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-The Project Gutenberg EBook of Die Welt im Kinderköpfchen, by Josephine Siebe
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-
-Title: Die Welt im Kinderköpfchen
-
-Author: Josephine Siebe
-
-Editor: Dr. Johannes Prüfer
-
-Release Date: August 31, 2013 [EBook #43613]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WELT IM KINDERKÖPFCHEN ***
-
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-
-Produced by Norbert H. Langkau, Iris Schröder-Gehring, and
-the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net
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- Deutsche Elternbücherei
-
- Herausgegeben von Dr. Johannes Prüfer
-
- Heft 40
-
- Die Welt im Kinderköpfchen
-
- Von
-
- Josephine Siebe
-
- [Illustration: Emblem]
-
- Verlag und Druck von B. G. Teubner · Leipzig · Berlin 1919
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-
-Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.
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- Frau Dr. Henriette Goldschmidt
-
- in verehrender Liebe zugeeignet
-
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-Inhalt.
-
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- Seite
- Erste Schritte 3
-
- Aus dem Tagebuch einer Mutter 6
-
- Peters Reise in die weite Welt 8
-
- Die große Verführerin 12
-
- Hansels Liebe 17
-
- Die Fahrt nach Schönblick 19
-
- Pusteblumen 25
-
- Der Brief an den lieben Gott 28
-
- Ein Schlüssel zum Himmel 32
-
-
-
-
-Einleitung.
-
-
-Wenn das Kind im Märchen hört, »er ging bis an das Ende der Welt«, so
-scheint ihm das Ziel nicht weiter erstaunlich und der Weg für einen
-Märchenprinzen schon ergehbar. Denn hinter Stadt, Dorf und Wald, ja
-vielleicht schon hinter dem Gartenzaun liegt für das kleine Kind in
-seiner Phantasie das Ende der Welt; nahe und doch unendlich weit, weil
-seinem Welterkennen immer Neues entgegentritt, mit dem es sich erst
-auseinandersetzen muß. Der Forschungsreisende, der nach langer Fahrt
-unbekanntes Land erblickt, erlebt im Grunde nichts Wunderbareres als das
-kleine Kind, das zum ersten Male eine Straße entlang geht, einen Garten
-betritt, dem sich eine bisher unbetretene Stube, eine Bodenkammer öffnet.
-Tut das Kind allein seine ersten Schritte und geht etwa bis zu einem
-Stuhl, so ist ihm der Stuhl im Augenblick Weltgrenze und Ziel. Doch
-weitet sich für das Kind rasch der Weltbegriff. Hinter dem Stuhl liegt
-die Türe, der Flur kommt, die Treppe, das Haus tut sich auf und Straße,
-Hof und Garten dehnen sich vor ihm, neue Gegenstände, neue Menschen
-treten in den Umkreis seines Blickes und jedes Wort, das es hört, jede
-Blume, jedes Insekt, ein Kieselstein, ein Schneckenhaus, eine Regenlache
-und alles was geht, kommt und fährt erweitern des Kindes Weltbild,
-erweitern es heute namentlich bei dem Großstadtkind mit beängstigender
-Schnelligkeit; doch auch das Kleinstadtkind, ja selbst das vom Lande,
-wenn es nicht in völlig abgelegener Gegend wohnt, lernt im
-Maschinenzeitalter die Welt ungleich rascher kennen als die Kinder
-früherer Zeiten.
-
-Zum sinnlichen Welterfassen tritt frühe auch das Streben, sich mit Gott
-auseinanderzusetzen; freilich, der Himmel, der sich über uns wölbt mit
-Sonne, Mond und Sternen, erscheint dem Kinde greifbar nahe, und wie es
-oftmals begehrt, die lieben kleinen Sterne in seine Händchen zu nehmen,
-es den Mond verlangt und die Sonnenstrahlen fangen will, so nahe,
-menschlich nahe scheint ihm der liebe Gott zu sein. Der ist ihm meist der
-gute alte Mann, der irgendwo hinter der blauen Himmelswand sitzt, mit dem
-es sich abends in seinem Bettchen aussprechen kann, ja mit dem es
-gelegentlich auch etwas schilt wie jenes kleine Mädchen, das bei einem
-plötzlichen Regenguß auf die frisch geputzten Fenster weisend, mit
-erhobenem Fingerlein mahnte: »Na warte nur, lieber Gott, wenn das die
-Mama sieht.«
-
-Der Erwachsene hat für diesen kindlichen Gottesbegriff leider oft nur ein
-Lächeln, wie er manchmal auch nur ein Lächeln hat für die tausendfachen
-Fragen der Kinder nach dem Wesen aller Dinge, für das drängende,
-flehende, nie verstummende Warum und doch wollen die Kleinen vom ersten
-Schritt in die unendliche Welt hinaus, auch wenn diese nur der nächste
-Stuhl ist, ernst genommen werden, verstanden sein von den großen Leuten.
-So ernst wie der Gelehrte, der am heiligen Born der Weisheit lauschend
-grübelt, oder der Forscher, der in nimmersatter Sehnsucht die Welt
-umschifft. Nur wenn wir versuchen, des Kindes Gedanken nachzudenken, wenn
-wir im Verkehr mit dem Kinde gleichsam noch einmal schon zurückgelegte
-Wege wiedergehen, uns des eigenen Werdens bewußt werden, dann kann es uns
-gelingen, einem Kinde gerecht zu werden. Wir müssen wieder mit
-Kindergedanken denken lernen, damit wir anscheinende Torheiten, Unsinn,
-ja schlimme Fehler als Entwicklungsstufen richtig werten können.
-
-In den nachfolgenden Bildern aus dem Kleinkinderleben ist versucht
-worden, das vielgestaltige Welterkennen des Kindes, sein Verhältnis zu
-seiner Umwelt, zur Natur und zu Gott in leisen Umrissen festzuhalten.
-Nicht als Geschichtchen aus Kindermund etwa möchten diese kleinen
-Schattenbilder angesehen werden, sondern als ein Beitrag zu dem großen
-Kapitel »Eltern und Kinder«, dem die vorliegende Elternbücherei in allen
-ihren Erscheinungen dienen will.
-
-
-
-
-Erste Schritte.
-
-
-»Unser Traudchen lernt leider so schwer laufen.«
-
-Die junge Mutter sagte dies immer ein wenig bedrückt, denn von einem
-Erstling verlangt doch die ganze liebe Sippe ein linschen Wunderkindtum;
-wenn es da mit dem Sprechen und Laufen nicht so flink gehen will, wenn
-Kleinchen nicht Spuren ganz ungewöhnlicher Fassungsgabe zeigt oder
-bedeutende Talente verrät, dann ist das für junge Eltern, namentlich wenn
-der Verwandtenkreis groß ist, immerhin peinlich. Und Traudchen war zwar
-rund und rosig, es lachte, versuchte sich auch mit wundersamen Lauten in
-der Redekunst, aber der kleine Ernst von Tante Elli konnte doch alles
-schon viel besser, und Maiers Lotte erst, die nur um zwei Tage älter als
-Traudchen war, erstaunlich, was die alles leistete!
-
-Überhaupt Maiers Kinder! Gegen die kam so leicht kein Kind auf, und Frau
-Maier füllte ihre Besuchsstunden damit aus zu erzählen, was ihre Kinder
-alles sagten, taten, meinten und vermutlich fühlten und dachten.
-
-Vielleicht achte ich doch nicht genug auf mein Kind, dachte Frau Irma
-wohl, wenn sie von der fabelhaften Entwicklung der Maierschen Kinder
-hörte. Und sie versuchte mit Bitten und sanfter Gewalt das schwerfällige
-Kind zum Laufen zu bringen. Traudchen tat dann auch ein paar schwankende
-ängstliche Schritte an der Mutter Hand, doch sobald diese losließ, gab es
-ein Zetergeschrei, und meist fiel Traudchen einfach hin, heulte und
-rutschte heulend zu ihrem Spielteppich zurück. Alle Künste versagten.
-Selbst der Vater, der einmal tatkräftig eingriff und der schwächlichen
-Muttererziehung nachhelfen wollte, erreichte nichts, ja Frau Irma und
-Minna, das Mädchen für alles, riefen, so jämmerlich habe Traudchen noch
-nie geschrien.
-
-Der Arzt erklärte Traudchen dabei für ein völlig normales gesundes Kind,
-er riet zur Geduld und redete lächelnd von Erstlingssorgen. Ach Geduld,
-wenn man sein Kindchen doch etwas bewundert sehen möchte und heimlich,
-trotz aller Versicherungen des Arztes, doch die Angst im Herzen trägt,
-vielleicht ist das Kindchen nicht ganz gesund, vielleicht bleibt es
-zurück im Wachstum an Körper und Geist.
-
-Was man für Sorgen hat um so ein Kindchen!
-
-»Man muß es mit Lockmitteln versuchen«, erklärte der Vater. Und er ging
-hin und kaufte als erstes Lockmittel einen bunten Hampelmann, nach dem
-Traudchen kreischend griff. Zwei Minuten durfte es damit spielen, dann
-wurde der Hampelmann an der Tür befestigt und der Vater rief: »Komm
-Traudchen, komm, sieh Hampelmann!«
-
-»Dada!« Traudchen griff mit den Händchen in die Luft, stellte sich mit
-Hilfe der Mutter auf ihre Beinchen, doch als die losließ, gab es das
-übliche Zetergeschrei. Plumps! saß Traudchen und darüber vergaß es den
-Hampelmann.
-
-Am nächsten Tag versuchte der Vater es mit einem schwingenden Ball, den
-löste ein Holzpapagei ab, ein schnurrender Blechhahn folgte und jedesmal
-gab es den gleichen Verlauf. Traudchen freute sich, griff danach,
-versuchte auch das Gehen, schrie und versuchte schließlich kriechend ihr
-Ziel zu erreichen.
-
-Und immer wieder die Frage: »Kann Traudchen noch nicht laufen?« -- »Nein,
-immer noch nicht!«
-
-Eines Tages kam Frau Maier, die Mutter der vortrefflichen Kinder, sie kam
-von einem Einkaufsgang, und da sie sich nicht allein als besondere
-Mutter, sondern auch als besondere Hausfrau fühlte, kaufte sie immer
-besonders billig, und nachdem sie ihr Erstaunen über Traudchens
-Nichtlaufenkönnen wortreich geäußert hatte, fing sie an, ihre Einkäufe zu
-zeigen. Sie hatte im Warenhaus allerlei Tand erstanden, für den sie
-Bewunderung heischte. Darunter war auch ein kleiner feuerroter Milchtopf,
-der bei dem Auskramen seine Umhüllung verlor, Frau Maier stellte ihn
-etwas achtlos neben sich auf einen Hocker und vergaß ihn über den
-vielerlei weisen Reden, die zu halten sie sich verpflichtet fühlte.
-
-Da stand das Töpfchen und die Sonne blinkerte auf ihm herum, vielleicht
-weil sie nichts anderes zu tun hatte. Denn ein besonderes schönes
-Töpfchen war das kleine feuerrote Jahrmarktdings gerade nicht, keins, das
-auf Ausstellungen oder in einen Glasschrank gehört, aber dem Traudchen
-gefiel es. »Dada!« jauchzte es und patschte in die Hände.
-
-Dada hatte vielerlei Bedeutung. Die Mutter sah auf, doch da Traudchen
-ganz vergnügt an einem Stuhlbein herumkletterte und Frau Maier kein
-Päuslein in ihrem Redefluß eintreten ließ, achtete sie nicht weiter auf
-die Kleine.
