Und jetzt verklangen die Töne, um wieder mit einem anderen, lebendigeren
+Liede zu beginnen; aber voll und weich klangen sie zu mir herauf --
+voll und weich war mir das Herz dabei geworden und -- ich brauche mich
+deshalb nicht zu schämen, daß mir die hellen Thränen in den Bart liefen.
+
+Noch immer saß ich so, und die Sänger waren schon lange fortgezogen; die
+Uhren in der Stadt brummten die zehnte Stunde, als ein anderer, nicht so
+harmonischer Ton all' die schwermüthigen Gedanken im Nu verscheuchte.
+
+»Tuht!« blies der Nachtwächter unten und sang sein melancholisch Lied,
+und ich sah den dunklen Schatten des Mannes unten mit schwerem Schritt
+über den Platz schreiten, folgte ihm mit den Augen so weit ich konnte,
+und horchte auf die, aus ferneren Stadttheilen herüberschallenden
+Antworten noch lange, lange. -- Und dann kamen Nachtschwärmer, die
+einen Hausschlüssel hatten und ich hörte wie die Thüren auf- und wieder
+zugemacht wurden -- und dann schlugen die Uhren wieder ein Viertel,
+Halb, drei Viertel und Elf. Immer konnte ich mich noch nicht losreißen
+von dem Platz am Fenster, bis ich endlich lange nach elf mein
+weiches Lager suchte. Und wie herrlich schlief ich, denn meine alte
+Seegras-Matratze an Bord hatte ich in den vier Monaten so hart wie ein
+Bret gelegen, und das weiche Roßhaarbett bot einen neuen Genuß.
+
+Am nächsten Morgen war ich früh auf den Füßen, Manches zu besorgen,
+meine mitgebrachten Kisten auf die Fracht zu geben und liebe Freunde zu
+besuchen. Eine Zeitung hatte ich noch nicht in die Hand bekommen und
+das Einzige, was ich bis jetzt von einer politischen Neugestaltung der
+letzten 8 Monate wußte, war die Wahl Louis Napoleons zum Präsidenden der
+Republik. Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen anriefen,
+hatte uns ein altes Stück englischer Zeitung -- halb durchgerissen, mit
+einer tüchtigen Steinkohle als Gewicht hineingewickelt -- zugeworfen
+-- darauf fanden wir einen Theil der Einzugsfeierlichkeiten des neuen
+Präsidenten beschrieben -- das war Alles was wir von Europa überhaupt
+erfuhren -- und sonderbarer Weise gleich das Wichtigste.
+
+Freund Andree, den ich in Bremen antraf, ersetzte mir aber alle
+Zeitungen, denn mit kurzen bündigen Worten gab er mir einen flüchtigen,
+aber vortrefflichen Ueberblick des Geschehenen -- du lieber Gott, es war
+wenig Tröstliches, das ich erfuhr -- wie traurig sah es in dem armen
+Deutschland aus, und was war aus der Freiheit, aus den Freiheiten
+geworden, die wir 48 erträumt. Der alte Fluch der Uneinigkeit hatte
+wieder seine giftigen Früchte getragen, und Alles was ich aus dem
+Sturm der letzten Jahre gerettet fand -- und das überhaupt der Mühe
+des Aufhebens lohnte, war: die =Erinnerung= an das Parlament; das
+Bewußtsein, daß wir ein solches wirklich =gehabt= hatten, daß es also
+nicht zu den Schattenbildern gehörte und uns einmal, es möchte nun
+dauern so lange es wollte, wieder werden =mußte=. -- Jetzt freilich
+feierte der Bundestag wieder seine Ferien wie vordem -- ein Dorn im
+Fleisch der Deutschen, ein Spott und Hohn für das Ausland. -- Die
+=deutschen= Schiffe, die noch draußen auf der Rhede von Bremerhafen
+unter der schwarz-roth-goldenen Flagge lagen, warteten auf den Hammer
+des Auctionators, die Schmach von Schleswig-Holstein und Olmütz brannte
+auf unserem Herzen und -- was ich außerdem von Bekannten und Freunden
+hatte, saß im Zuchthaus oder war verbannt. Tröstliche Nachrichten für
+einen Heimkehrenden; aber es überraschte mich kaum. Als ich Deutschland
+im März 49 verließ, saß der mit den deutschen Farben bewimpelte
+Staatskarren schon fest im Schlamm, und man brauchte damals kein Prophet
+zu sein, ihm sein Schicksal vorher zu sagen. Das Alles hatte sich jetzt
+erfüllt, die Reaction grünte und blühte, und wie in der Argentinischen
+Republik, that es den würdigen Staatsmännern nur leid, daß sie nicht
+auch Wald und Himmel mit ihren respectiven Landesfarben schwarz und weiß
+oder schwarz und gelb oder weiß und blau anstreichen konnten.
+
+Was half's! Es mußte ertragen werden, und nur die =Hoffnung= konnte uns
+selbst unser damaliger Zustand nicht rauben.
+
+In Bremen besorgte ich so rasch als möglich was ich zu besorgen hatte,
+fuhr dann nach Hamburg hinüber, dort einige von Sidney herübergeschickte
+Sachen, meist Indianische Waffen, in Empfang zu nehmen, und eilte nun,
+so rasch mich Dampf und Eisenschienen bringen konnten, nach Leipzig,
+meine damals in Wien lebende Familie wieder zu sehen.
+
+Unterwegs mußte ich erst noch an der Preußischen Grenze eine
+Paßplackerei überwinden. Mein Paß war seit drei Monaten verfallen und
+außerdem in einem Zustand, wie ihn ein Preußischer Grenzbeamter
+wohl kaum je unter Händen gehabt. In Brasilien und besonders in der
+Argentinischen Republik wie in Batavia, selbst von den französischen
+Behörden auf Tahiti war freilich allen Anforderungen, die selbst
+ein deutsches Postbüreau stellen konnte, genügt; an allen übrigen
+Landungsplätzen hatte sich aber kein Mensch um einen Paß bekümmert, und
+ich war nicht leichtsinnig genug gewesen, mir unnöthige Laufereien und
+Geldausgaben zu machen. Nur um die ganze Route auf dem Paß zu haben
+visirte ich ihn mir, aus angeborenem Pflichtgefühl, dort selbst, und
+diese Mißachtung eines =officiellen= Visum schien die Polizeibeamten am
+meisten zu erschüttern. Trotzdem behandelten sie mich humaner als ich
+erwartet hatte, und mit einem sanften Verweis über mein rücksichtsloses
+Handeln: »Aber lieber Herr, Sie reisen in der ganzen Welt herum und
+lassen nirgends visiren,« wurde mir erlaubt, meine Reise ungehindert
+fortzusetzen.
+
+In Leipzig, wo ich einen Tag bleiben mußte, kam ich Abends spät an,
+und wollte noch meinen dort wohnenden Schwager aufsuchen. Seine Adresse
+hatte ich; ich wußte nämlich die Straße und Hausnummer, es war aber
+schon so dunkel, daß ich die Nummer nicht mehr erkennen konnte, und die
+vollkommen menschenleere Quergasse langsam niederschreitend, hoffte ich
+an irgend einem Haus einen Menschen zu finden, den ich fragen konnte.
+
+Da verließ Jemand vor mir eine Thür und ging die Straße hinab; es war
+ein Mann in Hemdsärmeln, jedenfalls ein Markthelfer, mehr konnte ich in
+der Dunkelheit nicht erkennen. Als ich ihn eingeholt, frug ich ihn, ob
+er nicht zufällig wisse, in welcher Gegend hier Nr. 22 liege.
+
+»Ja wohl, Herr Gerstäcker,« sagte der Mann so ruhig, als ob er mir noch
+gestern und alle Tage hier in derselben Straße begegnet wäre, und wir
+jetzt hellen Sonnenschein und nicht finstere Nacht gehabt hätten. Es
+lag ordentlich etwas Geisterhaftes in dieser Nennung meines Namens unter
+solchen Umständen, und unwillkührlich frug ich, »aber kennen Sie mich
+denn?« -- »Na, werd' ich =Sie= nicht kennen,« sagte der Mann -- »da
+drüben ist gleich das Haus.« -- Incognito hätte ich =hier= nicht reisen
+können.
+
+Den nächsten Tag verbrachte ich, wie schon gesagt, in Leipzig, um vor
+allen Dingen einen neuen Paß nach Oestreich zu bekommen. Ein
+merkwürdiges Gefühl war es mir aber dabei, durch die alten bekannten
+Straßen zu gehen und in den Läden, in den Fenstern die nämlichen
+Menschen mit der nämlichen Beschäftigung zu sehen, wie ich sie vor
+langen Jahren verlassen hatte. Die waren nicht fort gewesen in der
+ganzen Zeit; die hatten Tag für Tag ihrem Beruf an derselben Stelle
+obgelegen und während mir eine Fluth von Erinnerungen durch die Seele
+ging, kannte die ihre kein anderes Bild, als diese selben engen Straßen
+boten.
+
+So sitzen hier Leute, die ich mich besinnen kann auf der nämlichen
+Stelle gesehen zu haben, als ich noch, ein Knabe, da in die Schule ging.
+Sie kamen mir damals schon alt und ehrwürdig vor und sahen heute genau
+noch so aus; nur daß sie früher keine grauen Haare hatten. Dieselben
+Menschen sind immer dageblieben, und wo bin ich indessen herumgewandert
+-- was hab' ich erlebt -- was gesehen -- und wie drängt es mich noch
+immer neuen Scenen entgegen zu eilen, während diese still und genügsam
+in dem engen Kreise sich bewegen, den ihnen die eigene Wahl oder das
+Schicksal angewiesen. Und wenn wir sterben, ruhen wir vielleicht neben
+einander, und die Erinnerung ist todt und fort.
+
+Und soll ich dir, freundlicher Leser, jetzt erzählen, wie ich nach Brünn
+kam, bis wohin mir meine Frau mit dem Kind entgegen fahren wollte -- wie
+ich mich von Nachtfahrten und übermäßiger Anstrengung zum Tod erschöpft
+in meinen Kleidern auf das Bett geworfen hatte, den um Mitternacht
+eintreffenden Zug dann zu erwarten? Wie mich der Kellner nicht geweckt,
+und plötzlich mitten in der Nacht Frau und Kind, die ich in 39
+Monden nicht gesehen, im Zimmer standen, und wie der kleine, indessen
+vierjährig gewordene Bursch, seine Aermchen um meinen Nacken legte und
+mit seiner lieben Stimme flüsterte: »du weggelaufener Papa?« -- Es geht
+nicht -- es geht wahrhaftig nicht, Worte sind nicht im Stande das zu
+beschreiben; das muß erlebt, empfunden sein, und -- ich möchte gleich
+wieder auf Reisen gehen, nur um =den= Augenblick noch einmal zu erleben.
+
+
+
+
+Wenn wir einmal sterben.
+
+
+Oft, wenn ich in meinem Zimmer sitze und mein Blick über die aus allen
+Welttheilen zusammengetragenen Gegenstände schweift, die mir so lieb
+sind, weil sich an jedes einzelne eine, oft freudige, oft bittere
+Erinnerung knüpft, fällt mir eine Scene aus früherer Zeit ein.
+
+In einem großen alten Hause in ** hatte ein alter Herr viele lange Jahre
+hindurch so abgeschlossen gelebt, daß er mit Niemandem da draußen --
+wenigstens nie direkt -- in Berührung kam. Eine alte Haushälterin und
+ein alter Gärtner besorgten seine Arbeiten, und nur Abends, wenn in
+dem obersten Erkerstübchen, wo die alte Haushälterin schlief, Licht
+angezündet wurde, sah man, daß die Leute drinnen noch lebten, denn
+sonst ließ sich den ganzen Tag keine Seele, weder an einem der dicht
+verhangenen Fenster noch in der Thür blicken.
+
+Der Eigenthümer selber verließ seine Wohnung nie -- einen Tag im Jahre
+ausgenommen -- am ersten Weihnachtsfeiertag, und dann auch nur -- mochte
+es wettern und stürmen, wie es wollte -- um hinaus auf den Gottesacker
+zu gehen und daselbst ein Grab zu besuchen. Allerdings hatten sich
+die Müßiggänger in der Stadt schon die größte Mühe gegeben, um
+herauszubekommen, wer unter dem kleinen einfachen Hügel ruhe, an dem
+der Greis eine volle Stunde betete -- aber vergebens. Kein Kreuz, keine
+Tafel kündete den Namen. Der frühere Todtengräber war gestorben, aus
+dem Buch, das er mit wunderlichen Zeichen und Figuren geführt, ließ sich
+nichts Bestimmtes mehr herausfinden, und die Leute sahen sich gezwungen,
+ihre eigenen Geschichten darüber zu ersinnen. Es läßt sich denken, daß
+die abenteuerlichsten Gerüchte die Stadt durchliefen -- aber auch nur
+eine Zeit lang. Wie der alte Herr Jahr nach Jahr das nämliche trieb,
+dabei Niemandem etwas in den Weg legte, wurde man es endlich müde,
+sich um ihn zu bekümmern, und erst sein Tod erweckte die schon fast
+vergessenen Gerüchte von Neuem -- allein auch sein Tod brachte keine
+Aufklärung über sein früheres Leben.
+
+Wie es mit dem Testament gewesen war, weiß ich nicht mehr, nur soviel
+erinnere ich mich, daß die Erben keineswegs zufrieden sein mußten,
+denn große Legate waren den Dienern vermacht, und die außerordentlich
+einfache und dadurch fast werthlose Einrichtung des Hauses sollte in
+dessen Räumen selber öffentlich versteigert werden.
+
+Nach alle dem läßt es sich denken, daß ein großer Theil der Bewohner
+von ** neugierig war, die Räume zu betreten, die bis jetzt von dem alten
+wunderlichen Mann als unnahbares Heiligthum verschlossen und verriegelt
+gehalten waren. Die von dem Magistrat herbeorderten Beamten hatten
+wirklich ihre Noth, die zudringlichen Gaffer in ihren Schranken zu
+halten, damit sich im Gedränge nicht auch verworfenes Gesindel mit
+einschlich und die Hand an fremdes Eigenthum legte.
+
+Stube nach Stube wurde deshalb nur derart geöffnet, daß man eine andere
+erst aufschloß, wenn die in der einen befindlichen Gegenstände verkauft
+und ihren jetzigen Besitzern überwiesen waren. Dadurch bekamen es die
+Neugierigen endlich satt, sich nur herumstoßen und drängen zu lassen,
+ohne weiter etwas zu sehen, als öde Zimmer und altmodische Möbel und
+Schränke. Nach und nach verliefen sich die Meisten und es blieben fast
+nur Solche zurück, die wirklich Lust zu kaufen hatten.
+
+So gelangten wir endlich, nachdem eine Masse von Schränken, Tischen,
+Stühlen, alten Bildern, zu Spinneweb gewaschenen Gardinen und hundert
+andern Kleinigkeiten verkauft oder vielmehr um einen Spottpreis
+verschleudert waren, in die Studirstube des alten Mannes -- wenn
+ein Platz so genannt werden kann, in dem ein nur wenig benutzter
+Schreibtisch und ein kleines dürftiges Regal mit einigen zwanzig, meist
+französischen und holländischen Büchern stand.
+
+Der Verstorbene war augenscheinlich kein Gelehrter gewesen, das aber
+hier jedenfalls der Platz, wo er seine meiste Zeit, die langen Jahre
+seiner Einsamkeit, träumend und durch nichts gestört verbracht, und
+es überkam mich ein eigenes und drückendes Gefühl, als ich die kalten,
+gleichgültigen Gesichter sah, die sich hier jetzt mit prüfenden Blicken
+in dem engen Raum umschauten und die Gegenstände taxirten. Es war mir,
+als ob ein Grab entweiht würde, das Grab einer Seele, deren Träume bis
+jetzt hier eingesargt gewesen.
+
+Aber was kümmerte das die Käufer oder den Auctionator, der Stück nach
+Stück ruhig und gleichmüthig unter den Hammer brachte! Vor dem Tische
+stand ein alter, mit Leder überzogener Lehnstuhl, über dem Tisch hing
+ein kleines, ziemlich mittelmäßig ausgeführtes Bild, eine Landschaft
+mit einer alten knorrigen Eiche im Vordergrund, die an dem Ufer eines
+Weihers stand. Unter der Eiche lag ein Frauenhut und ein Brief. In
+dem Lehnstuhl war der alte Mann gestorben, und auf dem Tisch stand ein
+kleines flaches Mahagonikästchen.
+
+Ein Jude kaufte den Tisch, den Lehnstuhl und nachher das Kästchen auch,
+das Bild, da Niemand darauf bieten wollte, bekam er zu. In dem Kästchen
+stak der Schlüssel, er öffnete es, es lagen einige Sachen darin, und er
+wühlte mit der Hand darin herum. Als ihm das Kästchen zugeschlagen war,
+drehte er es um und schüttete den Inhalt auf den Boden. Es enthielt
+auch nichts Aufhebenswerthes: ein paar trockene, schon fast verkrümelte
+Blumen, ein Stückchen Holz mit ein paar dürren Blättern, ein paar
+Streifen vergilbtes Papier mit unleserlichen Zügen, ein kleines
+blauseidenes Band, einen zerschnittenen Handschuh und noch eine Anzahl
+anderer, eben so werthloser verwitterter Dinge. Was sollte der Käufer
+mit dem Plunder machen? er wurde später mit dem übrigen Staub und
+Gerumpel hinaus gekehrt, und doch war er das Heiligthum eines ganzen
+Lebens gewesen.
+
+Und wenn =wir= einmal sterben?
+
+In meinem Zimmer hängen eine Unmasse von werthlosen Dingen, Waffen aus
+allen Welttheilen von Stein, Holz, Stahl, Wallroß- und Haifischzähnen,
+und wenn ich einmal sterbe, finden sie vielleicht ihren Weg in ein
+Naturaliencabinet, wo dann der Aufseher mit Hülfe des Katalogs den
+Besuchern erklären kann: das Stück stammt dort, jenes von da her,
+diese Waffen führen die australischen Eingebornen, jene sind auf den
+Südseeinseln, in Afrika, in Californien, in Südamerika, in China, in
+Java daheim -- das bleibt Alles, denn die Erinnerung ist todt, die ihnen
+jetzt Leben verleiht.
+
+Jenes alte lederne Jagdhemd, mit seinen indianischen Ausfranzungen,
+habe ich aus selbsterlegten Hirschdecken auch selber gegerbt und genäht
+und manches lange Jahr getragen; jenes alte Messer führte ich
+zweiundzwanzig Jahr in Freud und Leid; jene Bolas holte ich mir aus den
+chilenischen Cordilleren, und wie der Blick darauf fällt, sitze ich
+wieder bei dem tollen Trinkgelage jener Stämme, sehe die mit trübem
+Aepfelwein gefüllten Kuhhörner im Kreis herumgehen und die junge dicke
+Kazikentochter mir gegenüber, die mir jenes Diadem von bunten Perlen
+gab. Die Lanze dort schleuderte einst ein australischer Wilder nach mir;
+jene Mumienhand steckte mir ein junger ägyptischer Epigone unter den
+Tempelsäulen von Karnak in die Tasche, da ich sie ihm nicht um den
+üblichen Sixpence abkaufen wollte; jenen Bogen erhandelte ich von einem
+californischen Indianer um selbstgegrabenes Gold aus seinen Bergen. Mit
+diesen Stücken trockenen Guiavenholzes rieb sich ein bildschönes Mädchen
+auf Tahiti einst Feuer, um ihre Cigarre daran anzuzünden; jenen
+Wallfischzahn brach ich selber aus dem Kiefer eines frischgefangenen
+Cachelot; den Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß arbeitete ich mir
+inmitten eines furchtbaren Sturmes am Cap Horn; das Hirschgeweih da oben
+holte ich mir aus der Bandong-Ebene in Java, und jene kleinen
+ungeschickt geschnittenen Figuren aus vegetablischem Elfenbein kaufte
+ich auf dem Markt zu Quito.
+
+Und welche Unzahl von Kleinigkeiten, die ein Anderer unbedingt zum
+Kehrichthaufen verdammen würde, bilden die Schätze, die ich um mich her
+aufgehäuft! Vier Steinbrocken, die jeder Geologe verächtlich bei Seite
+werfen würde: ein gewöhnliches Stück Kalkstein mit ein paar dunklen
+Flecken darauf -- die Schweißtropfen meines ersten starken Gemsbocks,
+den ich hoch am Karwendelgebirg in Tyrol in voller Flucht durch's Herz
+schoß; ein gewöhnlicher Kieselstein, aus den Wassern des Pozuzu in Peru
+-- die Erinnerung an den Uebergang jenes reißenden Bergstromes, an einer
+einzelnen wilden Rebe; ein kleines Stück Granit vom 16,000 Fuß hohen
+Gipfel der Cordilleren in Peru; ein anderes verwittertes Gestein vom
+höchsten Paß der La Plata-Staaten nach Chile; eine gelbe Feder vom
+Kopf eines Kakadu, des ersten, leider nicht des einzigen, den ich im
+australischen Wald erlegen und verzehren mußte, um nicht zu verhungern;
+ein langes Stück Koralle, das ein australisches Mädchen als einzigen
+Schmuck und Kleidungsstück durch den Nasenknorpel trug; ein rothes Band,
+das ich, in dem jetzt verschütteten Mendoza, im Knopfloch führen mußte,
+um unter Rosa's Regierung einen Paß auf der Polizei zu bekommen; der
+alte hölzerne Quirl und Löffel, mit dem ich in Ecuador tagtäglich, lange
+Monate hindurch meine Chocolade quirlte und rührte; selbstgewaschenes
+Gold aus Californien; Silber aus Cerro de Pasco, der höchsten Stadt der
+Welt; Wüstensand aus Aegypten; künstliche Federblumen aus Brasilien, und
+was mein Schreibtisch an geheimen Schätzen birgt, an trockenen Blumen
+und an Liebeszeichen aus der Jugendzeit, Du lieber Gott, was Anderes
+ist das, als was der Trödler dort in dem alten Haus, aus jenem
+Mahagonikasten auf die Erde schüttete: -- und doch ein Lebensalter
+hindurch mit dem eigenen Herzblut erkauft und gehegt und gepflegt!
+
+Und wer von uns Allen hat nicht solche Liebeszeichen, wem von uns Allen
+ruft nicht ein Band, ein trocknes Blatt, ein alter, wieder und wieder
+gelesener Brief alte Liebe und, wenn auch schmerzliche, Erinnerungen
+der Seele wach? und wenn wir einmal sterben? dann kommen rauhe Hände
+und zerstören diese »Leichen unserer Erinnerung,« denn das Leben fehlt
+ihnen, was ihnen diese für uns eingehaucht.
+
+Und können wir uns deshalb von ihnen trennen? Nein, es ist nicht
+möglich, denn sie bilden einen Theil, und zwar den edelsten Theil
+unseres Selbst; sie sind die kleinen unscheinbaren, aber trotzdem
+unzerreißbaren Glieder jener Kette, die uns an die Heimath binden.
+Sie sind die Tröster in mancher bitteren, sorgenschweren Stunde, die
+Märchenerzähler unserer eigenen Jugend, und wie der Mensch, wenn ihm
+die Hoffnung genommen würde, zum Selbstmörder werden müßte, und wie
+er deshalb die Hoffnung hegt und pflegt, weil er mit ihr die Brücke zu
+seiner Zukunft baut, so hält er auch die kleinen Zeichen fest als theure
+Gaben der Vergangenheit.
+
+Wohl wäre es besser, wir selber vernichteten diese kleinen unscheinbaren
+Liebesboten, wenn wir einmal fühlen, daß unser Ende naht; aber wer fühlt
+das? Wer mag es sich bis zum letzten entscheidenden Augenblick wohl
+eingestehen: Jetzt ist vorbei, jetzt weist der Zeiger auf die letzte
+Stunde? Nicht Einer aus Tausenden. Noch mit zitternder Hand, mit
+schon halbgebrochenem Auge fällt unser Blick darauf, und wenn wir dann
+sterben, dann fliegt mit unsrer Seele auch die Seele unserer Reliquien
+-- Gott nur weiß wohin, und unsere Leichen werden Staub.
+
+
+
+
+[Hinweise zur Transkription
+
+
+Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Offensichtliche
+Satzfehler wurden korrigiert, bei Zweifeln der Originaltext beibehalten.
+Eine Liste der vorgenommenen Änderungen befindet sich hier am Buchende,
+Änderungen der Zeichensetzung sind nicht aufgeführt.
+
+
+Änderungen
+
+ Seitenangabe
+ originaler Text
+ geänderter Text
+
+ Seite 1
+ als er, vierzehn Tage später, um Bertha Vollmer anhielt
+ als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt
+
+ Seite 3
+ und wenn sie ihn auch nie ein unfreundlich Gesicht
+ und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht
+
+ Seite 14
+ freundlich ihn empfing, wenn er endlich znrückkehrte
+ freundlich ihn empfing, wenn er endlich zurückkehrte
+
+ Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihn genommen
+ Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen
+
+ Seite 15
+ wo die Gattin plötzlich, unvorbereiiet abgerufen wurde
+ wo die Gattin plötzlich, unvorbereitet abgerufen wurde
+
+ Seite 21
+ ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmischs Wetter
+ ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches Wetter
+
+ Seite 36
+ ihre verschiedenen Freundinen einmal wieder aufzusuchen
+ ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen
+
+ Seite 39
+ sie selbst in ihrer Mittee in Individum entdeckten
+ sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten
+
+ Seite 40
+ als das sie sich wunderten
+ als daß sie sich wunderten
+
+ diesen doch sicher höchsten interessanten Fall
+ diesen doch sicher höchst interessanten Fall
+
+ erst auf äußere Veranlassang von sich gegeben
+ erst auf äußere Veranlassung von sich gegeben
+
+ E ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!
+ Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!
+
+ Seite 43
+ sagte die Frau Präsidentin mit einer einer wegwerfenden Bewegung
+ sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung
+
+ von der kleinen lehhaften Hofräthin dabei warm unterstützt
+ von der kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt
+
+ Seite 47
+ Drittes Kapitel
+ Drittes Capitel
+
+ Seite 48
+ um den Justizrath sein Gesicht zuzukehren
+ um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren
+
+ Seite 49
+ neben nur einen halblauten Schrei ausstoßend
+ eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend
+
+ Seite 54
+ Bertling aber, ärgerlich darüber, das er eine verfehlte
+ Bertling aber, ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte
+
+ Seite 69
+ wie ein Kind, daß ein neues Spielzeug bekommen hat
+ wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat
+
+ Seite 72
+ beobachtete ihn über die Brlle weg
+ beobachtete ihn über die Brille weg
+
+ Seite 73
+ während ihre Freundin kam aufzuschauen wagte
+ während ihre Freundin kaum aufzuschauen wagte
+
+ Seite 74
+ An den Feustern hingen aber Gardinen
+ An den Fenstern hingen aber Gardinen
+
+ Seite 77
+ denn die Frau Heßbeger begann jetzt in feierlicher Weise
+ denn die Frau Heßberger begann jetzt in feierlicher Weise
+
+ Seite 81/82
+ sonst bekommen wir nach-ihre Confusion
+ sonst bekommen wir nachher Confusion
+
+ Seite 116
+ abgelegenen Straße vier steilen dunklen Treppen hinauf geklettert
+ abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert
+
+ Seite 118
+ wußte sie das Gespäch auf das Abenteuer
+ wußte sie das Gespräch auf das Abenteuer
+
+ Seite 119
+ »Du errinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort
+ »Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort
+
+ Seite 132
+ mit vor Zorn gerrötheten Wangen
+ mit vor Zorn gerötheten Wangen
+
+ Seite 138
+ »Bitte tausendmal um Entschnldigung,« sagte Lorenz
+ »Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz
+
+ sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Lase frischen Wassers
+ sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Vase frischen Wassers
+
+ Seite 141
+ werde ich ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
+ werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
+
+ Seite 144
+ die Cigarre schmeckte ausgezeichet
+ die Cigarre schmeckte ausgezeichnet
+
+ Seite 150
+ Reiseanzug den entschieden englichen Charakter
+ Reiseanzug den entschieden englischen Charakter
+
+ Seite 152
+ Engländer auf den Continent
+ Engländer auf dem Continent
+
+ Gepäckträgern und Lohnbedienteu geprellt
+ Gepäckträgern und Lohnbedienten geprellt
+
+ Seite 155
+ nach seinem Schein uud fluchte auf deutsch
+ nach seinem Schein und fluchte auf deutsch
+
+ Seite 156
+ kein anderer Ausweg, als den gegebenen Rath zu folgen
+ kein anderer Ausweg, als dem gegebenen Rath zu folgen
+
+ Seite 164
+ Gewißheit über die Persönlichkiet erlangen konnte
+ Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte
+
+ Seite 173
+ meine Hälfte ebenfalls zur rechteu Zeit einbringe
+ meine Hälfte ebenfalls zur rechten Zeit einbringe
+
+ Seite 179
+ um ihre Morgentoilete zu beenden
+ um ihre Morgentoilette zu beenden
+
+ Seite 181
+ in voller Toilete, mit Schmuck und Flittertand
+ in voller Toilette, mit Schmuck und Flittertand
+
+ Seite 182
+ verzeihen Sie der Aufregumg, in der Sie
+ verzeihen Sie der Aufregung, in der Sie
+
+ Seite 184
+ schon gar keinen möglicheu Ausweg mehr sah
+ schon gar keinen möglichen Ausweg mehr sah
+
+ Seite 190
+ Ich habe nichts als meinem ehrlichen Namen
+ Ich habe nichts als meinen ehrlichen Namen
+
+ Seite 196
+ diesen Platz so rasch als möglich zu erreicheu
+ diesen Platz so rasch als möglich zu erreichen
+
+ Seite 197
+ Unachtsamkeit verdanke, den wie dieser einmal
+ Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
+
+ Seite 200
+ ob er aber einen Schnurrbatt gehabt
+ ob er aber einen Schnurrbart gehabt
+
+ Seite 201
+ als ein kleines Mädchen, daß dabei gestanden
+ als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
+
+ Seite 204
+ »J gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
+ »Ja gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
+
+ Seite 211
+ und borgte sich noch außerden vom Kellner
+ und borgte sich noch außerdem vom Kellner
+
+ Seite 213
+ alle harmlosen Spiele nnd Vergnügungen hinübertönte
+ alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte
+
+ Seite 214
+ wollten wir alle zusammen schmeißeu
+ wollten wir alle zusammen schmeißen
+
+ der Lakai eine tiefe, erfurchtsvolle Verbeugung machte
+ der Lakai eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung machte
+
+ Seite 216
+ jede Weiblichket bei Seite lassend
+ jede Weiblichkeit bei Seite lassend
+
+ Seite 217
+ das Klimpern des Geldes und die montonen Worte
+ das Klimpern des Geldes und die monotonen Worte
+
+ Seite 234
+ aber es fielen ihm in diesen Augenblick
+ aber es fielen ihm in diesem Augenblick
+
+ Seite 236
+ und die Erinnnerung an das Vergangene soll
+ und die Erinnerung an das Vergangene soll
+
+ Seite 242
+ nehmen die Leiden dieses armen Mädchen bald ein Ende
+ nehmen die Leiden dieses armen Mädchens bald ein Ende
+
+ Seite 243
+ zweitausend Pfund, die er vereist oder verspielt
+ zweitausend Pfund, die er verreist oder verspielt
+
+ Seite 251
+ zusammengezogenen Braunen, daß Sie daß nicht thun
+ zusammengezogenen Brauen, daß Sie das nicht thun
+
+ Seite 255
+ haben Sie mich auf Ihrem Besuch warten lassen
+ haben Sie mich auf Ihren Besuch warten lassen
+
+ Seite 262
+ weiter nach England braucht, da ich daß selber
+ weiter nach England braucht, da ich das selber
+
+ Seite 282
+ Ein Fischerboot im Canal, daß wir wegen Zeitungen
+ Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen
+
+ Seite 295
+ geschnittenen Figuren aus vegetablischen Elfenbein
+ geschnittenen Figuren aus vegetablischem Elfenbein
+
+ Seite 297
+ Und könnnen wir uns deshalb von ihnen trennen?
+ Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Unter Palmen und Buchen. Erster Band., by
+Friedrich Gerstäcker
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UNTER PALMEN UND BUCHEN. ***
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+<pre>
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+The Project Gutenberg EBook of Unter Palmen und Buchen. Erster Band., by
+Friedrich Gerstäcker
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+Title: Unter Palmen und Buchen. Erster Band.
+ Unter Buchen. Gesammelte Erzählungen.
+
+Author: Friedrich Gerstäcker
+
+Release Date: November 20, 2013 [EBook #44239]
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+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UNTER PALMEN UND BUCHEN. ***
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+Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
+http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned
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+<h1>Unter Palmen und Buchen.</h1>
+
+<hr />
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+<p class="front">Erster Band.<br />
+<span class="gesperrt"><b>Unter Buchen.</b></span></p>
+
+<p class="front"><span class="gesperrt">Gesammelte Erzählungen</span><br />
+<small>von</small><br />
+<b>Friedrich Gerstäcker.</b></p>
+
+<hr class="broad" />
+
+<p class="center"><b>Leipzig,</b><br />
+<span class="gesperrt">Arnoldische Buchhandlung.</span><br />
+1865.</p>
+
+
+
+
+<p class="front break">Inhaltsverzeichniß.</p>
+
+
+<table summary="Inhaltsverzeichnis" border="0" cellpadding="4">
+
+<tr>
+ <td colspan="2" align="right">Seite</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td>Eine alltägliche Geschichte</td>
+ <td align="right"><a href="#page_001">1</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td>Die Vision</td>
+ <td align="right"><a href="#page_016">16</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td>Folgen einer telegraphischen Depesche</td>
+ <td align="right"><a href="#page_131">131</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td>Der Polizeiagent</td>
+ <td align="right"><a href="#page_140">140</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td>Eine Heimkehr aus der weiten Welt</td>
+ <td align="right"><a href="#page_274">274</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td>Wenn wir einmal sterben</td>
+ <td align="right"><a href="#page_289">289</a></td>
+</tr>
+</table>
+
+
+
+
+<h2>Eine alltägliche Geschichte.<a class="pagenum" name="page_001" title="1"> </a></h2>
+
+
+<p>Es war auf einem Balle in der Erholung, daß
+Dr. Kuno Brethammer Fräulein Bertha Wollmer
+kennen lernte &ndash; oder vielmehr zum ersten Male sah,
+und sich sterblich in sie verliebte.</p>
+
+<p>Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid,
+einen sehr hübschen Kornblumenkranz im blonden Haar
+und sah wirklich allerliebst aus. Aber es bleibt immer
+ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine
+Hausfrau auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte
+der letzte Ort dazu sein, denn dort ist Alles in Licht
+gehüllt, und er wird geblendet und berauscht, wo er
+gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen
+auf dem rechten Fleck haben müßte.</p>
+
+<p>Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahl
+nicht zu bereuen, denn Bertha Wollmer war nicht allein
+ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit Geschmack zu
+kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav,
+ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später
+<a class="pagenum" name="page_002" title="2"> </a>
+herausstellte, vortreffliche Wirtschafterin. &ndash; Der
+Doctor hätte auf der Welt keine bessere Lebensgefährtin
+finden können.</p>
+
+<p>Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden.
+Er war etwa 34 Jahre alt, Advocat mit einer
+recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen, galt
+in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen
+Mann, schuldete keinem Menschen einen Pfennig und
+als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt,
+sagte das Mädchen nicht <em class="gesperrt">nein</em>, und Vater und
+Mutter sagten <em class="gesperrt">ja</em>, worauf dann noch in der nächsten
+Woche die Verlobungskarten ausgeschickt wurden.
+Zwei Monate später fand die Hochzeit statt.</p>
+
+<p>So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich
+miteinander, und Dr. Brethammer sah mit jedem Tage
+mehr ein, daß er eine außerordentlich glückliche Wahl
+getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib
+danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von
+Herzen, aber &ndash; wie das oft so im Leben geht &ndash; das,
+was sein ganzes Glück hier bildete, wurde ihm &ndash;
+durch Nichts gestört &ndash; endlich zur <em class="gesperrt">Gewohnheit</em>
+und er <em class="gesperrt">vernachlässigte</em>, was er hätte hegen und
+pflegen sollen.</p>
+
+<p>Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb
+nie geringer wurde, aber er vernachlässigte auch
+<a class="pagenum" name="page_003" title="3"> </a>
+<em class="gesperrt">die Form</em>, die in einem gewissen Grade in allen
+Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit
+seiner Frau, ja heftig, und wenn er auch dabei nicht
+die Grenzen überschritt, die jeder gebildete Mensch
+inne halten wird, that er ihr doch oft &ndash; gewiß
+unabsichtlich &ndash; recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein
+heftiges Wort entfahren war, hätte er es von Herzen
+gern widerrufen mögen, aber &ndash; das ging leider nicht
+an, denn &ndash; er durfte sich an seiner Autorität nichts
+vergeben.</p>
+
+<p>Nur zu <em class="gesperrt">einer</em> Entschuldigung ließ er sich herbei:
+»Du weißt, ich bin jähzornig,« sagte er, »wenn's aber
+auch oft ein Bischen rauh herauskommt, so ist es ja
+doch nicht so schlimm gemeint und eben so rasch vergessen.«</p>
+
+<p>Ja, das war allerdings der Fall; <em class="gesperrt">er</em> hatte es eben
+so rasch vergessen, aber <em class="gesperrt">sie</em> nicht, und wenn sie ihm
+auch nie ein unfreundlich Gesicht zeigte, wenn sie ihn
+immer bei sich entschuldigte und sein oft mürrisches
+Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er
+außer dem Hause gehabt &ndash; ein <em class="gesperrt">kleiner</em> Stachel blieb
+von jeder dieser Scenen in ihrem Herzen zurück, so viel
+Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung daran zu bannen;
+<em class="gesperrt">einen</em> kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke
+zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei
+<a class="pagenum" name="page_004" title="4"> </a>
+es noch so schnell vorübergezogen, und in einsamen
+Stunden konnte sie oft recht traurig darüber werden.</p>
+
+<p>Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der
+Vater mit großer und wirklich inniger Liebe hing &ndash;
+und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen ab! &ndash; Es
+ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und
+mußte sich oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur
+zum Mittagsessen zu kommen, aber Abends um sechs
+Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt,
+und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben
+bei Frau und Kindern zu sitzen, um sich seines häuslichen
+Glückes zu freuen, aber &ndash; »er mußte dann
+doch ein wenig Zerstreuung haben« &ndash; wie er sich selbst
+vorlog &ndash; er mußte den Geschäftsstaub abschütteln
+und mit einem »Glas Bier« hinunterspühlen, und das
+geschah am besten im Wirthshaus, wo man nicht gezwungen
+war zu reden &ndash; wenn man nicht reden wollte &ndash;
+wo man einmal eine Partie Scat oder Billard
+spielte, um die ärgerlichen Geschäftsgedanken aus dem
+Kopf zu bringen &ndash; und wie die Ausreden alle hießen,
+mit denen er allein <em class="gesperrt">sich selber</em> betrog, denn seine
+Frau fühlte besser den wahren Grund.</p>
+
+<p>Er <em class="gesperrt">amüsirte</em> sich nicht zu Haus. Er hatte seine
+Frau und Kinder unendlich lieb und würde Alles für
+sie gethan, jedes wirklich große Opfer für sie gebracht
+<a class="pagenum" name="page_005" title="5"> </a>
+haben aber &ndash; er verstand nicht, sich mit ihnen zu
+beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei
+Karten und Billard.</p>
+
+<p>Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau
+dabei! Er mochte noch so spät Abends zum Essen kommen,
+nie zeigte sie ihm ein unfreundliches Gesicht, nie
+frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder &ndash;
+wenigstens das jüngste &ndash; waren dann schon meist zu
+Bett gebracht; er konnte ihnen nicht einmal mehr »gute
+Nacht« sagen, und ärgerlich über sich selber &ndash; so sehr
+er auch vermied es sich selber einzugestehen &ndash; verzehrte
+er schweigend sein Abendbrod.</p>
+
+<p>Das waren die Momente, wo ihm der älteste
+Knabe ängstlich aus dem Weg ging, denn hatte er
+irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es in
+einer solchen Stunde, dann konnte er <em class="gesperrt">sehr</em> böse und
+<em class="gesperrt">sehr</em> heftig werden &ndash; und die arme Mutter <em class="gesperrt">litt</em>
+besonders schwer darunter.</p>
+
+<p>Wie oft nahm er sich vor, die Abende in seiner
+Familie, bei den Seinen zuzubringen, und er wußte
+ja, wie sich seine Frau darüber gefreut haben würde.
+So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so
+sorgsam sie auf Alles achtete, was dem Gatten eine
+Freude machen oder zu seiner Bequemlichkeit dienen
+<a class="pagenum" name="page_006" title="6"> </a>
+konnte, so verständig war sie in jeder andern Hinsicht,
+und es gab Nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte
+mit ihr unterhalten mögen, Nichts, worin sie nicht im
+Stande gewesen wäre, einen vernünftigen Rath zu
+ertheilen. Er kannte und schätzte diese Eigenschaften
+an ihr &ndash; er liebte sie dafür nur desto mehr, aber &ndash;
+wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte,
+daß sich die Spieltische besetzten oder die gewöhnliche
+<i>quatre tour</i> zusammenkam, dann ließ es ihn nicht
+länger zu Hause ruhn.</p>
+
+<p>Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden,
+da sie aber nie gegen ihn klagte und ein häufiger
+wiederkehrendes Unwohlsein stets so viel als möglich
+vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden
+nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte,
+achtete er selber nicht viel darauf, oder hielt es doch
+keineswegs für gefährlich. Er hatte in der That <em class="gesperrt">sehr</em>
+viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug &ndash;
+nur seiner Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten
+lassen. Sobald er das aber ja einmal fühlte, wollte
+er es auch stets wieder gut machen, und überhäufte
+sie mit Geschenken &ndash; ja, wo er einen Wunsch an ihren
+Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn &ndash; soweit er eben
+mit Geld erfüllt werden konnte &ndash; nur seine Abende
+widmete er ihr nicht. &ndash; Er wollte auch eine Erholung
+<a class="pagenum" name="page_007" title="7"> </a>
+haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit
+gegen die Seinen mäßigte er sich eben so wenig.</p>
+
+<p>»Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin,«
+sagte er in einer halben Abwehr, in halber Entschuldigung;
+»Ihr wißt wie's gemeint ist,« und damit war
+die Sache für <em class="gesperrt">ihn</em> abgemacht, aber nicht für die Frau.</p>
+
+<p>Er war auch jetzt zu Zeiten, in Gegenwart Fremder
+heftig gegen sie, und fuhr sie rauh an. Er meinte
+es wirklich nicht so bös, wie die Worte klangen, aber
+es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen,
+so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen,
+wie weh er ihr gethan.</p>
+
+<p>So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft
+in X. gegründet worden und Brethammer
+Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball
+eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt,
+ja er kaufte ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid
+und that wirklich Alles, um sie zu überreden, ihm die
+Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie unwohl
+sei, aber er wollte es ihr nicht glauben, und erst als
+sie ihm mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten,
+und wie große Mühe sie sich gegeben, es nicht zu
+zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm auch ihr bleicheres
+Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen
+auf. Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon
+<a class="pagenum" name="page_008" title="8"> </a>
+oft unwohl gewesen und hatte sich immer wieder erholt,
+auch diesmal würde es sicher vorübergehen, wenn sie
+sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen
+jedenfalls das Vernünftigste, daß sie <em class="gesperrt">nicht</em> auf den
+Ball ging.</p>
+
+<p>Der Winter verging, Bertha wurde in der That
+nicht kränker, aber sie blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte
+sich zuletzt an diesen Zustand. Er hatte anfangs
+seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan &ndash;
+und ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! &ndash;
+auf die Länge der Zeit aber vergaß er das wieder &ndash;
+es war ja nicht mehr nöthig. Seine <i>quatre tour</i>
+und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte
+sich ganz vortrefflich dabei. Kam er dann Abends
+nach Haus &ndash; ob er sich auch einmal um eine halbe
+oder ganze Stunde verspätet hatte &ndash; fand er den
+Tisch gedeckt, und war es so spät geworden, daß die
+Kinder zu Bett geschickt werden mußten, so setzte sich
+sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.</p>
+
+<p>Im Frühjahr schienen Bertha's Leiden heftiger
+wiederzukehren, und der Arzt kam fast täglich, aber
+auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte selber nicht,
+daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als es wirklich
+war, oder vielleicht mehr vor ihm verbarg, als sie
+hätte thun sollen; aber sie fürchtete, dem Gatten das
+<a class="pagenum" name="page_009" title="9"> </a>
+Haus dadurch noch ungemüthlicher zu machen, und
+trug deshalb lieber Alles allein.</p>
+
+<p>Eines Abends, im Mai, saß Dr. Brethammer
+wieder am Kartentisch und zwar in einem Garten,
+etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin
+die kleine Gesellschaft bei schönem Wetter allabendlich
+auswanderte, als ein Bote hereingestürzt kam und
+ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es standen nur
+wenige Worte darauf:</p>
+
+<p>»Komm zu mir. &ndash; Bertha.« Aber die Worte
+waren mit zitternder Hand geschrieben, und den Mann
+überkam, als er sie gelesen, eine ganz sonderbare Angst.</p>
+
+<p>Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha
+krank geworden? daß sie fortwährend krank gewesen,
+wollte er sich gar nicht gestehen, aber der Bote wußte
+weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen
+und gut bezahlt, damit er so schnell wie möglich
+diesen Brief übergeben sollte. &ndash; Mitten im Spiel
+hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe
+übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte
+er in die Stadt zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt &ndash;
+unten im Hause traf er sein Mädchen, die eben
+aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.</p>
+
+<p>»Was um Gotteswillen ist vorgefallen &ndash; meine
+Frau&nbsp;&ndash;?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_010" title="10"> </a>
+»O gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!« rief
+das Mädchen. »Sie hat so danach verlangt, Sie noch
+einmal zu sehen.«</p>
+
+<p>Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf
+kam. Der Arzt stand neben dem Bett, streckte ihm
+die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ das
+Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche,
+die kalte Hand seines treuen Weibes mit Küssen und
+Thränen bedeckend.</p>
+
+<p>»Mein Kuno,« flüsterte die zitternde Stimme, »o
+wie lieb das von Dir ist, daß Du noch einmal gekommen
+bist &ndash; mir ist nur so kurze Zeit geblieben &ndash;
+das Alles brach so schnell herein.«</p>
+
+<p>»Bertha, Bertha, Du kannst &ndash; Du darfst mich
+nicht verlassen,« schluchzte der Mann und schlang
+seinen Arm krampfhaft um sie.</p>
+
+<p>»Du thust mir weh,« bat sie leise, »fasse Dich
+Kuno, es muß sein &ndash; ich muß fort von Dir und den
+Kindern &ndash; o sei gut mit ihnen, Kuno &ndash; sei nicht so
+rauh und heftig mehr &ndash; sie sind ja lieb und brav,
+und Du, &ndash; hast sie ja auch so lieb.«</p>
+
+<p>Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen,
+mit bebender Stimme gesprochenen Bitte lag ein so
+furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen Gefühlen,
+seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte
+<a class="pagenum" name="page_011" title="11"> </a>
+geben konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die
+Sterbende auf das Bett, und ihre Hand lag auf seinem
+Haupt und drückte es leise an sich.</p>
+
+<p>»Kuno,« hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.</p>
+
+<p>»Bertha, meine Bertha!« rief der Mann, sein
+Antlitz zu ihr hebend, »fühlst Du Dich besser?«</p>
+
+<p>»Leb wohl!«</p>
+
+<p>»Bertha!« stöhnte der Unglückliche, »Bertha!«</p>
+
+<p>»Mach mir den Abschied nicht schwer,« bat die
+Frau, »die Kinder habe ich schon geküßt, ehe Du kamst &ndash;
+ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß mich ausreden,«
+flehte sie, »mir bleibt nicht mehr viel Zeit
+und das Sprechen wird mir schwer &ndash; leb wohl, Kuno
+&ndash; habe noch Dank &ndash; tausend Dank für all das Liebe
+und Gute, was Du mir gethan &ndash; sei mir nicht bös,
+wenn ich vielleicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das
+Herz&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Es ist gut &ndash; es ist vorbei &ndash; es wird Licht um
+mich &ndash; leb' wohl Kuno &ndash; sei gut mit den Kindern
+&ndash; auf Wiedersehen!«</p>
+
+<p>»Bertha!« &ndash;&nbsp;&ndash; es war vorbei. Der Mann
+knieete neben der Leiche seiner Frau, und es war ihm,
+<a class="pagenum" name="page_012" title="12"> </a>
+als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein
+und trostlos in einer Wüste stände.</p>
+
+<p>Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie ein
+Traum. Fremde Leute kamen und gingen ein und
+aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige
+Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht,
+und selbst als sie die Leiche in den Sarg legten, blieb
+er still und theilnahmlos. Die Kinder kamen über
+Tag zu ihm, hingen an seinem Hals und weinten; er
+preßte sie fest an sich und küßte sie und blieb dann
+wieder allein bei der Geschiedenen.</p>
+
+<p>Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft
+werden mußte, und jetzt war es, als ob er sich dem
+widersetzen wolle. Aber es traten eine Masse Leute
+in's Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit
+ihm sprachen und ihm zuredeten, daß er sich den Unglücksfall
+nicht so schwer zu Herzen nehmen solle. Er
+hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er fühlte, daß
+was hier geschah &ndash; eben geschehen <em class="gesperrt">mußte</em>, und
+duldete Alles.</p>
+
+<p>Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern
+nach Haus zurück, schloß sich hier in sein Zimmer ein
+und weinte sich recht von Herzen aus. Danach wurde
+ihm etwas leichter &ndash; und es ist ein altes und wahres
+Sprüchwort &ndash; die Zeit mildert <em class="gesperrt">jeden</em> Schmerz, denn
+<a class="pagenum" name="page_013" title="13"> </a>
+das Menschenherz wäre sonst nicht im Stande zu
+tragen, was nach und nach ihm aufgehoben bleibt.
+<em class="gesperrt">Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber &ndash;
+die Zeit mildert und sühnt keine Schuld.</em></p>
+
+<p>Den <em class="gesperrt">Verlust</em> der Gattin hätte er ertragen &ndash;
+mit bitterem Weh wohl, es ist wahr, denn er hatte sie
+treu und innig geliebt, aber mit Jahr und Tag wäre
+die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie
+mehr ihr treues Auge wieder schauen zu können, mehr
+in den Hintergrund getreten, und ihm nur die Erinnerung
+an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt
+aber nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht
+allein das Gefühl der <em class="gesperrt">Schuld</em>, nein auch die <em class="gesperrt">Reue</em>
+über vergangene Zeit mit dem Bewußtsein, diese nie
+zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen
+oder ungeschehen machen zu können, und das
+bohrte sich ihm in's Herz, nicht mit der Zeit weichend,
+nein, mit den wachsenden Jahren fester und fester und
+unzerstörbarer.</p>
+
+<p>Draußen die Welt merkte Nichts davon; er war
+immer ernst und abgeschlossen für sich gewesen, und
+daß er sich jetzt vielleicht noch etwas zurückgezogener
+hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim in seiner jetzt
+verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die Geschiedene
+mahnend vor ihm empor, und je weniger
+<a class="pagenum" name="page_014" title="14"> </a>
+Vorwürfe sie ihm je im Leben gemacht hatte, desto
+mehr machte er sich jetzt selber.</p>
+
+<p>Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus
+die er mit vollkommen gleichgültigen Menschen draußen
+bei den Karten oder hinter dem Wirthstische verbracht,
+während seine Bertha daheim mit einer wahren Engelsgeduld
+auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn
+empfing, <em class="gesperrt">wenn</em> er endlich zurückkehrte. Wieder und
+wieder malte er sich die einzelnen Fälle aus, wo er
+rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie ein rauhes
+und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt,
+und vor Scham und Reue hätte er in die Erde sinken
+mögen, wenn er sich jetzt überlegte, wie er damals
+immer &ndash; immer Unrecht gehabt, und das nur, <em class="gesperrt">wenn</em>
+er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte <em class="gesperrt">eingestehen</em>
+mögen.</p>
+
+<p>Aber das Alles kam jetzt <em class="gesperrt">zu spät</em> &ndash; zu spät für
+<em class="gesperrt">ihn</em> wenigstens. Er hatte einen Schatz gehalten, und
+mißachtet, bis er von ihm genommen wurde &ndash; keine
+Reue brachte ihn je zurück, und daß er sich jetzt elend
+und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine
+begangene Sünde.</p>
+
+<p>Für ihn war es zu spät &ndash; <em class="gesperrt">aber noch nicht für
+Viele, die diese Zeilen lesen</em>. Viele, viele halten
+in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz &ndash; und
+<a class="pagenum" name="page_015" title="15"> </a>
+vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war
+der Zweck dieser Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt,
+da es noch <em class="gesperrt">für sie</em> Zeit ist, ausmalen möchten, wo
+die Gattin <em class="gesperrt">plötzlich, unvorbereitet</em> abgerufen
+wurde, und die Reue des Mannes dann <em class="gesperrt">zu spät</em> kam,
+und <em class="gesperrt">nie, nie</em> wieder gut gemacht werden konnte.</p>
+
+
+
+
+<h2>Die Vision.<a class="pagenum" name="page_016" title="16"> </a></h2>
+
+
+<h3>Erstes Capitel.<br />
+
+<b>Die Sturmnacht.</b></h3>
+
+
+<p>In Alburg, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen
+Stadt, lebte der Justizrath <em class="gesperrt">Bertling</em> in glücklicher
+und zufriedener Ehe mit seiner jungen Frau.</p>
+
+<p>Bertling war ein ruhiger, behäbiger Charakter,
+der die Welt gern an sich kommen ließ, und nichts
+weniger liebte als unnütze und unnöthige Aufregungen.
+Er hatte auch in der That besonders deshalb sein
+Junggesellenleben aufgegeben, um sein Haus gemüthlich
+zu machen, und sich &ndash; bisher vermißte &ndash; Bequemlichkeiten
+zu verschaffen; aber er liebte nichtsdestoweniger
+seine Frau von ganzem Herzen und fühlte sich
+glücklich in ihrem Besitz.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Auguste</em> paßte auch vortrefflich für ihn, und
+zwar nicht etwa durch eine Aehnlichkeit ihres Charakters,
+sondern eher durch einen Gegensatz, durch welchen
+<a class="pagenum" name="page_017" title="17"> </a>
+sich die beiden Gatten vollständig ergänzten, denn man
+darf ja nicht glauben, daß zu einer glücklichen Ehe stets
+gleiche Neigungen und Ansichten, gleiche Tugenden
+und Fehler gehören. Auguste war denn auch, während
+ihr Mann ganz entschieden dem praktischen und realen
+Leben angehörte, weit mehr schwärmerischer Natur,
+ohne jedoch im Geringsten überspannt zu sein. Unermüdlich
+thätig in ihrem Hausstand, beschäftigte sie
+sich aber auch gern mit Lectüre, und vorzüglich mit solcher,
+die einer ideellen Richtung angehörte. Sie phantasirte
+vortrefflich auf dem Piano, und liebte es sogar,
+selbst noch <em class="gesperrt">nach</em> ihrer Verheirathung &ndash; was ihr
+Gatte entschieden mißbilligte &ndash; bei mondhellen Nächten
+im Garten zu sitzen.</p>
+
+<p>Lebhaft und heiter dabei, mit einem warmen Gefühl
+für alles Schöne, wob sie bald mit diesen Tugenden
+und Vorzügen einen ganz eigenen Zauber um ihre
+Häuslichkeit, dem sich ihr Gatte nicht entziehen konnte
+und wollte, so daß er bald von anderen Frauen, <em class="gesperrt">ihren</em>
+Männern gegenüber, als das Muster eines vortrefflichen
+Ehemannes aufgestellt wurde.</p>
+
+<p>So hatten die jungen Leute &ndash; denn der Justizrath
+zählte kaum ein und dreißig und seine Frau erst
+zwanzig Jahr &ndash; etwa zwei Jahre in glücklicher, durch
+nichts gestörte Ehe gelebt, als eine schwere Krankheit &ndash;
+<a class="pagenum" name="page_018" title="18"> </a>
+ein damals in Alburg umgehendes Nervenfieber &ndash;
+die junge Frau erfaßte und lange Wochen auf das
+Lager warf.</p>
+
+<p>Ihr Mann wich in dieser Zeit fast nicht von ihrer
+Seite und nur die wichtigsten Geschäfte konnten ihn
+abrufen &ndash; ja oft versäumte er selbst diese und ganze
+Nächte hindurch wachte er neben ihrem Bett. Allerdings
+paßte ihm das nicht zu seinem sonst gewohnten,
+bequemen Leben, aber die Angst, sein Weib durch irgend
+eine Vernachlässigung zu verlieren, oder auch nur
+ihren Zustand gefährlicher zu machen, ließ ihn das
+Alles nicht achten, und so ward ihm denn auch endlich
+die wohlverdiente Freude zu Theil, die schlimmste
+Krisis überstanden und die geliebte Frau nach und nach
+genesen zu sehen. Aber es dauerte lange &ndash; sehr lange,
+bis sie sich wieder vollständig von dem überstandenen
+Leiden erholen konnte.</p>
+
+<p>Der Körper gewann dabei noch verhältnißmäßig
+am Schnellsten die frühere Frische wieder, wenn auch
+die Wangen bleicher, die Augen glänzender schienen,
+als sie sonst gewesen. Sie hatte aber in ihrer Krankheit
+besonders viel phantasirt und dabei oft ganz laut
+und deutlich die tollsten, wunderlichsten Dinge gesprochen.
+Darum bedurfte es weit längerer Zeit, ehe der
+Geist wieder Herr über diese Träume wurde, die sich
+<a class="pagenum" name="page_019" title="19"> </a>
+mit der Erinnerung früherer wirklich erlebter Scenen
+so vermischten, daß sie oft anhaltend nachdenken
+mußte, um das Wahre von dem Falschen und Eingebildeten
+oder nur Geträumten zu sondern und auszuscheiden.</p>
+
+<p>Auch das gab sich nach und nach oder stumpfte sich
+doch wenigstens ab. Die Erinnerungen an diese Träume
+wurden unbestimmter, wenn auch einzelne von ihnen
+noch manchmal wiederkehrten und sie oft, mitten in
+der Nacht, plötzlich und ängstlich auffahren machten,
+ja sogar wieder bestimmte Bilder und Eindrücke annahmen.</p>
+
+<p>Bertling behagte das nicht recht, denn er wurde
+dadurch ein paar Mal sehr nutzloser Weise alarmirt.
+Einmal &ndash; und noch dazu in einer sehr kalten Nacht &ndash;
+behauptete seine Frau nämlich bei ihrem plötzlichen
+Erwachen, es wäre Jemand im Zimmer und unter
+das Sopha gekrochen &ndash; sie habe es deutlich gehört,
+ja sogar den Schatten durch das Zimmer gleiten sehen.
+Bertling protestirte gegen die Möglichkeit, aber es
+half ihm nichts; um seine Frau nur endlich zu beruhigen,
+mußte er aufstehen und die Sache untersuchen,
+was er denn gründlich mit Hülfe einer Elle that.
+Natürlich fand er nicht das geringste Verdächtige, vielweniger
+einen dort versteckten Menschen, und Beide
+<a class="pagenum" name="page_020" title="20"> </a>
+lachten nachher über dies kleine Abenteuer, &ndash; aber
+der Justizrath trug doch einen Schnupfen davon, der
+ihn sogar auf ein paar Tage zwang das Bett zu hüten.</p>
+
+<p>Das andere Mal wollte Auguste im Nebenzimmer
+ein verdächtiges Flüstern gehört haben und wenn sich
+auch dieses nach sorgfältiger nächtlicher Untersuchung,
+die der Justizrath im Schlafrock, in der Linken das
+Licht, in der Rechten den Feuerhaken, vornahm, als
+unbegründet herausstellte, so wurde der Mann doch
+durch diesen verschiedentlich erweckten Verdacht endlich
+selber so mißtrauisch gemacht, daß er sich für weitere
+derartige Fälle stillschweigend rüstete. Er holte
+nämlich ein Paar alte, schon lange zur Rumpelkammer
+verurtheilte Sattelpistolen hervor, reinigte und lud
+sie und gab ihnen einen Platz in der obersten Schieblade
+seiner Kommode, um sie bei einer etwa wieder
+vorzunehmenden Patrouille wenigstens bei der Hand
+zu haben.</p>
+
+<p>Wochen vergingen indeß, ohne daß sich eine derartige
+Scene wiederholt hätte, und Bertling beruhigte
+sich endlich vollständig mit dem Gedanken, daß jene
+Ideen nur die Nachwehen der überstandenen Krankheit
+gewesen seien; der jetzt kräftig gewordene Körper
+nun aber alle derartigen Phantasiebilder ausgestoßen,
+und für die Zukunft unmöglich gemacht habe.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_021" title="21"> </a>
+Auguste war in der That wieder so frisch und lebenslustig
+als je geworden, wenn ihre Gesichtsfarbe auch
+etwas »intressanter« als früher geblieben sein mochte.
+Sie sah bleicher aus, als sie sonst gethan, aber keineswegs
+kränklich oder leidend und besuchte auch wieder
+gern und oft Gesellschaften und Bälle, wobei es manchmal
+einige Schwierigkeiten hatte, den etwas phlegmatischen
+Gatten für solche Vergnügungen mitzubegeistern.</p>
+
+<p>Auch gestern Abend war in der »Erholung« ein
+brillanter Ball gewesen, auf dem Auguste bis vier Uhr
+morgens getanzt, während ihr Gatte, als treuer Gefährte,
+bis etwa um zwei Uhr Whist gespielt, und
+noch ein paar Stunden in einer bequemen Sophaecke
+verträumt hatte. Heute sollte dafür recht früh zu Bett
+gegangen werden, und die beiden Eheleute saßen Abends
+allein zusammen in der Stube am Theetisch.</p>
+
+<p>Es war im Februar, aber ein ganz entsetzlich naßkaltes
+und stürmisches Wetter. Noch vor wenigen
+Tagen hatte harter Frost die Erde gedeckt; heute
+peitschte der Regen die kaum aufgethauten Fenster und
+die Windsbraut heulte zwischen den Giebeln und riß
+an Thüren und Fensterflügeln, wie zornig darüber,
+daß es einen Platz geben solle, in den man ihr, der
+Gewaltigen, den Eintritt verweigere.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_022" title="22"> </a>
+Und wie das draußen durch die Straßen fegte!
+Der Justizrath war aufgestanden und ans Fenster
+getreten, denn die Unterhaltung wollte heute nicht recht
+fließen. Seine Frau war abgespannt, klagte über ein
+leichtes Kopfweh und Brennen in den Augen und war
+schon ein paar Mal, wie krampfhaft zusammengefahren
+&ndash; jedenfalls in Folge des gestrigen Balles.</p>
+
+<p>Unten brannten die Gaslaternen, aber sie erleuchteten
+die Straße nicht, sondern warfen nur einen matten,
+flackernden Schein auf das schmutzige, von halbgeschmolzenem
+Eis bedeckte Pflaster, denn selbst die
+Glasscheiben schützten die Flammen nicht vor <em class="gesperrt">diesem</em>
+Sturm, der sie rastlos hin und her wehte und manchmal
+auszulöschen drohte. Die Straße selbst war menschenleer,
+denn wer heute nicht nothgedrungen <em class="gesperrt">mußte</em>,
+verließ wohl nicht das schützende Haus, um sich einem
+solchen Unwetter preiszugeben. Nur dann und wann
+floh ein einzelner später Wanderer entweder mit dem
+Wind durch aufspritzenden Schmutz und Schlamm
+dahin, oder kämpfte &ndash; den Oberkörper weit vorn über
+gebeugt &ndash; <em class="gesperrt">gegen</em> den Sturm, und dem Wetter in
+die Zähne, seine beschwerliche Bahn.</p>
+
+<p>In langen Zwischenpausen rollte auch wohl einmal
+ein festgeschlossener Wagen vorüber, aber das
+Geräusch desselben machte die gleich nachher wieder
+<a class="pagenum" name="page_023" title="23"> </a>
+eintretende Oede nur noch fühlbarer, als daß es sie
+unterbrochen hätte.</p>
+
+<p>Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken
+bedeckt, und der hinter ihnen stehende Vollmond konnte
+nicht mehr thun, als daß er manchmal ihre riesigen,
+beweglichen Massen in einem matten Phosphorschimmer
+sichtbar werden ließ. Aber selbst dies geschah
+nur auf Momente, und jedes Mal darnach war es,
+als ob der Sturm nur Athem geholt und neue Kraft
+gewonnen hätte, um so viel rasender zum Kampf herbei
+zu eilen.</p>
+
+<p>»Merkwürdig, wie das da draußen tobt und
+gießt,« brach der Justizrath endlich das lange Schweigen
+indem er den Rauch seiner Cigarre gegen die
+Fensterscheiben blies. »Das ist nun Februar mit
+Mondschein im Kalender wo man eigentlich eine hellkalte,
+ruhige Winternacht zu fordern hätte. 'S ist
+aber gerade, als ob die ganze Welt ihre Jahreszeiten
+umdrehte, denn eingehalten werden sie wahrlich nicht
+mehr zur rechten Zeit.«</p>
+
+<p>Er hatte sich dabei wieder dem Tische zugedreht,
+und sah jetzt wie seine Frau mit gespannter Aufmerksamkeit
+auf dem Sopha saß, als ob sie auf irgend
+etwas horche. Zu gleicher Zeit drang, durch die
+Wände und Decke aber gedämpft, der Ton einer
+<a class="pagenum" name="page_024" title="24"> </a>
+Menschenstimme zu ihnen herüber, die jedenfalls ein
+geistliches Lied in lang gezogenen, schnarrenden Tönen
+sang. Der Justizrath lachte.</p>
+
+<p>»Das ist der verrückte Schuhmacher über uns, der
+jedesmal bei einem Sturm, aber besonders bei einem
+Gewitter, den Herr Zebaoth anschreit, und sich als
+größten Sünder des ganzen Weltalls denuncirt.
