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diff --git a/3063-0.txt b/3063-0.txt new file mode 100644 index 0000000..76cf4b0 --- /dev/null +++ b/3063-0.txt @@ -0,0 +1,19133 @@ +The Project Gutenberg EBook of Römische Geschichte Book 4 by Theodor Mommsen + +This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most +other parts of the world at no cost and with almost no restrictions +whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of +the Project Gutenberg License included with this eBook or online at +www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have +to check the laws of the country where you are located before using this ebook. + +Title: Römische Geschichte Book 4 + +Author: Theodor Mommsen + +Release Date: February, 2002 [Etext #3063] +[Most recently updated: January 15, 2020] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK RÖMISCHE GESCHICHTE *** + + + + +Römische Geschichte + +Viertes Buch +Die Revolution + +von Theodor Mommsen + +The following e-text of Mommsen’s Roemische Geschichte contains some +(ancient) Greek quotations. The character set used for those quotations is a +modern Greek character set. Therefore, aspirations are not marked in Greek +words, nor is there any differentiation between the different accents of +ancient Greek and the subscript iotas are missing as well. + +Contents + + Viertes Buch—Die Revolution + KAPITEL I. Die untertänigen Landschaften bis zu der Gracchenzeit + KAPITEL II. Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus + KAPITEL III. Die Revolution und Gaius Gracchus + KAPITEL IV. Die Restaurationsherrschaft + KAPITEL V. Die Völker des Nordens + KAPITEL VI. Revolutionsversuch des Marius und Reformversuch des Drusus + KAPITEL VII. Die Empörung der italischen Untertanen und die Sulpicische Revolution + KAPITEL VIII. Der Osten und König Mithradates + KAPITEL IX. Cinna und Sulla + KAPITEL X. Die Sullanische Verfassung + KAPITEL XI. Das Gemeinwesen und seine Ökonomie + KAPITEL XII. Nationalität, Religion, Erziehung + KAPITEL XIII. Literatur und Kunst + + + + +Viertes Buch +Die Revolution + + +“Aber sie treiben’s toll; +Ich fürcht’, es breche”. +Nicht jeden Wochenschluß +Macht Gott die Zeche. + +Goethe + + + + +KAPITEL I. +Die untertänigen Landschaften bis zu der Gracchenzeit + + +Mit der Vernichtung des Makedonischen Reichs ward die Oberherrlichkeit +Roms eine Tatsache, die von den Säulen des Hercules bis zu den +Mündungen des Nil und des Orontes nicht bloß feststand, sondern +gleichsam als das letzte Wort des Verhängnisses auf den Völkern lastete +mit dem ganzen Druck der Unabwendbarkeit und ihnen nur die Wahl zu +lassen schien, sich in hoffnungslosem Widerstreben oder in +hoffnungslosem Dulden zu verzehren. Wenn nicht die Geschichte von dem +ernsten Leser es als ihr Recht fordern dürfte, sie durch gute und böse +Tage, durch Frühlings- und Winterlandschaft zu begleiten, so möchte der +Geschichtschreiber versucht sein, sich der trostlosen Aufgabe zu +entziehen, diesem Kampf der Übermacht mit der Ohnmacht sowohl in den +schon zum Römischen Reich gezogenen spanischen Landschaften wie in den +noch nach Klientelrecht beherrschten afrikanischen, hellenischen, +asiatischen Gebieten in seinen mannigfaltigen und doch eintönigen +Wendungen zu folgen. Aber wie unbedeutend und untergeordnet auch die +einzelnen Kämpfe erscheinen mögen, eine tiefe geschichtliche Bedeutung +kommt ihnen in ihrer Gesamtheit dennoch zu; und vor allem die +italischen Verhältnisse dieser Zeit werden erst verständlich durch die +Einsicht in den Rückschlag, der von den Provinzen aus auf die Heimat +traf. + +Außer in den naturgemäß als Nebenländer Italiens anzusehenden Gebieten, +wo übrigens auch die Eingeborenen noch keineswegs vollständig +unterworfen waren und, nicht eben zur Ehre Roms, Ligurer, Sarder und +Korsen fortwährend Gelegenheit zu “Dorftriumphen” lieferten, bestand +eine förmliche Herrschaft Roms zu Anfang dieser Periode nur in den +beiden spanischen Provinzen, die den größeren östlichen und südlichen +Teil der Pyrenäischen Halbinsel umfaßten. Es ist schon früher versucht +worden, die Zustände der Halbinsel zu schildern: Iberer und Kelten, +Phöniker, Hellenen, Römer mischten sich hier bunt durcheinander; +gleichzeitig und vielfach sich durchkreuzend bestanden daselbst die +verschiedensten Arten und Stufen der Zivilisation, die altiberische +Kultur neben vollständiger Barbarei, die Bildungsverhältnisse +phönikischer und griechischer Kaufstädte neben der aufkeimenden +Latinisierung, die namentlich durch die in den Silberbergwerken +zahlreich beschäftigten Italiker und durch die starke stehende +Besatzung gefördert ward. In dieser Hinsicht erwähnenswert sind die +römische Ortschaft Italica (bei Sevilla) und die latinische Kolonie +Carteia (an der Bai von Gibraltar), die letztere die erste überseeische +Stadtgemeinde latinischer Zunge und italischer Verfassung. Italica +wurde von dem älteren Scipio, noch ehe er Spanien verließ (548 206), +für seine zum Verbleiben auf der Halbinsel geneigten Veteranen +gegründet, wahrscheinlich indes nicht als Bürgergemeinde, sondern nur +als Marktort ^1; Carteias Gründung fällt in das Jahr 583 (171) und ward +veranlaßt durch die Menge der von römischen Soldaten mit spanischen +Sklavinnen erzeugten Lagerkinder, welche rechtlich als Sklaven, +tatsächlich als freie Italiker aufwuchsen und nun von Staats wegen +freigesprochen und in Verbindung mit den alten Einwohnern von Carteia +als latinische Kolonie konstituiert wurden. Beinahe dreißig Jahre nach +der Ordnung der Ebroprovinz durch Tiberius Sempronius Gracchus (575, +576 179, 178) genossen die spanischen Landschaften im ganzen ungestört +die Segnungen des Friedens, obwohl ein paarmal von Kriegszügen gegen +die Keltiberer und Lusitaner die Rede ist. Aber ernstere Ereignisse +traten im Jahre 600 (154) ein. Unter Führung eines Häuptlings Punicus +fielen die Lusitaner ein in das römische Gebiet, schlugen die beiden +gegen sie vereinigten römischen Statthalter und töteten ihnen eine +große Anzahl Leute. Die Vettonen (zwischen dem Tajo und dem oberen +Duero) wurden hierdurch bestimmt, mit den Lusitanern gemeinschaftliche +Sache zu machen; so verstärkt vermochten diese ihre Streifzüge bis an +das Mittelländische Meer auszudehnen und sogar das Gebiet der +Bastulophöniker unweit der römischen Hauptstadt Neukarthago (Cartagena) +zu brandschatzen. Man nahm in Rom die Sache ernst genug, um die +Absendung eines Konsuls nach Spanien zu beschließen, was seit 559 (195) +nicht geschehen war, und ließ sogar zur Beschleunigung der +Hilfsleistung die neuen Konsuln zwei und einen halben Monat vor der +gesetzlichen Zeit ihr Amt antreten - es war dies die Ursache, weshalb +der Amtsantritt der Konsuln vom 15. März sich auf den 1. Januar +verschob und damit derjenige Jahresanfang sich feststellte, dessen wir +noch heute uns bedienen. Allein ehe noch der Konsul Quintus Fulvius +Nobilior mit seiner Armee eintraf, kam es zwischen dem Statthalter des +Jenseitigen Spaniens, dem Prätor Lucius Mummius, und den jetzt nach +Punicus’ Fall von seinem Nachfolger Kaesarus geführten Lusitanern am +rechten Ufer des Tajo zu einem sehr ernsthaften Treffen (601 158). Das +Glück war anfangs den Römern günstig; das lusitanische Heer ward +zersprengt, das Lager genommen. Allein, teils bereits vom Marsch +ermüdet, teils in der Unordnung des Nachsetzens sich auflösend, wurden +sie von den schon besiegten Gegnern schließlich vollständig geschlagen +und büßten zu dem feindlichen Lager das eigene sowie an Toten 9000 Mann +ein. Weit und breit loderte jetzt die Kriegsflamme auf. Die Lusitaner +am linken Ufer des Tajo warfen sich unter Anführung des Kaukaenus auf +die den Römern untertänigen Keltiker (in Alentejo) und nahmen ihre +Stadt Conistorgis weg. Den Keltiberern sandten die Lusitaner die dem +Mummius abgenommenen Feldzeichen zugleich als Siegesbotschaft und als +Mahnung zu; und auch hier fehlte es nicht an Gärungsstoff. Zwei kleine, +den mächtigen Arevakern (um die Quellen des Duero und Tajo) benachbarte +Völkerschaften Keltiberiens, die Beller und Titther, hatten +beschlossen, in eine ihrer Städte, Segeda, sich zusammenzusiedeln. +Während sie mit dem Mauerbau beschäftigt waren, ward ihnen dieser +römischerseits untersagt, da die Sempronischen Ordnungen den +unterworfenen Gemeinden jede eigenmächtige Städtegründung verböten, und +zugleich die vertragsmäßig schuldige, aber seit längerer Zeit nicht +verlangte Leistung an Geld und Mannschaft eingefordert. Beiden Befehlen +weigerten die Spanier den Gehorsam, da es sich nur um Erweiterung, +nicht um Gründung einer Stadt handle, die Leistungen aber nicht bloß +suspendiert, sondern von den Römern erlassen seien. Darüber erschien +Nobilior im Diesseitigen Spanien mit einem fast 30000 Mann starken +Heer, unter dem auch numidische Reiter und zehn Elefanten sich +befanden. Noch standen die Mauern der neuen Stadt nicht vollständig; +die meisten Segedaner unterwarfen sich. Allein die entschlossensten +flüchteten mit Weib und Kind zu den mächtigen Arevakern und forderten +sie auf, mit ihnen gegen die Römer gemeinschaftliche Sache zu machen. +Die Arevaker, ermutigt durch den Sieg der Lusitaner über Mummius, +gingen darauf ein und wählten einen der flüchtigen Segedaner, Karus, zu +ihrem Feldherrn. Am dritten Tag nach seiner Wahl war der tapfere Führer +eine Leiche, aber das römische Heer geschlagen und bei 6000 römische +Bürger getötet - der Tag des 23. August, das Fest der Volkanalien, +blieb seitdem den Römern in schlimmer Erinnerung. Doch bewog der Fall +ihres Feldherrn die Arevaker, sich in ihre festeste Stadt Numantia +(Garray, eine Legua nördlich von Soria am Duero) zurückzuziehen, wohin +Nobilior ihnen folgte. Unter den Mauern der Stadt kam es zu einem +zweiten Treffen, in welchem die Römer anfänglich durch ihre Elefanten +die Spanier in die Stadt zurückdrängten, aber dabei infolge der +Verwundung eines der Tiere in Verwirrung gerieten und durch die +abermals ausrückenden Feinde eine zweite Niederlage erlitten. Dieser +und andere Unfälle, wie die Vernichtung eines zur Herbeirufung von +Zuzugmannschaft ausgesandten römischen Reiterkorps, gestalteten die +Angelegenheiten der Römer in der diesseitigen Provinz so ungünstig, daß +die Festung Okilis, wo die Kasse und die Vorräte der Römer sich +befanden, zum Feinde übertrat und die Arevaker daran denken konnten, +freilich ohne Erfolg, den Römern den Frieden zu diktieren. Einigermaßen +wurden indes diese Nachteile aufgewogen durch die Erfolge, die Mummius +in der südlichen Provinz erfocht. So geschwächt auch durch die +erlittene Niederlage sein Heer war, gelang es ihm dennoch, mit +demselben den unvorsichtig sich zerstreuenden Lusitanern am rechten +Tajoufer eine Niederlage beizubringen und, übergehend auf das linke, wo +die Lusitaner das ganze römische Gebiet überrannt, ja bis nach Afrika +gestreift hatten, die südliche Provinz von den Feinden zu säubern. In +die nördliche sandte das folgende Jahr (602 152) der Senat außer +beträchtlichen Verstärkungen einen andern Oberfeldherrn an der Stelle +des unfähigen Nobilior, den Konsul Marcus Claudius Marcellus, der schon +als Prätor 586 (168) sich in Spanien ausgezeichnet und seitdem in zwei +Konsulaten sein Feldherrntalent bewährt hatte. Seine geschickte Führung +und mehr noch seine Milde änderte die Lage der Dinge schnell: Okilis +ergab sich ihm sofort, und selbst die Arevaker, von Marcellus in der +Hoffnung bestärkt, daß ihnen gegen eine mäßige Buße Friede gewährt +werden würde, schlossen Waffenstillstand und schickten Gesandte nach +Rom. Marcellus konnte sich nach der südlichen Provinz begeben, wo die +Vettonen und Lusitaner sich dem Prätor Marcus Atilius zwar botmäßig +erwiesen hatten, solange er in ihrem Gebiet stand, allein nach seiner +Entfernung sofort wieder aufgestanden waren und die römischen +Verbündeten heimsuchten. Die Ankunft des Konsuls stellte die Ordnung +wieder her, und während er in Corduba überwinterte, ruhten auf der +ganzen Halbinsel die Waffen. Inzwischen ward in Rom über den Frieden +mit den Arevakern verhandelt. Es ist bezeichnend für die inneren +Verhältnisse Spaniens, daß vornehmlich die Sendlinge der bei den +Arevakern bestehenden römischen Partei die Verwerfung der +Friedensvorschläge in Rom durchsetzten, indem sie vorstellten, daß, +wenn man die römisch gesinnten Spanier nicht preisgeben wolle, nur die +Wahl bleibe, entweder jährlich einen Konsul mit entsprechendem Heer +nach der Halbinsel zu senden oder jetzt ein nachdrückliches Exempel zu +statuieren. Infolgedessen wurden die Boten der Arevaker ohne +entscheidende Antwort verabschiedet und die energische Fortsetzung des +Krieges beschlossen. Marcellus sah sich demnach genötigt, im folgenden +Frühjahr (603 151) den Krieg gegen die Arevaker wieder zu beginnen. +Indes sei es nun, wie behauptet wird, daß er den Ruhm, den Krieg +beendigt zu haben, seinem bald zu erwartenden Nachfolger nicht gönnte, +sei es, was vielleicht wahrscheinlicher ist, daß er gleich Gracchus in +der milden Behandlung der Spanier die erste Bedingung eines dauerhaften +Friedens sah - nach einer geheimen Zusammenkunft des römischen +Feldherrn mit den einflußreichsten Männern der Arevaker kam unter den +Mauern von Numantia ein Traktat zustande, durch den die Arevaker den +Römern sich auf Gnade und Ungnade ergaben, aber unter Verpflichtung zu +Geldzahlung und Geiselstellung in ihre bisherigen vertragsmäßigen +Rechte wiedereingesetzt wurden. + +———————————————————- + +^1 Italica wird durch Scipio das geworden sein, was in Italien forum et +conciliabulum civium Romanorum hieß; ähnlich ist später Aquae Sextiae +in Gallien entstanden. Die Entstehung überseeischer Bürgergemeinden +beginnt erst später mit Karthago und Narbo; indes ist es merkwürdig, +daß in gewissem Sinne doch auch dazu schon Scipio den Anfang machte. + +———————————————————— + +Als der neue Oberfeldherr, der Konsul Lucius Lucullus, bei dem Heere +eintraf, fand er den Krieg, den zu führen er gekommen war, bereits +durch förmlichen Friedensschluß beendigt, und seine Hoffnung, Ehre und +vor allem Geld aus Spanien heimzubringen, schien vereitelt. Indes dafür +gab es Rat. Auf eigene Hand griff Lucullus die westlichen Nachbarn der +Arevaker, die Vaccäer, an, eine noch unabhängige keltiberische Nation, +die mit den Römern im besten Einvernehmen lebte. Auf die Frage der +Spanier, was sie denn gefehlt hätten, war die Antwort: der Überfall der +Stadt Cauca (Coca, acht Leguas westlich von Segovia); und als die +erschreckte Stadt mit schweren Geldopfern die Kapitulation erkauft zu +haben meinte, rückten römische Truppen in sie ein und knechteten oder +mordeten die Einwohnerschaft ohne jeglichen Vorwand. Nach dieser +Heldentat, die etwa 20000 wehrlosen Menschen das Leben gekostet haben +soll, ging der Marsch weiter. Weit und breit standen die Dörfer und +Ortschaften leer oder schlossen, wie das feste Intercatia und die +Hauptstadt der Vaccäer, Pallantia (Palencia), dem römischen Heere ihre +Tore. Die Habsucht hatte in ihren eigenen Netzen sich gefangen; keine +Gemeinde fand sich, die mit dem treubrüchigen Feldherrn eine +Kapitulation hätte abschließen mögen, und die allgemeine Flucht der +Bewohner machte nicht bloß die Beute karg, sondern auch das längere +Verweilen in diesen unwirtlichen Gegenden fast unmöglich. Vor +Intercatia gelang es einem angesehenen Kriegstribun, dem Scipio +Aemilianus, leiblichem Sohn des Siegers von Pydna und Adoptivenkel des +Siegers von Zama, durch sein Ehrenwort, da das des Feldherrn nichts +mehr galt, die Bewohner zum Abschluß eines Vertrages zu bestimmen, +infolgedessen das römische Heer gegen Lieferung von Vieh und +Kleidungsstücken abzog. Aber die Belagerung von Pallantia mußte wegen +Mangels an Lebensmitteln aufgehoben werden, und das römische Heer ward +auf dem Rückmarsch von den Vaccäern bis zum Duero verfolgt. Lucullus +begab sich darauf nach der südlichen Provinz, wo der Prätor Servius +Sulpicius Galba in demselben Jahr von den Lusitanern sich hatte +schlagen lassen; beide überwinterten nicht fern voneinander, Lucullus +im turdetanischen Gebiet, Galba bei Conistorgis, und griffen im +folgenden Jahr (604 150) gemeinschaftlich die Lusitaner an. Lucullus +errang an der Gaditanischen Meerenge einige Vorteile über sie. Galba +richtete mehr aus, indem er mit drei lusitanischen Stämmen am rechten +Ufer des Tajo einen Vertrag abschloß und sie in bessere Wohnsitze +überzusiedeln verhieß, worauf die Barbaren, die der gehofften Äcker +wegen, 7000 an der Zahl, sich bei ihm einfanden, in drei Abteilungen +geteilt, entwaffnet und teils als Sklaven weggeführt, teils +niedergehauen wurden. Kaum ist je mit gleicher Treulosigkeit, +Grausamkeit und Habgier Krieg geführt worden wie von diesen beiden +Feldherren, die dennoch durch ihre verbrecherisch erworbenen Schätze +der eine der Verurteilung, der andre sogar der Anklage entging. Den +Galba versuchte der alte Cato noch in seinem fünfundachtzigsten Jahr, +wenige Monate vor seinem Tode, vor der Bürgerschaft zur Verantwortung +zu ziehen; aber die jammernden Kinder des Generals und sein +heimgebrachtes Gold erwiesen dem römischen Volke seine Unschuld. + +Nicht so sehr die ehrlosen Erfolge, die Lucullus und Galba in Spanien +erreicht hatten, als der Ausbruch des Vierten Makedonischen und des +Dritten Karthagischen Krieges im Jahre 605 (149) bewirkte, daß man die +spanischen Angelegenheiten zunächst wieder den gewöhnlichen +Statthaltern überließ. So verwüsteten denn die Lusitaner, durch Galbas +Treulosigkeit mehr erbittert als gedemütigt, unaufhörlich das reiche +turdetanische Gebiet. Gegen sie zog der römische Statthalter Gaius +Vetilius (607/08 147/48) 2 und schlug sie nicht bloß, sondern drängte +auch den ganzen Haufen auf einen Hügel zusammen, wo derselbe +rettungslos verloren schien. Schon war die Kapitulation so gut wie +abgeschlossen, als Viriathus, ein Mann geringer Herkunft, aber wie +einst als Bube ein tapferer Verteidiger seiner Herde gegen die wilden +Tiere und Räuber, so jetzt in ernsteren Kämpfen ein gefürchteter +Guerillachef und einer der wenigen, die dem treulosen Überfall Galbas +zufällig entronnen waren, seine Landsleute warnte, auf römisches +Ehrenwort zu bauen und ihnen Rettung verhieß, wenn sie ihm folgen +wollten. Sein Wort und sein Beispiel wirkten; das Heer übertrug ihm den +Oberbefehl. Viriathus gab der Masse seiner Leute den Befehl, sich in +einzelnen Trupps auf verschiedenen Wegen nach dem bestimmten +Sammelplatz zu begeben; er selber bildete aus den bestberittenen und +zuverlässigsten Leuten ein Korps von 1000 Pferden, womit er den Abzug +der Seinigen deckte. Die Römer, denen es an leichter Kavallerie fehlte, +wagten nicht, unter den Augen der feindlichen Reiter sich zur +Verfolgung zu zerstreuen. Nachdem Viriathus zwei volle Tage hindurch +mit seinem Haufen das ganze römische Heer aufgehalten hatte, verschwand +auch er plötzlich in der Nacht und eilte dem allgemeinen Sammelplatz +zu. Der römische Feldherr folgte ihm, fiel aber in einen geschickt +gelegten Hinterhalt, in dem er die Hälfte seines Heeres verlor und +selber gefangen und getötet ward; kaum rettete der Rest der Truppen +sich an die Meerenge nach der Kolonie Carteia. Schleunigst wurden vom +Ebro her 5000 Mann spanischer Landsturm zur Verstärkung der +geschlagenen Römer gesandt; aber Viriathus vernichtete das Korps noch +auf dem Marsch und gebot in dem ganzen karpetanischen