-
-»Dada!« Traudchens Hände griffen in die Luft und ihre Blicke hingen wie
-gebannt an dem roten Töpfchen. Wenn's nur nicht so weit gewesen wäre!
-
-Traudchen stand auf einmal auf seinen zwei Beinchen und niemand sah es.
-Und die Kleine vergaß das haltgebende Stuhlbein, ihr Eifer, zu dem roten
-seltsamen Dings zu gelangen, war zu groß. Ein Schrittchen tat es in die
-grenzenlose Weite der Stube hinein, noch einen. »Mein Gott, sehen Sie!«
-Frau Irma ließ Frau Maier nicht Zeit, das notwendige Gewürz unter den
-Kuchen zu mischen, dessen geheimnisvolle Zubereitung sie gerade verraten
-wollte, »sehen Sie doch, unser Traudchen läuft. Fritz, Fritz, Minna kommt
-schnell herein, Traudchen läuft!«
-
-Doch ehe die Gerufenen anlangten, hatte Traudchen schon ihr Ziel erreicht
-und -- es klirrte, platsch lag das rote Töpfchen auf dem Boden.
-
-»Dada!« Traudchen sah sich nicht ohne einen gewissen Stolz über das
-vollbrachte Werk um. »Dada«, sie griff nach einem geheimnisvollen
-Päckchen, was Frau Maier auch auf den Hocker gelegt hatte, doch die kam
-ihr zuvor und mit dem entrüsteten Ruf: »mein schönes Milchkännchen«,
-entriß sie Traudchen den neuen Raub.
-
-»Traudchen läuft, da vom Stuhl bis hierher ist sie gelaufen!« Der Vater
-und Minna bekamen beide das Wunder verkündet und Traudchen platschte mit
-ihren Händchen auf den Hocker und kreischte vor Lust.
-
-Frau Maier lächelte sauersüß. Nein, so hatte sie sich mit ihren Kindern
-wirklich nicht angestellt, und nicht einmal ein Wort der Entschuldigung
-sagten die Eltern. Sie stand auf und erklärte, sie müßte gehen.
-
-»Ist es nicht entzückend, wie sicher das Kind gegangen ist?« Frau Irma
-strahlte. Sie schob mit dem Fuß ein wenig die Scherben beiseite und sagte
-gleichmütig: »Morgen bringe ich Ihnen einen andern Topf, liebe Frau
-Maier. Im Warenhaus gibt es ja noch so viele.«
-
-Frau Maier kam gar nicht dazu, eine höfliche Abwehr zu sagen, denn der
-junge Vater rief eifrig, man müßte etliche von diesen Töpfen holen, denn
-es sei immerhin erstaunlich, warum das Kind es gerade darauf abgesehen
-hätte und man müßte untersuchen, ob Farbe oder Form den Anreiz gegeben
-hätten.
-
-Frau Irma war das gleichgültig. Sie dachte nur: mein Kindchen läuft, Gott
-sei Dank, es hat keinen verborgenen Fehler.
-
-Und nach zwei Jahren klagte die junge Mutter: »Unser Traudchen ist ein
-Quirl. Nicht zehn Minuten sitzt das Kind still, heute ist es wieder
-heimlich auf die Straße gelaufen, wenn es nur nicht so eine Range wird
-wie Maiers Kinder.«
-
-Die Sorgen nehmen halt kein Ende!
-
-
-
-
-Aus dem Tagebuch einer Mutter.
-
-
-Wirklich, ich bin keine eingebildete Mutter. Ich finde zwar meinen
-Erstgeborenen über die Maßen lieblich, doch das finden andere auch, die
-beiden Großmütter zum Beispiel, aber ich erkenne doch an, daß es noch
-andere nette Kinder gibt. Wenn freilich mein kleiner Schelm so seinen
-blonden Kopf an meine Brust lehnt und mich mit seinen dunklen Augen
-anstrahlt, dann -- ja dann erscheint er mir eben wie ein kleiner Engel.
-
-Doch ganz engelhaft ist er nicht immer. Leider. Er hat einen Dickkopf.
-Sein Vater sagt, den hat er von mir, ich sage, darin gleicht er ihm.
-
-Neulich kam Tante Berta gerade dazu, als Mutter und Sohn über das
-Spazierengehen anderer Meinung waren. Etwas laut ging es zu. Das kann ich
-nicht leugnen. Das Söhnlein trampelte und schrie, die Mutter schalt und
-weinte. Nein, engelhaft war es wohl nicht. Doch abscheulichen Trotzkopf
-brauchte Tante Berta den Buben auch nicht zu nennen. Das war zu viel.
-
-Wenn Bubi nur weniger geschrien hätte! Zum Davonlaufen war es wirklich
-und Tante Berta lief auch davon. Ich begleitete sie hinaus, ein bißchen
-heiß und aufgeregt und just da kam unsere Hausgenossin, die Hofrätin, die
-Treppe hinauf. Sie sah meine Tränen, hörte Tante Bertas Ermahnungen,
-strenger zu sein, und da klagte ich ihr meine Not.
-
-Da strich mir die liebe alte Frau sacht über das heiße Gesicht und sagte
-sanft: »Ruhe und Geduld braucht es zum Muttersein. Kind, mit Heftigkeit
-in Strenge und Liebe richtet man wenig aus.«
-
-»Ich würde den Bengel tüchtig verwichsen«, rief Tante Berta, die mit
-festem Schritt die Stiege abwärts ging.
-
-Wer hatte nun recht?
-
-Still kehrte ich zu meinem kleinen Unband zurück. Mit verheultem
-Gesichtchen saß er in seiner Ecke und knurrte: »Will nicht spazieren
-gehen, will nicht gehen!«
-
-Ich schwieg. »Ruhe und Geduld« klang's in mir nach. Zwang ich ihn jetzt,
-begann wohl das Geschrei von neuem. Ich setzte mich also an meinen
-Schreibtisch und begann meine Wirtschaftsrechnung.
-
-Auf einmal kam aus Bubis Ecke ein Seufzerlein.
-
-Ich rechnete weiter -- wieder ein Seufzer!
-
-Nun war er still, dann klang es zaghaft: »Mutti!«
-
-Mein Kopf machte eine halbe Wendung. Nein noch war es nicht Zeit. Ich
-rechnete krampfhaft 15 und 37 sind 74 -- oh welche närrischen Summen
-kamen heraus!
-
-Wieder ein Seufzerlein. Es raschelte. Trapp trapp kam's daher, und dann
-huschelte es sich weich und warm an mich an und flehend und ach so
-kläglich klang es: »Mutti -- Mutti!«
-
-Rasch wollte ich den lieben unnützen Schelm an mich ziehen und ihn
-tüchtig abküssen, als mir der alten Frau Mahnung einfiel: »Mit Heftigkeit
-in Strenge und Liebe richtet man wenig aus.« Ich streichelte also nur
-linde meinen Trotzkopf und fragte gelassen: »Warum hast du denn keine
-Lust zum Spazierengehen?«
-
-»Weil -- weil ich doch in der Eisenbahn saßte und weil ich doch Schaffner
-war und weil -- weil ich doch nach Berlin fahrte!«
-
-Also im Spiel hatte ich ihn gestört, das war's. Herausgerissen aus seinem
-heiteren bunten Phantasieland hatte ich ihn.
-
-Ich sagte ganz ernsthaft: »Schau, Bubi, nun bist du doch einmal
-ausgestiegen, da kannst du ja auch spazieren gehen. Wenn du heimkommst,
-fährst du dann weiter!« -- »Hm!«
-
-»Marie, bringen Sie Bubis Mantel, wir gehen jetzt spazieren.«
-
-Und er ging mit. Erst etwas mürrisch, dann so froh wie immer.
-
-Mein -- ich muß es leider gestehen -- erster Sieg.
-
-Doch ich hoffe mehr zu erringen. Ruhe und Geduld, ich will immer daran
-denken und auch daran, meinen Buben nicht zu rasch aus seinem Spiel zu
-reißen. Ich werde ja selbst ärgerlich, wenn man mich gedankenlos in
-meiner Arbeit stört, und dem Kinde ist das Spiel Arbeit, Betätigung, für
-die es ganz unbewußt von den Erwachsenen Verständnis fordert.
-
-Was ist das, Bubi schreit nebenan! Ganz aufgeregt klingt seine Stimme.
-»Marie, Marie, Sie gehen ins Wasser.« -- »Ih nee!« brummt Marie und
-schlurft aus dem Zimmer.
-
-Ich gehe hinüber. Da sitzt Bubi auf einem Kissen auf dem Fußboden und
-ruft mir glückselig zu: »Ich bin Schiff, Mutti, fall nicht ins Wasser!«
-
-Nein, ich will nicht in das rinnende klare Traumwässerlein treten, auf
-dem er so selig dahinfährt, wie der Schiffer auf dem blauen Meer der
-Insel des Glücks zuschifft.
-
-
-
-
-Peters Reise in die weite Welt.
-
-
-Wenn ein kleiner Peter Höslein trägt mit Taschen darin und vier Jahre alt
-ist, dann kann er schon in die weite Welt reisen. Nur die Unvernunft der
-großen Leute sieht das nicht ein.
-
-Ach, die großen Leute! Man hat es manchmal schwer mit ihnen, wenn man
-selbst noch nicht zu ihnen gehört. Da sagt zum Beispiel der Vater an
-einem schönen lichten Sommertag ganz ungewöhnlich streng: »Peterle, wenn
-du wieder wie gestern die Kaninchen aus dem Stall läßt, dann gibt es
-Haue, merke es dir!«
-
-Peter hat heute gar nicht an die Kaninchen gedacht, aber nun läuft er
-schnell zum Stall, natürlich nur, um den Kaninchen ihr Schicksal zu
-verkünden. Er redet mit den geliebten Schnupperchens und denkt nicht
-daran, die kleine Stalltüre zu öffnen. Bewahre. Wenn nur das weiße
-Kaninchen, sein besonderer Liebling, nicht so eindringlich bitten möchte.
-Peter nimmt dies beharrliche Am-Gitter-Sitzen für eine sehr flehende
-Bitte, und er redet dem Weißling betrübt zu: »Mußt drin bleiben!«
-
-Aber da hopst ein gelbes heran, auch ein schwarzes nähert sich, alle
-sehen Peter so bittend an, und auf einmal, Peter weiß selbst nicht, wie
-es geschehen konnte, ist das Türlein auf, und husch, husch! laufen die
-Kaninchen in den Garten, in den schönen gepflegten Garten.
-
-Wer soll sie nun wieder einfangen?
-
-Peter weiß gleich, das kann er nicht. Vorgestern hat er die Ausreißer
-heulend gejagt, aber keines ergriffen, und dazu fällt ihm noch des Vaters
-Drohung ein. Und Vater spaßt nicht.
-
-Peter rennt durch den Garten, dahin, dorthin. Dabei kommt er an das
-Ausgangstor, ein Spältchen steht es auf, man kann gut hinausschlüpfen.
-Ausreißen, wie die Kaninchen ausgerissen sind, in die weite Welt
-hinauslaufen!
-
-Peter denkt es nicht, er fühlt es nur halb unbewußt, und plötzlich steht
-er draußen auf der Straße. Zum erstenmal allein. Peterle ist ein
-wohlbehütetes Kind, immer geht er sonst nur mit den Eltern oder mit
-Fräulein spazieren und immer nur in den Gängen des nahen Parkes, er kennt
-nur die Straße, in der seines Vaters Villa liegt, und die nachbarliche,
-in der die Großeltern wohnen, nicht jene Straßen, in denen die Häuser
-dicht gedrängt stehen, himmelhoch aufgebaut. Und doch braucht man nur ein
-paar Schritte zu gehen, und schon läuft so eine lange Häuserzeile dahin,
-eine Straße voll Leben. Wagen fahren, Menschen hasten sie entlang und
-Kinder spielen auf ihr, immer zu jeder Tageszeit, viele, viele Kinder.