+Wenn diese Narrheit nicht auch ihre komische Seite
+hätte, könnte es Einem wirklich unheimlich dabei
+werden.«</p>
+
+<p>Der Justizrath hatte Recht. Die Stimme klang
+in der That unheimlich in diesem Aufruhr der Elemente
+und wenn der Wind dazu durch den Schornstein
+heulte und in die Schlüssellöcher pfiff, gab es einen
+Dreiklang, der Einem hätte das Haar zu Berge treiben
+können. Die Frau schauderte auch in sich selbst
+zusammen, allein sie erwiderte kein Wort, und der
+Justizrath, dem ihr Zucken nicht entging, fuhr fort:</p>
+
+<p>»Man kann nur gar nichts dagegen machen; nicht
+einmal polizeilich verbieten darf ich es ihm, denn
+geistliche Lieder zu singen ist eben nichts Strafbares,
+und daß der Mensch so eine gellende Stimme hat,
+lieber Gott, dafür kann er nichts; ich bezweifle sogar,
+daß er es selber weiß. Uebrigens &ndash; es ist ihm vielleicht
+in anderer Weise beizukommen, denn seine Frau
+<a class="pagenum" name="page_025" title="25"> </a>
+soll sich auch mit Kartenschlagen und allem möglichen
+anderen abergläubischen Hocuspocus beschäftigen, und
+wenn ich darin einmal einen Halt dafür bekomme,
+dann wollen wir der Geschichte rasch ein Ende
+machen.«</p>
+
+<p>»Was war das?« flüsterte die Frau und fuhr wie
+erschreckt halb von ihrem Sitz empor.</p>
+
+<p>»Was? &ndash; das Klappern?« sagte der Justizrath,
+»wahrscheinlich hat wieder Jemand die Hausthür
+unten aufgelassen und was nicht festgenagelt ist, rasselt
+bei dem Sturm hin und her. Das wird eine vergnügte
+Nacht werden.«</p>
+
+<p>»Es war mir als ob Jemand klopfe&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Nun jetzt kommt kein Besuch mehr,« lachte der
+Mann, »und wenn&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>In dem Augenblick war es, als ob der Sturm
+seinen ganzen Angriff nur auf diesen Punkt concentrirt
+hätte. Mit einem wahren Wuthgeheul fuhr es den
+Schornstein herunter, und riß draußen an den Fenstern.
+Zu gleicher Zeit flog die Stubenthür auf und der
+kalte Zug strömte voll ins Zimmer, daß die Lampe
+hoch und düster aufflackerte.</p>
+
+<p>»Alle Wetter!« rief der Justizrath, erschreckt zur
+Thür springend und diese wieder schließend, »das wird
+denn doch beinah zu toll und das alte Nest so windschief,
+<a class="pagenum" name="page_026" title="26"> </a>
+daß weder Fenster noch Thüren länger in ihren
+Fugen bleiben. Wenn der Wirth das nicht spätestens
+bis zum Frühjahr aus dem Grunde wieder herstellen
+läßt, kündige ich ihm wirklich das Logis. Man kann
+ja die Stuben auch fast gar nicht mehr erheizen.«</p>
+
+<p>Die Frau war, als die Thür aufflog, allerdings erschreckt
+zusammengefahren, hatte sich aber nicht weiter
+gerührt und saß jetzt still und regungslos. Nur mit
+ihrem Blick strich sie langsam, als ob sie irgend Jemandem
+mit den Augen folge, von der Thür fort,
+durchs Zimmer, bis zu dem Stuhl am Ofen, auf dem er
+stier und fest haften blieb.</p>
+
+<p>Ihr Mann hatte nicht gleich auf sie geachtet. Er
+zog die neben der Thür befindliche Klingel, um das
+Dienstmädchen herbeizurufen und befahl diesem dann
+nach der Hausthür hinunter zu sehen, wie auch den
+Hausmann zu bitten, daß er dieselbe heute Abend verschlossen
+halte. Man konnte es ja wahrlich hier oben
+im Hause vor Zug nicht aushalten.</p>
+
+<p>Darnach trat er in die Stube zurück, und es fiel
+ihm jetzt auf, daß seine Frau noch keine Silbe über
+die Störung geäußert hatte. Wie er sich ihr aber zuwandte,
+konnte ihm auch unmöglich der stiere,
+staunende Blick entgehen, den Auguste noch immer
+unverwandt auf den einen Punkt gerichtet hielt. Unwillkürlich
+<a class="pagenum" name="page_027" title="27"> </a>
+sah er rasch dort hinüber, es ließ sich aber
+nicht das geringste Außergewöhnliche erkennen. Dort
+stand nur ein leerer Stuhl, und darüber hing ein alter
+Kupferstich, der eine Prügelscene aus irgend einer
+holländischen Dorfschenke darstellte.</p>
+
+<p>»Nun?« sagte er endlich und jetzt selber erstaunt
+&ndash; »was hast Du nur?«</p>
+
+<p>Statt aller Antwort und ohne den Blick von dem
+festgehaltenen Punkt zu nehmen, hob die junge Frau
+langsam den rechten Arm in die Höhe und deutete
+mit dem Zeigefinger auf die Stelle.</p>
+
+<p>»Ja aber mein Kind&nbsp;&ndash;« wiederholte der Mann
+bestürzt, denn er konnte sich das wunderliche Betragen
+der Frau nicht erklären &ndash; »ich begreife noch immer
+nicht, was Du willst. Was ist denn dort, und weshalb
+deutest Du auf den Stuhl und siehst so bestürtzt
+aus, als ob Dir ein Geist erschienen wäre?«</p>
+
+<p>»Siehst Du ihn nicht?« sagte die Frau leise, ohne
+ihre Stellung auch nur um eines Haares Breite zu
+verändern.</p>
+
+<p>»Wen denn?« rief Bertling halb ärgerlich und
+halb erschreckt noch einmal den Kopf nach der bezeichneten
+Richtung zu drehend.</p>
+
+<p>»Den fremden Mann,« erwiderte die Frau, die
+<a class="pagenum" name="page_028" title="28"> </a>
+Worte aber viel mehr hauchend als sprechend, »der
+dort auf dem Stuhl am Ofen sitzt.«</p>
+
+<p>»Den fremden Mann? &ndash; aber Kind, ich bitte
+Dich um Gotteswillen.«</p>
+
+<p>»Sprich nicht so laut. Wenn er die Augen zu
+mir hebt, ist es immer, als ob mir ein Messer durch
+die Seele ginge.«</p>
+
+<p>»Aber wie sollte denn der hierher gekommen sein,«
+lachte Bertling gutmüthig &ndash; »sei doch vernünftig.«</p>
+
+<p>»Wie die Thür aufging,« flüsterte die Frau »trat
+er herein, ging still am Ofen vorüber und setzte sich
+dort nieder &ndash; aber siehst Du ihn denn nicht?«</p>
+
+<p>»Mein liebes Herz« suchte sie der Justizrath zu
+beschwichtigen &ndash; »wenn dort irgend Jemand auf dem
+Stuhle säße, so müßte ich ihn allerdings auch sehen,
+nicht wahr? Aber ich sehe Nichts als den leeren Stuhl.
+Komm Schatz, das ist wieder einer von Deinen häßlichen
+Träumen &ndash; schüttle ihn ab &ndash; Nun? &ndash; ist er
+noch da?« setzte er lachend hinzu, als die Frau wie
+warnend die Hand gegen ihn hob.</p>
+
+<p>»Pst! sei ruhig!« sagte sie tonlos &ndash; »jetzt regt er
+sich. Er sieht Dich an.«</p>
+
+<p>Bertling wurde es, dieser so bestimmt ausgesprochenen
+Ueberzeugung gegenüber, selber ein wenig
+unheimlich zu Muthe, wenn er auch recht gut wußte,
+<a class="pagenum" name="page_029" title="29"> </a>
+daß das Ganze weiter Nichts sein konnte als eines
+jener verworrenen Traumbilder, von denen er gehofft
+hatte, daß sie bei seiner Frau nie mehr wiederkehren
+würden. Möglicher Weise hatten aber hier verschiedene
+Factoren zusammengewirkt, um den Geist der
+noch nicht vollständig Genesenen zu überreizen und
+krankhaft aufzuregen. Die Abspannung nach der gestern
+durchschwärmten Nacht &ndash; das heutige Unwetter mit
+dem fatalen Klappern der Fenster und Thüren, der
+heulende Sturm, der da oben seine Gesangbuchverse
+abwimmernde Schuhmacher, vielleicht ein flüchtiges
+Unwohlsein mit in den Kauf; wer konnte denn wissen
+wie das Alles auf sie eingewirkt hatte und es blieb
+deshalb vor allen Dingen nöthig, sie von der Nichtexistenz
+ihres Traumbildes thatsächlich zu überzeugen
+&ndash; nachher beruhigte sich ihre Einbildungskraft schon
+von selber.</p>
+
+<p>»Aber mein liebes Herz,« sagte er endlich &ndash; »so
+mach' doch nur einmal diesem häßlichen Traum ein
+Ende&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Traum?« rief aber jetzt die Frau ungeduldig,
+wenn auch immer noch mit vorsichtig gedämpfter
+Stimme &ndash; »was Du nur mit Deinem Traum
+willst. Man träumt doch nur wenn man schläft, doch
+schlafe ich jetzt oder schläfst Du?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_030" title="30"> </a>
+»Aber ich selber sehe doch gar Nichts.«</p>
+
+<p>»Nichts? Siehst Du denn nicht den kleinen grauen
+Mann dort neben dem Ofen sitzen, wie er den rechten
+Arm auf der Stuhllehne liegen hat und hier herüber
+sieht? Was er nur will.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber meine liebe Auguste so sei doch vernünftig,«
+rief der Justizrath, durch den Zustand wirklich beängstigt.
+»So überzeuge Dich doch nur selber.«&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»Quäle mich nur nicht,« bat die Frau &ndash; »von
+was soll ich mich denn überzeugen? Sehe ich ihn denn
+nicht da sitzen? &ndash; Daß sie ihn nur hereingelassen
+haben.«</p>
+
+<p>»Nun gut,« rief Bertling, der wohl einsah, daß
+bloße Vernunftgründe nicht das Geringste fruchten
+würden, »dann will ich Dir <em class="gesperrt">beweisen</em>, daß Du Dich
+irrst, und nachher wirst Du mir doch Recht geben.
+Sitzt er <em class="gesperrt">noch</em> da?«</p>
+
+<p>Die Frau nickte mit dem Kopf.</p>
+
+<p>»Schön,« sagte Bertling, indem er entschlossen
+um den Tisch herum ging und der bezeichneten Stelle
+zuschritt, »dann wollen wir doch einmal sehen wie er
+sich <em class="gesperrt">jetzt</em> benimmt.«</p>
+
+<p>Der Blick der Frau haftete aber nicht mehr auf
+dem Stuhl, sondern hob sich ein wenig und strich
+<a class="pagenum" name="page_031" title="31"> </a>
+dann wieder langsam durch die Stube und zur Thür
+zurück.</p>
+
+<p>»Nun sieh,« sagte ihr Mann jetzt, indem er sich
+&ndash; wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl auf
+denselben Stuhl niederließ, auf dem das Traumbild
+sitzen sollte &ndash; »Du wirst mir doch jetzt zugeben, daß der
+Stuhl vollkommen leer war, oder Dein grauer Herr
+müßte mich sonst auf dem Schooß haben. &ndash; Nun?
+&ndash; was siehst Du denn jetzt wieder nach der Thür?«</p>
+
+<p>»Ja er ist fort,« lachte die Frau still vor sich hin.
+»Wie Du nur um den Tisch herumgingst, stand er
+auf, glitt wieder der Thür zu &ndash; und hinaus.«</p>
+
+<p>»Aber die Thür ist ja noch fest zu. Er kann doch
+nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Bertling hatte kaum Zeit zuzuspringen und seine
+Frau aufzufangen, denn ihr gehobener Arm sank matt
+am Körper herab, und die ganze Gestalt schien in sich
+selbst zusammenzubrechen. Sie konnte nicht ohnmächtig
+sein, aber es war als ob nach der gehabten Aufregung
+eine völlige Erschlaffung ihrer Glieder einträte.
+Er hatte sie auch kaum aufgehoben und auf das
+Sopha gelegt, als sie in einen festen Schlaf fiel.</p>
+
+<p>Der aber dauerte nicht lange. Schon nach kaum
+einer Viertelstunde wachte sie wieder auf und sah sich
+etwas verstört im Zimmer um.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_032" title="32"> </a>
+»Hab ich mich denn hier zum Schlafen niedergelegt?«
+sagte sie leise und sinnend &ndash; »es muß ja schon spät sein.«</p>
+
+<p>Bertling hielt es für das Beste, von dem stattgefundenen
+Anfall heute Abend gar nichts zu erwähnen,
+da er nicht wissen konnte, wie es die Leidende aufnehmen
+würde. Wenn sie morgen wieder frisch und
+munter war, wollte er es ihr erzählen, und sie lachte
+dann wahrscheinlich selbst darüber.</p>
+
+<p>»Es ist halb zehn, mein Kind,« sagte er, »und
+Du bist müde von der gestern durchschwärmten Nacht.
+Ich glaube es ist das Beste wir gehen zur Ruhe.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte die Frau nach einer kleinen Pause, in
+der sie, wie überlegend, vor sich niedersah &ndash; »ich
+muß wirklich hier eingeschlafen sein, denn ich habe
+schon geträumt. &ndash; Was einem doch dabei für wunderliche
+Dinge durch den Kopf ziehen. &ndash; Ich werde
+lieber schlafen gehen.«</p>
+
+
+
+
+<h3>Zweites Capitel.<br />
+
+<b>Die Kaffeegesellschaft.</b></h3>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen schien Auguste die gestrige
+Erscheinung vollständig vergessen zu haben; sie erwähnte
+wenigstens kein Wort davon, und Bertling
+<a class="pagenum" name="page_033" title="33"> </a>
+hatte sich in der Nacht ebenso überlegt, die ganze Sache
+weiter gar nicht zu berühren. Es würde sie nur beunruhigt
+haben, und konnte doch zu weiter nichts nützen.
+Er hätte freilich gern gewußt, ob ihr jede Erinnerung
+an die eingebildete Traumform verschwunden sei &ndash;
+und fast vermuthete er das Gegentheil, denn sie blieb
+an diesem Tag besonders nachdenkend, hörte manchmal
+mitten in ihrer Arbeit auf und sah eine Weile still
+vor sich nieder. Aber er mochte sie auch nicht fragen,
+denn hatte sie es wirklich vergessen, so mußte sie dadurch
+nur mißtrauisch gemacht werden.</p>
+
+<p>Auch der Arzt, mit dem er darüber sprach, rieth
+ihm in keinerlei Weise auf jenen Zustand hinzudeuten.
+Solche Erscheinungen kämen &ndash; wie er meinte &ndash; im
+geistigen Leben der Frauen gar nicht so selten vor,
+stumpften sich aber, wenn man ihnen Ruhe ließe, gewöhnlich
+mit der Zeit von selber ab. Das einzige
+wirksame Mittel dagegen sei Zerstreuung &ndash; leichte,
+am besten humoristische Lectüre, geselliger Verkehr etc.
+&ndash; Sie dürfte nicht zuviel allein gelassen werden,
+dann wichen diese Zustände auch von selber wieder.</p>
+
+<p>Bertling irrte sich übrigens, wenn er glaubte,
+jene eingebildete Erscheinung wäre spurlos und vielleicht
+unbewußt an seiner Frau vorübergegangen. Unmittelbar
+nach ihrer halben Ohnmacht besann sie sich
+<a class="pagenum" name="page_034" title="34"> </a>
+allerdings nicht gleich darauf und schlief in ihrer damaligen
+Abspannung auch bald ein. Aber selbst schon
+in der Nacht kam ihr die Erinnerung des scheinbar
+Erlebten, und am nächsten Morgen, als das schon
+fast verschwommene Bild wieder klarer und deutlicher
+vor ihre Seele trat, malte sie sich die Einzelheiten
+mehr und mehr im Stillen aus, bis sie auch die kleinsten,
+unbedeutendsten Umstände wieder scharf und bestimmt
+herausgefunden hatte. &ndash; Aber sie erwähnte
+gegen ihren Gatten nichts davon.</p>
+
+<p>Einmal wollte sie ihn nicht ängstigen, weil er jenem
+Phantasiegebild vielleicht zu viel Wichtigkeit beigelegt
+hätte, und dann &ndash; war sie selber noch nicht einmal
+mit sich im Klaren, ob es wirklich ein Phantasiegebild
+gewesen sei oder nicht. Sie fürchtete auch den Spott
+ihres Mannes, wenn sie ihm nur eine Andeutung gemacht
+hätte, daß sie eine solche Erscheinung für möglich
+halte, und grübelte dabei im Stillen weiter über
+das Geschehene.</p>
+
+<p>In dieser Zeit, in welcher sie sich auch immer noch
+etwas angegriffen fühlte, ging sie wenig aus und da
+ihr Mann durch eine Masse dringender Geschäfte
+über Tag abgehalten wurde, ihr Gesellschaft zu leisten,
+las sie viel &ndash; jetzt aber am liebsten Bücher, die sich
+mit dem geistigen Leben des Menschen beschäftigten
+<a class="pagenum" name="page_035" title="35"> </a>
+und oft Dinge besprachen, die ihr in ihrem überdieß
+aufgeregten und reizbaren Zustand weit besser fern gehalten
+wären. So kam ihr auch das Buch der
+Seherin von Prevorst in die Hände, und gab ihrem,
+schon außerdem zum Uebernatürlichen neigenden Sinn,
+nur noch mehr Nahrung.</p>
+
+<p>Wenn es überhaupt auf Erden Menschen gab, die
+mit jener, von anderen Sterblichen nur geahnten
+Welt in unmittelbarer Verbindung standen, die mit
+ihren körperlichen Augen das sehen konnten was um
+sie her <em class="gesperrt">bestand</em>, während es der Masse verborgen und
+unsichtbar blieb, warum sollte sie dann nicht auch zu
+diesen gehören können? &ndash; warum sollte gerade das,
+was sie deutlich und klar <em class="gesperrt">geschaut</em> hatte, nur allein
+bei ihr eine Täuschung der Sinne gewesen sein? Daß
+aber etwas Aehnliches nicht allein möglich, sondern
+schon wirklich an den verschiedensten Orten <em class="gesperrt">geschehen</em>
+sei, davon liefert ihr gerade die Seherin von Prevorst
+den sichersten Beweis, denn das Buch brachte beglaubigte
+Thatsachen, und immer fester wurzelte bei
+ihr die Ueberzeugung, daß auch sie zu jenen bevorzugten
+Wesen gehöre.</p>
+
+<p>Keineswegs erweckte aber dies, sich nach und nach
+bei ihr bildende Bewußtsein, ihre Furcht vor dem,
+was ihr etwa noch begegnen könne. Im Gegentheil
+<a class="pagenum" name="page_036" title="36"> </a>
+freute sie sich viel eher einer solchen Kraft, und beschloß
+sogar mit ruhigem kalten Blut Alles zu prüfen,
+was ihr in solcher Art an übernatürlichen Gebilden
+auftauchen und sichtbar werden sollte.</p>
+
+<p>Trotz dieser geistigen Stärke, die sie gewonnen zu
+haben glaubte, litt aber doch ihr Körper unter der fast
+gewaltsam hervorgerufenen Aufregung, und wenn auch
+Bertling den wahren Grund nicht ahnte, konnte ihm
+doch nicht entgehen, daß seine Frau in der letzten Zeit
+sichtbar bleicher und leidender geworden sei. Er schrieb
+das aber dem vielen Stuben sitzen zu, und bat sie mehr
+an die frische Luft zu gehen und sich Bewegung zu machen.
+Ja er drang sogar in sie &ndash; was er sonst nie gethan
+&ndash; ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen,
+und dann und wann auch bei sich zu sehen,
+da er mit Recht von einer solchen Zerstreuung wohlthätige
+Wirkung für sie hoffte.</p>
+
+<p>Auguste, wenn sie auch nicht das Bedürfniß danach
+fühlte, beschloß doch seinen Wunsch zu erfüllen.
+Die langen Stunden, die sie daheim allein saß, wurden
+ihr selber zuletzt drückend, und außerdem hatte sie
+ja manche Bekannte, mit der sie recht gern verkehrte
+und wo sie wußte, daß sie gern gesehen war.</p>
+
+<p>Am Besten von Allen hatte sie stets mit einer
+Jugendfreundin, der jetzigen Hofräthin <em class="gesperrt">Janisch</em>, harmonirt;
+<a class="pagenum" name="page_037" title="37"> </a>
+Pauline Janisch war eine prächtige junge
+Frau, aufgeweckt dabei und lebenslustig, und da sie in
+müssigen Stunden auch gern ein wenig schwärmte und
+ganz vorzüglich für alles Uebersinnliche leicht empfänglich
+war &ndash; ohne sich aber davon beherrschen zu lassen
+&ndash; fühlte sie sich zu dieser besonders hingezogen.</p>
+
+<p>Pauline wohnte in der nämlichen Straße mit ihr;
+als sie dieselbe aber heute aufsuchte, bewegte sie sich in
+dem zwar kleinen, doch gewählten Kreis einer Caffeegesellschaft,
+wo allerdings nichts Uebersinnliches gesprochen
+wurde. Nur über die allergebräuchlichsten
+Themata solcher Zusammenkünfte fand eine Verhandlung
+statt, als da sind: Theater und was dazu gehört
+&ndash; nämlich das Privatleben der Bühnenmitglieder
+&ndash; Dienstboten-Noth, Sittengeschichte der
+Stadt mit Vorlage einzelner, besonders hervorzuhebender
+Beispiele, und Klagen über die Vergnügungen
+und Beschäftigungen der Männer <em class="gesperrt">außer</em> dem Haus.</p>
+
+<p>Erst das eintreffende Tageblatt gab der Unterhaltung
+&ndash; nachdem man zwei Verlobungsanzeigen
+und ein Heirathsgesuch gründlich betrachtet und erschöpft
+hatte &ndash; eine andere Wendung, und zwar
+durch einen wunderlichen Vorfall in der Stadt selber,
+der in dieser Nummer eine Erwähnung fand.</p>
+
+<p>Ein in der äußersten Vorstadt gelegenes Haus
+<a class="pagenum" name="page_038" title="38"> </a>
+nämlich, das früher einmal zu einer Knopffabrik benutzt
+worden, jetzt aber schon seit mehreren Jahren,
+durch das Scheitern des Unternehmens leer und verödet
+stand, war vor Zeiten in den Ruf gekommen,
+daß es dort umgehe, und man hatte sich Monde lang
+die merkwürdigsten Geschichten davon erzählt. Anderes
+kam aber dazwischen, das ganze Gebäude wurde außerdem
+nicht mehr benutzt, und da Niemand darin wohnte,
+schlief auch das Gerücht endlich ein, bis der jetzige
+Eigenthümer vor ganz kurzer Zeit die ziemlich vom
+Wetter mitgenommenen Baulichkeiten an einen Fremden
+verkaufte, der dort eine Kammergarnspinnerei anlegen
+wollte.</p>
+
+<p>Jetzt erinnerte man sich allerdings wieder lebhaft
+der früheren Gerüchte, die aber in den ersten Wochen
+auch nicht die geringste Bestätigung fanden. Der
+Fabrikant war mit zwölf oder sechszehn Arbeitern dort
+eingezogen und die Leute, die größtentheils noch nicht
+einmal von den Gerüchten gehört haben konnten,
+hatten die Nächte, die sie dort zugebracht, vortrefflich
+und ungestört geschlafen. &ndash; Es dachte schon Niemand
+mehr an die früheren Spuckgeschichten.</p>
+
+<p>Da erzählte man sich in der Stadt, sämmtliche
+Arbeiter in der Fabrick hätten ihrem Brodherren
+den Dienst gekündigt. Es wurde dem anfangs widersprochen,
+<a class="pagenum" name="page_039" title="39"> </a>
+aber das Gerücht fand immer festeren Boden
+bis denn das Tageblatt heute die Nachricht ganz sicher
+bestätigte. Es geschah das durch die Aufforderung des
+Fabrikherrn, um neue Arbeiter herbeizurufen, da sich
+die bisherigen, wie hier gedruckt stand, »durch abergläubischen
+Unsinn hätten bewegen lassen, seinen
+Dienst zu quittiren.«</p>
+
+<p>Es blieb jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen,
+daß die bisherigen Gerüchte nicht gelogen haben
+konnten, sondern etwas Wahres an der Sache sein
+müsse und die Aufregung der kleinen Gesellschaft
+wurde noch erhöht, als sich plötzlich herausstellte, daß
+sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten, das
+ihnen von dem, jetzt jedes andere Interesse verschlingenden
+Platz die genauesten und direktesten Nachrichten
+geben konnte.</p>
+
+<p>Es war das die Frau Präsident Cossel, eine schon
+ältliche Dame mit etwas rother Nase, aber einem sehr
+entschieden energischen Zug um den Mund. Die
+Dame hielt sich auch in der That nie bei Vermuthungen
+auf, sondern sprach stets was sie wußte oder nicht
+wußte auf das aller Bestimmteste aus. Widerspruch
+duldete sie nie und wenn man behauptet, daß die Haare
+den Charakter des Menschen darthun, so mochte das
+recht gut auch bei der Frau Präsidentin ihre Bestätigung
+<a class="pagenum" name="page_040" title="40"> </a>
+finden, denn eben so starr und fest gerollt
+wie die vier falschen Locken, die sie vorgebunden trug,
+war ihr Gemüth.</p>
+
+<p>»Es ist richtig &ndash; ich weiß es; es spukt drüben,«
+sagte sie, indem sie ihre Tasse zum vierten Mal zum
+Füllen reichte, und ihre schönen Zuhörerinnen zweifelten
+viel weniger an der, jetzt als unumstößlich festgestellten
+Thatsache, als daß sie sich wunderten, wie die
+Frau Präsidentin diesen doch sicher höchst interessanten
+Fall so lange still bei sich getragen und wirklich
+erst auf äußere Veranlassung von sich gegeben habe.</p>
+
+<p>Die Frau Präsidentin wohnte aber dem besagten
+Fabrikgebäude schräg gegenüber, und konnte also, als
+allernächste Nachbarin desselben &ndash; wenn irgend Jemand,
+Näheres darüber wissen. Die Neugier der
+Damen war &ndash; hierbei sehr verzeihlich &ndash; auf das
+Höchste gespannt.</p>
+
+<p>»Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!« &ndash;
+Gegen die <em class="gesperrt">Thatsache</em> war Nichts mehr einzuwenden,
+und es blieb jetzt nur noch übrig die Einzelheiten derselben
+zu erfahren. Die Frau Präsidentin wußte
+Alles.</p>
+
+<p>Die ersten Nächte waren die neu eingezogenen
+Leute vollkommen unbelästigt geblieben, nur zu bald
+aber brach plötzlich &ndash; und natürlich genau um Mitternacht
+<a class="pagenum" name="page_041" title="41"> </a>
+&ndash; ein donnerndes Getöse im ganzen Hause
+los, daß den Insassen das Haar auf dem Kopfe
+sträubte. Ketten klirrten über die Treppen, die Balken
+krachten, als ob furchtbare Gewichte darauf geworfen
+würden, die Thüren schlugen auf und zu, die Fenster
+klapperten &ndash; und das bei sternenheller Nacht und
+todter Windstille &ndash; und ein unheimlich flackernder
+Schein zuckte aus einer Stube in die andere durch
+das ganze Haus. Das Nämliche wiederholte sich in
+den folgenden Nächten, nur mit der Zugabe, daß den
+Schlafenden die Decken weggerissen wurden. Allerdings
+glaubten die Leute anfangs an einen Schabernack,
+den ihnen muthwillige Gesellen spielten, und
+um kein Aufsehen zu erregen, wurde die Polizei heimlich
+von dem Unfug in Kenntniß gesetzt und traf in
+einer der Nächte kurz vor zwölf Uhr dort ein, um die
+Urheber auf frischer That zu ertappen. Ja ihr Aufpassen
+half ihnen nichts, denn erwischen konnten sie
+Niemand, während gerade ihnen am tollsten mitgespielt
+wurde. Es schlug ihnen die Hüte vom Kopf
+und die Stöcke aus der Hand, und die Leute verließen
+&ndash; wie die Frau Präsidentin behauptete &ndash; in Entsetzen
+das Haus.</p>
+
+<p>Von <em class="gesperrt">der</em> Nacht an waren die übrigen Arbeiter
+aber auch nicht mehr zu halten, und obgleich der Fabrikherr
+<a class="pagenum" name="page_042" title="42"> </a>
+&ndash; aus leicht zu errathenden Gründen &ndash;
+ein tiefes Stillschweigen über alles Vorgefallene beobachtete,
+und die Leute selber sich ebenfalls schienen
+das Wort gegeben zu haben, nichts über die Sache
+verlauten zu lassen, war doch das allein der wahre
+Thatbestand.</p>
+
+<p>»Und woher es die Frau Präsidentin wußte?« &ndash;
+wie die etwas muthwillige Frau Hofräthin Janisch
+frug. &ndash; Die Dame blitzte sie zwischen den Locken
+hervor mit einem wahren Dolchblick an.</p>
+
+<p>»Woher ich das weiß, Frau Hofräthin?« wiederholte
+sie, und absichtlich mit etwas gehobener Stimme
+&ndash; »ich denke, ich habe meine Quellen &ndash; selbst wenn
+mein Mann nicht Präsident wäre, Sie wissen doch
+wohl &ndash; oder <em class="gesperrt">sollten</em> es wenigstens wissen, daß es
+zwischen Ehegatten kein Amtsgeheimniß giebt. &ndash;
+Aber noch mehr,« setzte sie plötzlich mit geheimnißvollem
+Ton hinzu, »Sie wissen doch, daß sich der
+junge Belldan gestern Morgen um's Leben gebracht
+hat?«</p>
+
+<p>»Ei gewiß,« sagte die Frau Kreisräthin Barthels,
+»das ist ja stadtbekannt. Er soll ein paar falsche
+Wechsel ausgestellt haben, und wie ihn sein Vater
+aus dem Hause stoßen wollte, ging er in das Holz
+und schoß sich eine Kugel durch den Kopf.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_043" title="43"> </a>
+»Bah,« sagte die Frau Präsidentin mit einer
+wegwerfenden Bewegung und ganz entschiedener
+Betonung der nächsten Worte, »der junge Mensch
+hat nie falsche Wechsel gemacht, aber aus Uebermuth
+die letzte Nacht in dem Spukhaus geschlafen und darnach
+&ndash; konnte er nicht länger leben.«</p>
+
+<p>Was er dort gesehen hatte vermochte die Frau
+freilich selber nicht zu sagen, aber schon die Andeutung
+war interressant genug, um eine weitere Besprechung
+derselben außer Frage zu stellen und das
+Gespräch, einmal in diese Bahn gelenkt, blieb nun
+natürlich in dem nämlichen Gleis und ging von dem
+Spukhaus auf Gespenstergeschichten und Erscheinungen
+im Allgemeinen über.</p>
+
+<p>Der Abend rückte dabei heran, aber die Gesellschaft
+protestirte von der kleinen lebhaften Hofräthin
+dabei warm unterstützt, gegen die Forderung der
+Präsidentin, Licht herbeizuschaffen. Es ging Nichts
+über eine solche Unterhaltung in der Dämmerung
+und als jetzt die Gaslaterne draußen auf der Straße
+angezündet wurde, und ein ordentlich unheimliches
+Streiflicht in das düstere Zimmer warf, rückten die
+Damen nur desto näher zusammen und die Frau
+Kreisräthin behauptete, es gäbe doch gar kein wonnigeres
+<a class="pagenum" name="page_044" title="44"> </a>
+Gefühl in der Welt, als »wenn es Einen so
+ein Bischen gruselte.«</p>
+
+<p>Nur Auguste, Bertlings Frau, hatte bis jetzt
+keinen Antheil an dem Gespräch genommen, als vielleicht
+hie oder da einmal eine Frage einzuwerfen,
+aber deshalb mit nicht weniger Aufmerksamkeit den
+verschiedenen Geschichten gelauscht, die bald von dieser
+bald von jener Dame zum Besten gegeben wurden
+und natürlich alle mit jener übersinnlichen Welt in
+Verbindung standen.</p>
+
+<p>In Alburg wurde auch noch das Tischklopfen und
+die Geisterschrift mit Hülfe einer besondern mit Bleistift
+verbundenen Vorrichtung leidenschaftlich getrieben
+und viele Damen beschäftigten sich heimlich damit
+&ndash; öffentlich durften sie es ja nicht, weil man das
+vollkommen Nutzlose dieser Experimente lange eingesehen
+hatte, und die auslachte, die es trotzdem noch
+ausübten. Eine Masse von Beispielen wurden jetzt
+von entzifferten Briefen, von Zahlen, Nachrichten Entfernter,
+Schutzgeistern und all derartigen Ergebnissen
+der Zauberkunst erwähnt, dann sprang das Gespräch
+auf Ahnungen, Doppelgänger, Erscheinungen über
+und die Frau Präsidentin erklärte mit ihrer gewöhnlichen
+Bestimmtheit &ndash; was die Thatsache außer allen
+Zweifel stellte, &ndash; daß ihr erster Mann &ndash; Gott habe
+<a class="pagenum" name="page_045" title="45"> </a>
+ihn selig &ndash; ihr zwei Mal schon erschienen sei: Das
+erste Mal als sie sich wieder verlobt habe. &ndash; Das
+zweite Mal bei &ndash; einer andern Gelegenheit &ndash; sie
+sagte nicht welcher &ndash; und beide Male in seinem grauen
+Schlafrock mit rothem Futter und hellblauen Quasten
+wie »der Selige« immer daheim gekleidet gewesen.</p>
+
+<p>Auguste lehnte schweigend in ihrem Fauteuil, anscheinend
+theilnahmlos, aber mit ihrem Geist in reger
+Thätigkeit, und vor ihrem innern Auge stieg die Gestalt
+wieder empor, die sie an jenem Abend gesehen
+hatte. &ndash; Aber sie erwähnte kein Wort davon; es war
+das ihr eigenes Geheimniß, und es kam ihr der Gedanke,
+als ob sie jenes Wesen erzürnen müsse, wenn
+sie sein Dasein einem andern Menschen verrathe. So
+ganz mit sich selber beschäftigte sie sich dabei, daß sie
+ordentlich erschrak, als die kleine Gesellschaft plötzlich
+aufbrach, um in ihre eigenen Wohnungen zurückzukehren.
+Es war sieben Uhr und damit Zeit geworden
+daheim den Herren Ehegatten das Abendbrot zu bereiten.
+Der <em class="gesperrt">Caffee</em> hatte überhaupt, durch solch Gespräch
+gewürzt, weit länger gedauert, als das sonst
+je der Fall gewesen.</p>
+
+<p>Die lebhafte Scene des Ankleidens und Abschiednehmens
+verdrängte jetzt auch bald all die düsteren Gedanken
+und Bilder, die den ganzen Abend über dem
+<a class="pagenum" name="page_046" title="46"> </a>
+kleinen Kreis geschwebt. Es war Licht gebracht, und
+die Meisten hatten schon lange den ganzen heraufbeschworenen
+Spuk vergessen, &ndash; Auguste nicht.</p>
+
+<p>Sie nahm Abschied von der Freundin und ging die
+wenigen Schritte nach ihrer eigenen Wohnung, kaum
+etwas mehr als über die Straße hinüber, &ndash; allein
+immer aber war ihr Geist noch mit jenem Traumbild
+beschäftigt, das ihr durch die Unterhaltung da drüben
+wieder in ihrer ganzen Schärfe vor der Seele stand.</p>
+
+<p>Still und schweigend stieg sie die Stufen hinan
+&ndash; die Vorsaalthür war offen &ndash; auf dem Vorsaal
+selbst brannte kein Licht, aber die Gasflamme der
+Treppe warf ihren Schein durch das über der Thür
+angebrachte Fenster. Sie wußte bestimmt, ihr Mann
+war jetzt zu Haus und in seiner Stube, wo er gewöhnlich
+bis zum Abendbrot allein arbeitete. Sie
+ging durch ihr eigenes Zimmer nach seiner Thür,
+öffnete dieselbe, stand einen Moment in sprachlosem
+Entsetzen auf der Schwelle und brach dann mit einem
+halblautem Schrei und ehe ihr Gatte zuspringen und
+sie halten konnte, bewußtlos in sich zusammen.</p>
+
+
+
+
+<h3>Drittes Capitel.<a class="pagenum" name="page_047" title="47"> </a><br />
+
+<b>Der unheimliche Besuch.</b></h3>
+
+
+<p>Der Justizrath war an dem Abend beschäftigt
+gewesen, eingelaufene Actenstücke durchzusehen und zu
+erledigen. Die Zeit verging ihm dabei so rasch, daß
+er die Abwesenheit seiner Frau &ndash; die er überdies bei
+Freund Janisch gut aufgehoben wußte, gar nicht
+bemerkte.</p>
+
+<p>Im Verlauf seiner Arbeit war er auch genöthigt
+gewesen ein paar Briefe zu schreiben, die noch vor sieben
+Uhr auf die Post mußten. Er hatte das Mädchen
+damit fortgeschickt und saß wieder über seinen Papieren
+als es draußen klingelte und er selber hingehen
+mußte, um zu öffnen.</p>
+
+<p>Draußen stand ein Fremder &ndash; anständig angezogen,
+ein kleiner schmächtiger Mann in dunkler Kleidung,
+der mit dem Hute in der Hand sehr bescheiden
+frug, ob er die Ehre habe den Herrn Justizrath Bertling
+zu sprechen.</p>
+
+<p>»Mein Name ist Bertling, was steht zu Ihren
+Diensten?«</p>
+
+<p>»Würden Sie mir gestatten ein paar Worte allein
+an Sie zu richten?« frug der kleine Mann, wie schüchtern,
+<a class="pagenum" name="page_048" title="48"> </a>
+und seine weiten, glänzenden Augen hafteten
+dabei fragend auf dem Justizrath.</p>
+
+<p>Diesem war die Störung eben nicht besonders
+gelegen, aber der Fremde sah so bescheiden und anspruchslos
+aus und seine Frage klang so dringend, daß
+er ihm die Bitte auch nicht abschlagen mochte.</p>
+
+<p>»Dann sein Sie so gut und kommen Sie mit in
+mein Zimmer,« sagte der Justizrath und ging seinem,
+etwas späten Besuch voran, ohne jedoch die Vorsaalthür
+wieder zuschließen.</p>
+
+<p>Im Studierzimmer Bertlings brannte die Lampe
+etwas düster, aber doch hell genug, um die Züge des
+Fremden ziemlich deutlich erkennen zu können. Er hatte
+eine hohe Stirn, von der er das schwarze schon dünn
+gewordene Haar zurückgestrichen trug, und ein paar
+große sprechende Augen, aber seine Züge sahen bleich
+und leidend aus; die Backenknochen traten auffallend
+hervor und in dem ganzen Wesen des Mannes lag
+etwas Scheues und Gedrücktes. Der Justizrath
+nöthigte ihn durch eine Bewegung mit der Hand auf
+das Sopha, aber der Fremde schien diese Ehre abzulehnen,
+denn er ließ sich auf dem nächsten Stuhl am Ofen
+nieder, und zwar seitwärts, um dem Justizrath sein
+Gesicht zuzukehren und dabei legte er den rechten Arm
+über die Lehne des nämlichen Stuhles.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_049" title="49"> </a>
+Bertling entging übrigens nicht, daß sich sein Besuch
+durch irgend etwas gedrückt fühlte, und theils
+aus angeborener Gutmüthigkeit, theils mit dem
+Wunsch die unwillkommene Störung so viel als möglich
+abzukürzen, sagte er freundlich:</p>
+
+<p>»Und mit was kann ich Ihnen dienen?«</p>
+
+<p>Der Fremde hatte noch keine Zeit zum Antworten
+gehabt, als nebenan eine Thür ging und da Bertling,
+der recht gut wußte, daß das Mädchen kaum von der
+Post zurück sein konnte, eben aufstehen wollte, um nachzusehen,
+wer da wäre, öffnete sich die Seitenthür &ndash;
+seine Frau stand auf der Schwelle, hob langsam den
+rechten Arm und brach dann, ohne weiter ein Wort,
+eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend, besinnungslos
+zusammen.</p>
+
+<p>In tödtlichem Schreck sprang ihr Gatte zu, hob
+ihren Kopf auf sein Knie, strich ihr in seiner Herzensangst
+die Stirn, rieb ihr die Schläfe und rief sie mit
+allen Liebesnamen, um sie zum Leben zurückzubringen.
+Als das aber Alles vergeblich blieb, hob er sie auf und
+trug sie auf ihr eigenes Sopha im nächsten Zimmer
+und sprang dann zurück nach der Lampe. Er wollte
+dabei den Fremden bitten, ihm sein Anliegen ein ander
+Mal vorzutragen, aber der Stuhl war leer &ndash; der
+Fremde fort &ndash; er hatte ihn gar nicht weggehen sehen,
+<a class="pagenum" name="page_050" title="50"> </a>
+aber auch jetzt wahrlich keine Zeit, sich weiter um ihn
+zu bekümmern. Er trug die Lampe hinüber und rieb
+Stirn und Schläfe seiner Frau mit Eau de Cologne.</p>
+
+<p>Glücklicher Weise kam auch jetzt das Mädchen,
+das recht frisches Wasser bringen mußte, und nach
+wenigen Minuten schlug Auguste die Augen wieder
+auf. Anfangs freilich schaute sie noch scheu und wie
+furchtsam umher, als sie sich aber in ihrem eigenen
+Zimmer fand, beruhigte sie sich bald und lehnte jetzt
+nur noch etwas bleich und erschöpft im Sopha.</p>
+
+<p>»Aber ich bitte Dich um Gottes Willen, liebes
+Kind, was hattest Du denn nur auf einmal« frug jetzt
+Bertling durch diese plötzliche Ohnmacht nicht wenig
+beunruhigt &ndash; »warst Du denn schon vorher unwohl?«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte die Frau leise, »mir fehlte gar
+nichts, aber &ndash; als ich in Dein Zimmer kam&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ich habe heut Nachmittag sehr viel geraucht,«
+ergänzte Bertling, »und der rasche Wechsel aus der
+frischen Luft in den Tabacksqualm hat vielleicht den
+Unfall herbeigerufen.«</p>
+
+<p>»Nein,« wiederholte die Frau mit dem Kopf schüttelnd,
+»das &ndash; das war es nicht &ndash; ich war vollkommen
+gesund &ndash; an den Tabacksgeruch bin ich ja auch
+<a class="pagenum" name="page_051" title="51"> </a>
+gewöhnt, aber &ndash; als ich in Dein Zimmer trat sah
+ich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber was denn mein süßes liebes Herz,« bat der
+Mann, »so sprich doch nur; Du ängstigt mich ja noch
+viel mehr durch Dein Schweigen. &ndash; Was sahst
+Du denn?«</p>
+
+<p>»Denselben grauen Mann,« hauchte die Frau mit
+kaum hörbarer Stimme »&ndash;&nbsp;den ich bei dem Sturm
+in Deinem Zimmer sah&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber liebes, liebes Kind,« bat der Mann erschreckt
+und zugleich beunruhigt, daß seine Frau jenes Traumbild,
+wie er im Stillen gehofft, nicht etwa vergessen
+habe, sondern noch voll und scharf im Gedächtniß
+trage &ndash; »sieh nur, was für einen tollen Streich Dir
+Deine Einbildungskraft gespielt hat. Das war ja
+doch kein Gespenst, was Du gesehen, sondern ein
+Mensch von Fleisch und Blut, der kurz vor Dir zu
+mir kam und mich zu sprechen wünschte.«</p>
+
+<p>»So hast Du ihn diesmal auch gesehen?« rief die
+Frau rasch und erschreckt.</p>
+
+<p>»Gewiß,« lächelte Bertling, »und er ist auch gar
+nicht wie ein Geist eingetreten, sondern hat draußen
+geklingelt und ich habe ihm selber die Vorsaalthür
+aufgemacht.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_052" title="52"> </a>
+»Und ist er <em class="gesperrt">noch</em> bei Dir?« rief die Frau, sich
+rasch im Sopha aufrichtend.</p>
+
+<p>»Nein,« lautete die Antwort &ndash; »wie Du ohnmächtig
+wurdest, muß er fortgegangen sein, denn als
+ich nach der Lampe zurücksprang, war er verschwunden.«</p>
+
+<p>»Verschwunden?«</p>
+
+<p>»Nun hoffentlich nicht in die Luft,« lachte Bertling,
+aber doch etwas verlegen, denn es fiel ihm jetzt
+auf einmal ein, daß der Fremde in seinem ganzen Wesen
+wirklich etwas Räthselhaftes gehabt habe, und
+dabei merkwürdig rasch aus dem Zimmer gewesen sei.
+Wie <em class="gesperrt">war</em> er nur hinausgekommen, denn er erinnerte
+sich nicht gesehen oder gehört zu haben, daß die Thür
+geöffnet wurde, was ihm doch kaum hätte entgehen
+können &ndash; »er &ndash; er wird fortgegangen sein, als er
+sah, daß ich mich nicht weiter mit ihm abgeben konnte.«</p>
+
+<p>Seine Frau erwiderte nichts darauf. Sie schaute
+eine ganze Weile sinnend vor sich nieder, endlich sagte
+sie leise:</p>
+
+<p>»Er saß auf dem nämlichen Stuhl, auf dem ich
+ihn damals gesehen habe &ndash; genau so wie in jener
+Nacht, mit dem rechten Arm auf der Lehne &ndash; er trug
+den nämlichen grauen Rock und sah eben so bleich aus
+und hatte dieselben großen geisterhaften Augen.«</p>
+
+<p>»Aber liebe, liebe Auguste« bat der Mann, jetzt
+<a class="pagenum" name="page_053" title="53"> </a>
+wirklich beunruhigt, »so gieb Dich doch nur nicht solch
+thörichten kindischen Gedanken hin, und mische nicht
+eine wirklich menschliche, wahrscheinlich sehr unbedeutende
+Persönlichkeit, mit Deinen Traumbildern zusammen.
+&ndash; Uebrigens,« setzte er rasch hinzu &ndash; »muß
+ihm ja auch die Rieke auf der Treppe begegnet sein,
+denn sie kam unmittelbar nach Dir &ndash; Rieke!« rief
+er dann zur Thür hinaus &ndash; »Rieke!«</p>
+
+<p>»Jawohl&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Kommen Sie einmal einen Augenblick herein.«</p>
+
+<p>Die Gerufene steckte den Kopf zur Thür herein.</p>
+
+<p>»Soll ich was?«</p>
+
+<p>»Wie Sie vorhin zurückkamen, ist Ihnen da Niemand
+im Haus begegnet?«</p>
+
+<p>»Doch, Herr Justizrath&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Nun siehst Du, liebes Kind &ndash; und wie sah er aus?«</p>
+
+<p>»Er!« sagte die Köchin etwas erstaunt &ndash; »es
+war die Heßbergern, dem Schuhmacher seine Frau
+von oben, die noch einmal unten in den Laden ging,
+um für ihren Mann Branntewein zu holen. Der
+kriegt Abends immer Durst, und sie trinkt dann auch
+mit.«</p>
+
+<p>»Unsinn,« brummte der Justizrath &ndash; »was geht
+<a class="pagenum" name="page_054" title="54"> </a>
+mich die Frau an &ndash; ich will wissen, ob Sie im Haus
+keinem <em class="gesperrt">Mann</em> begegnet sind?«</p>
+
+<p>»Einem Mann?«</p>
+
+<p>»Einem anständig gekleideten Herrn in einem
+grauen oder dunklen Rock, der hier oben bei mir war?«</p>
+
+<p>»Ich habe Niemanden gesehen,« sagte das Mädchen
+erstaunt mit dem Kopf schüttelnd »und so lange
+ich hier oben bin, ist auch Niemand fortgegangen, denn
+ich habe die Thür gleich hinter mir zugeriegelt und
+die Kette vorgehangen.«</p>
+
+<p>Die Frau nickte leise vor sich hin, Bertling aber,
+ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte Zeugenaussage
+veranlaßt, rief:</p>
+
+<p>»Nun, denn ist er <em class="gesperrt">vorher</em> gegangen; die Rieke
+kann ihm auch eigentlich gar nicht begegnet sein, denn
+er muß doch eine ganze Weile früher die Stube verlassen
+haben. So viel bleibt sicher, in den Boden
+hinein ist er nicht verschwunden &ndash; gehen Sie nur
+wieder an Ihre Arbeit Rieke &ndash; es ist gut&nbsp;&ndash;.«</p>
+
+<p>Die Rieke zog sich an das Heiligthum ihres Heerdes
+zurück, griff dort die Wassereimer auf und ging
+nach dem Brunnen hinunter, um frisches Wasser zu
+holen. Unten im Haus begegnet ihr des Schusters
+Frau und das Mädchen, mit dem eben bestandenen
+Examen noch im Kopf sagte zu dieser:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_055" title="55"> </a>
+»Haben <em class="gesperrt">Sie</em> denn vorhin einen Mann gesehen,
+Heßbergern, der von uns herunterkam, wie Sie aus
+dem Haus gingen?«</p>
+
+<p>»Ich? &ndash; nein,« sagte die Frau &ndash; »was für einen
+Mann?«</p>
+
+<p>»Ja ich weiß es auch nicht, er soll einen grauen
+Rock angehabt haben.«</p>
+
+<p>»Und was ist mit dem?«</p>
+
+<p>»Gott weiß es,« brummte die Rieke &ndash; »er muß auf
+einmal weggewesen sein und Niemand hat ihn fortgehen
+sehen, und jetzt glaub ich, ängstigt sich die Frau
+darüber und ist sogar ohnmächtig geworden. &ndash; Na
+Nichs für ungut« und damit schwenkte sie mit ihren
+Eimern zur Thür hinaus.</p>
+
+<p>Der Justizrath ging indessen ein paar Mal im
+Zimmer auf und ab, aber er dachte dabei nicht an den
+vollkommen gleichgültigen Fremden, sondern der Zustand
+seiner Frau beunruhigte ihn immer ernsthafter.
+So reizbar und erregt war sie noch nie gewesen, und
+während er geglaubt, daß sie all die alten Phantasieen
+längst und für immer vergessen hätte, fühlte er jetzt
+daß sie dieselben grade im Gegentheil still bei sich
+getragen und darüber vielleicht die ganze Zeit gebrütet
+habe. Wie um Gottes Willen konnte er ihr das
+nur aus dem Kopf bringen!</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_056" title="56"> </a>
+»Es ist doch merkwürdig« sagte die Frau endlich
+nach längerer Pause, »daß <em class="gesperrt">zwei</em> Personen denselben
+Gegenstand gesehen haben sollten.«</p>
+
+<p>»Gegenstand &ndash; Thorheit!« brummte aber der
+Justiz-Rath. »Thu' mir den einzigen Gefallen, liebes
+Kind, und sprich nicht von Gegenständen, wo es sich um
+eine einfache vollkommen gleichgültige Persönlichkeit
+handelt. Gedulde Dich nur eine kurze Zeit, der
+Mensch kommt wahrscheinlich morgen früh wieder zu
+mir, und dann erlaubst Du mir wohl, daß ich ihn Dir
+vorstellen darf&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Und bist Du wirklich überzeugt, daß es ein
+<em class="gesperrt">Mensch</em> war?«</p>
+
+<p>»Aber Auguste&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Hast Du ihn berührt?«</p>
+
+<p>»Ich? &ndash; hm ich kann mich nicht besinnen &ndash;
+es war auch keine Gelegenheit dazu da, denn einem
+fremden Menschen giebt man doch nicht gleich die
+Hand &ndash; aber er ist doch wie andere Sterbliche hereingekommen.«</p>
+
+<p>»Hat er sich selber die Thür aufgemacht?«</p>
+
+<p>Der Justizrath sann einen Augenblick nach &ndash;
+»Nein« sagte er dann, »das konnte er nicht, sie war ja
+verschlossen &ndash; aber er muß sie selber wieder aufgemacht
+<a class="pagenum" name="page_057" title="57"> </a>
+haben, um hinaus zu kommen; das wirst Du
+mir doch zugeben.«</p>
+
+<p>Auguste war aufgestanden, ging auf den Justizrath
+zu, legte ihren rechten Arm um seinen Nacken
+und ihr Haupt an seine Brust lehnend, sagte sie leise
+und bittend:</p>
+
+<p>»Sei nur nicht böse, Theodor, sieh ich kann ja
+Nichts dafür; und ich &ndash; mir möchte das Herz selber
+darüber brechen, aber &ndash; ich fühle es deutlich in mir,
+es ist eine Ahnung aus jener Welt, gegen die wir
+nicht ankämpfen können, mag sich der Verstand auch
+dawider sträuben wie er will. &ndash; Wenn mir der <em class="gesperrt">graue
+Mann</em> zum <em class="gesperrt">dritten</em> Mal erscheint &ndash; so <em class="gesperrt">sterb</em> ich.«</p>
+
+<p>»Auguste, ich bitte Dich um Gottes Willen« rief
+jetzt der Mann in Todesangst, indem er sie fest an sich
+preßte &ndash; »gieb nicht solchen furchtbaren Gedanken
+Raum. Sieh Kind, man hat ja Beispiele, daß Menschen
+nur allein einer solchen fixen Idee erlegen sind,
+wenn sie sich erst einmal in ihrem Geiste festgesetzt
+hatte. Erst war Trübsinn, dann Schwermuth die
+Folge und im Körper nahm Schwäche zu, je mehr
+jene Idee im Hirn seine verderblichen Wurzeln schlug.«</p>
+
+<p>»Aber Du sprichst immer von einer <em class="gesperrt">Idee</em>, Theodor,«
+sagte die Frau &ndash; »habe ich denn die Gestalt nicht
+<a class="pagenum" name="page_058" title="58"> </a>
+zwei Mal deutlich gesehen, so deutlich, wie ich Dich
+selber hier vor mir sehe?«</p>
+
+<p>»Das zweite Mal, ja, das gebe ich zu,« sagte der
+Mann in verzweifelter Resignation, und jetzt nur bemüht
+diese Phantasie durch Vernunftgründe zu bannen
+&ndash; »denn das unglückselige Menschenkind, das gerade
+in der Zeit zu mir kommen mußte &ndash; und ich wollte,
+Gott verzeih mir die Sünde, er hätte sonst was gethan
+&ndash; saß wirklich da. Aber das erste Mal, liebes gutes
+Herz <em class="gesperrt">mußt</em> Du mir doch zugeben, daß es nur das
+Spiegelbild einer Deiner Träume gewesen sein kann.«</p>
+
+<p>Die Frau antwortete nicht, schüttelte aber nur leise
+und kaum merklich mit dem Kopf.</p>
+
+<p>»Sieh, liebes Kind,« fuhr Bertling, der die Bewegung
+an seiner Schulter fühlte, fort: »Du wirst
+mir doch zugeben, daß ein Geist &ndash; wenn wir wirklich
+annehmen wollen, es <em class="gesperrt">gäbe</em> derartige Wesen, denen verstattet
+sei auf der Erde herumzuwandern und Unheil
+anzustiften &ndash; körperlos sein muß, also nur ein Hauch,
+verdichtete Luft höchstens. Was aber keinen Körper
+hat, kann man ja doch nicht sehen, wenigstens nicht mit
+<em class="gesperrt">unseren</em> Augen, die ja doch auch nur körperlich sind.«</p>
+
+<p>»Ich antworte Dir darauf durch ein anderes Beispiel,«
+sagte die Frau, sich von seiner Schulter emporrichtend.
+»Wir wissen doch, daß die Sterne am Himmel
+<a class="pagenum" name="page_059" title="59"> </a>
+stehen, aber trotzdem sieht sie das Menschenauge am
+Tag nicht, mag der Himmel so rein sein wie er will
+&ndash; aber man hat Vorrichtungen für das Auge, wodurch
+man sie doch erkennen kann, und warum sollte nicht
+das Auge einzelner Menschen so beschaffen sein, daß sie
+einzelne Dinge sehen können, die Anderen unsichtbar
+bleiben.«</p>
+
+<p>»Aber die Sterne sind auch <em class="gesperrt">Körper</em>, liebes Herz,
+und noch dazu ganz respectable.«</p>
+
+<p>»Du weichst mir aus,« rief die Frau, »und ich
+leugne, daß unser Auge nur allein für <em class="gesperrt">Körper</em> geschaffen
+ist. Der Schatten ist kein Körper und wir
+sehen ihn doch.«</p>
+
+<p>»Aber nur, wenn er auf einem Körper liegt, doch
+nie allein und selbständig in der Luft.«</p>
+
+<p>»Ich habe auch jene Gestalt nicht frei in der Luft
+gesehen,« sagte die Frau, die fest entschlossen schien,
+den einmal gefaßten Gedanken auch festzuhalten,
+»sondern vielleicht nur auf dem Hintergrund der
+Wand&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Du bringst mich noch zur Verzweiflung, Herz,
+mit Deinem Gespenst,« sagte Bertling, während ein
+tiefer Seufzer seine Brust hob &ndash; »wer Dir nur in
+aller Welt die tollen Gedanken in den Kopf gesetzt
+haben kann.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_060" title="60"> </a>
+»Und nennst Du eine feste, innige Ueberzeugung
+mit diesem Namen, Theodor?«</p>
+
+<p>»Meine liebe Auguste,« flehte der Mann dringend,
+»mißverstehe mich nicht. Ich will Dir ja bei Gott
+nicht wehe thun, aber wie in aller Welt soll ich Dich
+nur überzeugen, daß &ndash; daß Du Dich wirklich und
+wahrhaftig geirrt und ein körperliches Wesen mit
+einem geistigen in eine ganz unglückselige Verbindung
+bringst? &ndash; Aber das hätte Alles nichts zu sagen,
+Herz, denn von <em class="gesperrt">diesem</em> Irrthum hoff' ich Dich mit
+der Zeit zu überzeugen; nur <em class="gesperrt">Das</em> beunruhigt mich, und
+noch dazu in der peinlichsten Weise, daß sich bei Dir
+eine &ndash; ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll &ndash;
+eine solche unglückselige Idee festgesetzt hat, die Du
+für eine Ahnung nahen Todes hältst. Wenn Du mich
+nur ein ganz klein wenig liebst, so bekämpfe diesen Gedanken
+mit allen Kräften, und von dem Uebrigen
+fürchte ich Nichts für Dich. Willst Du mir das versprechen?«</p>
+
+<p>»Aber lieber Theodor,« fragte die Frau &ndash; »kann
+man denn eine <em class="gesperrt">Ueberzeugung</em> noch bekämpfen?«</p>
+
+<p>Der Mann seufzte recht aus voller Brust.
+Endlich sagte er:</p>
+
+<p>»Dagegen läßt sich nicht streiten, und wir können
+nur hoffen, daß der liebe Gott noch Alles zum Besten
+<a class="pagenum" name="page_061" title="61"> </a>
+wendet. Ich selber werde mir aber jetzt die größte
+Mühe geben, um Dir den Patron, der mich heute
+Abend mit seinem Besuch beehrte, als ein sehr körperliches
+Wesen vorzustellen, und wenn ich erst einmal
+<em class="gesperrt">eine</em> Flanke Deines Luftschlosses niedergerannt habe,
+dann hoffe ich auch mit dem Uebrigen fertig zu werden.
+Bis dahin bitte ich Dich nur um eins und das mußt
+Du mir versprechen: Dich nicht absichtlich trüben Gedanken
+hinzugeben, sondern sie, so viel das nur irgend
+in Deinen Kräften steht, zu bewältigen &ndash; das Uebrige
+findet sich dann. Thust Du mir den Gefallen?«</p>
+
+<p>»Von Herzen gern,« sagte die Frau seufzend, »ach
+Du weißt ja nicht, Theodor, wie furchtbar schmerzlich
+mir selber das Gefühl ist und ich will ja gern Alles
+thun um es zu ersticken.«</p>
+
+<p>»Dann wird auch noch Alles gut gehen, mein
+Kind,« erwiderte mit erleichtertem Herzen Bertling,
+indem er sie an sich zog und küßte &ndash; »und nun gilt
+es vor allen Dingen, meinen flüchtig gewordenen Besuch
+aufzutreiben, und da mir die Polizei zu Gebote
+steht, hoffe ich, daß das nicht so schwer sein soll.«</p>
+
+<p>»Ich fürchte, Du wirst ihn nicht finden,« sagte
+Auguste.</p>
+
+<p>»Das laß <em class="gesperrt">meine</em> Sorge sein,« lächelte ihr Mann
+&ndash; »und nun wollen wir Thee trinken.«</p>
+
+
+
+
+<h3>Viertes Capitel.<a class="pagenum" name="page_062" title="62"> </a><br />
+
+<b>Die Kartenschlägerin.</b></h3>
+
+
+<p>Bertling stand sonst nicht gern vor acht Uhr
+Morgens auf, und liebte es seinen Caffee im Bett zu
+trinken. Er gehörte auch zu den ruhigen Naturen, die
+sich durch kein Ereigniß, durch keine Sorge den Nachtschlaf
+rauben lassen, sondern Alles, was sie bedrücken
+oder quälen könnte, über Tag abmachen. Heute war
+er aber doch schon um sieben Uhr auf den Füßen und
+vollständig angezogen, und ging jetzt selber aus, um
+vor allen Dingen der Polizei eine genaue Personalbeschreibung
+seines gestrigen Besuches zu geben, wie
+ebenfalls eine gute Belohnung auf dessen Ausfindigmachung
+zu setzen. Natürlich durfte der Mann, wenn
+wirklich gefunden, durch Nichts belästigt werden; nur
+seinen Namen und seine Wohnung wollte er wissen,
+und ihn dann selber aufsuchen.</p>
+
+<p>Die Polizei entwickelte auch eine ganz besondere
+Thätigkeit, denn zehn Thaler waren nicht immer so
+leicht zu verdienen. Nach allen Seiten breiteten sich
+ihre Diener aus und hatten auch in der That schon
+den ersten Tag in den verschiedenen Revieren einige
+zwanzig Leute aufgetrieben, die der gegebenen Beschreibung
+<a class="pagenum" name="page_063" title="63"> </a>
+allenfalls entsprachen, den Justizrath aber
+in nicht geringe Verlegenheit setzten. Er bekam nämlich
+dadurch einige zwanzig Adressen von ihm völlig
+unbekannten Leuten, die in den verschiedensten Theilen
+der Stadt sämmtlich die 3te oder 4te Etage zu bewohnen
+schienen und wohl oder übel mußte er seine Wanderung
+danach beginnen, denn zu sich citiren konnte
+er sie natürlich nicht.</p>
+
+<p>Wie man sich denken kann, fand er auch die
+Hälfte von ihnen nicht einmal beim ersten Besuch zu
+Haus, und wenn er sie fand, sah er sich wieder und
+wieder getäuscht, denn der <em class="gesperrt">Rechte</em> war nicht unter
+ihnen. Vier Tage lang aber setzte er mit unverdrossener
+Mühe seine Versuche fort, immer aufs Neue
+getäuscht, aber immer auf's Neue hoffend, daß ihm
+der nächste Name den Gesuchten vorführen würde.</p>
+
+<p>Dabei hegte er noch immer den stillen Glauben,
+daß der Mann, der an jenem Abend jedenfalls etwas
+von ihm gewollt, vielleicht sogar von selber wiederkehren
+würde &ndash; aber er sah sich darin ebenso getäuscht,
+wie in seinen eigenen Versuchen ihn aufzufinden.
+Der räthselhafte Mensch schien wie in den
+Boden hinein verschwunden.</p>
+
+<p>Am Meisten beunruhigte ihn dabei seine Frau.