Binnenland so +unumschränkt, daß die Römer nicht einmal wagten, ihn dort aufzusuchen. +Viriathus, jetzt als Herr und König der sämtlichen Lusitaner anerkannt, +verstand es, das volle Gewicht seiner fürstlichen Stellung mit dem +schlichten Wesen des Hirten zu vereinigen. Kein Abzeichen unterschied +ihn von dem gemeinen Soldaten; von der reichgeschmückten Hochzeitstafel +seines Schwiegervaters, des Fürsten Astolpa im römischen Spanien, stand +er auf, ohne das goldene Geschirr und die kostbaren Speisen berührt zu +haben, hob seine Braut auf das Roß und ritt mit ihr zurück in seine +Berge. Nie nahm er von der Beute mehr als denselben Teil, den er auch +jedem seiner Kameraden zuschied. Nur an der hohen Gestalt und an dem +treffenden Witzwort erkannte der Soldat den Feldherrn, vor allem aber +daran, daß er es in Mäßigkeit und in Mühsal jedem der Seinigen +zuvortat, nie anders als in voller Rüstung schlief und in der Schlacht +allen voran focht. Es schien, als sei in dieser gründlich prosaischen +Zeit einer der Homerischen Helden wiedergekehrt; weit und breit +erscholl in Spanien der Name des Viriathus, und die tapfere Nation +meinte endlich in ihm den Mann gefunden zu haben, der die Ketten der +Fremdherrschaft zu brechen bestimmt sei. Ungemeine Erfolge im +nördlichen wie im südlichen Spanien bezeichneten die nächsten Jahre +seiner Feldherrnschaft. Den Prätor Gaius Plautius (608/09 146) wußte +er, nachdem er dessen Vorhut vernichtet hatte, hinüber auf das rechte +Tajoufer zu locken und ihn dort so nachdrücklich zu schlagen, daß der +römische Feldherr mitten im Sommer in die Winterquartiere ging - später +ward dafür gegen ihn die Anklage wegen Entehrung der römischen Gemeinde +vor dem Volk erhoben und er genötigt, die Heimat zu meiden. Desgleichen +wurde das Heer des Statthalters - es scheint, der diesseitigen Provinz +- Claudius Unimanus vernichtet, das des Gaius Negidius überwunden und +weithin das platte Land gebrandschatzt. Auf den spanischen Bergen +erhoben sich Siegeszeichen, die mit den Insignien der römischen +Statthalter und mit den Waffen der Legionen geschmückt waren; bestürzt +und beschämt vernahm man in Rom von den Siegen des Barbarenkönigs. Zwar +übernahm jetzt ein zuverlässiger Offizier die Führung des Spanischen +Krieges, der zweite Sohn des Siegers von Pydna, der Konsul Quintus +Fabius Maximus Aemilianus (609 145). Allein die krieggewohnten, eben +von Makedonien und Afrika heimgekehrten Veteranen aufs neue in den +verhaßten Spanischen Krieg zu senden, wagte man schon nicht mehr; die +beiden Legionen, die Maximus mitbrachte, waren neu geworben und nicht +viel minder unzuverlässig als das alte, gänzlich demoralisierte +spanische Heer. Nachdem die ersten Gefechte wieder für die Lusitaner +günstig ausgefallen waren, hielt der einsichtige Feldherr den Rest des +Jahres seine Truppen in dem Lager bei Urso (Osuna südöstlich von +Sevilla) zusammen, ohne die angebotene Feldschlacht zu liefern, und +nahm erst im folgenden (610 144), nachdem im kleinen Krieg seine +Truppen kampffähig geworden waren, wieder das Feld, wo er dann die +Überlegenheit zu behaupten vermochte und nach glücklichen Waffentaten +nach Corduba ins Winterlager ging. Als aber an Maximus’ Stelle der +feige und ungeschickte Prätor Quinctius den Befehl übernahm, erlitten +die Römer wiederum eine Niederlage über die andere und schloß ihr +Feldherr sich wieder mitten im Sommer in Corduba ein, während +Viriathus’ Scharen die südliche Provinz überschwemmten (611 143). Sein +Nachfolger, des Maximus Aemilianus Adoptivbruder Quintus Fabius Maximus +Servilianus, mit zwei frischen Legionen und zehn Elefanten nach der +Halbinsel gesendet, versuchte, in das lusitanische Gebiet einzudringen, +allein nach einer Reihe nichts entscheidender Gefechte und einem mühsam +abgeschlagenen Sturm auf das römische Lager sah er sich genötigt, auf +das römische Gebiet zurückzuweichen. Viriathus folgte ihm in die +Provinz; da aber seine Truppen nach dem Brauch spanischer +Insurgentenheere plötzlich sich verliefen, mußte auch er nach +Lusitanien zurückkehren (612 142). Im nächsten Jahre (613 141) ergriff +Servilianus wieder die Offensive, durchzog die Gegenden am Baetis und +Anas und besetzte sodann, in Lusitanien einrückend, eine Menge +Ortschaften. Eine große Zahl der Insurgenten fiel in seine Hand; die +Führer - es waren deren gegen 500 - wurden hingerichtet, den aus +römischem Gebiet zum Feinde Übergegangenen die Hände abgehauen, die +übrige Masse in die Sklaverei verkauft. Aber der Spanische Krieg +bewährte auch hier seine tückische Unbeständigkeit. Das römische Heer +ward nach all diesen Erfolgen bei der Belagerung von Erisane von +Viriathus angegriffen, geworfen und auf einen Felsen gedrängt, wo es +gänzlich in der Gewalt der Feinde war. Viriathus indes begnügte sich, +wie einst der Samnitenfeldherr in den Caudinischen Pässen, mit +Servilianus einen Frieden abzuschließen, worin die Gemeinde der +Lusitaner als souverän und Viriathus als König derselben anerkannt +ward. Die Macht der Römer war nicht mehr gestiegen als das nationale +Ehrgefühl gesunken; man war in der Hauptstadt froh, des lästigen +Krieges entledigt zu sein, und Senat und Volk gaben dem Vertrage die +Ratifikation. Allein des Servilianus leiblicher Bruder und +Amtsnachfolger Quintus Servilius Caepio war mit dieser Nachgiebigkeit +wenig zufrieden und der Senat schwach genug, anfangs den Konsul zu +heimlichen Machinationen gegen den Viriathus zu bevollmächtigen und +bald ihm den offenen, unbeschönigten Bruch des gegebenen Treuworts +wenigstens nachzusehen. So drang Caepio in Lusitanien ein und durchzog +das Land bis zu dem Gebiet der Vettonen und Callaeker; Viriathus +vermied den Kampf mit der Übermacht und entzog sich durch geschickte +Bewegungen dem Gegner (614 140). Als aber im folgenden Jahre (615 139) +nicht bloß Caepio den Angriff erneuerte, sondern auch das in der +nördlichen Provinz inzwischen verfügbar gewordene Heer unter Marcus +Popillius in Lusitanien erschien, bat Viriathus um Frieden unter jeder +Bedingung. Er ward geheißen, alle aus dem römischen Gebiet zu ihm +übergetretenen Leute, darunter seinen eigenen Schwiegervater, an die +Römer auszuliefern; es geschah, und die Römer ließen dieselben +hinrichten oder ihnen die Hände abhauen. Allein es war damit nicht +genug; nicht auf einmal pflegten die Römer den Unterworfenen +anzukündigen, was über sie verhängt war. Ein Befehl nach dem andern, +und immer der folgende unerträglicher als die vorhergehenden, erging an +die Lusitaner, und schließlich ward sogar die Auslieferung der Waffen +von ihnen gefordert. Da gedachte Viriathus abermals des Schicksals +seiner Landsleute, die Galba hatte entwaffnen lassen, und griff aufs +neue zum Schwert, aber zu spät. Sein Schwanken hatte in seiner nächsten +Umgebung die Keime des Verrats gesät; drei seiner Vertrauten, Audas, +Ditalko und Minucius aus Urso, verzweifelnd an der Möglichkeit, jetzt +noch zu siegen, erwirkten von dem König die Erlaubnis, noch einmal mit +Caepio Friedensunterhandlungen anzuknüpfen, und benutzten sie, um gegen +Zusicherung persönlicher Amnestie und weiterer Belohnungen das Leben +des lusitanischen Helden den Fremden zu verkaufen. Zurückgekehrt in das +Lager, versicherten sie den König des günstigsten Erfolgs ihrer +Verhandlungen und erdolchten die Nacht darauf den Schlafenden in seinem +Zelte. Die Lusitaner ehrten den herrlichen Mann durch eine Totenfeier +ohnegleichen, bei der zweihundert Fechterpaare die Leichenspiele +fochten; höher noch dadurch, daß sie den Kampf nicht aufgaben, sondern +an die Stelle des gefallenen Helden den Tautamus zu ihrem Oberfeldherrn +ernannten. Kühn genug war auch der Plan, den dieser entwarf, den Römern +Sagunt zu entreißen; allein der neue Feldherr besaß weder seines +Vorgängers weise Mäßigung noch dessen Kriegsgeschick. Die Expedition +scheiterte völlig, und auf der Rückkehr ward das Heer bei dem Übergang +über den Baetis angegriffen und genötigt, sich unbedingt zu ergeben. +Also, weit mehr durch Verrat und Mord von Fremden wie von Eingeborenen +als durch ehrlichen Krieg, ward Lusitanien bezwungen. + +————————————————————- + +2 Die Chronologie des Viriathischen Krieges ist wenig gesichert. Es +steht fest, daß Viriathus’ Auftreten von dem Kampf mit Vetilius datiert +(App. Hisp. 61; Liv. 52; Oros. hist. 5, 4) und daß er 615 (130) umkam +(Diod. Vat. p. 110 u. a. m.); die Dauer seines Regiments wird auf acht +(App. Hisp. 63), zehn (Iust. 44, 2), elf (Diod. p. 597), fünfzehn (Liv. +54; Eutr. 4, 16; Oros. hist. 5, 4; Flor. epit. 1, 33) und zwanzig Jahre +(Vell. 2, 90) berechnet. Der erste Ansatz hat deswegen einige +Wahrscheinlichkeit, weil Viriathus’ Auftreten sowohl bei Diodor (p. +591; Vat. p. 107 108) wie auch bei Orosius (hist. 5, 4) an die +Zerstörung von Korinth angeknüpft wird. Von den römischen Statthaltern, +mit denen sich Viriathus schlug, gehören ohne Zweifel mehrere der +nördlichen Provinz an, da Viriathus zwar vorwiegend, aber nicht +ausschließlich in der südlichen tätig war (Liv. 52); man darf also +nicht nach der Zahl dieser Namen die Zahl der Jahre seiner +Feldherrnschaft berechnen. + +———————————————————- + +Während die südliche Provinz durch Viriathus und die Lusitaner +heimgesucht ward, war nicht ohne deren Zutun in der nördlichen bei den +keltiberischen Nationen ein zweiter, nicht minder ernster Krieg +ausgebrochen. Viriathus’ glänzende Erfolge bewogen im Jahre 610 (144) +die Arevaker, gleichfalls gegen die Römer sich zu erheben, und es war +dies die Ursache, weshalb der zur Ablösung des Maximus Aemilianus nach +Spanien gesandte Konsul Quintus Caecilius Metellus nicht nach der +südlichen Provinz ging, sondern gegen die Keltiberer sich wandte. Auch +gegen sie bewährte er, namentlich während der Belagerung der für +unbezwinglich gehaltenen Stadt Contrebia, dieselbe Tüchtigkeit, die er +bei der Überwindung des makedonischen Pseudophilipp bewiesen hatte; +nach zweijähriger Verwaltung (611, 612 143, 142) war die nördliche +Provinz zum Gehorsam zurückgebracht. Nur die beiden Städte Termantia +und Numantia hatten noch den Römern die Tore nicht geöffnet; auch mit +diesen aber war die Kapitulation fast schon abgeschlossen und der +größte Teil der Bedingungen von den Spaniern erfüllt. Als es jedoch zur +Ablieferung der Waffen kam, ergriff auch sie eben wie den Viriathus +jener echt spanische Stolz auf den Besitz des wohlgeführten Schwertes, +und es ward beschlossen, unter dem kühnen Megaravicus den Krieg +fortzusetzen. Es schien eine Torheit; das konsularische Heer, dessen +Befehl 613 (141) der Konsul Quintus Pompeius übernahm, war viermal so +stark als die gesamte waffenfähige Bevölkerung von Numantia. Allein der +völlig kriegsunkundige Feldherr erlitt unter den Mauern beider Städte +so harte Niederlagen (613, 614 141, 140), daß er endlich es vorzog, den +Frieden, den er nicht erzwingen konnte, durch Unterhandlungen zu +erwirken. Mit Termantia muß ein definitives Abkommen getroffen sein; +auch den Numantinern sandte der römische Feldherr ihre Gefangenen +zurück und forderte die Gemeinde unter dem geheimen Versprechen +günstiger Behandlung auf, sich ihm auf Gnade und Ungnade zu ergeben. +Die Numantiner, des Krieges müde, gingen darauf ein, und der Feldherr +beschränkte in der Tat seine Forderungen auf das möglichst geringe Maß. +Gefangene, Überläufer, Geiseln waren abgeliefert und die bedungene +Geldsumme größtenteils gezahlt, als im Jahre 615 (139) der neue +Feldherr Marcus Popillius Laenas im Lager eintraf. Sowie Pompeius die +Last des Oberbefehls auf fremde Schultern gewälzt sah, ergriff er, um +sich der in Rom seiner wartenden Verantwortung für den nach römischen +Begriffen ehrlosen Frieden zu entziehen, den Ausweg, sein Wort nicht +etwa bloß zu brechen, sondern zu verleugnen und, als die Numantiner +kamen, um die letzte Zahlung zu machen, ihren und seinen Offizieren ins +Gesicht den Abschluß des Vertrages einfach in Abrede zu stellen. Die +Sache ging zur rechtlichen Entscheidung an den Senat nach Rom; während +dort darüber verhandelt ward, ruhte vor Numantia der Krieg und +beschäftigte sich Laenas mit einem Zug nach Lusitanien, wo er die +Katastrophe des Viriathus beschleunigen half, und mit einem Streifzug +gegen die den Numantinern benachbarten Lusonen. Als endlich vom Senat +die Entscheidung kam, lautete sie auf Fortsetzung des Krieges - man +beteiligte sich also von Staats wegen an dem Bubenstreich des Pompeius. +Mit ungeschwächtem Mut und erhöhter Erbitterung nahmen die Numantiner +den Kampf wieder auf; Laenas focht unglücklich gegen sie und nicht +minder sein Nachfolger Gaius Hostilius Mancinus (617 137). Aber die +Katastrophe führten weit weniger die Waffen der Numantiner herbei als +die schlaffe und elende Kriegszucht der römischen Feldherrn und die +Folge derselben, die von Jahr zu Jahr üppiger wuchernde Liederlichkeit, +Zuchtlosigkeit und Feigheit der römischen Soldaten. Das bloße, überdies +falsche Gerücht, daß die Kantabrer und Vaccäer zum Entsatz von Numantia +heranrückten, bewog das römische Heer, ungeheißen in der Nacht das +Lager zu räumen, um sich in den sechzehn Jahre zuvor von Nobilior +angelegten Verschanzungen zu bergen. Die Numantiner, von dem Aufbruch +in Kenntnis gesetzt, drängten der fliehenden Armee nach und umzingelten +sie; es blieb nur die Wahl, mit dem Schwert in der Hand sich +durchzuschlagen oder auf die von den Numantinern gestellten Bedingungen +Frieden zu schließen. Mehr als der Konsul, der persönlich ein +Ehrenmann, aber schwach und wenig bekannt war, bewirkte Tiberius +Gracchus, der als Quästor im Heere diente, durch sein von dem Vater, +dem weisen Ordner der Ebroprovinz, auf ihn vererbtes Ansehen bei den +Keltiberern, daß die Numantiner sich mit einem billigen, von allen +Stabsoffizieren beschworenen Friedensvertrag genügen ließen. Allein der +Senat rief nicht bloß den Feldherrn sofort zurück, sondern ließ auch +nach langer Beratung bei der Bürgerschaft darauf antragen, den Vertrag +zu behandeln wie einst den caudinischen, das heißt, ihm die +Ratifikation zu verweigern und die Verantwortlichkeit dafür auf +diejenigen abzuwälzen, die ihn geschlossen hatten. Von Rechts wegen +hätten dies sämtliche Offiziere sein müssen, die den Vertrag beschworen +hatten; allein Gracchus und die übrigen wurden durch ihre Verbindungen +gerettet; Mancinus allein, der nicht den Kreisen der höchsten +Aristokratie angehörte, ward bestimmt, für eigene und fremde Schuld zu +büßen. Seiner Insignien entkleidet, ward der römische Konsular zu den +feindlichen Vorposten geführt, und da die Numantiner ihn anzunehmen +verweigerten, um nicht auch ihrerseits den Vertrag als nichtig +anzuerkennen, stand der ehemalige Oberfeldherr, im Hemd und die Hände +auf den Rücken gebunden, einen Tag lang vor den Toren von Numantia, +Freunden und Feinden ein klägliches Schauspiel. Jedoch für Mancinus’ +Nachfolger, seinen Kollegen im Konsulat, Marcus Aemilius Lepidus, +schien die bittere Lehre völlig verloren. Während die Verhandlungen +über den Vertrag mit Mancinus in Rom schwebten, griff er unter +nichtigen Vorwänden, eben wie sechzehn Jahre zuvor Lucullus, das freie +Volk der Vaccäer an und begann in Gemeinschaft mit dem Feldherrn der +jenseitigen Provinz Pallantia zu belagern (618 136). Ein Senatsbeschluß +befahl ihm, von dem Krieg abzustehen; nichtsdestoweniger setzte er, +unter dem Vorwand, daß die Umstände inzwischen sich geändert hätten, +die Belagerung fort. Dabei war er als Soldat gerade so schlecht wie als +Bürger; nachdem er so lange vor der großen und festen Stadt gelegen +hatte, bis ihm in dem rauhen feindlichen Land die Zufuhr ausgegangen +war, mußte er mit Zurücklassung aller Verwundeten und Kranken den +Rückzug beginnen, auf dem die verfolgenden Pallantiner die Hälfte +seiner Soldaten aufrieben und, wenn sie die Verfolgung nicht zu früh +abgebrochen hätten, das schon in voller Auflösung begriffene römische +Heer wahrscheinlich ganz vernichtet haben würden. Dafür ward denn dem +hochgeborenen General bei seiner Heimkehr eine Geldbuße auferlegt. +Seine Nachfolger Lucius Furius Philus (618 136) und Quintus Calpurnius +Piso (619 135) hatten wieder gegen die Numantiner Krieg zu führen, und +da sie eben gar nichts taten, kamen sie glücklich ohne Niederlage heim. +Selbst die römische Regierung fing endlich an einzusehen, daß man so +nicht länger fortfahren könne; man entschloß sich, die Bezwingung der +kleinen spanischen Landstadt außerordentlicherweise dem ersten +Feldherrn Roms, Scipio Aemilianus, zu übertragen. Die Geldmittel zur +Kriegführung wurden ihm freilich dabei mit verkehrter Kargheit +zugemessen und die verlangte Erlaubnis, Soldaten auszuheben, sogar +geradezu verweigert, wobei Koterieintrigen und die Furcht, der +souveränen Bürgerschaft lästig zu werden, zusammengewirkt haben mögen. +Indes begleitete ihn freiwillig eine große Anzahl von Freunden und +Klienten, unter ihnen sein Bruder Maximus Aemilianus, der vor einigen +Jahren mit Auszeichnung gegen Viriathus kommandiert hatte. Gestützt auf +diese zuverlässige Schar, die als Feldherrnwache konstituiert ward, +begann Scipio das tief zerrüttete Heer zu reorganisieren (620 134). Vor +allen Dingen mußte der Troß das Lager räumen - es fanden sich bis 2000 +Dirnen und eine Unzahl Wahrsager und Pfaffen von allen Sorten -, und da +der Soldat zum Fechten unbrauchbar war, mußte er wenigstens schanzen +und marschieren. Den ersten Sommer vermied der Feldherr jeden Kampf mit +den Numantinern; er begnügte sich, die Vorräte in der Umgegend zu +vernichten und die Vaccäer, die den Numantinern Korn verkauften, zu +züchtigen und zur Anerkennung der Oberhoheit Roms zu zwingen. Erst +gegen den Winter zog Scipio sein Heer um Numantia zusammen; außer dem +numidischen Kontingent von Reitern, Fußsoldaten und zwölf Elefanten +unter Anführung des Prinzen Jugurtha und den zahlreichen spanischen +Zuzügen waren es vier Legionen, überhaupt eine Heermasse von 60000 +Mann, die eine Stadt mit einer waffenfähigen Bürgerschaft von höchstens +8000 Köpfen einschloß. Dennoch boten die Belagerten oftmals den Kampf +an; allein Scipio, wohl erkennend, daß die vieljährige Zuchtlosigkeit +nicht mit einem Schlag sich ausrotten lasse, verweigerte jedes Gefecht, +und wo es dennoch bei den Ausfällen der Belagerten dazu kam, +rechtfertigte die feige, kaum durch das persönliche Erscheinen des +Feldherrn gehemmte Flucht der Legionäre diese Taktik nur zu sehr. Nie +hat ein Feldherr seine Soldaten verächtlicher behandelt als Scipio die +numantinische Armee; und nicht bloß mit bitteren Reden, sondern vor +allem durch die Tat bewies er ihr, was er von ihr halte. Zum erstenmal +führten die Römer, wo es nur auf sie ankam, das Schwert zu brauchen, +den Kampf mit Hacke und Spaten. Rings um die ganze Stadtmauer von +reichlich einer halben deutschen Meile im Umfang ward eine doppelt so +ausgedehnte, mit Mauern, Türmen und Gräben versehene zwiefache +Umwallungslinie aufgeführt und auch der Duerofluß, auf dem den +Belagerten anfangs noch durch kühne Schiffer und Taucher einige Vorräte +zugekommen waren, endlich abgesperrt. So mußte die Stadt, die zu +stürmen man nicht wagte, wohl durch Hunger erdrückt werden, um so mehr, +als es der Bürgerschaft nicht möglich gewesen war, sich während des +letzten Sommers zu verproviantieren. Bald litten die Numantiner Mangel +an allem. Einer ihrer kühnsten Männer, Retogenes, schlug sich mit +wenigen Begleitern durch die feindlichen