-
-So viele Kinder hat Peter noch gar nicht gesehen. Wenn nun einer in die
-weite Welt reisen will und nicht fahren kann, dann muß er laufen, und
-Peterle läuft, ein bißchen Angst, erwischt zu werden, ist auch dabei,
-also rennt er trapp trapp die Straße entlang, und so eilig hat er es, daß
-er eine dumme Bordschwelle nicht sieht, er stolpert und pardauz! gibt es
-den ersten Aufenthalt auf der Reise in die weite Welt hinaus.
-
-Wenn Peter daheim fällt, dann heult er, bis man ihn aufhebt, ihn tröstet,
-ihm einen Leckerbissen verspricht, und darum heult er jetzt auch, heult
-jämmerlich, aber -- es hebt ihn niemand auf. Nur eine dünne schrille
-Stimme schreit ihn an: »Biste gefall'n?«
-
-Es ist, als ob diese Stimme den Kleinen in die Höhe zieht, er steht auf
-und sieht sich höchst verwundert um, da steht ein Mädel, etwas größer als
-er, die sieht ihn spöttisch an und fragt höhnisch: »Haste dich dreckig
-gemacht?«
-
-Daß die weißen Höslein schmutzig sind, bekümmert Peter nicht weiter, denn
-daheim liegen noch viele saubere weiße Höslein, er sieht nur die
-Fragerin, wie ein Weltwunder starrt er sie an. Sie trägt ein
-verschlissenes Kleid, im schwarzen Wuschelkopf brennt ein rotes Bändchen
-und in den festen braunen Händchen hält sie eine unglaublich dicke
-Schnitte, deren Musbelag seine Spuren dem ganzen Gesichtchen aufgedrückt
-hat.
-
-»Willste mal beißen?«
-
-Peter ißt zu Hause nicht alles, was man ihm reicht, aber in die dicke
-Schnitte beißt er herzhaft hinein, und während er kaut und schluckt und
-auch ein Musbärtlein bekommt, sagt die Spenderin: »Ich heiße Mine, wie
-heiste denn?«
-
-Peter gurgelt seinen Namen heraus, und die Freundschaft ist geschlossen.
-Mine pflegt schnell Freundschaften zu schließen, und weil weder Guste
-noch Marie, Liese, Otto, Fritze und Paul just auf der Straße sind, um mit
-ihr zu spielen, kommt ihr der kleine Weltreisende gerade recht. Sie
-fragt: »Wo kommste denn her?«
-
-Peter weiß nicht, wo seines Vaters Haus liegt, er ahnt aber dumpf, Mine
-würde Verständnis haben für seine Reise in die weite Welt. Er erzählt.
-Nicht ganz so zungenschnell, wie Mine redet, aber die versteht ihn gut,
-sie nickt und antwortet beifällig: »Wenn ich Haue kriegen soll, reiß ich
-immer aus. Vater haut so sehr. Woll'n mer Himmel und Hölle spielen?«
-
-Peter kennt das Spiel nicht, und Mine nennt ihn ohne viel Umstände dumm,
-sie sieht ihn etwas verächtlich an, aber sein weißer Anzug, seine
-wohlgepflegte Niedlichkeit versöhnen sie doch wieder, und sie nimmt den
-kleinen Ausreißer gnädig als Lehrling an. Und dann kommen Guste und
-Marie, Fritz und Paul gesellen sich dazu, und alle blicken halb
-mißtrauisch, halb verlegen den »feinen Neuen« an. Doch Mine erklärt, und
-das Zauberwort: »Er ist ausgerissen« befördert das Vertrauen; Peter darf
-mittun.
-
-Sie spielen auf der Straße. Peter hat es noch nicht geahnt, welche
-wunderbaren Spiele es gibt. Himmel und Hölle ist bald abgetan, Feuerwehr
-wird gespielt und Schutzmann. Paul mimt zur johlenden Freude der anderen
-einen Betrunkenen, so wie gestern einer auf der Straße herumgetorkelt
-ist. Er schimpft wie der Betrunkene, stößt Worte aus, die Peter noch nie
-gehört hat, aber die er sich flinker merkt als die Verslein in seinen
-Bilderbüchern, die Fräulein ihm manchmal vorsagt. Fritz ist ein sehr
-schneidiger Schutzmann, die Mädels kreischen, und Peter kreischt mit. Er
-findet das Spiel so köstlich wie noch keins zuvor, und er vergißt darüber
-den Garten, die entlaufenen Kaninchen, alles; er ist draußen in der
-weiten, unbekannten Welt, und er genießt sein erstes Abenteuer mit vollen
-Zügen. --
-
-In Peters Elternhaus ist die Sorge wach geworden.
-
-Fräulein hat des Kleinen Verschwinden zuerst entdeckt. Sie meint, er habe
-sich versteckt, und sie sucht ihn, erst lässig mal seinen Namen rufend,
-dann besorgter, aufgeregter; sie läuft mit ihrer Angst zu den anderen
-Hausbewohnern und zuletzt sind alle auf der Suche nach dem Ausreißer. Sie
-rennen auf die Straße, fragen da und dort, niemand hat Peter gesehen, und
-die Mutter weint verzweifelt; sie sieht ihr Kind bereits überfahren,
-verschleppt, sie ruft nach ihrem Mann, nach der Polizei. Der Fernsprecher
-klingelt, und als die Aufregung auf das höchste gestiegen ist, erscheint
-Fräulein mit dem heulenden widerborstigen Peter. Er sieht schmutzig und
-erhitzt aus, daß er seine Weltreise so schnell aufgeben mußte, bereitet
-ihm offenbar wenig Vergnügen.
-
-Mit Straßenkindern hat er gespielt. Unglaublich!
-
-Die Mutter ist entsetzt, Fräulein ist entsetzt, und die Mädchen stellen
-sich an, als wäre ein goldenes Krönlein in einen tiefen Brunnen gefallen.
-
-Der Vater lacht. Doch er ist ein Mann der Tat und vergißt nicht, sein
-väterliches Wort einzulösen. Diesmal hilft kein Bitten der Mutter, nicht
-Fräuleins Tränenströme. Vater und Sohn reden eindringlich und recht
-unangenehm miteinander, und zuletzt sagt der Vater stolz auf seine
-Erziehungskunst: »So, das Ausreißen habe ich ihm gründlich ausgetrieben.«
-
-Nach drei Tagen ist Peter wieder verschwunden.
-
-Diesmal ist es kein unbewußtes Hineintappen in die weite Welt mehr,
-heimlich und bedacht ist er entschlüpft; denn die Straße mit Mine und
-ihren Spielgenossen erscheint ihm lockender als der große, stille Garten;
-in ihm brennt die Sehnsucht, einer unter anderen zu sein. Fräulein hat
-die Flucht entdeckt, und sie holt ihn diesmal zurück, ohne erst das Haus
-zusammenzuschreien, nur der Mutter wird der neue Streich verraten, und
-die beiden Frauen reden eindringlich auf Peter ein; seine Sünde wird ihm
-wortreich vorgehalten, und als die Mutter meint, es sei genug, redet
-Fräulein noch weiter.
-
-Peter schielt sie bockig an, und auf einmal sagt der wohlerzogene kleine
-Junge, der nach seiner Eltern Willen aufwachsen soll, behütet von allem
-Häßlichen, Unreinen der Welt, trotzig zu Fräulein: »Du Luder!«
-
-So sagt Mine, und Mine ist für ihn Lust, Spiel, Lachen; sie ist ihm das
-bunte, wechselreiche Leben, und was Mine sagt, ist fein, hat Geltung für
-ihn.
-
-Am nächsten Tag versucht Peter es wieder, auszureißen. Die Sehnsucht nach
-dem Draußen, nach den andern verläßt ihn nicht mehr.
-
-
-
-
-Die große Verführerin.
-
-
-»Mutti, dürfen wir auf die Straße?«
-
-Das Trüpplein steht vor der Mutter, die Augen glänzen
-unternehmungslustig, sie hoffen auf ein Ja, und die Mutter sagt es auch,
-sie sagt es freilich ungern und zögernd, es ist ihr gar nicht recht, wenn
-die Kinder allein spielen. Doch, um sie spazieren zu führen, dazu fehlt
-es ihr an der Zeit, und die drei lebhaften Dinglein immer in der engen
-Wohnung zu lassen und ihnen kein Draußensein zu erlauben, geht doch auch
-nicht an. Luft und Sonne, sie brauchen beide so nötig.
-
-Doch der Mutter ist die Straße unheimlich, ihre Flurnachbarin hat gesagt:
-»Das sind Kleinstadtgewohnheiten, die muß man überwinden. Wer nicht mit
-'nem goldenen Löffel in der Hand geboren ist, der darf sich heute nicht
-absperren. Meine Kinder sind immerzu auf der Straße, da werden sie dreist
-und umgänglich und kommen nachher gut fort im Leben.«
-
-Gut fortkommen im Leben, es leichter haben als ich sollen meine Kinder
-auch, denkt Frau Anna. Um ihretwillen ist sie ja weggezogen aus der
-lieben kleinen Heimatstadt, auf deren Plätzen noch die Brunnen rauschen
-wie in einem Eichendorffschen Liede. Kluge Ratgeber haben gemeint, sie
-würde in der Großstadt bessere Arbeitsgelegenheiten haben, und sie ist
-dem Rat gefolgt und hat wirklich die erhoffte Arbeit gefunden, nun sitzt
-sie von früh bis abends an der Maschine und stickt mit farbiger Seide
-feine schöne Blumen und Muster auf köstliche Stoffe. Dem Prunk und
-heiterem Glanze dient die Arbeit ihres einsamen Lebens. Ihr Mann ist tot
-und die Sorge für ihre drei Kinder ruht auf ihr. Eine schwere Sorge, ja,
-und doch eine liebe Sorge.
-
-Frau Anna hört die Flurtüre klappen, jetzt trappeln ihre drei die Treppen
-hinab, und der große Bruder, der nun bald ein Schulrekrut ist, beschützt
-sorgsam die kleinen Schwestern, so wie er es daheim schon tat.
-
-Wenn nur die Straße, der sie zustreben, auch jener der verlassenen Heimat
-gleichen möchte: Da hatten sich Gärten zwischen die Häuser geschoben und
-die Bäume hatten im Frühling ihre Blüten, im Sommer und Herbst wohl auch
-einen Teil ihrer Früchte auf die Straße niederfallen lassen, zum Ärger
-ihrer Besitzer, zur Freude der Kinder.
-
-Die Maschine klappert, Stich um Stich. Frau Anna stickt verschlungene
-Linien auf blauen Grund; wer der Linien Anfang und Ende nicht kennt, hält
-das Ganze wohl für ein regelloses Gewirr, und doch ist es ein Muster,
-schön und geheimnisvoll, schwer zu enträtseln freilich, wie manchmal des
-Lebens Gang.
-
-Die Zeit vergeht. Frau Anna sieht nach der Uhr und erschrickt, die Kinder
-bleiben doch so lange aus.