+Sie wußte recht gut, wen er die ganzen Tage über,
+<a class="pagenum" name="page_064" title="64"> </a>
+mit Vernachlässigung aller seiner nothwendigsten Geschäfte,
+gesucht habe; nie aber, wenn er körperlich ermattet
+und geistig abgespannt zum Mittags- oder
+Abendbrot heim kam, frug sie ihn nach dem Resultat
+seiner heutigen Suche &ndash; sie schien das schon vorher
+zu wissen, sondern nickte nur immer still und schweigend
+mit dem Kopf, als ob sie hätte sagen wollen:
+Es ist ja natürlich &ndash; wie kannst Du ein Wesen in
+der Stadt finden wollen, das gar nicht auf der Erde
+körperlich existirt &ndash; und dem Justizrath war es dann
+jedesmal, als ob er wie ein Maschinenwerk frisch
+aufgezogen wäre, und die Zeit gar nicht erwarten
+könne, in der er wieder anfinge zu laufen.</p>
+
+<p>Er war heute Nachmittag aber erst um vier Uhr
+fortgegangen, weil einige nothwendige Arbeiten erledigt
+werden <em class="gesperrt">mußten</em>, um sieben Uhr hatte er außerdem
+eine Sitzung und seiner Frau gesagt, daß er heute nicht
+vor neun Uhr nach Hause kommen könne &ndash; wäre er
+aber im Stande sich früher loszumachen, so thäte er es
+sicher. Dann ging er jedoch zu Janisch hinüber und bat
+die junge Frau, ob sie heute Nachmittag nicht ein wenig
+die Freundin besuchen könne. Sie sei heute so merkwürdig
+niedergeschlagen, und da er durch nothwendige
+Geschäfte abgehalten wäre, würde es ihm eine große
+Beruhigung sein, wenn sie ihr Gesellschaft leisten wollte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_065" title="65"> </a>
+Die stets heitere und freundliche Hofräthin versprach
+das von Herzen gern, ja meinte, sie hätte
+es sich heute sogar schon selber vorgenommen gehabt,
+Augusten aufzusuchen, da sie &ndash; einen Scherz vorhabe
+bei dem sie ihre Mitwirkung wünsche.</p>
+
+<p>»Sie sind ein Engel,« sagte der Justizrath mit
+einer, an ihm ganz ungewohnten Galanterie, denn
+durch die freundliche Zusage schien sich ihm eine Last
+vom Herzen zu wälzen, und vollständig versichert, daß
+seine Frau jetzt für den Nachmittag und Abend Zerstreuung
+und also keine Zeit habe, ihren trüben Gedanken
+nachzuhängen, ging er mit Ernst und gutem
+Willen auf's Neue an die undankbare Arbeit, eine
+unbestimmte Persönlichkeit, von der er weder Namen,
+Stand noch Wohnung wußte, in der ziemlich weitläufigen
+Stadt aufzusuchen.</p>
+
+<p>Die Hofräthin Janisch hielt indessen Wort; kaum
+eine halbe Stunde später war sie drüben bei der
+Freundin und hatte ihr so viel zu erzählen und plauderte
+dabei so liebenswürdig, daß Auguste das sonst so
+schwer auf ihr lastende Gefühl endlich ganz vergessen
+zu haben schien. Bertling würde seine herzinnige
+Freude daran gehabt haben, wenn er sie in dieser
+Zeit hätte sehen können.</p>
+
+<p>Indessen war die Dämmerung hereingebrochen.
+<a class="pagenum" name="page_066" title="66"> </a>
+Eben aber wie Licht gebracht werden sollte, sagte
+Pauline:</p>
+
+<p>»Hör einmal, liebes Herz, ich &ndash; ich habe etwas
+vor, bei dem Du mir helfen sollst &ndash; willst Du? &ndash;
+es ist nur ein Scherz.«</p>
+
+<p>»Von Herzen gern, was ist es?«</p>
+
+<p>»In Eurem Hause wohnt eine Frau &ndash; nun wie
+heißt sie doch gleich &ndash; eine Frau Heßling oder&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Heßberger? Das ist die Schuhmachers Frau,
+gleich über uns. Meinst Du die?«</p>
+
+<p>»Ganz recht. Ihr Mann arbeitet für uns und
+die Frau &ndash; aber Du darfst mich nicht auslachen,
+Schatz &ndash; die Frau soll ganz vortrefflich Karten
+schlagen können.«</p>
+
+<p>Auguste lächelte. »Ich habe auch schon davon
+gehört,« nickte sie leise vor sich hin, »und der Mann
+hat dabei die komische Eigenschaft, daß er das für eine
+Kunst des Teufels hält, es der Frau aber doch nicht
+verbietet, weil sie Geld damit verdient. Um aber
+das Unheil abzuwenden, das dadurch auf ihn fallen
+könnte, singt er jedes Mal, so lange die Frau mit solch
+unheiliger Beschäftigung hantirt, im Nebenzimmer
+und mit lauter Stimme geistliche Lieder, die in der
+Nähe schauerlich klingen müssen, denn schon aus der
+<a class="pagenum" name="page_067" title="67"> </a>
+oberen Etage herunter haben sie uns oft zur Verzweiflung
+getrieben. Bei Gewittern macht er es ebenso.«</p>
+
+<p>»Das stimmt Alles,« lächelte Pauline, »und jetzt
+wollte ich Dir nur mittheilen, Schatz, daß ich gesonnen
+bin, Dich diesen musikalischen Ohrenschmaus ganz in
+der Nähe genießen zu lassen.«</p>
+
+<p>»Mich,« frug Auguste erstaunt &ndash; »was hast Du
+denn vor?«</p>
+
+<p>»Nichts weniger« lachte Pauline, »als mir von
+Frau Heßberger heute Abend die Karten legen zu
+lassen und in dem dunklen Buche des Schicksals zu
+lesen, während ihr Gatte durch ein paar passende
+oder unpassende Gesangbuchverse die bösen Geister
+fern hält.«</p>
+
+<p>»Aber Pauline&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Und Du sollst mich begleiten,« rief diese muthwillig
+&ndash; »ich will mich nicht umsonst schon die ganze
+Woche darauf gefreut haben.«</p>
+
+<p>Auguste schüttelte nachdenkend mit dem Kopf &ndash;
+es war ihr nicht ganz recht; die Aufforderung kam ihr
+aber auch so unerwartet und plötzlich, daß sie nicht
+gleich einen richtigen Grund wußte, sie abzulehnen.</p>
+
+<p>»Man soll doch eigentlich nicht mit den Geheimnissen
+der Zukunft sein Spiel treiben« sagte sie endlich
+leise.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_068" title="68"> </a>
+»Aber Herzensschatz,« lachte Pauline, »Du
+glaubst doch nicht etwa, daß Frau Heßberger, die den
+ganzen Tag über Schuhe einfaßt, oder ihrem Gatten
+den Pechdrath zu seiner Arbeit zurecht macht, Abends
+eine wirkliche Sybille würde und mehr von den Geheimnissen
+der Zukunft errathen könnte, als wir anderen armen
+Sterblichen auch?«</p>
+
+<p>»Wozu dann aber einen solchen Versuch machen?«</p>
+
+<p>»Verstehst Du denn keinen Spaß?« lachte Pauline
+&ndash; »ich freue mich wie ein Kind darauf, ihre geheimnißvollen
+Zubereitungen zu sehen und die Orakelsprüche,
+während ihr Gatte den Teufel fern hält, &ndash;
+aus ihrem Munde zu hören. So was erlebt man doch
+nicht alle Tage, und bequemer wie wir es von hier aus
+haben, bekommt man es auch sobald nicht wieder.«</p>
+
+<p>»Aber was sollen die Leute dazu sagen, wenn wir
+hinauf zu der Frau gehen?«</p>
+
+<p>»Und wer braucht es zu erfahren? &ndash; Deine Rieke
+schickst Du ein paar Wege in die Stadt, wobei sie
+immer so viel für sich selber zu besorgen hat, daß sie
+doch vor einer Stunde nicht wieder kommt, und in
+der Hälfte der Zeit haben wir unseren Besuch gemacht.«</p>
+
+<p>»Und wenn die Frau selber darüber plaudert?«</p>
+
+<p>»Das thun derartige Leute nie, denn sie wissen,
+<a class="pagenum" name="page_069" title="69"> </a>
+daß sie sich dadurch ihre ganze Kundschaft vertreiben
+würden. Wo es aber ihren eigenen Nutzen betrifft,
+sind solche Menschen klug genug. Thu mirs nur zu
+Gefallen, Auguste; ich habe mich schon so lange darauf
+gefreut und kann doch nicht gut allein hinauf gehen.«</p>
+
+<p>»Wenn es mein Mann erfahren sollte, würde er
+böse darüber werden &ndash; ich kenne Bertling.«</p>
+
+<p>»Lachen wird er,« rief Pauline »wenn wir ihm
+nachher die ganze Geschichte erzählen &ndash; es giebt ja
+doch einen Hauptspaß und Du darfst ihn mir nicht
+verderben. Außerdem brauchst Du Dir ja auch gar
+Nichts prophezeihen zu lassen, wenn Du irgend glaubst,
+daß es Deinem Mann &ndash; den ich übrigens für vernünftiger
+halte &ndash; fatal sein könnte. Du gehst nur als
+Ehrendame mit, setzest Dich ruhig auf einen Stuhl
+&ndash; oder wenn der nicht da sein sollte, auf einen
+Schusterschemel und hörst zu.«</p>
+
+<p>Auguste lächelte still vor sich hin, als sie sich das
+Bild im Geist herauf beschwor, die muntere Freundin
+ließ auch mit Bitten nicht nach, und wußte alle ihre
+Bedenken so geschickt und mit solchem Humor zu beseitigen,
+daß sie sich endlich nicht länger weigern konnte
+und mochte, und Pauline sprang jetzt, fröhlich in die
+Hände schlagend ordentlich wie ein Kind, das ein
+neues Spielzeug bekommen hat, in der Stube herum.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_070" title="70"> </a>
+Ein Auftrag für Rieke, um diese zu entfernen,
+war bald gefunden und kaum sahen sie das Mädchen
+über die Straße gehen, als die beiden Frauen
+ihre Tücher umhingen und in die dritte Etage hinanstiegen.</p>
+
+<p>Nach der Frau Heßberger aber brauchten sie nicht
+lange zu fragen, denn gleich rechts von der Treppe
+war die enge, dunkle Küche, in der die Dame eben
+beschäftigt schien die Abendsuppe anzurichten. Eine
+gewöhnliche Küchenlampe verbreitete ein mattes trübes
+Licht in dem niederen, eben nicht besonders sauber gehaltenen
+Raum, in den aber des Schusters Frau
+ganz vortrefflich hineinpaßte und sich auch wohl darin
+zu fühlen schien.</p>
+
+<p>Wie sie die leichten Schritte auf der Treppe hörte,
+nahm sie aber mit der Rechten, während die Linke
+noch immer in der Suppe rührte, die Lampe auf und
+hielt sie über den Kopf, um darunter hinweg besser erkennen
+zu können, wer der fremde Besuch sei. &ndash; Unerwartet
+kam er ihr ja überhaupt nicht, denn es geschah
+gar nicht etwa so selten, daß sie von den verschiedensten
+Damen der Stadt und zwar von Damen
+<em class="gesperrt">jeden</em> Ranges in der Gesellschaft, gerade um diese
+Zeit des Abends, oder auch noch später, aufgesucht und
+mit ihrer Kunst in Anspruch genommen wurde &ndash; und
+<a class="pagenum" name="page_071" title="71"> </a>
+sie verdiente mehr damit wie ihr Mann, trotz allem
+Fleiß, mit Ahle und Draht.</p>
+
+<p>Auguste schämte sich fast ein wenig des Besuchs
+und hielt sich noch immer scheu zurück, ihre keckere
+Freundin aber, die überhaupt die Leitung des Ganzen
+übernommen hatte, trat auf die Frau zu und wollte
+eben ihr Anliegen vortragen, als die Kartenschlägerin
+sie jeder Ansprache überhob, indem sie mit einer
+Höflichkeitsbewegung, die als ein Mittelding zwischen
+Knix und Verbeugung gelten konnte, sagte:</p>
+
+<p>»Nun, da kommen Sie ja doch noch, Frau Hofräthin;
+habe Sie schon eine halbe Stunde erwartet,
+und dachte beinah es wäre etwas dazwischen gekommen.
+Bitte treten Sie näher Frau Justizräthin
+&ndash; freut mich ja recht sehr, Sie auch einmal oben bei
+mir zu sehen.«</p>
+
+<p>Auguste erschrak beinahe, denn sie stand noch in
+dem halbdüsteren Vorsaal und zum Theil von der
+Freundin gedeckt, Pauline aber wandte ihr halblachend
+den Kopf zu und sagte dann:</p>
+
+<p>»Schön, meine liebe Frau Heßberger, daß Sie
+uns erwartet haben; dann ist wohl auch bei Ihnen
+Alles hergerichtet?«</p>
+
+<p>»Alles, beste Frau Hofräthin, Alles,« erwiderte
+aber Frau Heßberger, ohne sich außer Fassung bringen
+<a class="pagenum" name="page_072" title="72"> </a>
+zu lassen. »Das versteht sich doch aber auch von selbst,
+wenn man so vornehmen Besuch erhofft; die Stühle
+sind schon zum Tisch gerückt; habe weiter nichts drin
+zu thun, wie nur die Lichter anzuzünden.«</p>
+
+<p>Pauline wurde selber ein wenig stutzig, die Frau
+ließ ihr aber keine Zeit zu weiteren Fragen und nur
+mit den Worten: »Erlauben Sie, daß ich vorangehe«
+&ndash; öffnete sie die Thür zur Werkstätte, in welcher ihr
+Gatte und ein Lehrjunge hinter ein paar erleuchteten
+Glaskugeln arbeiteten.</p>
+
+<p>Der alte Heßberger, eine kleine untersetzte Gestalt
+mit einer schwarzen, Gott weiß wie alten, fettglänzenden
+Mütze und eine Brille auf, kauerte auf seinem
+Schemel und schaute, als sich die Thür öffnete, von
+seiner Arbeit gar nicht auf. Mürrisch sah er vor sich
+nieder, und machte auch nicht den geringsten Versuch
+selbst zu irgend einer Art von Gruß. Der Besuch
+galt nicht ihm, so viel wußte er recht gut, weshalb
+also brauchte er sich darum zu kümmern.</p>
+
+<p>Auch selbst der Lehrjunge warf nur einen raschen
+und scheuen Blick nach den Damen hinüber, denn der
+gegenüber sitzende Meister beobachtete ihn über die
+Brille weg dann und wann, und ein, auf dem offenen
+Gesangbuch dicht neben ihm liegender Knieriem
+mochte wohl eine versuchte Neugier von seiner Seite
+<a class="pagenum" name="page_073" title="73"> </a>
+schon manchmal auf frischer That ertappt und bestraft
+haben.</p>
+
+<p>Es ist möglich, daß das mürrische Temperament
+des Alten die einzige Ursache dieser Gleichgültigkeit
+war, viel wahrscheinlicher aber, daß er es eher aus
+Rücksichten für den Besuch selber unterließ, von diesem
+die geringste Notiz zu nehmen, oder nehmen zu lassen,
+denn er wußte recht gut, daß die Damen, die solcher
+Art bei Nacht und Nebel zu seiner Frau kamen, nicht
+erkannt und am Liebsten gar nicht gesehen sein
+wollten &ndash; warum ihnen also nicht darin willfahren,
+da sie doch immer gut bezahlten.</p>
+
+<p>Die Frau bog indessen rasch zwischen einem Haufen
+der verschiedensten Leisten und Lederstücke und dem
+Ofen hindurch nach der dort befindlichen Thür, öffnete
+diese und entzündete zwei auf dem mit einer alten verwaschenen
+Caffeeserviette bedeckten Tisch stehende Talglichter;
+Auguste und Pauline waren ihr indeß gefolgt,
+und ehe sie die Thür hinter ihnen schloß, rief sie nur
+noch dem Lehrjungen zu, die Suppe für den Meister
+herein zu holen und drehte dann den Schlüssel im
+Schloß um.</p>
+
+<p>Pauline, während ihre Freundin kaum aufzuschauen
+wagte, sah sich indessen in dem kleinen Gemach um,
+das allerdings nicht glänzend genannt werden konnte,
+<a class="pagenum" name="page_074" title="74"> </a>
+aber doch sehr zu seinem Vortheil gegen Küche und
+Werkstätte abstach.</p>
+
+<p>Es war ein nicht sehr großes Gemach, das allem
+Anschein nach zum Wohn- und Schlafzimmer der
+Eheleute diente. Zwei Betten standen &ndash; Fuß-
+und Kopfende an der einen Wand, durch nichts als
+ein paar alte Decken von buntem Kattun verhüllt.
+An den Fenstern hingen aber Gardinen, ja standen sogar
+zwei Blumentöpfe mit den ersten Kindern des
+Frühlings, Primeln und Hyacinthen, und an beiden
+Seiten des kleinen Spiegels, aus dem eine Ecke fehlte,
+waren ein paar schauerliche Oelgemälde angebracht,
+die jedenfalls »Herrn und Madame Heßberger« im
+Sonntagsstaat &ndash; vielleicht als junge Eheleute darstellen
+sollten. Waren sie indessen mit der Zeit so
+nachgedunkelt, oder verhüllte die jetzige Düsterheit des
+Gemachs ihre vielleicht sonst sichtbaren Umrisse: in
+diesem Augenblick ließ sich auf dem einen Bilde Nichts
+als die Contour eines Kopfes und ein riesiges Jabot
+erkennen, während auf dem anderen nur die weit ausflügelnde
+Haube der Frau und eine Hand sichtbar blieb,
+in der sie ein weißes Taschentuch emporhielt.</p>
+
+<p>Unter dem Spiegel hingen noch ein paar Silhouetten
+in unkennbaren Formen.</p>
+
+<p>Daß die Frau übrigens auf einen Besuch vorbereitet
+<a class="pagenum" name="page_075" title="75"> </a>
+gewesen, wenn sie das überhaupt nicht jeden
+Abend war, zeigte in der That die ganze Vorrichtung
+des Tisches neben dem für die beiden Gäste zwei gepolsterte
+Stühle mit altmodischen hohen Lehnen standen
+und auf diese nöthigte auch die Frau Heßberger ihren
+Besuch und sagte freundlich:</p>
+
+<p>»Setzen Sie sich, meine Damen, Sie brauchen
+mir gar Nichts vorher zu sagen, ich weiß schon ohnedies
+weshalb Sie hergekommen sind &ndash; bitte nehmen
+Sie Platz, und wir wollen dann gleich einmal versuchen
+ob ich Ihnen helfen kann.«</p>
+
+<p>»Und wissen Sie wirklich was ich Sie fragen will,
+Frau Heßberger?« frug Pauline, die in dem Augenblick
+doch etwas von ihrer vorherigen Ausgelassenheit
+verloren zu haben schien.</p>
+
+<p>»Warum sollt ich nicht, Frau Hofräthin, warum
+sollt ich nicht und wie könnte ich mich unterfangen
+Zukünftiges voraus zu sagen, wenn ich nicht das Vergangene
+und wirklich Geschehene wüßte&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber ich begreife nur nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Lieber Gott« sagte des Schusters Frau, mit
+einem frommen Blick nach oben, »wir begreifen
+Manches nicht auf dieser Welt, Frau Hofräthin, und
+leben in unserer Unschuld so in den Tag hinein. &ndash;
+Wenn man aber ein Bischen tiefer sehen lernt, Frau
+<a class="pagenum" name="page_076" title="76"> </a>
+Hofräthin, dann bekommt man eine andere Meinung
+von der Sache &ndash; Gottes Wege sind wunderbar.«</p>
+
+<p>Es war ordentlich als ob das das Stichwort für
+ihren Gatten im Nebenzimmer gewesen wäre, denn in
+demselben Moment begann er mit seinem schauerlich
+näselnden Ton, das gewöhnliche Präservativmittel
+gegen den bösen Feind und dessen Einwirkungen,
+irgend ein endloses Lied aus dem Gesangbuch. Der
+würdevolle Vortrag wurde aber heute leider durch
+etwas gestört; der Schuhmacher hatte nämlich noch
+keine Zeit bekommen, um seine Suppe zu essen, und
+daß er Beides mit einander zu verbinden suchte, that
+dem Einen Eintrag und ließ ihn das Andere nicht
+recht genießen &ndash; aber es mußte eben gehen.</p>
+
+<p>Die Frau, ohne auf den plötzlichen Gesangsausbruch
+auch nur im Mindesten zu achten, holte indessen
+von dem kleinen Tisch unter dem Spiegel, auf dem
+einige vergoldete Tassen, zwei blaue Glasvasen mit
+Schilfblüthen und ein paar grell bemalte Gypsfiguren
+standen, ein Spiel ziemlich oft gebrauchter
+Karten, mit denen sie sich in einer Art von geschäftsmäßiger
+Eile auf einen hohen Rohrschemel setzte und
+dabei links und rechts auf die Lehnstühle wieß, um
+die Damen dadurch einzuladen Platz zu nehmen.</p>
+
+<p>Pauline hatte im Stillen gehofft in dem Zimmer
+<a class="pagenum" name="page_077" title="77"> </a>
+der Kartenprophetin eine Menge wunderbarer und
+unheimlicher Dinge zu finden, die mit ihrer Kunst in
+Verbindung standen &ndash; einen schwarzen Kater z.&nbsp;B.
+der schnurrend neben der Wahrsagerin saß und auf ihre
+Worte horchte &ndash; düstere Tapeten vielleicht und einen
+Todtenkopf von magischen Zeichen umgeben. Aber
+von alledem zeigte sich nichts, denn der bunt gemalte
+Gipspapagei und Napoleon&nbsp;I., die auf dem Tisch
+unter dem Spiegel standen und sich &ndash; beide von einer
+Größe &ndash; einander starr ansahen, konnten doch wahrlich
+nicht als derartige Symbole gelten. Das ganze
+Zimmer zeigte überhaupt Nichts, was nicht auch in
+der Wohnung jedes anderen Handwerkers zu finden
+gewesen wäre &ndash; die Karten selber vielleicht ausgenommen.</p>
+
+<p>Die Aufmerksamkeit der kleinen lebendigen Frau
+wurde aber bald ausschließlich auf die Karten gelenkt,
+denn die Frau Heßberger begann jetzt in feierlicher
+Weise sie zu mischen, und dazu tönte der, nur zeitweise
+von der Suppe unterbrochene Gesang des Schusters
+dazwischen &ndash; und wie laut die alte Schwarzwälder
+Uhr an der Wand da mit hinein tickte.</p>
+
+<p>Endlich war das Spiel gehörig vorbereitet und die
+Frau sagte plötzlich, indem sie die Karten der rechts
+von ihr sitzenden Hofräthin zum Abheben hinlegte:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_078" title="78"> </a>
+»Also Sie wollen vor allen Dingen wissen, meine
+verehrte Frau Hofräthin, ob Sie etwas Gestohlenes
+wieder bekommen werden und &ndash; wo der Dieb zu
+suchen ist.«</p>
+
+<p>»Das allerdings« lächelte die kleine Frau &ndash; »aber
+es wird doch wohl nöthig sein zu sagen was es ist.«</p>
+
+<p>»Das sehen wir ja aus den bunten Blättern« erwiderte
+ruhig die Kartenschlägerin.</p>
+
+<p>»In der That?«</p>
+
+<p>Die Frau antwortete nicht mehr; sie legte in der
+gewöhnlichen Weise ihre Karten auf den Tisch und
+während sie sich mit den gerade nicht überreinlichen
+Fingern der rechten Hand das Kinn strich, betrachtete
+sie die Kombination der verschiedenen Blätter mit
+leisem und prüfendem Kopfnicken.</p>
+
+<p>Augustens und Paulinens Blicke hafteten jetzt
+wirklich mit Spannung auf den Zügen der Alten, die
+aber ihre Gegenwart ganz vergessen zu haben schien,
+wie sie selber auch in diesem Augenblick gar nicht
+mehr das schauerliche Lied des Schuhmachers in der
+nächsten Stube hörten.</p>
+
+<p>Endlich brach die Alte das Schweigen und sagte:</p>
+
+<p>»Jawohl &ndash; ich hab es mir gleich gedacht &ndash; das
+kann nur ein Hausdieb sein &ndash; aus dem Secretair
+heraus&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_079" title="79"> </a>
+»Hat sie Recht?« frug Auguste nur mit einem
+Blick über den Tisch hinüber die Freundin und diese
+nickte ihr halbverstohlen zu.</p>
+
+<p>»Nur ein Hausdieb &ndash; aber er hat es schlau angefangen
+&ndash; da die Treff Sieben mit der Caro sechs,
+die den Coeur Buben in der Mitte haben &ndash;&nbsp;&ndash; aber
+der Bube selber war es nicht, doch hat er es fortgetragen
+und es wird nie wieder zum Vorschein kommen&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ja aber beste Frau Heßberger,« sagte Pauline
+mit einem schelmischen Blick auf die Künstlerin &ndash;
+»daß es Jemand fortgetragen hat, wußte ich schon vorher,
+und jetzt möchte ich nur erfahren <em class="gesperrt">wer</em>; dann ist
+es doch vielleicht möglich dem gestohlenen Gegenstand
+auf die Spur zu kommen.«</p>
+
+<p>»Nicht so leicht,« sagte die Frau kopfschüttelnd &ndash;
+»da liegt es, die Caro zehn sagt es deutlich &ndash; ein
+Corallen-Halsband mit goldenem Schloß &ndash; das ist
+leicht versteckt. &ndash; Aber der Dieb hat seine Spuren
+zurückgelassen &ndash; da gehen sie Treff zwei, Pike zwei,
+Treff vier, Pike vier, &ndash; deutlich hin zu der Pike-Dame
+&ndash; ich sehe ein Mädchen mit grünem Band auf der
+Haube, die etwas in die Taschen steckt und dann langsam
+die Straße hinunter geht.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»In den Karten?«</p>
+
+<p>»Dort unten an der Ecke trifft sie mit dem Coeurbuben
+<a class="pagenum" name="page_080" title="80"> </a>
+zusammen &ndash; aber den kann ich nicht deutlich
+erkennen,« fuhr die Frau fort, ohne den Einwurf zu
+beantworten. »Er ist zu weit entfernt.«</p>
+
+<p>»Also die Pike-Dame mit dem grünen Band auf
+der Haube,« nickte Pauline lächelnd, »da wäre schon
+eine ziemlich deutliche Spur gefunden, denn ich kenne
+eine junge Dame, die ein grünes Band auf der Haube
+trägt. &ndash; Wenn wir nur den Coeur Buben ausfindig
+machen könnten, dem sie das Gestohlene gegeben hat.«</p>
+
+<p>»Das ist nicht so leicht,« sagte die Kartenschlägerin,
+die ihre Blätter indessen aufmerksam betrachtet hatte
+&ndash; »hier zieht sich eine lange Linie von Treff
+und Pike zwischen ihm und Ihrer Karte durch, Frau
+Hofräthin. &ndash; Er kann nur durch die Pike-Dame mit
+dem grünen Band ermittelt werden.«</p>
+
+<p>»Der Wink ist deutlich genug, und ich werde ihn
+befolgen,« lächelte die Hofräthin &ndash; »herzlichen Dank
+Frau Heßberger &ndash; Sie haben mir gezeigt, daß Sie
+in Ihrer Kunst Meisterin sind« und dabei drückte sie
+der geschmeichelten Schusters Frau einen harten Thaler
+in die Hand.</p>
+
+<p>»Und soll ich Ihnen auch sagen, was Sie wissen
+möchten, Frau Justizräthin?« wandte sich die Kartenkünstlerin
+jetzt an Auguste, die ein wohl aufmerksamer,
+aber bis dahin doch theilnahmloser Zuschauer des
+<a class="pagenum" name="page_081" title="81"> </a>
+Ganzen gewesen war. Sie hatte dabei die über den
+Tisch gelegten Karten wieder zusammengerafft und
+fing von Neuem an zu mischen.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen sehr,« sagte aber Auguste, fast
+ängstlich, »ich &ndash; ich habe meine Freundin nur
+begleitet.«</p>
+
+<p>»Und doch liegt Ihnen etwas auf dem Herzen,
+Kind, was Sie um Alles in der Welt davon herunter
+haben möchten,« fuhr die Frau geschwätzig fort, ohne
+sich irre machen zu lassen. &ndash; »Da heben Sie nur einmal
+ab, die alte Heßbergern weiß oft mehr, als andere
+Leute zu glauben scheinen.«</p>
+
+<p>Augusten war es, als ob ihr Jemand einen Stich
+ins Herz gegeben. &ndash; Oh, wohl lag ihr etwas auf dem
+Herzen &ndash; aber was wußte die Frau davon &ndash; was
+<em class="gesperrt">konnte</em> sie davon wissen.</p>
+
+<p>»Heben Sie nur ab, Frau Justizräthin,« drängte
+die Alte »&ndash;&nbsp;es ist ja nichts Unrechtes, was man damit
+thut. &ndash; Was wir vom Schicksal nicht erfahren
+<em class="gesperrt">sollen</em>, erfahren wir doch nicht, so viel Mühe wir uns
+auch damit geben.«</p>
+
+<p>»So thu ihr doch den Willen,« lächelte Pauline &ndash;
+»oder soll ich für Dich abheben?«</p>
+
+<p>»Nein, das muß die Frau Justizräthin selber thun,«
+wandte aber die Frau ein; »sonst bekommen wir nachher
+<a class="pagenum" name="page_082" title="82"> </a>
+Confusion. So ists recht &ndash; danke Ihnen Madamchen;
+nun wollen wir gleich einmal sehen, ob wir
+Ihnen nicht helfen können« und in der alten Weise
+die Karten auslegend, bedeckte Sie mit ihnen den Tisch,
+schüttelte dabei aber, wie über die Reihenfolge erstaunt,
+langsam mit dem Kopf.</p>
+
+<p>Auguste hatte fast willenlos ihren Wunsch befolgt,
+aber das Herz schlug ihr dabei so fieberhaft, die Brust
+war ihr so beengt, sie hätte jetzt Gott weiß was darum
+gegeben, nur von hier fort zu sein.</p>
+
+<p>»Hm, hm, hm, hm« murmelte da die Alte vor sich
+hin, indem sie die Karten prüfend betrachtete und immer
+stärker dazu mit dem Kopf schüttelte, »das ist ja
+eine ganz wunderliche Geschichte &ndash; da geht Ihr Lebensfaden
+so glatt durch das halbe Spiel, und da
+kommt auf einmal ein fremder Mann mit einem
+grauen Rock dazwischen&nbsp;&ndash;.«</p>
+
+<p>Auguste wollte sich krampfhaft von ihrem Stuhl
+heben, aber sie vermochte es nicht &ndash; willenlos brach
+sie zurück; Pauline jedoch bemerkte zu ihrem Schrecken,
+daß Leichenblässe ihre Züge deckte, und sie kaum im
+Stande war, sich noch aufrecht zu halten. Pauline
+behielt auch in der That nur eben noch Zeit zuzuspringen
+und sie zu halten, sonst wäre sie unfehlbar von
+ihrem Stuhl herabgestürzt. Trotzdem wurde sie nicht
+<a class="pagenum" name="page_083" title="83"> </a>
+ohnmächtig; es schien nur als ob eine plötzliche
+Schwäche über sie gekommen sei und sie bat mit leiser
+Stimme um ein Glas Wasser. Darnach fühlte sie
+sich etwas gestärkt, aber jetzt bestand Pauline wieder
+darauf, daß sie des Schuhmachers Wohnung augenblicklich
+verließen &ndash; machte sie sich doch längst schon
+insgeheim Vorwürfe darüber, die Freundin überredet
+zu haben, sie hier herauf zu begleiten.</p>
+
+<p>»Fühlst Du Dich stark genug Herz, mit mir fortzugehen?«
+frug sie leise, indem sie ihren Arm um
+Augusten legte.</p>
+
+<p>»Ja, ja,« rief diese rasch und heftig, indem sie sich
+ohne Hülfe aufrichtete &ndash; »komm fort &ndash; mir ist es
+als wenn ich hier sterben müßte.«</p>
+
+<p>»Bitte leuchten Sie uns,« bat Pauline, indem sie
+dabei Augusten umfaßt hielt.</p>
+
+<p>»Aber beste Frau Hofräthin.«</p>
+
+<p>»Wenn mir die Freundin hier krank wird, mache
+ich Sie dafür verantwortlich,« rief die kleine Frau
+heftig. &ndash; »Nehmen Sie Ihr Licht, rasch!«</p>
+
+<p>Sie sprach das mit einem so befehlenden, ja
+drohenden Ton, daß die bis dahin noch so feierliche
+Frau Heßberger ganz beweglich wurde. Sie griff auch
+rasch ein Licht auf und während ihr Mann mit dem
+geleerten Suppennapf neben sich, noch an den letzten
+<a class="pagenum" name="page_084" title="84"> </a>
+Versen seines endlosen Liedes brüllte, schritten die
+beiden Damen durch die Werkstätte. Aber erst draußen
+auf der Treppe, als Auguste wieder freie und frische
+Luft schöpfte, athmete sie auf und schweigend stiegen
+die Freundinnen in die untere Wohnung, wo sich die
+Justizräthin erschöpft in einen Stuhl warf.</p>
+
+<p>»Aber lieber Herzensschatz,« nahm hier Pauline
+das Wort, nachdem sie sich vorher überzeugt hatte, daß
+sie allein im Zimmer waren &ndash; »wie, um Gottes
+Willen hat Dich das Gewäsch der alten Kaffeeschwester
+auch nur im Mindesten aufregen können. Du bist doch
+vernünftig genug an derlei Unsinn nicht wirklich zu
+glauben.«</p>
+
+<p>»Wir hätten gar nicht hinauf gehen sollen,« sagte
+Auguste leise &ndash; »ich wußte vorher wie es werden
+würde.«</p>
+
+<p>»Aber soll man sich denn nicht einmal derartige
+Dinge mit ansehen? Ist es denn nicht interessant zu
+beobachten wie die Menschen einander betrügen und
+wie sie betrogen sein wollen?«</p>
+
+<p>»Aber hat sie Dir denn nicht von Deinem verlorenen
+Schmuck gesagt? Woher konnte Sie das wissen?«</p>
+
+<p>»Woher?« lachte Pauline, »als ob derartiges
+Volk nicht überall herum spionirte, und mit ein klein
+<a class="pagenum" name="page_085" title="85"> </a>
+wenig Mutterwitz begabt, leicht im Stande wäre,
+irgend etwas Glaubbares hinzustellen. Die Phantasie
+der Gläubigen trägt freiwillig dazu bei und der Ruf
+einer Prophetin ist fix und fertig. &ndash; Denkst Du nicht,
+daß sie bei meinen Dienstboten schon herum gehorcht
+hat, ja zehn gegen eins möchte ich wetten, daß ein' oder
+die andere Person schon bei ihr gewesen ist, um sich
+Raths zu erholen; aber das will ich schon herausbekommen,
+verlaß Dich darauf.«</p>
+
+<p>»Und die Frau mit der grünen Schleife?«</p>
+
+<p>»Es geht allerdings eine Wäscherin bei uns aus
+und ein,« sagte die Hofräthin, »die eine grüne Schleife
+auf der Haube trägt, und der wird sie oft genug begegnet
+sein. Ich habe aber nicht den geringsten Grund
+auf die in jeder Hinsicht achtbare Person irgend einen
+Verdacht zu werfen. Jedenfalls hat sie auch nur
+ganz auf gut Glück hin die genannt, eben so wie bei
+Dir den Mann im grauen Rock.«</p>
+
+<p>»Nein, nein,« rief aber Auguste rasch und heftig
+und warf den Blick dabei scheu umher &ndash; »da liegt
+ein tieferes Geheimniß zum Grunde und <em class="gesperrt">das</em> gerade
+drohte mir da oben die Besinnung zu rauben.«</p>
+
+<p>»Es war so dumpf und heiß in der Stube, daß
+mir selber fast unwohl geworden ist,« sagte die Hofräthin.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_086" title="86"> </a>
+»Der graue Mann existirt,« flüsterte da Auguste
+»und unerklärlich bleibt es mir, wie sie davon wissen
+konnte, denn gegen keinen Menschen in der Welt habe
+ich mich darüber ausgesprochen, als gegen meinen
+Mann.«</p>
+
+<p>Pauline schüttelte mit dem Kopf, endlich sagte sie:</p>
+
+<p>»Und darf ich wissen, was es damit zu bedeuten
+hat?«</p>
+
+<p>»Ja,« hauchte Auguste &ndash; »aber nicht heute &ndash;
+nicht jetzt Pauline &ndash; ich bin schon überdies zu aufgeregt,
+und fürchte, daß &ndash; daß es noch mehr der Fall
+sein würde, wenn ich &ndash; jene wunderliche Erscheinung
+frisch herauf beschwören wollte. Morgen &ndash; morgen
+früh, wenn die Sonne scheint und alles licht und hell
+um uns ist &ndash; nicht jetzt &ndash; nicht jetzt.«</p>
+
+<p>»Gut mein liebes Herz,« sagte Pauline, die gar
+nicht daran dachte sie jetzt zu drängen &ndash; »bis morgen
+kann ich Dir dann auch vielleicht von mir Auskunft
+geben, wie weit die Prophezeihung der Schusters Frau
+wirklich zutrifft und ob sie eben mehr weiß wie andere
+Leute.«</p>
+
+<p>Auguste erwiderte nichts darauf: sie nickte nur
+schweigend mit dem Kopf und Pauline fühlte, daß sie
+ihr keinen größeren Gefallen thun konnte, als sie jetzt
+allein und ungestört zu lassen. Sie nahm auch kurzen
+<a class="pagenum" name="page_087" title="87"> </a>
+Abschied von ihr und ging, sann aber unterwegs hin
+und her darüber, was der sonst so ruhigen Freundin
+geschehen sein müsse, um sie in eine so überreizte Stimmung
+zu versetzen, denn es war ja nicht möglich, daß
+die albernen Vermuthungen der Schusters Frau wirklich
+einen Einfluß auf sie ausgeübt haben sollten.
+Doch das gedachte sie morgen Alles herauszubekommen
+&ndash; heute ließ sich doch nichts mehr an der Sache thun.</p>
+
+
+
+
+<h3>Fünftes Capitel.<br />
+
+<b>Die böse Nacht.</b></h3>
+
+
+<p>Als der Justizrath an diesem Abend um neun
+Uhr nach Hause kam, war seine Frau schon zu Bett
+gegangen. Sie hatte, wie das Mädchen sagte, heftige
+Kopfschmerzen gehabt und sich zeitig niedergelegt.
+Als Bertling hinüber ging, schlief Auguste und er
+trat noch in sein Arbeitszimmer, um die heute eingelaufene
+Correspondenz zu lesen und zu beantworten
+&ndash; hatte er doch den ganzen Tag keine Zeit dazu gefunden.</p>
+
+<p>Es war bald halb zwölf Uhr, ehe er selber sein
+Lager suchte und die Frau schlief noch immer, aber
+<a class="pagenum" name="page_088" title="88"> </a>
+unruhig. Sie schien zu träumen, hob den Arm und
+öffnete die Lippen, sprach aber Nichts und lag gleich
+darauf wieder still und ruhig. Sie hatte das in der
+letzten Zeit öfter gethan, auch wohl gesprochen, aber
+immer nur unzusammenhängende Worte, ohne sich
+später je eines Traumes bewußt zu sein, und Bertling
+beunruhigte sich also nicht weiter darüber. Unwillkürlich
+fiel ihm aber doch wieder jener wunderliche
+und so geheimnißvoll verschwundene Besuch ein, den
+er bis dahin vergeblich in der ganzen Stadt gesucht.
+War nicht die ganze Polizei nach dem Mann im
+grauen Rock ausgewesen, ohne auch nur auf die entfernteste
+Spur zu kommen? und schien es nicht fast,
+als ob er die Stadt in gerade so räthselhafter Weise
+verlassen hätte, wie damals Bertlings eigenes
+Zimmer?</p>
+
+<p>Mit den Gedanken suchte der Justizrath sein
+Lager und war bald, von den vielen Arbeiten dieses
+Tages ermüdet, sanft eingeschlafen. &ndash; Seiner Meinung
+nach konnte er aber kaum die Augen geschlossen
+haben, als er seinen Namen rufen hörte:</p>
+
+<p>»Theodor! &ndash; Theodor!«</p>
+
+<p>Noch schlaftrunken richtete er sich empor &ndash;
+»Weckst Du mich Auguste?« frug er.</p>
+
+<p>»Und Du kannst schlafen,« sagte die Frau mit
+<a class="pagenum" name="page_089" title="89"> </a>
+vorwurfsvollem aber weichem Ton &ndash; »schlafen in der
+<em class="gesperrt">letzten</em> Stunde, die wir noch beisammen sind?«</p>
+
+<p>»Aber Auguste,« sagte der Mann erschreckt und
+war in dem einen Moment auch vollkommen munter
+geworden &ndash; »was hast Du nur &ndash; was sprichst Du
+da? Sicherlich hast Du geträumt &ndash; ich bin ja bei
+Dir Herz, wache nur ordentlich auf.«</p>
+
+<p>»Ach ich war so glücklich,« sagte da die Frau, mit
+einem Ton, der ordentlich in seine Seele schnitt &ndash;
+»so glücklich die kurze Zeit mit Dir &ndash; und muß nun
+fort.«</p>
+
+<p>Bertling wußte gar nicht wie er aus dem Bett kam,
+so rasch fuhr er in seine Kleider und zündete dann
+ein Licht an.</p>
+
+<p>Auguste lag, die Augen geschlossen, die Arme
+vor sich ausgestreckt, aber die Hände gefaltet, in
+ihrem Bett und große helle Thränen liefen ihr über
+die Wangen. Bertling aber hielt das immer noch für
+einen einfachen, schweren Traum, der ja augenblicklich
+weichen mußte, so wie er sie nur weckte.</p>
+
+<p>»Mein liebes Herz,« sagte er, seinen Arm um
+ihre Schultern legend &ndash; »wach auf, Du träumst ja
+nur&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Und hast Du schon Jemanden gesehen, der mit
+offenen Augen träumt?« sagte sie, sich im Bett aufrichtend
+<a class="pagenum" name="page_090" title="90"> </a>
+und ihn groß ansehend &ndash; »Träumst Du
+denn jetzt?«</p>
+
+<p>»Aber von was sprichst Du?«</p>
+
+<p>Sie antwortete ihm nicht gleich. &ndash; Während er
+sich zu ihr auf die Bettkante setzte, hatte sein Fuß
+den Stuhl ein klein wenig verschoben und sie schien
+dem Geräusch zu horchen.</p>
+
+<p>»Ich glaube sie kommen schon,« flüsterte sie
+scheu und faßte seinen Arm mit allen Kräften.</p>
+
+<p>»Wer, mein Herz? wer?« bat der Mann, der
+jetzt peinlich besorgt um die Arme wurde, die wie er
+sich nicht mehr verhehlen konnte mit wachenden
+Augen phantasirte. »Wer soll denn jetzt mitten in
+der Nacht zu uns kommen?«</p>
+
+<p>»Mitten in der Nacht? &ndash; ja es ist gerade zwölf
+Uhr vorbei,« flüsterte sie &ndash; »das ist die Zeit, in der
+die schwarzen Männer kommen und mich abholen. &ndash;
+Oh Gott,« seufzte sie dabei &ndash; »und jetzt hat mich
+Alles verlassen &ndash; selbst Theodor ist fort und ich
+allein kann mich ja nicht gegen sie wehren.«</p>
+
+<p>»Aber beste Auguste« rief Bertling bestürzt &ndash;
+»was sprichst Du nur &ndash; ich bin ja bei Dir hier.«</p>
+
+<p>»Fort &ndash; fort &ndash; wer bist Du?« &ndash; sagte sie und
+stieß ihn mit beiden Armen heftig von sich &ndash; »was
+willst Du hier &ndash; und wie kommst Du hier herein?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_091" title="91"> </a>
+»Aber ich bin es ja &ndash; Dein Theodor &ndash; kennst
+Du mich denn nicht?«</p>
+
+<p>»Deine Stimme ist es &ndash; ja,« sagte die Frau,
+indem sie ihn ein paar Momente ruhig und fest betrachtete
+&ndash; »aber das Gesicht kenne ich nicht &ndash; das
+ist mir fremd &ndash; geh fort &ndash; geh fort!« und sie warf
+sich dabei zurück und barg ihr Gesicht im Kissen.
+Dort lag sie still und regungslos viele Minuten lang
+und Bertling wußte nicht, was er beginnen sollte.
+Vorsichtig legte er den Finger auf ihren Arm. &ndash;
+Der Puls ging vollkommen ruhig und eher langsamer
+als rascher wie gewöhnlich. &ndash; Vielleicht schlief
+sie jetzt ein; er wollte sie wenigstens unter keiner Bedingung
+stören, setzte das Licht fort, daß es ihr nicht
+auf die Augen scheinen konnte und ließ sich dann behutsam
+und geräuschlos auf einem Lehnstuhl nieder,
+um dort abzuwarten, ob sie noch einmal erwache.</p>
+
+<p>So mochte er über eine Stunde gesessen haben
+und dachte gerade daran, das Licht auszulöschen und
+selber wieder zu Bett zu gehen, als er die Frau leise
+wimmern hörte.</p>
+
+<p>Vorsichtig stand er auf &ndash; sie lag noch genau so
+wie vorher, nur das Gesicht hatte sie mehr nach oben
+gerichtet, damit sie frei athmen konnte, aber beide
+<a class="pagenum" name="page_092" title="92"> </a>
+Augen hielt sie mit den Händen bedeckt und weinte
+still und leise.</p>
+
+<p>»Auguste,« sagte der Mann da, indem er wieder
+zu ihr trat, »was hast Du nur? &ndash; Sage es mir &ndash;
+ich bitte Dich darum.«</p>
+
+<p>Sie schien ihn nicht zu hören, aber ihr Weinen
+wurde heftiger und brach endlich in nicht laute, doch
+deutliche Klagen aus.</p>
+
+<p>»Fort &ndash; fort muß ich von hier, wo ich <em class="gesperrt">so</em> glücklich
+war!« wimmerte sie. &ndash; »Ach nur so wenig Jahre
+durfte ich mit Theodor zusammen sein und jetzt
+kommen die bösen schwarzen Männer und wollen mich
+fortschleppen und in die kalte häßliche Erde legen. &ndash;
+Oh was hab ich ihnen nur gethan? &ndash; Aber sie hassen
+mich hier &ndash; Alle &ndash; Keiner hat mich lieb &ndash; Keiner
+&ndash; und der Einzige, der mir gut war, Theodor, hat
+mich nun auch verlassen.«</p>
+
+<p>»Auguste,« bat Bertling in Todesangst, »Du
+brichst mir das Herz mit solchen Reden. &ndash; Ich bin
+ja hier &ndash; bin bei Dir und werde Dich nie verlassen.«
+Dabei drückte er sie fest an sich und küßte ihre Stirn
+aber sie schien jetzt weder seine Worte zu hören, noch
+seine Berührung zu fühlen. Wieder lag sie viele
+Minuten lang still und regungslos, und nur das
+<a class="pagenum" name="page_093" title="93"> </a>
+schwere Athmen verrieth, daß sie lebe &ndash; endlich fuhr
+sie leise fort:</p>
+
+<p>»Oh daß Theodor von mir gegangen ist &ndash; er
+war so lieb, so gut mit mir &ndash; und ich habe ihn so oft
+gekränkt, aber es doch nie &ndash; nie böse gemeint. &ndash;
+Er <em class="gesperrt">mußte</em> es doch wissen, wie ich ihn liebe &ndash; und
+doch ist er fort.«</p>
+
+<p>»Aber ich bin ja bei Dir, Herz &ndash; so höre doch
+nur! hier lege Deine Hand auf mein Gesicht &ndash; fühlst
+Du denn nicht, daß ich bei Dir bin &ndash; daß ich Dich
+nie verlassen werde?«</p>
+
+<p>»Ja &ndash; <em class="gesperrt">Alle</em> haben mich verlassen,« rief die Frau
+eintönig &ndash; »und jetzt schleichen sich die schwarzen
+Männer herein und tragen mich fort &ndash; und wenn
+dann Theodor zurückkommt &ndash; wie er sich wundern
+wird, wenn ich nicht mehr da bin! und wie traurig
+wird er sein, &ndash; armer &ndash; armer Theodor.«</p>
+
+<p>Bertling war außer sich. Er fühlte, daß alle seine
+Worte nichts halfen. Die Unglückliche hörte in diesem
+eigenthümlichen Zustand weder was er sagte, noch
+fühlte sie den um sie geschlagenen Arm und die heißen
+Thränen, die auf ihr Antlitz fielen und sich mit den
+ihrigen mischten.</p>
+
+<p>Wieder lag sie eine halbe Stunde etwa in einem
+solchen fast bewußtlosen Zustand und mit geschlossenen
+<a class="pagenum" name="page_094" title="94"> </a>
+Augen. Das Licht brannte düster und Bertling
+schritt leise zu der Lampe, um diese zu entzünden. Er
+glaubte, daß vielleicht helleres Licht die aufgeregten
+Sinne eher beruhigen würde. Wie er die Glocke aber
+wieder aufsetzte, wobei ein leicht klirrendes Geräusch
+nicht zu vermeiden war, richtete sich die Kranke
+plötzlich rasch und erschreckt empor und horchte mit
+weit geöffneten Augen der Thür zu.</p>
+
+<p>»Was hast Du denn Auguste, &ndash; Was horchst
+Du so nach der Thür?« frug ihr Mann um sie zu beschwichtigen.
+Sie verstand jetzt was er sagte, ja schien
+ihn auch zu kennen und vergessen zu haben, daß sie
+früher über seine Abwesenheit geklagt und scheu erwiderte
+sie:</p>
+
+<p>»Hörst Du denn nicht die Schritte auf der Treppe?
+&ndash; sie kommen um mich abzuholen und unten im
+Haus steht der graue Mann, der mich auch erwartet.
+Oh ich wußte ja, daß sie noch kommen würden, wenn
+es auch schon zwölf Uhr vorbei ist.«</p>
+
+<p>»Aber mein liebes süßes Herz,« bat Bertling, der
+sich schon dadurch etwas beruhigt fühlte, daß er doch
+jetzt mit ihr reden konnte. &ndash; »Zwölf Uhr vorbei &ndash;
+es ist schon fünf Uhr und die Sonne wird gleich aufgehen.«
+&ndash; Er hoffte sie dadurch, daß er sie glauben
+mache, es sei Morgen, rascher zu beruhigen. Die
+<a class="pagenum" name="page_095" title="95"> </a>
+Kranke aber schüttelte unwillig mit dem Kopf und
+rief:</p>
+
+<p>»Täusche mich nicht &ndash; es fehlen nur noch ein
+paar Minuten an halb Zwei &ndash; sieh doch nach.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Bertling sah unwillkürlich nach seiner Uhr und
+Auguste hatte vollkommen recht. Sie wußte genau,
+welche Zeit es war. Ehe er ihr aber noch etwas erwidern
+konnte, nickte sie ernst und traurig mit dem
+Kopf und sagte:</p>
+
+<p>»Ja &ndash; ja &ndash; so muß es sein &ndash; <em class="gesperrt">Du</em> wirst jetzt
+oben wohnen und <em class="gesperrt">ich</em> unten &ndash; und wir werden nie
+wieder zusammen kommen.«</p>
+
+<p>»Aber, wo willst Du <em class="gesperrt">unten</em> wohnen, mein Kind,«
+lächelte der Mann, der ihre Gedanken abzulenken
+suchte, &ndash; »das untere Logis hat ja der Doktor Pellert
+gemiethet.«</p>
+
+<p>»Wer spricht denn davon,« sagte sie finster &ndash; »in
+der Erde, mein' ich &ndash; wenn sie mich begraben haben.
+Sie kommen ja gleich.«</p>
+
+<p>»Aber meine Auguste!«</p>
+
+<p>»Und ich war so glücklich« fuhr sie leise, mit zum
+Herzen dringender Stimme fort &ndash; »so unsagbar glücklich
+&ndash; aber nur für eine kurze &ndash; kurze Zeit.
+Jetzt muß es sein und ich will mich auch nicht länger
+<a class="pagenum" name="page_096" title="96"> </a>
+sträuben &ndash; ich kann mich ja doch nicht gegen die vier
+schwarzen Männer wehren.«</p>
+
+<p>»Und bin ich nicht hier Dich zu vertheidigen?«</p>
+
+<p>»Was kannst <em class="gesperrt">Du</em> gegen die <em class="gesperrt">viere</em> ausrichten!«
+erwiderte sie kopfschüttelnd, »und sie sind stark &ndash; <em class="gesperrt">sehr</em>
+stark. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit &ndash; hier den
+Ring nimm mir vom Finger &ndash; den schwarzen Ring
+&ndash; den sollst Du Paulinen von mir geben.«</p>
+
+<p>»Aber Auguste.«</p>
+
+<p>»So nimm denn doch den Ring &ndash; sie kommen ja,«
+bat sie mit einer Stimme, die ihm durch Mark und
+Bein schnitt und es blieb ihm Nichts übrig, als ihrem
+Wunsch zu willfahren und ihr den Ring abzunehmen;
+fürchtete er doch sie durch Widerspruch nur noch so viel
+mehr aufzureizen. Wie er das aber gethan, stürzten
+ihm selber die Thränen aus den Augen und sie umfassend
+jammerte er: »Meine liebe &ndash; liebe Auguste.«</p>
+
+<p>»Lebe wohl Theodor,« sagte sie da und schlang ihre
+Arme fest und fast krampfhaft um seinen Nacken &ndash;
+»lebe wohl und tausend, tausend Dank für alles Liebe
+und Gute, das Du mir gethan.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber Du gehst ja nicht von mir &ndash; Du bleibst
+ja bei mir, nie &ndash; nie im Leben trennen wir uns mehr,«
+flüsterte der Mann in Todesangst.</p>
+
+<p>»Es muß ja sein,« tröstete sie ihn leise &ndash; »weine
+<a class="pagenum" name="page_097" title="97"> </a>
+deshalb nicht &ndash; oh <em class="gesperrt">Du</em> hast es ja auch gut &ndash; <em class="gesperrt">Du</em>
+kannst draußen im Sonnenlicht, auf der schönen Erde
+bleiben &ndash; aber mich &ndash; mich legen sie in das dunkle
+kalte Grab und ich bin noch so jung &ndash; so jung und
+schon sterben &ndash; oh es ist recht, recht hart.«</p>
+
+<p>»Auguste &ndash; ich halte das nicht länger aus,« flehte
+der Mann, dem die Aufregung fast den Athem nahm
+&ndash; »so komm doch nur zu Dir &ndash; es ist ja Alles nur
+ein böser Traum.«</p>
+
+<p>Unten auf der Straße rasselte in diesem Augenblick
+ein Wagen über das Pflaster; der Schall klang
+deutlich herauf.</p>
+
+<p>»Da sind sie,« flüsterte die Kranke erbebend &ndash;
+»oh Gott wie <em class="gesperrt">schnell</em> sie kommen &ndash; wie furchtbar
+schnell. &ndash; Jetzt muß ich fort &ndash; oh Gott, oh Gott
+schon jetzt. Nein ich will nicht &ndash; sie sollen mich nicht
+weg von Dir nehmen &ndash; ich will bei Dir bleiben« &ndash;
+und krampfhaft klammerte sie sich um seinen Hals.&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»Du gehst auch nicht fort Herz &ndash; nie im Leben
+lasse ich Dich,« &ndash; rief Bertling, &ndash; »wir bleiben ja
+beisammen &ndash; oh so komm doch zu Dir. &ndash; Hier &ndash;
+hier,« sagte er und griff ein neben dem Bett stehendes
+Glas Wasser auf, &ndash; »trink einmal Auguste &ndash; das
+wird Dir gut thun &ndash; trink einen langen Zug &ndash; viel
+&ndash; mehr noch, mehr.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_098" title="98"> </a>
+Er hatte sich fast gewaltsam von ihr losgemacht
+und ihr das Glas an die Lippen gehalten. Wie sie
+das Wasser daran fühlte nahm sie einen kleinen Schluck
+und als er es ihr wieder und wieder aufdrang, trank
+sie mehr, bis sie das ganze Glas geleert. Dabei sah
+sie ihn mit einem wilden verstörten Blick an.</p>
+
+<p>»Meine Auguste« bat Bertling, ihr Haupt an sich
+pressend, »ist Dir jetzt besser? &ndash; kannst Du Dich besinnen?«</p>
+
+<p>Sie drängte ihn langsam von sich &ndash; sah ihn an
+&ndash; blickte im Zimmer umher und sagte leise:</p>
+
+<p>»Was ist denn mit mir vorgegangen?«</p>
+
+<p>»Du hast geträumt Herz &ndash; schwer und furchtbar
+geträumt« rief ihr Gatte, »oh Gott sei ewig Dank,
+daß es vorüber ist.«</p>
+
+<p>»Geträumt? &ndash; von was?« frug die Frau, die
+jetzt augenscheinlich ihre volle Besinnung wieder erlangt
+hatte. Bertling hütete sich aber wohl irgend
+eines ihrer Traum-Bilder auch nur zu erwähnen und
+ausweichend sagte er:</p>
+
+<p>»Oh nichts, Herz &ndash; lauter tolles verworrenes
+Zeug; wild durch einander hast Du gesprochen von
+Gesellschaften, Theater, Kleidern, Besuchen und was
+weiß ich.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Sonderbar,« flüsterte die Frau nachdenkend vor
+<a class="pagenum" name="page_099" title="99"> </a>
+sich hin »ich kann mich doch auf gar Nichts mehr besinnen.
+Aber mir ist mein Kopf so schwer &ndash; so furchtbar
+schwer und die Augen brennen mir, als ob ich geweint
+hätte. Wie viel Uhr ist es?«</p>
+
+<p>»Es wird bald zwei Uhr sein.«</p>
+
+<p>»So spät schon und Du bist noch angezogen? &ndash;
+Du hast wohl wieder so lange gearbeitet?«</p>
+
+<p>»Ja &ndash; ich hatte so viele Briefe zu schreiben &ndash;
+aber lege Dich jetzt hin und schlafe. Ich will auch zu
+Bett gehen.«</p>
+
+<p>»Oh wie mir mein Kopf brennt &ndash; ich kann gar
+nicht mehr denken,« sagte die Frau und preßte ihre
+Stirne mit beiden Händen, &ndash; »am Ende werd ich
+noch krank.«</p>
+
+<p>»Mach Dir keine Sorge mein Herz,« beruhigte sie
+aber der Mann, »morgen wird schon Alles wieder
+besser &ndash; wieder ganz gut sein. &ndash; Gute Nacht, mein
+Kind.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Gute Nacht, Theodor,« sagte die Frau &ndash; legte
+sich auf die Seite und war auch in wenigen Minuten
+fest und sanft eingeschlafen.</p>
+
+
+
+
+<h3>Sechstes Capitel.<a class="pagenum" name="page_100" title="100"> </a><br />
+
+<b>Die Begegnung.</b></h3>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen, wo aber Auguste völlig
+gesund und mit keiner Ahnung des Geschehenen, nur
+mit etwas Kopfschmerzen erwachte, ging Bertling in
+aller Früh zu seinem Hausarzt, um diesem das Vorgefallene
+mitzutheilen. Er hatte ihm schon früher
+einmal von der fixen Idee Augustens gesagt, der Doctor
+nahm das aber damals &ndash; vielleicht auch nur um
+den Mann nicht zu beunruhigen &ndash; außerordentlich
+leicht und versicherte ihn, daß solche Fälle gar nicht
+etwa vereinzelt daständen. Es sei ein Blutandrang
+nach dem Kopf und viel Bewegung in freier Luft &ndash;
+vielleicht auch eine blutreinigende Kur das Beste dagegen.
+Keinesfalls sollte er sich Sorgen deshalb machen.
+&ndash; Heute jedoch, als der Arzt die Phantasien dieser
+Nacht erfuhr, in denen der »graue Mann« auch wieder
+seine Rolle gespielt, zeigte er sich schon bedenklicher
+und meinte, Gefahr sei nur in so fern vorhanden, daß
+die Phantasie der Kranken ihr noch einmal &ndash; und
+also zu dem gefürchteten dritten Mal &ndash; die Gestalt
+des Mannes im grauen Rock vorspiegeln könne, ehe
+man im Stande sei sie zu überzeugen, daß die erste
+Erscheinung weiter Nichts als ein Phantasiebild, die
+<a class="pagenum" name="page_101" title="101"> </a>
+zweite aber ein wirklich menschliches Individuum
+gewesen sei &ndash; wie das aber zu thun, ohne daß man
+des Grauen habhaft werde, vermöge er nicht abzusehen,
+und daß der Graue nicht zu bekommen war, das
+wußte der Justizrath besser als irgend Jemand in der
+Stadt. Welche Mühe hatte er sich deshalb nicht
+schon gegeben und welchen Erfolg damit erzielt? &ndash;
+es war wirklich zum Verzweifeln.</p>
+
+<p>Der Doctor versprach übrigens im Lauf des Vormittags
+bei der Justizräthin vorzusprechen, um sich
+selber einmal von ihrem Gesundheitszustand zu überzeugen.
+Vielleicht ließ sich dann auch das Gespräch
+&ndash; natürlich mit der gehörigen Vorsicht &ndash; auf das
+eigentliche Krankheitsobjekt lenken und möglich, daß
+ja doch die Vernunftgründe eines Dritten und völlig
+Unparteiischen irgend einen wohlthätigen Einfluß auf
+sie ausüben konnten.</p>
+
+<p>Bertling seufzte tief auf, denn er am Besten fühlte
+das Trügerische einer solchen Hoffnung, aber was
+anderes ließ sich thun und auch dieser Versuch mußte
+gemacht werden, wenn er auch nicht das Geringste
+davon erhoffte. Er fürchtete sich aber, lange von zu
+Haus fortzubleiben, denn er wußte nicht, wie sich Auguste
+heute morgen nach der furchtbaren Aufregung
+der letzten Nacht befinden würde. Er bat also den
+<a class="pagenum" name="page_102" title="102"> </a>
+Doctor seinen Besuch nicht zu lange zu verschieben
+und schritt dann sehr niedergeschlagen und den Kopf
+voll trüber, wirrer Gedanken die Straße hinab, in
+der Richtung seiner eigenen Wohnung zu. Er achtete
+dabei auch gar nicht auf die ihm Begegnenden und
+erst als Jemand an ihm vorüber ging, der ihn grüßte,
+faßte er unwillkürlich an seinen eigenen Hut und
+warf einen flüchtigen Blick auf ihn, ohne sich jedoch
+in seinem Gang aufzuhalten. Im Weiterschreiten
+fiel ihm aber der fast schüchterne Gruß des vollkommen
+fremden Mannes auf &ndash; wo hatte er nur das Gesicht
+&ndash; wie ein Messerstich traf es ihn plötzlich ins Herz
+&ndash; <em class="gesperrt">das war der Graue</em> und mit dem Gedanken
+schon fuhr er auch herum und zurück, ihm nach &ndash;
+daß er dabei gegen eine alte würdige Dame anrannte
+und sie beinah über den Haufen geworfen hätte, fühlte
+er kaum, hielt sich wenigstens nicht einmal lange genug,
+auch nur zu einer Entschuldigung auf, denn mit
+peinigender Angst erfüllte ihn in dem Moment der Gedanke,
+daß ihm der Fremde wieder wie damals, selbst
+unter den Händen weg entschwinden könnte. Wenn er
+jetzt irgendwo in ein Haus getreten wäre &ndash; wenn er
+die nächste Quergasse erreicht hätte &ndash; nein &ndash; Gott
+sei ewig Dank &ndash; dort ging er noch und mit wenigen
+hastigen Schritten war er an seiner Seite.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_103" title="103"> </a>
+Der Fremde, als er Jemanden neben sich halten
+sah, schaute auch zu ihm empor und der Justizrath
+hätte laut aufjubeln mögen, als er in dem ihm zugewandten
+Gesicht wirklich den Besuch von jenem Abend
+erkannte, dessen Züge sich ihm in der Zwischenzeit oh,
+nur zu scharf und deutlich eingeprägt. Er war aber
+auch fest entschlossen, den Mann jetzt nicht wieder los
+zu lassen, bis er ihn seiner Frau gebracht, und wenn
+er nicht gutwillig ging, ei dann hätte er selbst die Polizei
+zu Hülfe gerufen, sogar auf die Gefahr hin eine
+Klage wegen unverschuldeter Gefängnißhaft gegen sich
+anhängig gemacht zu sehen.</p>
+
+<p>Der Fremde sah dabei etwas erstaunt, ja bestürzt
+zu ihm auf, denn er ebenfalls hatte den Justizrath
+gleich beim ersten Begegnen wieder erkannt und begriff
+jetzt natürlich nicht, was der Mann eigentlich
+von ihm wolle. Dieser ließ ihm aber nicht lange Zeit
+darüber nachzudenken und fast unwillkürlich die Hand
+auf seine Schulter legend (denn wenn er es sich auch
+nicht selber gestehen mochte, war es doch ein fast unbewußtes
+Gefühl, das ihn leitete, sich vor allen Dingen
+zu überzeugen, er habe es wirklich mit einem <em class="gesperrt">körperlichen</em>
+Wesen zu thun), sagte er freundlich:</p>
+
+<p>»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber &ndash; hatte ich
+nicht das Vergnügen, Sie vor einiger Zeit einmal
+<a class="pagenum" name="page_104" title="104"> </a>
+Abends auf ganz kurze Zeit bei mir zu sehen? &ndash; Ich
+bin der Justizrath Bertling &ndash; wenn Sie sich auf
+meine Person nicht mehr besinnen sollten?«</p>
+
+<p>Der Mann schien etwas verlegen und sah den Justizrath
+fast wie scheu an; endlich stotterte er:</p>
+
+<p>»Ich weiß in der That nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ich will Ihrem Gedächtniß zu Hülfe kommen,«
+fuhr aber der Justizrath in der neu erwachenden Angst
+fort, daß der Mann leugnen könnte oder er sich doch am
+Ende in der Person geirrt, »meine Frau kam damals
+gerade nach Haus und von einem leichten Unwohlsein
+ergriffen, wurde sie in der Thür ohnmächtig. Sie besinnen
+sich gewiß.«</p>
+
+<p>»Herr &ndash; Herr Justizrath,« stammelte der Mann
+»ich &ndash; ich &ndash; kann nicht recht begreifen&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Bertling, der nicht ohne Grund fürchtete, der
+Mann könne Bedenken tragen, sein damaliges rasches,
+und allerdings etwas rätselhaftes Verschwinden einzugestehen,
+denn wie konnte er wissen, in welchem Zusammenhang
+das mit der jetzigen Frage stand &ndash;
+suchte ihn nur vor allen Dingen darüber zu beruhigen.