Linien durch, und seine +rührende Bitte, die Stammesgenossen nicht hilflos untergehen zu lassen, +war wenigstens in einer der Arevakerstädte, in Lutia, von großer +Wirkung. Bevor aber die Bürger von Lutia sich entschieden hatten, +erschien Scipio, benachrichtigt von den römisch Gesinnten in der Stadt, +mit Übermacht vor ihren Mauern und zwang die Behörden, ihm die Führer +der Bewegung, vierhundert der trefflichsten Jünglinge, auszuliefern, +denen sämtlich auf Befehl des römischen Feldherrn die Hände abgehauen +wurden. Die Numantiner, also der letzten Hoffnung beraubt, sandten an +Scipio, um über die Unterwerfung zu verhandeln, und riefen den tapferen +Mann an, der Tapferen zu schonen; allein als die rückkehrenden Boten +meldeten, daß Scipio unbedingte Ergebung verlange, wurden sie von der +wütenden Menge zerrissen, und eine neue Frist verfloß, bis Hunger und +Seuchen ihr Werk vollendet hatten. Endlich kam in das römische +Hauptquartier eine zweite Botschaft, daß die Stadt jetzt bereit sei, +auf Gnade und Ungnade sich zu unterwerfen. Als demnach die Bürgerschaft +angewiesen wurde, am folgenden Tag vor den Toren zu erscheinen, bat sie +um einige Tage Frist, um denjenigen Bürgern, die den Untergang der +Freiheit nicht zu überleben beschlossen hätten, Zeit zum Sterben zu +gestatten. Sie ward ihnen gewährt, und nicht wenige benutzten sie. +Endlich erschien der elende Rest vor den Toren. Scipio las fünfzig der +Ansehnlichsten aus, um sie in seinem Triumphe aufzuführen; die übrigen +wurden in die Sklaverei verkauft, die Stadt dem Boden gleichgemacht, +ihr Gebiet unter die Nachbarstädte verteilt. Das geschah im Herbst 621 +(133), fünfzehn Monate nachdem Scipio den Oberbefehl übernommen hatte. + +Mit Numantias Fall war die hier und da noch sich regende Opposition +gegen Rom in der Wurzel getroffen; militärische Spaziergänge und +Geldbußen reichten aus, um die römische Oberherrschaft im ganzen +diesseitigen Spanien zur Anerkennung zu bringen. + +Auch im jenseitigen ward durch die Überwindung der Lusitaner die +römische Herrschaft befestigt und ausgedehnt. Der Konsul Decimus Iunius +Brutus, der an Caepios Stelle trat, siedelte die kriegsgefangenen +Lusitaner an in der Nähe von Sagunt und gab ihrer neuen Stadt Valentia +(Valencia) gleich Carteia latinische Verfassung (616 138); er durchzog +ferner (616-618 138-136) in verschiedenen Richtungen die iberische +Westküste und gelangte zuerst von den Römern an das Gestade des +Atlantischen Meers. Die von ihren Bewohnern, Männern und Frauen, +hartnäckig verteidigten Städte der dort wohnenden Lusitaner wurden +durch ihn bezwungen, und die bis dahin unabhängigen Callaeker nach +einer großen Schlacht, in der ihrer 50000 gefallen sein sollen, mit der +römischen Provinz vereinigt. Nach Unterwerfung der Vaccäer, Lusitaner +und Callaeker war jetzt mit Ausnahme der Nordküste die ganze Halbinsel +wenigstens dem Namen nach den Römern untertan. Eine senatorische +Kommission ging nach Spanien, um im Einvernehmen mit Scipio das +neugewonnene Provinzialgebiet römisch zu ordnen, und Scipio tat, was er +konnte, um die Folgen der ehr- und kopflosen Politik seiner Vorgänger +zu beseitigen, wie denn zum Beispiel die Kaukaner, deren schmachvolle +Mißhandlung durch Lucullus er neunzehn Jahre zuvor als Kriegstribun mit +hatte ansehen müssen, von ihm eingeladen wurden, in ihre Stadt +zurückzukehren und sie wiederaufzubauen. Es begann wiederum für Spanien +eine leidlichere Zeit. Die Unterdrückung des Seeraubes, der auf den +Balearen gefährliche Schlupfwinkel fand, durch Quintus Caecilius +Metellus’ Besetzung dieser Inseln im Jahre 631 (123) war dem Aufblühen +des spanischen Handels ungemein förderlich, und auch sonst waren die +fruchtbaren und von einer dichten, in der Schleuderkunst +unübertroffenen Bevölkerung bewohnten Inseln ein wertvoller Besitz. Wie +zahlreich schon damals die lateinisch redende Bevölkerung auf der +Halbinsel war, beweist die Ansiedelung von 3000 spanischen Latinern in +den Städten Palma und Pollentia (Pollenza) auf den neugewonnenen +Inseln. Trotz mancher schwerer Mißstände bewahrte die römische +Verwaltung Spaniens im ganzen den Stempel, den die catonische Zeit und +zunächst Tiberius Gracchus ihr aufgeprägt hatten. Das römische +Grenzgebiet zwar hatte von den Überfällen der halb oder gar nicht +bezwungenen Stämme des Nordens und Westens nicht wenig zu leiden. Bei +den Lusitanern namentlich tat die ärmere Jugend regelmäßig sich in +Räuberbanden zusammen und brandschatzte in hellen Haufen die Landsleute +oder die Nachbarn, weshalb noch in viel späterer Zeit die einzeln +gelegenen Bauernhöfe in dieser Gegend festungsartig angelegt und im +Notfall verteidigungsfähig waren; und es gelang den Römern nicht, +diesem Räuberwesen in den unwirtlichen und schwer zugänglichen +lusitanischen Bergen ein Ende zu machen. Aber die bisherigen Kriege +nahmen doch mehr und mehr den Charakter des Bandenunfugs an, den jeder +leidlich tüchtige Statthalter mit den gewöhnlichen Mitteln +niederzuhalten vermochte, und trotz dieser Heimsuchung der +Grenzdistrikte war Spanien unter allen römischen Gebieten das +blühendste und am besten organisierte Land; das Zehntensystem und die +Mittelsmänner waren daselbst unbekannt, die Bevölkerung zahlreich und +die Landschaft reich an Korn und Vieh. + +In einem weit unleidlicheren Mittelzustand zwischen formeller +Souveränität und tatsächlicher Untertänigkeit befanden sich die +afrikanischen, griechischen und asiatischen Staaten, welche durch die +Kriege der Römer gegen Karthago, Makedonien und Syrien und deren +Konsequenzen in den Kreis der römischen Hegemonie gezogen worden waren. +Der unabhängige Staat bezahlt den Preis seiner Selbständigkeit nicht zu +teuer, indem er die Leiden des Krieges auf sich nimmt, wenn es sein +muß; der Staat, der die Selbständigkeit eingebüßt hat, mag wenigstens +einen Ersatz darin finden, daß der Schutzherr ihm Ruhe schafft vor +seinen Nachbarn. Allein diese Klientelstaaten Roms hatten weder +Selbständigkeit noch Frieden. In Afrika bestand zwischen Karthago und +Numidien tatsächlich ein ewiger Grenzkrieg. In Ägypten hatte zwar der +römische Schiedsspruch den Sukzessionsstreit der beiden Brüder +Ptolemaeos Philometor und Ptolemaeos des Dicken geschlichtet; allein +die neuen Herren von Ägypten und von Kyrene führten nichtsdestoweniger +Krieg um den Besitz von Kypros. In Asien waren nicht bloß die meisten +Königreiche, Bithynien, Kappadokien, Syrien, gleichfalls durch +Erbfolgestreitigkeiten und dadurch hervorgerufene Interventionen der +Nachbarstaaten innerlich zerrissen, sondern es wurden auch vielfache +und schwere Kriege geführt zwischen den Attaliden und den Galatern, +zwischen den Attaliden und den bithynischen Königen, ja zwischen Rhodos +und Kreta. Ebenso glimmten im eigentlichen Hellas die dort landüblichen +zwerghaften Fehden, und selbst das sonst so ruhige makedonische Land +verzehrte sich in dem inneren Hader seiner neuen demokratischen +Verfassungen. Es war die Schuld der Herrscher wie der Beherrschten, daß +die letzte Lebenskraft und der letzte Wohlstand der Nationen in diesen +ziellosen Fehden vergeudet ward. Die Klientelstaaten hätten einsehen +müssen, daß der Staat, der nicht gegen jeden, überhaupt nicht Krieg +führen kann und daß, da der Besitzstand und die Machtstellung all +dieser Staaten tatsächlich unter römischer Garantie stand, ihnen bei +jeder Differenz nur die Wahl blieb, entweder mit den Nachbarn in Güte +sich zu vergleichen oder die Römer zum Schiedsspruch aufzufordern. Wenn +die achäische Tagsatzung von Rhodiern und Kretern um Bundeshilfe +gemahnt ward und ernstlich über deren Absendung beratschlagte (601 +153), so war dies einfach eine politische Posse; der Satz, den der +Führer der römisch gesinnten Partei damals aufstellte, daß es den +Achäern nicht mehr freistehe, ohne Erlaubnis der Römer Krieg zu führen, +drückte, freilich mit übelklingender Schärfe, die einfache Wahrheit +aus, daß die Souveränität der Dependenzstaaten eben nur eine formelle +war und jeder Versuch, dem Schatten Leben zu verleihen, notwendig dahin +führen mußte, auch den Schatten zu vernichten. Aber ein Tadel, schwerer +als der gegen die Beherrschten, ist gegen die herrschende Gemeinde zu +richten. Es ist für den Menschen wie für den Staat keine leichte +Aufgabe, in die eigene Bedeutungslosigkeit sich zu finden; des +Machthabers Pflicht und Recht ist es, entweder die Herrschaft +aufzugeben oder durch Entwicklung einer imponierenden materiellen +Überlegenheit die Beherrschten zur Resignation zu nötigen. Der römische +Senat tat keines von beidem. Von allen Seiten angerufen und bestürmt, +griff der Senat beständig ein in den Gang der afrikanischen, +hellenischen, asiatischen, ägyptischen Angelegenheiten, allein in einer +so unsteten und schlaffen Weise, daß durch diese Schlichtungsversuche +die Verwirrung gewöhnlich nur noch ärger ward. Es war die Zeit der +Kommissionen. Beständig gingen Beauftragte des Senats nach Karthago und +Alexandreia, an die achäische Tagsatzung und die Höfe der +vorderasiatischen Herren; sie untersuchten, inhibierten, berichteten, +und dennoch ward in den wichtigsten Dingen nicht selten ohne Wissen und +gegen den Willen des Senats verfahren. Es konnte geschehen, daß Kypros, +welches der Senat dem Kyrenäischen Reich zugeschieden hatte, +nichtsdestoweniger bei Ägypten blieb; daß ein syrischer Prinz den Thron +seiner Vorfahren bestieg unter dem Vorgeben, ihn von den Römern +zugesprochen erhalten zu haben, während in der Tat ihm derselbe vom +Senate ausdrücklich abgeschlagen und er selbst nur durch Bannbruch von +Rom entkommen war; ja daß die offenkundige Ermordung eines römischen +Kommissars, der im Auftrag des Senats vormundschaftlich das Regiment +von Syrien führte, gänzlich ungeahndet hinging. Die Asiaten wußten zwar +sehr wohl, daß sie nicht imstande seien, den römischen Legionen zu +widerstehen; aber sie wußten nicht minder, wie wenig der Senat geneigt +war, den Bürgern Marschbefehl nach dem Euphrat oder dem Nil zu +erteilen. So ging es in diesen entlegenen Landschaften zu wie in der +Schulstube, wenn der Lehrer fern und schlaff ist; und Roms Regiment +brachte die Völker zugleich um die Segnungen der Freiheit und um die +der Ordnung. Für die Römer selbst aber war diese Lage der Dinge +insofern bedenklich, als sie die Nord- und Ostgrenze gewissermaßen +preisgab. Ohne daß Rom unmittelbar und rasch es zu verhindern +vermochte, konnten hier, gestützt auf die außerhalb des Bereiches der +römischen Hegemonie gelegenen Binnenlandschaften und im Gegensatz gegen +die schwachen römischen Klientelstaaten, Reiche sich bilden von einer +für Rom gefährlichen und früher oder später mit ihm rivalisierenden +Machtentwicklung. Allerdings schirmte hiergegen einigermaßen der +überall zerspaltene und nirgends einer großartigen staatlichen +Entwicklung günstige Zustand der angrenzenden Nationen; aber dennoch +erkennt man namentlich in der Geschichte des Ostens sehr deutlich, daß +in dieser Zeit die Phalanx des Seleukos nicht mehr und die Legionen des +Augustus noch nicht am Euphrat standen. + +Diesem Zustand der Halbheit ein Ende zu machen war hohe Zeit. Das +einzig mögliche Ende aber war die Verwandlung der Klientelstaaten in +römische Ämter, was um so eher geschehen konnte, als ja die römische +Provinzialverfassung wesentlich nur die militärische Gewalt in der Hand +des römischen Vogts zusammenfaßte und Verwaltung und Gerichte in der +Hauptsache den Gemeinden blieben oder doch bleiben sollten, also, was +von der alten politischen Selbständigkeit überhaupt noch lebensfähig +war, sich in der Form der Gemeindefreiheit bewahren ließ. Zu verkennen +war die Notwendigkeit dieser administrativen Reform nicht wohl; es +fragte sich nur, ob der Senat dieselbe verzögern und verkümmern, oder +ob er den Mut und die Macht haben werde, das Notwendige klar einzusehen +und energisch durchzuführen. + +Blicken wir zunächst auf Afrika. Die von den Römern in Libyen +gegründete Ordnung der Dinge ruhte wesentlich auf dem Gleichgewicht des +Nomadenreiches Massinissas und der Stadt Karthago. Während jenes unter +Massinissas durchgreifendem und klugem Regiment sich erweiterte, +befestigte und zivilisierte, ward auch Karthago durch die bloßen Folgen +des Friedensstandes wenigstens an Reichtum und Volkszahl wieder, was es +auf der Höhe seiner politischen Macht gewesen war. Die Römer sahen mit +übelverhehlter, neidischer Furcht die, wie es schien, unverwüstliche +Blüte der alten Nebenbuhlerin; hatten sie bisher den beständig +fortgesetzten Übergriffen Massinissas gegenüber derselben jeden +ernstlichen Schutz verweigert, so fingen sie jetzt an, offen zu Gunsten +des Nachbarn zu intervenieren. Der seit mehr als dreißig Jahren +zwischen der Stadt und dem König schwebende Streit über den Besitz der +Landschaft Emporia an der Kleinen Syrte, einer der fruchtbarsten des +karthagischen Gebiets, ward endlich (um 594 160) von römischen +Kommissarien dahin entschieden, daß die Karthager die noch in ihrem +Besitz verbliebenen emporitanischen Städte zu räumen und als +Entschädigung für die widerrechtliche Nutzung des Gebiets 500 Talente +(860000 Taler) an den König zu zahlen hätten. Die Folge war, daß +Massinissa sofort sich eines anderen karthagischen Bezirks an der +Westgrenze des karthagischen Gebiets, der Stadt Tusca und der großen +Felder am Bagradas, bemächtigte; den Karthagern blieb nichts übrig, als +abermals in Rom einen hoffnungslosen Prozeß anhängig zu machen. Nach +langem und ohne Zweifel absichtlichem Zögern erschien in Afrika eine +zweite Kommission (597 157); als aber die Karthager auf einen, ohne +genaue vorgängige Untersuchung der Rechtsfrage von derselben zu +fällenden Schiedsspruch nicht unbedingt kompromittieren wollten, +sondern auf eingehender Erörterung der Rechtsfrage bestanden, kehrten +die Kommissare ohne weiteres wieder zurück nach Rom. Die Rechtsfrage +zwischen Karthago und Massinissa blieb also unerledigt; aber die +Sendung führte eine wichtigere Entscheidung herbei. Das Haupt dieser +Kommission war der alte Marcus Cato gewesen, damals vielleicht der +einflußreichste Mann im Senat und als Veteran aus dem Hannibalischen +Kriege noch von dem vollen Pönerhaß und der vollen Pönerfurcht +durchdrungen. Betroffen und mißgünstig hatte dieser mit eigenen Augen +den blühenden Zustand der Erbfeinde Roms, die üppige Landschaft und die +wogenden Gassen, die gewaltigen Waffenvorräte in den Zeughäusern und +das reiche Flottenmaterial geschaut; schon sah er im Geiste einen +zweiten Hannibal all diese Hilfsmittel gegen Rom verwenden. In seiner +ehrlichen und mannhaften, aber durchaus bornierten Weise kam er zu dem +Ergebnis, daß Rom nicht eher sicher sein werde, als bis Karthago vom +Erdboden verschwunden sei, und entwickelte nach seiner Heimkehr diese +Ansicht sofort im Senat. Dort widersetzten die freier blickenden Männer +der Aristokratie, namentlich Scipio Nasica, sich dieser kümmerlichen +Politik mit großem Ernst und entwickelten die Blindheit der Besorgnisse +vor einer Kaufstadt, deren phönikische Bewohner mehr und mehr der +kriegerischen Künste und Gedanken sich entwöhnten, und die vollkommene +Verträglichkeit der Existenz dieser reichen Handelsstadt mit der +politischen Suprematie Roms. Selbst die Umwandlung Karthagos in eine +römische Provinzialstadt wäre ausführbar, ja, verglichen mit dem +gegenwärtigen Zustand, den Phönikern selbst vielleicht nicht +unwillkommen gewesen. Indes Cato wollte eben nicht die Unterwerfung, +sondern den Untergang der verhaßten Stadt. Seine Politik fand, wie es +scheint, Bundesgenossen teils an den Staatsmännern, die geneigt waren, +die überseeischen Gebiete in unmittelbare Abhängigkeit von Rom zu +bringen, teils und vor allem an dem mächtigen Einfluß der römischen +Bankiers und Großhändler, denen nach der Vernichtung der reichen Geld- +und Handelsstadt die Erbschaft derselben zufallen mußte. Die Majorität +beschloß, bei der ersten passenden Gelegenheit - eine solche abzuwarten +forderte die Rücksicht auf die öffentliche Meinung - den Krieg mit +Karthago oder vielmehr die Zerstörung der Stadt zu bewirken. + +Die gewünschte Veranlassung fand sich rasch. Die erbitternden +Rechtsverletzungen von Seiten Massinissas und der Römer brachten in +Karthago den Hasdrubal und den Karthalo an das Regiment, die Führer der +Patriotenpartei, welche, ähnlich der achäischen, zwar nicht daran +dachte, gegen die römische Suprematie sich aufzulehnen, aber wenigstens +die den Karthagern vertragsmäßig zustehenden Rechte gegen Massinissa, +wenn nötig mit den Waffen, zu verteidigen entschlossen war. Die +Patrioten ließen vierzig der entschiedensten Anhänger Massinissas aus +der Stadt verbannen und das Volk schwören, ihnen unter keiner Bedingung +je die Rückkehr zu gestatten; zugleich bildeten sie zur Abwehr gegen +die von Massinissa zu erwartenden Angriffe aus den freien Numidiern ein +starkes Heer unter Arkobarzanes, dem Enkel des Syphax (um 600 154). +Massinissa indes war klug genug, jetzt nicht zu rüsten, sondern sich +wegen des streitigen Gebiets am Bagradas unbedingt dem Schiedsspruch +der Römer zu unterwerfen; und so konnte man römischerseits mit einigem +Schein behaupten, daß die karthagischen Rüstungen gegen die Römer +gerichtet sein müßten, und auf sofortige Entlassung des Heeres und +Vernichtung der Flottenvorräte dringen. Der karthagische Rat wollte +einwilligen, allein die Menge verhinderte die Ausführung des +Beschlusses, und die römischen Boten, die diesen Bescheid nach Karthago +überbracht hatten, schwebten in Lebensgefahr. Massinissa sandte seinen +Sohn Gulussa nach Rom, um über die fortdauernden Vorbereitungen +Karthagos für den Land- und den Seekrieg Bericht zu erstatten und die +Kriegserklärung zu beschleunigen. Nachdem noch einmal eine +Gesandtschaft von zehn Männern es bestätigt hatte, daß in Karthago in +der Tat gerüstet werde (602 152), verwarf der Senat zwar die unbedingte +Kriegserklärung, die Cato begehrte, beschloß aber in geheimer Sitzung, +daß der Krieg erklärt sein solle, wenn die Karthager sich nicht dazu +verstehen würden, ihr Heer zu entlassen und ihr Flottenmaterial zu +verbrennen. Inzwischen hatte in Afrika der Kampf bereits begonnen. +Massinissa hatte die von den Karthagern verbannten Leute unter +Geleitschaft seines Sohnes Gulussa nach der Stadt zurückgesandt. Da die +Karthager diesen die Tore schlossen, auch von den abziehenden Numidiern +einige erschlugen, setzte Massinissa seine Truppen in Bewegung, und +auch die karthagische Patriotenpartei machte sich kampffertig. Indes +Hasdrubal, der an die Spitze ihrer Armee trat, war einer der +gewöhnlichen Heerverderber, wie die Karthager sie zu Feldherren zu +nehmen pflegten; im Feldherrnpurpur einherstolzierend wie ein +Theaterkönig und seines stattlichen Bauches auch im Lager pflegend, war +der eitle und schwerfällige Mann wenig geeignet, den Helfer zu machen +in einer Bedrängnis, die vielleicht selbst Hamilkars Geist und +Hannibals Arm nicht mehr hätten abwenden können. Vor den Augen des +Scipio Aemilianus, der, damals Kriegstribun in der spanischen Armee, an +Massinissa gesandt worden war, um seinem Feldherrn afrikanische +Elefanten zuzuführen, und der bei dieser Gelegenheit von einem Berge +herab “wie Zeus vom Ida” der Schlacht zuschaute, lieferten die +Karthager und die Numidier sich ein großes Treffen, in welchem jene, +obwohl durch 6000, von unzufriedenen Hauptleuten Massinissas ihnen +zugeführte