-
-Sie wird unruhig und wartet, und die Arbeit schreitet langsamer voran. Da
-endlich krabbelt es draußen an der Flurtüre, ein zaghaftes Klingeln
-ertönt. Das ist doch nicht der Seppel, der klingelt immer herzhafter, vom
-Stuhl kann man fallen vor Schreck, wenn der Einlaß begehrt. Frau Anna
-geht und öffnet und sie findet draußen Ruth und Trinchen stehen, und
-allen beiden laufen die Tränen über die Bäckchen. »Seppel ist
-fortgelaufen«, klagt Ruth, und das Trinchen jammert: »Fottelaufen!«
-Seppel hat die Schwestern allein gelassen! Zum erstenmal tat er das.
-
-Frau Anna denkt nur an ein Unglück, das geschehen sein muß, und sie
-bringt es kaum noch fertig, die etwas redselige, aber immer hilfsbereite
-Nachbarin um Schutz für ihre beiden Kleinen zu bitten, dann rennt sie
-eilig die Treppe hinab, ihren Jungen zu suchen, ihren Liebling. Wo ist
-er, was ist ihm begegnet?
-
-Sie braucht nicht weit zu gehen, da findet sie ihn schon. Er steht mitten
-unter einer Schar von Buben, der Kleinste ist er unter ihnen, aber sein
-Stimmlein kräht doch laut im Chore mit.
-
-»Seppel!« Als die Mutter ihn ruft, schrickt er zusammen, er blinkert
-verlegen mit den Augen, denn leise dämmert der Gedanke an die verlassenen
-Schwestern in ihm auf. Unsicher murmelt er: »Sie sind weggelaufen.«
-
-»Nein, du bist weggelaufen!« Frau Anna sagt es ganz ruhig, und ein
-heimliches Lachen kommt ihr, als sie in Seppels bedrücktes Gesichtlein
-sieht, sie straft ihn aber doch mit Worten, wenn sie auch milde sind, und
-schon auf der zweiten Stiege stammelt der Kleine reumütig die Bitte um
-Verzeihung, sagt, er will's nicht wiedertun. Das Versprechen kommt aus
-ehrlichem Herzen, und die Mutter atmet auf, als sie ihre drei wieder
-beisammen hat.
-
-Am nächsten Tag gelobt Seppel feierlich, die Schwestern treu zu hüten,
-und sie kommen auch alle drei vereint wieder zurück, ein bißchen verheult
-sieht das Trinchen aus, es ist hingefallen, weil die beiden Großen zu
-schnell gelaufen sind. Der Feuerwehr nach.
-
-Was kommt alles auf so einer Straße daher, was zum Nachrennen verlockt!
-
-Besonders so einen kleinen, kecken Draufgänger, wie der Seppel ist,
-einen, der einem dummen Streich nicht immer ausweicht und dem sich leicht
-ein Geschehen im Bewußtsein vergrößert und verschiebt, weil seine
-bewegliche Phantasie alles zu einem besonderen Erleben gestaltet.
-
-Wenn die Kinder zurückkommen, haben sie immer viel zu berichten, sie
-nennen auch Namen von anderen Kindern, und manchmal fallen Worte, bei
-denen die Mutter erschreckt aufhorcht und mahnt, das sagt man nicht und
-dies nicht. Nur das Trinchen hat immer weinerlich das gleiche Erlebnis zu
-beklagen. »Bin defall'n.«
-
-Frau Anna merkt es, das Trinchen kommt bei dem Auf-der-Straße-Spielen zu
-kurz, und an einem Tage, der warm und sonnenreich ist, als wäre es schon
-Frühling, verläßt sie die Arbeit und geht ihren Kindern nach, um zu
-sehen, mit wem sie unten spielen.
-
-Als Frau Anna die Straße betritt, erschrickt sie vor ihr. Der warme Tag
-hat mehr Menschen als sonst herausgelockt, und die Straße ist ganz
-erfüllt von brausendem Leben, ihr, der Kleinstädterin, erscheint es
-ungeheuer, und doch rechnet der Einheimische diese Straße zu den
-stilleren der Stadt. Die Mutter schaut ängstlich nach ihren Dreien aus,
-und übersieht dabei beinahe das Trinchen, das auf der Bordschwelle
-zwischen Bürgersteig und Fahrdamm sitzt, ganz allein hockt es da und haut
-mit einem alten Blechlöffel immer auf das Pflaster und summt vor sich
-hin: »Bumsa, bumsa!« Die Puppe liegt daneben, und inmitten alles Lebens
-erscheint der Mutter ihr Kleinchen so unsäglich verlassen, daß ihr die
-Tränen kommen. Sie hebt es auf, und Trinchen jauchzt laut beim Anblick
-der Mutter, aber gleich klagt es wieder, wie so oft: »Bin defall'n.«
-
-Nach Ruth braucht Frau Anna nicht weit zu suchen, die kommt bald
-angerannt, will nach dem Schwesterchen sehen und erzählt strahlend, sie
-hätten Haschens gespielt, aber das Trinchen könne noch nicht so geschwind
-laufen. Und Seppel?
-
-Der spielte mit den großen Jungen Krieg, er hatte die Schwestern wieder
-vergessen, und als die Mutter suchend die Straße entlang geht und eine
-ganze Schar Buben daherstürmen sieht, begreift sie es, Seppel ist eben
-ein Junge, er will sich austoben. Diesmal ist Seppel auch gar nicht
-reumütig, ja er brummt, als die Mutter ihn ruft, und er setzt das Brummen
-oben fort; denn er kommt sich ein wenig wie gefangen im Käfig vor.
-
-Am nächsten Tag hat sich der vorzeitige Frühlingsglanz in Regen
-verwandelt, und auf Frau Annas Herz ist eine neue Sorge gesunken,
-Trinchen fiebert und liegt im Bett. Die Nachbarin holt bereitwillig den
-Arzt herbei, der kommt auch und beruhigt die Mutter, es wäre nicht
-schlimm. Dennoch wagt sich Frau Anna von der Kleinen nicht fort, und da
-die Nachbarin keine Zeit hat, schickt sie Seppel nachmittags auf die
-Straße, er soll allerlei einholen. Sein Wiederkommen dauert sehr lange,
-und als er endlich kommt, tanzt die Klingel nicht so lebhaft wie sonst,
-nur zaghaft tönt sie, und Seppel kommt sehr bedrückt in das Zimmer, und
-sein Blick weicht scheu dem der Mutter aus. Was bedrückt ihn denn?
-
-Frau Anna prüft das Eingeholte, es ist alles da, nur das Geld, das Seppel
-zurückbringen soll, fehlt. Er hat es verloren. Noch während er das Wort
-ausspricht, kommen ihm die Tränen; er heult laut und erklärt schluchzend,
-man hätte es ihm fortgenommen.
-
-»Wer denn?«
-
-Seppel schweigt. Im Mundwinkel und am Kinn sieht die Mutter zwei
-verdächtige braune Fleckchen, und sie frägt und forscht, und da kommt es
-denn heraus, zwei Freunde von der Straße, zwei größere Jungen, haben
-Seppel das Geld fortgenommen und es in Näschereien angelegt, ihm haben
-sie ein Beuteteilchen davon abgegeben und den guten Rat dazu, das Märlein
-vom verlorenen Gelde zu sagen. --
-
-In dieser Nacht findet Frau Anna keine Ruhe. Sie sitzt an Trinchens Bett
-und hört den Atem des Kindes ein wenig unruhig gehen. Nebenan in der
-Kammer schlafen Ruth und Seppel tief und fest. Der Bube ist unter Tränen
-eingeschlafen, und als die Mutter einmal zu ihm geht, sieht sie ein
-Lächeln auf seinem Gesichtchen kommen und gehen, seine Schulderkenntnis
-ist noch nicht so tief, um ihm den Schlaf zu stören, noch spürt er nicht,
-wo sich die Wege senken, die in die Tiefe führen.
-
-Frau Anna geht ruhelos zwischen Kammer und Stube einher. Trinchen schläft
-jetzt ganz ruhig, und sie tritt an das Fenster und sieht auf die Straße
-hinab.
-
-Es hat geregnet und die Lichter spiegeln sich auf dem feuchten Pflaster.
-Die Fenster gleichen alle geschlossenen toten Augen, nur zwei glänzen
-noch hell in die Nacht hinaus. Und Frau Anna denkt, wer ist es, der dort
-noch wacht, vielleicht auch eine Mutter in Sorge wie ich?
-
-Da hallen Schritte unten. Ein paar Männer reden laut, Frauenstimmen
-mischen sich hinein und ein häßliches kreischendes Lachen schallt auf.
-Dann verlieren sich Schritte und Stimmen in der Ferne, nur der häßliche
-Nachklang bleibt Frau Anna noch im Ohr. Und ein Grauen packt sie vor der
-langen dunklen Straße da unten, der großen Verführerin. Was verhüllt und
-verbirgt sie alles, was erblickt der Wissende und hört der Hörende, wenn
-er sie entlang geht? Wieviel Jugend, wieviel lachender Leichtsinn fiel
-ihr schon zum Opfer!
-
-Da tönt nebenan ein leises Rufen auf und rasch tritt sie zurück und geht
-wieder zu ihren Kindern. Seppel sitzt aufrecht im Bett und als die Mutter
-in den Lichtschein der Lampe tritt, blinzelt er schlaftrunken. »Durst,
-Mutti«, murmelt er.
-
-Frau Anna läßt ihn trinken. Er schluckt ein paarmal, zuletzt schon mit
-geschlossenen Augen, dann sinkt er zurück, greift noch tastend nach der
-Mutter Hand und ein ganz holdes Lächeln geht über sein Gesichtchen.
-Mutti! Da ist er wieder eingeschlafen und vielleicht tummelt er sich nun
-schon auf der allerbuntesten Traumwiese herum. Der Mutter Hand aber hält
-er fest, und aus dieser kleinen Hand scheint der Frau ein Kraftstrom
-zuzufließen. Ihr Herz schlägt ruhiger, still sitzt sie im warmen Schein
-der Lampe, draußen liegt die Straße im Dunkel, aber innen ist Licht und
-Leben. Liebes junges Leben, das ihr gehört. Wird sie es schützen können
-gegen die Welt draußen?
-
-Sie lächelt tapfer. Meine Kinder, denkt sie, meine Kinder, und es ist ihr
-als fühle sie ihre Stärke wachsen. Riesenkraft kann eine Mutter haben.
-
-
-
-
-Hansels Liebe.
-
-
-Elf Tanten und vier Onkels, alle sollte Hansel lieben, und er stopfte sie
-auch wirklich alle in sein Herzelein hinein, so gut es ging, er spendete
-Patschhände und freundliche Blicke, er ließ sich auch mal küssen, doch
-glücklicherweise nicht allzugern. Und wenn die Tanten gar zu lange bei
-seiner Mutter blieben, war er höflich und öffnete die Flurtüre und rief
-in das Zimmer hinein: »Ich habe schon die Türe aufgemacht.«
-
-Machte er Pläne für künftige Lebenszeiten, er schwankte, ob er Kutscher,
-General oder Schutzmann werden sollte, dann brachte er auch da und dort
-einen Onkel oder einige Tanten unter, von letzteren versprach er etlichen
-die Ehe und einen Onkel ernannte er schon zu seinem Trompeter, im Fall er
-das Generalsein erwählte.
-
-Die Tanten waren mitunter ein bißchen eifersüchtig gegenseitig auf
-Hansels Liebe, obgleich der Kleine seine Gunst ziemlich gerecht verteilte
-und die Schokolade von Tante Anna genau so gern aß wie die von Tante Ida,
-sie hätten aber alle gern in seinem kleinen Herzen auf dem Sofa neben
-Vater und Mutter gesessen, aber der Platz gehörte für einige Zeit jemand,
-der gar nichts davon ahnte.