+&ndash; »Lieber Herr,« sagte er, »Sie müssen mir vorher
+die Bemerkung erlauben, daß ich Ihre Antwort nur
+als eine mir persönlich erwiesene Gefälligkeit betrachte
+und ich sehe ein, daß es vorher nöthig ist, Ihnen die
+<a class="pagenum" name="page_105" title="105"> </a>
+Beweggründe meines, Ihnen vielleicht sonderbar erscheinenden
+Betragens mitzutheilen. Aber wir können
+das nicht auf offener Straße abmachen, dürfte ich Sie
+deßhalb bitten mit mir einen kurzen Moment in jenes
+Caffeehaus zu treten; wir sind dort ungestört und ich
+gebe Ihnen mein Wort, daß Sie damit ein gutes
+Werk thun.«</p>
+
+<p>Der Fremde war augenscheinlich in der größten
+Verlegenheit, wie denn auch sein ganzes Wesen etwas
+Schüchternes, ja Gedrücktes zeigte. Der Einladung
+<em class="gesperrt">konnte</em> er aber nicht gut ausweichen. Mit einer ziemlich
+ungeschickten Verbeugung und ohne ein Wort zu
+erwidern, willigte er ein und schritt neben dem Justiz-Rath
+dem Caffeehaus zu. Bertling ließ ihn auch
+dabei nicht aus den Augen, denn er hatte immer noch
+das unbestimmte Gefühl, als ob ihm der eben so glücklich
+Aufgefundene durch einen der Trottoirsteine, wie
+durch eine Versenkung auf dem Theater verschwinden
+könnte, und wollte sich später keine Vernachlässigung
+vorzuwerfen haben.</p>
+
+<p>Im Restaurationslocal endlich angelangt, ließ er zwei
+Tassen Caffee und Cigarren bringen und als Beides vor
+ihnen stand und der Kellner sich mit seiner Bezahlung
+zurückgezogen hatte, that Bertling das Vernünftigste,
+was sich unter diesen Umständen thun ließ und erzählte
+<a class="pagenum" name="page_106" title="106"> </a>
+dem Fremden, ohne vorher eine weitere Frage
+an ihn zu richten, das seltsame Zusammentreffen eines
+Traumes seiner Frau mit seiner eignen Erscheinung,
+wobei sein plötzliches und unbeachtetes Verschwinden
+natürlich alle die überspannten Ideen der Kranken bestätigen
+mußte.</p>
+
+<p>Der kleine Mann in dem dunklen Rock schien
+während dieses Berichtes ordentlich aufzuthauen. Zuerst
+hatte er die angezündete Cigarre nur schüchtern
+und mit der äußersten Spitze in den Mund genommen,
+daß er kaum daran ziehen konnte und seinen
+Caffee halb kalt werden lassen &ndash; jetzt begann er mit
+augenscheinlichem Behagen den Dampf des guten
+Blattes einzuziehen und that auch einen Schluck aus
+seiner Tasse und als der Justizrath ihm endlich gestand,
+daß er die ganze Stadt schon habe durch Polizei absuchen
+lassen, um seiner nur habhaft zu werden und
+seine arme Frau von ihrem unglückseligen Wahne zu
+befreien, lächelte er sogar still vor sich hin und leerte
+dabei seine Tasse bis zum letzten Tropfen. Bei der
+nun wieder an ihn gerichteten Frage des Justizraths,
+ob er es nicht gewesen sei, der ihn an jenem Abend
+besucht habe und zu welchem Zweck, wurde er allerdings
+wieder ein wenig verlegen und sogar roth, aber
+er leugnete nicht mehr und sagte:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_107" title="107"> </a>
+»Wenn Ihnen <em class="gesperrt">das</em> eine Beruhigung gewährt, Herr
+Justizrath, so kann ich Ihnen gestehen, daß ich wirklich
+an jenem Abend in Ihrer Stube war und nur bedauere&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Kellner! Eine Flasche Wein &ndash; von Ihrem Besten
+&ndash; bringen Sie Champagner!« rief aber Bertling,
+der sich in diesem Augenblicke wirklich Mühe geben
+mußte, dem kleinen Mann nicht um den Hals zu fallen.</p>
+
+<p>»Aber Herr Justizrath&nbsp;&ndash;«.</p>
+
+<p>»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und trinken
+Sie ein Glas Wein mit mir,« rief aber dieser in
+größter Aufregung »und, wenn Sie ein <em class="gesperrt">Bad</em> von
+Champagner haben wollten, ich verschaffte es Ihnen
+jetzt. Nun aber sagen Sie mir auch, weshalb Sie
+so rasch verschwanden, mich nicht wieder aufsuchten und
+wo Sie, vor allen Dingen, die ganze Zeit gesteckt
+haben, denn kein einziger meiner Spürhunde konnte
+auch nur auf Ihre Fährte kommen.«</p>
+
+<p>»Lieber Gott,« sagte der kleine Mann mit einem
+schweren Seufzer &ndash; »die Sache ist außerordentlich
+einfach und leicht erklärt, denn &ndash; wenn ich mich auch
+in einer gedrückten Lage befinde, habe ich doch nicht
+die geringste Ursache mich derselben zu schämen, da sie
+mich ohne mein Verschulden getroffen hat.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_108" title="108"> </a>
+»Darf ich es wissen?« frug der Justizrath, während
+der Kellner Wein und Gläser auf den Tisch stellte
+&ndash; »vielleicht kann ich helfen.«</p>
+
+<p>»Ich stamme aus Königsberg« erzählte der kleine
+Mann, »und hatte durch Protection eine Anstellung als
+Lehrer in Mainz erhalten; dort ernährte ich mich aber
+nur kümmerlich, als ich die Nachricht erhielt, daß in
+meiner Vaterstadt ein guter Posten für mich offen geworden
+und ich dort an einem der ersten Gymnasien
+mit einem ganz vortrefflichen Gehalt einrücken könne.
+Ich gab meine Stelle in Mainz auf und machte mich
+auf den Weg. Schon seit längerer Zeit aber kränkelnd,
+erfaßte mich hier in Alburg ein heftiges Fieber,
+das eine Weiterreise unmöglich machte. Glücklicher
+Weise fand ich bei guten Menschen ein Unterkommen
+aber meine kleine Baarschaft schmolz entsetzlich zusammen
+und kaum wieder hergestellt, erfaßte mich die
+Angst, daß ich, wenn ich nicht rechtzeitig am Ort meiner
+Bestimmung eintreffen könnte, am Ende auch gar
+die Anstellung verlieren und dann gänzlich brodlos sein
+würde. Ich schrieb nach Königsberg, erhielt aber von
+dort nicht so rasche Antwort und in meiner Herzensangst
+beschloß ich mich an <em class="gesperrt">Sie</em>, Herr Justizrath, zu
+wenden und Sie um ein Darlehn zu ersuchen, das
+<a class="pagenum" name="page_109" title="109"> </a>
+ich Ihnen von meiner Vaterstadt aus leicht zurückerstatten
+konnte.«</p>
+
+<p>»Aber woher kannten Sie mich?«</p>
+
+<p>»Nicht Sie, Herr Justizrath, aber Sie haben einen
+Bruder in Königsberg, bei dem ich ein Jahr Hauslehrer
+war und auf dessen Zeugniß ich mich mit gutem
+Gewissen berufen durfte. Wie aber der Unfall mit
+Ihrer Frau Gemahlin stattfand, von dem ich keine
+Ahnung haben konnte, daß ich selber die unschuldige
+Ursache gewesen, da fühlte ich doch recht gut, daß das
+ein sehr schlecht gewählter Moment sei, um ein Darlehn
+zu erbitten und ich beschloß lieber am nächsten Morgen
+wieder vorzusprechen. Wie ich Sie mit der ohnmächtigen
+Dame beschäftigt sah, verließ ich das Zimmer
+und ging nach Haus.«</p>
+
+<p>»Aber warum kamen Sie nicht am nächsten Morgen?«</p>
+
+<p>»Weil ich noch an dem nämlichen Abend einen
+Brief von Königsberg erhielt, worin mir angezeigt
+wurde, daß es mit meinem Eintreffen dort Zeit bis
+zum Ersten nächsten Monats habe. Jetzt war ich im
+Stande mir mein Reisegeld vielleicht selber zu verdienen
+und brauchte Niemanden weiter zu belästigen.
+Der Mann, bei dem ich die Zeit gewohnt, war Copist,
+hatte aber in der letzten Zeit so viel drängende Arbeiten
+<a class="pagenum" name="page_110" title="110"> </a>
+erhalten, daß er sich außer Stande sah, sie allein
+zu beendigen. Ich übernahm einen Theil und da mir
+noch vierzehn Tage Zeit bleiben, so hoffe ich bis dahin
+mein Reisegeld wenigstens zusammen gespart zu haben.«</p>
+
+<p>»Und wieviel brauchen Sie dazu?« frug der Justizrath,
+der bis jetzt der einfachen Erzählung mit der
+gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war, ohne den
+Erzählenden auch nur mit einer Sylbe zu unterbrechen.
+Nur eingeschenkt und getrunken hatte er dazu und
+seinen Gast ebenfalls stillschweigend durch Zuschieben
+des Glases genöthigt.</p>
+
+<p>»Im Ganzen und mit dem, was ich hier noch zu
+zahlen habe, etwa 20 Thaler, aber 9 davon habe ich
+mir schon verdient &ndash; oh ich bin sehr fleißig gewesen
+die Zeit über und in den langen Tagen gar nicht aus
+meinem Zimmer, ja nicht ein einziges Mal an frische
+Luft gekommen. Nur heute <em class="gesperrt">mußte</em> ich ausgehen und
+war eben im Begriff mir frisches Papier zu holen,
+denn ich kann nicht gut einen Tag versäumen.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Herr,« sagte da der Justizrath, »dagegen
+werde ich Einspruch erheben. Ihren heutigen
+Tag müssen Sie mir widmen, aber Sie sollen dadurch
+nicht zu Schaden kommen. Es gilt hier meine Frau
+zu überzeugen, daß sie sich durch einen Wahn, durch
+ein zufälliges Begegnen hat täuschen lassen und wenn
+<a class="pagenum" name="page_111" title="111"> </a>
+Sie mir dazu behilflich sein wollen, so verfügen Sie
+über meine Casse. Mit Vergnügen steht Ihnen dann
+Alles zu Diensten, was Sie zu Ihrer Reise und vielleicht
+noch für sonstige Ausrüstung gebrauchen.«</p>
+
+<p>»Herr Justizrath,« stammelte der Mann.</p>
+
+<p>»Und glauben Sie um Gottes Willen nicht,«
+setzte Bertling rasch hinzu, »daß Sie mir dadurch zu
+irgend einem Dank verpflichtet würden; nein im Gegentheil,
+werde ich mich nachher noch immer als Ihren
+Schuldner betrachten und sollten Sie je in Verlegenheit
+kommen, so bitte ich Sie, sich vertrauensvoll an
+mich zu wenden.«</p>
+
+<p>»Aber war ich nicht selber die Ursache dieses Unfalls?«</p>
+
+<p>»Nein,« versetzte der Justizrath &ndash; »in Ihnen
+repräsentirte sich nur die frühere eingebildete Erscheinung
+und durch Sie hoffe ich deshalb meine Frau
+nicht allein zu überzeugen, daß ihre zweite Gespenstervision
+ein Irrthum war, sondern sie wird, während
+sie hierin die Täuschung erkennt, auch einsehen, daß das
+<em class="gesperrt">erste</em> Traumbild nur in ihrer Phantasie gewurzelt
+haben konnte. Also wollen Sie sich mir heute zur
+Verfügung stellen?«</p>
+
+<p>»Von Herzen gern,« sagte der kleine Mann, der
+durch den ungewohnten Champagner seine ganze Schüchternheit
+<a class="pagenum" name="page_112" title="112"> </a>
+verloren zu haben schien. »Befehlen Sie über
+mich und was in meinen Kräften steht, will ich mit
+Freuden thun, &ndash; habe ich doch dadurch auch einen
+Theil dessen gut zu machen, was ich, freilich vollkommen
+ahnungslos, selber über Sie herauf beschworen.«</p>
+
+<p>»Gut,« genehmigte Bertling, sich vergnügt die
+Hände reibend. &ndash; »So kommen Sie denn jetzt mit
+zu meinem Arzt und dort wollen wir das Weitere
+bereden, wie wir es am Besten anzufangen haben.
+Den Mittag sind Sie ohnedies mein Gast, wenn wir
+vielleicht auch noch nicht bei mir zu Hause diniren
+können. Vorher muß ich aber meine Frau jedenfalls
+auf Ihre Begegnung vorbereitet haben.«</p>
+
+
+
+
+<h3>Siebentes Capitel.<br />
+
+<b>Schluß.</b></h3>
+
+
+<p>Der Doctor, eben im Begriff seine Patienten zu besuchen,
+war nicht wenig erstaunt, den Justizrath mit
+dem erbeuteten und so lange ersehnten Unruhestifter
+eintreffen zu sehen, nahm aber auch zu viel Interesse an
+der Sache, um nicht seine eigenen, selbst sehr nothwendigen
+Gänge für kurze Zeit aufzuschieben und das Nähere
+mit dem Justizrath zu bereden. Aufmerksam hörte
+<a class="pagenum" name="page_113" title="113"> </a>
+er zunächst den kurzen Bericht an, der ihm über das
+Zusammentreffen gegeben wurde und die Frage war
+nur jetzt, wie Auguste mit ihrem leibhaften Traumbild
+zusammen gebracht werden konnte, ohne ihr einen
+neuen Schreck zu verursachen, der diesmal dauernde
+Folgen haben konnte.</p>
+
+<p>Das zeigte sich denn auch nicht so leicht und die
+Männer überlegten zusammen eine ganze Weile hin
+und her, wie es am zweckmäßigsten zu arrangiren
+wäre. Der Justizrath schlug vor, den »grauen Mann«
+gleich zum Mittag-Essen mit nach Haus zu nehmen,
+um im hellen Sonnen-Licht jeden Gedanken an den
+häßlichen Spuck zu zerstören, &ndash; aber dagegen protestirte
+der Arzt.</p>
+
+<p>»Damit setzen Sie Alles auf eine Karte,« rief er
+heftig aus, »denn Sie können gar nicht wissen, wie
+sich in dem Geist Ihrer Frau das Bild dieser geglaubten
+Spukgestalt erhalten oder entwickelt hat;
+bringen Sie ihr aber jetzt den Mann am hellen Tag,
+der dann natürlich mit einer höflichen, alltäglichen
+Verbeugung in's Zimmer tritt, so bürgt uns kein
+Mensch dafür, daß sie ihn als denselben wieder erkennt,
+den sie in jener <em class="gesperrt">Nacht</em> gesehen und dann ist
+<em class="gesperrt">Alles</em> verloren, denn nachher haben wir <em class="gesperrt">kein</em> Mittel
+weiter, ihr zu beweisen, daß sie sich getäuscht. Unser
+<a class="pagenum" name="page_114" title="114"> </a>
+Pulver ist verschossen und wir müssen der Natur und
+den Begebenheiten eben ihren Lauf lassen, ohne im
+Stande zu sein, an irgend einer Stelle hülfreich einzugreifen.«</p>
+
+<p>»Aber was Anderes <em class="gesperrt">können</em> wir thun?« rief der
+Justizrath &ndash; »der Gefahr, daß sie ihn nicht wieder
+erkennt, sind wir ja doch immer ausgesetzt.«</p>
+
+<p>»Doch nicht immer,« sagte der Doctor, der ein
+paar Minuten mit raschen Schritten in seinem Zimmer
+auf- und abgegangen war &ndash; »ich glaube, ich weiß
+einen Ausweg.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Doctor&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich einmal sehen,« fuhr dieser fort.
+&ndash; »Jetzt habe ich keine Zeit, denn ich <em class="gesperrt">muß</em> meine
+Patienten besuchen; vor Dunkelwerden können wir
+aber auch gar nichts in der Sache thun, und bis dahin
+bin ich in Ihrem Hause und bei Ihrer Frau. Bis
+dahin aber darf auch dieser Herr Ihrer Frau nicht
+vor Augen kommen. Speisen Sie zusammen im
+Hôtel &ndash; eine Ausrede ist bald gefunden, machen Sie,
+was Sie wollen, aber bringen Sie ihn nicht vor der
+Abenddämmerung in Ihr Haus.«</p>
+
+<p>»Und dann?«</p>
+
+<p>»Dann führen Sie ihn heimlich, ohne daß Ihre
+Frau etwas davon erfährt, in Ihr Zimmer, zünden
+<a class="pagenum" name="page_115" title="115"> </a>
+wie gewöhnlich Ihre Lampe an, die auch ein wenig
+düster brennen darf und lassen sich den Herrn dann
+auf den nämlichen Stuhl setzen, auf dem er an jenem
+Abend gesessen hat und zwar genau in der nämlichen
+Stellung, den rechten Arm über der Lehne. &ndash; Ich
+glaube, Sie erwähnten das gegen mich.«</p>
+
+<p>»Ja wohl.&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Schön. Sie selber kommen dann zu uns herüber,
+oder geben mir ein Zeichen daß Alles bereit ist und
+überlassen das Andere mir. Wollen Sie es so
+machen?«</p>
+
+<p>»Bester Doctor, ich füge mich in Allem Ihrem
+Willen,« sagte der Justizrath, »aber &ndash; halten Sie
+es nicht für möglich, daß Auguste durch die plötzliche
+Wiederholung der Erscheinung zum Tod erschrecken
+könnte?«</p>
+
+<p>»Natürlich darf sie den Herrn da nicht unvorbereitet
+antreffen,« rief der Doctor &ndash; »doch Sie wollen
+das ja mir überlassen. Außerdem werde ich noch vorher
+zu der kleinen Hofräthin Janisch gehen, sie in das
+Geheimniß einweihen und sie bitten uns zu unterstützen.
+Für jetzt ersuche ich Sie aber, mich zu entschuldigen,
+denn meine Zeit ist gemessen.«</p>
+
+<p>»Und Sie vergessen nicht, noch vor Dunkelwerden
+zu mir zu kommen?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_116" title="116"> </a>
+»Ich vergesse nie etwas,« sagte der Doctor, nahm
+seinen Hut und stieg ohne Weiteres voran die Treppe
+hinunter.</p>
+
+<p>Der Justizrath war jetzt ein wenig in Verlegenheit,
+was er mit seinem Schutzbefohlenen oder eigentlich
+Gefangenen, bis zum Mittagsessen anfangen
+solle, noch dazu da er auch gern einmal nach Haus
+gegangen wäre und ihn dorthin doch nicht mitnehmen
+konnte. Ueberließ er ihn aber bis dahin sich selbst, so
+war er der Gefahr ausgesetzt, ihn nicht wieder zu
+finden und das durfte er unter keiner Bedingung riskiren.
+Da blieb ihm nur ein Ausweg, mit dem Fremden
+in dessen Behausung zu gehen, um sich selber zu
+überzeugen, wo er wohne und wieder zu finden wäre.</p>
+
+<p>Das geschah denn auch und nachdem Bertling
+in einer vollkommen abgelegenen Straße vier steile
+dunkle Treppen hinauf geklettert war, konnte er mit
+einiger Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen. Er
+band dem kleinen Mann aber noch einmal auf die
+Seele, das Haus um keinen Preis zu verlassen, bis
+er selber zurückkäme, was aber bald geschehen würde,
+da er ihn um ein Uhr zum Mittagessen abhole.</p>
+
+<p>Seine Frau fand der Justizrath noch ziemlich abgemattet,
+aber doch ruhig; sie hatte von dem, was sie
+die vorige Nacht mit wachenden Augen geträumt, keine
+<a class="pagenum" name="page_117" title="117"> </a>
+Ahnung und sie fühlte nur die Folgen der unnatürlichen
+Aufregung, ohne sich dieser im Geringsten bewußt
+zu sein.</p>
+
+<p>Um ein Uhr oder etwas vorher, entschuldigte sich
+Bertling, daß er mit einem Geschäftsfreund zu Mittag
+speisen müsse, da sie Beide, außer der Zeit, sehr beschäftigt
+wären, und er Vielerlei mit ihm zu besprechen
+hätte &ndash; zu sich hätte er ihn aber heute nicht einladen
+mögen, da Auguste doch noch so angegriffen sei.</p>
+
+<p>Auguste dankte ihm dafür, denn sie befand sich in
+der That nicht in der Stimmung einen fremden Besuch
+zu empfangen; sie fühlte sich auch nie wohler, als
+wenn sie allein gelassen wurde und ihr Mann versprach
+ihr ja auch außerdem noch vor Abend wieder zu
+Haus zu sein und dann heute ganz bei ihr zu bleiben.</p>
+
+<p>Sie aß allein auf ihrem Zimmer und legte sich
+dann ein wenig auf das Sopha, um auszuruhen; der
+Kopf that ihr weh und das Herz war ihr so schwer,
+als ob irgend ein nahendes Unheil sie bedrohe. Sie
+fing auch fast an, den dämmernden Abend zu fürchten
+und bereute schon, Theodor nicht gebeten zu haben,
+noch vor der Zeit zurück zu kehren. &ndash; Aber sie durfte
+auch nicht so kindisch sein. Wenn er seine Geschäfte
+besorgt hatte, kam er ja ohnedies schon immer von
+selber nach Hause.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_118" title="118"> </a>
+Sie sollte aber ihren Nachmittag heute nicht
+allein verbringen, denn etwa um fünf Uhr kam Pauline
+herüber. Wenn diese aber auch lachend das
+Zimmer der Freundin betrat, erschrak sie doch sichtlich
+über deren bleiches Aussehen, über ihre tiefliegenden
+Augen und den schmerzlichen Zug um den Mund.
+Auf ihre theilnehmenden Fragen gab ihr Auguste aber
+nur ausweichende Antworten; sie scheute sich selbst der
+Freundin gegenüber das einzugestehen, was ihr die
+Brust beengte und ihr Herz mit einer wohl unbestimmten,
+aber nichts desto weniger peinigenden Angst
+erfüllte und Pauline, die das herausfühlte, war
+freundlich genug, auf ihren Wunsch einzugehen. Ihr
+lag aber jetzt besonders daran, die Freundin zu zerstreuen,
+und ohne daß Auguste es merkte, wußte sie
+das Gespräch auf das Abenteuer mit der Kartenschlägerin
+zu bringen. Nicht mit Unrecht glaubte sie, daß
+jene Aufregung wesentlich dazu beigetragen hatte, sie
+niederzudrücken, und war das wirklich der Fall, so
+kannte sie ein Mittel sie wieder aufzurichten.</p>
+
+<p>»Denke Dir nur Schatz,« lachte sie, ganz wieder
+in ihrer, alten fröhlichen Laune, »ich bin jetzt unserer
+Kartenschlägerin auf die Spur gekommen.«</p>
+
+<p>»Auf die Spur? &ndash; wie so?«</p>
+
+<p>»Oder ich habe wenigstens einen Beweis erhalten,
+<a class="pagenum" name="page_119" title="119"> </a>
+was es mit ihrer Kunst für eine Bewandniß
+hat.«</p>
+
+<p>»In der That? &ndash; aber durch was?« frug Auguste
+gespannt.</p>
+
+<p>»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort,
+»daß ich bei ihr anfragen wollte, wo ein mir gestohlenes
+Corallen-Halsband hingekommen sei und wo
+ich den Dieb zu suchen hätte. Sie ließ mich aber die
+Frage gar nicht stellen, denn jedenfalls hatte sie am
+Brunnen von unseren Mägden erfahren, daß ich das
+Halsband vermisse. In den letzten drei Tagen war
+auch wirklich bei uns von nichts Anderem gesprochen
+worden, und meine Köchin, wie ich es mir gedacht, schon
+bei der Alten gewesen, um sie um Rath zu fragen.«</p>
+
+<p>»Also wirklich,« sagte Auguste.</p>
+
+<p>»Du weißt auch, daß sie meinen Verdacht auf
+irgend eine Dame mit grünen Haubenbändern lenken
+wollte.«</p>
+
+<p>»Allerdings &ndash; hatte sie sich geirrt?«</p>
+
+<p>»Das Komische bei der Sache ist das,« lachte
+Pauline, »daß gar Niemand das Halsband gestohlen
+hat, sondern daß ich es heute morgen selber in einer
+kleinen Schieblade meines Secretairs fand, wohinein
+ich es neulich, wahrscheinlich in großer Zerstreutheit
+gelegt.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_120" title="120"> </a>
+»Es war gar nicht gestohlen?«</p>
+
+<p>»Gott bewahre, folglich konnte die »Dame« mit
+den grünen Haubenbändern auch nicht der Dieb sein.
+Jetzt hab' ich der Sache aber näher nachgeforscht und
+von meinen Leuten erfahren, daß die alte Frau Heßberger
+eine ganz besondere Wuth auf meine Wäscherin
+hat, weil diese sie irgend einmal, wer weiß aus welchem
+Grund, ich glaube wegen Verleumdung, verklagt
+hat, und die Alte fünf Thaler Strafe zahlen mußte.
+Die Schusters-Frau scheint eine ganz durchtriebene
+Person zu sein und ich glaube, es ist sehr unnöthig,
+daß ihr liebenswürdiger Gatte, während sie ihre
+<em class="gesperrt">Kunst</em> ausübt, geistliche Lieder singt, um den Teufel
+fernzuhalten, es scheint Alles sehr natürlich zuzugehen.
+&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber woher wußte sie&nbsp;&ndash;« wollte Auguste fragen,
+brach aber rasch und plötzlich mitten darin ab.</p>
+
+<p>»Was, mein Herz?« frug Pauline &ndash; »etwa das,
+was sie Dir von einem <em class="gesperrt">grauen Mann</em> sagte? Das
+wolltest Du mir ja heute erzählen und ich bin fest
+überzeugt, wir kommen der Sache ebenfalls auf die
+Spur. &ndash; Sieh mein Herz, mit all den Geistergeschichten
+läuft es ja doch jedesmal auf blinden Lärm
+hinaus, denn auch das was uns die Frau Präsidentin
+damals als <em class="gesperrt">Thatsache</em> von der Kammgarnspinnerei
+<a class="pagenum" name="page_121" title="121"> </a>
+erzählte, hat sich als ein einfacher Betrug herausgestellt.«</p>
+
+<p>»Als Betrug?«</p>
+
+<p>»Gewiß und gestern Abend haben sie die Thäter
+erwischt. Aber nun erzähle mir auch, was <em class="gesperrt">Dich</em>
+drückt.«</p>
+
+<p>Auguste zögerte noch, aber sie hatte der Freundin
+einmal versprochen, ihr das Geheimniß mitzutheilen
+und es that ihr selber wohl, irgend Jemand zu haben,
+dem sie ihr Herz vollkommen ausschütten konnte. So
+erzählte sie denn auch jetzt, während der Abend schon
+wieder zu grauen begann, von der ersten Erscheinung,
+die sie in ihres Mannes Zimmer gehabt und wollte
+eben zu dem zweiten Begegnen mit dem unheimlichen
+Wesen übergehen, als sie laute Stimmen auf dem
+Vorsaal hörten.</p>
+
+<p>»Die Frau Justizräthin zu Haus?« &ndash; Es war
+des Doctors Stimme, die Magd erwiderte etwas
+darauf und gleich darauf klopfte es an die Thür.</p>
+
+<p>Es war der Arzt, der seine Patientin zu besuchen
+kam. Er freute sich übrigens sie so wohl und munter
+zu finden und meinte, nach ein paar hingeworfenen
+Fragen: &ndash; »Aber wie mir scheint, habe ich die Damen
+in einer wichtigen Unterhaltung gestört &ndash; thut mir
+leid, aber wir Aerzte kommen oft ungelegen.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_122" title="122"> </a>
+»In einer Unterhaltung,« sagte da Pauline, »die
+auch <em class="gesperrt">Sie</em> angeht, lieber Doctor, denn sie betrifft
+Augustens Krankheit ebenfalls mit &ndash; bitte, erzähle
+weiter, liebes Herz.«</p>
+
+<p>»Aber Pauline,« sagte die Frau erschreckt, »das ist
+nicht Recht. Das was ich Dir erzählte, war nur für
+<em class="gesperrt">Dich</em> bestimmt.«</p>
+
+<p>»Aber mein gutes Kind,« sagte die junge Frau
+»wenn ich nicht sehr irre, so hat gerade diese Phantasie
+auf Dein körperliches Befinden den größten und
+zwar nachtheiligsten Einfluß ausgeübt, und wie kann
+Dich ein Arzt wieder herstellen, wenn er nicht die <em class="gesperrt">Ursache</em>
+Deiner Krankheit erfährt.«</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Frau Hofräthin, daß Sie mir
+da beistehen,« sagte der Doctor »und bitte Sie nun
+selber, beste Frau, mir nichts vorzuenthalten. Außerdem
+wissen Sie, wie ich Ihnen und Ihrem Mann zugethan
+bin und schon als <em class="gesperrt">Freund</em> des Hauses, als
+der ich mich doch betrachten darf, ersuche ich Sie dringend
+mir Alles mitzutheilen.«</p>
+
+<p>Die Justizräthin sträubte sich noch ein wenig, aber
+es half ihr Nichts; der Doctor versicherte sie dabei,
+daß ihr eigener Mann ihm schon einen Theil vertraut
+habe, er wisse also doch einmal, um was es sich
+handele und solcher Art gedrängt, erzählte Auguste
+<a class="pagenum" name="page_123" title="123"> </a>
+denn das zweite, räthselhafte Begegnen jener Erscheinung,
+ja verhehlte sogar nicht, daß sie von einer
+Wiederholung derselben das Schlimmste fürchte.</p>
+
+<p>Der Doctor hatte ihr schweigend zugehört &ndash;
+draußen wurde wieder eine Thür geöffnet und sein
+scharfes Ohr vernahm leise Schritte im Vorsaal.
+Er wußte, der Justiz-Rath war mit dem Mann im
+grauen Rock eingetroffen. Der Abend brach dabei
+immer mehr herein und der Doctor bat, daß man die
+Lampe anzünden möge, da eben die Dämmerstunden
+die besten Hülfsgenossen solcher Phantasien seien.
+Pauline fügte jetzt auch noch die Geschichte der Kartenschlägerin
+hinzu, zu der der Doctor nur lächelnd den
+Kopf schüttelte; endlich aber sagte er:</p>
+
+<p>»Also, Sie fürchten eine <em class="gesperrt">dritte</em> Erscheinung,
+liebe Frau Justizräthin, weil Sie durch die zweite die
+Bestätigung der ersten erhalten haben?«</p>
+
+<p>»Ja,« hauchte die Frau.</p>
+
+<p>»Sie würden auch« &ndash; fuhr der Doktor fort, »wie
+Sie mir ja selber gestanden haben, ohne die zweite
+geneigt gewesen sein, die erste als eine bloße Phantasie,
+als eine Ueberreizung Ihrer Nerven anzusehen, nicht
+wahr?«</p>
+
+<p>»&ndash; Ja&nbsp;&ndash;« erwiderte die Frau wieder, doch
+etwas zögernd.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_124" title="124"> </a>
+»Schön,« nickte der Doctor vor sich hin, »wenn
+ich nun hier mit meinem Zauberstab« und er hob
+seinen Stock, den er noch in der Hand hielt, »Ihnen
+selber die Erscheinung zum dritten und letzten Mal
+heraufbeschwören würde, wobei ich Ihnen zugleich beweisen
+könnte, daß wir es mit nichts Anderem, als
+einem vollkommen compacten Wesen aus Fleisch und
+Blut zu thun haben, &ndash; würden Sie mir dann zugestehen,
+daß Sie sich geirrt, und daß solche Erscheinungen
+im Allgemeinen, und hier auch im Besondern,
+nie und nimmer als etwas Anderes betrachtet werden
+dürfen, wie als krankhafte Ausgeburten der
+Phantasie?«</p>
+
+<p>»Jene Erscheinung heraufbeschwören?« frug Auguste
+ordentlich erschreckt.</p>
+
+<p>»Ja &ndash; aber nicht etwa aus dem Boden, wie
+einen Geist, sondern wie es sich gebührt, die Treppe
+herauf,« lachte der Doctor. »Würden Sie mir versprechen,
+sich recht tapfer dabei zu halten und ehe
+Sie uns wieder ohnmächtig werden, erst einmal genau
+zu prüfen, ob Sie es mit einem Geist oder einem
+wirklichen Menschen zu thun haben?«</p>
+
+<p>»Ich begreife Sie nicht,« &ndash; stammelte die Frau.</p>
+
+<p>»Ist Ihr Mann nicht zurückgekehrt?« sagte der
+Doctor und horchte nach dessen Thür hinüber &ndash; »ich
+<a class="pagenum" name="page_125" title="125"> </a>
+dächte, ich hätte ihn in seiner Stube gehört &ndash; he
+Justizrath?« rief er, indem er aufstand und an jene
+Thür klopfte.</p>
+
+<p>»Ja ich komme gleich« &ndash; antwortete Bertlings
+Stimme.</p>
+
+<p>»Und wann soll ich ihn sehen?« rief die Frau, die
+sich einer leichten Anwandlung von Furcht nicht erwehren
+konnte.</p>
+
+<p>»Wann? &ndash; jetzt gleich, wenn Sie wollen,« lachte
+der Arzt. »Vorher muß ich Ihnen aber noch bemerken,
+daß der berühmte Mann im grauen Rock, vor dem
+Sie einen solchen Respect haben, richtig aufgefunden
+ist &ndash; denn was spürte die Polizei nicht heraus, wenn
+man ihr nur ihre Zeit läßt &ndash; und er hat sich als ein
+vollkommen achtbares, aber auch eben so harmloses
+Individuum herausgestellt, das damals nicht etwa
+ein überirdischer Auftrag, sondern ein sehr irdisches
+Verlangen nach einer kleinen Summe Geldes zu
+Ihrem Gatten getrieben hatte. Der gute Mann ist
+aber etwas schüchterner Natur und da Sie bei seinem
+Anblick ohnmächtig wurden, hielt er sich für
+überflüssig und ging seiner Wege. Diesmal wird er
+aber nicht verschwinden und ich frage Sie jetzt noch
+einmal, fühlen Sie sich in diesem Augenblick stark genug,
+Ihrem vermutheten Gespenst nicht allein noch
+<a class="pagenum" name="page_126" title="126"> </a>
+einmal zu begegnen, sondern ihm auch guten Abend
+zu sagen und nachher sogar eine Tasse Thee mit ihm
+zu trinken?«</p>
+
+<p>»Doctor &ndash; wenn Sie mir <em class="gesperrt">die</em> Ueberzeugung
+geben könnten!« rief die Frau, indem sie von ihrem
+Stuhl emporsprang.</p>
+
+<p>»Schön« sagte der Doctor, »dann bitte, geben
+Sie mir Ihren Arm. &ndash; Sie sind ja sonst ein vernünftiges
+Frauchen,« setzte er herzlich hinzu, »und
+werden sich doch wahrhaftig Ihren klaren Verstand
+nicht von einer bloßen Einbildung todtschlagen lassen.
+&ndash; Also jetzt kommt die Geisterbeschwörung und danach
+hoffe ich Sie wieder so munter und heiter zu
+sehen, wie nur je.«</p>
+
+<p>Er ließ ihr auch keine Zeit zu weiteren Einwendungen,
+nahm ihren Arm und führte sie der Thür
+von ihres Gatten Zimmer zu.</p>
+
+<p>»Können wir eintreten?« rief er hier, indem er
+anklopfte.</p>
+
+<p>»Nur herein!« tönte des Justizraths frische Stimme,
+allein als der Doctor die Thür aufwarf, fühlte
+er wie die Justizräthin an seinem Arm zusammenzuckte.
+Pauline war jedoch schon an ihre andere
+Seite getreten, um sie im Nothfall zu unterstützen.
+Aber die junge Frau hatte nicht zu viel versprochen,
+<a class="pagenum" name="page_127" title="127"> </a>
+wenn sie sagte, daß sie sich stark fühlte und doch gehörte
+viel Willenskraft dazu, dem was sie bis dahin
+für eine furchtbare Wirklichkeit gehalten &ndash; eine Botschaft
+aus der Geisterwelt &ndash; jetzt wieder, genau wie an
+jenem Abend, zu begegnen und ruhig dabei zu bleiben.</p>
+
+<p>Auf dem Tisch stand die Lampe und warf ihren
+düsteren Schein über das kleine Gemach, links neben
+dem Tisch saß der Justizrath &ndash; rechts neben dem
+Ofen, den rechten Arm über die Stuhllehne, das
+etwas bleiche Antlitz der Thür zugedreht &ndash; Auguste
+mußte tief Athem holen, denn ein unsagbares Etwas
+schnürte ihr die Brust zusammen, &ndash; saß der Mann
+im grauen Rock, genau wie sie ihn an jenem Abend
+gesehen, in jeder Miene, in jeder Falte seines Rockes.</p>
+
+<p>»So meine liebe Frau Justizräthin«, rief aber der
+Doctor jetzt &ndash; »hier habe ich also das Vergnügen
+Ihnen unseren Buzemann, unser Schreckgespenst vorzustellen.
+Herrn Conrad Wohlmeier aus Königsberg
+&ndash; Herr Wohlmeier, Frau Justizräthin Bertling
+&ndash; bitte reichen Sie ihr die Hand, damit sie nicht
+etwa glaubt, Sie beständen blos aus Kohlenstoff und
+Stickstoffgas.«</p>
+
+<p>Der kleine Mann war etwas verlegen von seinem
+Stuhl aufgestanden und der ihn noch immer starr ansehenden
+Frau die Hand entgegenreichend, sagte er:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_128" title="128"> </a>
+»Frau Justizräthin, es sollte mir unendlich leid
+thun, wenn Sie mich für einen Geist gehalten haben. &ndash;
+Ich bin nur ein armer Gymnasiallehrer, der&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bravo«! rief der Doctor lachend aus, »das war
+eine vortreffliche Rede, die Sie da gehalten haben, und
+nun, meine liebe Frau Justizräthin, sind Sie jetzt überzeugt,
+daß Sie Ihrem guten Mann ganz nutzlos eine
+Menge Sorge und Noth gemacht und sich selber in besonders
+thörichter Weise gequält und geängstigt haben?«</p>
+
+<p>»Lieber Doctor &ndash; wie soll ich Ihnen danken?«
+sagte die Frau, während Bertling auf sie zu ging und
+sie umarmte und küßte.</p>
+
+<p>»Und jetzt!« rief Pauline lachend aus, »wollen wir
+auch noch den letzten Zeugen herein holen, der eine ganz
+vortreffliche Erklärung abgeben kann, woher die Frau
+Heßberger etwas von dem Mann im grauen Rock gewußt«
+&ndash; und damit sprang sie nach der Thür des
+Doctors, um die Rieke herein zu rufen &ndash; aber die
+Thür war fest verschlossen und der Schlüssel abgezogen.
+&ndash;</p>
+
+<p>»Nun was ist das?« frug sie &ndash; »die Thür ist
+ja zu.«</p>
+
+<p>»Hm, ja,« lachte der Justizrath, aber doch etwas
+verlegen, »da ich &ndash; da ich doch nicht wissen konnte,
+wie die Sache heute ablief, so&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_129" title="129"> </a>
+»So hat er die Thür abgeschlossen, daß ihm der
+Geist nicht wieder davonlaufen konnte!« jubelte der
+Doctor &ndash; »das ist vortrefflich. Justizrath, Sie sind
+ein Schlaukopf.«</p>
+
+<p>Die Rieke wurde indessen hereingeholt und bestätigte,
+was sie schon an dem Nachmittag der Justizräthin
+gestanden, daß sie an jenem Abend die Frau
+Heßberger unten im Haus getroffen und sie gefragt
+habe, ob sie keinen Mann in einem grauen Rock gesehen,
+der so plötzlich weg gewesen wäre und über den
+sich die Frau so geängstigt hätte, daß sie ohnmächtig
+geworden wäre. Danach konnte sich die Kartenschlägerin
+wohl denken, daß die Erwähnung jenes Mannes
+noch frisch in der Erinnerung der Justizräthin sein
+würde und in der Art solcher Frauen benutzte sie das
+geschickt genug.</p>
+
+<p>Der Doctor schwur übrigens, daß er der Gesellschaft
+da oben über kurz oder lang das Handwerk legen
+lassen werde, denn er versicherte, daß ihm in letzter
+Zeit schon verschiedene Fälle vorgekommen wären, wo
+sie mit ihren so genannten Prophezeihungen Unheil gestiftet
+oder den Leuten sehr unnöthiger Weise Kummer
+und Herzeleid bereitet hätten.</p>
+
+<p>Unter der Zeit deckte die Rieke den Tisch und die
+kleine Gesellschaft setzte sich dann unter Lachen und
+<a class="pagenum" name="page_130" title="130"> </a>
+heiteren Gesprächen &ndash; die Justizräthin zwischen den
+Doctor und »den Mann im grauen Rock« &ndash; zu dem
+frugalen aber fröhlichen Mahle nieder. Von dem Abend
+an aber verließen jene bösen Träume die Justizräthin,
+denn zu fest hatte sie an die Erscheinung geglaubt, um
+nicht jetzt, wo ihr der unleugbare Beweis des Gegentheils
+geworden, auch nicht die ganze Gespensterfurcht
+fallen zu lassen. Der Justizrath aber, seinem Wort getreu,
+und nur zu glücklich, sein liebes Weib von jenem
+unheilvollen Gedanken geheilt zu sehen, beschenkte den
+kleinen Lehrer noch an dem nämlichen Abend so reichlich,
+daß er am nächsten Morgen, jeder Sorge enthoben,
+seine Heimreise und dann seine Stellung in der Vaterstadt
+antreten konnte.</p>
+
+
+
+
+<h2>Die Folgen einer telegraphischen Depesche.<a class="pagenum" name="page_131" title="131"> </a></h2>
+
+
+<p class="center"><b>Telegraphische Depesche</b></p>
+
+<p class="center">Dr. A. Müller Leipzig &ndash;straße 15.</p>
+
+<p class="center">Herzlichsten Glückwunsch &ndash; heutigen Geburtstag noch oft
+wiederkehren &ndash; Alle wohl &ndash; tausendmal grüßen &ndash; Inniger
+Freundschaft.</p>
+
+<p class="signature"><span class="gesperrt">Mehlig</span>.</p>
+
+<p>Obige Depesche war Morgens Früh, sieben Uhr
+in Berlin aufgegeben worden, gelangte durch den
+Drath nach Leipzig und wurde dem erst gestern angestellten
+Depeschenträger Lorenz als erste Besorgung
+zur augenblicklichen Beförderung übergeben.</p>
+
+<p>Lorenz lief was er laufen konnte, warf am richtigen
+Haus angelangt, noch einen flüchtigen Blick auf
+die Adresse, zog dann die Klingel an der Hausthür,
+und wurde ohne Weiteres eingelassen.</p>
+
+<p>Wie er die Hausflur betrat, öffnete sich rechts eine
+Thür. Ein ältliches Fräulein mit weißer Haube und
+Schürze kam heraus, und trug einen Präsentirteller
+<a class="pagenum" name="page_132" title="132"> </a>
+in der Hand, auf dem das, wahrscheinlich eben
+gebrauchte Kaffeeservice stand; Lorenz trat auf sie zu.</p>
+
+<p>»Telegrafische Depesche!« sagte er und hielt ihr
+das Couvert mit dem rothen Streifen entgegen.</p>
+
+<p>»Jesus Maria und Joseph!« schrie die Dame,
+schlug in blankem Entsetzen die Hände über den Kopf
+zusammen und ließ das ganze Kaffeeservice auf die
+Erde fallen.</p>
+
+<p>»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte
+Lorenz, indem er sich bückte und die halbe Kaffeekanne
+aufhob, den Präsentirteller aber liegen ließ.</p>
+
+<p>»Von wem ist sie denn?« schrie aber die Dame,
+ohne selbst in dem Augenblick des zerbrochenen Geschirrs
+zu achten.</p>
+
+<p>»Ja das weeß ich Sie werklich nich,« sagte Lorenz,
+»aber sie is für den Herrn Doctor Müller.«</p>
+
+<p>»Doctor Müller? &ndash; Sie Ungeheuer Sie, was
+bringen Sie mir denn da das entsetzliche Papier?«
+rief die Dame mit vor Zorn gerötheten Wangen.</p>
+
+<p>»Aber ich bitte Sie um tausend Gottes Willen
+mein bestes Mamsellchen!«</p>
+
+<p>»Jetzt kann mir Ihr Telegraph mein Service
+bezahlen,« zürnte aber die schöne Wüthende, »das ist
+ja ärger wie Einbruch und Diebstahl! oh, das herrliche
+Porcellan!« Sie kniete neben den Scherben nieder
+<a class="pagenum" name="page_133" title="133"> </a>
+und begann die auseinander gesprengten Stücke, allerdings
+vergebens, wieder zusammenzupassen. Lorenz
+wurde es aber unheimlich und wenn er auch nicht recht
+begriff weshalb die Dame so erschreckt sei, hielt er
+dies doch für einen passenden Moment sich aus dem
+Staub zu machen. Doctor Müller wohnte jedenfalls
+oben. In Gedanken behielt er auch die halbe Kaffeekanne
+bis zur Treppe in der Hand, dort legte er sie
+aber vorsichtig auf die erste Stufe und stieg dann
+rasch hinauf in die Bel-Etage.</p>
+
+<p>Hier mußte er wieder klingeln. Ein Dienstmädchen
+öffnete ihm die Thür.</p>
+
+<p>»Telegrafische Depesche!« sagte Lorenz und hielt
+ihr das Papier entgegen. Kaum war aber das Wort
+heraus, als das Mädchen ihm die Thür wieder vor
+der Nase zuschlug und er hörte nur noch wie sie drin
+über den Gang stürzte und in ein Zimmer hineinschrie:
+»O Du lieber Gott eine telegraphische Depesche.«
+Ein lauter Schrei antwortete &ndash; ängstlich hin und
+wiederlaufende Schritte wurden drinnen laut und
+Niemand schien sich weiter um Lorenz zu bekümmern.</p>
+
+<p>»Hm,« dachte dieser, »das is mer doch eene kuriose
+Geschichte &ndash; was se nur derbei haben? &ndash; wenn se
+nich bald kommen, bimmele ich noch eenmal.«</p>
+
+<p>Schon hatte er die Hand zum zweitenmale nach
+<a class="pagenum" name="page_134" title="134"> </a>
+der Klingel ausgestreckt, als es drinnen wieder laut
+wurde. Deutlich konnte er die Schritte einer Anzahl
+von Personen hören, die auf die Saalthür zukamen
+und diese wurde endlich wieder halb geöffnet.</p>
+
+<p>Wenn Lorenz nicht selber so erschreckt gewesen
+wäre, hätte er gern gelacht, denn auf dem Gang drinnen
+stand die wunderlichste Procession, die er in seinem
+ganzen Leben gesehen. Vorn ein Herr mit einem
+dicken rothen Gesicht und feuerrothem Backenbart,
+einem sehr schmutzigen Schlafrock, darunter die zusammengebundenen
+Unterhosen und ein Paar niedergetretene
+Pantoffeln. Hinter ihm stand eine Dame, ebenfalls
+im höchsten Morgennegligée mit weißer Nachtjacke
+und Unterrock. Rechts und links von diesen beiden
+drängten sich zwei Dienstboten herbei, Neugierde und
+Furcht in den bleichen Gesichtern und vier oder fünf
+Kinder schauten dazu mit den noch ungewaschenen und
+ungekämmten Köpfen vor, wo sie irgend Raum finden
+konnten diese durchzuschieben.</p>
+
+<p>»Telegrafische Depesche für Herrn Doctor Müller,«
+sagte Lorenz, um diesmal keine Verwechslung des
+Namens möglich zu machen.</p>
+
+<p>»Müller? &ndash; Holzkopf!« schrie aber der Herr im
+Schlafrock und warf die Thür von innen wieder dermaßen
+<a class="pagenum" name="page_135" title="135"> </a>
+in's Schloß, daß Lorenz kaum Zeit behielt zurückzuspringen.</p>
+
+<p>Etwas erstaunt blieb er, mit seiner Depesche in der
+Hand, jetzt an der Schwelle stehn, fing aber doch nun
+an zu glauben, daß die ganze Sache irgend etwas
+Furchtbares und Gefährliches in sich trage, das mit den
+geheimnißvollen Telegraphendrähten natürlich in directer
+Verbindung stehen mußte, und daß jetzt mehr als
+je daran liege, die richtige Person dafür zu finden. Vor
+allen Dingen suchte er deshalb, ehe er sich weiteren
+Mißverständnissen aussetzte, die Wohnung des besagten
+Doctor Müller ausfindig zu machen und der Zeitungsjunge,
+der eben das Tageblatt brachte, diente
+ihm dabei als untrügliche Quelle.</p>
+
+<p>»Doctor Müller?« sagte dieser &ndash; »eine Treppe
+höher, können gleich das Tageblatt mit hinaufnehmen
+&ndash; doch Treppen genug zu laufen.«</p>
+
+<p>Lorenz übernahm die Besorgung und befand sich
+bald zu seiner innigen Beruhigung an der rechten
+Thür. Ein kleines weißes Schild mit dem Namen
+des Dr. Müller darauf zeigte ihm, daß er sein Ziel
+erreicht habe.</p>
+
+<p>An dieser Vorsaalthür war keine Schelle. Er
+klopfte erst ein paar Mal, und da ihm Niemand antwortete,
+drückte er die Klinke nieder und trat ein.
+<a class="pagenum" name="page_136" title="136"> </a>
+Auf dem Vorsaal sah er auch Niemanden und die Küche
+stand leer, in der nächsten Stube hörte er aber Stimmen,
+ging dort hinüber und klopfte an.</p>
+
+<p>Wie sich die Thür öffnete glänzte ihm ein mit
+Blumen, Torten und Geschenken bedeckter Tisch entgegen
+und eine junge allerliebste kleine Frau frug ihn
+freundlich was er wünsche. Lorenz, der außerordentlich
+gutmüthigen Herzens war, dachte aber mit Zagen
+an die Verwirrung, die er parterre und im ersten Stock
+schon angerichtet hatte und wünschte, mit dem unbestimmten
+Bewußtsein, daß er der Träger irgend einer
+furchtbaren Nachricht wäre, diese der jungen hübschen
+Frau so vorsichtig als möglich beizubringen.</p>
+
+<p>»Ach heren Se,« sagte er deshalb &ndash; »erschrecken
+Sie nich &ndash; es is Sie was vom Telegrafen.«</p>
+
+<p>Die junge Frau sah ihn stier an, hob langsam den
+rechten Arm in die Höh und brach mit dem kaum hörbaren
+Schrei: »Er ist todt!« bewußtlos zusammen.
+Ihr Gatte hatte auch in der That kaum Zeit sie aufzufangen
+und vor einem vielleicht schlimmen Sturze
+zu bewahren.</p>
+
+<p>»Um Gottes Willen, was ist?« frug er dabei
+den wie halb vom Schlag gerührten Depeschenträger
+»eine Telegraphische Depesche? &ndash; woher?«</p>
+
+<p>»Nun, da Sie's doch schon einmal wissen,« sagte
+<a class="pagenum" name="page_137" title="137"> </a>
+Lorenz, inniges Mitleid in den erschreckten Zügen &ndash;
+»es is Sie richtig vom Telegrafen.«</p>
+
+<p>Der junge Mann trug sein armes, bewußtloses
+Frauchen auf das Sopha, wo er sie den Händen der
+jammernd herbeistürzenden Schwiegermutter übergab.
+Das Kind, das die Wärterin auf dem Arme trug,
+fing dabei an zu schreien, die Köchin war ebenfalls
+herein gekommen und stand schluchzend und händeringend
+an der Thür und mit zitternden Händen
+erbrach jetzt Dr. Müller die Depesche, deren Buchstaben
+ihm im Anfang vor den Augen flirrten und tanzten.
+Endlich las er leise vor sich hin:</p>
+
+<p class="center">Herzlichen Glückwunsch &ndash; heutigen Geburtstag
+&ndash; noch oft wiederkehren &ndash; Alle wohl &ndash;
+tausendmal grüßen &ndash; liebe Frau auch. Inniger
+Freundschaft.</p>
+
+<p class="signature">Mehlig.</p>
+
+<p>Erst am Schluß und wie ihm das Bewußtsein
+dämmerte um was es sich hier handele, knitterte er
+das Papier in der Hand zusammen, drehte einen Ball
+daraus und schleuderte diesen mit aller Gewalt auf
+den Boden.</p>
+
+<p>»Ist er todt?« sagte Lorenz in theilnehmendem
+Mitgefühl.</p>
+
+<p>»Gehen Sie zum Teufel,« rief Dr. Müller in
+<a class="pagenum" name="page_138" title="138"> </a>
+leicht verzeihlichem Aerger &ndash; »Sie und Ihre telegraphische
+Depesche &ndash; solchen Glückwunsch möcht ich
+mir nächstes Jahr noch einmal zum Geburtstag
+wünschen &ndash; meine arme Frau kann den Tod davon
+haben.«</p>
+
+<p>»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte
+Lorenz, Niemand bekümmerte sich aber mehr um ihn,
+denn die Uebrigen waren jetzt sämmtlich um die Ohnmächtige
+beschäftigt, so daß er die Gelegenheit für
+passend hielt, sich so rasch und unbemerkt als möglich
+zu entfernen. Durch das Haus mußte er aber noch
+einmal förmlich Spießruthen laufen.</p>
+
+<p>»Ach Sie Unglücksvogel,« sagte das Kindermädchen,
+das ihm mit einer Vase frischen Wassers, um der
+Frau zu helfen, an der Thür begegnete.</p>
+
+<p>»Das nächste Mal erkundigen Sie sich vorher
+nach dem Namen, Sie Dingsda« &ndash; sagte der Herr
+in dem schmutzigen Schlafrock, der an der Saalthür
+in der ersten Etage ganz besonders auf ihn gewartet
+haben mußte, als er dort rasch und geräuschlos vorbeigleiten
+wollte, und unten in der Hausflur saß die
+Mamsell noch immer bei den Scherben, die sie vergebens
+zusammenpaßte.</p>
+
+<p>Auch diese empfing ihn wieder mit einer Fluth von
+Vorwürfen, Lorenz aber hielt sich nicht auf und floh
+<a class="pagenum" name="page_139" title="139"> </a>
+aus dem Haus hinaus, als ob er hätte stehlen wollen
+und dabei erwischt worden wäre.</p>
+
+<p>Erst nach langer Zeit gewöhnte er sich auch an
+diese unausbleiblichen Folgen derartiger Depeschen,
+und als ich ihn neulich sprach, hatte er sogar eine Art
+statistischer Tabelle aufgestellt, nach der er berechnet
+haben wollte, daß durchschnittlich auf je vier telegraphische
+Depeschen &ndash; denn nicht alle laufen so unglücklich
+ab, &ndash; eine Ohnmacht und zwei zerbrochene Tassen,
+nur auf die sechste oder siebente aber ein ernstlicher
+Unfall folge.</p>
+
+<p>»S'is was Scheenes um en Telegrafen,« sagte er
+dabei, »aber Gott bewahre Eenen vor ener telegrafischen
+Depesche!«</p>
+
+
+
+
+<h2>Der Polizeiagent.<a class="pagenum" name="page_140" title="140"> </a></h2>
+
+
+<h3>I.<br />
+
+<b>Im Packwagen.</b></h3>
+
+
+<p>Es war im Juli des Jahres 18&ndash;, als der von
+Cassel kommende Schnellzug in Guntershausen hielt
+und dort solch eine Unzahl von Passagieren vorfand,
+daß die Schaffner kaum Rath und Aushilfe wußten.
+Alle Welt befand sich aber auch gerade in dieser Zeit
+unterwegs und die Züge &ndash; da das andauernd
+schlechte Wetter bisher die Reisenden zurückgehalten
+&ndash; waren bei dem ersten warmen Sonnenstrahl gar
+nicht auf einen so plötzlichen Andrang berechnet gewesen.</p>
+
+<p>Uebrigens machte man möglich, was eben möglich
+zu machen war. Alle vorhandenen Wagen wurden
+eingeschoben, jeder noch freie Platz dritter Klasse &ndash;
+zum großen Aergerniß mit Hutschachteln und Reisetaschen
+reich bepackter Damen &ndash; auf das gewissenhafteste
+<a class="pagenum" name="page_141" title="141"> </a>
+ausgefüllt und dann in die zweite, ja sogar
+selbst in die erste Klasse hineingeschoben was eben hineinging.
+Die nächsten Stationen nahmen ja auch wieder
+Reisende ab, und nach und nach regulirte sich alles.</p>
+
+<p>Durch diesen Aufenthalt hatte sich der Schnellzug
+aber auch um eine gute halbe Stunde verspätet und
+war eben zum Abfahren fertig, als noch ein leichter
+Einspänner angerasselt kam und ein einzelner Herr,
+eine kleine lederne Reisetasche in der Hand, heraus
+und darauf zusprang.</p>
+
+<p>»Zu spät,« rief ihm der Oberschaffner entgegen
+und gab den verhängnißvollen schrillenden Pfiff; »wir
+haben alle Personenwagen besetzt.«</p>
+
+<p>Der Fremde, der augenscheinlich kein Neuling auf
+Reisen war, warf einen raschen, prüfenden Blick
+über die lange Wagenreihe und sah Kopf an Kopf in
+den Fenstern &ndash; aber die Schiebethür des Packwagens
+stand noch halb geöffnet.</p>
+
+<p>»Dann werde ich mich bis zur nächsten Station
+bei den Koffern einquartiren,« lachte er und ohne
+die Einwilligung des Schaffners abzuwarten, der
+übrigens auch nichts dagegen hatte, sprang er auf den
+Wagentritt und in den Packwagen hinein. Bei einem
+solchen Andrang von Personen mußte sich ein jeder
+helfen so gut er eben konnte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_142" title="142"> </a>
+»Das ist eigentlich nicht erlaubt&nbsp;&ndash;« sagte der
+Packmeister; aber der Fremde kannte genau die
+Sprache, die hier alleinige Geltung hatte, und dem
+Packmeister ein Stück Geld in die sich unwillkürlich
+öffnende Hand drückend, lachte er:</p>
+
+<p>»Ich führe ganz vortreffliche Cigarren bei mir
+und wenn ich nicht im Wege bin, erlauben Sie mir
+wohl eine Viertelstunde Ihnen hier Gesellschaft zu
+leisten.«</p>
+
+<p>»Haben Sie denn ein Billet?« frug der Mann
+und sein <em class="gesperrt">Gefühl</em> sagte ihm, daß er ein großes Silberstück
+in der Hand hielt.</p>
+
+<p>»Noch nicht &ndash; ich bin eben erst, wie der Zug abgehen
+wollte, mit einem Einspänner von Melsungen
+herüber gekommen. Mein Billet nehme ich auf der
+nächsten Station.«</p>
+
+<p>»Na da setzen Sie sich nur da drüben auf den Koffer,
+in Treysa gibt's Platz,« bemerkte der Packmeister,
+während der Fremde seine Cigarrentasche herausnahm
+und sie dem Manne hinhielt.</p>
+
+<p>»Mit Erlaubniß &ndash; danke schön« &ndash; die Bekanntschaft
+war gemacht, der Zug überdies in Bewegung
+und der Passagier, bis ein anderer Platz für ihn gefunden
+werden konnte, rechtsgültig untergebracht.</p>
+
+<p>Eine Cigarre wirkt überhaupt oft Wunder und
+<a class="pagenum" name="page_143" title="143"> </a>
+die Menschen, die sich diesen Genuß aus ein oder dem
+andern Grunde versagen, wissen und ahnen gar nicht,
+wie sehr sie sich oft selber dadurch im Lichte stehen.
+Mit einer Cigarre ist jeder im Stande, augenblicklich
+auf indirecte Art eine Unterhaltung anzuknüpfen, indem
+man nur einen Reisegefährten um Feuer bittet.
+Ist dieser in der Stimmung, darauf einzugehen, so
+giebt er die eigene Cigarre zum Anzünden. Paßt es
+ihm aber nicht, so bleibt ihm immer noch ein Ausweg
+&ndash; er reicht dann dem Bittenden einfach ein
+Schwefelholz. Der Empfänger dankt, zündet seine
+Cigarre an, wirft das Holz weg und betrachtet sich
+als abgewiesen.</p>
+
+<p>Mit einer dargebotenen Cigarre gewinne ich mir
+außerdem das Herz unzähliger Menschen, die der
+<em class="gesperrt">nicht</em> rauchende Reisende in gemeiner Weise durch
+schnöde Fünf- und Zehn-Groschenstücke gewinnen muß.
+&ndash; Sitz' ich auf der Post neben dem Postillion auf
+dem Bock, so öffnet mir eine Cigarre sein ganzes Herz;
+ich erfahre nicht allein die außerordentlichen Eigenschaften
+seiner Pferde, sondern auch die Familiengeheimnisse
+des Posthalters und erweiche ich dasselbe
+sogar noch mit einem Glase Bier, so liegt sein eigenes
+Innere offen vor mir da. Selbst der gröbste Schaffner
+wird rücksichtsvoll, sobald er die ihm dargereichte
+<a class="pagenum" name="page_144" title="144"> </a>
+Cigarrentasche erblickt &ndash; man soll nämlich derartigen
+Leuten nie eine einzelne Cigarre hingeben, weil sie
+außerordentlich mißtrauisch sind und leicht Verdacht
+schöpfen können, man führe besondere »Wasunger«
+Sorten bei sich für solchen Zweck und das verletzt
+ihr Ehrgefühl.</p>
+
+<p>Auch der Packmeister war gesprächig geworden &ndash;
+die Cigarre schmeckte ausgezeichnet &ndash; und erzählte
+von dem, was ihm natürlich am nächsten lag, von
+der ewigen unausgesetzten Plackerei, so daß man seines
+Lebens kaum mehr froh werden könnte. Die ganze Welt
+reise jetzt &ndash; wie er meinte &ndash; in die Bäder. Er reiste
+auch in einem fort &ndash; alle Wochen drei Mal in die
+Bäder, kam aber nie hin und hatte kaum Zeit, sich
+Morgens ordentlich zu waschen, viel weniger zu baden.
+In seinem Packwagen stecke er dazu wie eine Schnecke
+in ihrem Haus, nur daß die Schnecke nicht ununterbrochen
+Koffer und Hutschachteln ein- und auszuladen
+hätte. »Sehen Sie« &ndash; setzte er dann hinzu &ndash; »so
+gewöhnt man sich aber daran, daß ich schon Nachts
+in meinem eigenen Bett &ndash; wenn ich meine Nacht daheim
+hatte und ich schlafe dicht am Bahnhof &ndash; im
+Traum, sowie ich nur die verdammte Locomotive
+pfeifen hörte, Bettdecke und Kopfkissen in die Stube
+hineingefeuert habe, weil ich glaubte, es wäre Station
+<a class="pagenum" name="page_145" title="145"> </a>
+und ich müßte ausladen. Es ist Sie ein Hundeleben.«</p>
+
+<p>Wieder pfiff diese nämliche Locomotive. Der Zug
+hielt an einer der kleinen Stationen und drei Koffer
+gingen hier ab, und ein anderer Koffer mit zwei Reisesäcken
+und eine Kiste kam hinzu. Der Fremde mußte
+aber noch sitzen bleiben, denn der Aufenthalt dauerte zu
+kurze Zeit, um ein Billet lösen zu können.</p>
+
+<p>»Ich begreife nicht,« sagte der Fremde, »wie Sie
+sich da immer so zurecht finden, daß Sie gleich wissen
+was expedirt wird und was dableibt. Kommt da nicht
+auch oft ein Irrthum vor?«</p>
+
+<p>»Doch selten,« meinte der Packmeister, indem er
+seine bei der Expedition ausgegangene Cigarre wieder
+mit einem Schwefelhölzchen anzündete &ndash; »man bekommt
+Uebung darin. Nur heute wär mir's in dem
+Wirrwarr bald schief gegangen, denn in Guntershausen
+hatte ich aus Versehen den nämlichen Koffer
+hinausgeschoben, auf dem Sie da sitzen. Glücklicherweise
+kriegte ihn der Eigenthümer noch zur rechten Zeit
+in die Nase &ndash; und das bischen Spectakel, was der
+machte! Aber es war ja noch kein Malheur passirt
+und so schoben wir ihn wieder herein. Den Packmeister
+möchte ich überhaupt sehen, dem nicht schon einmal
+ein falscher Koffer entwischt ist &ndash; der Telegraph
+<a class="pagenum" name="page_146" title="146"> </a>
+bringt das aber alles wieder in Ordnung. &ndash; Staatseinrichtung
+das mit dem Telegraphen.«</p>
+
+<p>Der Fremde hatte sich, während der Mann sprach
+fast unwillkührlich den Koffer angesehen, auf dem er
+saß, und stand jetzt auf und las das kleine Messingschild.