numidische Reiter verstärkt und an Zahl dem Feinde +überlegen, dennoch den kürzeren zogen. Nach dieser Niederlage erboten +sich die Karthager gegen Massinissa zu Gebietsabtretungen und +Geldzahlungen, und Scipio versuchte auf ihr Anhalten, einen Vertrag +zustande zu bringen; allein an der Weigerung der karthagischen +Patrioten, die Überläufer auszuliefern, scheiterte das +Friedensgeschäft. Hasdrubal aber, eng eingeschlossen von den Truppen +des Gegners, wurde genötigt, alles zu bewilligen, was dieser forderte: +Auslieferung der Überläufer, Rückkehr der Verbannten, Abgabe der +Waffen, Abzug unter dem Joch, Zahlung von jährlich 100 Talenten (155000 +Talern) für die nächsten fünfzig Jahre; und selbst dieser Vertrag wurde +von den Numidiern nicht gehalten, sondern der entwaffnete Rest des +karthagischen Heeres auf der Heimkehr von ihnen zusammengehauen. + +Die Römer, die sich wohl gehütet hatten, den Krieg selbst durch zeitige +Dazwischenkunft zu verhindern, hatten jetzt, was sie wünschten: einen +brauchbaren Kriegsgrund - denn die Bestimmungen des Vertrags, nicht +gegen römische Bundesgenossen noch außerhalb der eigenen Grenzen Krieg +zu führen, waren jetzt allerdings von den Karthagern übertreten worden +- und einen bereits im voraus geschlagenen Gegner. Schon wurden die +italischen Kontingente nach Rom gemahnt und die Schiffe +zusammenberufen; jeden Augenblick konnte die Kriegserklärung da sein. +Die Karthager boten alles auf, den drohenden Schlag abzuwenden. Die +Führer der Patriotenpartei, Hasdrubal und Karthalo, wurden zum Tode +verurteilt und eine Gesandtschaft nach Rom geschickt, um auf sie die +Verantwortung zu wälzen. Allein, zugleich trafen Boten von Utica, der +zweiten Stadt der libyschen Phöniker, dort ein, welche Vollmacht +hatten, ihre Gemeinde den Römern völlig zu eigen zu geben - mit dieser +zuvorkommenden Unterwürfigkeit verglichen, schien es fast Trotz, daß +die Karthager sich begnügt hatten, die Hinrichtung ihrer angesehensten +Männer unverlangt anzuordnen. Der Senat erklärte, daß die +Entschuldigung der Karthager unzureichend befunden sei; auf die Frage, +was denn genügen werde, hieß es, das sei den Karthagern ja bekannt. +Freilich konnte man es wissen, was die Römer wollten; allein es schien +doch wieder unmöglich zu glauben, daß nun wirklich für die liebe +Heimatstadt die letzte Stunde gekommen sei. Noch einmal gingen +karthagische Sendboten, diesmal ihrer dreißig und mit unbeschränkter +Vollmacht, nach Rom. Als sie ankamen, war bereits der Krieg erklärt +(Anfang 605 149) und das doppelte Konsularheer eingeschifft; doch +versuchten sie noch jetzt, den Sturm durch vollständige Unterwerfung zu +beschwören. Der Senat beschied sie, daß Rom bereit sei, der +karthagischen Gemeinde ihr Gebiet, ihre städtische Freiheit und ihr +Landrecht, ihr Gemeinde- und Privatvermögen zu garantieren, wofern sie +den soeben nach Sizilien abgegangenen Konsuln binnen Monatsfrist in +Lilybäon 300 Geiseln aus den Kindern der regierenden Familien stellen +und die weiteren Befehle erfüllen würden, die ihnen die Konsuln nach +ihrer Instruktion würden zugehen lassen. Man hat den Bescheid +zweideutig genannt; sehr verkehrt, wie schon damals klarblickende +Männer selbst unter den Karthagern hervorhoben. Daß alles, was man nur +begehren konnte, garantiert ward mit einziger Ausnahme der Stadt, und +daß keine Rede davon war, die Einschiffung der Truppen nach Afrika zu +sistieren, zeigte sehr deutlich, was man beabsichtigte; der Senat +verfuhr mit furchtbarer Härte, aber den Anschein der Nachgiebigkeit gab +er sich nicht. Indes man wollte in Karthago nicht sehen; es fand sich +kein Staatsmann, der die haltlose städtische Menge entweder zum vollen +Widerstand oder zur vollen Resignation zu bewegen vermocht hätte. Als +man zugleich das entsetzliche Kriegsdekret und die erträgliche +Geiselforderung vernahm, fügte man zunächst sich dieser und hoffte +weiter, weil man den Mut nicht hatte es auszudenken, was es heiße, sich +der Willkür eines Todfeindes im voraus zu unterwerfen. Die Konsuln +sandten die Geiseln von Lilybäon zurück nach Rom und beschieden die +karthagischen Boten, das weitere in Afrika zu vernehmen. Ohne +Widerstand geschah die Landung und wurden die geforderten Lebensmittel +verabfolgt. Als im Hauptquartier von Utica die gesamte Gerusia von +Karthago erschien, um die weiteren Befehle entgegenzunehmen, begehrten +die Konsuln zunächst die Entwaffnung der Stadt. Auf die Frage der +Karthager, wer sie sodann auch nur gegen ihre eigenen Ausgewanderten, +gegen die auf 20000 Mann angeschwollene Armee des dem Todesurteil durch +die Flucht entronnenen Hasdrubal beschützen solle, ward ihnen erwidert, +daß dies die Sorge der Römer sein werde. Gehorsam erschien demnach der +Rat der Stadt vor den Konsuln mit allem Flottenmaterial, allen +Kriegsvorräten der öffentlichen Zeughäuser, allen im Privatbesitz +befindlichen Waffen - man zählte 3000 Wurfgeschütze und 200000 volle +Rüstungen - und fragte an, ob noch weiteres begehrt werde. Da erhob +sich der Konsul Lucius Marcius Censorinus und eröffnete dem Rat, daß in +Gemäßheit der vom Senat erlassenen Instruktion die bisherige Stadt +zerstört werden müsse, den Bewohnern aber freistehe, sich wo sie sonst +wollten auf ihrem Gebiet, jedoch mindestens zwei deutsche Meilen vom +Meer entfernt, wiederum anzusiedeln. Dieser fürchterliche Befehl +rüttelte in den Phönikern die ganze, soll man sagen hochherzige oder +wahnwitzige Begeisterung auf, wie sie einst die Tyrier gegen Alexander +und später die Juden gegen Vespasian bewiesen. Beispiellos wie die +Geduld war, mit der diese Nation Knechtschaft und Druck zu ertragen +vermochte, ebenso beispiellos war jetzt, wo es sich nicht um Staat und +Freiheit handelte, sondern um den eigenen, geliebten Boden der +Vaterstadt und die altgewohnte teure Meeresheimat, die rasende Empörung +der kaufmännischen und seefahrenden Bevölkerung. Von Hoffnung und +Rettung konnte nicht die Rede sein; der politische Verstand gebot ohne +Frage auch jetzt sich zu fügen - aber die Stimme der wenigen, welche +mahnten, das Unvermeidliche auf sich zu nehmen, verscholl wie der Ruf +des Fährmanns im Orkan in dem brausenden Wutgeheul der Menge, die in +ihrem wahnsinnigen Toben teils an den Beamten der Stadt sich vergriff, +welche zur Auslieferung der Geiseln und Waffen geraten hatten, teils +die unschuldigen Träger der Botschaft, so viele von ihnen überhaupt +heimzukehren gewagt hatten, die Schreckenskunde entgelten ließ, teils +die zufällig in der Stadt verweilenden Italiker zerriß, um wenigstens +an diesen die Rache vorwegzunehmen für die Vernichtung der Heimat. Man +beschloß nicht sich zu wehren; wehrlos wie man war, verstand sich dies +von selbst. Die Tore wurden geschlossen, auf die von Wurfgeschossen +entblößten Mauerzinnen Steine geschafft, der Oberbefehl an Hasdrubal, +den Tochtersohn Massinissas, übertragen, die Sklaven sämtlich frei +erklärt. Das Emigrantenheer unter dem flüchtigen Hasdrubal, das mit +Ausnahme der von den Römern besetzten Städte an der Ostküste, +Hadrumetum, Klein-Leptis, Thapsus und Achulla und der Stadt Utica, das +ganze karthagische Gebiet innehatte und für die Verteidigung eine +unschätzbare Stütze bot, ward ersucht, der Gemeinde seinen Beistand in +dieser höchsten Not nicht zu versagen. Zugleich versuchte man, in echt +phönikischer Weise die grenzenloseste Erbitterung unter dem Mantel der +Demut versteckend, den Feind zu täuschen. Es ging eine Botschaft an die +Konsuln, um dreißigtägigen Waffenstillstand zur Absendung einer +Gesandtschaft nach Rom zu erbitten. Die Karthager wußten wohl, daß die +Feldherrn diese einmal schon abgeschlagene Bitte weder gewähren wollten +noch konnten; allein die Konsuln wurden dadurch bestärkt in der +natürlichen Voraussetzung, daß nach dem ersten Ausbruch der +Verzweiflung die gänzlich wehrlose Stadt sich fügen werde, und +verschoben deshalb den Angriff. Die kostbare Zwischenzeit ward benutzt, +um Wurfgeschütze und Rüstungen herzustellen; Tag und Nacht ward ohne +Unterschied des Alters und Geschlechts an Maschinen und Waffen +gezimmert und gehämmert; um Balken und Metall zu erlangen, wurden die +öffentlichen Gebäude niedergerissen; um die für die Wurfgeschütze +unentbehrlichen Sehnen herzustellen, schoren die Frauen sich das Haar; +in unglaublich kurzer Zeit waren die Mauern und die Männer wieder +bewehrt. Daß dies alles geschehen konnte, ohne daß die wenige Meilen +entfernten Konsuln etwas davon erfuhren, ist nicht der am wenigsten +wunderbare Zug in dieser wunderbaren, von einem wahrhaft genialen, ja +dämonischen Volkshaß getragenen Bewegung. Als endlich die Konsuln, des +Wartens müde, aus dem Lager bei Utica aufbrachen und bloß mit Leitern +die nackten Mauern ersteigen zu können meinten, fanden sie mit Staunen +und Schrecken die Zinnen aufs neue mit Katapulten gekrönt und die große +volkreiche Stadt, welche man gleich einem offenen Flecken zu besetzen +gehofft hatte, fähig und bereit, sich bis auf den letzten Mann zu +verteidigen. + +Karthago war sehr fest durch die Natur seiner Lage 3 wie durch die +Kunst seiner gar oft auf den Schutz ihrer Mauern angewiesenen Bewohner. +In den weiten Tunesischen Golf, den westlich Kap Farina, östlich Kap +Bon begrenzen, springt in der Richtung von Westen nach Osten eine +Landspitze vor, die an drei Seiten vom Meer umflossen ist und nur gegen +Westen mit dem Festland zusammenhängt. Diese Landspitze, an der +schmalsten Stelle nur etwa eine halbe deutsche Meile breit und im +ganzen flach, erweitert sich wieder gegen den Golf und endigt hier in +den beiden Höhen von Dschebel-Khawi und Sidi bu Said, zwischen denen +die Fläche von El Mersa sich ausdehnt. Auf dem südlichen, mit der Höhe +von Sidi bu Said abschließenden Teil derselben lag die Stadt Karthago. +Der ziemlich steile Abfall jener Höhe gegen den Golf und dessen +zahlreiche Klippen und Untiefen gaben an der Golfseite der Stadt +natürliche Festigkeit, und es genügte hier eine einfache Umwallung. +Dagegen auf die Mauer an der West- oder Landseite, wo die Natur keinen +Schutz bot, war alles verwendet, was die damalige Befestigungskunst +vermochte. Sie bestand, wie die kürzlich aufgedeckten, mit der +Beschreibung des Polybios genau übereinstimmenden Überreste gezeigt +haben, aus einer Außenmauer von 6½ Fuß Dicke und an diese hinterwärts, +wahrscheinlich in ihrer ganzen Ausdehnung, angelehnten ungeheuren +Kasematten, welche durch einen 6 Fuß breiten bedeckten Gang von der +Außenmauer getrennt waren und, die jede reichlich 3 Fuß breiten Vorder- +und Hintermauern nicht gerechnet, eine Tiefe von 11 Fuß hatten 4. +Dieser ungeheure, durchaus aus mächtigen Quadern zusammengefügte Wall +erhob sich in zwei Stockwerken, die Zinnen und die mächtigen vier +Stockwerke hohen Türme ungerechnet, zu einer Höhe von 45 Fuß 5 und +gewährte in dem untern Stockwerke der Kasematten Stallung und +Futtermagazine für 300 Elefanten, in dem oberen Pferdeställe, Magazin- +und Kasernenräume 6. Der Burghügel, die Byrsa (syrisch birtha = Burg), +ein verhältnismäßig bedeutender Fels von 188 Fuß Höhe und an der +Unterfläche einem Umfang von reichlich 2000 Doppelschritten 7, griff in +diese Mauer an ihrem südlichen Ende ein, ähnlich wie die Felswand des +Kapitols in den römischen Stadtwall. Die obere Fläche desselben trug +den gewaltigen, auf einem Unterbau von sechzig Stufen ruhenden Tempel +des Heilgottes. Die Südseite der Stadt bespülte teils der seichte +Tunesische See im Südwesten, den eine von der karthagischen Halbinsel +südwärts auslaufende schmale und niedrige Landzunge 8 fast gänzlich von +dem Golfe schied, teils im Südosten der offene Golf. An dieser letzten +Stelle befand sich der Doppelhafen der Stadt, ein Werk von +Menschenhand: der äußere oder der Handelshafen, ein längliches, die +schmale Seite dem Meere zuwendendes Viereck, von dessen nur 70 Fuß +breiter Mündung nach beiden Seiten breite Kais am Wasser sich hinzogen, +und der innere kreisrunde Kriegshafen, der Kothon 9, mit der das +Admiralhaus tragenden Insel in der Mitte, in den man durch den äußeren +gelangte. Zwischen beiden ging die Stadtmauer durch, die, von der Byrsa +ostwärts sich wendend, die Landzunge und den Außenhafen aus-, dagegen +den Kriegshafen einschloß, so daß die Einfahrt in den letzteren gleich +einem Tor verschließbar gedacht werden muß. Unweit des Kriegshafens lag +der Marktplatz, der durch drei enge Straßen mit der nach der Stadtseite +offenen Burg verbunden war. Nördlich von und außerhalb der eigentlichen +Stadt hatte der ziemlich beträchtliche, schon zu jener Zeit großenteils +mit Landhäusern und wohlbewässerten Gärten gefüllte Raum der heutigen +El Mersa, damals Magalia genannt, eine eigene, an die Stadtmauer sich +anlehnende Umwallung. Auf der gegenüberliegenden Spitze der Halbinsel, +dem Dschebel-Khawi bei dem heutigen Dorfe Qamart, lag die Gräberstadt. +Diese drei, die Alt-, die Vor- und die Gräberstadt, füllten zusammen +die ganze Breite der Landspitze an ihrer dem Golf zugewandten Seite aus +und waren nur zugänglich auf den beiden Hauptstraßen nach Utica und +Tunes über jene schmale Landzunge, die zwar nicht mit einer Mauer +geschlossen war, aber doch für die unter dem Schutze der Hauptstadt und +wieder zu deren Schutz sich aufstellenden Heere die vorteilhafteste +Stellung darbot. + +—————————————————————- + +3 Der Zug der Küste ist im Laufe der Jahrhunderte so verändert worden, +daß man an der alten Stätte die ehemaligen Lokalverhältnisse nur +unvollkommen wiedererkennt. Den Namen der Stadt bewahrt das Kap +Kartadschena, auch von dem dort befindlichen Heiligengrab Ras Sidi bu +Said genannt, die in den Golf hineinragende östliche Spitze der +Halbinsel und ihr höchster 393 Fuß über dem Meere gelegener Punkt. + +4 Die von C. E. Beulé (Fouilles à Carthage. Paris 1861) mitgeteilten +Tiefmaße sind in Metern und in griechischen Fuß (1 = 0,309): + +Außenmauer + +2 Meter = 6½ Fuß + +Korridor + +9 Meter = 6 Fuß + +Vordermauer der Kasematten + +1 Meter = 3¼Fuß + +Kasemattensäle + +4,2 Meter = 14 Fuß + +Hintermauer der Kasematten + +1 Meter = 3¼Fuß + +Gesamttiefe der Mauer + +10,1 Meter = 33 Fuß + +oder, wie Diodor (p. 522) angibt, 22 Ellen (1 griechische Elle = 1½ +Fuß), während Livius (bei Oros. bist. 4, 22) und Appian (Pun. 95), die +eine andere, minder genaue Stelle des Polybios vor Augen gehabt zu +haben scheinen, die Mauertiefe auf 30 Fuß ansetzen. Die dreifache Mauer +Appians, über die bisher durch Florus (epit. 1, 31) eine falsche +Vorstellung verbreitet war, ist die Außenmauer, die Vorder- und die +Hintermauer der Kasematten. Daß dies Zusammentreffen nicht zufällig ist +und wir hier in der Tat die Überreste der berühmten karthagischen Mauer +vor uns haben, wird jedem einleuchten; N. Davis’ Einwürfe (Carthage and +her remains. 1861, S. 370f.) zeigen nur, daß gegen die wesentlichen +Ergebnisse Beulés auch mit dem besten Willen wenig auszurichten ist. +Nur muß man festhalten, daß die alten Berichterstatter die Angaben, um +die es sich handelt, sämtlich nicht von der Burgmauer geben, sondern +von der Stadtmauer an der Landseite, von der die Mauer an der Südseite +des Burghügels ein integrierender Teil war (Gros. bist. 4, 22). Dazu +stimmt, daß die Ausgrabungen auf dem Burghügel gegen Osten, Norden und +Westen nirgends Spuren von Befestigungen, dagegen an der Südseite eben +jene großartigen Mauerreste gezeigt haben. Es ist kein Grund vorhanden, +dieselben als Überreste einer besonderen, von der Stadtmauer +verschiedenen Burgbefestigung anzusehen; weitere Grabungen in +entsprechender Tiefe - das Fundament der an der Byrsa aufgefundenen +Stadtmauer liegt 56 Fuß unter dem heutigen Boden - werden vermutlich +längs der ganzen Landseite gleiche oder doch ähnliche Fundamente zu +Tage fördern, wenn auch wahrscheinlich da wo die ummauerte Vorstadt +Magalia sich an die Hauptmauer anlehnte, die Befestigung entweder von +Haus aus schwächer gewesen oder früh vernachlässigt worden ist. Wie +lang die Mauer im ganzen war, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen; doch +ergibt sich, da 300 Elefanten hier Stallung fanden und auch deren +Futtermagazine und vielleicht noch andere Räumlichkeiten sowie die Tore +in Anrechnung zu bringen sind, schon hieraus eine sehr ansehnliche +Längenentwicklung. Daß die innere Stadt, in deren Mauer die Byrsa +einbegriffen war, zumal im Gegensatz zu der besonders ummauerten +Vorstadt Magalia zuweilen selber Byrsa genannt wird (App. Pun. 117; +Nepos bei Serv. Aen. 1, 368), ist leicht begreiflich. + +5 So rechnet Appian a.a.O.; Diodor gibt, wahrscheinlich mit Einrechnung +der Zinnen, die Höhe auf 40 Ellen oder 60 Fuß. Der erhaltene Überrest +ist noch 12-16 Fuß (4-5 Meter) hoch. + +6 Die bei der Ausgrabung zu Tage gekommenen hufeisenförmigen Säle haben +eine Tiefe von 14, eine Breite von 11 griechischen Fuß; die Weite der +Eingänge wird nicht angegeben. Ob diese Maße und die Verhältnisse des +Korridors ausreichen, um in ihnen Elefantenställe zu erkennen, bleibt +durch genauere Ermittlung festzustellen. Die Zwischenmauern, die die +Säle voneinander scheiden, haben die Dicke von 1,1 Meter = 3½ Fuß. + +7 Oros. hist. 4, 22. Reichlich 2000 Schritte oder - wie Polybios gesagt +haben wird - 16 Stadien sind ungefähr 3000 Meter. Der Burghügel, auf +dem jetzt die Kirche des hl. Ludwig steht, mißt oben etwa 1400, auf der +halben Höhe etwa 2600 Meter im Umkreis (Beule, Fouilles, S. 22); auf +den unteren Umfang wird jene Angabe recht gut auskommen. + +8 Sie trägt jetzt das Fort Goletta. + +9 Daß dieses phönikische Wort das kreisförmig ausgegrabene Bassin +bezeichnet, zeigt sowohl Diod. 3, 44 wie die Bedeutung Becher, in der +die Griechen dasselbe verwenden. Es paßt also nur auf den inneren Hafen +Karthagos, und davon brauchen es auch Strabon (17, 2, 14; wo es +eigentlich für die Admiralinsel gesetzt ist) und Festus (v. cothones p. +37). Appian (Pun. 127) bezeichnet nicht ganz genau den viereckigen +Vorhafen des Kothon als Teil desselben. + +———————————————————- + +Die schwierige Arbeit, eine so wohlbefestigte Stadt zu bezwingen, wurde +noch dadurch erschwert, daß teils die Hilfsmittel der Hauptstadt selbst +und des noch immer 800 Ortschaften umfassenden und von der +Emigrantenpartei größtenteils beherrschten Gebietes, teils die +zahlreichen mit Massinissa verfeindeten Stämme der ganz oder halb +freien Libyer den Karthagern gestatteten, sich nicht auf die +Verteidigung der Stadt zu beschränken, sondern zugleich ein zahlreiches +Heer im Felde zu halten, welches bei der verzweifelten Stimmung der +Emigranten und der Brauchbarkeit der leichten numidischen Reiterei von +den Belagerern nicht außer acht gelassen werden durfte. + +Es hatten somit die Konsuln eine keineswegs leichte Aufgabe zu lösen, +als sie nun doch sich genötigt sahen, die Belagerung regelrecht zu +beginnen. Manius Manilius, der das Landheer befehligte, schlug sein +Lager der Burgmauer gegenüber, während Lucius Censorinus mit der Flotte +an dem See sich aufstellte und dort auf der Landzunge die Operationen +begann. Die karthagische Armee unter Hasdrubal lagerte an dem andern +Ufer des Sees bei der Festung Nepheris, von wo aus sie den zum +Holzfällen für den Maschinenbau ausgeschickten römischen Soldaten ihre +Arbeit erschwerte und namentlich der tüchtige Reiterführer Himilkon +Phameas den Römern viele Leute tötete. Indes stellte Censorinus auf der +Landzunge zwei große Sturmböcke her und brach mit ihnen Bresche an +dieser