-
-Am eifersüchtigsten warb Tante Ida um Hansels Liebe; mit süßen Gaben, mit
-Spaß und Neckerei suchte sie das kleine Herz an sich zu fesseln, es
-gehörte ihr auch, bis die seltsame Nebenbuhlerin kam.
-
-Ein Vorfrühlingstag war es. Ein rauhes Lüftlein wehte, und Tante Ida
-strebte mit Hansel heimwärts, sie fand, es sei Zeit, und sie war der
-Ansicht, ihr Tantenamt gut erfüllt zu haben. Eine Trillerpfeife -- seine
-höchste Sehnsucht zur Zeit -- steckte in seiner Tasche, ein Küchlein
-ruhte auf dem Grunde seines Magens, und immer hatte Tante Ida vorsichtig
-die Sonnenseite aufgesucht.
-
-Und auf einmal walzte sie daher: »Hansels Liebe«.
-
-Die Straße zitterte und dröhnte, schwarz, ungeheuer, fauchend kam sie
-angekeucht, die Dampfwalze.
-
-Hansel stand wie angewurzelt.
-
-»Komm«, mahnte die Tante, »komm!«
-
-Hansel rührte sich nicht. Seine Augen ruhten unverwandt auf ihr, der
-Herrlichen. Was war selbst die Elektrische gegen sie!
-
-Die Tante bat und mahnte, es half alles nichts. Hansel rührte sich nicht
-von der Stelle. Endlich rief die Tante, der es kühl um die Ohren wehte,
-ärgerlich: »Ich glaube wirklich, Hansel, du hast die Dampfwalze lieber
-als mich.«
-
-Und Hansel drehte sich um, sah die Tante liebenswürdig mit seinen
-strahlenden Braunaugen an und sagte tröstend: »Nur ein bißchen, Tante.«
-Vergessen waren alle Liebesbeweise, die Dampfwalze hatte gesiegt.
-
-Wer kennt sich aus in einem Kinderherzen!
-
-Hansel, der inzwischen ein Hans geworden ist, will Ingenieur werden. Wenn
-er das Dröhnen und Rasseln der Maschinen hört, wenn die Bahnen sausen,
-die Kraftwagen surren, wenn er den gewaltigen Rhythmus der Arbeit spürt,
-dann zuckt sein Herz in tiefer Freude, weil er ein Mitschaffender sein
-kann, und er lauscht dem Zusammenklingen der vielen Stimmen so hingegeben
-wie damals, als er die Dampfwalze erblickte.
-
-
-
-
-Die Fahrt nach Schönblick.
-
-
-Einmal, so um die Sommerferienzeit, sagte der neunjährige Hellmut beim
-Mittagessen: »Kirchners verreisen; Max sagt, er kann dann auf 'nem
-richtigen Schiff fahren, immer, alle Tage.«
-
-Die zehnjährige Else bekommt unruhige, erwartungsvolle Augen, und
-Sehnsucht schwingt in ihrer Stimme, als sie erzählt: »Bei uns in der
-Klasse reisen fast alle.«
-
-In dem blassen Gesicht der Mutter zuckt es, sie sieht an ihrem Mann
-vorbei; denn sie weiß genau, der denkt jetzt: Könnte ich doch mit euch
-auch eine Ferienreise machen, einmal ein paar Wochen lang im Walde leben.
-Im Wald, den er so liebt, er, der Förstersohn.
-
-Wenn nur nicht alles so teuer wäre, wenn man nur einmal etwas sorgloser
-dem Tage leben könnte!
-
-Weil die Eltern schweigen, verebbt das Gespräch.
-
-Den beiden Kleinen, die mit ihren fünf und drei Jahren ohnehin noch keine
-Reisesehnsucht kennen, ist es gleich, ob eine oder zehn Klassen reisen,
-und Ferdel schwatzt lustig dazwischen, und die sinnige Marie freut sich
-an den bunten Flecken, die hinter einem geschliffenen Glas auf dem weißen
-Tischtuch glitzern.
-
-Die Tage eilen, die Ferien sind nahe.
-
-Bei Hahns werden keine Reisepläne geschmiedet. Bis eines Tages doch die
-Reisefreude in das Zimmer tritt und Gastrecht erhält. Else und Hellmut
-erhalten eine Einladung von Vaters Schwester, sie zu besuchen. Die Tante
-lebt in einem Nest am Thüringer Wald, einem Städtchen, das beinahe in
-einer Spielzeugschachtel Platz hat, so klein ist es. Und klein ist auch
-der Tante Häuschen, winzig ihr Geldbeutel, doch groß ihre warme Güte. Sie
-hat die Sehnsucht in der Schwägerin Brief verstanden und gedacht: zwei
-bring' ich zur Not unter und durch; wenn es doch alle sein könnten! Die
-zwei, die kommen dürfen, sind selig. Sie fahren am ersten Ferientag zur
-Stadt hinaus. Strahlender als mancher, der eine Weltreise macht und
-denkt, wenn sie nur recht viel Geld kosten möchte, damit ich etwas los
-werde, sitzen sie in der vierten Klasse. Sechs Stunden Fahrt, vier Wochen
-Ferien, was sind alle Freuden der Welt dagegen!
-
-»Und wir reisen auch«, sagt der Vater, als er mit seiner Frau vom Bahnhof
-aus heimkehrt. »Nächsten Mittwoch früh bis nach -- Schönblick.«
-
-Ach du lieber Himmel, diese weite Reise!
-
-Drei Haltestellen weit liegt Schönblick am Rand eines Kiefernwaldes.
-Sandweg bis hin, karg die Natur, äußerste Bescheidenheit gab ihm den
-Namen. Doch als Frau Marie, trotz des heiteren Tons, den Kummer in ihres
-Mannes Augen sieht, ihr nur so eine dürftige Freude bieten zu können,
-lächelt sie tapfer und sagt ganz heiter: »Ich freu' mich darauf.«
-
-Den Zwang zur Freude haben die kleine Marie und Ferdel nicht nötig. Sie
-jauchzen laut, denn die Geschwister haben so viel von ihrer Reise
-erzählt, daß nun auch in ihnen die Lust erwacht ist, zu reisen, und
-Ferdel schreit wieder: »Will mit der Puffpuffbahn fahren.« Und flink
-rutscht er Stühle zusammen, Marie muß einsteigen, ihre Puppenkinder dazu,
-ein Sofakissen wird freundlich zur Mitfahrt eingeladen, und fort geht die
-Reise.
-
-»Wohin?« -- »Schönblick.«
-
-»Und weiter?« -- »Balin!«
-
-»Noch weiter!« -- »Auf'n Mond. Puff, puff, puff!«
-
-Abends im Bettchen wird die Reise fortgesetzt. Ferdel fährt ins Traumland
-hinein und murmelt schon halb im Schlafe: »Puffpuff, mußt einsteigen,
-Mie!«
-
-Sie brauchen gar keine Reise; ihre Phantasie trägt sie ja noch in goldene
-Wunderländer, denkt Frau Marie wehmütig. Ihr fehlt jede Lust zur Fahrt,
-aber sie muß daran denken, denn der Kinder Fragen umschwirren sie gleich
-am nächsten Morgen.
-
-»Mutti, wann reisen wir?« -- »Mittwoch!«
-
-»Wann ist Mittwoch?« -- »Noch dreimal müßt ihr schlafen gehen!«
-
-»Und dann?« -- »Dann ist Mittwoch und wir reisen.«
-
-»Sechs Stunden, Mutti?« -- »Nein, dreiviertel Stunden!«
-
-»Ach, so lange.«
-
-»Mutti, was zieh ich an?« »Mutti, darf ich meine Trommel mitnehmen?«
-»Mutti, darf Lotte mit?« Lotte ist das liebste Puppenkind. »Mutti, kommt
-der Hansi mit?« Hansi zwitschert im Bauer, als hätte er wirklich
-Reisesehnsucht. »Mutti, darf ich Blumen suchen?« »Mutti, kann ich auf der
-Lomotive sitzen? Ganz vorn, ja, Mutti?«
-
-Es nahm kein Ende mit den Fragen, hunderterlei Dinge fielen den Kindern
-ein, nur an das schöne Reisewetter dachten sie nicht, das erschien ihnen
-selbstverständlich.
-
-Und ihr froher Glaube, daß nichts die Reise nach Schönblick stören
-könnte, wurde nicht getäuscht. Ein Tag voll Sonne brach an, und als die
-vier Reisenden am Mittwochmorgen zeitig nach der Bahn wanderten, kam es
-Frau Marie wirklich vor, als wären sie im Begriff, eine große Reise zu
-tun.
-
-»Laß alle Sorgen hinter dir,« bat der Mann herzlich, »wir wollen froh
-sein.«
-
-In Schönblick im Kiefernforst!
-
-Frau Marie schwieg. Sie überließ es dem Vater, die vielen Fragen zu
-beantworten, ließ ihn Ferdel trösten, der durchaus auf der Lokomotive
-sitzen und pfeifen wollte, ihr Blick ging zum Fenster hin.
-Großstadtbilder, lange Straßen, hohe Häuser, große, aufdringliche
-Geschäftsanzeigen daran, ein paar Bauplätze, ein Gartenwinkel und wieder
-Straßen, Häuser und Fabriken; nun mehr Gärten, Eigenhäuser, ein Stück
-Wald, wieder Häuser, und zuletzt die weite, stille Ebene. Flachland,
-durch das ein Flüßlein rann. Da waren sie am Ziel. Der Kiefernwald stand
-dunkel gegen den Himmel, der wie blaue Seide glänzte, mit goldenen Fäden
-darin. Es stiegen nur wenige Menschen auf der Haltestelle aus, keine
-Überfüllung wie an Sonntagen, und den Weg zum Walde hin wanderte niemand.
-
-Des Kornes goldene Breiten wogten, und das erste, was die Kinder
-erblickten, waren ein paar Kornblumen. Mit einem Jubelschrei lief Marie
-zu ihnen hin. Ferdel aber blieb wie festgenagelt mitten auf dem Wege
-stehen, starrte mit großen Augen erschrocken auf etwas, das sich langsam
-bewegte -- ein Regenwurm.
-
-Er hatte noch nie einen gesehen.
-
-Wäre ein Löwe dahergekommen, groß und stattlich, er hätte ihm vielleicht
-zutraulich entgegengeblickt, der Regenwurm flößte ihm unsägliche Angst
-ein, und erst, als er an der Mutter Hand ein Stücklein dem Tier entronnen
-war, atmete er auf, befreite sich und sah sich nach neuen Abenteuern um.
-
-Marie hatte auch etwas entdeckt, sie hatte eine Schnecke gefunden, die
-saß in ihrem gelben Häuschen und kümmerte sich wenig darum, daß zwei
-Menschlein sie sehen wollten, sie kam erst wieder aus ihrem Haus, als der
-Vater sie auf ein Wegebreitblatt setzte und alle still von ferne standen,
-da streckte sie sacht ihre feinen, kleinen Fühlhörner aus.
-
-Ein Wunder schien den Kindern dies einsame kleine Leben, sie konnten sich
-nicht davon trennen, bis ein paar Schmetterlinge an ihnen vorbei über den
-Weg flatterten. Die langsame Schnecke hatte sie zum stillen Zuschauen
-gezwungen, der Schmetterlinge leicht beschwingtes Gaukeln erweckte ihre
-Unruhe. Sie rannten den bunten Faltern nach, sahen andere, wollten sie
-greifen, bis Marie auf dem Wege ein neues Wunder erblickte.