+Es enthielt nur die zwei Worte »<i>Comte
+Kornikoff</i>.«</p>
+
+<p>»Und wie sah der Herr aus, dem der Koffer gehörte?«
+frug er endlich.</p>
+
+<p>»Oh, ein kleines, schmächtiges Männchen,«
+meinte der Packmeister, »mit einem pechschwarzen
+Schnurrbart und einer blauen Brille.«</p>
+
+<p>»Wohin geht denn der Koffer heute?«</p>
+
+<p>»Nach Frankfurt &ndash; ich war ja ganz confus und
+glaubte, er ginge nach Cassel, weil ich gestern den
+Packwagen dorthin hatte.«</p>
+
+<p>Wieder pfiff die Locomotive und während der
+Packmeister von seinem Geschäft in Anspruch genommen
+wurde, betrachtete der Fremde das Schild noch
+genauer, aber er sprach nichts weiter darüber und da
+sie gleich darauf in Treysa hielten, mußte er dort
+aussteigen und ein Billet lösen. Hier war auch eine
+große Zahl von Passagieren abgegangen und Platz genug
+geworden.</p>
+
+<p>»Wohin fahren Sie?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_147" title="147"> </a>
+»Frankfurt&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Die vorderen Wagen.«</p>
+
+<p>Der Fremde schritt an der Reihe hinauf und sah
+in die verschiedenen Coupés hinein. In dem einen
+saß ein Herr und eine Dame. Der Herr trug eine
+blaue Brille. Er öffnete sich selber die Thür, stieg
+ein, grüßte und nahm dann in der einen Ecke Platz.</p>
+
+<p>Der Herr mit der blauen Brille schien das nicht
+gern zu sehen &ndash; er schaute aus dem Wagenfenster
+als ob er einen Schaffner herbeirufen wollte, und
+warf dann einen forschenden Blick auf den Fremden.
+Dieser aber kümmerte sich nicht darum, legte seine
+kleine Reisetasche in das Netz hinauf und machte es
+sich dann vollkommen bequem.</p>
+
+<p>»Bitte, Ihr Billet, mein Herr&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Hier&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Sie haben aber erste Klasse.«</p>
+
+<p>»Es sitzen einige Damen erster Klasse,« sagte der
+Fremde, »und da ich den Herrn da rauchen sah, nahm
+ich <em class="gesperrt">hier</em> Platz. Die Dame wird mir wohl das Anzünden
+einer Cigarre erlauben.«</p>
+
+<p>Die letzten Worte waren, wie halb fragend an
+die Dame gerichtet, deren Gesichtszüge sich aber nicht
+im Geringsten dabei veränderten. Sie mußte den
+Sinn derselben gar nicht verstanden haben.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_148" title="148"> </a>
+Der Schaffner coupirte das Billet und die Passagiere
+waren allein; da aber der Fremde der Artigkeit
+Genüge leisten wollte, nahm er seine Cigarrentasche
+heraus und aus dieser eine Cigarre und sagte dann
+noch einmal, sich an den Herrn wendend:</p>
+
+<p>»Die Dame scheint meine Frage nicht verstanden
+zu haben. Sie erlaubt mir wohl, daß ich rauche?«</p>
+
+<p>»Sprechen Sie Englisch?« frug der Herr in dieser
+Sprache zurück &ndash; »ich verstehe kein Deutsch&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ich muß sehr bedauern,« sagte der Fremde achselzuckend,
+aber wieder in deutscher Sprache. Die Unterhaltung
+war dadurch unmöglich geworden, die
+Pantomine indeß zu deutlich gewesen und der Herr
+mit der blauen Brille reichte dem, wie es schien eben
+nicht willkommenen Reisegefährten seine brennende
+Cigarre zum Anzünden, die dieser dankend annahm
+und dann zurückgab.</p>
+
+<p>Die Dame hatte den Kopf halb abgewandt und
+sah zu dem geöffneten Fenster hinaus. Der Fremde
+warf unwillkürlich den Blick nach ihr hinüber und
+mußte sich gestehen, daß er selten, wenn je in seinem
+Leben, ein schöneres Gesicht, regelmäßigere Züge,
+feurigere Augen und einen tadelloseren Teint gesehen
+habe. Und wie schön mußte das Mädchen oder die
+Frau erst sein, wenn sie <em class="gesperrt">lächelte</em>, denn jetzt zog eine
+<a class="pagenum" name="page_149" title="149"> </a>
+Mischung von Trotz und Stolz &ndash; vielleicht der Unwille
+über des Fremden Gegenwart, die fein geschnittenen
+Lippen zusammen und gab dem lieben Antlitz
+etwas Finsteres und Hartes, was ihm doch sonst gewiß
+nicht eigen war.</p>
+
+<p>Ein kurzes Gespräch entspann sich jetzt zwischen
+dem Herrn und der Dame, auf welches der Fremde aber
+nicht zu achten schien, denn er nahm ein Eisenbahnbuch
+aus der Tasche und blätterte darin. Die Dame sagte,
+ohne jedoch den Blick von der Landschaft wegzuwenden,
+ebenfalls in englischer Sprache:</p>
+
+<p>»Wer ist der Fremde?«</p>
+
+<p>»Ich weiß es nicht,« lautete die Antwort, »aber
+wir brauchen uns seinetwegen nicht zu geniren; er versteht
+kein Englisch.«</p>
+
+<p>»Aber er sieht englisch aus.«</p>
+
+<p>»Bewahre,« lachte der Mann &ndash; »er hat auch
+nicht ein einziges englisches Stück Zeug an seinem
+Körper &ndash; die Reisetasche ist ebenfalls deutsch, gerade
+so wie sein Handbuch.«</p>
+
+<p>»Er ist lästig, wir hätten erster Classe fahren sollen.«</p>
+
+<p>»Liebes Herz, das schützt uns nicht vor Gesellschaft,
+denn der Herr hat ebenfalls ein Billet erster Classe
+und ist nur hier eingestiegen, weil er mich rauchen
+sah.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_150" title="150"> </a>
+»Dein fatales Rauchen.« &ndash; Die Unterhaltung
+stockte und der Herr mit der blauen Brille warf noch
+einen prüfenden Blick nach seinem Reisegefährten hinüber,
+der aber gar nicht auf ihn achtete und sich vollständig
+mit seiner Cigarre und seinem Buch beschäftigte.
+Nur dann und wann hob er den Blick und
+schaute nach beiden Seiten auf die Landschaft hinaus
+und streifte dann damit, wenn auch nur flüchtig, den
+Fremden.</p>
+
+<p>Es war eine kleine, aber zierliche schlanke Gestalt,
+sehr elegant, aber fast zu sorgfältig gekleidet, auch mit
+mehr Schmuck als ein wirklich vornehmer Mann zu
+zeigen pflegt. Die Hände aber hatten etwas wirklich
+Aristokratisches &ndash; sie waren weiß und zart geformt
+und wenn er den Mund zum Sprechen öffnete, zeigte
+er zwei Reihen auffallend weißer Zähne. Sein Haar
+war braun und etwas gelockt, der Schnurrbart aber
+von tiefer Schwärze, jedenfalls gefärbt. Die Augen
+ließen sich nicht erkennen, da sie von der blauen Brille
+bedeckt wurden. Trotzdem aber, daß er nur englisch
+zu sprechen schien, war er vollkommen nach französischer
+Mode gekleidet. Nur die junge Dame trug in
+ihrem Putz und Reiseanzug den entschieden englischen
+Charakter, wie auch entschieden englische Züge.
+Ihren Begleiter würde man weit eher für einen
+<a class="pagenum" name="page_151" title="151"> </a>
+Franzosen als für einen Sohn Albions gehalten
+haben.</p>
+
+<p>Mehrere Stationen blieben die Drei allein in
+ihrem Coupé. Die Dame war müde geworden und
+hatte &ndash; soweit es die Bewegung des Wagens erlaubte
+&ndash; ein wenig geschlafen. In Gießen aber kamen noch
+eine Anzahl Passagiere hinzu und zwei von diesen, ein
+Herr und eine Dame, stiegen in dies nämliche Coupé.
+Wieder ein Paar Engländer und die Dame, wenn
+auch schon ziemlich in den Jahren, doch mit den unvermeidlichen,
+langen Hobelspahnlocken, die ihr vorn
+fast bis zum Gürtel nieder hingen; der Herr mit
+einem breitränderigen, schwarzen Filzhut, einem kleinen,
+sehr mageren Schnurrbart und einer Cigarre im
+Munde &ndash; lauter continentale Reiseerinnerungen,
+die wieder fallen müssen, sobald der Eigenthümer derselben
+den Boden seines Vaterlandes aufs neue betritt.</p>
+
+<p>Wenn sich die beiden Herren aber auch ziemlich
+kalthöflich gegeneinander verneigten, so schienen die
+Damen dagegen schon beim ersten Blick die gemeinsame
+Nationalität erkannt zu haben, und kaum saß
+die Neuhinzugekommene, als sie auch ein lebhaftes
+Gespräch mit ihrer jungen Nachbarin begann, an dem
+sich diese ebenfalls zu freuen schien, denn ihr Gemahl
+oder Begleiter hatte sie wenig genug unterhalten.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_152" title="152"> </a>
+Engländer auf dem Continent &ndash; wie könnte es
+ihnen auch an Stoff zur Unterhaltung fehlen &ndash; Vereinigt
+sie nicht ein gemeinsames Leid und Elend?
+Werden sie nicht gleichmäßig von allen Wirthen, Kellnern,
+Droschkenkutschern, Gepäckträgern und Lohnbedienten
+geprellt, und <em class="gesperrt">kann</em> ein wirklicher Engländer
+ohne Lohnbedienten auf dem Continent durchkommen,
+denn spricht er je die Sprache des Landes, auf dem er
+eine freie Zeit zubringen will? &ndash; Unter hunderten
+kaum einer.</p>
+
+<p>Das Gespräch &ndash; sowie nur die ersten Fragen über
+woher und wohin erledigt waren, drehte sich auch nur
+um diesen Gegenstand, und der Herr mit dem breitkrämpigen
+Hut nahm bald lebhaften Theil daran.</p>
+
+<p>Er kam mit seiner Frau natürlich von London,
+hatte vier Wochen zur Reise bestimmt, zwei davon
+schon nützlich verwandt, und schien fest entschlossen,
+auch die andern beiden noch daran zu setzen, um sich
+in jeder nur erreichbaren Stadt Deutschlands über
+die Wirthe im Einzelnen und das Volk im Allgemeinen
+zu ärgern, und dann mit dem stolzen Bewußtsein
+nach Hause zurückzukehren, daß es doch nur <em class="gesperrt">ein</em> England
+in der Welt gäbe.</p>
+
+<p>Die junge Frau kam, wie sie sagte, mit ihrem
+Mann von Hannover, wo sie ein Jahr bei Freunden
+<a class="pagenum" name="page_153" title="153"> </a>
+zugebracht. Sie beabsichtigten jetzt auf einen Monat
+nach Frankfurt oder auch vielleicht in ein benachbartes
+Bad zu gehen, um ihre Gesundheit, die durch den längeren
+Aufenthalt in dem rauhen Lande angegriffen sei,
+wieder herzustellen.</p>
+
+<p>»Und wo werden Sie in Frankfurt wohnen?«</p>
+
+<p>Sie wußten es noch nicht &ndash; der Herr mit dem
+breiträndrigen Hut schlug die »Stadt Hull« als ein
+sehr billiges, ihm besonders empfohlenes Gasthaus
+vor. Uebrigens könne man ja vorher über den Preis
+von »<i>board and lodging</i>« akkordiren &ndash; <em class="gesperrt">er</em> thäte das
+immer, wenn es auch ein wenig »schäbig« aussehe &ndash;
+den deutschen Wirthen gegenüber sei man sich das aber
+schuldig.</p>
+
+<p>Beide Parteien beschlossen deshalb, in Stadt Hull
+zu übernachten und gemeinschaftlich zu essen &ndash; »es
+sei das billiger.« Morgen konnte man dann auch zusammen
+einen Lohnbedienten nehmen, und sparte dadurch
+die halbe Auslage &ndash; der morgende Tag würde
+überhaupt ein sehr angestrengter werden, denn es gab
+in Frankfurt &ndash; nach Murray &ndash; eine Unmasse von
+Sehenswürdigkeiten, die nun einmal durchgekostet werden
+<em class="gesperrt">mußten</em>, wenn man nicht die Reise umsonst gemacht
+haben wollte.</p>
+
+<p>Der Herr mit der blauen Brille hatte sich nicht
+<a class="pagenum" name="page_154" title="154"> </a>
+sehr an der Unterhaltung betheiligt. Er schien keine
+Freude daran zu finden. Auch die Aufforderung, gemeinsam
+in Stadt Hull zu logiren, beantwortete er
+zweideutig, während die junge Dame augenblicklich
+bestimmt zusagte. Dann lehnte er sich in seine Ecke
+zurück und schlief &ndash; er verhielt sich wenigstens von
+da an vollkommen ruhig, wenn man auch der blauen
+Brillengläser wegen nicht einmal sehen konnte, ob er
+nur die Augen geschlossen hielt.</p>
+
+<p>Es war indessen dunkel geworden &ndash; die übrigen
+Passagiere wurden ebenfalls müde, und nur auf der
+vorletzten Station unterbrach der Schaffner noch einmal
+die Stille, indem er die Billete nach Frankfurt
+abforderte.</p>
+
+<p>Der Fremde mit der blauen Brille schien wirklich
+eingeschlafen zu sein. Er fuhr, als ihn der Schaffner,
+der neben ihm durch das Fenster sah, auf die Schulter
+klopfte, ordentlich wie erschreckt in die Höhe und sah
+sich wild und verstört um &ndash; er hatte jedenfalls geträumt,
+und suchte dann, als er begriff was man von
+ihm wolle, in der Westentasche nach seinem Billet.</p>
+
+<p>Ein kleiner weißer Streifen Papier fiel dabei auf
+die Erde und der Fremde mit der Reisetasche, der
+jenem schräg gegenüber saß, stellte den Fuß darauf.
+Dann war wieder alles still; der mit der blauen
+<a class="pagenum" name="page_155" title="155"> </a>
+Brille lehnte sich in seine Ecke zurück und sein halbes
+<i>Vis-à-vis</i> nahm sein Taschentuch heraus, ließ es wie
+zufällig fallen und hob den Zettel damit auf &ndash; es
+war der Gepäckschein.</p>
+
+<p>Bald darauf rasselte der Zug mit einem markdurchschneidenden
+Pfeifen &ndash; daß Einem die eigene
+Lunge weh that, wenn man es nur hörte &ndash; in den
+Frankfurter Bahnhof ein, und der Fremde mit der
+kleinen Reisetasche war der erste, der aus dem Wagen
+sprang und zu dem Güterkarren eilte. Hatte er indessen
+unredliche Absichten dabei gehabt, so sollte er die
+vereitelt sehen, denn es dauerte eine Ewigkeit, bis der,
+wie es schien, wohlgemerkte Koffer, auf den der Schein
+lautete, zum Vorschein kam, und bis dahin war der
+rechtmäßige Eigenthümer schon ebenfalls herbei gekommen
+und erkannte sein Gepäck. Vergebens suchte er
+indessen in allen Taschen nach seinem Schein und
+fluchte auf deutsch, englisch und französisch, daß ihm
+die Beamten sein Gepäck nicht ohne denselben ausliefern
+wollten.</p>
+
+<p>Der Fremde hatte sich etwas zurückgezogen und
+stand im Schatten eines Pfeilers &ndash; jedenfalls machte
+er da die Entdeckung, daß der Herr mit der blauen
+Brille nicht allein vollkommen gut deutsch, sondern
+auch französisch sprach, und sich in beiden Sprachen
+<a class="pagenum" name="page_156" title="156"> </a>
+erbot, seine Koffer zu öffnen und dadurch zu
+beweisen, daß er der Eigentümer sei.</p>
+
+<p>Der Inspektor kam endlich heran und ersuchte ihn
+sehr artig, nur so lange zu warten, bis das übrige
+Gepäck fortgenommen sei; wenn er dann die passenden
+Schlüssel producire, möge er seine Koffer mit fortnehmen.</p>
+
+<p>Der Fremde zeigte Anfangs viel Ungeduld, und
+erklärte mit dem nächsten Zuge nach Mainz noch weiter
+zu wollen, der Inspektor bedeutete ihm aber, daß
+er dann hätte besser auf seinen Gepäckschein Acht
+geben sollen &ndash; den Zug nach Mainz erreiche er indessen
+doch nicht mehr, da derselbe schon vor einer
+Viertelstunde abgegangen, weil sich der Schnellzug
+verspätet habe. Es blieb ihm zuletzt kein anderer Ausweg,
+als dem gegebenen Rath zu folgen, und als seine
+Koffer wirklich zurückgeblieben, und er sich durch seine
+Schlüssel als der rechtmäßige Eigenthümer legitimiren
+konnte, bekam er endlich sein Gepäck und ließ es
+&ndash; einen großen und einen kleineren Koffer &ndash; in die
+durch die Dame schon in Besitz genommene offene
+Droschke schaffen.</p>
+
+<p>Dicht dahinter hielt noch eine verschlossene Droschke
+<em class="gesperrt">ohne</em> Gepäck; sonst hatten sämmtliche Wagen, selbst
+die Omnibusse, schon die Bahn verlassen, und der
+<a class="pagenum" name="page_157" title="157"> </a>
+Kutscher fuhr jetzt, auf die Anweisung des Reisenden,
+nicht nach der Stadt Hull, sondern nach dem »<i>Hôtel
+Methlein</i>.«</p>
+
+<p>Die andere Droschke folgte in etwa zwanzig Schritt
+Entfernung nach, und hielt, als die erste in den Thorweg
+einfuhr. Ein Reisender mit einer kleinen Reisetasche
+in der Hand stieg aus, befahl dem Droschkenkutscher
+zu warten, und betrat dann zu Fuß das nämliche Hotel.</p>
+
+<p>Dort angekommen legte der Reisende nur eben in
+dem ihm bezeichneten Zimmer sein geringes Gepäck
+ab, bestellte sich unten im Speisesaal etwas zu essen
+und verließ dann noch einmal das Hotel, um nach
+dem Telegraphenbureau zu fahren. Dort gab er folgende
+Depesche auf:</p>
+
+<p class="center"><i>Mr. Burton, Union Hôtel, Hannover.</i></p>
+
+<p class="center">Ist ein Graf Kornikoff ein Jahr in Hannover
+gewesen? &ndash; Fremdenliste nachsehen. Kommen Sie
+so rasch als möglich hierher. &ndash; Bin ich abgereist,
+liegt ein Brief im Hotel.&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p class="signature"><i>H.</i></p>
+
+<p>Dann kehrte er ins Hotel zurück und verzehrte
+sein Abendbrod, das ihm der Kellner brachte.</p>
+
+<p>Der Saal war leer; nur vier Herren saßen an
+einem Tisch und schienen, schon ziemlich angetrunken,
+<a class="pagenum" name="page_158" title="158"> </a>
+den Geburtstag des einen zu feiern, der mit schwerer
+Zunge noch eine Flasche moussirenden Rheinwein bestellte.
+Um den Fremden bekümmerte sich Niemand.</p>
+
+<p>Dieser aß das ihm vorgesetzte Beefsteak, trank
+seine Flasche Wein dazu und wartete es ruhig ab, bis
+ihm der Kellner das Fremdenbuch brachte. In dasselbe
+schrieb er sich ein als W. Hallinger, Particulier aus
+Breslau und blätterte dann die Seiten nach den dort
+eingetragenen Namen durch.</p>
+
+<p>Ganz zuletzt &ndash; dicht über seinem eigenen Autograph
+&ndash; standen seine Reisegefährten eingetragen:
+»Comte Kornikoff und Frau, aus Petersburg &ndash; von
+Hannover nach Frankfurt.«</p>
+
+<p>Der Kellner hatte dabei bemerkt Nr. 6 und 7.</p>
+
+<p>»Wollen Sie morgen früh geweckt sein?« frug
+ihn der Portier, als er seine Flasche beendet und seine
+Cigarre ausgeraucht hatte, und eben im Begriff stand
+zu Bett zu gehen.</p>
+
+<p>»Wann geht der erste Zug?«</p>
+
+<p>»Wohin?«</p>
+
+<p>»Nach Mainz oder Wiesbaden.«</p>
+
+<p>»Sechs Uhr.«</p>
+
+<p>»Gehen da noch mehrere Passagiere ab?«</p>
+
+<p>»Jawohl,« erwiederte der Portier, auf die für den
+Hausknecht bestimmte Tafel zeigend &ndash; »Nr. 5, Nr. 17
+<a class="pagenum" name="page_159" title="159"> </a>
+und Nr. 37 lassen sich wecken. Soll ich Sie ebenfalls
+notiren?«</p>
+
+<p>»Ach, ich weiß nicht; ich bin müde heut Abend.
+Ich werde wohl erst mit dem zweiten Zug fahren.«</p>
+
+<p>»Sehr wohl, mein Herr &ndash; Kellner, Licht auf Nr. 8.
+Angenehme Ruhe.«</p>
+
+<p>Der Fremde stieg auf sein Zimmer hinauf und
+sah vor Nr. 7 ein Paar Herrenstiefeln und ein Paar
+lederne Damenschuhe stehen. Im Hotel schlief aber
+schon alles; es war spät geworden, da sich der Zug
+überhaupt verspätet hatte und der »Particulier Hallinger«
+suchte ebenfalls sein Lager.</p>
+
+
+
+
+<h3>II.<br />
+
+<b>Der Bundesgenosse.</b></h3>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen war der Fremde, der sich
+in dem Fremdenbuch als Particulier Hallinger eingeschrieben
+hatte, trotzdem daß er nicht geweckt wurde,
+ziemlich früh wieder munter, aber es schlug 8 Uhr, und
+die Stiefel und die Damenschuhe standen noch immer
+vor Nr. 7, ohne hereingeholt zu sein. Erst gegen
+neun Uhr schienen die Insassen jenes Zimmers ordentlich
+munter zu werden, und um halb zehn Uhr wurde
+Kaffee bestellt. Aber erst gegen zwölf Uhr ging der
+Herr aus, und zwar allein &ndash; die Dame blieb auf
+<a class="pagenum" name="page_160" title="160"> </a>
+ihrem Zimmer. Wie der Kellner aussagte, fühlte sich
+die Dame nicht ganz wohl, und wollte heute ausruhen
+&ndash; er hatte wenigstens nicht in das Zimmer gedurft,
+und das Stubenmädchen mußte den Kaffee hinein
+tragen. Wahrscheinlich lag sie noch im Bette.</p>
+
+<p>Der Fremde blieb übrigens den ganzen Tag zu
+Haus, und schickte nur einen Brief an <i>Messrs. Burton
+&amp; Burton, London, 12 Fleetstreet</i> durch den
+Hausknecht auf die Post. Thatsache war übrigens,
+daß er sich ungemein für seine Nachbarschaft zu interessiren
+schien, denn als der Herr wieder nach Hause
+kam, rückte er sich leise einen Stuhl an die verschlossene
+Verbindungsthür und horchte stundenlang mit
+einer merkwürdigen Ausdauer dem da drüben gehaltenen
+Gespräch, jedoch ohne besonderen Nutzen. Die
+laut gesprochenen Worte waren vollständig gleichgültiger
+Natur, und das andere konnte er eben nicht verstehen.</p>
+
+<p>Zu Mittag aß er an der Table d'hôte, aber von
+Nr. 6 oder 7 ließ sich niemand dabei blicken. Die
+Dame schien sich noch angegriffen von der Reise zu
+fühlen und Beide speisten auf ihrem Zimmer.</p>
+
+<p>Erst Nachmittags begegnete er dem »Grafen
+Kornikoff« auf der Treppe und dieser sah ihn etwas
+überrascht durch seine blaue Brille an. Der Fremde
+<a class="pagenum" name="page_161" title="161"> </a>
+heuchelte aber vollständige Gleichgültigkeit, nahm nicht
+die geringste Notiz von ihm, und that wenigstens so,
+als ob er ihn gar nicht wieder erkenne.</p>
+
+<p>So verging der Tag, ohne daß die beiden Reisenden
+Miene gemacht hätten, Frankfurt wieder zu verlassen.
+Der Oberkellner, mit dem sich Herr Hallinger
+über die »bildschöne junge Frau« unterhielt, wußte
+wenigstens nicht das Geringste davon. Abends aber,
+als der Schnellzug von Hannover erwartet wurde, ging
+Hallinger hinaus auf den Bahnhof, und brauchte, als
+der Zug endlich einlief, auch nicht lange nach dem Erwarteten
+zu suchen. Dieser hatte ihn schon von seinem
+Coupé aus bemerkt und kam rasch auf ihn zu.</p>
+
+<p>»Hamilton! nun, was Neues?«</p>
+
+<p>»Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur, Mr.
+Burton,« sagte dieser, indem er achtungsvoll seinen
+Hut berührte. »Aber wo ist Ihr Gepäck?«</p>
+
+<p>»Nichts als die Reisetasche hier.«</p>
+
+<p>»Desto besser, auf der Jagd darf man nicht unnöthigen
+Plunder mitschleppen. Kommen Sie, ich habe
+schon eine Droschke«.</p>
+
+<p>»Gehen wir nicht lieber zu Fuß?«</p>
+
+<p>»Es ist zu weit &ndash; und fahren ist sicherer.«</p>
+
+<p>»Und was <em class="gesperrt">haben</em> Sie nun entdeckt?« frug der
+junge Engländer, als Beide eingestiegen waren und
+<a class="pagenum" name="page_162" title="162"> </a>
+davon rasselten &ndash; die Unterhaltung wurde auch in
+englischer Sprache geführt.</p>
+
+<p>»Das will ich Ihnen mit kurzen Worten sagen,«
+berichtete der fälschlich als deutscher Particulier eingetragene
+Fremde. »Durch einen reinen Zufall war
+ich genöthigt, ein Paar Stationen in einem Packwagen
+zu fahren, und fand dort einen Koffer, dessen
+Messingschild den Namen »<i>Comte Kornikoff</i>« trug.«</p>
+
+<p>»Und Sie glauben, daß jener Schuft Kornik
+dahinter stecke?«</p>
+
+<p>»Durch den Namen allein wäre ich vielleicht nicht
+einmal darauf gefallen,« fuhr Hamilton fort, »aber das
+französische Wort <i>Comte</i> war jedenfalls später zu dem
+Namen gravirt, denn es nahm nicht den Raum ein,
+den ihm der Graveur gegeben hätte, wenn er es von
+Anfang an darauf gesetzt. Ebenso schien das <i>off</i> hinzugefügt.«</p>
+
+<p>»Und die Beschreibung des Eigenthümers paßt?«
+rief Mr. Burton rasch.</p>
+
+<p>»Ja und nein. Wohl in der Gestalt, aber sonst
+nicht ganz; der dunkelblonde Backenbart fehlt«.</p>
+
+<p>»Der kann abrasirt sein.«</p>
+
+<p>»Das ist möglich &ndash; aber er trägt einen vollkommen
+schwarzen Schnurrbart und eine blaue Brille«.</p>
+
+<p>»Der Schnurrbart ist vielleicht gefärbt.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_163" title="163"> </a>
+»Das vermuthe ich selber. &ndash; Die Dame ist bei
+ihm.«</p>
+
+<p>»Miss Fallow?«</p>
+
+<p>»Unter dem Namen der Gräfin Kornikoff natürlich,
+&ndash; wenn das nämlich der von uns Gesuchte ist.
+Sie kennen ihn doch genau?«</p>
+
+<p>»Als ob er mein leiblicher Bruder wäre. Er war
+ja sieben Jahre in meines Vaters Haus und die beiden
+letzten als Hauptcassirer, wo er sich &ndash; wer weiß durch
+was, verleiten ließ, diesen bedeutenden Kassendiebstahl
+zu begehen.«</p>
+
+<p>»Wahrscheinlich durch eben diese junge Dame,«
+sagte Hamilton, »von der ich ganz allerliebste Sachen
+gehört habe. Ihr eigentlicher Name ist Lucy Fallow,
+Tochter eines Schneidermeisters in London, aber die
+Eltern sind beide todt. Es sollen ganz ordentliche
+Leute gewesen sein. Das junge Mädchen hatte, ihres
+anständigen Benehmens wegen und da sie wirklich
+nicht ungebildet ist, ein Paar Jahr mit einer vornehmen
+Familie reisen können, und dann später auch noch hie
+und da Unterricht in Musik gegeben. Dadurch kam
+sie auch in Lady Clives Haus, von wo aus sie jetzt
+beschuldigt wird, einen sehr werthvollen Schmuck entwendet
+zu haben.«</p>
+
+<p>»Der sich dann vielleicht in ihrem Koffer findet.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_164" title="164"> </a>
+»Beinah hätte ich diese beiden Koffer erwischt,«
+lächelte Hamilton leise vor sich hin, »aber ich durfte
+kein Aufsehen erregen, bis ich nicht durch <em class="gesperrt">Sie</em> hier
+Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte.
+Die Dame kennen Sie nicht selber?«</p>
+
+<p>»Nein &ndash; ich habe sie nie gesehen.«</p>
+
+<p>»Und von einem Grafen Kornikoff in Hannover
+auch nichts gehört?«</p>
+
+<p>»Nicht das Geringste. Kein Mensch wußte dort
+etwas von ihm, und er stand nicht einmal in einem
+Fremdenblatt. Er kann nur durchgereist sein, und
+Sie werden gewiß die richtige Spur gefunden haben.
+Uebrigens müssen wir vorher die nöthigen Schritte
+auf der Polizei thun.«</p>
+
+<p>»Ist schon alles geschehen,« sagte Hamilton. »Ich
+habe den Verhaftsbefehl für das Pärchen schon in der
+Tasche, und den Burschen mit seiner Donna fest, sowie
+Sie mir nur bestätigen, daß er der Rechte ist.«</p>
+
+<p>»Ich hätte im Leben nicht geglaubt,« sagte Mr.
+Burton, »daß Sie dem Betrüger sobald auf die Spur
+kämen. Es geht alles nach Wunsch. Apropos, haben
+Sie denn die Dame auch zu sehen bekommen?«</p>
+
+<p>»Ich bin ja mit ihnen in <em class="gesperrt">einem</em> Coupé gefahren,«
+lachte Hamilton, »und sie ahnten dabei wahrscheinlich
+nicht, daß sie einen geheimen Polizisten bei sich im
+<a class="pagenum" name="page_165" title="165"> </a>
+Wagen hatten. Nun ich denke, wir werden noch länger
+Reisegefährten bleiben. Aber da sind wir &ndash; jetzt
+haben wir nur darauf zu sehen, daß uns die Herrschaften
+nicht etwa morgen in aller Früh durchbrennen.
+Wollen wir gleich auf Ihr Zimmer gehen?«</p>
+
+<p>»Ich muß erst etwas essen; ich bin ganz ausgehungert.«</p>
+
+<p>»Schön &ndash; dann kommen Sie mit in den Speisesaal,
+wir finden ihn um diese Zeit fast leer.«</p>
+
+<p>Sie bogen rechts ein, um den Saal zu betreten.
+Als aber Hamilton die Hand nach der Thür ausstreckte,
+öffnete sich diese, und Graf Kornikoff trat heraus, warf
+einen flüchtigen Blick auf die Beiden und schritt dann
+langsam über den Vorsaal, der Treppe zu.</p>
+
+<p>»Das war er,« flüsterte Hamilton seinem Begleiter zu
+&ndash; »wenn er Sie nur nicht erkannt hat.«</p>
+
+<p>Unwillkührlich drehte Burton den Kopf nach ihm
+um, konnte aber die schmächtige Gestalt des Herrn nur
+noch sehen, wie er eben um die Ecke bog, ohne jedoch
+dabei zurückzuschauen.</p>
+
+<p>»Das glaub ich kaum,« sagte Burton, »denn der
+Moment war zu rasch, und dann hätte er doch auch
+jedenfalls irgend ein unwillkürliches Zeichen der Ueberraschung
+gegeben. In der Verkleidung und mit der
+blauen Brille und dem schwarzen Schnurrbart würde
+<a class="pagenum" name="page_166" title="166"> </a>
+ich selber aber nie im Leben diesen Mr. Kornik vermuthet
+haben. Wenn Sie sich nur nicht geirrt, denn
+in dem Fall versäumen wir hier viel Zeit.«</p>
+
+<p>»Ist es denn nicht wenigstens seine Gestalt?« frug
+Hamilton.</p>
+
+<p>»Die nämliche Gestalt allerdings,« bestätigte
+Burton, »aber das Gesicht konnte ich &ndash; unvorbereitet
+wie ich außerdem war &ndash; unmöglich in der Geschwindigkeit
+erkennen. Wann geht der erste Zug morgen
+früh?«</p>
+
+<p>»Erst um sechs Uhr.«</p>
+
+<p>»Ah, dann ist ja voller Tag,« sagte Burton, »und
+im schlimmsten Fall halten wir ihn mit Gewalt zurück.
+Wäre es aber nicht besser, wir äßen auf unserem
+Zimmer?«</p>
+
+<p>»Jetzt kommt er nicht mehr herunter,« meinte Hamilton.
+»Jedenfalls setzen Sie sich mit dem Rücken
+der Thür zu, und wenn er dann ja noch einmal den
+Saal betreten sollte, so werde ich bald sehen, was er
+für ein Gesicht dabei macht.«</p>
+
+<p>Hamilton hatte übrigens Recht. Graf Kornikoff
+ließ sich nicht mehr blicken und als die Beiden ihr
+Abendbrod beendet hatten, gingen sie auf Mr. Burtons
+Zimmer hinauf, das einen Stock höher als Hamiltons
+lag, um dort noch Manches zu besprechen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_167" title="167"> </a>
+Burton hatte sich jedoch vorher, auf Hamiltons
+Rath unter einem französischen Namen in das Fremdenbuch
+eingetragen, um doch jede nöthige Vorsicht zu
+gebrauchen. Auch verabsäumte der schlaue Polizeibeamte
+nicht, vor Schlafengehen noch einmal die Tafel
+des Portiers zu revidiren, ob sich vielleicht Nr. 6 oder
+7 darauf befand, um früh geweckt zu werden. Das
+war aber nicht der Fall, und Hamilton glaubte jetzt
+selber, daß jener Herr, wenn es wirklich der Gesuchte
+gewesen, Mr. Burton in dem Moment ihres augenblicklichen
+und unerwarteten Begegnens nicht erkannt
+haben <em class="gesperrt">konnte</em>. Er brauchte also auch Nichts zu überstürzen.</p>
+
+
+
+
+<h3>III.<br />
+
+<b>Entwischt.</b></h3>
+
+
+<p>Mitternacht war lange vorüber, als sich Hamilton
+endlich erschöpft und ziemlich ermüdet auf sein Lager
+warf, aber trotzdem befand er sich schon um fünf Uhr
+angekleidet wieder draußen auf dem Gang, denn heute
+sollte er ja den Lohn seiner Bemühungen ernten, und
+die Zeit durfte ihn nicht lässig finden.</p>
+
+<p>Das Schuhwerk stand indeß noch immer friedlich
+dort draußen, des Hausknechts gewärtig, aber die Bewohner
+des Zimmers mußten auf sein &ndash; sollten sie
+doch am Ende heute morgen abfahren wollen? »Nein,
+<a class="pagenum" name="page_168" title="168"> </a>
+mein lieber Mr. Kornik,« lachte der Engländer still
+vor sich hin, »da wir Sie so hübsch in der Falle haben,
+wollen wir auch Acht geben, daß Sie uns nicht wieder
+durch die Finger schlüpfen.«</p>
+
+<p>In dem Augenblick wurde in Nr. 7 die Klingel gezogen
+und Hamilton trat in seine Stube zurück, ließ
+aber die Thür angelehnt. Er horchte &ndash; aber er
+konnte nicht hören, daß irgend jemand ein Wort sprach.
+Ein Paar Stühle wurden gerückt und Schiebladen
+ziemlich geräuschvoll auf- und zugemacht, aber keine
+Sylbe wurde laut. Hatte sich das junge Ehepaar vielleicht
+gezankt?</p>
+
+<p>Draußen klopfte der Kellner an Nr. 7 an.</p>
+
+<p>»<i>Walk in</i>.«</p>
+
+<p>Die Thür öffnete sich.</p>
+
+<p>»<i>Do you speak english?</i>« lautete die Frage
+der Dame.</p>
+
+<p>Der Kellner antwortete leise einige Worte, die
+Hamilton nicht verstehen konnte, aber die Frage mußte
+verneinend beantwortet sein, denn die Dame erwiderte
+gleich darauf heftig:</p>
+
+<p>»<i>So send somebody with whom I can
+speak</i>.«</p>
+
+<p>Der Kellner &ndash; Hamilton sah durch die Thürspalte,
+es war ein ganz junger Bursch, der augenscheinlich
+<a class="pagenum" name="page_169" title="169"> </a>
+gar nicht wußte, was die Dame von ihm
+wollte &ndash; eilte wieder die Treppe hinab. »Aber alle
+Wetter, wo stak denn Mr. Kornik, der doch ganz vortrefflich
+deutsch sprach?«</p>
+
+<p>Hamilton erschrak. Hatte der Verbrecher wirklich
+gestern Abend Burton erkannt und sich selber in
+Sicherheit gebracht? Darüber mußte er Gewißheit
+haben &ndash; aber seine Stiefeln standen noch vor der
+Thür. War er vielleicht krank geworden?</p>
+
+<p>Er stieg rasch die Treppe hinunter zum Portier,
+den er auch schon auf seinem Posten fand.</p>
+
+<p>»Ah, Portier, wissen Sie vielleicht, wann der Herr
+auf Nr. 7 wieder abreisen wird?«</p>
+
+<p>»Auf Nr. 7?«</p>
+
+<p>»Graf Kornikoff, glaube ich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Ah &ndash; ja der Herr Graf, kann ich wirklich nicht
+sagen. Er wollte heute Abend wieder kommen.«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Wieder</em> kommen?«</p>
+
+<p>»Ja &ndash; er ist heute Morgen halb zwei Uhr mit
+Extrapost nach dem Taunusgebirg gefahren.«</p>
+
+<p>»<i>The devil he is</i>,« murmelte Hamilton leise
+und verblüfft vor sich hin, »und hat er Gepäck mitgenommen?«
+frug er laut.</p>
+
+<p>»Nur eine Reisetasche &ndash; die Dame ist ja noch
+hier.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_170" title="170"> </a>
+»Haben Sie ihn denn gesehen?«</p>
+
+<p>»Natürlich &ndash; ich habe die Tasche ja an den
+Wagen getragen.«</p>
+
+<p>»Aber wann, um Gottes Willen, schlafen Sie
+denn?«</p>
+
+<p>»Ich? &ndash; <em class="gesperrt">nie</em>,« lächelte der Mann in voller
+Ruhe. Aber Hamilton hatte andere Dinge im Kopf,
+als sich mit dem Portier zu unterhalten. Mit wenigen
+Sätzen war er oben an Mr. Burtons Zimmer, den
+er auch schon vollständig angekleidet und seiner wartend
+traf.</p>
+
+<p>»Er ist fort,« rief er diesem ganz außer Athem
+entgegen, »richtig durchgebrannt. Er <em class="gesperrt">muß</em> Sie gestern
+Abend erkannt haben. Der Lump ist mit allen Hunden
+gehetzt.«</p>
+
+<p>»Und was jetzt?«</p>
+
+<p>»Ich muß augenblicklich nach, denn der Postillon,
+der ihn gefahren hat, wird zurück sein und weiß jedenfalls
+die Station. Dort findet sich dann die weitere
+Spur.«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Mit</em> der Donna?«</p>
+
+<p>»Nein, die ist zurückgeblieben, die überlasse ich
+jetzt Ihnen. Wahrscheinlich hat sie auch einen Theil
+von Ihres Vaters Geldern in Verwahrung &ndash; jedenfalls
+den Schmuck. &ndash; Hier ist der Verhaftsbefehl für
+<a class="pagenum" name="page_171" title="171"> </a>
+Kornik und seine Begleiterin &ndash; mir kann er doch
+nichts helfen, denn er gilt, von den Frankfurter Behörden
+ausgestellt, nur für das hiesige Gebiet. Das
+ist eine verzweifelte Wirthschaft in Deutschland, wo
+ein Mann in einer einzigen Stunde in drei verschiedener
+Herren Länder sein kann.</p>
+
+<p>»Aber wie bekomme ich heraus, ob das auch in
+der That jene berüchtigte Miss Fallow ist, bester Hamilton?
+Die Flucht des Grafen, wenn er wirklich
+geflohen, bleibt allerdings sehr verdächtig und ich
+zweifle kaum, daß Sie auf der richtigen Fährte sind,
+aber es &ndash; wäre doch eine ganz fatale Geschichte,
+<em class="gesperrt">wenn</em> wir es nicht mit den rechten Leuten zu thun
+hätten, und jetzt einer wildfremden und ganz unschuldigen
+Dame Unannehmlichkeiten bereiteten.«</p>
+
+<p>»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!« lachte
+Hamilton. »Daß ich Ihnen aus diesem Grafen Kornikoff
+den richtigen und unverfälschten Kornik herausschäle,
+darauf können Sie sich fest verlassen, und dies
+junge, wirklich wunderhübsche Geschöpf, was ihn begleitet,
+hätte sich dem Lump auch nicht an den Hals
+geworfen, wenn sie nicht schon vorher durch ein <em class="gesperrt">Verbrechen</em>
+mit einander verbunden gewesen wären.
+Nein, die einzige Sorge, die ich habe, ist die, daß <em class="gesperrt">Ihnen</em>
+die junge Dame einmal ebenso eines Morgens
+<a class="pagenum" name="page_172" title="172"> </a>
+unter den Händen fortschlüpft, wie ich mir in fabelhaft
+alberner Weise habe den Hauptschuldigen entwischen
+lassen, und wenn ich ihn nicht wieder bekäme, wäre
+das ein Nagel zu meinem Sarg. Aber noch hab' ich
+Hoffnung &ndash; ich <em class="gesperrt">kenne</em> den Herrn jetzt, denn ich habe
+ihn mir <em class="gesperrt">genau</em> angesehen und wenn er sich wirklich
+auch den schwarzen Schnurrbart abrasirte und die
+blaue Brille in die Tasche steckte, so denke ich ihm doch
+auf den Hacken zu sitzen, ehe er es sich versieht.«</p>
+
+<p>»Er wird direkt über die Grenze nach Frankreich
+fliehen.«</p>
+
+<p>»Daran habe ich auch schon gedacht, denn Geld
+genug hat er bei sich, aber dagegen hilft der Telegraph.
+An die beiden Grenzstationen werde ich jetzt vor allen
+Dingen genau telegraphiren, und wenn ich da nur ein
+Wort mit einfließen lasse, daß der Herr mit dem Revolutionscomité
+in London in Verbindung stände, passen
+sie auf wie die Heftelmacher.«</p>
+
+<p>»Und sie wollen dem Kornik nach?«</p>
+
+<p>»Augenblicklich, so wie ich die Depeschen befördert
+habe. Ich nehme jetzt ohne weiteres Extrapost und
+treffe ich ihn, so telegraphire ich ungesäumt.«</p>
+
+<p>»Und ich lasse unterdessen die Dame verhaften?«</p>
+
+<p>»Das ist das Sicherste. Sie können ja Bürgschaft
+leisten, wenn es verlangt werden sollte. Auf
+<a class="pagenum" name="page_173" title="173"> </a>
+dem Gerichte finden Sie auch Jemand, der englisch
+spricht.«</p>
+
+<p>»Abscheuliche Geschichte,« murmelte der junge
+Burton zwischen den Zähnen, »daß uns der Lump auch
+gestern Abend gerade so zur unrechten Zeit in den Weg
+laufen mußte.«</p>
+
+<p>»Das ist jetzt nicht zu ändern,« rief aber der weit
+entschiednere Hamilton &ndash; »wir haben immer noch
+Glück gehabt, das Volk Hühner so rasch anzutreffen
+und zu sprengen. Jetzt halten Sie nur Ihren Part fest,
+und ich glaube Ihnen garantiren zu können, daß ich
+<em class="gesperrt">meine</em> Hälfte ebenfalls zur rechten Zeit einbringe.«</p>
+
+<p>»Und wissen Sie gewiß, daß Kornik die Stadt verlassen
+hat?«</p>
+
+<p>»Gar kein Zweifel &ndash; aber das erfahre ich ja auch
+gleich auf der Post. Jetzt wollen wir nur noch einmal
+hinunter und sehen, ob wir nichts mehr von der Donna
+zu hören bekommen.«</p>
+
+<p>Es war in der That das Einzige, was sie thun
+konnten. Sie fanden die Thür aber wieder geschlossen
+und Hamilton wandte sich unten an den Oberkellner,
+um womöglich etwas Näheres zu erfahren.</p>
+
+<p>»Ach, Oberkellner, meine Rechnung &ndash; ich reise ab.«</p>
+
+<p>»Zu Befehl, mein Herr&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Apropos, was war denn das heute Morgen für
+<a class="pagenum" name="page_174" title="174"> </a>
+ein Lärm auf Nr. 7? Meine schöne Nachbarin schien
+ja sehr in Eifer.«</p>
+
+<p>Der Oberkellner lächelte.</p>
+
+<p>»Der Herr Gemahl hat die Nacht eine kleine Extrafahrt
+gemacht und die Dame scheint eifersüchtig zu
+sein.«</p>
+
+<p>»Es scheint als ob er heimlich auf und davon gegangen
+wäre,« sagte Mr. Burton leise zu Hamilton.
+Dieser zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>»Gott weiß es,« erwiderte er, »aber das werden
+Sie jetzt herausbekommen. Lassen Sie sich nur nicht
+etwa von Thränen rühren, denn wir haben es hier
+mit einer abgefeimten Kokette zu thun, der auch Thränen
+zu Gebote stehen, wenn sie dieselben braucht. Ich
+aber darf keinen Augenblick Zeit mehr verlieren. Auf
+die Koffer in Korniks Zimmer legen Sie augenblicklich
+Beschlag und lassen sie visitiren. Kornik hat wahrscheinlich
+alle Papiere entfernt und mitgenommen;
+aber in der Eile bleibt doch noch manchmal ein oder
+die andere Kleinigkeit zurück, die leicht zum Verräther
+wird.«</p>
+
+<p>»Und wenn sie sich weigert? &ndash; wenn sie sich auf
+ihren Rang, vielleicht sogar auf einen, wer weiß wie
+erhaltenen Paß beruft? Die Behörden hier werden
+sie in Schutz nehmen.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_175" title="175"> </a>
+»Gott bewahre,« sagte Hamilton, »Sie haben ja
+das Duplicat unserer englischen Vollmachten mit
+der Personalbeschreibung der beiden Verbrecher in
+Händen. Korniks Flucht hat ihn dabei schon verdächtig
+gemacht und das wenigste, was man Ihnen
+zugestehen kann, ist eine Durchsuchung der Effecten im
+Beisein eines Polizeibeamten, und dann die Detenirung
+der Person selber in Frankfurt, bis ich mit ihrem
+Helfershelfer zurückkomme. In dem Fall können Sie
+dieselbe meinetwegen &ndash; natürlich unter polizeilicher
+Aufsicht &ndash; so lange hier im Hotel lassen.«</p>
+
+<p>»Eine unangenehme Geschichte bleibt es immer,«
+sagte Mr. Burton, mit dem Kopf schüttelnd.</p>
+
+<p>»Unangenehm, <i>by George</i>,« lachte Hamilton &ndash;
+»bedenken Sie, daß 20,000 Pfd. Sterling Ihres
+Geschäfts dabei auf dem Spiel stehen, von dem
+Schmuck, der ebenfalls auf 3000 taxirt ist, gar nicht
+zu reden. Und nun ade; hoffentlich bringe ich Ihnen
+bald den Patron selber. Verlassen Sie nur die Stadt
+nicht« &ndash; und mit den Worten rasch zu dem kleinen
+Stehpult tretend, hinter welchem sich der Oberkellner
+befand, berichtigte er seine Rechnung und sprang gleich
+darauf draußen in eine Droschke, um seine Verfolgung
+anzutreten.</p>
+
+
+
+
+<h3>IV.<a class="pagenum" name="page_176" title="176"> </a><br />
+
+<b>Die schöne Fremde.</b></h3>
+
+
+<p>Mr. Burton blieb in einer nichts weniger als
+behaglichen Stimmung zurück, denn er hatte ganz
+plötzlich die <em class="gesperrt">Leitung</em> einer Angelegenheit bekommen,
+in der er bis jetzt nur gedacht hatte als Zeuge, und
+vielleicht als Kläger aufzutreten.</p>
+
+<p>James Burton war überhaupt der Mann nicht,
+in irgend einer Angelegenheit entschieden und selbständig
+zu <em class="gesperrt">handeln</em>; er verhielt sich am liebsten passiv.</p>
+
+<p>In einer der ersten bürgerlichen Familien seines
+Vaterlandes erzogen, in den besten Schulen herangebildet,
+in der besten Gesellschaft aufgewachsen, war er
+von edlem, offenem Charakter, dem sich ein gesunder
+Verstand und ein weiches Herz paarte. Das letztere
+lief ihm aber nur zu oft mit dem ersteren davon, und
+selber unfähig eine unrechtliche Handlung zu begehen,
+gab es für ihn auch nichts Schrecklicheres auf der
+Welt, als solche einem anderen zuzutrauen.</p>
+
+<p>Nichtsdestoweniger bekam er es hier mit einer nicht
+wegzuläugnenden Thatsache zu thun, denn William Kornik,
+von seinem Vater mit Wohlthaten überhäuft und
+in eine ehrenvolle und einträgliche Stellung gebracht,
+hatte das Vertrauen seines Hauses auf eine so nichtswürdige
+Weise getäuscht und mißbraucht, daß ein Zweifel
+<a class="pagenum" name="page_177" title="177"> </a>
+an seiner Unehrlichkeit nicht mehr stattfinden konnte.
+Gegen diesen würde er auch mit rücksichtsloser Strenge
+vorgegangen sein, aber jetzt bekam er plötzlich den Auftrag,
+gegen eine <em class="gesperrt">Frau</em> einzuschreiten, deren Betheiligung
+an dem Raub allerdings wahrscheinlich, aber
+keineswegs völlig erwiesen war. Und doch sah er auch
+recht gut ein, daß Hamilton Recht hatte, wenn er verlangte,
+die jedenfalls sehr verdächtige Person wenigstens
+so lange fest und unter Aufsicht zu halten, bis
+er mit dem wirklichen Verbrecher zurückkehren könne.
+Nur daß <em class="gesperrt">ihm</em> dazu der Auftrag geworden, war ihm
+fatal, und er hätte vielleicht eine große Summe Geldes
+gegeben, um sich davon loszukaufen, aber das ging
+eben nicht, und es blieb ihm nichts andres übrig, als
+sich der einmal übernommenen Pflicht nun auch nach
+besten Kräften zu unterziehen. Er hoffte dabei im
+Stillen, daß die Dame sehr stolz und frech gegen ihn
+auftreten würde, und war fest entschlossen, sich nicht
+einschüchtern zu lassen. Um den verbrecherischen Erwerb
+des Geldes <em class="gesperrt">mußte</em> sie ja wissen, sie wäre sonst
+nicht heimlich mit ihm geflohen, und wenn sich dann
+auch noch herausstellte, daß sie den Schmuck der Lady
+Clive entwendet hatte, dann brauchte er auch weiter
+kein Mitleiden mit ihr zu haben, und jede Rücksicht
+hörte von selbst auf.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_178" title="178"> </a>
+Nichtsdestoweniger konnte er sich doch nicht entschließen,
+die Höflichkeit soweit außer Acht zu lassen,
+als sich vor zwölf Uhr bei ihr melden zu lassen. Aber
+er traute ihr deshalb doch nicht; denn Mr. Kornik
+war ihm auf viel zu rasche Art abhanden gekommen,
+um nicht etwas Aehnliches auch von seiner Frau oder
+Gefährtin zu fürchten. Er ging deshalb, sehr zum Erstaunen
+des Portiers, der gar nicht wußte, was er von
+dem unruhigen Gast denken sollte, und ihn frug, ob er
+vielleicht Zahnschmerzen habe, die langen Stunden
+theils auf dem Vorsaal, theils auf der Treppe auf und
+ab &ndash; denn das verzweifelte Haus hatte ja zwei Ausgänge
+&ndash; und horchte verschiedene Male oben an der
+Thür, um sich zu versichern, daß nicht der zweite
+Vogel ebenfalls heimlich ausgeflogen sei.</p>
+
+<p>Aber diese Furcht schien grundlos zu sein. Das
+Stubenmädchen, dem er auf der Treppe begegnete,
+brachte das Frühstück hinauf, ein Glas Madeira und
+ein Beefsteak, die verlassene Frau nahm also noch substantielle
+Nahrung zu sich, und als es endlich auf
+sämmtlichen Frankfurter Uhren &ndash; was bekanntlich
+eine lange Zeit dauert &ndash; zwölf geschlagen hatte, faßte
+er so viel Muth, der Dame seine Karte hinaufzuschicken
+und anfragen zu lassen, ob er das Vergnügen haben
+könne, ihr seine Aufwartung zu machen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_179" title="179"> </a>
+Das klang allerdings nicht wie das Vorspiel einer
+criminellen Untersuchung, aber die gewöhnlichen Gesetze
+der Höflichkeit durften doch auch nicht außer Acht
+gelassen werden. Höflichkeit schadet nie, und man hat
+dadurch oft schon mehr erreicht, als durch sogenannte
+gerade Derbheit, was man im gewöhnlichen Leben auch
+wohl <em class="gesperrt">Grobheit</em> nennt.</p>
+
+<p>Die Antwort lautete umgehend zurück, daß die
+Dame sich glücklich schätzen würde, ihn zu begrüßen
+und nur noch um wenige Minuten bäte, um ihre
+Morgentoilette zu beenden.</p>
+
+<p>Die wenigen Minuten dauerten allerdings noch
+eine reichliche halbe Stunde, aber Mr. Burton war
+gar nicht böse darüber, denn er bekam dadurch nur noch
+so viel mehr Zeit sich zu sammeln, und sich ernstlich
+vorzunehmen, diese Person allerdings mit jeder Artigkeit,
+aber auch mit jeder, hier unumgänglich nöthigen
+Strenge zu behandeln. Was half es auch, Rücksicht
+auf ein Wesen zu nehmen, das sich an einen Menschen
+wie diesen Kornik soweit weggeworfen hatte, sogar
+Theilnehmerin seiner <em class="gesperrt">Verbrechen</em> zu werden. Dabei
+überlegte er sich auch, daß es weit besser sein würde,
+im Anfang keine einzige Frage derselben zu beantworten,
+sondern vor allen Dingen erst alles herauszubekommen,
+was <em class="gesperrt">sie</em> wußte. Volle Aufrichtigkeit konnte
+<a class="pagenum" name="page_180" title="180"> </a>
+allein ja auch jetzt ihre Strafe mildern und ihrem
+Vergehen das Gehässige der Verstocktheit nehmen, und
+durch <em class="gesperrt">ihr</em> Geständniß bekamen sie außerdem gleich ein
+Hauptzeugniß gegen den jetzt noch flüchtigen Verbrecher.</p>
+
+<p>Mitten in diesen Betrachtungen wurde er durch
+die Klingel auf Nr. 7 gestört, die den Kellner herbeirief.
+&ndash; Dieser erschien gleich darauf wieder und meldete
+Herrn Burton, die Dame erwarte ihn.</p>
+
+<p>Also der Augenblick war gekommen, und mit festen
+Schritten stieg er die Treppe hinan. Wußte er doch
+auch schon vorher, wie er die Dame finden würde,
+die so ewig lang gebraucht hatte, ihre Toilette zu
+machen: im vollen Staat natürlich, um ihm zu imponiren
+und jede Frage nach einer begangenen Schuld
+gleich von vorn herein abzuschneiden. Aber er lächelte
+trotzig vor sich hin, denn er wußte, daß eine derartige
+plumpe List bei ihm nicht das Geringste helfen würde.
+Er ließ sich eben nicht verblüffen.</p>
+
+<p>Mit festen Schritten stieg er die Stufen hinan
+und klopfte an &ndash; aber doch nicht zu laut. »<i>Walk in</i>,«
+hörte er von einer fast schüchternen Stimme rufen,
+und als er die Thür öffnete, blieb er ordentlich bestürzt
+auf der Schwelle stehen, denn vor sich sah er das lieblichste
+Wesen, das er in seinem ganzen Leben noch mit
+Augen geschaut.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_181" title="181"> </a>
+Mitten in der Stube stand die junge Fremde &ndash; nicht
+etwa in voller Toilette, mit Schmuck und Flittertand
+behangen, wie er eigentlich gehofft hatte sie zu finden,
+sondern in einem einfachen, schneeweißen Morgenanzug,
+der ihre Schönheit nur um so reizender erscheinen
+ließ, und während ihr blaues Auge feucht von einer
+halbzerdrückten Thräne schien, streckte sie dem Eintretenden
+die Hand entgegen und sagte, mit vor Bewegung
+zitternder Stimme:</p>
+
+<p>»Sie sendet mir der liebe Gott, mein Herr &ndash; Ihr
+Name ist mir zwar fremd, aber aus Ihrer Karte sehe
+ich, daß Sie ein Landsmann sind, also ein Freund,
+der mich in der größten Noth meines Lebens trifft,
+und mir gewiß, wenn er nicht helfen kann, doch rathen
+wird.«</p>
+
+<p>»Madam,« sagte der junge Burton, durch diese
+keineswegs erwartete Anrede ganz außer Fassung
+gebracht, indem er die ihm gereichte Hand nahm und
+fast ehrfurchtsvoll an seine Lippen hob, »ich &ndash; ich
+begreife nicht recht &ndash; ich gestehe, daß ich &ndash; Sie entschuldigen
+vor allen Dingen meinen Besuch.«</p>
+
+<p>»Ich würde Sie darum gebeten haben,« sagte die
+junge Frau herzlich, »wenn ich gewußt hätte, daß ein
+Landsmann mit mir unter einem Dache wohnt; aber
+das Fremdenbuch, das ich mir heute Morgen bringen
+<a class="pagenum" name="page_182" title="182"> </a>
+ließ, zeigte keinen einzigen englischen Namen &ndash; doch
+ich darf nicht selbstsüchtig sein,« unterbrach sie sich
+rasch &ndash; »Sie sind da &ndash; ich sehe in dem edlen Ausdruck
+Ihrer Züge, daß ich auf Ihren Beistand rechnen
+kann, und nun erst vor allen Dingen, <em class="gesperrt">Ihre</em> Angelegenheit.
+Lösen Sie mir das Räthsel, das Sie, einen
+vollkommen Fremden, gerade in dieser Stunde zu
+mir hergeführt &ndash; und bitte, nehmen Sie Platz &ndash; oh
+verzeihen Sie der Aufregung, in der Sie mich gefunden,
+daß ich Sie schon so lange hier im Zimmer habe
+stehen lassen.«</p>
+
+<p>Damit führte sie ihn mit einfacher Unbefangenheit
+zu dem kleinen mit rothem Plüsch überzogenen
+Sopha und nahm dicht neben ihm Platz, so daß es
+dem jungen Manne ganz beklommen zu Muthe wurde.
+Auch die Frage diente nicht dazu, ihm seine ruhige
+Ueberlegung wieder zu geben, denn konnte er <em class="gesperrt">dem</em>
+Wesen neben ihm jetzt mit kalten, dürren Worten sagen,
+daß er hierher gekommen sei, um sie des <em class="gesperrt">Diebstahls</em>
+zu bezüchtigen und in Haft zu halten? Es war ordentlich
+als ob ihm die innere Bewegung die Kehle zusammenschnürte
+und er brauchte geraume Zeit, um nur ein
+Wort des Anfangs zu finden.</p>
+
+<p>Die junge Frau an seiner Seite ließ ihm dabei
+vollkommen Zeit sich zu fassen, und nur wie schüchtern
+<a class="pagenum" name="page_183" title="183"> </a>
+blickte sie ihn mit ihren großen seelenvollen Augen
+an. Und diese Augen sollten jemals die Helfershelfer
+eines Verbrechens gewesen sein? Es war nicht
+möglich; Hamilton hatte den größten nur denkbaren
+Mißgriff gemacht, und ihn selber jetzt in eine Lage gebracht,
+wo er mit Vergnügen tausend Pfund Sterling
+bezahlt hätte, um nur mit Ehren wieder heraus
+zu sein.</p>
+
+<p>Endlich fühlte er aber doch, daß er nicht länger
+schweigen konnte, ohne sich lächerlich zu machen, und
+begann, wenn auch anfangs noch mit leiser, unsicherer
+Stimme.</p>
+
+<p>»Madam &ndash; Sie &ndash; Sie müssen mich wirklich
+entschuldigen, wenn ich Sie von vornherein mit einer
+Frage belästige, die &ndash; die eigentlich Ihren &ndash; Ihren
+Herrn Gemahl betrifft &ndash; dem auch &ndash; dem auch vorzugsweise
+mein Besuch galt; denn ich würde nicht gewagt
+haben, <em class="gesperrt">Sie</em> zu stören. Aber &ndash; seine so plötzliche
+Abreise &ndash; und mitten in der Nacht hat einen Verdacht
+erweckt, der&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Einen <em class="gesperrt">Verdacht</em>?«</p>
+
+<p>»Uebrigens,« lenkte Burton ein, da ihm plötzlich
+wieder beifiel, daß er ja vorher Alles hatte hören wollen,
+was die Dame <em class="gesperrt">ihm</em> sagen würde, um danach sein
+eigenes Handeln zu regeln &ndash; »hängt alles vielleicht mit
+<a class="pagenum" name="page_184" title="184"> </a>
+dem zusammen, wegen dessen Sie selber meinen Rath
+verlangen, und wenn Sie nur die Freundlichkeit
+haben wollten&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber einen <em class="gesperrt">Verdacht</em>?« &ndash; sagte die junge Dame
+rasch und erschreckt, indem sie ihre zitternde Hand auf
+seinen Arm legte und in der gespanntesten Erwartung
+mit ihren schönen Augen an seinen Lippen hing. &ndash;
+»Welcher Verdacht könnte auf ihm ruhen? &ndash; In welcher
+Verbindung können Sie mit ihm stehen? Oh,
+spannen Sie mich nicht länger auf die Folter &ndash; machen
+Sie mich nicht unglücklicher, als ich es schon bin.
+Ach, ich hatte ja gehofft, daß <em class="gesperrt">Sie</em> gerade mir Hülfe
+und Trost bringen sollten; tragen Sie nicht dazu bei,
+meine Unruhe durch längeres Schweigen noch zu vermehren.«</p>
+
+<p>Mr. Burton fand sich so in die Enge getrieben,
+daß er schon gar keinen möglichen Ausweg mehr sah.
+<em class="gesperrt">Er</em> war ja auch eigentlich verpflichtet zuerst zu sprechen.
+<em class="gesperrt">Er</em> hatte eine Unterredung mit ihr erbeten, nicht
+<em class="gesperrt">sie</em> mit ihm, und wenn ihn auch ein wahrhaft verzweifelter
+Gedanke einmal einen Moment erfaßte, sich
+aus der ganzen Geschichte durch irgend eine Ausrede
+hinaus zu lügen, fiel ihm doch ums Leben nicht das
+Geringste, auch nur einigermaßen Glaubwürdige bei.
+Es blieb ihm also nichts übrig, als der jungen Dame
+<a class="pagenum" name="page_185" title="185"> </a>
+&ndash; natürlich so schonend wie das nur irgend geschehen
+konnte &ndash; die Wahrheit zu sagen, und dabei war er
+auch im Stande zu sehen, welchen Eindruck die Beschuldigung
+auf sie machen würde &ndash; danach wollte er
+dann handeln.</p>
+
+<p>»Madam,« sagte er, aber noch immer verlegen &ndash;
+»beruhigen Sie sich &ndash; es wird sich ja noch alles aufklären.