schwächsten Stelle der Mauer; der Sturm indes mußte, da es Abend +geworden, verschoben werden. In der Nacht gelang es den Belagerten, +einen großen Teil der Bresche zu füllen und durch einen Ausfall die +römischen Maschinen so zu beschädigen, daß sie am nächsten Tage nicht +weiterarbeiten konnten. Dennoch wagten die Römer den Sturm; allein sie +fanden die Bresche und die nächsten Mauerabschnitte und Häuser stark +besetzt und gingen so unvorsichtig vor, daß sie mit starkem Verlust +zurückgeschlagen wurden und noch weit größere Nachteile erlitten haben +würden, wenn nicht der Kriegstribun Scipio Aemilianus, den Ausgang des +tolldreisten Angriffs vorhersehend, seine Leute vor den Mauern +zusammengehalten und mit ihnen die Flüchtenden aufgenommen hätte. Noch +viel weniger richtete Manilius gegen die unbezwingliche Burgmauer aus. +So zog die Belagerung sich in die Länge. Die durch die Sommerhitze im +Lager erzeugten Krankheiten, die Abreise des fähigeren Feldherrn +Censorinus, endlich die Verstimmung und Untätigkeit Massinissas, der +begreiflicherweise die Römer sehr ungern die längst begehrte Beute für +sich selber nehmen sah, und der bald darauf (Ende 605 149) erfolgte Tod +des neunzigjährigen Königs brachten die Offensivoperationen der Römer +völlig ins Stocken. Sie hatten genug zu tun, um ihre Schiffe gegen die +karthagischen Brander und ihr Lager gegen die nächtlichen Überfälle zu +schützen und durch Anlegung eines Hafenkastells und Streifzüge in die +Umgegend Nahrung für Menschen und Pferde zu beschaffen. Zwei gegen +Hasdrubal gerichtete Expeditionen blieben beide ohne Erfolg, ja die +erste hätte bei der schlechten Führung auf dem schwierigen Terrain fast +mit einer förmlichen Niederlage geendigt. So ruhmlos dieser Krieg für +den Feldherrn wie für das Heer verlief, so glänzend tat der +Kriegstribun Scipio darin sich hervor. Er war es, der bei dem +Nachtsturm der Feinde auf das römische Lager, mit einigen +Reiterschwadronen ausrückend und den Feind in den Rücken fassend, ihn +zum Umkehren nötigte. Auf dem ersten Zug nach Nepheris machte er nach +dem Flußübergang, der wider seinen Rat stattgefunden hatte und fast das +Verderben des Heeres geworden wäre, durch einen verwegenen +Seitenangriff dem rückkehrenden Heer Luft und befreite eine schon +verloren gegebene Abteilung durch seinen aufopfernden Heldenmut. +Während die übrigen Offiziere, der Konsul vor allem, durch ihre +Wortlosigkeit die zu Unterhandlungen geneigten Städte und Parteiführer +zurückschreckten, gelang es Scipio, einen der tüchtigsten von diesen, +Himilkon Phameas, mit 2200 Reitern zum Übertritt zu bestimmen. Endlich, +nachdem er, den Auftrag des sterbenden Massinissa erfüllend, unter +dessen drei Söhne, die Könige Micipsa, Gulussa und Mastanabal, das +Reich geteilt hatte, führte er in Gulussa einen seines Vaters würdigen +Reiterführer dem römischen Heer zu und half damit dem bisher +empfindlich gefühlten Mangel an leichter Reiterei ab. Sein feines und +doch schlichtes Wesen, das mehr an seinen leiblichen Vater erinnerte +als an den, dessen Namen er trug, bezwang auch den Neid, und im Lager +wie in der Hauptstadt war Scipios Name auf allen Lippen. Selbst Cato, +der nicht freigebig mit seinem Lobe war, wandte wenige Monate vor +seinem Tode - er starb am Ende des Jahres 605 (149), ohne den Wunsch +seines Lebens, die Vernichtung Karthagos, erfüllt gesehen zu haben - +auf den jungen Offizier und seine unfähigen Kameraden die Homerische +Zeile an: “Einzig er ist ein Mann, die andern sind wandelnde Schatten +^10.” + +——————————————————————- + +^10 Οιος πέπυται, τοί δέ σκιαί αίσσουσιν. + +——————————————————————- + +Über diese Vorgänge war der Jahresschluß und damit der Kommandowechsel +herangekommen: ziemlich spät erschien der Konsul Lucius Piso (606 148) +und übernahm den Oberbefehl des Landheeres so wie Lucius Mancinus den +der Flotte. Indes, hatten die Vorgänger wenig geleistet, so geschah nun +gar nichts. Statt mit der Belagerung Karthagos oder der Überwindung der +Armee Hasdrubals beschäftigte Piso sich damit, die kleinen phönikischen +Seestädte anzugreifen und auch dies meist ohne Erfolg, wie zum Beispiel +Clupea ihn zurückschlug und er von Hippon Diarrhytos, nachdem er den +ganzen Sommer davor verloren hatte und das Belagerungsgerät ihm zweimal +verbrannt worden war, schimpflich abziehen mußte. Neapolis ward zwar +genommen; aber die Plünderung der Stadt gegen das gegebene Ehrenwort +war auch dem Fortgang der römischen Waffen nicht sonderlich günstig. +Der Mut der Karthager stieg. Ein numidischer Scheik Bithyas ging mit +800 Pferden zu ihnen über; karthagische Gesandte konnten es versuchen, +mit den Königen von Numidien und Mauretanien, ja, mit dem falschen +Philippos von Makedonien Verbindungen einzuleiten. Vielleicht mehr die +inneren Zerwürfnisse - Hasdrubal der Emigrant verdächtigte den +gleichnamigen Feldherrn, der in der Stadt befehligte, wegen seiner +Verwandtschaft mit Massinissa und ließ ihn im Rathause erschlagen - als +die Tätigkeit der Römer verhinderten eine für Karthago noch günstigere +Wendung der Dinge. So griff man in Rom, um dem besorglichen Stand der +afrikanischen Angelegenheiten Wandel zu schaffen, zu der +außerordentlichen Maßregel, dem einzigen Mann, der bis jetzt von den +libyschen Feldern Ehre heimgebracht hatte und den sein Name selbst für +diesen Krieg empfahl, dem Scipio, statt der Ädilität, um die er eben +sich bewarb, mit Beseitigung der entgegenstehenden Gesetze vor der Zeit +das Konsulat und durch besonderen Beschluß die Führung des +Afrikanischen Krieges zu übertragen. Er traf (607 147) in Utica in +einem Augenblick ein, wo viel auf dem Spiel stand. Der römische Admiral +Mancinus, von Piso mit der nominellen Fortsetzung der Belagerung der +Hauptstadt beauftragt, hatte eine steile, von dem bewohnten Bezirk weit +entlegene und kaum verteidigte Klippe an der schwer zugänglichen Seite +der Außenstadt Magalia besetzt und fast seine gesamte, nicht zahlreiche +Mannschaft dort vereinigt, in der Hoffnung, von hier aus in die +Außenstadt eindringen zu können. In der Tat waren die Angreifer schon +einen Augenblick innerhalb der Tore derselben gewesen, und schon war +der Lagertroß in der Hoffnung auf Beute in Masse herbeigeströmt, als +sie wieder auf die Klippe zurückgedrängt wurden und ohne Zufuhr und +fast abgeschnitten in der größten Gefahr schwebten. So fand Scipio die +Lage der Dinge. Kaum angekommen, entsandte er die mitgebrachte +Mannschaft und die Miliz von Utica zu Schiff nach dem bedrohten Punkt, +und es gelang, dessen Besatzung zu retten und die Klippe selbst zu +behaupten. Nachdem diese Gefahr abgewendet schien, begab der Feldherr +sich in das Lager Pisos, um das Heer zu übernehmen und nach Karthago +zurückzuführen. Hasdrubal aber und Bithyas benutzten seine Abwesenheit, +um ihr Lager unmittelbar an die Stadt zu rücken und den Angriff auf die +Besatzung der Klippe von Magalia zu erneuern; indes auch jetzt erschien +Scipio mit dem Vortrab der Hauptarmee zeitig genug, um dem Posten +abermals Beistand zu leisten. Danach begann von neuem und ernstlicher +die Belagerung. Vor allen Dingen säuberte Scipio das Lager von der +Masse des Trosses und der Marketender und zog die erschlafften Zügel +der Disziplin wieder mit Strenge an. Bald nahmen auch die militärischen +Operationen einen lebhafteren Gang. Bei einem nächtlichen Angriff auf +die Außenstadt gelangten von einem Turme aus, der den Mauern an Höhe +gleich vor denselben stand, die Römer auf die Zinnen und öffneten ein +Pförtchen, durch das das ganze Heer eindrang. Die Karthager gaben die +Außenstadt und das Lager vor den Toren auf und übertrugen den +Oberbefehl über die auf 30000 Mann sich belaufende städtische Besatzung +an Hasdrubal. Der neue Kommandant bewies seine Energie zuvörderst +dadurch, daß er sämtliche römische Gefangenen auf die Mauerzinnen +bringen und sie vor den Augen des Belagerungsheeres nach grausamen +Martern in die Tiefe stürzen ließ; und als hierüber Stimmen des Tadels +sich erhoben, wurde auch gegen die Bürger die Schreckensherrschaft +eingeführt. Scipio inzwischen suchte, nachdem er die Stadt auf sich +selber beschränkt hatte, ihr den Verkehr nach außen hin völlig +abzuschneiden. Er selbst nahm sein Hauptquartier auf dem Erdrücken, +durch den die karthagische Halbinsel mit dem Festland zusammenhängt, +und schlug hier trotz der vielfachen Versuche der Karthager, den Bau zu +stören, ein großes, diesen Rücken in seiner ganzen Breite schließendes +Lager, das die Stadt nach der Landseite hin vollständig absperrte. +Indes liefen noch immer Proviantschiffe in den Hafen ein, teils kühne +Kauffahrer, die der hohe Gewinn lockte, teils Schiffe des Bithyas, der +von Nepheris am Ende des Tunesischen Sees aus jeden günstigen Fahrwind +benutzte, um Lebensmittel nach der Stadt zu bringen; wie auch daselbst +die Bürgerschaft schon litt, die Besatzung war noch hinreichend +versorgt. Scipio zog deshalb von der Landzunge zwischen See und Golf in +den letzteren hinein einen Steindamm von 96 Fuß Breite, um damit die +Hafenmündung zu sperren. Die Stadt schien verloren, als das Gelingen +dieses anfangs von den Karthagern als unausführbar verspotteten +Unternehmens offenbar ward. Aber eine Überraschung machte die andere +wett. Während die römischen Arbeiter an dem Damm schanzten, wurde auch +im karthagischen Hafen zwei Monate lang Tag und Nacht gearbeitet, ohne +daß selbst die Überläufer zu sagen wußten, was die Belagerten +beabsichtigten. Plötzlich, als eben die Römer mit der Verbauung des +Hafeneingangs fertig waren, segelten aus demselben Hafen fünfzig +karthagische Dreidecker und eine Anzahl Boote und Kähne hinaus in den +Golf -die Karthager hatten, während die Feinde die alte Hafenmündung +gegen Süden sperrten, durch einen in östlicher Richtung gezogenen Kanal +sich einen neuen Ausgang geschaffen, welcher bei der Tiefe des Meeres +an dieser Stelle unmöglich gesperrt werden konnte. Hätten die +Karthager, statt mit dem Paradezug sich zu begnügen, sofort sich mit +Entschlossenheit auf die halbabgetakelte und völlig unvorbereitete +römische Flotte gestürzt, so war diese verloren; als sie am dritten +Tage wiederkehrten, um die Seeschlacht zu liefern, fanden sie die Römer +gerüstet. Der Kampf verlief ohne Entscheidung; bei der Rückfahrt aber +stopften sich die karthagischen Schiffe so sehr in und vor der +Hafenmündung, daß der dadurch entstandene Schaden einer Niederlage +gleichkam. Scipio richtete nun seine Angriffe auf den äußeren Hafenkai, +welcher außerhalb der Stadtmauern lag und nur durch einen vor kurzem +angelegten Erdwall notdürftig geschützt war. Die Maschinen wurden auf +der Landzunge aufgestellt und eine Bresche war leicht gemacht; aber mit +beispielloser Unerschrockenheit griffen die Karthager, die Untiefen +durchwatend, das Belagerungszeug an, verjagten die +Besatzungsmannschaft, welche so ins Laufen kam, daß Scipio seine +eigenen Reiter auf sie einhauen lassen mußte, und zerstörten die +Maschinen. Auf diese Weise gewannen sie Zeit, die Bresche zu schließen. +Scipio stellte indes die Maschinen wieder her und schoß die Holztürme +der Feinde in Brand, wodurch er den Kai und damit den Außenhafen in +seine Gewalt bekam. Ein der Stadtmauer an Höhe gleichkommender Wall +wurde hier aufgeführt, und es war jetzt endlich die Stadt von der Land- +wie von der Seeseite vollständig abgesperrt, da man nur durch den +äußeren in den inneren Hafen gelangte. Um die Blockade vollständig zu +sichern, ließ Scipio das Lager bei Nepheris, das jetzt Diogenes +befehligte, von Gaius Laelius angreifen; durch eine glückliche +Kriegslist ward es erobert und die ganze dort versammelte zahllose +Menschenmasse getötet oder gefangen. Darüber war der Winter +herangekommen, und Scipio stellte die Operationen ein, es dem Hunger +und den Seuchen überlassend, das Begonnene zu vollenden. Wie furchtbar +die Gewaltigen des Herrn inzwischen an dem Vernichtungswerk gearbeitet +hatten, während Hasdrubal freilich fortfuhr zu prahlen und zu prassen, +zeigte sich, so wie im Frühling 608 (146) das römische Heer zum Angriff +gegen die innere Stadt überging. Hasdrubal ließ den Außenhafen anzünden +und machte sich bereit, den auf den Kothon erwarteten Sturm +abzuschlagen; aber Laelius gelang es, weiter aufwärts die von der +ausgehungerten Besatzung kaum noch verteidigte Mauer zu übersteigen und +so bis an den inneren Hafen vorzudringen. Die Stadt war erobert, aber +der Kampf noch keineswegs zu Ende. Die Angreifer besetzten den an den +kleinen Hafen anstoßenden Markt und drangen in den drei schmalen, von +diesem nach der Burg zu führenden Straßen langsam vor - langsam, denn +von den gewaltigen bis zu sechs Stockwerken hohen Häusern mußte eines +nach dem andern erstürmt werden; auf den Dächern oder auf über die +Straße gelegten Balken drang der Soldat von einem dieser +festungsähnlichen Gebäude in das benachbarte oder gegenüberstehende vor +und stieß nieder, was darin ihm vorkam. So verflossen sechs Tage, +schreckliche für die Bewohner der Stadt und auch für die Angreifer voll +Not und Gefahr; endlich langte man vor dem steilen Burgfelsen an, auf +den sich Hasdrubal und die noch übrige Mannschaft zurückgezogen hatten. +Um einen breiteren Aufweg zu bekommen, befahl Scipio, die eroberten +Straßen anzuzünden und den Schutt zu planieren, bei welcher +Veranlassung eine Menge in den Häusern versteckter kampfunfähiger +Personen elend umkamen. Da endlich bat der auf der Burg +zusammengedrängte Rest der Bevölkerung um Gnade. Das nackte Leben ward +ihnen zugestanden und sie erschienen vor dem Sieger, 30000 Männer und +25000 Frauen, nicht der zehnte Teil der ehemaligen Bevölkerung. Einzig +die römischen Überläufer, 900 an der Zahl, und der Feldherr Hasdrubal +mit seiner Gattin und seinen beiden Kindern hatten sich in den Tempel +des Heilgottes geworfen: für sie, für die desertierten Soldaten wie für +den Mörder der römischen Gefangenen, gab es keinen Vertrag. Aber als +nun, dem Hunger erliegend, die entschlossensten unter ihnen den Tempel +anzündeten, ertrug Hasdrubal es nicht, dem Tode ins Auge zu sehen; +einzeln entrann er zu dem Sieger und bat kniefällig um sein Leben. Es +ward ihm gewährt; aber wie seine Gattin, die mit ihren Kindern unter +den übrigen auf dem Tempeldach sich befand, ihn zu den Füßen Scipios +erblickte, schwoll ihr das stolze Herz über diese Schändung der teuren +untergehenden Heimat und den Gemahl mit bitteren Worten erinnernd, +seines Lebens sorglich zu schonen, stürzte sie erst die Söhne und dann +sich selber in die Flammen. Der Kampf war zu Ende. Der Jubel im Lager +wie in Rom war grenzenlos; nur die Edelsten des Volkes schämten im +stillen sich der neuesten Großtat der Nation. Die Gefangenen wurden +größtenteils zu Sklaven verkauft; einzelne ließ man im Kerker +verkommen; die vornehmsten, Bithyas und Hasdrubal, wurden als römische +Staatsgefangene in Italien interniert und leidlich behandelt. Das +bewegliche Gut, soweit es nicht Gold und Silber war oder Weihgeschenk, +ward den Soldaten zur Plünderung preisgegeben; von den Tempelschätzen +ward die in besseren Zeiten von Karthago aus den sizilischen Städten +weggeführte Beute diesen zurückgestellt, wie zum Beispiel der Stier des +Phalaris den Akragantinern; das übrige, fiel an den römischen Staat. + +Indes noch stand die Stadt zum bei weitem größten Teil. Es ist +glaublich, daß Scipio die Erhaltung derselben wünschte; wenigstens +richtete er deswegen noch eine besondere Anfrage an den Senat. Scipio +Nasica versuchte noch einmal, die Forderungen der Vernunft und der Ehre +geltend zu machen; es war vergebens. Der Senat befahl dem Feldherrn, +die Stadt Karthago und die Außenstadt Magalia dem Boden gleich zu +machen, desgleichen alle Ortschaften, die es bis zuletzt mit Karthago +gehalten; sodann über den Boden Karthagos den Pflug zu führen, um der +Existenz der Stadt in Form Rechtens ein Ende zu machen, und Grund und +Boden auf ewige Zeiten zu verwünschen, also daß weder Haus noch +Kornfeld je dort entstehen möge. Es geschah wie befohlen war. Siebzehn +Tage brannten die Ruinen; als vor kurzem die Überreste der +karthagischen Stadtmauer aufgegraben wurden, fand man sie bedeckt mit +einer vier bis fünf Fuß tiefen, von halb verkohlten Holzstücken, +Eisentrümmern und Schleuderkugeln erfüllten Aschenlage. Wo die +fleißigen Phöniker ein halbes Jahrtausend geschafft und gehandelt +hatten, weideten fortan römische Sklaven die Herden ihrer fernen +Herren. Scipio aber, den die Natur zu einer edleren als zu dieser +Henkerrolle bestimmt hatte, sah schaudernd auf sein eigenes Werk, und +statt der Siegesfreude erfaßte den Sieger selber die Ahnung der solcher +Untat unausbleiblich nachfolgenden Vergeltung. + +Es blieb noch übrig, für die künftige Organisation der Landschaft die +Einrichtungen zu treffen. Die frühere Weise, mit den gewonnenen +überseeischen Besitzungen die Bundesgenossen zu belehnen, ward nicht +ferner beliebt. Micipsa und seine Brüder behielten im wesentlichen ihr +bisheriges Gebiet mit Einschluß der kürzlich am Bagradas und in Emporia +den Karthagern entrissenen Distrikte; die lange genährte Hoffnung, +Karthago zur Hauptstadt zu erhalten, ward für immer vereitelt; dafür +verehrte ihnen der Senat die karthagischen Büchersammlungen. Die +karthagische Landschaft, wie die Stadt sie zuletzt besessen hatte, das +heißt der schmale, Sizilien zunächst gegenüberliegende Küstenstrich von +Afrika, vom Tuscafluß (bei Thabzaca) bis Thaenae (der Insel Kerkena +gegenüber), ward eine römische Provinz. Im Binnenland, wo die +übergriffe Massinissas die karthagische Herrschaft fortwährend weiter +beschränkt hatten und schon Bulla, Zama, Aquae den Königen gehörten, +blieb den Numidiern, was sie besaßen. Allein die sorgfältige +Regulierung der Grenze zwischen der römischen Provinz und dem auf drei +Seiten dieselbe einschließenden numidischen Königreich zeugte davon, +daß Rom gegen sich keineswegs dulden werde, was es gegen Karthago +verstattet hatte; wogegen der Name der neuen Provinz, Africa, +andererseits darauf hinzudeuten schien, daß Rom die gegenwärtig +abgesteckte Grenze durchaus nicht als eine definitive betrachte. Die +Oberverwaltung der neuen Provinz übernahm ein römischer Statthalter, +dessen Sitz Utica wurde. Einer regelmäßigen Grenzverteidigung bedurfte +dieselbe nicht, da das verbündete Numidische Reich sie überall von den +Bewohnern der Wüste schied. Hinsichtlich der Abgaben verfuhr man im +ganzen mit Milde. Diejenigen Gemeinden, die seit Anfang des Krieges auf +seiten der Römer gestanden hatten - es waren dies nur die Seestädte +Utica, Hadrumetum, Klein-Leptis, Thapsus, Achulla, Usalis und die +Binnenstadt Theudalis -, behielten ihre Mark und wurden Freistädte; +dasselbe Recht empfing die neugegründete Gemeinde der Überläufer. Das +Stadtgebiet Karthagos, mit Ausnahme eines an Utica verschenkten +Striches, und das der übrigen zerstörten Ortschaften ward römisches +Domanialland, welches man durch Verpachtung verwertete. Die übrigen +Ortschaften verloren gleichfalls dem Rechte nach ihr Bodeneigentum und +ihre städtischen Freiheiten; doch wurde ihnen ihr Acker und ihre +Verfassung bis auf weitere Anordnung der römischen Regierung vorläufig +als widerruflicher Besitz gelassen und zahlten die Gemeinden für die +Nutzung des römisch gewordenen Bodens jährlich nach Rom eine ein für +allemal normierte Abgabe (stipendium), welche sie dann ihrerseits +mittels einer Vermögenssteuer von den