-
-Ein Käferlein kroch da, schwerfällig, stahlschimmernd. Mistkäfer wird er
-genannt, Marie fand ihn süß.
-
-Der Vater lachte über ihr Entzücken und er streifte von einem Halm einen
-anderen Käfer, grüngolden schimmerte der und Marie ließ den Mistkäfer
-seines Weges ziehen, ihr kleines Herz wandte sich flink dem zu, der
-glänzte.
-
-Der Weg zum Walde war nicht weit, und doch brauchten die Wanderer lange
-dazu, denn die Kinder erlebten auf der kurzen Strecke so viel, daß der
-Vater meinte, am Ende des Tages würde es sein, als hätten sie eine
-Weltumseglung hinter sich. Und dann tat sich ihnen der Wald auf. Es war
-der karge Wald der sandigen Ebene. Kiefern, dazwischen mal ein heller
-Birkenstreif, die Blumen blühten spärlich, und ein kleiner dunkler See im
-Walde war seine größte Schönheit. Aber Marie und Ferdel waren nicht
-verwöhnt, die waren noch nie in einem richtigen Wald gewesen, und sie
-betraten den bescheidenen Forst, als läge in ihm das goldene
-Wunderschloß der Märchenkönigin.
-
-Ferdels Mund stand nicht still. Das ewige »Warum« nach dem Ursprung aller
-Dinge, das dem Erwachsenen oft noch an der Grenze des Lebens auf den
-Lippen brennt, wandelte sich bei ihm zu einem »Weilrum«.
-
-»Weilrum Mutti sind die Bäume so groß? Vati, weilrum heißt es Wald?« Und
-weilrum, weilrum immerzu.
-
-Marie ging still versonnen einher, sah zu den Bäumen empor und ungeheuer
-erschienen ihr die dünnstämmigen Kiefern, deren Kronen im goldenen Licht
-des Sommertages standen. Scheu, beklommen fragte sie endlich leise:
-»Mutti, wer hat die Bäume gemacht?«
-
-»Der liebe Gott!«
-
-Da schlossen sich sacht die kleinen Hände zusammen und tief aus
-dankerfülltem Herzlein heraus klang es. »Lieber Gott, dankeschön, daß du
-die feinen Bäume gemacht hast.« Und ehe noch die Mutter nach dem Sinn des
-Dankes, der dem Schatten galt nach dem sonnenheißen Zuweg, fragen konnte,
-kam schon wieder eine Frage: »Mutti, geht der liebe Gott oft im Walde
-spazieren?«
-
-Der Antwort auf diese schwere Frage wurde Frau Marie enthoben, ihr Mann
-sagte mahnend: »Seid still, ganz still, dort kommen Rehe.«
-
-Drei waren es, die schlank und zierlich daherkamen, ein paar dürre Zweige
-knackten, die Rehe schritten ganz langsam, doch plötzlich stutzten sie,
-sie hatten der Menschen Nähe gespürt, eine Sekunde nur, dann rasten sie
-davon und verschwanden im Walde.
-
-Den Kindern war's wie ein Märchen. Marie hielt den Atem an, sie zitterte
-vor Erregung, Ferdel jedoch tat sein Mäulchen weit auf und schrie:
-»Dabeiben, Rehe dabeiben!« Doch sein Stimmlein verhallte, die Rehe hatten
-kein Ohr dafür, und so sehr auch Ferdel eilte, er kam ihnen nicht nach.
-
-Es wurde nun heller im Walde, ein paar Minuten noch und die Wanderer
-standen auf einer kleinen Lichtung, ein abgeholztes Stück, auf dem sich
-Buschwerk und Blumen angesiedelt hatten, hier summten wieder die Insekten
-und flatterten die Schmetterlinge.
-
-»Hier wollen wir rasten,« sagte der Vater, »wir sitzen im Schatten und
-haben vor uns das Licht. Das ist gut!«
-
-Sie fanden es alle gut, die Kinder, die Entdeckungsreisen auf die kleine
-Lichtung antraten, und die Mutter, die heiter die ruhsame Stille genoß.
-Fern aller Stadtlärm, in die Weite gerückt alle Alltagsmühe, alle kleinen
-und großen Sorgen, stille die Stunden und doch so voll Erleben. Immer
-wieder kamen die Kinder an, sie hatten eine unbekannte Blume gefunden,
-hatten einen höchst seltsamen schwarzen Vogel gesehen und wollten es
-nicht glauben, daß es eine Krähe war, sogar eine Blattwanze brachte
-Ferdel mit lautem Freuderufen an. Und dann fanden sie einen
-Ameisenhaufen, und der Vater erzählte ihnen von dem emsigen kleinen Volk,
-und Ferdel verlangte stürmisch Ameisen mitzunehmen, er träumte schon von
-einem Ameisenhaufen mitten in der Wohnstube. Er war überhaupt sehr dafür
-mitzunehmen, während Marie selbst die Blumen mit behutsamer Scheu
-pflückte.
-
-Frau Marie hatte Mundvorrat eingepackt, sie brauchten darum kein Gasthaus
-aufzusuchen und so blieben sie auf dem gewählten Platz, blieben viele
-Stunden, die erschienen ihnen kurz und doch lang; als der Vater zum
-Aufbruch mahnte, riefen alle: »schon?«, und nachher sagte die Mutter
-doch: »Es war, als hätte ich eine weite Reise gemacht.«
-
-»Jedenfalls müßte man ein Buch schreiben von alledem, was unsere Kinder
-heute gesehen haben«, sagte der Vater, als sie dem Bahnhof zuschritten
-und in die rote Glut des Abendhimmels sahen. Die vielerlei kleinen
-Stimmen, die am Tage so laut gesummt und getönt hatten, schwiegen nun,
-doch dafür zirpten die Grillen laut, und in einem Tümpel am Wege quakten
-die Frösche. Das waren die letzten Laute von draußen, die die Kinder
-hörten, und darum redete Ferdel zuletzt nur von den Fröschen, und Marie
-verlangte das Märlein vom Froschkönig zu hören. Doch sie schlief darüber
-ein. Kaum saßen sie im Abteil des Heimzuges, da fielen den Kindern die
-Augen zu. Sie waren müde von Luft und Sonne, von den vielerlei
-Ereignissen des Tages und ihre Gesichtlein sanken tief herab auf die
-welken Blumen in ihren Händen. Auch Frau Marie war müde, aber sie schlief
-nicht, sie träumte vom Walde draußen, und als die Großstadt wieder
-begann, die Bahn wieder an den hohen Häusern mit den aufdringlichen
-Geschäftsanpreisungen daran vorbeifuhr, da sagte sie noch einmal: »Es ist
-mir, als hätte ich eine weite Reise gemacht, eine schöne Reise.«
-
-Ihre Hand suchte die ihres Mannes, und der sagte nachdenklich: »Ich
-dachte an den Wald meiner Jugend, er war reicher, war schöner deutscher
-Hochwald, und doch habe ich ihn heute wiedergefunden im seligen Erleben
-unserer Kinder.«
-
-
-
-
-Pusteblumen.
-
-
-Der Vater hatte am Fenster gestanden, hinausgesehen in den Garten, der
-wieder einmal seinen hellen Frühlingssang angestimmt hatte, und dabei
-gesagt: »Das ist heute wirklich ein Tag, an dem man es wachsen sieht.«
-
-Dem vierjährigen Rudi klingt das Wort in den Ohren. Es wachsen sehen
-draußen, die Blumen alle aus der Erde emporschießen sehen, wie hübsch muß
-das sein: Man darf so etwas nicht versäumen. Er läuft eilig zu seiner nur
-ein Jahr älteren Schwester Gretel und ruft der zu: »Komm mit auf die
-Wiese!«
-
-Gretel schüttelt den Kopf. Sie hat just keine Wiesenlust, sie bleibt
-lieber auf dem Hausbänkchen sitzen und sieht den Hühnern zu, die mit viel
-Gegackere sich mit ein paar Sperlingen um das Futter streiten. Unlustig
-frägt sie: »Was willst denn?«
-
-»Draußen wachst es, man kann's heut' sehen!«
-
-»I wo!« Gretel lacht, sie fühlt sich sehr als ältere erfahrene Schwester
-dem kleinen Bruder gegenüber, und sie belehrt ihn herablassend: »Das kann
-man nicht sehen!«
-
-»Doch, Vater hat es gesagt!«
-
-Die Kleine horcht auf. Was Vater sagt, muß doch wahr sein, denn Vater ist
-Pfarrer und ungeheuer klug, zu dem kommen viele Leute sich Rat holen.
-Darum sieht sie auch auf, als der Bruder noch einmal lockt: »Komm mit!«
-
-Sie laufen beide durch den Garten, bleiben ein paar Herzschläge lang am
-Erbsenbeet stehen; sollen sie hier das Wachsen ansehen? Doch Rudi ist
-mehr für die Wiese, er meint, auf der müsse das heute am schnellsten
-wachsen, und darum schlüpfen beide durch ein Heckenloch, dahinter dehnt
-sich Wiesenland bis zum Walde hin. Dort, wo der dunkle Tannenwald als
-blaue Wand aufsteigt, ist noch Schatten, aber vorn liegt die Wiese im
-vollen Sonnenglanz.
-
-Hier ist gut sein. Die Kinder kauern sich im Grase nieder, jedes sucht
-sich ein Fleckchen aus, auf das es ernst und andächtig niederschaut,
-meinend, nun müsse Blume auf Blume aus der Erde hervorschießen und die
-Gräslein müßten sich recken und dehnen; wenn eins dem Rudi gleich bis an
-die Nasenspitze geschossen wäre, es hätte ihn nimmer gewundert.
-
-Eine Minute vergeht, noch eine.
-
-»Gretel, siehst du was?«
-
-»So schnell geht's nicht!« Gretel hält ihren rechten Zeigefinger an einen
-Grashalm, schießt der nicht bald über das lebendige kleine Maß hinaus?
-
-Insekten schwirren und summen, ein Schmetterling kommt flatternd
-angetanzt. Die Wiese läßt sich behaglich von der Sonne liebkosen, und
-jeder kleine Halm fühlt den warmen Kuß der gütigen Lichtmutter.
-
-»Da, da wachst es!« Rudi beugt sich aufgeregt vor. Doch was da zitternd
-zu wachsen scheint, ist eine Raupe, die langsam und satt an einem
-Grashalm entlang klettert und die nun eine Minute der Kinder
-Aufmerksamkeit fesselt.
-
-Gretels Finger ist dabei tiefer in den weichen Wiesenboden eingedrungen
-und sie schreit plötzlich stolz: »Mein Gras ist gewachsen, da so viel!«
-
-Rudi will das Maß nicht gelten lassen; aber er versucht es auch und sein
-Finger rutscht gleich ganz tief hinein. »Dummchen du!« Gretel nimmt des
-Bruders Hand, gibt sorgsam dem Zeigefinger die Richtung und sagt: »Nun
-mußt du stillhalten.«
-
-Ein Marienkäferlein denkt: hoho, was ist das für eine sonderbare Leiter,
-die muß ich erklettern, und flink kriecht es am Finger in die Höhe, es
-findet den Weg zur Handfläche, steigt weiter und weiter und Rudi sieht
-ihm zu, vergißt das Gras, warum dauert es auch so lange, bis es wächst?