+&ndash; Ich selber &ndash; ich bin ja fest überzeugt, daß
+<em class="gesperrt">Sie</em> der &ndash; unangenehmen Sache, um die es sich handelt,
+vollständig fern stehen. &ndash; Es ist auch noch nicht
+einmal ganz fest bestimmt, ob ihr Herr &ndash; Herr Gemahl
+auch wirklich jene Persönlichkeit ist, die wir
+suchen &ndash; die ganze Sache kann ja möglicher Weise ein
+Irrthum sein, und nur der dringende Verdacht, den
+mein Begleiter gegen mich ausgesprochen hat, veranlaßt
+mich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Aber ich verstehe Sie gar nicht,« sagte die junge
+Dame, und sah dabei gar so lieb und doch so entsetzlich
+unglücklich aus, daß ihm ordentlich das eigene
+Herz weh that.</p>
+
+<p>»Ich <em class="gesperrt">muß</em> deutlicher reden,« fuhr Mr. Burton
+fort, der sie nicht länger in dieser Aufregung lassen
+durfte. »Also hören Sie. Mein Name ist James Burton.
+Ich bin seit diesem Jahre Theilhaber der Firma
+meines Vaters Burton &amp; Burton in London. Seit
+<a class="pagenum" name="page_186" title="186"> </a>
+sieben Jahren hatten wir einen jungen Mann in unserm
+Geschäft, einen Polen, Namens Kornik, der sich
+durch seine Geschicklichkeit und Umsicht so in meines
+Vaters Vertrauen einschlich, daß er ihn vor zwei Jahren
+zu unserm Hauptcassirer machte. Mein Vater
+wußte nicht, daß er eine Schlange in seinem Busen
+nährte. Vor etwa acht Tagen verschwand dieser
+Mensch plötzlich aus London und zwar an einem
+Sonnabend Abend, wodurch er etwa vierzig Stunden
+Vorsprung bekam, denn da nicht der geringste Verdacht
+auf ihm lastete, fiel auch sein Ausbleiben am
+Montag Morgen nicht so rasch auf, wie das sonst vielleicht
+der Fall gewesen wäre. Nur weil mein Vater
+fürchtete, daß er könne unwohl geworden sein, schickte
+er in seine Wohnung hinüber, die sich unmittelbar
+neben uns befand, und hörte hier zu seinen Erstaunen,
+daß Mr. Kornik sowohl Sonnabend als auch Sonntag
+Abend nicht nach Hause gekommen sei.«</p>
+
+<p>»Aber was, um Gottes Willen, habe ich mit dem
+allen zu thun?« unterbrach ihn die junge Dame, erstaunt
+mit dem Kopf schüttelnd.</p>
+
+<p>»Erlauben Sie mir,« fuhr Mr. Burton, in der
+Erinnerung an das Geschehene wärmer werdend fort:
+»Der erste Gedanke meines Vaters war, daß ihm ein
+Unglück begegnet sein könne; ein anderer Commis aber
+<a class="pagenum" name="page_187" title="187"> </a>
+in unserem Haus mußte doch etwas bemerkt haben,
+was ihm verdächtig vorkam. Er bat uns dringend,
+keine Zeit zu versäumen und die Kasse zu revidiren, und
+da stellte sich denn bald das Entsetzliche heraus, daß
+eine <em class="gesperrt">sehr</em> bedeutende Summe fehlte, die, nach den
+über Tag eingegangenen Erkundigungen, gegen 20,000
+Pfd. Sterling betrug.«</p>
+
+<p>»Mein Vater wandte sich augenblicklich an die
+Polizei, und ein sehr gewandter Detective, der uns
+besuchte, und der zur Verfolgung bestimmt wurde, gerieth
+noch an dem nämlichen Tag auf eine andere Spur,
+die, wie er meinte, sicherer zur Entdeckung des Verbrechers
+führen konnte. Derselbe war nämlich, wie der
+Polizeiagent sehr rasch herausbrachte, mit einer jungen
+sehr &ndash; ge &ndash; sehr gewandten Dame bekannt geworden
+und als an dem nämlichen Tag eine andere Klage
+gegen diese einlief, daß sie in dem Haus einer Lady,
+wo sie Stunden gab, einen werthvollen Schmuck
+entwandt haben sollte, ebenfalls aber nirgends aufzufinden
+war, und seit dem nämlichen Abend fehlte, wie
+jener Kornik &ndash; so blieb zuletzt kein Zweifel, daß beide
+mitsammen geflohen sein mußten.«</p>
+
+<p>»Jetzt war kein Augenblick mehr zu verlieren um
+der Verbrecher habhaft zu werden. Lady Clive &ndash; so
+hieß jene Dame &ndash; setzte selber eine namhafte Summe
+<a class="pagenum" name="page_188" title="188"> </a>
+für den Polizeibeamten aus; da dieser aber weder die
+Dame noch unsern frühern Kassirer persönlich kannte,
+entschloß ich mich ihn zu begleiten, und wir begannen
+gemeinschaftlich unsere etwas ungewisse Fahrt.«</p>
+
+<p>»Und jetzt?« frug die Fremde, anscheinend in
+größter Spannung.</p>
+
+<p>»Indessen,« fuhr Mr. Burton fort, »wurde kein
+mögliches Mittel versäumt um die beiden aufzufinden,
+falls sie sich noch in England aufhalten sollten. Zugleich
+telegraphirten wir an die nächsten Hafenplätze. Mein
+ganz vortrefflicher und gewandter Begleiter war aber
+schon auf eine Spur gekommen, die ihn nach Hamburg
+führte. Mit dem Hamburg Packet waren nämlich am
+Sonnabend Abend zwei Personen abgegangen, die der
+Beschreibung vollkommen entsprachen. Einer der Kassenleute
+in dem Office des Dampfboots behauptete
+sogar, Kornik an jenem Abend mit einer Reisetasche an
+dem Landungsplatz des Dampfboots gesehen zu haben.
+Wir folgten augenblicklich, verloren aber die Spur in
+Hamburg wieder, und glaubten sie erst in Hannover
+&ndash; freilich, wie sich später erwies, irrthümlich &ndash;
+wieder zu finden. Dort ließ mich Mr. Hamilton
+zurück, während er selber, von einer Art polizeilichen
+Instinkts getrieben, nach Frankfurt vorauseilte und
+hierher zu &ndash; zufälliger Weise &ndash; mit Ihnen und
+<a class="pagenum" name="page_189" title="189"> </a>
+Ihrem Herrn Gemahl die Reise in einem Coupé
+machte.«</p>
+
+<p>Ein leises Zittern flog über den Körper der Frau,
+aber ihre Züge verriethen keine Spur von Ueberraschung,
+und nur mit mehr erstaunter als bewegter
+Stimme sagte sie:</p>
+
+<p>»Und jetzt?«&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»Und jetzt,« fuhr Mr. Burton verlegen fort,
+»glaubte er, durch mehrere sonderbar zusammentreffende
+Umstände jenen aus London mit unserem Geld
+entflohenen Kornik in dem &ndash; Sie dürfen mir nicht
+zürnen, denn Sie haben die volle Wahrheit verlangt
+&ndash; in dem &ndash; Grafen Kornikoff wieder zu finden, da
+sich dieser heute Nacht so heimlich&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Heiliger Gott der Welt!« rief die junge Frau,
+entsetzt emporspringend: »reden Sie nicht aus. Darf
+ich denn meinen Ohren trauen? In dem Grafen
+Kornikoff vermuthen Sie den entsprungenen Verbrecher?
+Und dann ist, <em class="gesperrt">Ihrer</em> Meinung nach &ndash; seine
+Begleiterin jene Diebin des Diamantenschmucks?«</p>
+
+<p>»<i>But Madam!</i>« rief Mr. Burton, ebenfalls
+erschreckt von seinem Sitz aufspringend, »ich sage Ihnen
+ja«&nbsp;&ndash;</p>
+
+<p>»O mein Vater im Himmel, selbst das noch,« rief
+aber das schöne Weib, die Arme wie flehend emporstreckend,
+<a class="pagenum" name="page_190" title="190"> </a>
+»auch das noch &ndash; auch das noch in meinem
+Jammer und Elend. &ndash; Aber kommen Sie,« fuhr sie
+leidenschaftlich fort, indem Sie plötzlich wieder Mr.
+Burtons Arm ergriff und ihn fast mit Gewalt zu
+ihrem Koffer zog &ndash; »<em class="gesperrt">ich</em> bin nur ein armes schwaches
+Weib, hilflos und ohne Schutz im fremden Lande &ndash;
+aber Sie haben vielleicht ein Recht, der Spur eines
+verübten Verbrechens nachzuforschen. <em class="gesperrt">Ich</em> habe nichts
+als meinen ehrlichen Namen, aber den kann ich, Gott
+sei Dank, mir erhalten und Ihnen bin ich noch dazu
+verpflichtet, mir die Gelegenheit zu geben mich zu
+rechtfertigen. Mir schwindelt der Kopf, wenn ich mir
+denke, daß Sie auch nur eine Stunde länger mich in
+einem so furchtbaren Verdacht haben sollten.«</p>
+
+<p>»<i>But, my dear Madam</i>,« rief Burton, jetzt vergebens
+bemüht, zu Worte zu kommen. Die Frau ließ
+ihn nicht.</p>
+
+<p>»Nein, nein,« fuhr sie immer erregter fort und
+schloß mit vor Eifer zitternden Händen ihren Koffer
+auf, warf den Deckel zurück und riß die dort
+sorgfältig und glatt eingepackten Stücke wild und
+leidenschaftlich heraus. »Da &ndash; hier &ndash; hier ist alles
+was ich auf der Welt mein nenne &ndash; da meine Wäsche
+&ndash; da meine Kleider,« fuhr sie fort die genannten
+Sachen, ohne daß es Burton verhindern konnte, über
+<a class="pagenum" name="page_191" title="191"> </a>
+den Boden streuend, »hier mein Schmuck &ndash; eine
+dürftige Korallenkette mit einem goldenen Kreuzchen,
+das Erbtheil meiner seligen Mutter &ndash; und wie ich
+<em class="gesperrt">früher</em> ihren Tod beklagte, jetzt danke ich Gott, daß
+sie diese Stunde nicht erlebte. &ndash; Hier meine&nbsp;&ndash;« sie
+konnte nicht weiter &ndash; ihr Gefühl überwältigte sie.
+Sie richtete sich auf und wollte zum nächsten Stuhl
+schwanken, aber sie vermochte es nicht und wäre zu
+Boden gesunken, wenn sie nicht James Burton in
+seinen Armen aufgefangen hätte.</p>
+
+<p>Das war eine böse Situation für den jungen Mann
+&ndash; der warme Körper der jungen Frau ruhte an seinem
+Herzen, und vergebens suchte er sie durch tausend
+Trostesworte ins Leben zurückzurufen. &ndash; Und wie
+ihr Herz dabei schlug &ndash; er wußte sich keines Rathes,
+als sie aufs Sopha zu tragen &ndash; und als er sie in die
+Höhe hob, trafen seine Lippen unwillkührlich auf die
+ihrigen und ruhten einen Moment darauf. Endlich
+raffte er sich empor. Er wollte nach Hilfe rufen, aber
+er wagte es nicht &ndash; was mußten die Leute im Hotel
+davon denken, wenn er in einer solchen Situation mit
+der jungen Dame getroffen wurde? Auf dem Waschtisch
+stand ein Glas Eau de Cologne &ndash; damit benetzte er
+ihr Taschentuch, hielt es ihr unter die Nase und rieb
+ihr Schläfe und Puls, und als das alles nicht helfen
+<a class="pagenum" name="page_192" title="192"> </a>
+wollte, tauchte er das Handtuch in kaltes Wasser und
+legte es ihr um die Stirn. Aber es dauerte wohl zehn
+Minuten, ehe er sie zum Bewußtsein zurückrief, und
+<em class="gesperrt">als</em> sie endlich erwachte, befand sie sich in einem so
+furchtbar überreizten Zustande, daß sie den über ihr
+lehnenden Arm des jungen Mannes ergriff, ihre
+Stirn dagegen lehnte und bitterlich weinte.</p>
+
+<p>Mr. Burton that das unter solchen Umständen
+Zweckmäßigste &ndash; er ließ sie sich ausweinen und es
+gewährte ihm sogar einige Beruhigung, daß er sie
+dabei mit seinem linken Arm stützen und halten konnte.
+Aber diese Schwäche dauerte nicht lange. Die junge
+Frau zeigte eine ungemeine Willenskraft, dieses
+augenblickliche Erliegen ihres Körpers zu bewältigen,
+und mit leiser Stimme sagte sie:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen &ndash; ich fühle mich stärker &ndash; es
+ist vorbei. Lassen sie mich jetzt Alles wissen &ndash; o verhehlen
+Sie mir nichts &ndash; ich <em class="gesperrt">muß</em> es ja erfahren
+und dann habe auch ich Ihnen ein Geständniß abzulegen.
+&ndash; Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen.
+Zürnen sie mir nicht, meiner Heftigkeit wegen.«</p>
+
+<p>»Oh, daß ich Ihnen beweisen könnte, wie innigen
+Antheil ich an Ihrem Schicksal nehme,« rief Mr.
+Burton bewegt aus.</p>
+
+<p>»Und wo ist ihr Begleiter jetzt?« frug die junge
+<a class="pagenum" name="page_193" title="193"> </a>
+Frau, die noch immer halb von seinem Arm gehalten
+wurde.</p>
+
+<p>»Ich weiß es nicht,« sagte Mr. Burton mit einer
+gewissen Genugthuung, ihr darauf keine bestimmte
+Antwort geben zu können. »Er folgt jenem Grafen
+Kornikoff, um sich sicher zu stellen, ob er es in diesem
+mit dem vermutheten Kornik zu thun hat. Nun aber
+sagen sie auch mir, dear Madam &ndash; wie kommen Sie
+in die Gesellschaft jenes Mannes? &ndash; wie lernten
+Sie ihn kennen, und hatten Sie keine Ahnung, daß
+er ein Betrüger sei?«</p>
+
+<p>»Ich kann es mir <em class="gesperrt">jetzt</em> noch nicht denken,« rief
+die Unglückliche &ndash; »es ist nicht möglich &ndash; er hätte
+ja, <em class="gesperrt">wenn</em> es wahr wäre, ein tausendfaches Verbrechen
+an mir selber verübt. O lassen Sie mich noch
+an seine Unschuld glauben.«</p>
+
+<p>»Wie gern wollte ich Sie in dieser Täuschung
+lassen,« sagte Mr. Burton, »aber ich muß gestehen,
+daß viele, viele Umstände dagegen sprechen.«</p>
+
+<p>»Dann finden wir auch in seinem Koffer Aufschluß
+über das Vergehen,« rief da die Dame plötzlich,
+indem sie sich vom Sopha emporrichtete. »Er hat
+sein ganzes Gepäck zurückgelassen und nicht allein zu
+Ihrer, nein auch zu meiner Genugthuung muß ich
+<a class="pagenum" name="page_194" title="194"> </a>
+jetzt darauf bestehen, daß Sie es auf das Genaueste
+untersuchen.«</p>
+
+<p>Mr. Burton wollte sie davon zurückhalten, weil
+er nicht mit Unrecht fürchtete, daß sie sich dabei aufs
+neue zu sehr aufregen würde, aber sie bestand fest
+darauf und da ihm selber daran lag, das hinterlassene
+Eigenthum jenes Menschen nachzusehen, gab er endlich
+ihrem Wunsche nach. Vergebens aber durchsuchten
+sie jetzt den ganzen, ziemlich geräumigen Koffer;
+es fand sich nichts, was irgend einen Aufschluß hätte
+geben können. Ganz unten aber in der Ecke lag ein
+zusammengedrücktes Papier &ndash; ein altes Couvert, in
+das ein Paar alte Hemdknöpfchen und eine Westenschnalle
+eingewickelt waren, und auf dem Couvert
+stand die Adresse:</p>
+
+<p class="center"><i>W. Kornik Esqre<br />
+Care of Messrs. Burton &amp; Burton &ndash; London.</i></p>
+
+<p>Mr. Burton entfaltete das Couvert, las es, und
+reichte es dann schweigend, aber mit einem beredten
+Blick der Dame. Diese aber hatte kaum das Auge
+darauf geworfen, als sie mit leiser, entsetzter Stimme
+sagte:</p>
+
+<p>»Vater im Himmel! also doch,« und ihr Antlitz in
+ihren Händen bergend, stand sie wohl eine Minute
+still und schweigend und wie ineinandergebrochen.
+<a class="pagenum" name="page_195" title="195"> </a>
+Endlich richtete sie sich wieder empor, und dem jungen
+Mann noch einmal die Hand entgegenstreckend,
+sagte sie:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Mr. Burton &ndash; danke Ihnen
+recht von Herzen, daß Sie den Schleier gelüftet haben,
+der mich von einem Abgrund trennte. Wenn Sie
+aber jetzt Ihrer Güte gegen mich die Krone aufsetzen
+&ndash; wenn Sie mich für ewig verpflichten wollen, dann
+lassen Sie mich jetzt nur für <em class="gesperrt">eine</em> kurze Stunde
+allein, um mich zu sammeln. Ich kann jetzt nicht
+danken &ndash; ich bin es nicht im Stande &ndash; meine Glieder
+versagen mir den Dienst. In einer Stunde kommen
+Sie wieder zu mir, dann sollen Sie alles erfahren,
+was mich betrifft, und wir können dann vielleicht
+gemeinschaftlich berathen, was zu thun, wie Ihnen &ndash;
+wie mir zu helfen ist. Wollen Sie mir das versprechen?«</p>
+
+<p>»Madam,« sagte Mr. Burton mit tiefem Gefühl,
+und jetzt vollständig überzeugt, daß dies liebliche Wesen
+nie und nimmer eine Mitschuldige sein könne, &ndash;
+»Sie haben ganz über mich zu befehlen und was in
+meinen Kräften steht, mich Ihnen nützlich zu machen,
+soll gewiß geschehen. Fassen Sie Muth, und vor
+Allem, fassen Sie Vertrauen zu mir und ich hoffe, es
+soll noch alles gut werden. Ich lasse Sie jetzt allein &ndash;
+in einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen &ndash; vielleicht
+<a class="pagenum" name="page_196" title="196"> </a>
+ist auch bis dahin schon Nachricht über den Flüchtling
+eingetroffen. &ndash; Sorgen Sie nicht,« setzte er aber herzlich
+hinzu, als er dem wehmüthigen Blick begegnete,
+der auf ihm haftete. &ndash; »Sie haben einen <em class="gesperrt">Freund</em>
+gefunden.« &ndash; Und die Hand, die er noch immer in
+der seinen hielt, an seine Lippen pressend, durchrieselte
+es ihn ordentlich wie mit süßen Schauern,
+als er einen leisen Druck derselben zu fühlen glaubte.
+Aber er ließ sie los, verbeugte sich vor der jungen
+Dame ehrfurchtsvoll und stieg dann rasch in sein
+Zimmer hinauf, um die Erlebnisse der letzten Stunde
+noch einmal an seiner Erinnerung vorüberziehen zu
+lassen.</p>
+
+
+
+
+<h3>V.<br />
+
+<b>Die Verfolgung.</b></h3>
+
+
+<p>Hamilton warf sich an dem Morgen, nachdem er
+sechs verschiedene telegraphische Depeschen aufgegeben,
+in einer ganz verzweifelten Stimmung in sein Coupé,
+denn von dem zurückgekehrten Postillon hatte er erfahren,
+daß dieser den Passagier um 4 Uhr heute Morgen
+in <em class="gesperrt">Soden</em> vor der Post abgesetzt, und er konnte jetzt
+den Zug benutzen, um diesen Platz so rasch als möglich
+zu erreichen. Aber wieder und wieder machte er
+sich selber dabei die bittersten Vorwürfe, daß er die
+<a class="pagenum" name="page_197" title="197"> </a>
+Flucht des schon ganz sicher geglaubten Verbrechers
+nur seinem eigenen Leichtsinn, seiner eigenen bodenlosen
+Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
+Mr. Burton selber begegnet sei, <em class="gesperrt">mußte</em> er wissen,
+daß er sich verrathen sah und deshalb keinen Augenblick
+versäumen dürfe, um sich der ihm drohenden
+Gefahr zu entziehen. Und <em class="gesperrt">das</em> hatte er übersehen &ndash;
+er, der sich selber für so schlau und in seinem Fach
+geschickt gehalten &ndash; auf so plumpe Weise, nur durch
+die Geistesgegenwart des Diebes, der durch keine
+Bewegung verrathen, daß er seinen Verfolger erkannt
+habe, hatte er sich täuschen und überlisten lassen.</p>
+
+<p>Und wie war es jetzt möglich, in diesem Gewühl
+von Fremden einen einzelnen Menschen wieder ausfindig
+zu machen, der weiter nichts zu thun brauchte,
+als sich einen anderen Rock zu kaufen, die blaue Brille
+abzulegen, den schwarzen Schnurrbart zu rasiren,
+um aufs neue völlig unkenntlich zu sein; und daß er
+derartige Vorsicht <em class="gesperrt">nicht</em> versäumen würde, darüber
+durfte er kaum in Zweifel sein.</p>
+
+<p>Das Einzige, was ihn noch einigermaßen beruhigte,
+war, daß sie wenigstens die Dame unter sicherer
+Aufsicht hatten; denn es schien nicht wahrscheinlich,
+daß sich der Flüchtling so leicht und für immer
+von dem schönen, verführerischen Wesen getrennt
+<a class="pagenum" name="page_198" title="198"> </a>
+haben sollte, nur um sich selber in Sicherheit zu bringen.
+In irgend einer Verbindung mit ihr blieb er
+gewiß, oder suchte eine solche auf eine oder die andere
+Art wieder anzuknüpfen, und wenn dann Mr. Burton
+nur einigermaßen seine Schuldigkeit that, so lief er
+ihnen schon dadurch wieder ins Netz.</p>
+
+<p>Allerdings hätte Kornik die Dame schon recht
+gut in dieser Nacht entführen können &ndash; es wäre
+das eben so leicht gewesen als allein zu entfliehen, aber
+er mußte auch wissen, daß er den Verfolger dann
+dicht auf den Hacken gehabt hätte und so leicht er
+<em class="gesperrt">jetzt</em> hoffen konnte, ihn über die Richtung zu täuschen,
+die er genommen, so ganz unmöglich wäre das in der
+Begleitung seiner Frau gewesen, die seine Bewegung
+nicht allein hemmte, sondern auch eine viel breitere
+und leichter erkennbare Spur hinterließ. Schon mit
+all dem Gepäck wäre er nicht von der Stelle gekommen.</p>
+
+<p>Das alles aber machte es, je mehr er darüber
+nachdachte, nur soviel wahrscheinlicher, daß er Deutschland
+nicht schon verlassen habe. Nur aus dem Weg
+mußte er sich für kurze Zeit halten, und wo konnte
+er das besser thun, gerade in der Saison, als in
+irgend einem der zahllosen Seitenthäler des Rheins
+oder der benachbarten Gebirge, wo eine Unmasse von
+<a class="pagenum" name="page_199" title="199"> </a>
+Fremden herüber und hinüber strömte, und ein einzelner
+Mann völlig unbeachtet in der Menge verschwand.</p>
+
+<p>Aber trotzalledem gab Hamilton die Hoffnung
+nicht auf. Das gehetzte Wild hatte allerdings einen
+Vorsprung gewonnen, aber die Fährte war doch noch
+warm &ndash; es lag keine Nacht darauf und er selber war
+gerade der Mann dazu, ihr mit allem nur erdenkbaren
+Eifer zu folgen. Es stand ja auch nicht allein ein
+reicher Lohn auf dem Erfolg, nein, seine Ehre als
+Detective auf dem Spiel, den schon gehaltenen Verbrecher
+nicht wieder entschlüpfen zu lassen, und er
+gab sich selber das Wort, nicht Mühe nicht Kosten zu
+scheuen, um ihn wieder zurück zu bringen.</p>
+
+<p>In Soden angekommen erkundigte er sich aber
+vergebens auf dem Bahnhof nach einem Herrn, der
+nur irgend zu seiner Beschreibung paßte. Es war
+freilich auch nicht wahrscheinlich, daß er sich dort
+gezeigt habe, denn nach Frankfurt würde er nicht so
+rasch zurückkehren, aber Hamilton wollte sich von jetzt
+an keine Vorwürfe mehr machen, auch nur das Geringste
+versäumt zu haben. Einquartirt hatte sich der
+Herr aber dort <em class="gesperrt">nicht</em>, so viel lag außer Zweifel; mit
+dem Mustern der Gasthäuser brauchte er deshalb
+keine Zeit zu verlieren und das Wichtigste blieb, die
+<a class="pagenum" name="page_200" title="200"> </a>
+Straßen zu untersuchen, die von hier aus in die Berge
+und besonders nach dem Rhein zu führten.</p>
+
+<p>Das aber zeigte sich bald als ein sehr schwierig
+Stück Arbeit, denn es hielten sich viele Fremde in
+Soden auf, und bei dem wundervollen Wetter besuchte
+ein großer Theil derselben in früher Morgenstunde
+die benachbarten Berge. Wer wollte da den Einzelnen
+controlliren, der sich zwischen ihnen befunden
+hatte? Außerdem gab es eine Legion von Führern
+in dem Badeort, die sich theilweis unterwegs, oder
+da und dort einquartirt befanden; es wäre rein unmöglich
+gewesen, sie alle aufzusuchen und einzeln auszufragen.</p>
+
+<p>Hamilton ließ aber deshalb den Muth nicht sinken.
+Unermüdlich streifte er Straße auf, Straße ab
+und frug bald da, bald dort in den Häusern. Nur in
+einem, in dem letzten Häuschen, das auf dem Weg
+nach Königstein lag, hörte er, daß ein einzelner Herr
+dort sehr früh vorbeigegangen sei, ob er aber einen
+Schnurrbart gehabt oder eine blaue Brille und Gepäck
+getragen, wer sollte das jetzt noch wissen? Ein
+Führer hatte ihn nicht begleitet.</p>
+
+<p>Das war keine Spur und Hamilton wollte sich
+schon kopfschüttelnd abwenden, um in Soden erst
+etwas zu Mittag zu essen und dann seine Versuche zu
+<a class="pagenum" name="page_201" title="201"> </a>
+erneuern, als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
+hatte, sagte:</p>
+
+<p>»Ja, en Schnorres hat er schon gehat, un en
+Täschche aa ungerm Arm getrage.«</p>
+
+<p>»Einen Schnorres? was ist das?« frug Hamilton.</p>
+
+<p>»Nu Hoor unner der Nas,« sagte die Frau.</p>
+
+<p>»Ja un ganz schwarz war er« &ndash; sagte die Kleine.</p>
+
+<p>»So mein Kind,« sagte Hamilton, der sie aufmerksam
+betrachtete, »also ein Täschchen hat er unter
+dem Arm getragen? groß?«</p>
+
+<p>»Na &ndash; kleen &ndash; vun <em class="gesperrt">Ledder</em> &ndash; en hibsch
+Täschche.«</p>
+
+<p>»Und der ist dort hinaus zu gegangen?«</p>
+
+<p>Die Frau bestätigte das &ndash; eine Brille schien er
+aber nicht aufgehabt zu haben; das Kind wollte wenigstens
+nichts derartiges bemerkt haben und eine
+blaue Brille wäre ihm gewiß aufgefallen.</p>
+
+<p>Das war allerdings eine Spur, wenn auch nur
+eine außerordentlich schwache, Hamilton beschloß aber
+doch, ihr zu folgen und ohne weiter einen Moment
+Zeit zu verlieren, drückte er dem Kinde ein Geldstück
+in die Hand und eilte dann so rasch er konnte nach
+Soden wieder auf die Post, um dort Extrapost nach
+Königstein zu nehmen. Nur so viel Zeit gönnte er sich,
+um etwas zu essen und zu trinken, so lange die Pferde
+<a class="pagenum" name="page_202" title="202"> </a>
+angespannt wurden &ndash; dann ging es vorwärts, was
+die Thiere laufen konnten.</p>
+
+<p>In Königstein selber &ndash; denn unterwegs, so oft er
+sich auch nach dem Gesuchten erkundigte, erhielt er
+doch keine Auskunft &ndash; war die Nachforschung nicht
+so schwer. Es gab dort nur zwei halbwegs anständige
+Wirthshäuser und in dem einen erfuhr er denn auch,
+daß ein einzelner Herr mit einem sehr schwarzen
+Schnurrbart und etwas brauner Gesichtsfarbe da gefrühstückt
+habe, dann aber weiter <em class="gesperrt">gegangen</em> sei, ohne
+daß sich natürlich irgend Jemand um ihn bekümmert
+hätte. Eine lederne kleine Reisetasche mit Stahlbügel
+führte er bei sich, eine Geldtasche hatte er umhängen,
+und auch noch einen Riemen umgeschnallt gehabt
+&ndash; das wollte der Wirth deutlich gesehen haben &ndash;
+weiter wußte er nichts.</p>
+
+<p>»In was für Geld hat er seine Zeche bezahlt?«</p>
+
+<p>»In Gulden und Kreuzern &ndash; der Landesmünze.«</p>
+
+<p>Hamilton war nicht halb sicher, daß er wirklich
+auf der Spur des Gesuchten sei, aber was blieb ihm
+jetzt anderes übrig, als ihr, da er sie einmal aufgenommen,
+auch weiter zu folgen, er würde sich sonst
+immer wieder Vorwürfe gemacht haben, eine wahrscheinliche
+Bahn aufgegeben zu haben, um dafür wild
+und verloren in der Welt herumzusuchen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_203" title="203"> </a>
+Von hier aus schien der Flüchtling aber wirklich
+den Waldweg eingeschlagen zu haben, denn auf keiner
+Straße war er mehr gesehen worden, auch konnte er
+sich keinen Führer genommen haben, denn das hätte
+sich jedenfalls ausgesprochen. Wohin jetzt? Es war
+bald Abend, als Hamilton erschöpft in das Gasthaus
+zurückkehrte, wo er mit einer Flasche Wein und der
+Eisenbahnkarte vor sich, seinen weiteren Schlachtplan
+überlegte. Er fühlte dabei recht gut, daß er von jetzt
+an auf gut Glück weiter suchen müsse. Nur eine Andeutung
+seines zukünftigen Weges fand er in der
+Richtung, in welcher Königstein von Soden lag &ndash;
+direkt nach dem Lahnthal zu, und der beschloß er auch
+jetzt zu folgen. Allerdings mochte sich der Flüchtige
+rechts oder links abgewandt haben, um entweder
+Gießen oder den Rhein zu erreichen. Das letztere
+blieb aber immer das Wahrscheinlichste.</p>
+
+<p>Zu Fuß gedachte er aber die Tour nicht zu verfolgen,
+und er beschloß deshalb, hier zu übernachten,
+und am nächsten Morgen mit einem Einspänner, womöglich
+noch vor Tag, aufzubrechen. Dazu war es
+aber nöthig, noch heute Abend einen Wagen zu bestellen.
+Ein Mann wurde ihm da bezeichnet, der einen
+Einspänner zu vermiethen hätte. Zu dem ging er ungesäumt
+und erkundigte sich.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_204" title="204"> </a>
+»Ja, mein lieber Herr,« sagte dieser achselzuckend,
+»wenn Sie ein paar Stunden früher gekommen
+wären, so hätten Sie mit einem andern Herrn fahren
+können, der dieselbe Tour macht. Der hat aber
+meinen einzigen Einspänner mitgenommen. Das Pferd
+hätte Sie beide prächtig fortgebracht.«</p>
+
+<p>»Ein einzelner Herr?« frug Hamilton rasch,
+»heute Mittag?«</p>
+
+<p>»Jawohl &ndash; etwa um elf Uhr.«</p>
+
+<p>»Und wie sah er aus?«</p>
+
+<p>»Ja, lieber Gott, wie sah er aus &ndash; wie ein Berliner,
+mit einem schwarzen Schnurrbart und einer
+Reisetasche.«</p>
+
+<p>»Und haben Sie nicht einen zweispännigen
+Wagen?«</p>
+
+<p>»Thut mir leid &ndash; die Pferde sind jetzt alle
+draußen. Wenn Sie aber das dran wenden wollen,
+warum nehmen Sie nicht Postpferde?«</p>
+
+<p>»Ist denn eine Poststation hier im Ort? Ich
+hatte keine Ahnung davon, denn ich bin im Gasthaus
+vorgefahren.«</p>
+
+<p>»Ja gewiß, und die <em class="gesperrt">müssen</em> Ihnen Pferde
+schaffen.«</p>
+
+<p>Hamilton hörte nichts weiter und saß, kaum eine
+<a class="pagenum" name="page_205" title="205"> </a>
+Viertelstunde später wieder in seiner Extrapost. Jetzt
+zweifelte er auch keinen Augenblick mehr, daß er auf
+der richtigen Spur sei und versprach dem Postillon
+ein tüchtiges Trinkgeld, wenn er ordentlich zufahren
+würde.</p>
+
+<p>Auf der nächsten Station fand er aber seine
+Nachtfahrt schon unterbrochen. Die Wege kreuzten sich
+hier, und er <em class="gesperrt">durfte</em> nicht weiter fahren, aus Furcht,
+die falsche Straße einzuschlagen. Er mußte dort übernachten,
+aber schon vor Tag war er wieder auf, und
+wie er nun die Gewißheit erlangte, daß der Flüchtige
+die Straße nach Norden eingeschlagen, folgte er derselben
+mit Extrapost und versprach dem Postillon ein
+fürstliches Trinkgeld, wenn er den Gesuchten einholte,
+ehe er die Eisenbahn erreichte.</p>
+
+<p>Das wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn
+Kornik sich verfolgt gewußt und dann keine Zeit
+versäumt hätte. Er schien sich aber vollkommen sicher
+zu fühlen, denn als sie nach Camburg kamen, hörten
+sie daß er dort geschlafen hätte und ziemlich spät
+Morgens wieder aufgebrochen sei.</p>
+
+<p>Jetzt galt es, ihm den Vorsprung abzugewinnen
+und näher und näher rückten sie auch hinan, bis sie
+dicht vor Limburg einem rückreitenden Postillon begegneten,
+der ihnen sagte, daß sie die Extrapost voraus
+<a class="pagenum" name="page_206" title="206"> </a>
+vielleicht noch vor der Stadt einholen könnten, wenn
+sie die Pferde nicht schonten.</p>
+
+<p>Und wahrlich sie schonten die Pferde nicht, was
+sie laufen konnten, liefen sie. Aber nach der Bahn zu
+führte der Weg steil thalab, der unglückselige Wagen
+hatte keinen Hemmschuh und mußte mit der Kette
+eingelegt werden; zu rasch <em class="gesperrt">durfte</em> er da nicht fahren,
+wenn er nicht riskiren wollte ein Rad zu brechen.
+Als sie endlich Limburg dicht vor sich sahen, war die
+verfolgte Extrapost nirgend zu erkennen, wohl aber
+pfiff gerade der von Gießen kommende Zug in den
+Bahnhof ein, und hielt dort gerade lang genug, daß
+ihn Hamilton, als er mit seinen, ordentlich mit Schaum
+bedeckten Thieren heranrasselte, konnte wieder davonkeuchen
+sehen. &ndash; Er war zu spät gekommen.</p>
+
+
+
+
+<h3>VI.<br />
+
+<b>Im Kursaal.</b></h3>
+
+
+<p>Es war ein verzweifelter Moment, aber Hamilton
+nicht der Mann, sich dadurch beirren zu lassen.
+Daß Kornik <em class="gesperrt">diesen</em> Zug benutzt hatte, daran zweifelte
+er keinen Augenblick, sowie er nur auf dem
+Bahnhof anfuhr und ihn nicht traf. Zum Ueberfluß
+fanden sie aber auch noch die Extrapost, die ihn hierher
+gebracht, und der Postillon derselben bestätigte,
+<a class="pagenum" name="page_207" title="207"> </a>
+daß der Herr, den er gefahren, mit dem letzten Zug
+»nach dem Rhein« abgegangen sei.</p>
+
+<p>Es war 5 Uhr 55 &ndash; der nächste Zug ging 6 Uhr
+30 &ndash; also noch eine halbe Stunde Zeit. Hamilton
+fuhr mit seinem Wagen gleich vor dem Polizeigebäude
+vor, die Herrn hatten es sich aber schon bequem
+gemacht, und er fand nur noch einen Aktuar,
+der Schriftstücke in einer Privatsache durchsah.</p>
+
+<p>Glücklicherweise schien dies ein ziemlich intelligenter
+Mann, der seinen Bericht aufmerksam anhörte.
+Als er ihn beendigt hatte, sagte er:</p>
+
+<p>»Mein lieber Herr &ndash; dieser Zug, der eben Limburg
+verlassen hat, geht allerdings heute Abend noch
+nach Coblenz, aber ich weiß nicht, ob der Herr, dem
+Sie nachsetzen, gerade ein Interresse daran haben
+kann, Coblenz diese Nacht zu erreichen. Er kann
+natürlich nicht ahnen, daß Sie ihm so dicht auf den
+Fersen sitzen &ndash; vorausgesetzt nämlich, daß es wirklich
+der Richtige ist, und wenn Sie <em class="gesperrt">meinem</em> Rath
+folgen wollen, so thun Sie, was ich Ihnen jetzt sage.
+Fahren Sie mit dem nächsten Zug nach Ems &ndash; nicht
+weiter &ndash; besuchen Sie dort heute Abend &ndash; mit
+jeder nöthigen Vorsicht natürlich, den Spielsaal, und
+finden Sie dann &ndash; was ich aber bezweifele &ndash; Ihren
+Mann <em class="gesperrt">nicht</em>, dann nehmen Sie heute Abend noch in
+<a class="pagenum" name="page_208" title="208"> </a>
+Ems einen Wagen, den Sie für Geld überall bekommen
+können, fahren direkt nach Coblenz, und passen
+morgen früh an den Bahnzügen auf. Ich wenigstens,
+wenn ich an Ihrer Stelle einen solchen Patron zu verfolgen
+hätte, würde genau so handeln, und wenn ich
+nicht sehr irre, gut dabei fahren.«</p>
+
+<p>»Ems ist nassauisch, nicht wahr?« frug Hamilton.</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte der Aktuar.</p>
+
+<p>»Könnten Sie dann,« fuhr Hamilton fort, indem
+er seine Legitimationspapiere aus der Tasche holte,
+»mir auf Grundlage dieser Schriftstücke einen Verhaftsbefehl
+für das betreffende Individuum ausstellen?«</p>
+
+<p>Der Aktuar sah die Papiere, bei denen sich eine
+in Hamburg beglaubigte Uebersetzung befand, aufmerksam
+durch und sagte dann lächelnd:</p>
+
+<p>»Eigentlich, und nach unserem gewöhnlichen Gerichtsverfahren
+würde die Sache mehr Umstände
+machen, und nicht so rasch beseitigt werden können,
+unter den obwaltenden Verhältnissen aber denke ich,
+daß ich die Verantwortlichkeit auf mich nehmen kann.
+Sie <em class="gesperrt">müssen</em> mit dem nächsten Zug fort, wenn Sie
+den Gesuchten nicht versäumen wollen. Setzen Sie
+sich einen Augenblick; ich denke, wir können das alles
+noch in Ordnung bringen.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_209" title="209"> </a>
+Der alte Aktuar war ein wahres Juwel. Hamilton
+hätte sich an keinen besseren Menschen wenden können.
+In kaum zehn Minuten hatte er einen Verhaftsbefehl
+für die Nassauischen Lande gegen jenen Mr. Kornik ausgestellt.
+Und nicht einmal einen Kreuzer mehr als die
+üblichen und nicht zu vermeidenden Sporteln wollte er
+dafür nehmen, und wie gern hätte ihm der junge
+Mann seine Arbeit zehn- und zwanzigfach bezahlt!</p>
+
+<p>Jetzt war alles in Ordnung &ndash; Hamilton beschloß,
+den ihm gegebenen Rath gewissenhaft zu befolgen,
+und dem alten Herrn auf das herzlichste dankend,
+eilte er so rasch er konnte nach dem Bahnhof zurück.</p>
+
+<p>Seine Zeit war ihm auch nur eben knapp genug
+zugemessen; kaum hatte er dort sein Billet gelöst, so
+wurde der Zug schon signalirt; zehn Minuten später
+braußte er heran, hielt, nahm seine wenigen Passagiere
+auf und keuchte in ruheloser Hast weiter, das freundliche
+Lahnthal hinab.</p>
+
+<p>Aber Hamilton hatte kein Auge für die liebliche
+Scenerie, die ihn umgab &ndash; so war er in seine eigenen
+Gedanken vertieft, daß er ordentlich emporschrak als
+sie in den ersten Tunnel eintauchten. Nur das Bild
+des Flüchtigen schwebte vor seiner Seele, und selbst
+daß er Schlaf und Ruhe entbehrt hatte, um diesen zu
+erreichen und einzuholen, fühlte er nicht. Der Zug
+<a class="pagenum" name="page_210" title="210"> </a>
+flog mit reißender Schnelle dahin, aber ihm kam es
+noch immer vor, als ob er in seinem Leben nicht so
+langsam gefahren wäre. Jetzt glitten sie an den grünen
+Hängen des freundlichen Thales dahin &ndash; jetzt wieder
+öffnete der Berg seinen Schlund, um sie in seine
+düstere Tiefe aufzunehmen, und aufs neue schossen sie
+hinaus in den dämmernden Abend. Aber Hamiltons
+Augen schienen für das alles keine Sehkraft zu haben,
+so theilnahmlos, so unbewußt selbst streifte sein Blick
+darüber hin, bis endlich der schrille Pfiff der Locomotive
+die Nähe der Station Ems anzeigte und eine
+Masse Spaziergänger, Herren zu Fuß und Damen
+und Kinder auf Eseln, in der unmittelbaren Nähe
+der Bahn sichtbar wurden. Es war spät geworden
+und die Leute eilten jetzt nach Haus, denn so heiß die
+Tage auch sein mochten, die Nächte blieben kühl und
+frisch genug.</p>
+
+<p>Aber diese kümmerten den Polizeimann nicht, der
+recht gut wußte, daß der, den <em class="gesperrt">er</em> suchte, sich nicht
+unter ihnen befand, selbst <em class="gesperrt">wenn</em> es noch hell genug
+gewesen wäre, einzelne Physiognomien der da draußen
+Wandernden zu erkennen, an denen sich nur die
+lichten Kleider unterscheiden ließen.</p>
+
+<p>Der Zug hielt, aber selbst jetzt noch war Hamilton
+einen Augenblick unschlüssig, ob er nicht lieber sitzen
+<a class="pagenum" name="page_211" title="211"> </a>
+bleiben und bis nach Oberlahnstein und Coblenz mitfahren
+solle; denn ließ es sich denken, daß der Flüchtige
+gerade hier ausgestiegen sei? Derartige Menschen sind
+allerdings furchtbar leichtsinnig, und der alte Aktuar
+hatte am Ende doch Recht gehabt, wenn er ihm rieth,
+die Spielbank jedenfalls einmal ein Paar Stunden zu
+besuchen. Verloren war immer kaum viel Zeit dabei,
+denn kam er jetzt auch nach Coblenz, so mußte er doch
+die Nacht dort liegen bleiben, um bei dem Abgang des
+ersten Morgen-Zuges erst am Bahnhof zu sein. Er
+folgte also dem Rath des alten Mannes, stieg aus
+und ging in das dicht am Bahnhof gelegene Hotel
+zum Guttenberg, um dort erst etwas andere Toilette
+zu machen. Er wollte sich nämlich nicht der Gefahr
+aussetzen, daß er von dem schlauen Verbrecher zuerst
+erkannt würde, denn er zweifelte keinen Augenblick
+daran, daß Kornik ihn an jenem Abend eben so gut
+bemerkt habe, wie seinen Begleiter Burton, und ihm
+deshalb jetzt eben so rasch ausweichen würde, wie
+jenem.</p>
+
+<p>In seiner Tasche trug er einen leichten hellen
+Sommerrock, den zog er an, setzte eine hellgrüne
+Brille auf und borgte sich noch außerdem vom Kellner
+einen Cylinderhut. Mit dieser ganz geringen Veränderung
+seiner Toilette, die er dadurch vervollständigte,
+<a class="pagenum" name="page_212" title="212"> </a>
+daß er ein weißes Halstuch statt seines bisher getragenen
+schwarzen nahm, fühlte er sich ziemlich sicher,
+wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick erkannt
+zu werden. Kornik hatte ihn ja überhaupt nur die
+kurze Zeit im Coupé gesehen, und ihn dabei keineswegs
+seiner Beachtung so besonders werth gehalten.
+Dann aß er etwas und hielt es nun an der Zeit, das
+jetzt besonders frequentirte Kurhaus zu besuchen.</p>
+
+<p>Es war indessen völlig Nacht geworden; unterwegs
+traf er nur noch einzelne Leute, die vom Kurhaus
+weg über die Brücke in ihre am andern Ufer liegende
+Quartiere gingen, das Kurhaus selber aber war noch
+hell und brillant erleuchtet und auch in der That der
+einzige Platz in dem ganzen Badeort, den man Abends
+besuchen konnte und wo man Gesellschaft fand. Die
+anderen zahllosen Hotels schienen nur zum Essen zu
+dienen, denn in ihren Sälen versetzten riesige Tische,
+deren Zwischenraum vollständig mit Stühlen ausgefüllt
+war, jeden nur einigermaßen möglichen Platz.
+Man konnte sich in keinen von ihnen wohnlich fühlen.</p>
+
+<p>Das Kurhaus dagegen vereinigte alles, was sich
+von Pracht und Eleganz nur denken ließ &ndash; ein reichhaltiges
+Lesezimmer mit bequemen Fauteuils, einen
+prachtvollen Saal zu Concerten oder Spiel- und Tanzplätzen
+der Kinder und Damen, und dann den unheilvollen
+<a class="pagenum" name="page_213" title="213"> </a>
+Magnet für die Spieler, die grünen Tische,
+von denen der verführerische Klang des Metalls in
+alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte,
+und seine Opfer erbarmungslos an- und nachher
+auszog.</p>
+
+<p>Es ist eine Schmach für Deutschland, daß wir
+noch diese vergoldeten Schandhöhlen in unseren Gauen
+dulden &ndash; es ist eine doppelte Schmach für die Regierungen,
+die sie begünstigen und gestatten, und alle die
+Opfer, die jährlich fallen, müssen einst auf ihren
+Seelen brennen.</p>
+
+<p>Napoleon&nbsp;III. hat die Spielhöllen aus seinem
+Reich verbannt, und die Spieler damit über die
+Grenzen getrieben. Geschah das aber nur deshalb,
+daß sie in <em class="gesperrt">Deutschland</em> ihre gesetzliche Aufnahme
+finden sollten? und müssen wir nicht vor Scham erröthen,
+wenn wir dieses französische Unwesen mit französischen
+Marken und Marqueuren im Herzen unseres
+Vaterlandes eingenistet finden? Aber es <em class="gesperrt">ist</em> so. Trotz
+der gerechten Entrüstung, die allgemein darüber
+herrscht, müssen wir jetzt geschehen lassen, daß andere
+Nationen die Achseln darüber zucken und uns bedauern
+oder &ndash; verachten, <em class="gesperrt">müssen</em> wir es geschehen lassen,
+sage ich, denn</p>
+
+<div class="poetry">
+ <a class="pagenum" name="page_214" title="214"> </a>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse">»wollten wir alle zusammen schmeißen</div>
+ <div class="verse">wir könnten sie doch nicht Lügner heißen.«</div>
+ </div>
+</div>
+
+<p>Wenn wir es denn aber trotz allem und allem
+unter unseren Augen so frech fortgeführt sehen, so
+gehört es sich, daß sich jeder <em class="gesperrt">rechtliche</em> Mann
+wenigstens dagegen verwahrt, diese Schandbuden gut
+zu heißen. Das Ausland möge erfahren, daß die
+<em class="gesperrt">deutsche Nation</em> unschuldig ist an diesem Werk, und
+keinen Silberling von dem Blutgeld verlangt, das es
+einzelnen Fürsten einbringen mag. Hammerschlag
+auf Hammerschlag folge auf das Gewissen der Vertreter
+deutscher Nation, bis sie endlich wach gerüttelt
+werden &ndash; sie sollen sich wenigstens nicht beklagen
+dürfen, daß man sie nicht geweckt hätte.</p>
+
+<p>Hamilton dachte freilich an nichts derartiges, als
+er das hell erleuchtete Portal betrat, an welchem ein
+gallonirter Portier und ein sehr einfach gekleideter
+Polizeidiener &ndash; zur Wache, daß das heilige Spiel
+nicht etwa gestört würde &ndash; auf Posten standen. Der
+Portier wollte übrigens Schwierigkeiten machen, als
+er Hamiltons hellen Rock sah &ndash; er schien ihm für die
+Spielhölle nicht anständig genug gekleidet, aber neben
+ihm schritt eine bis auf den halben Busen decoltirte
+Französin frech vorüber, welcher der Lakai eine tiefe,
+ehrfurchtsvolle Verbeugung machte. Hamilton wußte
+<a class="pagenum" name="page_215" title="215"> </a>
+indessen, welchen Zauber in einem solchen Fall ein
+Guldenstück ausüben würde, und der augenblicklich
+zahm gewordene Portier schmunzelte auch so vergnügt
+darüber hinweg, daß seinem Eintritt nichts weiter im
+Wege stand.</p>
+
+<p>Wenige Secunden später befand er sich, von dem
+jetzt dienstbaren Geist willig geleitet, im Lesecabinet,
+aus dem eine Thür unmittelbar in den großen Spielsaal
+führte.</p>
+
+<p>Dort saßen nur ihm vollkommen fremde Menschen,
+ein langbeiniger Engländer, der gewissenhaft
+die Times durcharbeitete, ein kleiner beweglicher
+Franzose, der über dem Charivari schmunzelte, und
+ein Paar andere Badegäste, die gleichgültig und aus
+Langeweile die verschiedenen continentalen Zeitungen
+durchblätterten.</p>
+
+<p>Er hielt sich dort nicht auf und öffnete die Thür,
+die in den Spielsalon führte, aber anfangs nur halb,
+um erst einen Ueberblick über die verschiedenen Gestalten
+zu gewinnen, und nicht früher gesehen zu werden,
+als er selber sah. Aber es hätte dieser Vorsicht
+nicht einmal bedurft, denn die dort Befindlichen hatten
+nur Ohr für den monotonen Ruf des Croupiers, nur
+Auge für den grünen Tisch, und die darauf genähten
+bunten Lappen. Wer kümmerte sich von allen denen
+<a class="pagenum" name="page_216" title="216"> </a>
+um den einzelnen Fremden, wenn er nicht selber als
+stark Spielender &ndash; mit Glück oder Unglück blieb sich
+gleich &ndash; ihr Interesse für einen Augenblick in Anspruch
+nahm.</p>
+
+<p>Hamilton trat an die Spieler dicht hinan, um die
+einzelnen Gesichter derselben mustern zu können &ndash;
+aber er fand kein bekanntes darunter. Es war ein
+buntes Gemisch von leidenschaftlich erregten, abstoßenden
+Physiognomien, unter denen sich nur hie und da
+die kalten speculirenden Züge alter abgefeimter, und
+ruhig ihre Zeit abwartender Spieler, auszeichneten.
+Auch viele »Damen« standen dicht von den Uebrigen
+gedrängt am Tisch, wenn solche Frauenzimmer den
+Namen von Damen überhaupt verdienen. Eine von
+diesen saß sogar neben dem Croupier &ndash; es war der
+Lockvogel der Gesellschaft, ein junges, üppiges Weib,
+tief decoltirt, mit dunklen vollen Locken und reichem
+Brillantschmuck; andere drängten, jede Weiblichkeit
+bei Seite lassend, zwischen die ihnen nur unwillig
+Raum gebenden Zuschauer hinein, um ihr Geld in
+wilder Hast auf eine Nummer zu schieben.</p>
+
+<p>Hamiltons Blick streifte gleichgültig darüber hin,
+und wie er sich langsam selber um den Tisch bewegte,
+entging kein irgendwo eingeschobener Kopf seinem
+forschendem Auge. Da hörte er auch in einem kleineren
+<a class="pagenum" name="page_217" title="217"> </a>
+Nebenzimmer das Klimpern des Geldes und die
+monotonen Worte: »<i>le jeu est fait</i>« &ndash; denen lautlose
+Stille folgte, und wollte eben auch jenes Gemach
+betreten, als er wie festgewurzelt auf der Schwelle
+blieb, denn <em class="gesperrt">dort</em> stand Kornik &ndash; bleich wohl jetzt, von
+der Erregung des Spiels, und mit gierigem Blick an
+der abgezogenen Karte hängend &ndash; aber unverkennbar
+derselbe, mit dem er an jenem Tag gefahren. Er
+hatte es auch nicht einmal für nöthig gehalten, den
+verrätherischen Schnurrbart abzurasiren, oder sein
+Haar anders zu tragen, er mußte sich heute Abend
+hier vollkommen sicher fühlen. Nur die blaue Brille
+fehlte.</p>
+
+<p>Im ersten Moment fürchtete Hamilton fast sich
+zu bewegen, daß nicht der Blick des Verbrechers ihn
+vor der Zeit traf. Aber es war das eine vollkommen
+nutzlose Angst, denn der <em class="gesperrt">Spieler</em> hatte nur Augen
+für die vor ihm abgezogenen Karten &ndash; weiter existirte
+in diesem Moment keine Welt für ihn. Vorsichtig zog
+sich der Polizeiagent deshalb wieder zurück, bis er sich
+im Nebenzimmer gedeckt wußte, schritt dann durch den
+Saal und auf den dort stationirten Polizeidiener zu.</p>
+
+<p>Mit wenigen Worten machte er diesem auch begreiflich
+was er wollte &ndash; derartige kleine Zwischenfälle
+kamen gar nicht etwa so selten in diesen Spielhöllen
+<a class="pagenum" name="page_218" title="218"> </a>
+vor &ndash; und überraschte dabei den Portier auf
+das angenehmste, indem er ihm zwei große Silberstücke
+&ndash; er sah gar nicht nach, was &ndash; in die Hand
+drückte, mit dem Auftrag, so rasch als irgend möglich
+Polizeimannschaft zur Hülfe herbeizuholen. Die befand
+sich übrigens stets in der Nähe. Ein verzweifelter
+Spieler hatte sich wohl schon dann und wann einmal,
+zum Letzten und Aeußersten getrieben, an der
+heiligen Kasse selber vergriffen und nachher sein Heil
+in rascher Flucht gesucht, und dagegen mußten die
+Herren freilich geschützt werden. Wenn auch ein
+<em class="gesperrt">Raub</em>, war das Geld doch ein <em class="gesperrt">gesetzlich</em> gewonnener,
+und die Regierung fühlte sich verpflichtet, dessen
+Schutz zu überwachen.</p>
+
+<p>Hamilton traute indessen seinem Mann da drinnen
+noch lange nicht genug, um ihn länger, als unumgänglich
+nöthig war, sich selber zu überlassen; er
+war ihm damals in Frankfurt auf zu schlaue Weise
+durch die Finger geschlüpft, während er ihn eben so
+sicher geglaubt wie gerade jetzt. Aber er selber kannte
+die Leidenschaft des Spiels noch viel zu wenig, um zu
+wissen, daß er in diesem einen viel sicheren Bundesgenossen
+hatte, als in einem schönen Weibe, und als
+er in Begleitung des Polizeidieners jenes Zimmer wieder
+betrat, stand Kornik noch eben so fest und regungslos,
+<a class="pagenum" name="page_219" title="219"> </a>
+eben so nur in dem einen Gedanken der Karten absorbirt,
+an seinem Tisch, wie er ihn vorhin verlassen.</p>
+
+<p>Der Polizeibeamte übereilte sich aber jetzt nicht
+im geringsten. Er wußte, daß ihm sein Opfer nicht
+mehr entgehen konnte, und hielt es für viel gerathener,
+den Herrn nicht früher zu beunruhigen, als er der
+herbeigerufenen Hilfe sicher war. Nur seine grüne
+Brille nahm er ab.</p>
+
+<p>»Welcher ist es denn?« flüsterte ihm der dicht
+hinter ihm gehende Polizeidiener zu. Hamilton machte
+eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand und
+trat dann, von jenem gefolgt, an Kornik hinan. Er
+stand jetzt so nahe bei ihm, daß seine Schulter die des
+Polen berührte, der aber nicht daran dachte, auch nur
+den Kopf nach ihm umzudrehen.</p>
+
+<p>Jetzt hatte derselbe gerade gewonnen; es standen
+vielleicht 40 oder 50 Louisd'or auf dem grünen Tisch &ndash;
+er ließ den Satz stehen, die Karten fielen und der Croupier
+zog mit seiner hölzernen Schaufel das Gold ein.</p>
+
+<p>Mit einem leisen, zwischen den Lippen gemurmelten
+Fluch schob sich Kornik seine Geldtasche vor, um
+wahrscheinlich neue Summen auf die trügerischen
+Blätter zu setzen, als er eine Hand auf seiner Schulter
+fühlte und Hamilton mit ruhiger, aber absichtlich
+lauter Stimme sagte:</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_220" title="220"> </a>
+»Sie sind mein Gefangener, im Namen der
+Königin.«</p>
+
+<p>Der Pole wandte ihm jetzt rasch und erschreckt sein
+Antlitz zu und Leichenblässe deckte im Nu seine Züge,
+als er das nur zu wohl gemerkte Gesicht des Mannes
+aus Frankfurt neben sich sah. Aber auch nicht für
+ein Moment verlor er seine Geistesgegenwart, und dem
+Blick desselben kalt und ruhig begegnend, sagte er:</p>
+
+<p>»Das Spiel hat Ihnen wohl den Verstand verwirrt
+&ndash; stören Sie mich nicht,« und in die Geldtasche
+greifend, wollte er, ohne den Fremden weiter zu
+beachten, sich wieder über den Tisch beugen, als sich
+Hamilton aber, seiner Sache zu gewiß, an den Polizeidiener
+wandte und sagte:</p>
+
+<p>»Verhaften Sie den Herrn &ndash; ich werde Sie
+augenblicklich auf das Bureau begleiten.«</p>
+
+<p>»Keine Störung hier, meine Herren, wenn ich
+bitten darf,« rief plötzlich ein kleines hageres Männchen,
+das schon bei den ersten Worten an den Spieltisch
+getreten war. »Wenn Sie etwas mit einander
+auszumachen haben, ersuche ich Sie, in ein Nebenzimmer
+zu treten.«</p>
+
+<p>»Ich werde <em class="gesperrt">Sie</em> nicht um Erlaubniß fragen,
+wenn ich Ihre Wirthschaft hier für einen Augenblick
+unterbreche,« sagte Hamilton trotzig &ndash; »ich habe
+<a class="pagenum" name="page_221" title="221"> </a>
+ein Recht diesen Mann zu verhaften, wo ich ihn finde.«</p>
+
+<p>»Dann führen Sie ihn ab, Polizeidiener,« sagte
+der Kleine in seinem braunen Rock ruhig &ndash; »oder ich
+mache Sie für jede Unordnung hier verantwortlich.«</p>
+
+<p>»Ich habe mit den Herrn nichts zu thun,« rief
+der Pole trotzig, »was wollen Sie von mir? &ndash; lassen
+Sie mich los.«</p>
+
+<p>Eine Anzahl von Menschen sammelte sich um die
+beiden, und die Spieler zogen ihr Geld ein, weil sie
+vielleicht einen Kampf und dadurch die Sicherheit
+ihrer Bank gefährdet fürchteten, denn es gab leider
+eine Menge von Menschen, die das dort aufgethürmte
+Geld für <em class="gesperrt">gestohlen</em> hielten, und sich wenig Gewissen
+daraus gemacht hätten, es fortzuraffen.</p>
+
+<p>»Bitte, meine Herren, gehen Sie in ein Nebenzimmer,«
+drängte aber jetzt nochmals der kleine Braune,
+»Sie sind dort vollkommen ungestört &ndash; Jean, Bertrand
+hierher &ndash; sorgen Sie für Ordnung.«</p>
+
+<p>Der Pole warf den Blick umher; er sah sich
+augenscheinlich nach einem Weg zur Flucht um, aber
+Hamiltons Hand hatte seinen Arm wie eine Schraube
+gefaßt und der Polizeiagent sagte mit leiser, aber
+drohender Stimme:</p>
+
+<p>»Es hilft Ihnen nichts. Flucht ist für Sie unmöglich.
+<a class="pagenum" name="page_222" title="222"> </a>
+Sie sind mein Gefangener; ergeben Sie
+sich gutwillig, Sie haben keinen Ausweg mehr, und
+Wiederstand kann Ihre Lage nur verschlimmern.«</p>
+
+<p>Es war einen Augenblick, als ob sich der Pole
+den drohenden Worten nicht fügen wolle, und fast unwillkürlich
+zuckte er mit der Hand empor. Aber ein
+umhergeworfener Blick mußte ihn überzeugen, daß er
+mit Gewalt nichts ausrichten könne, denn eine Menge
+von Neugierigen, die sich im benachbarten Salon
+umhergetrieben, hörten kaum die in einem Spielsaal
+ganz ungewohnten, lauten Stimmen, als sie hereindrängten,
+und den einzigen Ausgang vollständig verstopften.</p>
+
+<p>Der eine Blick genügte, und verächtlich lächelnd
+aber mit voller Ruhe sagte der Mann:</p>
+
+<p>»Hier herrscht jedenfalls ein Irrthum. Ich bin
+Graf Kornikoff, hier ist mein russischer Paß, und ich
+stelle mich damit unter den Schutz unseres Gesandten.
+Nassau ist mit dem russischen Thron verwandt und
+wird dessen Unterthanen nicht ungestraft beleidigen
+lassen.«</p>
+
+<p>Mit den Worten nahm er ein Papier aus seiner
+Brusttasche und hielt es Hamilton vor.</p>
+
+<p>»Es kann sein,« sagte dieser, »daß Ihr Paß in
+Ordnung ist. Die gefährlichsten Charaktere haben
+<a class="pagenum" name="page_223" title="223"> </a>
+gewöhnlich die besten Pässe. In dem Falle werden
+Sie sich aber um so weniger weigern mir zu folgen,
+da ich bereit bin, Ihnen vollständige Genugthuung
+zu geben, wenn ich Sie ohne hinreichenden Grund
+verhaftet habe. Die Herren hier werden mir aber
+zugeben, daß man, auch selbst mit einem guten Paß
+versehen, doch stehlen kann, und auf die Klage eines
+Diebstahls verhafte ich Sie hiermit.«</p>
+
+<p>»Gut denn, führen Sie ihn fort und übernehmen
+dabei die Verantwortung für alle Folgen,« sagte der
+kleine Herr mit dem braunen Rock ungeduldig &ndash;
+»aber Sie sehen doch ein, daß Sie hier das Spiel
+und Vergnügen völlig dabei unbetheiligter Herren
+und Damen nicht länger stören dürfen. Herr Polizeicommissar,
+ich bitte Sie, daß Sie diesem Unfug
+ein Ende machen, oder ich werde mich morgen ernstlich
+bei der Behörde deshalb beklagen.«</p>
+
+<p>Der Polizeicommissar war in der That herbeigekommen,
+und Hamilton, der ihn an seiner Uniform
+erkannte, frug ihn leise:</p>
+
+<p>»Wer ist denn dieser kleine Tyrann?«</p>
+
+<p>»Einer der Spielpächter,« sagte der Mann mit
+einem verächtlichen Blick auf den Braunen, und
+setzte dann laut hinzu, »beklagen Sie sich bei wem
+Sie wollen, Monsieur, Sie werden uns aber hier
+<a class="pagenum" name="page_224" title="224"> </a>
+wohl noch erlauben, unsere Schuldigkeit zu thun,
+selbst <em class="gesperrt">wenn</em> Ihre achtbare Gesellschaft einen Augenblick
+gestört werden solle. Und Sie, mein Herr,«
+wandte er sich an den Gefangenen, »folgen Sie uns
+jetzt auf das Bureau &ndash; ich werde die Sache dort
+untersuchen.«</p>
+
+<p>»Sie werden mir bezeugen, daß ich nicht den geringsten
+Wiederstand geleistet habe,« sagte der Pole
+ruhig &ndash; »kommen Sie, meine Herren. Ich wünsche
+noch an dem Spiel hier Theil zu nehmen, und je
+eher wir diese fatale Sache beendigen, desto besser.«</p>
+
+<p>Damit wandte er sich entschlossen dem Ausgang
+zu &ndash; die Leute gaben ihm Raum und wenige Secunden
+später standen sie am Ausgang des Kurhauses.</p>
+
+<p>»Es wäre besser, wir legten ihm Handschellen an,«
+sagte Hamilton, sich zu dem Polizeicommissar überbiegend.</p>
+
+<p>»Er kann uns hier nicht entschlüpfen,« erwiederte
+dieser kopfschüttelnd &ndash; »und ich möchte keine Gewaltmaßregeln
+gebrauchen, bis ich die Sache näher untersucht
+habe.«</p>
+
+<p>Der Pole schritt ruhig und festen Schrittes zwischen
+zwei Polizisten dahin &ndash; dicht hinter ihm folgte
+Hamilton mit dem Commissar, und eine Anzahl von
+Neugierigen schloß sich dem Zuge an, um zu sehen,
+<a class="pagenum" name="page_225" title="225"> </a>
+was die Sache für ein Ende nähme. So schritten sie
+langsam durch den Kurgarten dem kleinen viereckigen
+Regierungsgebäude zu, das dicht an der Brücke liegt,
+und der Gefangene schien selber nichts sehnlicheres zu
+wünschen, als diese Scene bald zu Ende gebracht zu
+sehen.</p>
+
+<p>»Haben wir noch weit?« frug er einen der ihn
+escortirenden Leute.</p>
+
+<p>»Oh bewahre,« sagte dieser, indem er mit dem
+ausgestreckten Arm auf das vor ihnen liegende Gebäude
+zeigte, »das ist das Haus.« In demselben Moment
+stieß er aber auch einen Schrei aus, denn ein schwerer
+Schlag, jedenfalls mit einem sogenannten »<i>life preserver</i>«
+geführt, schmetterte ihn bewußtlos zu Boden,
+während der Gefangene mit flüchtigen Sätzen über
+die schmale Brücke hinüber eilte.</p>
+
+<p>Aber er hatte flüchtigere Füße hinter sich. Wie
+ein Tiger auf seine Beute, so schoß Hamilton hinter
+ihm drein, und noch ehe er das Ende der Brücke erreichte,
+streckte er schon den Arm aus, um ihn am
+Kragen zu packen. Da wandte sich der zur Verzweiflung
+getriebene Verbrecher, und einen Revolver vorreißend,
+drückte er ihn gerade auf die Brust seines
+Verfolgers ab.</p>
+
+<p>Hamilton wäre verloren gewesen, aber zu seinem
+<a class="pagenum" name="page_226" title="226"> </a>
+Glück versagte die Schußwaffe, und ehe Kornik zum
+zweiten Male abdrücken konnte, schmetterte ihn der
+Schlag des Polizeimanns zu Boden. Aber selbst
+damit begnügte sich dieser nicht, und mit einer ganz
+außerordentlichen Gewandtheit faßte er ihm beide
+Hände, legte sie zusammen und wenige Secunden
+später knackten die vortrefflichen Darbies oder Handschellen
+in ihr Schloß und er wußte jetzt, daß er seinen
+Gefangenen sicher hatte.</p>
+
+<p>»Alle Wetter,« sagte der nachkeuchende Polizeicommissar,
+»das war doch gut, daß Sie schneller laufen
+konnten.«</p>
+
+<p>»Wenn Sie <em class="gesperrt">meinem</em> Rath gefolgt wären, konnte
+uns das erspart werden,« meinte Hamilton finster,
+»denn ich verdanke mein Leben jetzt nur einem schlechten
+Zündhütchen.«</p>
+
+<p>»Er hat schießen wollen?«</p>
+
+<p>»Dort liegt der Revolver &ndash; Sie sehen, daß Sie
+es hier mit einem gefährlichen Verbrecher zu thun
+haben.«</p>
+
+<p>»Da wollen wir ihn doch lieber binden.«</p>
+
+<p>»Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter &ndash; er ist
+fest und sicher. Sein Sie nur so gut und lassen ihn
+jetzt durch Ihre Leute in festen Gewahrsam bringen.«</p>
+
+
+
+
+<h3>VII.<a class="pagenum" name="page_227" title="227"> </a><br />
+
+<b>Die gerettete Unschuld.</b></h3>
+
+
+<p>Mr. Burton befand sich an dem Morgen in einer
+fast fieberhaften Aufregung, denn wie er schon lange
+jeden Glauben an die Mitschuld des armen &ndash; oh so
+wunderbar schönen Weibes abgeschüttelt hatte, gingen
+ihm andere Pläne wild und wirr durch den Kopf.