einzelnen Abgabepflichtigen +wiedereinzogen. Die eigentlichen Gewinner aber bei dieser Zerstörung +der ersten Handelsstadt des Westens waren die römischen Kaufleute, +welche, sowie Karthago in Asche lag, scharenweise nach Utica strömten +und von dort aus nicht bloß die römische Provinz, sondern auch die bis +dahin ihnen verschlossenen numidischen und gätulischen Landschaften +auszubeuten begannen. + +Um dieselbe Zeit wie Karthago verschwand auch Makedonien aus der Reihe +der Nationen. Die vier kleinen Eidgenossenschaften, in die die Weisheit +des römischen Senats das alte Königreich zerstückelt hatte, konnten in +sich und untereinander nicht zum Frieden kommen; wie es in dem Lande +zuging, zeigt ein einzelner, zufällig erwähnter Vorfall in Phakos, wo +der gesamte Regierungsrat einer dieser Eidgenossenschaften auf +Anstiften eines gewissen Damasippos ermordet wurde. Weder die +Kommissionen, die der Senat abordnete (590 164), noch die nach +griechischer Sitte von den Makedoniern herbeigerufenen fremden +Schiedsrichter, wie zum Beispiel Scipio Aemilianus (603 151), +vermochten einen leidlichen Zustand herzustellen. Da erschien plötzlich +in Thrakien ein junger Mann, der sich Philippos nannte, den Sohn des +Königs Perseus, welchem er auffallend glich, und der syrischen Laodike. +Seine Jugend hatte er in der mysischen Stadt Adramytion verlebt; hier +behauptete er die sicheren Beweise seiner hohen Abstammung erhalten zu +haben. Mit diesen hatte er, nach einem vergeblichen Versuch, in seinem +Heimatland sich geltend zu machen, sich an seiner Mutter Bruder, König +Demetrios Soter von Syrien, gewandt. Es fanden sich in der Tat einige +Männer, die dem Adramytener glaubten oder zu glauben vorgaben und den +König bestürmten, den Prinzen entweder in sein angeerbtes Reich +wiedereinzusetzen oder ihm die Krone Syriens abzutreten; worauf +Demetrios, um dem tollen Treiben ein Ende zu machen, den Prätendenten +festnahm und den Römern zuschickte. Indes der Senat achtete des +Menschen so wenig, daß er ihn in einer italischen Stadt konfinierte, +ohne ihn auch nur ernstlich bewachen zu lassen. So war er nach Milet +entflohen, wo die städtischen Behörden ihn abermals aufgriffen und bei +römischen Kommissarien anfragten, was sie mit dem Gefangenen machen +sollten. Diese rieten, ihn laufen zu lassen; es geschah. Jetzt +versuchte er denn weiter in Thrakien sein Glück; und wunderbarerweise +fand er hier Anerkennung und Unterstützung, nicht bloß bei den +thrakischen Barbarenfürsten Teres, dem Gemahl seiner Vaterschwester, +und Barsabas, sondern auch bei den klugen Byzantiern. Mit thrakischer +Unterstützung drang der sogenannte Philipp in Makedonien ein, und +obwohl er anfangs geschlagen ward, erfocht er doch bald einen Sieg über +das makedonische Aufgebot in der Odomantike jenseits des Strymon und +darauf einen zweiten diesseits des Flusses, der ihm den Besitz von ganz +Makedonien verschaffte. So apokryphisch seine Erzählung klang und so +entschieden es feststand, daß der echte Philippos Perseus’ Sohn +achtzehn Jahre alt in Alba gestorben und dieser Mensch nichts weniger +als ein makedonischer Prinz, sondern der adramytenische Walker +Andriskos sei, so war man doch in Makedonien der Königsherrschaft zu +sehr gewohnt, um nicht mit der Legitimitätsfrage sich rasch abzufinden +und gern in das alte Gleis wiedereinzulenken. Schon kamen Boten von den +Thessalern, daß der Prätendent in ihr Gebiet eingerückt sei; der +römische Kommissar Nasica, der in der Erwartung, daß das erste ernste +Wort dem törichten Beginnen ein Ende machen werde, vom Senat ohne +Soldaten nach Makedonien gesandt worden war, mußte die achäische und +pergamenische Mannschaft aufbieten und mit den Achäern Thessalien gegen +die Übermacht, soweit es anging, schirmen, bis (605? 149) der Prätor +Juventius mit einer Legion erschien. Dieser griff mit seiner geringen +Streitmacht die Makedonier an; allein er selber fiel, sein Heer ging +fast ganz zugrunde und Thessalien geriet zum größten Teil in die Gewalt +des falschen Philippos, der sein Regiment hier und in Makedonien in +grausamer und übermütiger Weise handhabte. Endlich betrat ein stärkeres +römisches. Heer unter Quintus Caecilius Metellus den Kampfplatz und +drang, unterstützt durch die pergamenische Flotte, in Makedonien ein. +Zwar behielten in dem ersten Reitergefecht die Makedonier die Oberhand; +allein bald traten Spaltungen und Desertionen im makedonischen Heer +ein, und der Fehler des Prätendenten, sein Heer zu teilen und die eine +Hälfte nach Thessalien zu detachieren, verschaffte den Römern einen +leichten und entscheidenden Sieg (606 148). Philippos flüchtete nach +Thrakien zu dem Häuptling Byzes, wohin Metellus ihm folgte und nach +einem zweiten Sieg seine Auslieferung erlangte. + +Die vier makedonischen Eidgenossenschaften hatten sich dem Prätendenten +nicht freiwillig unterworfen, sondern waren lediglich der Gewalt +gewichen. Nach der bisher befolgten Politik lag also kein Grund vor, +den Makedoniern den Schatten von Selbständigkeit zu nehmen, den die +Schlacht von Pydna ihnen noch gelassen hatte; dennoch wurde das Reich +Alexanders jetzt auf Befehl des Senats von Metellus in eine römische +Provinz verwandelt. Sehr deutlich ward es hier, daß die römische +Regierung ihr System geändert und das Klientel- durch das +Untertanenverhältnis zu ersetzen beschlossen hatte; und darum wurde die +Einziehung der vier makedonischen Eidgenossenschaften in dem ganzen +Kreise der Klientelstaaten als ein gegen alle gerichteter Schlag +empfunden. Die früher nach den ersten römischen Siegen von Makedonien +abgerissenen Besitzungen in Epeiros, die Ionischen Inseln und die Häfen +Apollonia und Epidamnos, welche bisher zu dem italischen +Beamtensprengel gehört hatten, wurden jetzt wieder mit Makedonien +vereinigt, so daß dasselbe, wahrscheinlich schon um diese Zeit, im +Nordosten bis jenseits Skodra reichte, wo Illyricum begann. Ebenso fiel +die Schutzherrlichkeit, die Rom über das eigentliche Griechenland in +Anspruch nahm, von selbst dem neuen Statthalter von Makedonien zu. So +erhielt Makedonien die Einigkeit zurück und auch ungefähr wieder die +Grenzen, wie es sie in seiner blühendsten Zeit gehabt; aber es war +nicht mehr ein einiges Reich, sondern eine einige Provinz, mit +kommunaler und selbst wie es scheint landschaftlicher Organisation, +jedoch unter einem italischen Vogt und Schatzmeister, deren Namen auch +wohl auf den Landesmünzen neben dem der Landschaft erscheinen. Als +Steuer blieb die alte mäßige Abgabe, wie Paullus sie angeordnet hatte, +eine Summe von 100 Talenten (155000 Talern), die in festen Beträgen auf +die einzelnen Gemeinden umgelegt war. Dennoch vermochte das Land seiner +alten ruhmreichen Dynastie noch nicht zu vergessen. Wenige Jahre nach +der Besiegung des falschen Philippos pflanzte ein anderer angeblicher +Perseussohn, Alexander, am Nestos (Karasu) die Fahne der Insurrektion +auf und hatte in kurzer Zeit 1600 Mann vereinigt; allein der Quästor +Lucius Tremellius ward des Aufstandes ohne Mühe Herr und verfolgte den +fliehenden Prätendenten bis nach Dardanien (612 142). Dies aber ist +auch die letzte Regung des stolzen makedonischen Nationalsinns, der +zwei Jahrhunderte zuvor in Hellas und Asien so große Dinge vollbracht +hatte; seitdem ist von den Makedoniern kaum etwas anderes zu berichten, +als daß sie fortfuhren, von dem der definitiven Provinzialorganisation +der Landschaft (608 146) an ihre tatenlosen Jahre zu zählen. + +Fortan waren es die Römer, denen die Verteidigung der makedonischen +Nord- und Ostgrenzen, das heißt der Grenze der hellenischen +Zivilisation gegen die Barbaren, oblag. Sie ward von ihnen mit +unzulänglichen Streitkräften und im ganzen nicht mit der gebührenden +Energie geführt; doch ist zunächst für diesen militärischen Zweck die +große Egnatische Chaussee angelegt worden, welche schon zu Polybios’ +Zeit von den beiden Haupthäfen an der Westküste, Apollonia und +Dyrrhachion, quer durch das Binnenland nach Thessalonike, später noch +weiter bis an den Hebros (Maritza) lief ^11. Die neue Provinz ward die +natürliche Basis teils für die Züge gegen die unruhigen Dalmater, teils +für die zahlreichen Expeditionen gegen die nordwärts der griechischen +Halbinsel ansässigen illyrischen, keltischen und thrakischen Stämme, +die später in ihrem geschichtlichen Zusammenhang darzustellen sein +werden. + +—————————————————————- + +^11 Als Handelsstraße zwischen dem Adriatischen und Schwarzen Meer, als +diejenige nämlich, in deren Mitte die kerkyräischen Weinkrüge den +thasischen und lesbischen begegnen, kennt diese Straße schon der +Verfasser der pseudo-aristotelischen Schrift ‘Von den merkwürdigen +Dingen’. Auch heute noch läuft dieselbe wesentlich in gleicher Richtung +von Durazzo, die Berge von Bagora (Kandavisches Gebirge) am See von +Ochrida (Lychnitis) durchschneidend, über Monastir nach Saloniki. + +————————————————————— + +Mehr als Makedonien hatte das eigentliche Griechenland sich der Gunst +der herrschenden Macht zu erfreuen; und die Philhellenen Roms mochten +wohl der Ansicht sein, daß daselbst die Nachwehen des Perseischen +Krieges im Verschwinden und die Verhältnisse überhaupt auf dem Wege zum +Besseren seien. Die verbissensten Aufhetzer der jetzt herrschenden +Partei, Lykiskos der Ätoler, Mnasippos der Böoter, Chrematas der +Akarnane, der schandbare Epeirote Charops, dem selbst ehrenhafte Römer +ihr Haus verboten, stiegen einer nach dem andern ins Grab; ein anderes +Geschlecht wuchs heran, in dem die alten Erinnerungen und die alten +Gegensätze verblaßt waren. Der römische Senat meinte die Zeit des +allgemeinen Vergebens und Vergessens gekommen und entließ im Jahre 604 +(150) die noch übrigen der seit siebzehn Jahren in Italien konfinierten +achäischen Patrioten, deren Freigebung die achäische Tagsatzung nicht +aufgehört hatte zu fordern. Dennoch irrte man sich. Wie wenig es den +Römern mit all ihrem Philhellenentum gelungen war, den hellenischen +Patriotismus innerlich zu versöhnen, offenbarte sich in nichts so +deutlich wie in der Stellung der Griechen zu den Attaliden. König +Eumenes II. war als Römerfreund in Griechenland im höchsten Grade +verhaßt gewesen; kaum aber war zwischen ihm und den Römern eine +Verstimmung eingetreten, als er in Griechenland plötzlich populär ward; +wie früher von Makedonien erwartete der hellenische Euelpides den +Erlöser aus der Fremdherrschaft jetzt von Pergamon. Vor allen Dingen +aber stieg in der sich selbst überlassenen hellenischen Kleinstaaterei +zusehends die soziale Zerrüttung. Das Land verödete, nicht durch Krieg +und Pest, sondern durch die immer weiter um sich greifende Abneigung +der höheren Stände, mit Frau und Kindern sich zu plagen; dafür strömte +wie bisher das verbrecherische oder leichtsinnige Gesindel vorwiegend +nach Griechenland, um daselbst den Werbeoffizier zu erwarten. Die +Gemeinden versanken in immer tiefere Verschuldung und in ökonomische +Ehr- und die daranhängende Kreditlosigkeit; einzelne Städte, namentlich +Athen und Theben, griffen in ihrer Finanznot geradezu zum +Räuberhandwerk und plünderten die Nachbargemeinden aus. Auch der innere +Hader in den Bünden, zum Beispiel zwischen den freiwilligen und den +gezwungenen Mitgliedern der Achäischen Eidgenossenschaft, war +keineswegs beigelegt. Wenn die Römer, wie es scheint, glaubten, was sie +wünschten, und der augenblicklich herrschenden Ruhe vertrauten, so +sollten sie bald erfahren, daß die jüngere Generation in Hellas um +nichts besser und um nichts klüger als die ältere war. Die Gelegenheit, +um mit den Römern Händel anzufangen, brach man geradezu vom Zaune. + +Um einen schmutzigen Handel zu bedecken, warf um das Jahr 605 (149) der +zeitige Vorstand der Achäischen Eidgenossenschaft, Diäos, auf der +Tagsatzung die Behauptung hin, daß die den Lakedaemoniern als Glied der +Achäischen Eidgenossenschaft von dieser zugestandenen Sonderrechte, die +Befreiung von der achäischen Kriminaljurisdiktion und das Recht, +Sondergesandtschaften nach Rom zu schicken, ihnen keineswegs von den +Römern gewährleistet seien. Es war eine freche Lüge; allein die +Tagsatzung glaubte natürlich, was sie wünschte, und da sich die Achäer +bereit zeigten, ihre Behauptungen mit den Waffen in der Hand +wahrzumachen, gaben die schwächeren Spartaner vorläufig nach, oder +vielmehr diejenigen, deren Auslieferung von den Achäern begehrt ward, +verließen die Stadt, um als Kläger vor dem römischen Senat aufzutreten. +Der Senat antwortete wie gewöhnlich, daß er eine Kommission zur +Untersuchung der Sache senden werde; allein statt dieses Bescheides +berichteten die Boten, in Achaia wie in Sparta und beide falsch, daß +der Senat zu ihren Gunsten entschieden habe. Die Achäer, die wegen der +soeben in Thessalien geleisteten Bundeshilfe gegen den falschen +Philippos sich mehr als je in bundesgenössischer Gleichheit und +politischer Gewichtigkeit fühlten, rückten im Jahre 606 (148) unter +ihrem Strategen Damokritos in Lakonike ein; vergeblich mahnte, von +Metellus aufgefordert, eine nach Asien durchpassierende römische +Gesandtschaft, Frieden zu halten und die Kommissarien des Senats zu +erwarten. Eine Schlacht ward geliefert, in der bei 1000 Spartaner +fielen, und Sparta hätte genommen werden können, wenn Damokritos nicht +als Offizier ebenso untüchtig gewesen wäre wie als Staatsmann. Er ward +abgesetzt, und sein Nachfolger Diäos, der Anstifter all dieses Unfugs, +setzte den Krieg eifrig fort, während er gleichzeitig den gefürchteten +Kommandanten von Makedonien der vollen Botmäßigkeit der Achäischen +Eidgenossenschaft versichern ließ. Darüber erschien die lange erwartete +römische Kommission, an ihrer Spitze Aurelius Orestes; nun ruhten die +Waffen und die achäische Tagsatzung versammelte sich in Korinth, um +ihre Eröffnungen entgegenzunehmen. Sie waren unerwarteter und +unerfreulicher Art. Die Römer hatten sich entschlossen, die +unnatürliche und usurpierte Einreihung Spartas unter die achäischen +Staaten wiederaufzuheben und überhaupt gegen die Achäer durchzugreifen. +Schon einige Jahre zuvor (591 163) hatten dieselben die ätolische Stadt +Pleuron aus ihrem Bund entlassen müssen; jetzt wurden sie angewiesen +auf sämtliche seit dem Zweiten Makedonischen Krieg gemachte +Erwerbungen, das heißt auf Korinth, Orchomenos, Argos, Sparta im +Peloponnes und Herakleia am Ota, zu verzichten und ihren Bund wieder +auf den Bestand am Ende des Hannibalischen Krieges zurückzuführen. Wie +dies die achäischen Abgeordneten vernahmen, stürmten sie sofort auf den +Markt, ohne die Römer auch nur auszuhören, und teilten die römischen +Forderungen der Menge mit, worauf der regierende und der regierte Pöbel +einhellig beschloß, zu allervörderst sämtliche in Korinth anwesende +Lakedämonier festzusetzen, da ja Sparta dies Unglück über sie gebracht +habe. Die Verhaftung erfolgte denn auch in der tumultuarischsten Weise, +so daß Lakonername oder Lakonerschuhe als hinreichende +Einsperrungsgründe erschienen: ja man drang sogar in die Wohnungen der +römischen Gesandten, um die dorthin geflüchteten Lakedaemonier +festzunehmen, und es fielen gegen die Römer harte Reden, obgleich man +an ihrer Person sich nicht vergriff. Indigniert kehrten dieselben heim +und führten bittere, selbst übertriebene Beschwerde im Senat; dennoch +beschränkte sich dieser mit derselben Mäßigung, die all seine Maßregeln +gegen die Griechen bezeichnet, zunächst auf Vorstellungen. In der +mildesten Form und der Genugtuung für die erlittenen Beleidigungen kaum +erwähnend, wiederholte Sextus Iulius Caesar auf der Tagsatzung in +Aegion (Frühling 607 147) die Befehle der Römer. Aber die Leiter der +Dinge in Achaia, an ihrer Spitze der neue Strateg Kritolaos (Strateg +Mai 607 bis Mai 608 147/46), zogen als staatskluge und in der höheren +Politik wohlbewanderte Leute daraus bloß den Schluß, daß die römischen +Angelegenheiten gegen Karthago und Viriathus sehr schlecht stehen +müßten, und fuhren fort, die Römer zugleich zu prellen und zu +beleidigen. Caesar ward ersucht, zur Ausgleichung der Sache eine +Zusammenkunft von Abgeordneten der streitenden Teile in Tegea zu +veranstalten; es geschah, allein nachdem Caesar und die lakedämonischen +Gesandten daselbst lange vergeblich auf die Achäer gewartet hatten, +erschien endlich Kritolaos allein und zeigte an, daß lediglich die +allgemeine Volksversammlung der Achäer in dieser Sache kompetent sei +und dieselbe erst auf der Tagsatzung, das heißt in sechs Monaten, +erledigt werden könne. Caesar ging darauf nach Rom zurück; die nächste +Volksversammlung der Achäer aber erklärte auf Kritolaos’ Antrag +förmlich den Krieg gegen Sparta. Auch jetzt noch machte Metellus einen +Versuch, den Zwist in Güte beizulegen, und schickte Gesandte nach +Korinth; allein die lärmende Ekklesia, größtenteils bestehend aus dem +Pöbel der reichen Handels- und Fabrikstadt, übertobte die Stimme der +römischen Gesandten und zwang sie, die Rednerbühne zu verlassen. +Kritolaos’ Erklärung, daß man die Römer wohl zu Freunden, aber nicht zu +Herren wünsche, ward mit unsäglichem Jubel aufgenommen, und als die +Mitglieder der Tagsatzung sich ins Mittel legen wollten, schützte der +Pöbel den Mann seines Herzens und beklatschte die Stichwörter von dem +Landesverrat der Reichen und der notwendigen Militärdiktatur sowie die +geheimnisvollen Winke über die nahe bevorstehende Schilderhebung +unzähliger Völker und Könige gegen Rom. Von welchem Geist die Bewegung +beseelt war, zeigten die beiden Beschlüsse, daß bis zum hergestellten +Frieden alle Klubs permanent sein und alle Schuldklagen ruhen sollten. +Man hatte also Krieg, ja sogar auch wirkliche Bundesgenossen: die +Thebaner und Böoter nämlich und ferner die Chalkidenser. Schon zu +Anfang des Jahres 608 (146) rückten die Achäer in Thessalien ein, um +Herakleia am Öta, das in Gemäßheit des Senatsbeschlusses sich von der +Achäischen Eidgenossenschaft losgesagt hatte, wieder zum Gehorsam zu +bringen. Der Konsul Lucius Mummius, den der Senat nach Griechenland zu +senden beschlossen hatte, war noch nicht eingetroffen; demnach übernahm +es Metellus mit den makedonischen Legionen, Herakleia zu schützen. Als +dem achäisch-thebanischen Heer das Anrücken der Römer gemeldet ward, +war von Schlagen nicht mehr die Rede; man ratschlagte einzig, wie es +wohl gelingen möchte, den sicheren Peloponnes wieder zu erreichen; +eiligst machte die Armee sich davon und versuchte nicht einmal, die +Stellung bei den Thermopylen zu halten. Metellus indes beschleunigte +die Verfolgung und erreichte und schlug das griechische Heer bei +Skarpheia in Lokris. Der Verlust an Gefangenen und Toten war +beträchtlich; von Kritolaos ward nach der Schlacht nie wieder eine +Kunde vernommen. Die Trümmer der geschlagenen Armee irrten in einzelnen +Trupps in den hellenischen Landschaften umher und baten überall umsonst +um Aufnahme; die Abteilung von Paträ ward in Phokis, das arkadische +Elitenkorps bei Chäroneia aufgerieben; ganz Nordgriechenland wurde +geräumt, und von dem Achäerheer und der in Masse flüchtenden +Bürgerschaft von Theben gelangte nur ein geringer Teil in den +Peloponnes. Metellus suchte durch die möglichste Milde die Griechen zum +Aufgeben des sinnlosen Widerstandes zu bestimmen und befahl zum +Beispiel, alle Thebaner mit Ausnahme eines einzigen laufen zu lassen; +seine wohlgemeinten Versuche scheiterten nicht an der Energie des +Volkes, sondern an der Desperation der um