-»Ich mach's so«, ruft er plötzlich von einem Gedanken erfaßt, er wirft
-sich lang hin, so macht es der Vater manchmal, wenn er auf dem Waldboden
-allerlei beobachten will. »Da seh' ich's besser!«
-
-Auch Gretel streckt sich aus, und so liegen sie beide bäuchlings im
-Sonnenschein, und um sie herum singt, summt und schwirrt es, ein
-unablässiges Tönen ist in der Luft, das winzigste Insekt stimmt ein in
-den frohen Lobgesang. Den Kindern fallen die Augen zu, sie schlafen
-nicht, bewahre, sie wären arg entrüstet, wollte jemand eine so
-leichtfertige Behauptung aufstellen.
-
-Ein heller, etwas schriller Ton durchzittert die Luft -- die
-Mittagsglocke!
-
-Rudi dreht sich um, er blinzelt ein wenig, öffnet die Augen mehr und
-sieht gerade neben seiner kleinen Nase eine sehr große, dicke, gelbe
-Pusteblume.
-
-Die war eben noch nicht da, er weiß es ganz genau. Einen Herzschlag lang
-sieht er sich noch das goldene Blumenwunder an, dann schreit er: »Gretel,
-Gretel ich hab 'ne Blume wachsen sehen.«
-
-Und Gretel dehnt sich und blinzelt, Grashalme kitzeln sie an den Wangen,
-war denn das vorher auch so? Und dann sieht sie auch neben sich eine
-goldgelbe Pusteblume, noch eine, viele, viele und vorher hat sie die doch
-gar nicht gesehen. Die Pusteblumen sind gewachsen! »Rudi,« ruft sie
-selig, »da, so viele Blumen sind gewachsen.«
-
-Sie greift mit den Händchen nach den Blumen, bricht sie ab, sie springt
-auf, pflückt mehr ab und will auch die nehmen, die der Bruder noch immer
-verträumt anschaut. »Nein,« schreit der entrüstet, »ich hab' sie doch
-wachsen seh'n!«
-
-»Na ja, gerade darum!«
-
-»Nein, Nein!« Rudi hält beide Hände schützend über das kleine goldene
-Wunder, das darf ihm niemand anrühren, denn was sind alle Pusteblumen der
-Welt gegen die eine, an der sein Glaube hängt, sie wäre vor seinem
-Näslein gewachsen.
-
-Gretel findet diese eine Blume nicht schöner als die anderen, und
-Pusteblumen sind ihrer Meinung nach dazu da, um Kränzlein daraus zu
-winden, mit denen man sich schmückt. Und als sie sich den goldgelben
-Kranz auf den Kopf setzt, sich auch eine Ringelkette dazu umhängt, sagt
-der Bruder glückselig: »Sie ist ganz groß geworden, viel, viel größer
-als deine.«
-
-Es wird ihm ordentlich schwer, sich von der schönen Blüte zu trennen,
-doch Gretel, die immer aus allerlei Zeichen weiß, wenn es Zeit zu
-irgendeiner Mahlzeit ist, sagt eilig: »Wir müssen heim.«
-
-So wandern sie wieder durch das Heckenloch und den Garten dem Hause zu,
-Gretel stolz im goldenen Blumenschmuck, Rudi verträumt. Sie kommen
-wirklich gerade noch zum Mittagessen zurecht und auf die Frage nach ihrem
-Verbleib, erzählen sie, Gretel sehr eifrig, Rudi langsamer und
-nachdenklich.
-
-Der Mutter drängt sich ein Lachen auf die Lippen, der Vater will sagen:
-»Unsinn!« Doch da sehen sich beide an, und der Mutter Lachen wandelt sich
-zu einem stillen Lächeln, und der Vater nickt den Kindern zu. Er denkt
-zurück an die eigene Jugend. Damals. Er hat auch auf der Wiese gelegen,
-um das Gras wachsen zu sehen, und er hat daran geglaubt, bis sacht in ihm
-die Erkenntnis gewachsen ist und er vom Märchenglauben der Kindheit dazu
-gekommen ist, nachdenklich im schönen Buch der Natur zu lesen. Und die
-Freude daran ist in ihm gewachsen.
-
-Der goldene Kranz auf Gretels Haar glänzt, Rudis Händchen beschreiben
-einen weiten Kreis: »So groß war meine Pusteblume.«
-
-Was sind alle Schätze der Welt gegen eine Pusteblume, die golden auf der
-Wiese gewachsen ist! Und Rudi hat sie wachsen sehen, wer zweifelt daran?
-
-
-
-
-Der Brief an den lieben Gott.
-
-
-Leni wollte einen Brief an den lieben Gott schreiben.
-
-Sie dachte ganz ernsthaft daran, obgleich das Schreiben eine
-beschwerliche Sache war. Man mußte sich da das Händchen führen lassen,
-sah krause schwarze Zeichen entstehen, die man nicht deuten konnte und
-meist verstanden die Erwachsenen gar nicht, wie wichtig solch ein Brief
-war; ja, sie sagten wohl ein bissel unwirsch: »Warte doch, bis du selbst
-schreiben kannst.«
-
-So lange konnte Leni aber wirklich nicht warten. Ostern tat sich
-ihr erst die Schule auf, und dazwischen lag noch Weihnachten und Mutters
-Geburtstag; also dauerte es noch ewig lange, ehe die Schule begann. Und
-Lenis Bitte eilte. Der Vater sollte doch endlich aus dem bösen Krieg
-heimkommen, bald zu Mutters Geburtstag. Am einfachsten wäre es ja
-gewesen, den Wunsch im Abendgebet vorzubringen, aber da hörte Mutter zu
-und manchmal auch die Tanten, die im gleichen Hause wohnten. Sehr liebte
-Leni dies Zuhören eigentlich nicht. Sie schämte sich immer etwas, denn
-sie hatte es wohl gemerkt, die Tanten lachten manchmal heimlich, wenn sie
-dem lieben Gott recht viel zu sagen hatte, und wenn sie dem Schutze des
-gütigen Vaters selbst den Kohlenmann empfahl, auch die Gemüsefrau Müller
-und alle Leute, die nur den Fuß über die Schwelle der Wohnung setzten.
-Freilich, wenn sich dann die Tanten zunickten und Tante Nora sagte:
-»Süß!« und Tante Traute antwortete: »Goldig!«, das gefiel ihr dann.
-
-Sie hörte es überhaupt gern, wenn die Erwachsenen von ihr sprachen.
-Manchmal taten die das in ihrer Gegenwart und meinten, sie höre es nicht.
-Aber Leni hatte Mäusleinohren. Sie paßte gut auf, sie hörte dabei
-freilich auch andere Dinge und sie fand es manchmal etwas sonderbar, wie
-die Erwachsenen miteinander redeten; gar nicht zu verstehen war da
-allerlei. Auf den Gedanken, einen Brief an den lieben Gott zu schreiben,
-hatte sie auch ein Gespräch der Tanten gebracht, die hatten sich so einen
-Brief aus der Zeitung vorgelesen und herzhaft darüber gelacht, hatten den
-Brief entzückend gefunden und gesagt: so etwas brächte unsere Leni auch
-fertig.
-
-Warum der liebe Gott seine Briefe in die Zeitung tat, verstand Leni
-freilich nicht, aber der Gedanke, an den lieben Gott zu schreiben,
-beschäftigte sie seitdem sehr. Der Gedanke lief freilich wieder fort,
-denn andere kamen und huschten durch das kleine Hirnchen, aber auf einmal
-mußte Leni doch wieder an den Brief denken und da ging sie und trug ihre
-Sorgen zu Martha in die Küche. Und Martha sagte: »Das tu nur!« Sie
-versprach auch ihre Schreibhilfe und allertiefstes Stillschweigen, sie
-spendete sogar einen himmelblauen Bogen, »ein Brief an den lieben Gott
-muß schon ein Ansehen haben«, sagte sie.
-
-Mit Marthas Unterstützung schrieb dann Leni am Nachmittag, an dem die
-Mutter ausgegangen war, ihren Brief. Er wurde »fein«, darüber waren sich
-die Schreiberinnen einig, obgleich Leni ihn nicht lesen konnte und Martha
-der guten Frau Orthographie manches Schnippchen geschlagen hatte. Über
-den rechten Weg der Beförderung gingen die Ansichten freilich
-auseinander. Martha schlug das Fensterbrett vor, Leni hatte mehr Zutrauen
-zum Briefkasten, der Briefträger fand doch alle Leute, warum sollte er da
-nicht des ewigen Vaters lichte Wohnung finden! »An den lieben Gott im
-Himmel«, wie leicht war das! -- Der Briefkasten siegte.
-
-Martha sagte: »Heute abend werfe ich den Brief ein, da merkt es niemand.«
-
-»Niemand, auch die Mutter nicht!«
-
-Der Gedanke an das große Geheimnis bedrückte Leni ein wenig. Abends, als
-sie betete, hätte es die Mutter beinahe erfahren, doch Leni hielt es
-gerade noch fest, nur eine Frage hüpfte ihr eilig über die Lippen:
-»Antwortet der liebe Gott, wenn er einen Brief kriegt?«
-
-»Nein, Kind!« Die Mutter lachte. »Da hätte er viel zu tun, aber er sieht
-alles und hört alles.«
-
-Die Kleine atmete tief. »Vielleicht ist Sonntag schon der Krieg aus«,
-sagte sie froh, und die Mutter sah ein holdes Scheinen unendlichen
-Vertrauens auf dem Gesichtchen erblühen, und sie lächelte wissend, denn
-ein blaues Brieflein knisterte in ihrer Tasche.
-
-Der nächste Morgen brachte so warmen Sonnenschein, daß der Spätherbsttag
-sommerlichen Glanz erhielt. Leni konnte im Garten spielen und darüber
-vergaß sie den Brief. Am Nachmittag, als sie über ihren Bilderbüchern
-hockte und darin dem Christkind begegnete, dachte sie wieder daran. Im
-Nebenzimmer saßen der Mutter Freundinnen, und auf einmal dämpften die
-Frauen ihre Stimmen, geheimnisvoll klang es, und Leni vergaß ihren Brief
-und rutschte mit ihrem Schemelchen der Tür näher und näher, denn sie
-meinte ihren Namen zu hören.
-
-»Lies ihn noch einmal,« bat drinnen Tante Nora, »er ist zu niedlich.«
-
-»Sie hört es vielleicht.«
-
-»Ach nein, sie hat ihre Bilderbücher vor.«
-
-Die Mutter las. Leni erschrak tief.
-
-Wie seltsam das war! Mutter las alles vor, was sie gestern an den lieben
-Gott geschrieben hatte, und als sie fertig war, riefen die Tanten
-»Reizend!« und »Süß« und Tante Traude fragte: »Hat sie dir den Brief
-gegeben?«
-
-»Bewahre, er soll ein Geheimnis sein. Martha brachte ihn mir, sie sollte
-ihn in den Briefkasten stecken.«
-
-»O das kleine dumme Dummchen!«
-
-»Entzückend, dies Vertrauen!«
-
-»Gut, daß nicht alle Leute den lieben Gott so viel bitten wie unsere
-Leni, der Arme, er hätte sonst zu viel zu tun.«
-
-Die Frauen lachten. An das Ohr der kleinen Lauscherin drangen seltsame
-Worte, sie verstand sie nicht und meinte doch, der liebe Gott müßte
-bitterböse werden, weil man so von ihm sprach. Konnte denn der liebe Gott
-nicht alles, wußte er nicht alles?
-
-Wieder umtönte das Lachen der Frauen Leni. Die schrie plötzlich laut auf,
-und nebenan verstummte jäh das Lachen. Die Mutter und die Tanten kamen
-erschreckt in das Zimmer, und Leni sah -- ihren himmelblauen Brief in der
-Mutter Hand.