+Immer aufs neue malte er sich den Augenblick aus,
+wo er sie in seinem Arm gehalten, wo seine Lippen
+zum ersten Mal in Angst und Liebe die ihrigen
+berührt, und nur der Gedanke quälte ihn noch, in
+welchem Verhältniß sie zu dem unwürdigen Menschen
+gestanden haben, wie sie mit ihm bekannt werden
+konnte. Hatte er sie unter seinem falschen Namen
+getäuscht? &ndash; ihrer Familie heimlich vielleicht entführt?
+&ndash; alle ihre Klagen schienen darauf hinzudeuten, wie
+verworfen mußte er dann &ndash; wie elend sie, die arme
+Unschuldige, Verrathene sein? und war es da nicht
+seine Pflicht, &ndash; wo er wenn auch selber unschuldiger
+Weise, all diesen Jammer über sie gebracht &ndash; ihr
+auch wieder zu helfen so gut er konnte? Er schien
+fest entschlossen, und von dem Augenblick an fühlte er
+sich auch wieder ruhiger und zufriedener.</p>
+
+<p>James Burton, kaum zum Mannesalter herangereift,
+<a class="pagenum" name="page_228" title="228"> </a>
+war ein seelensguter Mensch mit weichem, für
+alles Gute und Schöne leicht empfänglichem Herzen.
+Er hatte dabei &ndash; in den glücklichsten und unabhängigsten
+Verhältnissen erzogen &ndash; noch nie Gelegenheit
+bekommen, den Täuschungen und Wiederwärtigkeiten
+des Lebens zu begegnen. Weil er selber gut und ohne
+Falsch war, hielt er alle Menschen für eben so
+rechtlich und brav, und selbst an Korniks Schuld
+hatte er so lange nicht glauben mögen, bis auch der
+letzte Zweifel zur Unmöglichkeit wurde. Wie leicht
+vertraute er da diesen lieben treuen Augen &ndash; wie
+glücklich fühlte er sich selbst, daß es <em class="gesperrt">ihm</em> verstattet
+gewesen, jenem holden Wesen den Schmerz und die
+furchtbare Seelenqual erspart zu haben, von dem
+zwar geschickten und tüchtigen, aber auch vollkommen
+rücksichtslosen Polizeimann examinirt zu werden. Er
+schämte sich jetzt fast vor sich selber, daß er ihr auch
+nur verstattet hatte, ihren Koffer auszupacken &ndash; wie
+niedrig mußte sie von ihm denken! &ndash; aber er war ja
+auch gar nicht im Stande gewesen, sie daran zu verhindern,
+so leidenschaftlich erregt zeigte sie sich nur
+bei der Möglichkeit eines Verdachts. Aber natürlich
+&ndash; wenn er <em class="gesperrt">sich</em> in <em class="gesperrt">ihre</em> Stelle dachte, würde er
+genau so gehandelt haben.</p>
+
+<p>Die Stunde, die sie erbeten hatte, um sich nur
+<a class="pagenum" name="page_229" title="229"> </a>
+von den ersten furchtbaren Eindrücken der über sie hereingebrochenen
+Catastrophe zu sammeln, verging ihm
+in diesen Gedanken rascher, als er es selbst geglaubt.
+Gewissenhaft aber bis zur letzten Minute ausharrend,
+stieg er dann wieder zu ihr hinab, klopfte leise an,
+und sah sich dem zauberischen Wesen noch einmal
+gegenüber.</p>
+
+<p>Zeit zum Aufräumen schien sie allerdings noch
+nicht gefunden zu haben, denn die umhergestreuten
+Sachen der beiden Koffer lagen noch immer so wild
+und wirr durch einander, wie er sie verlassen hatte.
+Aber wer mochte ihr das verdenken? Auch in ihrem
+leichten, reizenden Morgenanzug war sie noch; &ndash;
+wenn unsere Seele zerrissen ist, wie können wir da an
+den Körper denken?</p>
+
+<p>Trotzdem schien sie sich gesammelt zu haben. Sie
+sah etwas bleich aus, aber sie war ruhiger geworden,
+und dem Eintretenden lächelnd die Hand entgegenstreckend,
+sagte sie herzlich:</p>
+
+<p>»Oh wie danke ich Ihnen, daß Sie, um den ich
+es wahrlich nicht verdient habe, mir diese zarte
+Rücksicht gezeigt. In dem Gedanken fand ich auch
+allein meinen Trost, daß Gott mich doch noch nicht
+verlassen haben könnte, da er <em class="gesperrt">Sie</em> mir zugeführt.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_230" title="230"> </a>
+»Verehrte &ndash; <em class="gesperrt">liebe</em> Frau,« sagte Burton bewegt,
+»sein Sie unbesorgt. Wenn auch in einem fremden
+Lande, steht Ihnen doch jetzt ein Landsmann zur Seite,
+und ich habe mir nur erlaubt, Sie jetzt noch einmal
+zu stören, um mit Ihnen gemeinschaftlich zu berathen,
+welche Schritte wir am besten thun können, um &ndash;
+das Geschehene gerade nicht ungeschehen zu machen,
+das ist nicht möglich, aber Sie doch jedenfalls aus
+einer Lage zu befreien, die Ihrer unwürdig ist. Um
+mir das zu erleichtern, muß ich Sie aber bitten, mir
+Ihr <em class="gesperrt">volles</em> Vertrauen zu schenken. Nur dann bin ich
+im Stande die Maßregeln zu ergreifen, die für Sie
+die zweckmäßigsten sein würden. Daß es dabei nicht
+an meinem guten Willen fehlt, davon können Sie sich
+versichert halten.«</p>
+
+<p>»Mein <em class="gesperrt">volles</em> Vertrauen soll Ihnen werden,«
+sagte die junge Frau, leicht erröthend &ndash; »aber bitte,
+setzen Sie sich zu mir, Sie sollen alles erfahren &ndash;
+und nun,« fuhr sie fort, während sich Burton neben
+ihr auf dem Canapé niederließ, indem sie ihre Hand
+auf seinen Arm legte &ndash; »erzählen Sie mir vorher
+ausführlich, wie Sie dem Verbrecher auf die Spur
+gekommen sind, und welche Hoffnung Sie jetzt haben,
+ihn seiner Strafe zu überliefern. Es ist das Einzige
+jetzt, worauf ich hoffen kann, daß sein Geständniß
+<a class="pagenum" name="page_231" title="231"> </a>
+Ihnen beweisen muß, wie doppelt nichtswürdig er an
+mir selber dabei gehandelt.«</p>
+
+<p>»Aber, verehrte Frau,« sagte Burton etwas verlegen
+&ndash; »schon vorher theilte ich Ihnen alles mit,
+und der Eindruck, den die traurige Erzählung auf
+Sie machte&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Vorher,« sagte die junge Frau &ndash; »und in der
+entsetzlichen Aufregung, in der ich mich befand, tönten
+die Worte nur wie Donnerschläge an mein Ohr &ndash;
+ich begriff wohl ihre Furchtbarkeit, aber nicht ihren
+Sinn und vieles ist mir dabei unklar geblieben &ndash;
+besonders, welche Spur Sie <em class="gesperrt">jetzt</em> von dem Verbrecher
+haben, daß Sie hoffen können ihn einzuholen, und
+wer der Herr ist, der ihn verfolgt.«</p>
+
+<p>Der Bitte, während <em class="gesperrt">diese</em> Augen so treu und
+vertrauend in die seinen schauten, konnte Burton
+nicht wiederstehen. Es war ihm dabei sogar Bedürfniß
+geworden, sich &ndash; ihr gegenüber &ndash; seines bisherigen
+eigenen Verhaltens wegen zu rechtfertigen,
+wobei er hervorhob, daß er mit der Verfolgung der
+Dame eigentlich gar nichts zu thun und Lady Clive
+im Leben nicht gesprochen habe, noch persönlich kenne.
+Auch von dem Schmuck selber wußte er nichts, als
+was ihm Hamilton darüber beiläufig mitgetheilt.</p>
+
+<p>»Und jetzt?« frug die junge Dame weiter, die der
+<a class="pagenum" name="page_232" title="232"> </a>
+Erzählung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt
+war &ndash; »wo jener Betrüger &ndash; dem Gott verzeihen
+möge, was er an mir gethan, und wie er mich
+<em class="gesperrt">doppelt</em> verrathen hat &ndash; wo jener Betrüger geflohen ist,
+haben Sie noch Hoffnung, ihn wieder zu ereilen?«</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte Burton &ndash; »Mr. Hamilton,
+mein Begleiter, ist einer der schlauesten und gewandtesten
+Detectivs Englands. Er spricht drei oder vier
+verschiedene fremde Sprachen, und hat schon daheim
+die scheinbar unmöglichsten Dinge ausgeführt. Dieser
+Kornik hatte außerdem viel zu kurzen Vorsprung, um
+mich nicht fest glauben zu machen, daß ihn Hamilton
+ereilt, da er noch dazu die unbegreifliche Unvorsichtigkeit
+beging, von hier mit Extrapost zu fliehen. Wir
+finden das aber so oft im Leben, daß schlechte Menschen
+irgend ein Verbrechen mit der größten und raffinirtesten
+Schlauheit ausführen, und jede Kleinigkeit,
+jeden möglichen Zufall dabei berücksichtigen, und
+nachher, wenn ihnen alles nach Wunsch geglückt, sich
+selber auf die plumpste Weise dabei verrathen.«</p>
+
+<p>»Aber ehe er ihn eingeholt hat, kehrt er nicht
+hierher zurück?«</p>
+
+<p>»Ich glaube kaum,« sagte Mr. Burton, »doch
+fehlt mir darüber jede Gewißheit. Er wird mir unter
+allen Umständen in der nächsten Zeit schon telegraphiren,
+<a class="pagenum" name="page_233" title="233"> </a>
+denn ich habe ihm versprechen müssen, hier zu
+bleiben, bis er zurückkehrt.«</p>
+
+<p>»Und glauben Sie, daß er den Verbrecher, wenn
+er ihn einholen sollte &ndash; mit hierher bringt?«</p>
+
+<p>»Ich zweifle kaum &ndash; aber auch darüber bin ich
+nicht im Stande, Ihnen eine bestimmte Auskunft zu
+geben. Nur davon dürfen wir überzeugt sein, daß Mr.
+Hamilton alles in der praktischsten Weise ausführen
+wird, denn er versteht sein Fach aus dem Grunde.
+<em class="gesperrt">Hat</em> er die Spur gefunden, so ist Mr. Kornik auch
+verloren.«</p>
+
+<p>Es schien fast, als ob die junge Dame um einen
+Schatten bleicher wurde &ndash; und wer konnte es ihr
+verdenken, daß ihr die Erinnerung an den Mann, der
+sie so furchtbar hintergangen, entsetzlich war? Endlich
+sagte sie leise:</p>
+
+<p>»Wenn sich das alles bestätigt, was Sie mir erzählt,
+verehrter Herr &ndash; und ich kann kaum mehr
+daran zweifeln, dann <em class="gesperrt">verdient</em> er die Strafe, die ihn
+erreichen wird, im vollem Maße. Aber wie er auch
+<em class="gesperrt">Ihr</em> Haus betrogen und hintergangen haben mag, es
+ist nichts im Vergleich mit dem, was er an mir und
+meinem zukünftigen Leben verbrochen.«</p>
+
+<p>»Aber wie konnte er Sie so lange täuschen?« frug
+Burton und erröthete dabei fast selber über die Frage.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_234" title="234"> </a>
+»Du lieber Gott,« seufzte die Unglückliche &ndash;
+»was weiß ein armes unerfahrenes Mädchen von der
+Welt? Er kam in meiner Eltern Haus, in das ihn
+zuerst mein Bruder eingeführt &ndash; es mögen jetzt zwei
+Monate sein &ndash; und sein offenes, heiteres Wesen
+gewann ihm mein Herz &ndash; sein angemaßter Rang
+schmeichelte meiner Eitelkeit. Er erzählte mir dabei
+von seinen Gütern in Polen, und wie glücklich &ndash; wie
+selig ihn mein Besitz machen würde, und ich &ndash; war
+schwach genug, es ihm zu glauben. Aber mein Vater
+verweigerte seine Einwilligung. Er kannte die Menschen
+besser, als seine thörichte Jenny. Er verlangte
+von Kornikoff den Ausweis eines hinreichenden Vermögens
+sowohl, wie die Erlaubniß seiner eigenen
+Eltern zu unserer Verbindung, und dieser, ungeduldig
+und stürmisch, drang in mich, mit ihm zu fliehen.«</p>
+
+<p>Jenny barg beschämt ihr Antlitz in ihren Händen
+und James Burton hörte der Erzählung mit einiger
+Verlegenheit schweigend zu. Er hätte das liebliche
+Wesen so gern getröstet, aber es fielen ihm in diesem
+Augenblick um die Welt keine passenden Worte dafür
+ein und es entstand dadurch eine kurze peinliche Pause.
+Endlich fuhr die junge Frau, aber jetzt tief erröthend,
+fort:</p>
+
+<p>»Schon unterwegs fing ich an, an dem Charakter
+<a class="pagenum" name="page_235" title="235"> </a>
+meines Bräutigams zu zweifeln. Wir entkamen glücklich
+auf einem Dampfer, der nach Hamburg bestimmt
+war, und er hatte mir versprochen, daß jenes Fahrzeug
+in Helgoland anlegen würde, wo wir uns trauen
+lassen könnten &ndash; aber es legte nicht an, und in Hamburg,
+wo er ausging, um einen Geistlichen zu suchen,
+wie er sagte, kehrte er ebenfalls unverrichteter Sache
+zurück, versicherte mich aber, er habe bestimmt gehört,
+daß wir hier in Frankfurt &ndash; einer freien deutschen
+Stadt &ndash; unser Ziel leicht erreichen könnten. Ich
+folgte ihm auch hierher &ndash; immer noch als Braut &ndash;
+nicht als Gattin« &ndash; setzte sie mit leiser, kaum hörbarer
+Stimme hinzu &ndash; »und ich danke jetzt Gott, daß
+ich standhaft blieb und meinem guten Engel mehr
+folgte als jenem Teufel.«</p>
+
+<p>Es wäre unmöglich, die Gefühle zu schildern, die
+James Burtons Seele bei dieser einfachen und doch
+so ergreifenden Erzählung bestürmten; sein Herz schlug
+hörbar in der Brust, und fast seiner selbst unbewußt,
+ergriff er mit zitterndem Arm die Hand seiner Nachbarin,
+die sie ihm willenlos überließ.</p>
+
+<p>»Gott sei Dank,« flüsterte er endlich mit bewegter
+Stimme &ndash; »so brauche ich mir auch länger keine
+Vorwürfe zu machen, denn unser Erscheinen hier war
+ja dann nur zu Ihrem Heil.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_236" title="236"> </a>
+»<em class="gesperrt">Ihnen</em> verdanke ich meine Rettung,« sagte da
+Jenny herzlich, und wie sie sich halb dabei zu ihm überbog,
+umfaßte er mit seinem Arm die bebende Gestalt des
+Mädchens. Aber nicht einmal auf ihre Stirn wagte
+er einen Kuß zu drücken, aus Furcht sie zu beleidigen,
+und sich gewaltsam aufrichtend, rief er leidenschaftlich
+bewegt aus:</p>
+
+<p>»Dann ist auch noch alles, alles gut. Trocknen
+Sie Ihre Thränen, mein liebes, liebes Fräulein &ndash;
+die Versöhnung mit Ihren Eltern übernehme ich &ndash;
+übernimmt mein Vater, Sie kehren zu ihnen zurück
+und die Erinnerung an das Vergangene soll eine
+fröhliche Zukunft Sie vergessen machen.«</p>
+
+<p>»Und auch Sie wollen nach England zurück?«
+frug rasch die junge Fremde.</p>
+
+<p>»Gewiß,« rief Burton &ndash; »sobald ich nur Nachricht
+von Hamilton habe. Aber noch heute schreibe
+ich nach Haus &ndash; wie heißen Ihre Eltern, mein bestes
+Fräulein &ndash; was ist Ihr Vater? Halten Sie diese
+Fragen nicht für bloße Neugierde; es giebt keinen
+Menschen auf der Welt, der jetzt ein innigeres Interesse
+an Ihnen nähme, als ich selber.«</p>
+
+<p>»Mein Vater,« sagte Jenny leise, »ist Geistlicher,
+der Reverend Benthouse in Islington. Vielleicht ist
+Ihnen der Name bekannt. Er hat viel geschrieben.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_237" title="237"> </a>
+»Das nicht,« sagte Hamilton erröthend, »denn ich
+muß leider zu meiner Schande bekennen, daß ich mich
+bis jetzt, und in jugendlichem Leichtsinn weniger mit
+einer religiösen Lectüre befaßt habe, als ich vielleicht
+gesollt &ndash; aber erlauben Sie, daß ich mir den Namen
+notire &ndash; und jetzt,« sagte er, als er sein Taschenbuch
+wieder einsteckte, »verlasse ich Sie. Wir dürfen den
+müßigen Leuten hier im Hotel Nichts zu reden geben
+&ndash; schon Ihrer selbst wegen, aber Sie sollen von nun
+an auch nicht mehr allein sein. Ich werde augenblicklich
+ein Kammermädchen für Sie engagiren, die
+Ihnen zugleich Gesellschaft leisten kann. Junge Mädchen,
+der englischen Sprache mächtig, sind gewiß
+genug in Frankfurt aufzutreiben; der Wirth kann
+mir da jedenfalls Auskunft geben. Keine Widerrede,
+Miß,« setzte er lächelnd hinzu, als sie sich &ndash; wie es
+schien mit dem Plan nicht ganz einverstanden zeigte
+&ndash; »Sie stehen von nun an, bis ich Sie Ihren Eltern
+wieder zurückführen kann, unter <em class="gesperrt">meinem</em> Schutz,
+und da müssen Sie sich schon eine kleine Tyrannei
+gefallen lassen.«</p>
+
+<p>»Aber wie kann ich Ihnen das, was Sie jetzt an
+mir thun, nur je im Leben wieder danken,« sagte das
+junge Mädchen gerührt &ndash; »womit habe ich das alles
+verdient?«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_238" title="238"> </a>
+»Durch Ihr Unglück,« erwiederte Burton herzlich,
+indem er ihre Hand an seine Lippen hob, und
+wenige Minuten später fand er sich schon unten mit
+dem Wirth in eifrigem Gespräch, um eine passende
+und anständige Person herbeizuschaffen.</p>
+
+<p>Das ging auch in der That weit rascher, als er
+selber vermuthet hatte. Ganz unmittelbar in der
+Nähe des Hotels wohnte ein junges Mädchen, die
+schon einige Jahre in England zugebracht und &ndash; wenn
+sie sich auch nicht auf längere Zeit binden konnte,
+doch gern erbötig war, die Stelle einer Gesellschafterin
+für kurze Zeit zu übernehmen. Mr. Burton führte
+sie selber der jungen Dame zu, und Elisa zeigte sich
+als ein so liebenswürdiges, einfaches Wesen, daß ein
+Zurückweisen derselben zur Unmöglichkeit wurde.</p>
+
+
+
+
+<h3>VIII.<br />
+
+<b>Hamiltons Rückkehr.</b></h3>
+
+
+<p>Den übrigen Theil des Tages verbrachte James
+Burton in einer unbeschreiblichen Unruhe, denn immer
+und immer war es ihm, als wenn er bei seiner jungen
+Schutzbefohlenen nachfragen müsse, ob ihr nichts
+fehle, ob sie nicht noch irgend einen Wunsch habe, den
+er ihr befriedigen könne, und ordentlich mit Gewalt
+<a class="pagenum" name="page_239" title="239"> </a>
+mußte er sich davon zurückhalten, sie nicht weiter zu
+belästigen.</p>
+
+<p>Am allerliebsten hätte er auch in der Stadt eine
+Unmasse von Sachen für sie eingekauft, um sie zu
+zerstreuen oder ihr eine Freude zu machen. Aber das
+ging doch unmöglich an, denn das hätte jedenfalls ihr
+Zartgefühl verletzt &ndash; er durfte es nicht wagen. Eine
+ordentliche Beruhigung gewährte es ihm aber, zu
+wissen, daß das arme verlassene Wesen jetzt jemand habe,
+gegen den es sich aussprechen konnte, und er begnügte
+sich an dem Tage nur einfach damit, die Hälfte der
+Zeit vollkommen nutzlose Fensterpromenade zu machen,
+denn es ließ sich dort niemand blicken, und die andere
+Hälfte unten im Haus und auf der Treppe auf und
+ab zu laufen, um wenigstens ihre Thür anzusehen.</p>
+
+<p>Wenn er es sich auch noch nicht gestehen wollte,
+so war er doch bis über die Ohren in seine reizende
+Landsmännin verliebt.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen war er allerdings zu früher
+Stunde wieder auf, aber erst um zwölf Uhr
+wagte er es, sich zu erkundigen, wie Miß Benthouse
+geschlafen hätte.</p>
+
+<p>Sie empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln,
+aber &ndash; sie sah nicht so wohl aus wie gestern. Ihre
+Wangen waren bleicher, ihre Augen zeigten, wenn
+<a class="pagenum" name="page_240" title="240"> </a>
+auch nur leicht schattirte Ringe &ndash; sie schien auch zerstreut
+und unruhig und Burton, voller Zartgefühl,
+glaubte darin nur eine Andeutung zu finden, daß sie
+allein zu sein wünsche und empfahl sich bald wieder.
+Vorher aber frug sie ihn noch, ob er keine Nachricht
+von Mr. Hamilton erhalten habe, was er verneinen
+mußte.</p>
+
+<p>Jetzt aber, mit der Furcht, daß sie erkranken könne
+&ndash; und nach all den letzten furchtbaren Aufregungen
+schien das wahrlich kein Wunder &ndash; wich er fast gar
+nicht mehr von ihrer Schwelle, und der Portier selber,
+der eigentlich alles wissen soll, wußte nicht aus
+dem wunderlichen Fremden klug zu werden.</p>
+
+<p>Dieser ruhte auch nicht eher, bis er gegen Abend
+die neue Gesellschafterin einmal auf dem Gange traf,
+um sie nach dem Befinden der jungen Dame zu
+fragen.</p>
+
+<p>»Sie scheint ungemein aufgeregt,« lautete die
+Antwort derselben &ndash; »sie hat keinen Augenblick Ruhe,
+und wohl zehn Mal schon gesucht mich fortzuschicken,
+um allein zu sein. Sie ist jedenfalls recht leidend und
+ich werde eine unruhige Nacht mit ihr haben.«</p>
+
+<p>»Mein liebes Fräulein,« sagte Burton, dadurch
+nur noch viel mehr beunruhigt &ndash; »ich bitte Sie recht
+dringend, sie nicht einen Augenblick außer Acht zu
+<a class="pagenum" name="page_241" title="241"> </a>
+lassen. Stoßen Sie sich nicht an das geringe Salär,
+was Sie gefordert haben, es wird mir eine Freude
+sein, Ihnen jede Mühe nach meinen Kräften zu vergüten.«</p>
+
+<p>»Ich thue ja gern schon von selber, was in meinen
+Kräften steht,« sagte das junge Mädchen freundlich
+&ndash; »die Dame wird gewiß mit mir zufrieden sein.
+Verlassen Sie sich auf mich &ndash; ich werde treulich
+über sie wachen.«</p>
+
+<p>So verging der Abend und nur noch einmal
+schickte Miß Benthouse zu Mr. Burton hinüber, um
+zu hören, ob er noch keine Nachricht bekommen habe.
+Er mußte es wieder verneinen und wäre gern noch
+einmal zu ihr geeilt, aber Elisa sagte ihm, daß sich die
+junge Dame aufs Bett gelegt hätte, um besser ruhen
+zu können, und er durfte sie da nicht stören.</p>
+
+<p>Es war zwölf Uhr geworden, und er wollte sich
+eben zu Bett begeben, als es an seiner Thür pochte.
+Er öffnete rasch, denn er fürchtete eine Botschaft, daß
+sich Jennys Krankheitszustand verschlimmert hätte,
+aber es war nur der Diener des Telegraphenamtes,
+der ihm &ndash; unter dem Namen, mit dem er sich in das
+Fremdenbuch eingetragen &ndash; eine Depesche brachte.
+Sie mußte von Hamilton sein.</p>
+
+<p>Er hatte sich nicht geirrt. Sie enthielt die wenigen,
+<a class="pagenum" name="page_242" title="242"> </a>
+aber freilich gewichtigen Worte, von Ems aus
+datirt:</p>
+
+<p>»Ich habe ihn &ndash; morgen früh komme ich &ndash;
+Hamilton.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank,« rief Burton jubelnd aus, »jetzt
+nehmen die Leiden dieses armen Mädchens bald ein
+Ende.«</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen ließ er sich schon in aller
+Frühe erkundigen, wie Miss Benthouse geschlafen
+hätte &ndash; sie schlief noch, und Elise kam selber heraus,
+um ihm das zu sagen. Gern hätte er sie auch jetzt die
+Nachricht wissen lassen, die er noch gestern Nacht durch
+den Telegraphen bekommen, aber er fürchtete, das
+durch eine Fremde zu thun &ndash; er wollte es ihr lieber
+selbst sagen, wenn er sie um zwölf Uhr wieder besuchte.</p>
+
+<p>Um die Zeit bis dahin zu vertreiben, frühstückte
+er unten und las die Zeitungen.</p>
+
+<p>So war endlich die lang ersehnte Stunde herangerückt,
+und unzählige Mal hatte er schon nach der
+Uhr gesehen. Er war in sein Zimmer gegangen, um
+noch vorher Toilette zu machen und wollte eben hinuntergehen,
+als es stark an seine Thür pochte, und auf
+sein lautes »<i>Walk in</i>« &ndash; diese sich öffnete und <em class="gesperrt">Hamilton</em>
+auf der Schwelle stand.</p>
+
+<p>»<i>Well Sir</i>,« lachte dieser, »<i>how are you?</i>«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_243" title="243"> </a>
+»Mr. Hamilton,« rief Burton, fast ein wenig bestürzt
+über die so plötzliche Erscheinung des Mannes.
+»Schon wieder zurück? &ndash; das ist fabelhaft schnell gegangen.«</p>
+
+<p>»So? beim Himmel! Sie machen gerade ein Gesicht,
+Sir, als ob es Ihnen zu schnell gegangen wäre,«
+lächelte Hamilton. »Aber ich habe wirklich Glück
+gehabt &ndash; die Einzelheiten erzähle ich Ihnen jedoch
+später und nur für jetzt so viel, daß ich ihn in Ems
+beim Spiel erwischte und ihn dort auch fest und sicher
+sitzen habe. Mit Ausnahme von etwa zweitausend Pfund,
+die er verreist oder verspielt, oder zum Theil
+auch wohl hier seiner Donna zurückgelassen hat,
+fand sich noch alles Geld glücklich bei ihm, was jetzt
+unter Siegel bei den Gerichten deponirt ist &ndash; Apropos
+&ndash; die Dame haben Sie doch noch hier?«</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte Burton etwas verlegen, »aber
+Mr. Hamilton, mit der Dame&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Machen wir natürlich keine Umstände,« unterbrach
+ihn Hamilton gleichgültig, »und schaffen sie einfach
+nach England zurück. Dort mögen die Gerichte
+dann das saubere Pärchen confrontiren. Mr. Burton,
+ich gebe Ihnen mein Wort, ich wäre meines Lebens
+nie wieder froh geworden, wenn ich diesen Hauptlump,
+diesen Kornik nicht erwischt hätte. Haben Sie
+<a class="pagenum" name="page_244" title="244"> </a>
+denn indessen bei der Person hier etwas gefunden, und
+hat sie nicht auch etwa Lust gezeigt, durchzubrennen?«</p>
+
+<p>»Mein lieber Mr. Hamilton,« sagte Burton jetzt
+noch verlegener als vorher &ndash; »ich habe &ndash; während
+Sie abwesend waren, eine Entdeckung anderer Art
+gemacht, die als ziemlich sicher feststellt, daß die &ndash;
+junge Dame an der ganzen Sache vollkommen unschuldig
+ist.«</p>
+
+<p>»Sie befindet sich doch noch hier im Hotel und in
+Nr. 7?« frug Hamilton rasch und fast wie erschreckt.</p>
+
+<p>»Allerdings,« bestätigte Burton, »aber nicht als
+Gefangene. Miss Jenny Benthouse ist die Tochter
+eines englischen Geistlichen &ndash; ihr Vater wohnt in
+Islington &ndash; sie wurde von jenem Burschen unter
+seinem falschen Namen und unzähligen Lügen entführt,
+und ich &ndash; werde sie jetzt ihren Eltern zurückgeben.«</p>
+
+<p>»So?« sagte Hamilton, der dem kurzen Bericht
+aufmerksam zugehört hatte, während es aber wie ein
+verstecktes Lächeln um seine Lippen zuckte &ndash; »aber
+bitte entschuldigen Sie einen Augenblick, ich bin gleich
+wieder bei Ihnen. Apropos, Sie haben so vollständige
+Toilette gemacht. Wollten Sie ausgehen?«</p>
+
+<p>»Nein &ndash; auf keinen Fall eher wenigstens, als bis
+wir uns über diesen Punkt verständigt haben.«</p>
+
+<p>»Gut, dann bin ich gleich wieder da« &ndash; und mit
+<a class="pagenum" name="page_245" title="245"> </a>
+den Worten glitt er zur Thür hinaus und unten in
+den Thorweg, wo ein Paar Lohndiener standen.</p>
+
+<p>»Sind Sie beschäftigt?« redete er den einen an.</p>
+
+<p>»Ich stehe vollkommen zu Befehl.«</p>
+
+<p>»Schön &ndash; dann haben Sie die Güte und bleiben
+Sie bis auf weiteres in der ersten Etage, wo Sie Nr.
+7 und 6 scharf im Auge behalten. Sollte dort eine
+Dame <em class="gesperrt">ausgehen</em> wollen &ndash; Sie verstehen mich &ndash; so
+rufen Sie mich, so rasch Sie möglicher Weise können,
+von Nr. 26 ab. Sie haben doch begriffen, was ich von
+Ihnen verlange?«</p>
+
+<p>»Vollkommen.«</p>
+
+<p>»Gut &ndash; es soll Ihr Schade nicht sein &ndash; der
+Portier unten braucht übrigens nichts davon zu wissen
+&ndash; und indessen schicken Sie mir einmal einen Kellner
+mit einer Flasche Sherry und zwei Gläsern und
+einigen guten Cigarren auf Nr. 26.«</p>
+
+<p>Mit den Worten stieg er selber wieder die Treppe
+hinauf, horchte einen Augenblick an Nr. 7, wo er zu
+seinem Erstaunen Stimmen vernahm, und kehrte dann
+zu Mr. Burton zurück, der mit untergeschlagenen
+Armen, und offenbar sehr aufgeregt, in seinem Zimmer
+auf und ab ging.</p>
+
+<p>»Unsere junge Dame da unten scheint Besuch zu
+<a class="pagenum" name="page_246" title="246"> </a>
+haben,« sagte er &ndash; »ich hörte wenigstens eben
+Stimmen in ihrem Zimmer.«</p>
+
+<p>»Bitte, setzen Sie sich, Mr. Hamilton,« bat ihn James
+Burton, »wir müssen über diese Sache, die das höchste
+Zartgefühl erfordert, erst ins Klare kommen, nachher
+ist alles andere, was wir zu thun haben, Kleinigkeit.«</p>
+
+<p>»Sehr gut,« sagte Hamilton &ndash; »ah, da kommt
+auch schon der Wein. Bitte, setzen Sie nur dorthin.
+Mr. Burton, Sie müssen mich entschuldigen, aber ich
+habe unterwegs solch nichtswürdiges Zeug von Cigarren
+bekommen, daß ich eine ordentliche Sehnsucht nach
+einem guten Blatt fühle &ndash; nehmen Sie nicht auch
+eine? &ndash; und ein Glas Wein thut mir ebenfalls
+Noth, denn ich habe die ganze Nacht keine drei Stunden
+geschlafen und überhaupt eine abscheuliche Tour
+gehabt.«</p>
+
+<p>»Und wie erwischten Sie diesen Kornik?«</p>
+
+<p>»Das alles nachher &ndash; jetzt bitte erzählen Sie
+mir einmal vor allen Dingen, welche wichtige Entdeckung
+Sie hier indeß gemacht haben,« und mit den
+Worten setzte er sich bequem in einem der Fauteuils
+zurecht, zündete seine Cigarre an und sippte an seinem
+Wein.</p>
+
+<p>Mr. Burton nahm ebenfalls eine Cigarre und es
+war fast, als ob er nicht recht wisse, wie er eigentlich
+<a class="pagenum" name="page_247" title="247"> </a>
+beginnen solle. Aber der Beamte <em class="gesperrt">mußte</em> alles erfahren,
+er <em class="gesperrt">durfte</em> ihm nichts verschweigen, schon
+Jennys wegen, und nach einigem Zögern erzählte er
+jetzt dem Agenten die ganzen Umstände seines Zusammentreffens
+mit der jungen Dame, und gerieth zuletzt
+dabei so in Feuer, daß er selbst die kleinsten Umstände
+mit einer Lebendigkeit und Wahrheit wiedergab, die er
+sich selber gar nicht zugetraut hätte.</p>
+
+<p>Hamilton unterbrach ihn mit keinem Wort. Nur
+den Namen von Jennys Vater ließ er sich genau angeben
+und notirte ihn, und während James Burton
+weiter sprach, nahm er Dinte und Feder, schrieb etwas
+in sein Taschenbuch und riß das Blatt dann heraus.
+Auf demselben stand nichts weiter als eine telegraphische
+Depesche, die also lautete:</p>
+
+<p>Burton und Burton, London. Existirt in Islington
+Reverend Benthouse &ndash; religiöser Schriftsteller
+&ndash; ist ihm kürzlich eine Tochter entführt &ndash; Antwort
+gleich. Hamilton.</p>
+
+<p>Mr. Burton dann um Entschuldigung bittend,
+daß er ihn einen Augenblick unterbreche, stand er auf
+und verließ das Zimmer. Am Treppengeländer rief
+er den Lohndiener an.</p>
+
+<p>»Geben Sie diese Depesche an den Portier zur
+augenblicklichen Besorgung auf das Telegraphenamt.
+<a class="pagenum" name="page_248" title="248"> </a>
+Hier ist der Betrag dafür und das für den Boten.
+Nichts bemerkt bis jetzt?«</p>
+
+<p>»Nicht das Geringste.«</p>
+
+<p>»Gut &ndash; <em class="gesperrt">Sie</em> bleiben auf Ihrem Posten.«</p>
+
+<p>Als er in das Zimmer zu Mr. Burton zurückgekommen
+war, nahm er seinen alten Platz wieder ein
+und ließ seinen Gefährten ruhig auserzählen, ohne
+ihn auch nur mit einem Wort darin zu stören. Erst
+als er vollkommen geendet hatte und der junge Mann
+ihn mit sichtlicher Erregung ansah, um sein Urtheil
+über die Sache zu hören, sagte er ruhig:</p>
+
+<p>»Und wissen Sie nun, <i>my dear Sir</i>, welches der
+gescheuteste Streich war, den Sie in der ganzen Zeit
+meiner Abwesenheit gemacht haben?«</p>
+
+<p>»Nun?« frug Burton gespannt.</p>
+
+<p>»Daß Sie der jungen Dame eine Gesellschafterin
+gegeben haben.«</p>
+
+<p>»Ich durfte sie nicht so lange allein und ohne weibliche
+Begleitung lassen,« rief Burton rasch.</p>
+
+<p>»Nein,« sagte Hamilton, und ein eigenes spöttisches
+Lächeln zuckte um seine Lippen &ndash; »sie wäre
+Ihnen sonst schon am ersten Tage durchgebrannt,
+gerade wie ihr Begleiter mir.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Mr. Burton,« sagte Hamilton ernst, »zürnen
+<a class="pagenum" name="page_249" title="249"> </a>
+Sie mir nicht, wenn ich vom Leben andere Anschauungen
+habe als Sie, glauben Sie einem Manne, der
+in diesen Fach mehr Erfahrungen gesammelt hat, als
+Sie vielleicht für möglich halten. Danken Sie aber
+auch Gott, daß ich gerade Ihnen jetzt zur Seite stehe,
+denn Sie wären sonst von einer erzkoketten und durchtriebenen
+Schwindlerin überlistet worden und hätten
+nachher, außer dem Schaden, auch für den Spott nicht
+zu sorgen gebraucht.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton,« sagte Burton gereizt, »Sie
+mißbrauchen Ihre Stellung gegen mich, wenn Sie
+unehrbietig von einer Dame sprechen, die gegenwärtig
+unter <em class="gesperrt">meinem</em> Schutze steht.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Mr. Burton,« sagte Hamilton vollkommen
+ruhig &ndash; »lassen Sie uns vor allen Dingen
+die Sache kaltblütig besprechen, denn die Polizei darf,
+wie Sie mir zugestehen werden, keine Gefühlspolitik
+treiben.«</p>
+
+<p>»Die Polizei ist gewohnt,« sagte Burton, »in
+jedem Menschen einen Verbrecher zu suchen.«</p>
+
+<p>»Bis er uns nicht wenigstens das Gegentheil
+beweisen kann,« lächelte Hamilton &ndash; »aber jetzt
+lassen Sie mich auch einmal reden, denn Sie werden
+mir zugeben, daß ich <em class="gesperrt">Ihrem</em> Bericht ebenfalls mit
+der größten Aufmerksamkeit gefolgt bin.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_250" title="250"> </a>
+»So reden Sie, aber hoffen Sie nicht&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bitte verschwören Sie nichts, bis Sie mich nicht
+gehört haben.« Und ohne seines Begleiters Unmuth
+auch nur im Geringsten zu beachten, erzählte er ihm
+jetzt seine Verfolgung des flüchtigen Verbrechers, sein
+Auffinden desselben und dessen Gefangennahme. Er
+setzte hinzu, daß Kornik, nachdem man die bedeutende
+Summe von Banknoten und andere hinreichende Beweise
+für seine Schuld bei ihm gefunden, völlig gebrochen
+gewesen war und alles gestanden hatte.
+Ebenso sagte er aus, daß er mit einer jungen Dame,
+Lucy Fallow, von London geflüchtet sei, obgleich er
+von dem Raub des Brillantschmucks nichts wissen
+wollte.</p>
+
+<p>»Und legen Sie den geringsten Werth auf das
+Zeugniß eines solchen Schurken?« frug Burton heftig.</p>
+
+<p>»Was die Aussage über den Brillantschmuck betrifft,
+nein,« erwiederte ruhig der Polizeimann, »denn
+ich bin fest davon überzeugt, <em class="gesperrt">daß</em> er darum gewußt
+hat, und erwartete sogar, denselben bei ihm zu finden.
+Er fand sich aber auch nicht einmal in der Reisetasche,
+die der Herr, wie sich später auswies, beim Portier
+des Kurhauses deponirt hatte. Die Dame hat ihn
+also noch jedenfalls in Besitz.«</p>
+
+<p>»Aber ich habe Ihnen ja schon dreimal gesagt,
+<a class="pagenum" name="page_251" title="251"> </a>
+daß ich nicht allein <em class="gesperrt">ihren</em> Koffer, sondern auch den
+dieses Kornik bis auf den Boden durchwühlt habe
+und nicht das geringste Schmuckähnliche hat sich gefunden,
+als eine Korallenschnur mit einem kleinen
+Kreuz daran &ndash; ein Andenken ihrer verstorbenen
+Mutter.«</p>
+
+<p>Hamilton pfiff leise und ganz wie in Gedanken
+durch die Zähne.</p>
+
+<p>»Mein bester Mr. Burton,« sagte er dann, »auf
+Ihr Durchsuchen der Koffer, in Gegenwart jener
+Sirene, gebe ich auch keinen rothen Pfifferling &ndash; ich
+werde das Ding selber besorgen.«</p>
+
+<p>»Und ich erkläre ihnen, Mr. Hamilton,« sagte
+Burton mit finster zusammengezogenen Brauen,
+»daß Sie das <em class="gesperrt">nicht</em> thun werden. Sie haben Ihren
+Auftrag erfüllt; der Verbrecher ist geständig in Ihren
+Händen, und meine Gegenwart dabei nicht länger
+nöthig, so werde ich denn, noch heut Nachmittag, in
+Begleitung der jungen Dame, die Rückreise nach England
+antreten.«</p>
+
+<p>»Mit der Vollmacht für ihre Verhaftung in der
+Tasche,« lächelte Hamilton.</p>
+
+<p>»Diese Vollmachten,« rief Burton leidenschaftlich,
+indem er die beiden Papiere aus der Tasche nahm,
+in Stücke riß, und vor Hamilton niederwarf, »sind
+<a class="pagenum" name="page_252" title="252"> </a>
+auf eine <em class="gesperrt">Verbrecherin</em> ausgestellt, nicht auf Miss
+Benthouse. Da haben Sie die Fetzen und jetzt stehe
+ich frei und unabhängig hier und will sehen, wer es
+wagen wird die junge Dame zu beleidigen.«</p>
+
+<p>Hamilton erwiederte kein Wort. Schweigend erhob
+er sich, las die auf den Boden geworfenen Stücke
+auf, legte sie in ein Packet zusammen und steckte sie in
+seine Tasche.</p>
+
+<p>»Ist das Ihr letztes Wort, Mr. Burton?« sagte
+er endlich, indem er vor dem jungen Manne stehen
+blieb &ndash; »wollen Sie sich nicht erst einmal die Sache
+eine <em class="gesperrt">Nacht</em> ruhig überlegen? Bedenken Sie, in welche
+höchst fatale Lage Sie nur Ihrem Vater gegenüber
+kämen, &ndash; von Lady Clive und den englischen Gerichten
+gar nicht zu reden &ndash; wenn es sich später <em class="gesperrt">doch</em>
+herausstellen sollte, daß Sie sich geirrt haben.«</p>
+
+<p>»Es ist mein letztes Wort,« sagte der junge Mann
+bestimmt; »denn ich muß meine Schutzbefohlene diesem
+schmähligen Verdacht entziehen, der auf ihr lastet.
+Um 4 Uhr 20 geht der Schnellzug nach Köln ab; diesen
+werde ich benutzen, und es versteht sich von selbst,
+daß ich auch jede Verantwortung für diesen Schritt
+einzig und allein trage.«</p>
+
+<p>Hamilton war aufgestanden und ging mit raschen
+<a class="pagenum" name="page_253" title="253"> </a>
+Schritten in dem kleinen Gemach auf und ab. Endlich
+sagte er ruhig:</p>
+
+<p>»Sie wissen doch, Mr. Burton, welchen <em class="gesperrt">Doppel</em>auftrag
+<em class="gesperrt">ich</em> von London mit bekommen habe und wie
+ich, wenn ich danach handle, nur meine Pflicht thue.«</p>
+
+<p>»Das weiß ich, Mr. Hamilton,« sagte Burton,
+durch den viel milderen Ton des Polizeimannes auch
+rasch wieder versöhnend gestimmt, »und ich gebe Ihnen
+mein Wort, daß ich Ihnen deshalb keinen Groll nachtragen
+werde. Aber auch mir müssen Sie dafür
+zugestehen, daß ich &ndash; wo mir keine Pflicht weiter obliegt
+&ndash; mein Herz sprechen lasse.«</p>
+
+<p>»Es ist ein ganz verzweifeltes Ding, wenn das
+Herz mit dem Verstande durchgeht« &ndash; sagte Hamilton
+trocken.</p>
+
+<p>»Haben Sie keine Furcht, daß das bei mir geschieht.«</p>
+
+<p>»So erfüllen Sie mir wenigstens die Bitte,«
+wandte sich Hamilton noch einmal an den jungen
+Mann, »den ersten Schnellzug nicht zu benutzen und
+den Abend abzuwarten. Ich habe vorhin nach London
+telegraphirt &ndash; warten Sie erst die Antwort ab, Mr.
+Burton; es ist auch Ihres eigenen Selbst wegen, daß
+ich Sie darum ersuche.«</p>
+
+<p>»Ich bin alt genug, Mr. Hamilton,« lächelte James
+Burton, »auf mein eigenes Selbst vollkommen
+<a class="pagenum" name="page_254" title="254"> </a>
+gut Acht zu geben. Es thut mir leid, Ihren Wunsch
+nicht erfüllen zu können, denn mir brennt der Boden
+hier unter den Füßen. Um 4 Uhr 20 fahre ich und
+werde dann daheim meinem Vater Bericht abstatten,
+mit welchem Eifer und günstigem Erfolg Sie hier
+unsere Sache betrieben haben. In London hoffe ich
+Sie jedenfalls wiederzusehen.«</p>
+
+<p>Es lag eine so kalte, abweisende Höflichkeit in dem
+Ton, daß Hamilton die Meinung der Worte nicht
+falsch verstehen konnte: Mr. Burton wünschte allein
+zu sein und Hamilton sagte, ihn freundlich grüßend:</p>
+
+<p>»Also auf Wiedersehen, Mr. Burton,« und verließ
+dann, ohne ein Wort weiter, das Zimmer.</p>
+
+
+
+
+<h3>IX.<br />
+
+<b>Die Catastrophe.</b></h3>
+
+
+<p>James Burton sah nach seiner Uhr &ndash; es war
+schon fast zwei geworden, ohne daß er Jenny gesehen
+&ndash; was mußte sie von ihm denken? Aber jetzt
+konnte er ihr auch gute Nachricht bringen, und ohne
+einen Moment länger zu säumen, griff er nach seinem
+Hut und eilte hinab.</p>
+
+<p>Auf dem Gang wanderte ein Lohndiener hin und
+her, der stehen blieb, als er auf die Thür zuging. Er
+hielt aber einen Moment davor, ehe er anklopfte, denn
+<a class="pagenum" name="page_255" title="255"> </a>
+er hörte eine ziemlich heftige Stimme, die in Aerger
+zu sein schien. War das Jenny? &ndash; hatte vielleicht
+Hamilton gewagt? &ndash; er klopfte rasch an. Es war
+jetzt plötzlich alles ruhig da drinnen. Da ging die
+Thür auf und Elise schaute heraus, um erst zu sehen
+wer klopfe. Sie öffnete, als sie den jungen Mann
+erkannte.</p>
+
+<p>Jenny stand an ihrem Koffer, emsig mit Packen
+beschäftigt, als er das Zimmer betrat, und erröthete
+leicht, aber sie begrüßte ihn desto freundlicher und gab
+auch über ihr Befinden hinlänglich befriedigende Antwort.</p>
+
+<p>Elise zog sich in die Nebenstube zurück und Jenny
+frug jetzt, mit ihrem alten, gewinnenden Lächeln:</p>
+
+<p>»Und so lange haben Sie mich auf Ihren Besuch
+warten lassen? Ich wußte vor langer Weile gar nicht,
+was <em class="gesperrt">ich</em> angeben sollte und habe deshalb meine Sachen
+wieder zusammengepackt.«</p>
+
+<p>»Aber nicht meine eigene Unachtsamkeit hielt mich
+von Ihnen entfernt, Miss Jenny,« sagte Burton herzlich,
+»sondern eine wichtige Verhandlung, die ich mit
+unserem Agenten hatte. Mr. Hamilton ist zurückgekehrt.«</p>
+
+<p>»In der That?« sagte die junge Dame, aber jeder
+Blutstropfen wich dabei aus ihrem Gesicht, und so
+<a class="pagenum" name="page_256" title="256"> </a>
+vielen Zwang sie sich anthat, mußte sie doch die
+Stuhllehne ergreifen, um nicht umzusinken.</p>
+
+<p>»Aber weshalb erschreckt Sie das?« sagte Burton
+erstaunt. »Die Erinnerung an jenen Elenden,
+den jetzt seine gerechte Strafe ereilen wird, mag Ihnen
+peinlich sein, aber sie darf nie wieder als Schreckbild
+vor Ihre Seele treten.«</p>
+
+<p>»Und er hat ihn gefunden?« sagte Jenny, sich
+gewaltsam sammelnd &ndash; »oh, wenn ich nur das
+Schreckliche vergessen könnte?«</p>
+
+<p>»Er hat ihn nicht nur gefunden,« bestätigte der
+junge Mann, »sondern der Unglückliche hat auch
+sein ganzes Verbrechen eingestanden. Was half ihm
+auch Leugnen seiner Schuld, wo man die Beweise
+derselben in seinem Besitz fand?«</p>
+
+<p>»Und jetzt?«</p>
+
+<p>»Lassen wir den Elenden,« sagte Burton freundlich,
+»Mr. Hamilton, der mit allen nöthigen Papieren
+dazu versehen ist, wird seine Weiterbeförderung nach
+England übernehmen. Ich selbst reise heute Nachmittag
+mit dem Schnellzug nach London ab, und da
+Sie Ihren Koffer schon gepackt haben,« setzte er
+lächelnd hinzu &ndash; »so biete ich Ihnen, mein werthes
+Fräulein, an, in meiner Begleitung und unter meinem
+Schutz nach England zurückzukehren.«</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_257" title="257"> </a>
+»Sie wollten&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Sie dürfen sich mir wie einem Bruder anvertrauen,«
+sagte James Burton herzlich, »und ich bürge
+Ihnen dafür, daß ich durchführe, was ich unternommen
+&ndash; trotz allen Hamiltons der Welt,« setzte er mit
+leisem Trotz hinzu.</p>
+
+<p>»So wiedersetzte sich der Herr dem, daß ich Sie
+begleiten dürfe?« fragte rasch und mißtrauisch die
+Fremde.</p>
+
+<p>»Lassen wir das,« lächelte aber Burton, »ich bin
+mein eigener Herr und in <em class="gesperrt">meiner</em> Begleitung steht
+Niemandem ein Recht zu, Sie auch nur nach Paß
+oder Namen zu fragen. Und Sie gehen mit?«</p>
+
+<p>»Wie könnte und dürfte ich einer solchen Großmuth
+entgegenstreben?« sagte das junge Mädchen
+demüthig &ndash; »ich vertraue Ihnen ganz.«</p>
+
+<p>»Herzlichen, herzlichen Dank dafür,« rief Burton
+bewegt, »und Sie sollen es nicht bereuen. Jetzt aber
+lasse ich Sie allein, um noch alles Nöthige zu ordnen,
+denn ich muß selbst noch packen und die Wirthsrechnung,
+wie Ihrer Gesellschafterin Honorar, in Ordnung bringen.
+Sie müssen mir auch schon gestatten, für die
+kurze Zeit unserer Reise Ihren Cassirer zu spielen.
+Beruhigen Sie sich,« setzte er lächelnd hinzu, als er
+ihre Verlegenheit bemerkte &ndash; »ich gleiche das später
+<a class="pagenum" name="page_258" title="258"> </a>
+schon alles mit Ihrem Herrn Vater wieder aus, und
+werde Sorge tragen, daß ich nicht zu Schaden komme.
+Also auf Wiedersehen, Miss &ndash; aber beeilen Sie sich
+ein wenig, denn wir haben kaum noch anderthalb
+Stunden Zeit bis zu Abgang des Zuges,« und ihre
+Hand leicht an seine Lippen hebend, verließ er rasch
+das Zimmer.</p>
+
+<p>Sobald er unten mit dem Wirth abgerechnet und
+seine Sachen gepackt hatte, wollte er noch einmal Hamilton
+aufsuchen, um von diesem Abschied zu nehmen.
+Es that ihm fast leid, ihn so rauh behandelt zu haben.
+Der Polizeiagent war aber, gleich nachdem er ihn verlassen,
+ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt.</p>
+
+<p>Eigentlich war ihm das lieb, denn er fühlte sich
+ihm gegenüber nicht recht behaglich; zu reden hatte er
+überdies weiter nichts mit ihm, und was Kornik
+betraf, so besaß er ja selber alle die nöthigen Instruktionen
+und Vollmachten. Er hatte ja nur die Reise
+nach dem Continent mitgemacht, um die Identität
+seiner Person zu bestätigen &ndash; jetzt, mit all den vorliegenden
+Beweisen und dem eigenen Geständniß des
+Verbrechens war seine Anwesenheit unnöthig geworden.</p>
+
+<p>Die Zeit bis halb vier Uhr verging ihm auch mit
+den nöthigen Vorrichtungen rasch genug &ndash; jetzt war
+<a class="pagenum" name="page_259" title="259"> </a>
+alles abgemacht und in Ordnung, und ebenso fand er
+Jenny schon in ihrem Reisekleid, aber in merkwürdig
+erregter Stimmung. Sie sah bleich und angegriffen
+aus, und drehte sich rasch und fast erschreckt um, als er
+die Thür öffnete.</p>
+
+<p>»Sind Sie fertig?«</p>
+
+<p>»Und gehen wir wirklich?«</p>
+
+<p>»Zweifeln Sie daran? Es ist alles bereit, und
+bis wir am Bahnhof sind und unser Gepäck aufgegeben
+haben, wird die Zeit auch ziemlich verflossen sein
+&ndash; Miss Elise,« wandte er sich dann an das junge
+Mädchen, indem er ihr ein kleines Packet überreichte
+&ndash; »Ihre Anwesenheit ist auf kürzere Zeit in Anspruch
+genommen, als ich selbst vermuthete, so bitte ich denn,
+dieses für Ihre Mühe als Erinnerung an uns zu betrachten.
+Und nun,« fuhr Burton fort, als sich das
+junge Mädchen dankend und erröthend verbeugte &ndash;
+indem er die Klingelschnur zog &ndash; »mag der Hausknecht
+Ihr Gepäck hinunterschaffen. Eine Droschke
+wartet schon auf uns, und ich will selber recht von
+Herzen froh sein, wenn wir erst unterwegs sind.«</p>
+
+<p>Draußen wurden Schritte laut &ndash; es klopfte an.</p>
+
+<p>»Herein!« rief Burton &ndash; die Thür öffnete sich
+und auf der Schwelle, seinen Hut auf dem Kopf, stand
+<a class="pagenum" name="page_260" title="260"> </a>
+&ndash; Hamilton und warf einen ruhigen, forschenden
+Blick über die Gruppe.</p>
+
+<p>Er sah den Ausdruck der Ueberraschung in Burtons
+Zügen, aber sein Auge haftete jetzt fest auf der
+jungen Dame an seiner Seite, deren Antlitz eine Aschfarbe
+überzog.</p>
+
+<p>»Sie entschuldigen, meine Herrschaften,« sagte der
+Polizist mit eisiger Kälte, »wenn ich hier vielleicht ungerufen
+oder ungewünscht erscheinen sollte, aber meine
+Pflicht schreibt es mir so vor. Mein Herr &ndash; Sie
+sind mein Gefangener, im Namen der Königin!«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Ihr</em> Gefangener?« lachte Burton trotzig auf,
+aber Hamilton trat zur Seite und drei Polizeidiener
+standen hinter ihm, während er auf Burton zeigend,
+zu diesen gewandt, fortfuhr:</p>
+
+<p>»Den Herrn da verhaften Sie und führen ihn
+auf sein Zimmer oder bewachen ihn hier, bis Ihr
+Commissär kommt. Er wird sich nicht wiedersetzen,
+denn er weiß, daß er der Gewalt weichen muß &ndash; im
+schlimmsten Fall aber brauchen <em class="gesperrt">Sie</em> Gewalt, und
+jene Dame dort&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>Die junge Fremde hatte mit starrem Entsetzen den
+Eintritt des nur zu rasch wiedererkannten Reisegefährten
+bemerkt, und im ersten Moment war es wirklich,
+als ob der Schreck sie gelähmt und zu jeder Bewegung
+<a class="pagenum" name="page_261" title="261"> </a>
+unfähig gemacht hätte. Wie aber des Furchtbaren
+Blicke auf sie fielen, schien es auch, als ob sie
+erst dadurch wieder Leben gewönne, und ehe sie Jemand
+daran verhindern konnte, glitt sie in das Nebenzimmer,
+neben dessen Thür sie stand, warf diese zu und
+schob den Riegel vor.</p>
+
+<p>»Einer von Ihnen auf Posten draußen, daß sie
+uns nicht entwischt,« rief Hamilton rasch, indem er
+nach der Thür sprang, aber sie schon nicht mehr öffnen
+konnte &ndash; »und alarmiren Sie die Leute unten, daß
+sie vor den Fenstern von Nr. 6 Wache halten.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton, Sie werden mir für dieses Betragen
+Rede stehen!« rief Burton außer sich »&ndash;&nbsp;<em class="gesperrt">wer</em>
+giebt Ihnen ein Recht, mich zu verhaften?«</p>
+
+<p>»Mein bester Herr«, rief Hamilton, indem er
+vergebens versuchte, die Thür aufzudrücken &ndash; »von
+einem <em class="gesperrt">Recht</em> ist hier vorläufig gar keine Rede. Sie
+weichen nur der Gewalt. Alles andere machen wir
+später ab.«</p>
+
+<p>»Aber ich dulde nicht&nbsp;&ndash;« rief Burton und wollte
+sich zwischen ihn und die Thüre werfen, um die Geliebte
+zu schützen.</p>
+
+<p>»Halt, mein Herzchen!« riefen aber die Polizeidiener,
+ein Paar baumstarke Burschen, indem sie ihn
+<a class="pagenum" name="page_262" title="262"> </a>
+mit ihren Fäusten packten &ndash; »nicht von der Stelle,
+oder es setzt was.«</p>
+
+<p>»Um Gottes Willen«, rief Elise, zum Tod erschreckt,
+»was geht hier vor?«</p>
+
+<p>»Mein liebes Fräulein,« sagte Hamilton, sich an
+sie wendend in deutscher Sprache &ndash; »beunruhigen Sie
+sich nicht &ndash; gar nichts was <em class="gesperrt">Sie</em> betreffen könnte.
+Gehen Sie ruhig nach Hause, Sie haben nicht die geringste
+Belästigung zu fürchten. Soviel kann ich Ihnen
+aber sagen, daß jene Dame <em class="gesperrt">keine</em> Begleitung weiter
+nach England braucht, da ich das selber übernehmen
+werde. &ndash; Ah, da ist der Herr Commissär &ndash; Sie
+kommen wie gerufen, verehrter Herr &ndash; das hier,«
+fuhr er fort, indem er auf James Burton zeigte &ndash;
+»ist jener Kornik, von dem ich Ihnen sagte, und seine
+Dulcinea hat sich eben in dies Zimmer geflüchtet,
+von wo aus sie uns aber ebenfalls nicht mehr entwischen
+kann.«</p>
+
+<p>»Kornik? &ndash; ich?« rief Burton, indem er sich wie
+rasend unter dem Griff der Polizeidiener wand &ndash;
+»Schuft Du &ndash; ich selber bin hergekommen, jenen
+Kornik zu verhaften.«</p>
+
+<p>»Und wo haben Sie die Beweise?« sagte Hamilton
+ruhig in englischer Sprache.</p>
+
+<p>»In Deiner eigenen Tasche sind sie,« schrie Burton
+<a class="pagenum" name="page_263" title="263"> </a>
+wie außer sich &ndash; »das Papier, das ich Dir vor
+die Füße warf.«</p>
+
+<p>Hamilton achtete gar nicht auf ihn.</p>
+
+<p>»Herr Commissär,« sagte er, sich an den Polizeibeamten
+wendend &ndash; »jener Herr da, dem ich von
+England aus nachgesetzt bin, hat sich schon unter
+fremdem Namen in das hiesige Gasthofsbuch geschrieben.
+Sie haben meine Instruktionen und Vollmachten
+gelesen. Sie werden Sorge dafür tragen,
+daß er uns nicht entwischt, während ich jetzt die
+<em class="gesperrt">Dame</em> herbeizuschaffen suche.« Und ohne weiter ein
+Wort zu verlieren nahm er den dicht neben ihm stehenden
+kleinen Koffer und stieß ihn mit solcher Kraft
+und Gewalt gegen die Füllung der Thür, daß diese
+vor dem schweren Stoß zusammenbrach. Im nächsten
+Moment griff er durch die gemachte Oeffnung hindurch
+und schloß die Thür von innen auf.</p>
+
+<p>Wie es schien, hatte aber die junge Fremde gar
+keinen Versuch zur Flucht gemacht. Sie stand, ihre
+Mantille fest um sich her geschlungen, mitten in der
+Stube, und den Verhaßten mit finsterem Trotz messend,
+sagte sie:</p>
+
+<p>»Betragen Sie sich wie ein Gentleman, daß Sie
+zu einer Lady auf solche Art ins Zimmer brechen?«</p>
+
+<p>»Miss«, erwiederte der Polizeibeamte kalt, »ich
+<a class="pagenum" name="page_264" title="264"> </a>
+bin noch nicht fest überzeugt, ob ich es hier wirklich
+mit einer <em class="gesperrt">Lady</em> zu thun habe. Vor der Hand sind Sie
+meine Gefangene. Im Namen der Königin, Miss
+Lucy Fallow, verhafte ich Sie hier auf Anklage eines
+Juwelendiebstahls.«</p>
+
+<p>»Und welche Beweise haben Sie für eine so
+freche Lüge?« rief das junge Mädchen verächtlich.</p>
+
+<p>»Danach suchen wir eben«, lachte Hamilton, jetzt,
+da ihm der Ueberfall gelungen war, wieder ganz in
+seinem Element &ndash; »Herr Commissär, haben Sie die
+Güte gehabt, die Frauen mitzubringen?«</p>
+
+<p>»Sie stehen draußen.«</p>
+
+<p>»Bitte, rufen Sie die beiden herein &ndash; ich wünsche
+die Gefangene <em class="gesperrt">genau</em> durchsucht zu haben, ob sie den
+bewußten Schmuck an ihrem Körper vielleicht verborgen
+hat. Wir beide werden indeß die Koffer revidiren.«</p>
+
+<p>Eine handfeste Frau &ndash; die Gattin eines der
+Polizeidiener, trat jetzt ein, von einem anderen jungen
+Mädchen, wahrscheinlich ihrer Tochter, gefolgt, beide
+aber von einer Statur, die für einen solchen Zweck
+nichts zu wünschen übrig ließ, und Hamilton betrat
+jetzt wieder das Zimmer, in dem Burton dem englisch
+sprechenden Commissär seine eigene Stellung erklärte
+und ihn dringend aufforderte, nicht zu dulden, daß
+<em class="gesperrt">zwei</em> unschuldige Menschen in so niederträchtiger
+<a class="pagenum" name="page_265" title="265"> </a>
+Weise behandelt würden. Seine Erklärung aber, die
+er dabei gab, daß er seine Vollmacht selber zerrissen
+habe, der falsche Namen, unter dem er selber zugestand
+sich in das Fremdenbuch eingetragen zu haben, und
+die Thatsache, die er nicht läugnen konnte oder wollte,
+daß Hamilton wirklich ein hochgestellter Polizeibeamter
+in England sei, sprachen zu sehr gegen ihn. Der
+Commissär zuckte die Achseln, bedauerte, nur nach den
+Instruktionen handeln zu können, die er von oben empfinge,
+und ersuchte Mr. Burton dann in seinem
+eigenen Interesse, sich seinen Anordnungen geduldig
+zu fügen, da sonst für ihn daraus die größten Unannehmlichkeiten
+entstehen könnten.</p>
+
+<p>Er wollte ihn jetzt auch auf sein eigenes Zimmer
+führen lassen, als Hamilton zurückkehrte und den
+Commissar ersuchte, dem Herrn zu erlauben, hier zu
+bleiben. Er wünsche, daß er Zeuge der Verhandlung
+sei.</p>
+
+<p>Ohne weiteres ging er jetzt daran, den Koffer der
+Dame auf das genaueste zu revidiren; obgleich sich
+aber, in einem geheimen Gefach darin, eine Menge
+der verschiedensten Schmuck- und Werthsachen vorfanden,
+waren die gesuchten Brillanten doch nicht dabei.