ihren eigenen Kopf besorgten +Führer. Diäos, der nach Kritolaos’ Fall wieder den Oberbefehl +übernommen hatte, berief alle Waffenfähigen auf den Isthmos und befahl, +12000 in Griechenland geborene Sklaven in das Heer einzustellen; die +Reichen wurden zu Vorschüssen angehalten und unter den +Friedensfreunden, soweit sie nicht durch Bestechung der +Schreckensherren ihr Leben erkauften, durch Blutgerichte aufgeräumt. +Der Kampf ging also fort und in dem gleichen Stile. Die achäische +Vorhut, die 4000 Mann stark unter Alkamenes bei Megara stand, verlief +sich, sowie sie die römischen Feldzeichen gewahrte. Die Hauptmacht auf +dem Isthmos wollte Metellus eben angreifen lassen, als der Konsul +Lucius Mummius mit wenigen Begleitern im römischen Hauptquartier +eintraf und das Kommando übernahm. Inzwischen boten die Achäer, +ermutigt durch einen gelungenen Angriff auf die allzu unvorsichtigen +römischen Vorposten, der römischen um das Doppelte überlegenen Armee +bei Leukopetra auf dem Isthmos die Schlacht an. Die Römer zögerten +nicht sie anzunehmen. Gleich zu Anfang rissen die achäischen Reiter in +Masse aus vor der sechsfach stärkeren römischen Reiterei; die Hopliten +standen dem Feinde, bis ein Flankenangriff des römischen Elitenkorps +auch in ihre Reihen Verwirrung brachte. Damit war der Widerstand zu +Ende. Diäos floh in seine Heimat, tötete sein Weib und nahm selber +Gift; die Städte unterwarfen sich sämtlich ohne Gegenwehr, und sogar +das unbezwingliche Korinth, in das einzurücken Mummius drei Tage +zauderte, weil er einen Hinterhalt besorgte, ward ohne Schwertstreich +von den Römern besetzt. + +Die neue Regelung der griechischen Verhältnisse ward in Gemeinschaft +mit einer Kommission von zehn Senatoren dem Konsul Mummius übertragen, +der sich in dem eroberten Lande im ganzen ein gesegnetes Andenken +erwarb. Zwar war es, gelind gesagt, eine Torheit, daß er seiner Kriegs- +und Siegestaten wegen den Namen des “Achaikers” annahm und dem Hercules +Sieger dankerfüllt einen Tempel erbaute; allein als Verwalter erwies +er, der nicht in aristokratischem Luxus und aristokratischer Korruption +aufgewachsen, sondern ein “neuer Mann” und verhältnismäßig unbemittelt +war, sich gerecht und mild. Es ist eine rednerische Übertreibung, daß +von den Achäern bloß Diäos, von den Böotern bloß Pytheas umgekommen +seien; in Chalkis namentlich fielen arge Greuel vor; im ganzen ward +aber doch in den Strafgerichten Maß gehalten. Den Antrag, die Statuen +des Begründers der achäischen Patriotenpartei, des Philopömen, +umzustürzen, wies Mummius zurück; die den Gemeinden auferlegten +Geldbußen wurden nicht für die römische Kasse, sondern für die +geschädigten griechischen Städte bestimmt, größtenteils auch später +erlassen und das Vermögen derjenigen Hochverräter, die Eltern oder +Kinder hatten, nicht von Staats wegen verkauft, sondern diesen +überwiesen. Nur die Kunstschätze wurden aus Korinth, Thespiä und +anderen Städten weggeführt und teils in der Hauptstadt, teils in den +Landstädten Italiens aufgestellt ^12, einzelne Stücke auch den +isthmischen, delphischen und olympischen Tempeln verehrt. Auch in der +definitiven Organisation der Landschaft im allgemeinen waltete die +Milde. Zwar wurden, wie es die Provinzialverfassung mit sich brachte, +die Sondereidgenossenschaften, vor allem die achäische, als solche +aufgelöst, die Gemeinden isoliert und durch die Bestimmung, daß niemand +in zweien derselben zugleich Grundbesitz erwerben dürfe, der +Zwischenverkehr gehemmt. Ferner wurden, wie es schon Flamininus +versucht hatte, die demokratischen Stadtverfassungen durchaus beseitigt +und in jeder Gemeinde einem aus den Vermögenden gebildeten Rat das +Regiment in die Hand gegeben. Auch wurde jeder Gemeinde eine feste, +nach Rom zu entrichtende Abgabe auferlegt und sie sämtlich dem +Statthalter von Makedonien in der Art untergeordnet, daß diesem als +oberstem Militärchef auch in Verwaltung und Gerichtsbarkeit eine +Oberleitung zustand und er zum Beispiel wichtigere Kriminalprozesse zur +Entscheidung an sich ziehen konnte. Dennoch blieb den griechischen +Gemeinden die “Freiheit”, das heißt eine, freilich durch die römische +Hegemonie zum Namen zusammengeschwundene, formelle Souveränität, welche +das Eigentum an Grund und Boden und das Recht eigener Verwaltung und +Gerichtsbarkeit in sich schloß ^13. Einige Jahre später ward sogar +nicht bloß ein Schatten der alten Eidgenossenschaften wieder gestattet, +sondern auch die drückende Beschränkung in der Veräußerung des +Grundbesitzes beseitigt. + +———————————————————— + +^12 Aus den sabinischen Ortschaften, aus Parma, ja aus Italica in +Spanien sind noch mehrere mit Mummius’ Namen bezeichnete Basen bekannt, +die einst solche Beutegaben trugen. + +^13 Die Frage, ob Griechenland im Jahre 608 (146) römische Provinz +geworden sei oder nicht, läuft in der Hauptsache auf einen Wortstreit +hinaus. Daß die griechischen Gemeinden durchgängig “frei” blieben (CIG +1543, 15; Caes. civ. 3, 5; App. Mithr. 58; Zonar. 9, 31), ist +ausgemacht; aber nicht minder ist es ausgemacht, daß Griechenland +damals von den Römern “in Besitz genommen ward” (Tac. arm. 14, 21; 1. +Makk. 8, 9,10); daß von da an jede Gemeinde einen festen Zins nach Rom +entrichtete (Paus. 7, 16, 6; vgl. Cic. prov. 3, 5), die kleine Insel +Gyaros zum Beispiel jährlich 150 Drachmen (Strab. 10, 485); daß die +“Ruten und Beile” des römischen Statthalters fortan auch in +Griechenland schalteten (Polyb. 38, 1 c; vgl. Cic. Verr. 1. 1, 21, 55) +und derselbe die Oberaufsicht über die Stadtverfassungen (CIG 1543) +sowie in gewissen Fällen die Kriminaljurisdiktion (CIG 1543; Plut. Cim. +2) fortan ebenso übte wie bis dahin der römische Senat; daß endlich die +makedonische Provinzialära auch in Griechenland im Gebrauch war. +Zwischen diesen Tatsachen ist keineswegs ein Widerspruch oder doch kein +anderer als derjenige, welcher überhaupt in der Stellung der freien +Städte liegt, welche bald als außerhalb der Provinz stehend (z. B. +Suet. Caes. 25; Colum. 11, 3, 26), bald als der Provinz zugeteilt (z. +B. los. ant. lud. 14, 4, 4) bezeichnet werden. Der römische +Domanialbesitz in Griechenland beschränkte sich zwar auf den +Korinthischen Acker und etwa einige Stücke von Euböa (CIG 5879) und +eigentliche Untertanen gab es dort gar nicht; allein darum konnte +dennoch, wenn man auf das tatsächlich zwischen den griechischen +Gemeinden und dem makedonischen Statthalter bestehende Verhältnis +sieht, ebenso wie Massalia zur Provinz Narbo, Dyrrhachion zur Provinz +Makedonien, auch Griechenland zu der makedonischen Provinz gerechnet +werden. Es finden sich sogar noch viel weitergehende Fälle: Das +Cisalpinische Gallien bestand seit 655 (89) aus lauter Bürger- oder +latinischen Gemeinden und ward dennoch durch Sulla Provinz; ja in der +caesarischen Zeit begegnen Landschaften, die ausschließlich aus +Bürgergemeinden bestehen und die dennoch keineswegs aufhören, Provinzen +zu sein. Sehr klar tritt hier der Grundbegriff der römischen provincia +hervor; sie ist zunächst nichts als das “Kommando” und alle +Verwaltungs- und Jurisdiktionstätigkeit des Kommandanten sind +ursprünglich Nebengeschäfte und Korollarien seiner militärischen +Stellung. + +Andererseits muß dagegen, wenn man die formelle Souveränität der freien +Gemeinden ins Auge faßt, zugestanden werden, daß durch die Ereignisse +des Jahres 608 (146) Griechenlands Stellung staatsrechtlich sich nicht +änderte: es waren mehr faktische als rechtliche Verschiedenheiten, daß +statt der Achäischen Eidgenossenschaft jetzt die einzelnen Gemeinden +Achaias als tributäre Klientelstaaten neben Rom standen und daß seit +Einrichtung der römischen Sonderverwaltung in Makedonien diese anstatt +der hauptstädtischen Behörden die Oberaufsicht über die griechischen +Klientelstaaten übernahm. Man kann demnach, je nachdem die tatsächliche +oder die formelle Auffassung überwiegt, Griechenland als Teil des +Kommandos von Makedonien ansehen oder auch nicht; indes wird der +ersteren Auffassung mit Recht das Übergewicht eingeräumt. + +——————————————————————- + +Strengere Behandlung aber traf die Gemeinden, Theben, Chalkis und +Korinth. Es läßt sich nichts dawider erinnern, daß die ersten beiden +entwaffnet und durch Niederreißung ihrer Mauern in offene Flecken +umgewandelt wurden; dagegen bleibt die durchaus unmotivierte Zerstörung +der ersten Handelsstadt Griechenlands, des blühenden Korinth, ein +düsterer Schandfleck in den Jahrbüchern Roms. Auf ausdrücklichen Befehl +des Senats wurden die korinthischen Bürger aufgegriffen, und was dabei +nicht umkam, in die Sklaverei verkauft, die Stadt selbst nicht etwa +bloß ihrer Mauern und ihrer Burg beraubt, was, wenn man einmal dieselbe +nicht dauernd besetzen wollte, allerdings nicht zu vermeiden war, +sondern dem Boden gleichgemacht und in den üblichen Bannformen jeder +Wiederanbau der öden Stätte untersagt, das Gebiet derselben zum Teil an +Sikyon gegeben unter der Auflage, anstatt Korinths die Kosten des +isthmischen Nationalfestes zu bestreiten, größtenteils aber zu +römischem Gemeinland erklärt. Also erlosch der “Augapfel von Hellas”, +der letzte köstliche Schmuck des einst so städtereichen griechischen +Landes. Fassen wir aber die ganze Katastrophe noch einmal ins Auge, so +muß die unparteiische Geschichte es anerkennen, was die Griechen dieser +Zeit selbst unumwunden eingestanden, daß an dem Kriege selbst nicht die +Römer die Schuld trugen, sondern daß die unkluge Treubrüchigkeit und +die schwächliche Tollkühnheit der Griechen die römische Intervention +erzwangen. Die Beseitigung der Scheinsouveränität der Bünde und alles +damit verknüpften unklaren und verderblichen Schwindels war ein Glück +für das Land und das Regiment des römischen Oberfeldherrn von +Makedonien, wieviel es auch zu wünschen übrig ließ, immer noch bei +weitem besser als die bisherige Wirr- und Mißregierung der griechischen +Eidgenossenschaften und der römischen Kommissionen. Der Peloponnes +hörte auf, die große Söldnerherberge zu sein; es ist bezeugt und +begreiflich, daß überhaupt mit dem unmittelbaren römischen Regiment +Sicherheit und. Wohlstand einigermaßen zurückkehrten. Das +Themistokleische Epigramm, daß der Ruin den Ruin abgewandt habe, wurde +von den damaligen Hellenen nicht ganz mit Unrecht angewandt auf den +Untergang der griechischen Selbständigkeit. Die ungemeine Nachsicht, +welche Rom auch jetzt noch gegen die Griechen bewies, tritt erst recht +in das Licht, wenn man sie mit dem gleichzeitigen Verfahren derselben +Behörden gegen die Spanier und die Phöniker zusammenhält; Barbaren +grausam zu behandeln schien nicht unerlaubt, aber wie später Kaiser +Traianus hielten es auch die Römer dieser Zeit “für hart und +barbarisch, Athen und Sparta den noch übrigen Schatten von Freiheit zu +entreißen”. Um so schärfer kontrastiert mit dieser allgemeinen Milde +die empörende, selbst von den Schutzrednern der karthagischen und der +numantinischen Katastrophe gemißbilligte Behandlung von Korinth, welche +durch die auf den Gassen von Korinth gegen die römischen Abgeordneten +ausgestoßenen Schmähreden auch nach römischem Völkerrecht nichts +weniger als gerechtfertigt ward. Und doch ging sie keineswegs hervor +aus der Brutalität eines einzelnen Mannes, am wenigsten des Mummius, +sondern war eine vom römischen Rat erwogene und beschlossene Maßregel. +Man wird nicht irren, wenn man darin das Werk der Kaufmannspartei +erkennt, die in dieser Epoche schon neben der eigentlichen Aristokratie +anfängt, in die Politik einzugreifen, und die in Korinth einen +Handelsnebenbuhler beseitigt hat. Wenn die römischen Großhändler bei +der Regulierung Griechenlands mit zureden gehabt haben, so begreift +man, weshalb das Strafgericht eben gegen Korinth gerichtet ward und +weshalb man nicht bloß die Stadt vernichtete, wie sie war, sondern auch +die Ansiedlung an dieser für den Handel so überaus günstigen Stätte für +die Zukunft verbot. Für die auch in Hellas sehr zahlreichen römischen +Kaufleute ward der Mittelpunkt fortan das peloponnesische Argos; +wichtiger aber für den römischen Großhandel ward Delos, das, schon seit +586 (168) römischer Freihafen, einen guten Teil der Geschäfte von +Rhodos an sich gezogen hatte und nun in ähnlicher Weise in die +korinthischen eintrat. Diese Insel blieb für längere Zeit der +Hauptstapelplatz der vom Osten nach dem Westen gehenden Waren ^14. + +————————————————— + +^14 Ein merkwürdiger Beleg dafür ist die Benennung der feinen +griechischen Bronze- und Kupferwaren die in der ciceronischen Zeit ohne +Unterschied “korinthisches” oder “delisches Kupfer” genannt werden. Die +Bezeichnung ist in Italien begreiflicherweise nicht von den +Fabrikations-, sondern von den Exportplätzen hergenommen (Plin. nat. +34, 2, 9); womit natürlich nicht geleugnet wird, daß dergleichen Gefäße +auch in Korinth und Delos selbst fabriziert wurden. + +—————————————————— + +Unvollständiger als in der nur durch schmale Meere von Italien +getrennten afrikanischen und makedonisch-hellenischen Landschaft +entwickelte sich die römische Herrschaft in dem dritten entfernteren +Weltteil. + +In Vorderasien war durch die Zurückdrängung der Seleukiden das Reich +von Pergamon die erste Macht geworden. Nicht geirrt durch die +Traditionen der Alexandermonarchien, einsichtig und kühl genug, um auf +das Unmögliche zu verzichten, verhielten die Attaliden sich ruhig und +strebten nicht, ihre Grenzen zu erweitern noch der römischen Hegemonie +sich zu entziehen, sondern den Wohlstand ihres Reiches, soweit die +Römer es erlaubten, zu fördern und die Künste des Friedens zu pflegen. +Doch entgingen sie darum der Eifersucht und dem Argwohn Roms nicht. Im +Besitz der europäischen Küste der Propontis, der Westküste Kleinasiens +und des kleinasiatischen Binnenlandes bis zur kappadokischen und +kilikischen Grenze, in enger Verbindung mit den syrischen Königen, von +denen Antiochos Epiphanes († 590 164) durch die Hilfe der Attaliden auf +den Thron gelangt war, hatte König Eumenes II. durch seine bei dem +immer tieferen Sinken Makedoniens und Syriens nur noch ansehnlicher +erscheinende Macht selbst den Begründern derselben Bedenken eingeflößt; +es ist schon erzählt worden, wie der Senat darauf bedacht war, nach dem +Dritten Makedonischen Krieg diesen Bundesgenossen durch unfeine +diplomatische Künste zu demütigen und zu schwächen. Die an sich schon +schwierigen Verhältnisse der Herren von Pergamon zu den ganz und halb +freien Handelsstädten innerhalb ihres Reichs und zu den barbarischen +Nachbarn an dessen Grenzen wurden durch diese Verstimmung der +Schutzherren noch peinlicher verwickelt. Da es nicht klar war, ob nach +dem Friedensvertrag von 565 (189) die Taurushöhen in der pamphylischen +und pisidischen Landschaft zum Syrischen oder zum Pergamenischen Reich +gehörten, leisteten die tapferen Selger, es scheint unter nomineller +Anerkennung der syrischen Oberhoheit, den Königen Eumenes Il. und +Attalos II. langjährigen und energischen Widerstand in den schwer +zugänglichen Gebirgen Pisidiens. Auch die asiatischen Kelten, welche +eine Zeitlang unter Zulassung der Römer unter pergamenischer +Botmäßigkeit gestanden hatten, fielen von Eumenes ab und begannen im +Einverständnis mit dem Erbfeind der Attaliden, dem König Prusias von +Bithynien, um 587 (167) plötzlich gegen ihn Krieg. Der König hatte +keine Zeit gehabt, Mietstruppen zu dingen; all seine Einsicht und +Tapferkeit konnte nicht verhindern, daß sie die asiatische Miliz +schlugen und das Gebiet überschwemmten; wir kennen bereits die +eigentümliche Vermittlung, zu der die Römer auf Eumenes’ Bitte sich +herbeiließen. Sowie er indes Zeit gefunden hatte, mit Hilfe seiner +wohlgefüllten Kasse eine kampffähige Armee aufzustellen, trieb er auch +die wilden Scharen schnell zurück über die Grenze seines Reiches; und +obwohl Galatien ihm verloren blieb und seine hartnäckig fortgesetzten +Versuche, dort die Hände im Spiel zu behalten, durch römischen Einfluß +vereitelt wurden ^15, hinterließ er dennoch trotz aller offenen +Angriffe und geheimen Machinationen, die seine Nachbarn und die Römer +gegen ihn gerichtet hatten, bei seinem Tode (um 595 159) das Reich in +ungeschmälertem Bestand. Sein Bruder Attalos II. Philadelphos († 616 +138) wies den Versuch des Königs Pharnakes von Pontos, sich der +Vormundschaft über Eumenes’ unmündigen Sohn zu bemächtigen, mit +römischer Hilfe zurück und regierte anstatt seines Neffen wie Antigonos +Doson als Vormund auf Lebenszeit. Gewandt, tüchtig, fügsam, ein echter +Attalide, verstand er es, den argwöhnischen Senat von der Nichtigkeit +der früher gehegten Besorgnisse zu überzeugen. Die antirömische Partei +beschuldigte ihn, daß er sich dazu hergebe, das Land für die Römer zu +hüten und jede Beleidigung und Erpressung von ihnen sich gefallen +lasse; indes konnte er, des römischen Schutzes sicher, in die +syrischen, kappadokischen und bithynischen Thronstreitigkeiten +entscheidend eingreifen. Auch aus dem gefährlichen bithynischen Krieg, +den König Prusias II., der Jäger genannt (572 ? - 605 182-149), ein +Regent, der alle barbarischen und alle zivilisierten Laster in sich +vereinigte, gegen ihn begann, rettete ihn die römische Intervention - +freilich erst, nachdem er selbst in seiner Hauptstadt belagert und eine +erste Mahnung der Römer von Prusias unbefolgt gelassen, ja verhöhnt +worden war (598-600 156-154). Allein mit der Thronbezeigung seines +Mündels Attalos III. Philometor (616-621 133-133) trat an die Stelle +des friedlichen und mäßigen Bürgerkönigtums ein asiatisches +Sultanregiment, unter dem es zum Beispiel vorkam, daß der König, um des +unbequemen Rats seiner väterlichen Freunde sich zu entledigen, sie im +Palast versammeln und erst sie, sodann ihre Frauen und Kinder von +seinen Lanzknechten niedermachen ließ; nebenher schrieb er Bücher über +den Gartenbau, zog Giftkräuter und bossierte in Wachs, bis ein +plötzlicher Tod ihn abrief. Mit ihm erlosch das Geschlecht der +Attaliden. In solchem Fall konnte nach dem wenigstens für die +Klientelstaaten Roms gültigen Staatsrecht der letzte Regent +testamentarisch über die Sukzession verfügen. Ob der Gedanke, das Reich +den Römern zu vermachen, dem letzten Attaliden durch den wahnwitzigen +Groll gegen seine Untertanen eingegeben worden war, der ihn bei +Lebzeiten gepeinigt hatte, oder ob hierin bloß eine weitere Anerkennung +der tatsächlichen Oberlehnsgewalt Roms lag, ist nicht zu entscheiden. +Das Testament lag vor ^16; die Römer traten die Erbschaft an und die +Frage über das Land und den Schatz der Attaliden fiel in Rom als neuer +Erisapfel unter die hadernden politischen Parteien. Aber auch in Asien +entzündete dies Königstestament den Bürgerkrieg. Im Vertrauen auf die +Abneigung der Asiaten gegen die bevorstehende Fremdherrschaft trat ein +natürlicher Sohn Eumenes’ II., Aristonikos in Leukä, einer kleinen +Hafenstadt zwischen Smyrna und Phokäa, als Kronprätendent auf. Phokäa +und andere Städte fielen ihm zu; indes von den Ephesiern, die in dem +festen Anschluß an Rom die einzige Möglichkeit erkannten, ihre +Privilegien sich zu erhalten, zur See auf der Höhe von Kyme geschlagen, +mußte er in das Binnenland flüchten. Schon glaubte man ihn verschollen; +da erschien er plötzlich wieder an der Spitze der neuen “Bürger der +Sonnenstadt” ^17, das heißt der von ihm in Masse zur Freiheit gerufenen +Sklaven, bemächtigte, sich der lydischen Städte Thyateira und Apollonis +sowie eines Teils der attalischen Ortschaften und rief Scharen +thrakischer Lanzknechte unter seine Fahnen. Der Kampf ward ernsthaft. +Römische Truppen standen in Asien nicht; die asiatischen Freistädte und +die Kontingente der Klientelfürsten von Bithynien, Paphlagonien, +Kappadokien, Pontos, Armenien konnten des Prätendenten sich nicht +erwehren; er drang mit gewaffneter Hand in Kolophon, Samos, Myndos ein +und gebot schon fast über das gesamte väterliche Reich, als am Ende des +Jahres 623 (131) ein römisches Heer in Asien landete. Dessen Feldherr, +der Konsul und Oberpontifex Publius Licinius Crassus Mucianus, einer +der reichsten und zugleich einer der gebildetsten Männer Roms und als +Redner wie als Rechtskenner gleich ausgezeichnet, schickte sich an, den +Prätendenten in Leukä zu belagern, ließ aber während der Vorbereitungen +dazu von dem allzu gering geschätzten Gegner sich überraschen und +schlagen und ward selbst von einem thrakischen Haufen gefangen. Den +Triumph aber, den Oberfeldherrn Roms als Gefangenen zur Schau zu +stellen, gönnte er einem solchen Feinde nicht; er reizte die Barbaren, +die ihn ergriffen hatten, ohne ihn zu kennen, ihm den Tod zu geben +(Anfang 624 130), und erst als Leiche ward der Konsular erkannt. Mit +ihm, wie es scheint, fiel König Ariarathes von Kappadokien. Indes ward +Aristonikos nicht lange nach diesem Siege von Crassus’ Nachfolger +Marcus Perpenna überfallen, sein Heer zersprengt, er selbst in +Stratonikeia belagert und gefangen und bald darauf in Rom hingerichtet. +Die Unterwerfung der letzten, noch Widerstand leistenden Städte und die +definitive Regulierung der Landschaft übernahm nach Perpennas +plötzlichem Tode Manius Aquillius (625 129). Man verfuhr ähnlich wie im +karthagischen Gebiet. Der östliche Teil des Attalidenreichs ward den +Klientelkönigen überwiesen, um die Römer von dem Grenzschutz und damit +von der Notwendigkeit einer stehenden Besatzung in Asien zu befreien; +Telmissos kam an die lykische Eidgenossenschaft; die europäischen +Besitzungen in Thrakien wurden zu der Provinz Makedonien geschlagen; +das übrige Gebiet ward als neue römische Provinz eingerichtet, der +gleich der karthagischen nicht ohne Absicht der Name des Weltteils +beigelegt ward, in, dem sie lag. Die Steuern, die nach Pergamon gezahlt +worden waren, wurden dem Lande erlassen und dasselbe mit gleicher Milde +behandelt wie Hellas und Makedonien. So ward der ansehnlichste +kleinasiatische Staat eine römische Vogtei. + +———————————————————— + +^15 Mehrere vor kurzem (SB München, 1860, S. 180f.) bekannt gewordene +Schreiben der Könige Eumenes II. und Attalos II. an den Priester von +Pessinus, welcher durchgängig Attis heißt (vgl. Polyb. 