-
-»Sie hat gehorcht!«
-
-Die Mutter sah verwirrt auf ihr Kind, sie wollte es in die Arme nehmen,
-doch Leni wehrte sich störrisch, sie rutschte von ihrem Schemelchen herab
-und rannte hinaus, lief in die Küche und stand plötzlich vor Wut
-schreiend vor Martha.
-
-Die begriff nicht den Zorn ihres Lieblings, wußte nicht, daß sie des
-Kindes Vertrauen getäuscht hatte, und sie wollte trösten mit täppischen
-Liebkosungen wie sonst, doch Leni wehrte sich ungestüm, sie biß und
-kratzte, sie ließ sich auch nicht von der Mutter in die Arme nehmen, und
-als auch die Tanten in die Küche kamen, streckte sie ihnen ihr rotes
-Zünglein entgegen.
-
-An diesem Nachmittag war Leni kein süßes, reizendes Kind. Sie blieb
-ungebärdig, und als sie in ihrem Bettchen lag und die Mutter ein wenig
-zögernd mahnte: »Willst du nicht beten!«, da huschelte sich Leni flink in
-die Kissen und knurrte: »Ich mag nicht!«
-
-»Du bist ungezogen,« sagte die Mutter streng, »der liebe Gott wird ganz
-böse auf dich sein!« Sie ging hinaus und wußte nicht, wie tief ihres
-Kindes Sehnsucht nach ihr klagte. Sie wußte nichts von allem, was heute
-in dem kleinen Herzen zerbrochen war, welch köstliches feines Blümlein
-zerknickt am Boden lag. Leni war ungezogen gewesen, das kam vor, morgen
-würde sie wieder brav sein, denn ein süßes Ding war sie doch.
-
-Und Leni weinte sich in den Schlaf, tat dann eine Reise ins bunte
-Traumland und wachte am Morgen hungrig und spiellustig auf.
-
-Es war wie sonst. Doch am Abend wollte Leni wieder nicht beten, und als
-die Mutter ärgerlich wurde und das Gebet forderte, schlabberte sie ganz
-schnell ihr Verslein her vom kleinen reinen Herzen, besondere Wünsche,
-besondere Sorgen vertraute sie dem lieben Gott nicht mehr an.
-
-Tat es nie mehr. Scheue Scham verschloß ihr den Mund.
-
-
-
-
-Ein Schlüssel zum Himmel.
-
-
-Die Mutter hatte ein Märlein erzählt, eine feine liebe Geschichte von
-einem Englein, das eine Erdenreise machen wollte. Heimlich hat es dem
-alten Petrus, wie der gerade etwas auf der blühenden Himmelswiese
-spazieren ging, von seinem Schlüsselbund das kleinste, goldene
-Schlüsselein für die allerkleinste Himmelstüre genommen, hat die
-aufgeschlossen und ist abwärts geflogen, der Erde zu, nach der es
-Sehnsucht hatte -- vielleicht, weil es ihm im lichten, hohen Himmel zu
-friedestill war. Wer weiß es denn.
-
-»Tun Engel denn so etwas?« hat Heinerle, der Jüngste, gefragt.
-
-»Ja, manchmal doch. Manchmal, aber nur sehr sehr selten, sind auch kleine
-Engel ein linschen unnütz. Freilich, der ausgerissene kleine Engel hat
-seine Strafe auch gleich bekommen, sein Schlüssel ist zu Boden gefallen,
-ist in Millionen Splitterchen zerschellt, von denen war jedes ein
-Samenkorn, daraus ist dann eine feine, zarte, goldgelbe Blume erblüht.
-Himmelsschlüssel heißen sie die Menschen.«
-
-»Kann man damit den Himmel aufschließen?«
-
-»Schon. Wenn ein Mensch hier unten stirbt und ein Engel wird, der kann
-sich dann oben selbst die Himmelstüre aufschließen, und Sankt Petrus
-lacht dann wohl und sagt: »Eia, du bist aber vorsichtig, lieber neuer
-Engel du, hast gleich den Schlüssel mitgebracht.««
-
-»Hat der kleine Engel auch so wieder den Himmel aufgeschlossen?«
-
-»Nein, nein, die Blumen erblühten erst im Frühling, und als der Engel auf
-die Erde kam, war es Winter. Kalter, eisiger Winter. Es ist ihm übel
-ergangen, dem kleinen Vorwitz. In sternenlosen Nächten, an bitterkalten
-Tagen ist er lange, lange auf der Erde umhergeirrt, bis er endlich dem
-Engel des Todes begegnete, der sich seiner erbarmte und ihn hinauf in den
-lichten, warmen Himmel trug. Denn zurückfliegen konnte der kleine Engel
-nicht mehr, seine Flügel waren zerbrochen, und traurig war er, wie es nie
-ein Engel im Himmel ist.«
-
-»Hat der liebe Gott sehr gezankt?«
-
-»Nein, nein, so sehr nicht! Er hat ein bißchen mit dem Finger gedroht und
-dann hat er dem kleinen Ausreißer über die Flügel gestrichen, da wurden
-die wieder heil. In seiner großen Güte hat der liebe Gott wohl gedacht,
-du kleiner Vorwitz du, du hast Strafe genug gehabt.«
-
-Dem Heinerle war die Geschichte tief ins Herz gesunken, so wie ein
-Regentropfen in eine Blüte fällt. Er läuft auf die Wiese, wo die
-Himmelsschlüssel blühen, goldgelb und heiter, so recht frühlingsfroh.
-
-Blau ist der Himmel, klar die Luft, eine Lerche wirbelt singend zur
-hellen Höhe empor, doch Heinerle hört nichts und sieht nichts, er pflückt
-Blumen, viele, viele und denkt an das Märlein, das ihm Wahrheit dünkt.
-Die gelben Blumen schließen den Himmel auf!
-
-Wem denn?
-
-Wer ein Engel werden will, muß sterben. Heinerle steht und denkt an das
-Sterben und leise Schauer durchzittern sein Herzlein.
-
-Wer stirbt denn aber? Der alte Tischler Seifert vielleicht, gestern noch
-hatte es Heinerle sagen hören, er würde bald sterben.
-
-Soll er dem die Blumen bringen? Damit er es leicht hat, in den Himmel
-zukommen und Sankt Petrus auch sagt: »Eia, du bist aber vorsichtig,
-lieber neuer Engel du!«
-
-Ich bring' ihm die Blumen! Husch, ist der Gedanke da, und schon rennt
-Heinerle ins Dorf zurück. Er hat es sehr eilig, will nicht zu spät kommen
-mit seinen goldenen Wunderschlüsseln.
-
-Seiferts Johann ist alt und arm, und alle Not des Lebens ist über ihm
-gewesen, und er ist durch viele dunkle Täler geschritten. Davon weiß
-Heinerle nichts, er weiß noch nicht, was es heißt, alt, arm und einsam
-sein. Für ihn hat der alte Mann in Lust und Freude gelebt, denn dem muß
-es doch gut gehen, der eine Katze und vier Vögel hat, die sich mitsammen
-vertragen. So etwas Wunderbares.
-
-Ob er wohl die Katze und die Vögel mit in den Himmel nimmt? -- Wer weiß
-das alles!
-
-Er will den Alten fragen, aber als er eintritt in die niedrige, dumpfe
-Stube, erhält er keine Antwort mehr. Der Tischler Johann Seifert steht
-schon auf der Schwelle des großen, unbekannten Landes, ein paar Atemzüge
-noch und er ist drüben. Alles Klingen und Lärmen der Erdenwelt ist schon
-für ihn verstummt, und Fragen sind ihm nicht mehr Fragen.
-
-Heinerle erschrickt vor dem Alten. Wie sonderbar der aussieht! Er wirft
-hastig die Blumen auf das schmutzige, zerwühlte Lager und rennt wieder
-hinaus, von der Furcht gejagt. Doch an der Türe bleibt er stehen, dreht
-sich noch einmal um und ruft mit angstgedämpfter Stimme: »Vergiß die
-Himmelsschlüssel nicht, da -- damit du gleich rein kannst.«
-
-Die Türe klappt. Heinerle steht draußen im Sonnenschein.
-
-Niemand erfährt etwas von seinem Gang. Der Tag wird müde und läßt sich
-von der Nacht in die Arme nehmen. Ein neuer steigt herauf, und an ihm
-hört Heinerle sagen: Der alte Seifert wäre tot.
-
-Ein Nachbar redet es im Flur des Hauses, er lacht dazu, und Frau Mädler,
-die Wirtschafterin, sagt: »Na, schade ist's nicht um den alten Lump.
-Einer weniger von der Sorte, das ist gut.«
-
-»Er ist jetzt im Himmel«, sagt Heinerle auf einmal ernsthaft.
-
-»Der und im Himmel!« Der Nachbar lacht grob. »Der hat da drin nichts zu
-suchen, den lassen sie gar nicht ein.«
-
-»Doch -- er hat ja einen Schlüssel!« Heinerle hätte gern erzählt, wie der
-alte Seifert in den Himmel gekommen ist, aber vor dem lauten ungläubigen
-Lachen der andern läuft er davon. Er flüchtet zur Mutter und vertraut der
-sein großes Geheimnis an. Und die Mutter glaubt auch, daß sich Seiferts
-Johann nun den Himmel aufgeschlossen hat, sie zweifelt nicht, sie lächelt
-nicht, sie hält ihren kleinen Jungen fest im Arm, und ihr Blick taucht
-tief in den seinen.
-
-»Ist er jetzt -- schon oben?« Heinerle hält den Atem an, so sehr erregt
-ihn selbst die Frage.
-
-»Gewiß, jetzt ist er schon beim lieben Gott.«
-
-Heinerle lächelt glückselig. Er träumt dem Engel nach, der zum Himmel
-emporgeflogen ist und der hier auf Erden der alte Tischler Johann Seifert
-war, von dem die Leute reden, er sei ein Lump gewesen.
-
-Die Mutter sinnt ernst der Zukunft entgegen. Wird ihrem Kind auch einmal
-das goldene Schlüsselein zum Himmel des Glaubens in tausend Splitter
-zerschellen, wird er sich auch die lichten Flügel seiner reinen kleinen
-Seele zerbrechen? Nein, nein, ruft es in ihr, ich will wachsam sein
-immerzu und ihm selbst eine Türe der Erkenntnis nach der anderen öffnen,
-sacht und vorsichtig, damit seine Seele nicht Schaden leide.
-
-Ein schweres Werk. Wird es gelingen? Wer weiß es denn?
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription:
-
-
-Das Original ist in Fraktur gesetzt.
-
-Doppelte Anführungsstriche wurden durch » (unten) und « (oben) ersetzt.
-
-Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
-lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
-
-Einige Ausdrücke wurden in beiden Schreibweisen übernommen:
-
- Herzelein und herzlein
-
- Tante Traute und Tante Traude
-
-Folgende offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert:
-
- geändert wurde "Frau Marie schwieg, Sie überließ"
- in "Frau Marie schwieg. Sie überließ"
- (Seite 21)
-
- geändert wurde "heißen sie die Menschen."
- in "heißen sie die Menschen.«"
- (Seite 32)
-
- geändert wurde "gleich den Schlüssel mitgebracht.«"
- in "gleich den Schlüssel mitgebracht.««"
- (Seite 33)
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Die Welt im Kinderköpfchen, by Josephine Siebe
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WELT IM KINDERKÖPFCHEN ***
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