+Auch in Korniks Koffer ließ sich keine Spur davon
+entdecken. Fortgebracht konnte sie dieselben aber nicht
+<a class="pagenum" name="page_266" title="266"> </a>
+haben, da sie ja gerade, im Begriff abzureisen, überrascht
+war, also gewiß auch alles werthvolle Besitzthum bei
+sich trug. Außerdem wußte Hamilton genau, daß sie
+&ndash; wenigstens seitdem er zurückgekehrt war &ndash; kein
+Packet auf die Post gegeben hatte, also trug sie es
+wahrscheinlich am Körper versteckt.</p>
+
+<p>Aber auch diese Vermuthung erwies sich als falsch.
+Die Frau kehrte, während der Gefangenen unter Aufsicht
+des jungen Mädchens gestattet wurde, wieder
+ihre Toilette zu machen, in das Zimmer zurück, und
+brachte nur ein kleines weiches Päckchen mit, das sie
+bei ihr verborgen gefunden hatten. Sie überreichte
+es dem Commissär, der es öffnete und englische Banknoten
+zum Werth von etwa achthundert Pfund darin
+fand. Vier Noten von 100 Pfund Sterling waren
+darunter.</p>
+
+<p>»Da bekommen wir Licht,« rief aber Hamilton
+rasch, als er sie erblickte &ndash; »von den Hundert Pfund-Noten
+habe ich die Nummern, und die wollen wir
+nachher einmal vergleichen. Vorher aber werden
+wir das Zimmer untersuchen müssen, in daß sich
+Madame geflüchtet hat. Möglich doch, daß sie die
+Zeit benutzte, in der sie dort eingeschlossen war, um
+ein oder das andere in Sicherheit zu bringen.«</p>
+
+<p>»Ich habe alles genau nachgesehen,« sagte die
+<a class="pagenum" name="page_267" title="267"> </a>
+Frau des Polizeidieners kopfschüttelnd &ndash; »in alle
+Polster hineingefühlt und die Gardinen ausgeschüttelt,
+selbst in den Ofen gefühlt und den Teppich genau
+nachgesehen. Es steckt nirgends was.«</p>
+
+<p>»Kann ich eintreten?« rief Hamilton an die Thür
+klopfend, denn er war nicht gewohnt sich auf die Aussagen
+Anderer zu verlassen. Das junge Mädchen, das zur
+Wache dort geblieben war, öffnete. Die junge Fremde
+stand fertig angezogen, aber todtenbleich, wieder mitten
+im Zimmer und ihre Augen funkelten dem Polizeibeamten
+in Zorn und Haß entgegen. Hamilton war
+aber nicht der Mann, davon besondere Notiz zu nehmen.
+Das erste, was er that, war, die Jalousieen
+aufzustoßen, um hinreichend Licht zu bekommen, dann
+untersuchte er Tapeten und Bilder &ndash; auch hinter den
+Spiegel sah er, rückte sich den Tisch zu den Fenstern
+und stieg hinauf, um oben auf die Gardinen zu fühlen.
+Er fand nichts, aber er ruhte auch nicht &ndash; der Teppich
+zeigte nicht die geringsten Unebenheiten. &ndash; Er
+rückte das Sopha ab und fühlte daran hin &ndash; aber
+es ließ sich kein harter Gegenstand bemerken.</p>
+
+<p>Wie seine Hand an der mit grobem Kattun bezogenen
+Hinterwand des Sophas hinfuhr, gerieth sein
+Finger in eine nur wenig geöffnete Nath. Er zog
+das Sopha jetzt ganz zum Licht, die Rückseite dem
+<a class="pagenum" name="page_268" title="268"> </a>
+Fenster zugewandt, nahm sein Messer heraus und
+trennte ohne Weiteres die Nath bis hinunter auf.
+Während er mit dem rechten Arm in die gemachte
+Oeffnung hineinfuhr, streifte sein Blick die Gestalt
+der Gefangenen, die augenblicklich gleichgiltig auszusehen
+suchte, aber es konnte ihm nicht entgehen, daß sie
+seinen Bewegungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit
+folgte.</p>
+
+<p>»Ah, Mylady,« rief er da plötzlich, indem seine
+Finger einen fremdartigen Gegenstand trafen &ndash; »ob
+ich es mir nicht gedacht habe, daß Sie die Ihnen verstattete
+Zeit hier im Zimmer auf geschickte Weise benutzen
+würden. Sie sehen mir gerade danach aus,
+als ob Sie nicht zu den »Grünen« gehörten &ndash; was
+haben wir denn da? &ndash; eine reizende Kette und da
+hängt auch ein Ohrring darin &ndash; da wird der andere
+ja wohl auch nicht weit sein &ndash; es kann nichts helfen,
+der Tapezierer muß wieder gut machen, was ich jetzt
+hier verderbe« &ndash; und er riß, ohne weitere Rücksicht
+auf den Schaden, den er anrichtete, Werg und Kuhhaare
+heraus, bis er den gesuchten Ohrring, der
+etwas weiter hinabgefallen war, fand. Auch eine
+Broche, aus einem einzigen großen Brillant bestehend,
+kam mit dem Werg zu Tag.</p>
+
+<p>»Leugnen Sie jetzt <em class="gesperrt">noch</em>, Madame?« sagte Hamilton,
+<a class="pagenum" name="page_269" title="269"> </a>
+indem er sich aufrichtete und der Verbrecherin
+das gefundene Geschmeide entgegenhielt. Aber die
+Gefragte würdigte ihn keines Blicks; schweigend und
+finster, wie er sie damals im Coupé gesehen, starrte
+sie vor sich nieder, und nur die rechte Hand hielt sie
+krampfhaft geballt, die Zähne fest und wild zusammengebissen
+und die Augen, die von solchem Liebesreiz
+strahlen konnten, sprühten Feuer.</p>
+
+<p>»Haben Sie etwas gefunden?« rief ihm der Commissär
+entgegen.</p>
+
+<p>»Alles was wir suchen,« erwiederte Hamilton
+ruhig &ndash; »aber ist denn der Lohndiener noch nicht vom
+Telegraphenamt zurück?«</p>
+
+<p>»Eben gekommen. Er wartet im anderen Zimmer
+auf Sie.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank &ndash; jetzt treffen alle Beweise zusammen,«
+rief Hamilton aus. »Ich ersuche Sie indeß,
+Herr Commissär, diese junge Dame in <em class="gesperrt">sehr</em>
+gute Obhut zu nehmen, denn sie ist mit allen Hunden
+gehetzt.«</p>
+
+<p>»Haben Sie keine Angst &ndash; wir werden das saubere
+Pärchen sicher verwahren.«</p>
+
+<p>»Den <em class="gesperrt">Herrn</em> kann ich Ihnen vielleicht abnehmen,«
+lächelte der Polizeiagent, indem er in das benachbarte
+Zimmer trat und dort die für ihn eingetroffene Depesche
+<a class="pagenum" name="page_270" title="270"> </a>
+in Empfang nahm. Er erbrach sie und las die
+Worte:</p>
+
+<p class="center">»In Islington giebt es keinen Geistlichen Benthouse.
+&ndash; In ganz London nicht.</p>
+
+<p class="signature">Burton.</p>
+
+<p class="center">Mr. Hamilton, Telegraphenbureau Frankfurt a. M.«</p>
+
+<p>Hamilton trat zum Tisch, auf den er den Schmuck
+und die telegraphische Depesche legte, dann nahm er
+aus seiner Tasche die Liste der gestohlenen Banknoten,
+die er mit den bei der jungen Dame gefundenen verglich
+und einige roth anstrich, dann fügte er diesen
+noch ein anderes Papier bei, die genaue Beschreibung
+des im Hause der Lady Clive gestohlenen Schmucks,
+und als er damit fertig war, sagte er freundlich zu
+Burton:</p>
+
+<p>»Dürfte ich Sie <em class="gesperrt">jetzt</em> einmal bitten, Mr. Burton,
+sich diese kleine Bescheerung anzusehen? Es wird interessant
+für Sie sein. &ndash; Lassen Sie den Gefangenen
+nur los, meine Herren.«</p>
+
+<p>»Sie werden sich nie Ihres nichtswürdigen Betragens
+wegen entschuldigen können,« sagte Burton finster,
+indem er aber doch der Aufforderung Folge leistete.</p>
+
+<p>»Auch dann nicht?« frug Hamilton, »wenn ich
+Sie überzeuge, daß Sie einer großen &ndash; einer recht
+großen Gefahr entgangen sind?« frug Hamilton.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_271" title="271"> </a>
+»Einer Gefahr? &ndash; wie so?«</p>
+
+<p>»Der Gefahr, das Schlimmste zu erleben, was
+ein anständiger Mann, außer dem Verlust seiner
+Ehre, erleben kann &ndash; sich lächerlich zu machen.«</p>
+
+<p>»Mr. Hamilton&nbsp;&ndash;«</p>
+
+<p>»Bitte, lesen Sie hier die Depesche Ihres Herrn
+Vaters &ndash; seine Antwort auf meine Anfrage von heute
+Morgen. &ndash; So &ndash; und hier haben Sie die Nummern der
+aufgefundenen Banknoten &ndash; und hier endlich die genaue
+Beschreibung des Schmucks, von Lady Clives
+eigener, sehr zierlicher Hand. Zweifeln Sie <em class="gesperrt">jetzt</em> noch
+daran, daß Sie es nicht mit einer Miss Jenny Benthouse,
+sondern mit der leichtfertigen Lucy Fallow zu thun
+hatten? &ndash; Pst &ndash; lieber Freund, die Sache ist abgemacht«
+&ndash; sagte aber der Agent, als er sah, wie bestürzt
+der junge Burton diesen nicht wegzuläugnenden
+Beweisen gegenüber stand. &ndash; »Nur noch einen Blick
+werfen Sie jetzt auf die junge Dame,« fuhr er dabei
+fort, während er zugleich die Thür aufstieß und nach
+der trotzig und wild dastehenden Gestalt des Mädchens
+zeigte. &ndash; »Glauben Sie, das <em class="gesperrt">jene</em> Dame Ihnen
+bis London gefolgt wäre, und nicht vorher Mittel und
+Wege gefunden hätte, Ihnen unterwegs zu entschlüpfen?
+Uebrigens habe ich schon von Ems aus, so wie
+ich Korniks Geständniß erhielt, nach London an Lady
+<a class="pagenum" name="page_272" title="272"> </a>
+Clive telegraphirt und sie gebeten, mir Jemanden zur
+Recognoscirung des jungen Frauenzimmers herzusenden.
+Der kann schon, wenn sie ihn rasch befördert
+hat, morgen Mittag eintreffen, und dann, nachdem
+jeder Vorsicht Genüge geleistet und die äußerste
+Rücksicht genommen ist, um nicht eine Unschuldige zu
+belästigen, werden Sie mir doch zugeben, Mr. Burton,
+daß ich meine Pflicht erfüllt habe.«</p>
+
+<p>James Burton schwieg und sah ein Paar Secunden
+still vor sich nieder; aber sein besseres Gefühl gewann
+doch die Oberhand. Er sah ein, daß er sich von
+einer Betrügerin hatte täuschen lassen, und Hamilton
+die Hand reichend, sagte er herzlich:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Sir &ndash; ich werde Ihnen das nie
+vergessen.«</p>
+
+<p>»Ein desto schlechteres Gedächtniß werde <em class="gesperrt">ich</em> dann
+für unser letztes kleines Intermezzo haben,« lachte der
+Polizeiagent, die dargebotene Hand derb schüttelnd,
+»und nun, mein lieber Mr. Burton, reisen Sie, wenn
+Sie <em class="gesperrt">meinem</em> Rath folgen wollen, so rasch Sie mögen,
+nach England zurück. Für die beiden Schuldigen
+werde ich schon Sorge tragen, und in sehr kurzer Zeit
+denke ich Ihnen nachzufolgen.«</p>
+
+<p>Dem Commissär erklärte Hamilton bald den Zusammenhang
+der Verhaftung Mr. Burtons, den er
+<a class="pagenum" name="page_273" title="273"> </a>
+dadurch nur hatte so lange aufhalten wollen, bis er
+die Beweise von der Schuld jener Person beischaffte
+&ndash; das war geschehen und er selber brachte jetzt die an
+dem Morgen von Burton zerrissene und von ihm wieder
+sorgfältig zusammengeklebte Vollmacht zum Vorschein,
+die als beste Legitimation für ihn dienen konnte.</p>
+
+<p>Am nächsten Tag traf richtig ein Polizeibeamter,
+der Miss Lucy Fallow persönlich kannte, in Frankfurt
+ein, und Hamilton erhielt die Genugthuung, seinen
+ersten Verdacht völlig bestätigt zu finden. Gleich
+danach reiste James Burton allein ab, während Hamilton
+noch einige Tage brauchte, bis er die Uebersendung
+der Wertpapiere und Banknoten durch die Nassauische
+Regierung nach England reguliren konnte.
+Dann erst folgte er mit seinen Gefangenen nach England,
+von denen er aber nur das Mädchen hinüberbrachte.</p>
+
+<p>Kornik machte unterwegs einen verzweifelten Fluchtversuch
+und sprang, während der Zug im vollen Gange
+war, zwischen Lüttich und Namür aus dem Fenster
+des Waggons; aber er verletzte sich dabei so furchtbar,
+daß er starb, ehe man ihn auf die nächste Station
+transportiren konnte.</p>
+
+
+
+
+<h2>Eine Heimkehr aus der weiten Welt.<a class="pagenum" name="page_274" title="274"> </a></h2>
+
+
+<p>Was auch Andere dagegen sagen mögen; es ist
+schon der Mühe werth eine größere Reise zu unternehmen,
+nur um wieder zu kommen.</p>
+
+<p>Manche Freude, manches Glück blüht uns »armen
+Sterblichen« hier auf dieser schönen Welt, keine aber
+so voll und reich und herrlich, als die Freude des
+Wiedersehens nach langer Trennung &ndash; keine so rein
+und selig, als die Rückkehr in das Vaterland. Soll
+ich dir deshalb, lieber Leser, erzählen wie mir zu
+Muthe war, als ich nach einer Abwesenheit von 39
+Monden von Weib und Kind, zurück in die Heimath
+kehrte? &ndash; Ich will's versuchen.</p>
+
+<p>Ich kam damals &ndash; im Juni 52 &ndash; nach einer
+ununterbrochenen Seereise von 129 Tagen direct von
+Batavia. Siebzehn von den 129 hatten wir uns allein
+bei faulem Wetter in Canal und Nordsee herumgetrieben
+&ndash; 17 Tage auf einer Strecke, die wir recht
+<a class="pagenum" name="page_275" title="275"> </a>
+gut hätten in <em class="gesperrt">dreien</em> zurücklegen können. Und so dicht
+dabei an der heimischen Küste; es war eine verzweifelte
+Zeit; doch sie ging auch vorbei, und endlich,
+endlich rasselte der Anker in die Tiefe.</p>
+
+<p>Das ist ein wunderbar ergreifender Ton, den
+man nicht allein <em class="gesperrt">hört</em>, sondern auch <em class="gesperrt">fühlt</em>, denn das
+ganze Schiff rasselt und zittert mit, und wie die Eisenschaufel
+nur den Boden berührt und mit einem Ruck
+festhakt, fühlt man sich auch daheim.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Ich war daheim!</em> ob Bremen, ob Sachsen, ob
+Oestreich, solchen Unterschied kennt man nur innerhalb
+der verschiedenen Grenzpfähle: für uns Deutsche da
+draußen ist alles nur ein Deutschland, ein Vaterland,
+und wie die Matrosen nach oben liefen, die Segel festzumachen,
+und die Kette indessen, soweit das anging,
+eingezogen und um die Winde geschlagen wurde, hing
+mein Blick an dem grünen Ufer des Weserstrandes,
+an dem Mastenwald des nicht fernen Bremerhafens,
+und konnte sich nicht losreißen von dem lieben, lieben
+Bild.</p>
+
+<p>Aber nicht lange sollte mir Zeit zum Schauen
+bleiben. Der Lootse hatte uns schon gesagt, daß wir
+wahrscheinlich noch zeitig genug nach Bremerhafen
+kämen, um das Nachmittags-Dampfboot nach Bremen
+zu benutzen. Alle unsere Sachen waren gepackt. Jetzt
+<a class="pagenum" name="page_276" title="276"> </a>
+dampfte das Boot aus dem Hafen heraus und legte
+bei &ndash; jetzt kam ein kleines Boot vom Ufer ab, uns
+hinüber zu führen. Kisten und Koffer wurden Hals
+über Kopf hinunter gehoben, kaum blieb mir noch Zeit,
+den Seeleuten, mit denen ich so lange Monde als einziger
+Passagier verlebt, die Hand zu schütteln, und
+schon glitten wir über den stillen Strom, dem, unserer
+harrenden, Dampfer zu.</p>
+
+<p>An Bord fanden wir eine große Gesellschaft von
+Herren und Damen und hier zum ersten Mal dachte
+ich daran, daß ich ja in Bremerhafen, ehe ich die
+»Stadt« selber betrat, meine etwas sehr mitgenommene
+Toilette hatte erneuen wollen. Mein Schuhwerk
+besonders befand sich in höchst traurigen Umständen,
+und meine <em class="gesperrt">besten</em> Schuh waren querüber vollständig
+aufgeplatzt. Aber das ging jetzt nicht mehr an &ndash; wer
+kannte mich auch und wo behielt ich Zeit mich jetzt um
+<em class="gesperrt">solche</em> Dinge zu bekümmern? &ndash; Den Strom hinauf
+glitten wir, der für mich der Erinnerungen so viele
+trug, und wie Dorf nach Dorf hinter uns blieb, wie
+die Sonne tiefer und tiefer sank, und hie und da schon
+einzelne Hügel aus dem flachen Land hervorschauten,
+grüßten mich die Nachtigallen, die lieben Waldsänger
+unserer Heimath mit ihrem zaubrisch süßen Sang.</p>
+
+<p>Und weiter flog das Boot; hinter dem Rad stand
+<a class="pagenum" name="page_277" title="277"> </a>
+ich, aus dem die Wellen schäumten, horchte den Nachtigallen
+am Ufer, und schaute nach den alten gemüthlichen
+Dorfkirchthürmen hinüber, bis von weitem, aber
+schon mit einbrechender Dunkelheit, die Thürme der
+alten Handelsstadt Bremen herüber blickten.</p>
+
+<p>Jetzt hielt das Boot; dicht unter den dunkeln
+Häusermassen lagen wir, in welche nur schmale
+schräge Einschnitte &ndash; kleine Gäßchen, die zum Ufer
+hinunterführen &ndash; einliefen; Karrenführer kamen an
+Bord, denen ich mein Gepäck übergab, und wenige
+Secunden später stand ich zum ersten Mal wieder nach
+129 Tagen draußen auf <em class="gesperrt">Pflaster</em>, auf <em class="gesperrt">deutschem</em>
+Grund und Boden, und es war mir zu Muthe, als ob
+ich hätte über den Boden <em class="gesperrt">fliegen</em> können.</p>
+
+<p>Von da an war jeder Schritt, den ich weiter that,
+ein <em class="gesperrt">Genuß</em> für mich und langsam, ganz langsam
+verfolgte ich im Anfang meinen Weg, den frohen
+Becher nun auch ordentlich auszukosten.</p>
+
+<p>In vielen Häusern war schon Licht angezündet,
+und die Leute saßen drin bei ihrem Abendbrod, hie
+und da aber standen sie auch noch plaudernd, und sich
+des schönen Sommerabends freuend, in den Thüren
+&ndash; auch <em class="gesperrt">deutsch</em> sprachen sie, gutes ehrliches deutsch,
+nicht mehr malayisch oder holländisch, oder englisch,
+französisch, spanisch oder was sonst noch, was ich seit
+<a class="pagenum" name="page_278" title="278"> </a>
+den letzten Jahren gewohnt war, vor fremden Thüren
+zu hören &ndash; die Männer rauchten lange Pfeifen, die
+Frauen strickten lange Strümpfe, und die Kinder
+hetzten sich über den Weg hinüber und herüber, und
+lachten und jubelten.</p>
+
+<p>So wanderte ich mitten zwischen ihnen durch,
+noch ein Fremder und Heimathloser in der weiten
+Stadt, und doch vielleicht der glücklichste Mensch, den
+in diesem Augenblick ganz Bremen umschloß.</p>
+
+<p>Jetzt hatte ich endlich das Handlungshaus erreicht,
+in dem ich Briefe für mich von daheim finden sollte.
+&ndash; Die ersten wieder seit langer, langer Zeit, denn
+die <em class="gesperrt">letzten</em> Briefe, die ich vor sechs Monaten in
+Batavia erhalten, waren noch außerdem über sechs
+Monate alt gewesen.</p>
+
+<p>Der Chef war nicht zu Haus, aber ein junger
+Mann vom Geschäft, dem ich meinen Namen nannte,
+sagte: »er glaube, daß ein Brief für mich oben liegen
+müsse,« und wie entsetzlich langsam ging er die Treppe
+hinauf, danach zu suchen. &ndash; Endlich waren wir oben
+&ndash; zwei, drei Gefache suchte er durch &ndash; da war er
+richtig &ndash; ich hielt ihn fest in der Hand und weiß
+wahrhaftig nicht, wie ich wieder aus dem Haus und
+durch die Stadt in mein Hotel gekommen bin; aber ich
+sah die Leute nicht mehr, die vor den Häusern standen,
+<a class="pagenum" name="page_279" title="279"> </a>
+oder an ihren hellerleuchteten Tischen saßen. So
+rasch mich meine Füße trugen, eilte ich in den Lindenhof,
+ließ mir ein Zimmer geben, bestellte Licht und
+Thee und saß kaum zehn Minuten später am geöffneten
+Fenster vor den lieben, lieben Zeilen, die mir
+Kunde von den Meinen brachten. &ndash; Dann erst gab
+ich mich den übrigen Genüssen hin, und wer nicht
+selber einmal solang von daheim fort und besonders so
+viele Wochen, ja Monate hintereinander auf See
+gewesen, wird schwer begreifen können, mit welch behaglichem
+Gefühl den seemüden Wanderer alle jene
+tausend Kleinigkeiten erfüllen, die wir im gewöhnlichen
+Leben gar nicht mehr beachten, und deren <em class="gesperrt">Dasein</em>
+wir oft nur bemerken, wenn sie einmal <em class="gesperrt">fehlen</em>.</p>
+
+<p>Erstlich die Annehmlichkeit von frischem <em class="gesperrt">Fleisch</em>,
+frischer <em class="gesperrt">Butter</em>, <em class="gesperrt">Milch</em> und <em class="gesperrt">Eiern</em> &ndash; dann das
+Bewußtsein, daß das Theezeug <em class="gesperrt">fest</em> auf dem Tisch
+stand, und nicht brauchte in hölzerne Gestelle eingestemmt
+zu werden &ndash; und doch war ich mit meiner
+Tasse noch im Anfang außerordentlich vorsichtig. Dazu
+das Geräusch rollender Wagen auf dem Pflaster unten,
+das Schlagen der großen Thurmuhren, das ich in einer
+Ewigkeit nicht gehört, das Lachen und Plaudern der
+Menschen unten auf dem großen freien Platz, und kein
+Schaukeln dabei, kein Hin- und Wiederwerfen &ndash;
+<a class="pagenum" name="page_280" title="280"> </a>
+Alles das genoß ich einzeln und mit vollem geizenden
+Bewußtsein dieser wenigen Momente, und wenn es
+mir auch im Anfang noch manchmal so vorkommen
+wollte, als ob der Lehnstuhl auf dem ich saß leise hin
+und herschwankte, &ndash; das alte Gefühl noch von dem
+Schiffe her &ndash; überzeugte ich mich doch bald, daß das
+nur Täuschung sei.</p>
+
+<p>Indessen war es dunkel und still draußen in der
+Stadt geworden; wieder und wieder hatte ich den
+Brief gelesen und lag jetzt in meinem Stuhl am offenen
+Fenster, eine ganze Welt voll Seligkeit im Herzen.</p>
+
+<p>Unten wurden murmelnde Menschenstimmen laut
+&ndash; ich hatte sie schon eine Weile wie im Traum gehört,
+aber nicht darauf geachtet; auch ein paar Laternen
+sah ich über den Platz kommen. Da plötzlich klangen
+von vier kräftigen Männerstimmen die Töne des herrlichen
+Mendelssohn'schen Liedes:</p>
+
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse">»Wer hat dich, du schöner Wald,</div>
+ <div class="verse">Aufgestellt so hoch da droben ...«</div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">zu mir herauf, das <em class="gesperrt">erste</em> deutsche Lied und Männerchor
+wieder, das ich seit langen Jahren hörte, und
+wie hatte ich mich danach gesehnt. &ndash; Neben mir öffnete
+sich ein Fenster &ndash; es fiel mir jetzt wieder ein,
+daß eine berühmte Opernsängerin meine Nachbarin
+war, die hier in Bremen gastirt hatte und morgen
+<a class="pagenum" name="page_281" title="281"> </a>
+früh wieder abreiste. Der Kellner hatte mir davon
+gesprochen, als er das Theegeschirr hinausnahm.</p>
+
+<p>Und jetzt verklangen die Töne, um wieder mit
+einem anderen, lebendigeren Liede zu beginnen; aber
+voll und weich klangen sie zu mir herauf &ndash; voll und
+weich war mir das Herz dabei geworden und &ndash; ich
+brauche mich deshalb nicht zu schämen, daß mir die
+hellen Thränen in den Bart liefen.</p>
+
+<p>Noch immer saß ich so, und die Sänger waren
+schon lange fortgezogen; die Uhren in der Stadt
+brummten die zehnte Stunde, als ein anderer, nicht
+so harmonischer Ton all' die schwermüthigen Gedanken
+im Nu verscheuchte.</p>
+
+<p>»Tuht!« blies der Nachtwächter unten und sang
+sein melancholisch Lied, und ich sah den dunklen Schatten
+des Mannes unten mit schwerem Schritt über
+den Platz schreiten, folgte ihm mit den Augen so weit
+ich konnte, und horchte auf die, aus ferneren Stadttheilen
+herüberschallenden Antworten noch lange,
+lange. &ndash; Und dann kamen Nachtschwärmer, die einen
+Hausschlüssel hatten und ich hörte wie die Thüren
+auf- und wieder zugemacht wurden &ndash; und dann schlugen
+die Uhren wieder ein Viertel, Halb, drei Viertel
+und Elf. Immer konnte ich mich noch nicht losreißen
+von dem Platz am Fenster, bis ich endlich lange nach
+<a class="pagenum" name="page_282" title="282"> </a>
+elf mein weiches Lager suchte. Und wie herrlich
+schlief ich, denn meine alte Seegras-Matratze an
+Bord hatte ich in den vier Monaten so hart wie ein
+Bret gelegen, und das weiche Roßhaarbett bot einen
+neuen Genuß.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen war ich früh auf den Füßen,
+Manches zu besorgen, meine mitgebrachten Kisten auf
+die Fracht zu geben und liebe Freunde zu besuchen.
+Eine Zeitung hatte ich noch nicht in die Hand bekommen
+und das Einzige, was ich bis jetzt von einer politischen
+Neugestaltung der letzten 8 Monate wußte, war
+die Wahl Louis Napoleons zum Präsidenden der Republik.
+Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen
+anriefen, hatte uns ein altes Stück englischer Zeitung
+&ndash; halb durchgerissen, mit einer tüchtigen Steinkohle
+als Gewicht hineingewickelt &ndash; zugeworfen &ndash;
+darauf fanden wir einen Theil der Einzugsfeierlichkeiten
+des neuen Präsidenten beschrieben &ndash; das war Alles
+was wir von Europa überhaupt erfuhren &ndash; und sonderbarer
+Weise gleich das Wichtigste.</p>
+
+<p>Freund Andree, den ich in Bremen antraf, ersetzte
+mir aber alle Zeitungen, denn mit kurzen bündigen
+Worten gab er mir einen flüchtigen, aber vortrefflichen
+Ueberblick des Geschehenen &ndash; du lieber Gott, es war
+wenig Tröstliches, das ich erfuhr &ndash; wie traurig sah
+<a class="pagenum" name="page_283" title="283"> </a>
+es in dem armen Deutschland aus, und was war aus
+der Freiheit, aus den Freiheiten geworden, die wir
+48 erträumt. Der alte Fluch der Uneinigkeit hatte
+wieder seine giftigen Früchte getragen, und Alles was
+ich aus dem Sturm der letzten Jahre gerettet fand
+&ndash; und das überhaupt der Mühe des Aufhebens
+lohnte, war: die <em class="gesperrt">Erinnerung</em> an das Parlament;
+das Bewußtsein, daß wir ein solches wirklich <em class="gesperrt">gehabt</em>
+hatten, daß es also nicht zu den Schattenbildern gehörte
+und uns einmal, es möchte nun dauern so lange
+es wollte, wieder werden <em class="gesperrt">mußte</em>. &ndash; Jetzt freilich
+feierte der Bundestag wieder seine Ferien wie vordem
+&ndash; ein Dorn im Fleisch der Deutschen, ein Spott
+und Hohn für das Ausland. &ndash; Die <em class="gesperrt">deutschen</em>
+Schiffe, die noch draußen auf der Rhede von Bremerhafen
+unter der schwarz-roth-goldenen Flagge
+lagen, warteten auf den Hammer des Auctionators,
+die Schmach von Schleswig-Holstein und Olmütz
+brannte auf unserem Herzen und &ndash; was ich außerdem
+von Bekannten und Freunden hatte, saß im
+Zuchthaus oder war verbannt. Tröstliche Nachrichten
+für einen Heimkehrenden; aber es überraschte mich
+kaum. Als ich Deutschland im März 49 verließ,
+saß der mit den deutschen Farben bewimpelte Staatskarren
+schon fest im Schlamm, und man brauchte
+<a class="pagenum" name="page_284" title="284"> </a>
+damals kein Prophet zu sein, ihm sein Schicksal vorher
+zu sagen. Das Alles hatte sich jetzt erfüllt, die
+Reaction grünte und blühte, und wie in der Argentinischen
+Republik, that es den würdigen Staatsmännern
+nur leid, daß sie nicht auch Wald und Himmel
+mit ihren respectiven Landesfarben schwarz und weiß
+oder schwarz und gelb oder weiß und blau anstreichen
+konnten.</p>
+
+<p>Was half's! Es mußte ertragen werden, und nur
+die <em class="gesperrt">Hoffnung</em> konnte uns selbst unser damaliger
+Zustand nicht rauben.</p>
+
+<p>In Bremen besorgte ich so rasch als möglich was
+ich zu besorgen hatte, fuhr dann nach Hamburg hinüber,
+dort einige von Sidney herübergeschickte Sachen,
+meist Indianische Waffen, in Empfang zu nehmen,
+und eilte nun, so rasch mich Dampf und Eisenschienen
+bringen konnten, nach Leipzig, meine damals in
+Wien lebende Familie wieder zu sehen.</p>
+
+<p>Unterwegs mußte ich erst noch an der Preußischen
+Grenze eine Paßplackerei überwinden. Mein Paß
+war seit drei Monaten verfallen und außerdem in
+einem Zustand, wie ihn ein Preußischer Grenzbeamter
+wohl kaum je unter Händen gehabt. In Brasilien
+und besonders in der Argentinischen Republik
+wie in Batavia, selbst von den französischen Behörden
+<a class="pagenum" name="page_285" title="285"> </a>
+auf Tahiti war freilich allen Anforderungen, die
+selbst ein deutsches Postbüreau stellen konnte, genügt;
+an allen übrigen Landungsplätzen hatte sich aber kein
+Mensch um einen Paß bekümmert, und ich war nicht
+leichtsinnig genug gewesen, mir unnöthige Laufereien
+und Geldausgaben zu machen. Nur um die ganze
+Route auf dem Paß zu haben visirte ich ihn mir, aus
+angeborenem Pflichtgefühl, dort selbst, und diese Mißachtung
+eines <em class="gesperrt">officiellen</em> Visum schien die Polizeibeamten
+am meisten zu erschüttern. Trotzdem behandelten
+sie mich humaner als ich erwartet hatte, und
+mit einem sanften Verweis über mein rücksichtsloses
+Handeln: »Aber lieber Herr, Sie reisen in der ganzen
+Welt herum und lassen nirgends visiren,« wurde
+mir erlaubt, meine Reise ungehindert fortzusetzen.</p>
+
+<p>In Leipzig, wo ich einen Tag bleiben mußte, kam
+ich Abends spät an, und wollte noch meinen dort wohnenden
+Schwager aufsuchen. Seine Adresse hatte ich;
+ich wußte nämlich die Straße und Hausnummer, es
+war aber schon so dunkel, daß ich die Nummer nicht
+mehr erkennen konnte, und die vollkommen menschenleere
+Quergasse langsam niederschreitend, hoffte ich
+an irgend einem Haus einen Menschen zu finden, den
+ich fragen konnte.</p>
+
+<p>Da verließ Jemand vor mir eine Thür und ging
+<a class="pagenum" name="page_286" title="286"> </a>
+die Straße hinab; es war ein Mann in Hemdsärmeln,
+jedenfalls ein Markthelfer, mehr konnte ich in
+der Dunkelheit nicht erkennen. Als ich ihn eingeholt,
+frug ich ihn, ob er nicht zufällig wisse, in welcher Gegend
+hier Nr. 22 liege.</p>
+
+<p>»Ja wohl, Herr Gerstäcker,« sagte der Mann so
+ruhig, als ob er mir noch gestern und alle Tage hier
+in derselben Straße begegnet wäre, und wir jetzt
+hellen Sonnenschein und nicht finstere Nacht gehabt
+hätten. Es lag ordentlich etwas Geisterhaftes in dieser
+Nennung meines Namens unter solchen Umständen,
+und unwillkührlich frug ich, »aber kennen Sie
+mich denn?« &ndash; »Na, werd' ich <em class="gesperrt">Sie</em> nicht kennen,«
+sagte der Mann &ndash; »da drüben ist gleich das Haus.«
+&ndash; Incognito hätte ich <em class="gesperrt">hier</em> nicht reisen können.</p>
+
+<p>Den nächsten Tag verbrachte ich, wie schon gesagt,
+in Leipzig, um vor allen Dingen einen neuen Paß
+nach Oestreich zu bekommen. Ein merkwürdiges Gefühl
+war es mir aber dabei, durch die alten bekannten
+Straßen zu gehen und in den Läden, in den Fenstern
+die nämlichen Menschen mit der nämlichen Beschäftigung
+zu sehen, wie ich sie vor langen Jahren verlassen
+hatte. Die waren nicht fort gewesen in der
+ganzen Zeit; die hatten Tag für Tag ihrem Beruf an
+derselben Stelle obgelegen und während mir eine
+<a class="pagenum" name="page_287" title="287"> </a>
+Fluth von Erinnerungen durch die Seele ging, kannte
+die ihre kein anderes Bild, als diese selben engen
+Straßen boten.</p>
+
+<p>So sitzen hier Leute, die ich mich besinnen kann
+auf der nämlichen Stelle gesehen zu haben, als ich
+noch, ein Knabe, da in die Schule ging. Sie kamen
+mir damals schon alt und ehrwürdig vor und sahen
+heute genau noch so aus; nur daß sie früher keine
+grauen Haare hatten. Dieselben Menschen sind immer
+dageblieben, und wo bin ich indessen herumgewandert
+&ndash; was hab' ich erlebt &ndash; was gesehen &ndash; und wie
+drängt es mich noch immer neuen Scenen entgegen
+zu eilen, während diese still und genügsam in dem
+engen Kreise sich bewegen, den ihnen die eigene Wahl
+oder das Schicksal angewiesen. Und wenn wir sterben,
+ruhen wir vielleicht neben einander, und die Erinnerung
+ist todt und fort.</p>
+
+<p>Und soll ich dir, freundlicher Leser, jetzt erzählen,
+wie ich nach Brünn kam, bis wohin mir meine Frau
+mit dem Kind entgegen fahren wollte &ndash; wie ich mich
+von Nachtfahrten und übermäßiger Anstrengung zum
+Tod erschöpft in meinen Kleidern auf das Bett geworfen
+hatte, den um Mitternacht eintreffenden Zug dann
+zu erwarten? Wie mich der Kellner nicht geweckt, und
+plötzlich mitten in der Nacht Frau und Kind, die ich
+<a class="pagenum" name="page_288" title="288"> </a>
+in 39 Monden nicht gesehen, im Zimmer standen, und
+wie der kleine, indessen vierjährig gewordene Bursch,
+seine Aermchen um meinen Nacken legte und mit
+seiner lieben Stimme flüsterte: »du weggelaufener
+Papa?« &ndash; Es geht nicht &ndash; es geht wahrhaftig nicht,
+Worte sind nicht im Stande das zu beschreiben; das
+muß erlebt, empfunden sein, und &ndash; ich möchte gleich
+wieder auf Reisen gehen, nur um <em class="gesperrt">den</em> Augenblick noch
+einmal zu erleben.</p>
+
+
+
+
+<h2>Wenn wir einmal sterben.<a class="pagenum" name="page_289" title="289"> </a></h2>
+
+
+<p>Oft, wenn ich in meinem Zimmer sitze und mein
+Blick über die aus allen Welttheilen zusammengetragenen
+Gegenstände schweift, die mir so lieb sind, weil
+sich an jedes einzelne eine, oft freudige, oft bittere Erinnerung
+knüpft, fällt mir eine Scene aus früherer Zeit
+ein.</p>
+
+<p>In einem großen alten Hause in ** hatte ein
+alter Herr viele lange Jahre hindurch so abgeschlossen
+gelebt, daß er mit Niemandem da draußen &ndash; wenigstens
+nie direkt &ndash; in Berührung kam. Eine alte
+Haushälterin und ein alter Gärtner besorgten seine
+Arbeiten, und nur Abends, wenn in dem obersten
+Erkerstübchen, wo die alte Haushälterin schlief, Licht
+angezündet wurde, sah man, daß die Leute drinnen
+noch lebten, denn sonst ließ sich den ganzen Tag keine
+Seele, weder an einem der dicht verhangenen Fenster
+noch in der Thür blicken.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_290" title="290"> </a>
+Der Eigenthümer selber verließ seine Wohnung
+nie &ndash; einen Tag im Jahre ausgenommen &ndash; am ersten
+Weihnachtsfeiertag, und dann auch nur &ndash; mochte
+es wettern und stürmen, wie es wollte &ndash; um hinaus
+auf den Gottesacker zu gehen und daselbst ein Grab
+zu besuchen. Allerdings hatten sich die Müßiggänger
+in der Stadt schon die größte Mühe gegeben, um herauszubekommen,
+wer unter dem kleinen einfachen
+Hügel ruhe, an dem der Greis eine volle Stunde
+betete &ndash; aber vergebens. Kein Kreuz, keine Tafel
+kündete den Namen. Der frühere Todtengräber war
+gestorben, aus dem Buch, das er mit wunderlichen
+Zeichen und Figuren geführt, ließ sich nichts Bestimmtes
+mehr herausfinden, und die Leute sahen sich
+gezwungen, ihre eigenen Geschichten darüber zu ersinnen.
+Es läßt sich denken, daß die abenteuerlichsten
+Gerüchte die Stadt durchliefen &ndash; aber auch nur eine
+Zeit lang. Wie der alte Herr Jahr nach Jahr das
+nämliche trieb, dabei Niemandem etwas in den Weg
+legte, wurde man es endlich müde, sich um ihn zu
+bekümmern, und erst sein Tod erweckte die schon fast
+vergessenen Gerüchte von Neuem &ndash; allein auch sein
+Tod brachte keine Aufklärung über sein früheres Leben.</p>
+
+<p>Wie es mit dem Testament gewesen war, weiß
+ich nicht mehr, nur soviel erinnere ich mich, daß die
+<a class="pagenum" name="page_291" title="291"> </a>
+Erben keineswegs zufrieden sein mußten, denn große
+Legate waren den Dienern vermacht, und die außerordentlich
+einfache und dadurch fast werthlose Einrichtung
+des Hauses sollte in dessen Räumen selber öffentlich
+versteigert werden.</p>
+
+<p>Nach alle dem läßt es sich denken, daß ein großer
+Theil der Bewohner von ** neugierig war, die
+Räume zu betreten, die bis jetzt von dem alten wunderlichen
+Mann als unnahbares Heiligthum verschlossen
+und verriegelt gehalten waren. Die von dem
+Magistrat herbeorderten Beamten hatten wirklich ihre
+Noth, die zudringlichen Gaffer in ihren Schranken zu
+halten, damit sich im Gedränge nicht auch verworfenes
+Gesindel mit einschlich und die Hand an fremdes
+Eigenthum legte.</p>
+
+<p>Stube nach Stube wurde deshalb nur derart geöffnet,
+daß man eine andere erst aufschloß, wenn die
+in der einen befindlichen Gegenstände verkauft und
+ihren jetzigen Besitzern überwiesen waren. Dadurch bekamen
+es die Neugierigen endlich satt, sich nur herumstoßen
+und drängen zu lassen, ohne weiter etwas zu
+sehen, als öde Zimmer und altmodische Möbel und
+Schränke. Nach und nach verliefen sich die Meisten
+und es blieben fast nur Solche zurück, die wirklich
+Lust zu kaufen hatten.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="page_292" title="292"> </a>
+So gelangten wir endlich, nachdem eine Masse
+von Schränken, Tischen, Stühlen, alten Bildern, zu
+Spinneweb gewaschenen Gardinen und hundert andern
+Kleinigkeiten verkauft oder vielmehr um einen Spottpreis
+verschleudert waren, in die Studirstube des alten
+Mannes &ndash; wenn ein Platz so genannt werden kann,
+in dem ein nur wenig benutzter Schreibtisch und ein
+kleines dürftiges Regal mit einigen zwanzig, meist
+französischen und holländischen Büchern stand.</p>
+
+<p>Der Verstorbene war augenscheinlich kein Gelehrter
+gewesen, das aber hier jedenfalls der Platz, wo er
+seine meiste Zeit, die langen Jahre seiner Einsamkeit,
+träumend und durch nichts gestört verbracht, und es
+überkam mich ein eigenes und drückendes Gefühl, als
+ich die kalten, gleichgültigen Gesichter sah, die sich
+hier jetzt mit prüfenden Blicken in dem engen Raum
+umschauten und die Gegenstände taxirten. Es war
+mir, als ob ein Grab entweiht würde, das Grab einer
+Seele, deren Träume bis jetzt hier eingesargt gewesen.</p>
+
+<p>Aber was kümmerte das die Käufer oder den
+Auctionator, der Stück nach Stück ruhig und gleichmüthig
+unter den Hammer brachte! Vor dem Tische
+stand ein alter, mit Leder überzogener Lehnstuhl, über
+dem Tisch hing ein kleines, ziemlich mittelmäßig ausgeführtes
+Bild, eine Landschaft mit einer alten knorrigen
+<a class="pagenum" name="page_293" title="293"> </a>
+Eiche im Vordergrund, die an dem Ufer eines
+Weihers stand. Unter der Eiche lag ein Frauenhut
+und ein Brief. In dem Lehnstuhl war der alte Mann
+gestorben, und auf dem Tisch stand ein kleines flaches
+Mahagonikästchen.</p>
+
+<p>Ein Jude kaufte den Tisch, den Lehnstuhl und nachher
+das Kästchen auch, das Bild, da Niemand darauf
+bieten wollte, bekam er zu. In dem Kästchen stak der
+Schlüssel, er öffnete es, es lagen einige Sachen darin,
+und er wühlte mit der Hand darin herum. Als ihm
+das Kästchen zugeschlagen war, drehte er es um und
+schüttete den Inhalt auf den Boden. Es enthielt auch
+nichts Aufhebenswerthes: ein paar trockene, schon fast
+verkrümelte Blumen, ein Stückchen Holz mit ein paar
+dürren Blättern, ein paar Streifen vergilbtes Papier
+mit unleserlichen Zügen, ein kleines blauseidenes Band,
+einen zerschnittenen Handschuh und noch eine Anzahl
+anderer, eben so werthloser verwitterter Dinge. Was
+sollte der Käufer mit dem Plunder machen? er wurde
+später mit dem übrigen Staub und Gerumpel hinaus
+gekehrt, und doch war er das Heiligthum eines ganzen
+Lebens gewesen.</p>
+
+<p>Und wenn <em class="gesperrt">wir</em> einmal sterben?</p>
+
+<p>In meinem Zimmer hängen eine Unmasse von
+werthlosen Dingen, Waffen aus allen Welttheilen
+<a class="pagenum" name="page_294" title="294"> </a>
+von Stein, Holz, Stahl, Wallroß- und Haifischzähnen,
+und wenn ich einmal sterbe, finden sie vielleicht ihren
+Weg in ein Naturaliencabinet, wo dann der Aufseher
+mit Hülfe des Katalogs den Besuchern erklären kann:
+das Stück stammt dort, jenes von da her, diese Waffen
+führen die australischen Eingebornen, jene sind auf
+den Südseeinseln, in Afrika, in Californien, in Südamerika,
+in China, in Java daheim &ndash; das bleibt
+Alles, denn die Erinnerung ist todt, die ihnen jetzt
+Leben verleiht.</p>
+
+<p>Jenes alte lederne Jagdhemd, mit seinen indianischen
+Ausfranzungen, habe ich aus selbsterlegten
+Hirschdecken auch selber gegerbt und genäht und manches
+lange Jahr getragen; jenes alte Messer führte
+ich zweiundzwanzig Jahr in Freud und Leid; jene
+Bolas holte ich mir aus den chilenischen Cordilleren,
+und wie der Blick darauf fällt, sitze ich wieder bei dem
+tollen Trinkgelage jener Stämme, sehe die mit trübem
+Aepfelwein gefüllten Kuhhörner im Kreis herumgehen
+und die junge dicke Kazikentochter mir gegenüber,
+die mir jenes Diadem von bunten Perlen gab. Die
+Lanze dort schleuderte einst ein australischer Wilder
+nach mir; jene Mumienhand steckte mir ein junger
+ägyptischer Epigone unter den Tempelsäulen von Karnak
+in die Tasche, da ich sie ihm nicht um den üblichen
+<a class="pagenum" name="page_295" title="295"> </a>
+Sixpence abkaufen wollte; jenen Bogen erhandelte
+ich von einem californischen Indianer um selbstgegrabenes
+Gold aus seinen Bergen. Mit diesen Stücken
+trockenen Guiavenholzes rieb sich ein bildschönes
+Mädchen auf Tahiti einst Feuer, um ihre Cigarre
+daran anzuzünden; jenen Wallfischzahn brach ich selber
+aus dem Kiefer eines frischgefangenen Cachelot;
+den Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß arbeitete
+ich mir inmitten eines furchtbaren Sturmes am
+Cap Horn; das Hirschgeweih da oben holte ich mir
+aus der Bandong-Ebene in Java, und jene kleinen
+ungeschickt geschnittenen Figuren aus vegetablischem
+Elfenbein kaufte ich auf dem Markt zu Quito.</p>
+
+<p>Und welche Unzahl von Kleinigkeiten, die ein
+Anderer unbedingt zum Kehrichthaufen verdammen
+würde, bilden die Schätze, die ich um mich her aufgehäuft!
+Vier Steinbrocken, die jeder Geologe verächtlich
+bei Seite werfen würde: ein gewöhnliches Stück
+Kalkstein mit ein paar dunklen Flecken darauf &ndash; die
+Schweißtropfen meines ersten starken Gemsbocks, den
+ich hoch am Karwendelgebirg in Tyrol in voller Flucht
+durch's Herz schoß; ein gewöhnlicher Kieselstein, aus
+den Wassern des Pozuzu in Peru &ndash; die Erinnerung
+an den Uebergang jenes reißenden Bergstromes, an
+einer einzelnen wilden Rebe; ein kleines Stück Granit
+<a class="pagenum" name="page_296" title="296"> </a>
+vom 16,000 Fuß hohen Gipfel der Cordilleren
+in Peru; ein anderes verwittertes Gestein vom höchsten
+Paß der La Plata-Staaten nach Chile; eine
+gelbe Feder vom Kopf eines Kakadu, des ersten,
+leider nicht des einzigen, den ich im australischen Wald
+erlegen und verzehren mußte, um nicht zu verhungern;
+ein langes Stück Koralle, das ein australisches Mädchen
+als einzigen Schmuck und Kleidungsstück durch
+den Nasenknorpel trug; ein rothes Band, das ich, in
+dem jetzt verschütteten Mendoza, im Knopfloch führen
+mußte, um unter Rosa's Regierung einen Paß auf
+der Polizei zu bekommen; der alte hölzerne Quirl
+und Löffel, mit dem ich in Ecuador tagtäglich, lange
+Monate hindurch meine Chocolade quirlte und rührte;
+selbstgewaschenes Gold aus Californien; Silber aus
+Cerro de Pasco, der höchsten Stadt der Welt; Wüstensand
+aus Aegypten; künstliche Federblumen aus
+Brasilien, und was mein Schreibtisch an geheimen
+Schätzen birgt, an trockenen Blumen und an Liebeszeichen
+aus der Jugendzeit, Du lieber Gott, was Anderes
+ist das, als was der Trödler dort in dem alten
+Haus, aus jenem Mahagonikasten auf die Erde schüttete:
+&ndash; und doch ein Lebensalter hindurch mit dem
+eigenen Herzblut erkauft und gehegt und gepflegt!</p>
+
+<p>Und wer von uns Allen hat nicht solche Liebeszeichen,
+<a class="pagenum" name="page_297" title="297"> </a>
+wem von uns Allen ruft nicht ein Band, ein
+trocknes Blatt, ein alter, wieder und wieder gelesener
+Brief alte Liebe und, wenn auch schmerzliche, Erinnerungen
+der Seele wach? und wenn wir einmal
+sterben? dann kommen rauhe Hände und zerstören
+diese »Leichen unserer Erinnerung,« denn das
+Leben fehlt ihnen, was ihnen diese für uns eingehaucht.</p>
+
+<p>Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?
+Nein, es ist nicht möglich, denn sie bilden einen Theil,
+und zwar den edelsten Theil unseres Selbst; sie sind
+die kleinen unscheinbaren, aber trotzdem unzerreißbaren
+Glieder jener Kette, die uns an die Heimath
+binden. Sie sind die Tröster in mancher bitteren, sorgenschweren
+Stunde, die Märchenerzähler unserer
+eigenen Jugend, und wie der Mensch, wenn ihm die
+Hoffnung genommen würde, zum Selbstmörder werden
+müßte, und wie er deshalb die Hoffnung hegt
+und pflegt, weil er mit ihr die Brücke zu seiner Zukunft
+baut, so hält er auch die kleinen Zeichen fest als
+theure Gaben der Vergangenheit.</p>
+
+<p>Wohl wäre es besser, wir selber vernichteten diese
+kleinen unscheinbaren Liebesboten, wenn wir einmal
+fühlen, daß unser Ende naht; aber wer fühlt das?
+Wer mag es sich bis zum letzten entscheidenden Augenblick
+<a class="pagenum" name="page_298" title="298"> </a>
+wohl eingestehen: Jetzt ist vorbei, jetzt weist der Zeiger
+auf die letzte Stunde? Nicht Einer aus Tausenden.
+Noch mit zitternder Hand, mit schon halbgebrochenem
+Auge fällt unser Blick darauf, und wenn wir dann
+sterben, dann fliegt mit unsrer Seele auch die Seele
+unserer Reliquien &ndash; Gott nur weiß wohin, und
+unsere Leichen werden Staub.</p>
+
+<hr />
+
+
+
+
+<div class="tnote break">
+
+<h2 class="nobreak margtop2">Hinweise zur Transkription</h2>
+
+
+<p class="noindent">Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Offensichtliche
+Satzfehler wurden korrigiert, bei Zweifeln der Originaltext beibehalten.
+Eine Liste der vorgenommenen Änderungen befindet sich hier am Buchende,
+Änderungen der Zeichensetzung sind nicht aufgeführt.</p>
+
+
+<h3><b>Änderungen</b></h3>
+
+<p class="noindent"><i>Seitenangabe<br />
+originaler Text<br />
+geänderter Text</i></p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_001">Seite 1</a><br />
+als er, vierzehn Tage später, um Bertha Vollmer anhielt<br />
+als er, vierzehn Tage später, um Bertha <b>W</b>ollmer anhielt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_003">Seite 3</a><br />
+und wenn sie ihn auch nie ein unfreundlich Gesicht<br />
+und wenn sie ih<b>m</b> auch nie ein unfreundlich Gesicht</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_014">Seite 14</a><br />
+freundlich ihn empfing, wenn er endlich znrückkehrte<br />
+freundlich ihn empfing, wenn er endlich z<b>u</b>rückkehrte</p>
+
+<p class="noindent">
+Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihn genommen<br />
+Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ih<b>m</b> genommen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_015">Seite 15</a><br />
+wo die Gattin plötzlich, unvorbereiiet abgerufen wurde<br />
+wo die Gattin plötzlich, unvorberei<b>t</b>et abgerufen wurde</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_021">Seite 21</a><br />
+ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmischs Wetter<br />
+ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisch<b>e</b>s Wetter</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_036">Seite 36</a><br />
+ihre verschiedenen Freundinen einmal wieder aufzusuchen<br />
+ihre verschiedenen Freundin<b>n</b>en einmal wieder aufzusuchen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_039">Seite 39</a><br />
+sie selbst in ihrer Mitte<b>e</b> in Individum entdeckten<br />
+sie selbst in ihrer Mitte <b>e</b>in Individu<b>u</b>m entdeckten</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_040">Seite 40</a><br />
+als das sie sich wunderten<br />
+als da<b>ß</b> sie sich wunderten</p>
+
+<p class="noindent">
+diesen doch sicher höchst<b>en</b> interessanten Fall<br />
+diesen doch sicher höchst interessanten Fall</p>
+
+<p class="noindent">
+erst auf äußere Veranlassang von sich gegeben<br />
+erst auf äußere Veranlass<b>u</b>ng von sich gegeben</p>
+
+<p class="noindent">
+E ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!<br />
+E<b>s</b> ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_043">Seite 43</a><br />
+sagte die Frau Präsidentin mit einer <b>einer</b> wegwerfenden Bewegung<br />
+sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung</p>
+
+<p class="noindent">
+von der kleinen lehhaften Hofräthin dabei warm unterstützt<br />
+von der kleinen le<b>b</b>haften Hofräthin dabei warm unterstützt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_047">Seite 47</a><br />
+Drittes Kapitel<br />
+Drittes <b>C</b>apitel</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_048">Seite 48</a><br />
+um den Justizrath sein Gesicht zuzukehren<br />
+um de<b>m</b> Justizrath sein Gesicht zuzukehren</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_049">Seite 49</a><br />
+<b>n</b>eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend<br />
+eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_054">Seite 54</a><br />
+Bertling aber, ärgerlich darüber, das er eine verfehlte<br />
+Bertling aber, ärgerlich darüber, da<b>ß</b> er eine verfehlte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_069">Seite 69</a><br />
+wie ein Kind, daß ein neues Spielzeug bekommen hat<br />
+wie ein Kind, da<b>s</b> ein neues Spielzeug bekommen hat</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_072">Seite 72</a><br />
+beobachtete ihn über die Brlle weg<br />
+beobachtete ihn über die Br<b>i</b>lle weg</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_073">Seite 73</a><br />
+während ihre Freundin kam aufzuschauen wagte<br />
+während ihre Freundin ka<b>u</b>m aufzuschauen wagte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_074">Seite 74</a><br />
+An den Feustern hingen aber Gardinen<br />
+An den Fe<b>n</b>stern hingen aber Gardinen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_077">Seite 77</a><br />
+denn die Frau Heßbeger begann jetzt in feierlicher Weise<br />
+denn die Frau Heßbe<b>r</b>ger begann jetzt in feierlicher Weise</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_081">Seite 81/82</a><br />
+sonst bekommen wir nach-ihre Confusion<br />
+sonst bekommen wir nach<b>her</b> Confusion</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_116">Seite 116</a><br />
+abgelegenen Straße vier steile<b>n</b> dunkle<b>n</b> Treppen hinauf geklettert<br />
+abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_118">Seite 118</a><br />
+wußte sie das Gespäch auf das Abenteuer<br />
+wußte sie das Gesp<b>r</b>äch auf das Abenteuer</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_119">Seite 119</a><br />
+»Du er<b>r</b>innerst Dich doch,« fuhr Pauline fort<br />
+»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_132">Seite 132</a><br />
+mit vor Zorn ger<b>r</b>ötheten Wangen<br />
+mit vor Zorn gerötheten Wangen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_138">Seite 138</a><br />
+»Bitte tausendmal um Entschnldigung,« sagte Lorenz<br />
+»Bitte tausendmal um Entsch<b>u</b>ldigung,« sagte Lorenz</p>
+
+<p class="noindent">
+sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Lase frischen Wassers<br />
+sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer <b>V</b>ase frischen Wassers</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_141">Seite 141</a><br />
+werde ich <b>ich</b> mich bis zur nächsten Station bei den Koffern<br />
+werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_144">Seite 144</a><br />
+die Cigarre schmeckte ausgezeichet<br />
+die Cigarre schmeckte ausgezeich<b>n</b>et</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_150">Seite 150</a><br />
+Reiseanzug den entschieden englichen Charakter<br />
+Reiseanzug den entschieden engli<b>s</b>chen Charakter</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_152">Seite 152</a><br />
+Engländer auf den Continent<br />
+Engländer auf de<b>m</b> Continent</p>
+
+<p class="noindent">
+Gepäckträgern und Lohnbedienteu geprellt<br />
+Gepäckträgern und Lohnbediente<b>n</b> geprellt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_155">Seite 155</a><br />
+nach seinem Schein uud fluchte auf deutsch<br />
+nach seinem Schein u<b>n</b>d fluchte auf deutsch</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_156">Seite 156</a><br />
+kein anderer Ausweg, als den gegebenen Rath zu folgen<br />
+kein anderer Ausweg, als de<b>m</b> gegebenen Rath zu folgen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_164">Seite 164</a><br />
+Gewißheit über die Persönlichkiet erlangen konnte<br />
+Gewißheit über die Persönlichk<b>ei</b>t erlangen konnte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_173">Seite 173</a><br />
+meine Hälfte ebenfalls zur rechteu Zeit einbringe<br />
+meine Hälfte ebenfalls zur rechte<b>n</b> Zeit einbringe</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_179">Seite 179</a><br />
+um ihre Morgentoilete zu beenden<br />
+um ihre Morgentoilet<b>t</b>e zu beenden</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_181">Seite 181</a><br />
+in voller Toilete, mit Schmuck und Flittertand<br />
+in voller Toilet<b>t</b>e, mit Schmuck und Flittertand</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_182">Seite 182</a><br />
+verzeihen Sie der Aufregumg, in der Sie<br />
+verzeihen Sie der Aufregu<b>n</b>g, in der Sie</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_184">Seite 184</a><br />
+schon gar keinen möglicheu Ausweg mehr sah<br />
+schon gar keinen mögliche<b>n</b> Ausweg mehr sah</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_190">Seite 190</a><br />
+Ich habe nichts als meinem ehrlichen Namen<br />
+Ich habe nichts als meine<b>n</b> ehrlichen Namen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_196">Seite 196</a><br />
+diesen Platz so rasch als möglich zu erreicheu<br />
+diesen Platz so rasch als möglich zu erreiche<b>n</b></p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_197">Seite 197</a><br />
+Unachtsamkeit verdanke, den wie dieser einmal<br />
+Unachtsamkeit verdanke, den<b>n</b> wie dieser einmal</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_200">Seite 200</a><br />
+ob er aber einen Schnurrbatt gehabt<br />
+ob er aber einen Schnurrba<b>r</b>t gehabt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_201">Seite 201</a><br />
+als ein kleines Mädchen, daß dabei gestanden<br />
+als ein kleines Mädchen, da<b>s</b> dabei gestanden</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_204">Seite 204</a><br />
+»J gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«<br />
+»J<b>a</b> gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_211">Seite 211</a><br />
+und borgte sich noch außerden vom Kellner<br />
+und borgte sich noch außerde<b>m</b> vom Kellner</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_213">Seite 213</a><br />
+alle harmlosen Spiele nnd Vergnügungen hinübertönte<br />
+alle harmlosen Spiele <b>u</b>nd Vergnügungen hinübertönte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_214">Seite 214</a><br />
+wollten wir alle zusammen schmeißeu<br />
+wollten wir alle zusammen schmeiße<b>n</b></p>
+
+<p class="noindent">
+der Lakai eine tiefe, erfurchtsvolle Verbeugung machte<br />
+der Lakai eine tiefe, e<b>h</b>rfurchtsvolle Verbeugung machte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_216">Seite 216</a><br />
+jede Weiblichket bei Seite lassend<br />
+jede Weiblichke<b>i</b>t bei Seite lassend</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_217">Seite 217</a><br />
+das Klimpern des Geldes und die montonen Worte<br />
+das Klimpern des Geldes und die mon<b>o</b>tonen Worte</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_234">Seite 234</a><br />
+aber es fielen ihm in diesen Augenblick<br />
+aber es fielen ihm in diese<b>m</b> Augenblick</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_236">Seite 236</a><br />
+und die Erinn<b>n</b>erung an das Vergangene soll<br />
+und die Erinnerung an das Vergangene soll</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_242">Seite 242</a><br />
+nehmen die Leiden dieses armen Mädchen bald ein Ende<br />
+nehmen die Leiden dieses armen Mädchen<b>s</b> bald ein Ende</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_243">Seite 243</a><br />
+zweitausend Pfund, die er vereist oder verspielt<br />
+zweitausend Pfund, die er ver<b>r</b>eist oder verspielt</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_251">Seite 251</a><br />
+zusammengezogenen Brau<b>n</b>en, daß Sie daß nicht thun<br />
+zusammengezogenen Brauen, daß Sie da<b>s</b> nicht thun</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_255">Seite 255</a><br />
+haben Sie mich auf Ihrem Besuch warten lassen<br />
+haben Sie mich auf Ihre<b>n</b> Besuch warten lassen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_262">Seite 262</a><br />
+weiter nach England braucht, da ich daß selber<br />
+weiter nach England braucht, da ich da<b>s</b> selber</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_282">Seite 282</a><br />
+Ein Fischerboot im Canal, daß wir wegen Zeitungen<br />
+Ein Fischerboot im Canal, da<b>s</b> wir wegen Zeitungen</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_295">Seite 295</a><br />
+geschnittenen Figuren aus vegetablischen Elfenbein<br />
+geschnittenen Figuren aus vegetablische<b>m</b> Elfenbein</p>
+
+<p class="noindent"><a href="#page_297">Seite 297</a><br />
+Und könn<b>n</b>en wir uns deshalb von ihnen trennen?<br />
+Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?</p>
+
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Unter Palmen und Buchen. Erster Band., by
+Friedrich Gerstäcker
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UNTER PALMEN UND BUCHEN. ***
+
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+Foundation
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+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
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+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
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+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
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+ www.gutenberg.org
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+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+</pre>
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+</body>
+</html>
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new file mode 100644
index 0000000..13cff88
--- /dev/null
+++ b/old/44239-h/images/cover.jpg
Binary files differ