22, 20), +erläutern diese Verhältnisse sehr anschaulich. Das älteste derselben +und das einzige datierte, geschrieben im 34. Regierungsjahre des +Eumenes am siebten Tage vor dem Ende des Gorpiäos, also 590/91 der +Stadt (164/63), bietet dem Priester militärische Hilfe an, um den +(sonst nicht bekannten) Pesongern von ihnen besetztes Tempelland zu +entreißen. Das folgende, ebenfalls noch von Eumenes, zeigt den König +als Partei in der Fehde zwischen dem Priester von Pessinus und dessen +Bruder Aiorix. Ohne Zweifel gehörten beide Handlungen des Eumenes zu +denjenigen, die in den Jahren 590f. (164) in Rom zur Anzeige kamen als +Versuche desselben, sich in die gallischen Angelegenheiten auch +fernerhin zu mengen und dort seine Parteigenossen zu stützen (Polyb. +31, 6, 9; 32, 3, 5). Dagegen geht aus einem der Schreiben seines +Nachfolgers Attalos hervor, wie sich die Zeiten geändert und die +Wünsche herabgestimmt hatten. Der Priester Attis scheint auf einer +Zusammenkunft in Apameia von Attalos abermals die Zusage bewaffneter +Hilfe erhalten zu haben; nachher aber schreibt ihm der König, daß in +einem deswegen abgehaltenen Staatsrat, dem Athenäos (sicher der +bekannte Bruder des Königs), Sosandros, Menogenes, Chloros und andere +Verwandte (αναγκαίοι) beigewohnt hätten, nach langem Schwanken endlich +die Majorität dem Chloros dahin beigetreten sei, daß nichts geschehen +dürfe, ohne die Römer vorher zu befragen; denn selbst wenn ein Erfolg +erreicht werde, setzte man sich dem Wiederverlust und dem bösen +Verdacht aus, “den sie auch gegen den Bruder” (Eumenes II.) “gehegt +hätten”. + +^16 In demselben Testament gab der König seiner Stadt Pergamon die +“Freiheit”, das heißt die δημοκρατία, das städtische Selbstregiment. +Laut einer merkwürdigen, kürzlich dort gefundenen Urkunde (Römisches +Staatsrecht, Bd. 3, 3. Aufl., S. 726) beschloß nach Eröffnung des +Testaments, aber vor dessen Bestätigung durch die Römer der also +konstituierte Demos den bisher vom Bürgerrecht ausgeschlossenen Klassen +der Bevölkerung, insbesondere den im Zensus aufgeführten Paröken und +den in Stadt und Land wohnhaften Soldaten, auch den Makedoniern, das +städtische Bürgerrecht zu verleihen, um also ein gutes Einverständnis +in der gesamten Bevölkerung herbeizuführen. Offenbar wollte die +Bürgerschaft, indem sie die Römer vor die vollendete Tatsache dieser +umfassenden Ausgleichung stellte, vor dem eigentlichen Eintreten der +römischen Herrschaft sich gegen dieselbe in Verfassung setzen und den +fremden Gebietern die Möglichkeit nehmen, die Rechtsverschiedenheiten +innerhalb der Bevölkerung zur Sprengung der Gemeindefreiheit zu +benutzen. + +^17 Diese seltsamen “Heliopoliten” sind, nach der mir von einem Freunde +geäußerten wahrscheinlichen Meinung, so zu fassen, daß die befreiten +Sklaven als Bürger einer umgenannten oder auch vielleicht für jetzt nur +gedachten Stadt Heliopolis sich konstituierter, die ihren Namen von dem +in Syrien hochverehrten Sonnengott empfing. + +—————————————————————————— + +Die zahlreichen andern Kleinstaaten und Städte Vorderasiens, das +Königreich Bithynien, die paphlagonischen und gallischen Fürstentümer, +die lykische und die pamphylische Eidgenossenschaft, die Freistädte +Kyzikos und Rhodos blieben in ihren bisherigen beschränkten +Verhältnissen bestehen. + +Jenseits des Halys befolgte Kappadokien, nachdem König Ariarathes V. +Philopator (591 - 624 136 - 130), hauptsächlich durch Hilfe der +Attaliden, sich gegen seinen von Syrien unterstützten Bruder und +Nebenbuhler Holophernes behauptet hatte, wesentlich die pergamenische +Politik, sowohl in der unbedingten Hingebung an Rom als in der Richtung +auf hellenische Bildung. Durch ihn drang diese ein in das bis dahin +fast barbarische Kappadokien und freilich auch sogleich ihre Auswüchse, +wie der Bakchosdienst und das wüste Treiben der wandernden +Schauspielertruppen, der sogenannten “Künstler”. Zum Lohn der Treue +gegen Rom, die dieser Fürst in dem Kampfe gegen den pergamenischen +Prätendenten mit seinem Leben bezahlt hatte, ward sein unmündiger Erbe +Ariarathes VI. nicht nur gegen die von dem König von Pontos versuchte +Usurpation durch die Römer geschirmt, sondern ihm auch der südöstliche +Teil des Attalidenreiches gegeben, Lykaorien nebst der östlich daran +grenzenden, .in älterer Zeit zu Kilikien gerechneten Landschaft. + +Endlich im fernen Nordosten Kleinasiens gelangte “Kappadokien am Meer” +oder kurzweg der “Meerstaat”, Pontos, zu steigender Ausdehnung und +Bedeutung. Nicht lange nach der Schlacht von Magnesia hatte König +Pharnakes I. sein Gebiet weit über den Halys bis nach Tios an, der +bithynischen Grenze ausgedehnt und namentlich des reichen Sinope sich +bemächtigt, das aus einer griechischen Freistadt dieser Könige Residenz +ward. Zwar hatten die durch diese Übergriffe gefährdeten +Nachbarstaaten, König Eumenes II. an ihrer Spitze, deswegen Krieg gegen +ihn geführt (571-575 183-179) und unter römischer Vermittlung das +Versprechen von ihm erzwungen, Galatien und Paphlagonien zu räumen; +allein der Verlauf der Ereignisse zeigt, daß Pharnakes sowie sein +Nachfolger Mithradates V. Euergetes (598 ? - 634 156 - 120), treue +Bundesgenossen Roms im Dritten Punischen Krieg sowie in dem gegen +Aristonikos, nicht bloß jenseits des Halys sitzen geblieben sind, +sondern auch der Sache nach die Schutzherrlichkeit über die +paphlagonischen und galatischen Dynasten behalten haben. Nur unter +dieser Voraussetzung ist es erklärlich, wie Mithradates, angeblich +wegen seiner tapferen Taten im Kriege gegen Aristonikos, in der Tat für +beträchtliche an den römischen Feldherrn gezahlte Summen, von demselben +nach Auflösung des Attalischen Reiches Großphrygien empfangen konnte. +Wie weit andererseits gegen den Kaukasus und die Euphratquellen das +:Pontische Reich sich um diese Zeit erstreckte, ist nicht genau zu +bestimmen; doch scheint es den westlichen Teil von Armenien um Enderes +und Diwirigi oder das sogenannte Klein-Armenien als abhängige Satrapie +umfaßt zu haben, während Groß -Armenien und Sophene eigene unabhängige +Reiche bildeten. + +Wenn also auf der kleinasiatischen Halbinsel wesentlich Rom das +Regiment führte und, so vieles auch ohne und gegen seinen Willen +geschah, doch den Besitzstand im ganzen bestimmt, so blieben dagegen +die weiten Strecken jenseits des Taurus und des oberen Euphrat bis +hinab zum Niltal in der Hauptsache sich selber überlassen. Zwar der der +Regulierung des Ostens von 565 (189) zugrunde gelegte Satz, daß der +Halys die Ostgrenze der römischen Klientel bilden solle, ward vom Senat +nicht eingehalten und trug auch die Unhaltbarkeit in sich selber. Der +politische Horizont ist Selbsttäuschung so gut wie der physische; wenn +dem Staate Syrien die Zahl der ihm gestatteten Kriegsschiffe und +Kriegselefanten im Friedensvertrag selbst normiert ward, wenn das +syrische Heer auf Befehl des römischen Senats das halb gewonnene +Ägypten räumte, so lag da in die vollständige Anerkennung der Hegemonie +und der Klientel. Darum gingen denn auch die Thronstreitigkeiten in +Syrien wie in Ägypten zur Beilegung an die römische Regierung. Dort +stritten nach Antiochos Epiphanes’ Tode (590 164) der als Geisel in Rom +lebende Sohn Seleukos des vierten, Demetrios, später Soter genannt, und +des letzten Königs Antiochos Epiphanes unmündiger Sohn Antiochos +Eupator um die Krone; hier war von den beiden seit 584 (170) +gemeinschaftlich regierenden Brüdern der ältere Ptolemaeos Philometor +(573-608 146-131) durch den jüngeren Ptolemaeos Euergetes II. oder den +Dicken († 637 117) aus dem Lande getrieben worden (590 164) und, um +seine Herstellung zu erwirken, persönlich in Rom erschienen. Beide +Angelegenheiten ordnete der Senat lediglich auf diplomatischem Wege und +wesentlich nach Maßgabe des römischen Vorteils. In Syrien ward +Antiochos Eupator mit Beseitigung des besser berechtigten Demetrios als +König anerkannt und mit der Führung der Vormundschaft über den +königlichen Knaben der römische Senator Gnaeus Octavius vom Senat +beauftragt, welcher, wie begreiflich, durchaus im römischen Interesse +regierte, die Kriegsflotte und das Elefantenheer dem Friedensvertrag +von 565 (189) gemäß reduzierte und im besten Zuge war, den +militärischen Ruin des Landes zu vollenden. In Ägypten ward nicht bloß +Philometors Herstellung bewirkt, sondern auch, teils um dem Bruderzwist +ein Ziel zu setzen, teils um die noch immer ansehnliche Macht Ägyptens +zu schwächen, Kyrene vom Reich getrennt und Euergetes mit demselben +abgefunden. “Könige sind, wen die Römer wollen”, schrieb nicht lange +nachher ein jüdischer Mann, “und wen sie nicht wollen, den verjagen sie +von Land und Leuten”. Allein dies war für lange Zeit das letzte Mal, +daß der römische Senat in den Angelegenheiten des Ostens mit derjenigen +Tüchtigkeit und Tatkraft auftrat, welche er in den Verwicklungen mit +Philippos, Antiochos und Perseus durchgängig bewährt hatte. Der +innerliche Verfall des Regiments wirkte am spätesten, aber wirkte doch +endlich auch zurück auf die Behandlung der auswärtigen Angelegenheiten. +Das Regiment ward unstet und unsicher; man ließ die eben erfaßten Zügel +erschlaffen und beinahe wieder fahren. Der vormundschaftliche Regent +von Syrien ward in Laodikeia ermordet; der zurückgewiesene Prätendent +Demetrios entfloh aus Rom und bemächtigte sich unter dem dreisten +Vorgeben, daß der römische Senat ihn dazu bevollmächtigt habe, nach +Beseitigung des königlichen Knaben der Regierung seines väterlichen +Reiches (592 162). Bald nachher brach zwischen den Königen von Ägypten +und Kyrene Krieg aus über den Besitz der Insel Kypros, welche der Senat +zuerst dem älteren, sodann dem jüngeren zugeschieden hatte, und im +Widerspruch mit der neuesten römischen Entscheidung blieb dieselbe +schließlich bei Ägypten. So wurde die römische Regierung, in der Fülle +ihrer Macht und während des tiefsten inneren und äußeren Friedens +daheim, von den ohnmächtigen Königen des Ostens mit ihren Dekreten +verhöhnt, ihr Name gemißbraucht, ihr Mündel und ihr Kommissar ermordet. +Als siebzig Jahre zuvor die Illyriker in ähnlicher Weise sich an +römischen Abgeordneten vergriffen, hatte der damalige Senat dem +Ermordeten auf dem Marktplatz ein Denkmal errichtet und mit Heer und +Flotte die Mörder zur Verantwortung gezogen. Der Senat dieser Zeit ließ +dem Gnaeus Octavius gleichfalls ein Denkmal setzen, wie die Sitte der +Väter es vorschrieb; aber statt Truppen nach Syrien einzuschiffen, ward +Demetrios als König des Landes anerkannt - man war ja jetzt so mächtig, +daß es überflüssig schien, die Ehre zu wahren. Ebenso blieb nicht bloß +Kypros trotz des entgegenstehenden Senatsbeschlusses bei Ägypten, +sondern als nach Philometors Tode (608 146) Euergetes ihm nachfolgte +und dadurch das geteilte Reich wiederum vereinigt ward, ließ der Senat +auch dies ungehindert geschehen. Nach solchen Vorgängen war der +römische Einfluß in diesen Landschaften tatsächlich gebrochen und +entwickelten sich die Verhältnisse daselbst zunächst ohne Zutun der +Römer; doch ist des weiteren Verlaufs der Dinge wegen es notwendig, +auch jetzt den näheren und selbst den ferneren Osten nicht völlig aus +den Augen zu verlieren. + +Wenn in dem allerseits abgeschlossenen Ägypten der Status quo sich so +leicht nicht verschob, so gruppierten dagegen in Asien dies- und +jenseits des Euphrat während und zum Teil infolge dieser momentanen +Stockung der römischen Oberleitung die Völker und Staaten sich +wesentlich anders. Jenseits der großen iranischen Wüste hatten nicht +lange nach Alexander dem Großen am Indus das Reich von Palimbothra +unter Tschandragupta (Sandrakottos), am oberen Oxus der mächtige +baktrische Staat, beide aus einer Mischung der nationalen Elemente und +der östlichsten Ausläufer hellenischer Zivilisation sich gebildet. +Westwärts von diesen begann das Reich Asien, das noch unter Antiochos +dem Großen zwar geschmälert, aber immer noch ungeheuer vom Hellespont +bis zu den medischen und persischen Landschaften sich erstreckte und +das ganze Stromgebiet des Euphrat und Tigris in sich schloß. Noch jener +König hatte seine Waffen bis jenseits der Wüste in das Gebiet der +Parther und Baktrier getragen; erst unter ihm hatte der gewaltige Staat +angefangen sich aufzulösen. Nicht bloß Vorderasien war infolge der +Schlacht von Magnesia verloren worden; auch die gänzliche Lösung der +beiden Kappadokien und der beiden Armenien, des eigentlichen Armenien +im Nordosten und der Landschaft Sophene im Südwesten, und ihre +Verwandlung in selbständige Königreiche aus syrischen +Lehnsfürstentümern, gehört dieser Zeit an. Von diesen Staaten gelangte +namentlich Großarmenien unter den Artaxiaden bald zu einer ansehnlichen +Stellung. Vielleicht noch gefährlichere Wunden schlug dem Reiche seines +Nachfolgers Antiochos Epiphanes (579-590 175-164) törichte +Nivellierungspolitik. So richtig es auch war, daß sein Reich mehr einem +Länderbündel als einem Staate glich und daß die Verschiedenheiten der +Nationalitäten und der Religionen der Untertanen der Regierung die +wesentlichsten Hindernisse bereitete, so war doch der Plan, +hellenisch-römische Weise und hellenisch-römischen Kultus überall in +seinem Lande einzuführen und seine Völker in politischer wie in +religiöser Hinsicht auszugleichen unter allen Umständen eine Torheit, +auch abgesehen davon, daß dieser karikierte Joseph II. persönlich einem +solchen gigantischen Beginnen nichts weniger als gewachsen war und +durch Tempelplünderung im großartigsten Maßstab und die tollste +Ketzerverfolgung seine Reformen in der übelsten Weise einleitete. Die +eine Folge hiervon war, daß die Bewohner der Grenzprovinz gegen +Ägypten, die Juden, sonst bis zur Demütigkeit fügsame und äußerst +tätige und betriebsame Leute, durch den systematischen Religionszwang +zur offenen Empörung gedrängt wurden (um 587 167). Die Sache kam an den +Senat, und da derselbe eben damals teils gegen Demetrios Soter mit +gutem Grund erbittert war, teils eine Verbindung der Attaliden und +Seleukiden besorgte, überhaupt aber die Herstellung einer Mittelmacht +zwischen Syrien und Ägypten im Interesse Roms lag, so machte er keine +Schwierigkeit, die Freiheit und Autonomie der insurgierten Nation +sofort anzuerkennen (um 593 161). Indes geschah doch von Rom für die +Juden nur, was man tun konnte, ohne sich selber zu bemühen; trotz der +Klausel des zwischen den Römern und den Juden abgeschlossenen Vertrags, +die den Juden, im Fall sie angegriffen würden, den Beistand Roms +versprach, und trotz des an die Könige von Syrien und Ägypten +gerichteten Verbots, ihre Truppen durch das jüdische Land zu führen, +blieb es natürlich lediglich jenen selbst überlassen, der syrischen +Könige sich zu erwehren. Mehr als die Briefe ihrer mächtigen +Verbündeten tat für sie die tapfere und umsichtige Leitung des +Aufstandes durch das Heldengeschlecht der Makkabäer und die innere +Zerrissenheit des Syrischen Reiches: während des Haders zwischen den +syrischen Königen Tryphon und Demetrios Nikator ward den Juden die +Autonomie und Steuerfreiheit förmlich zugestanden (612 142) und bald +darauf sogar das Haupt des Makkabäerhauses, Simon, des Mattathias Sohn, +von der Nation wie von dem syrischen Großkönig als Hochpriester und +Fürst Israels förmlich anerkannt ^18 (615 139). + +————————————————————- + +^18 Von ihm rühren die Münzen her mit der Aufschrift “Shekel Israel” +und der Jahreszahl des “heiligen Jerusalem” oder “der Erlösung Sions”. +Die ähnlichen mit dem Namen Simons, des Fürsten (Nessi) Israel, gehören +nicht ihm, sondern dem Insurgentenführer Bar Kochba unter Hadrian. + +————————————————————— + +Folgenreicher noch als diese Insurrektion der Israeliten war die +gleichzeitig und wahrscheinlich aus gleicher Ursache entstandene +Bewegung in den östlichen Landschaften, wo Antiochos Epiphanes die +Tempel der persischen Götter nicht minder leerte wie den von Jerusalem +und dort den Anhängern des Ahuramazda und des Mithra es nicht besser +gemacht haben wird wie hier denen des Jehova. Wie in Judäa, nur in +weiterem Umfang und in großartigeren Verhältnissen, war das Ergebnis +eine Reaktion der einheimischen Weise und der einheimischen Religion +gegen den Hellenismus und die hellenischen Götter; die Träger dieser +Bewegung waren die Parther und aus ihr entsprang das große +Partherreich. Die “Parthwa” oder Parther, die als eine der zahllosen in +das große Perserreich aufgegangenen Völkerschaften früh, zuerst im +heutigen Khorasan südöstlich vom Kaspischen Meere begegnen, erscheinen +schon seit 500 (250) unter dem skythischen, das heißt turanischen +Fürstengeschlecht der Arsakiden als ein selbständiger Staat, der indes +erst ein Jahrhundert später aus seiner Dunkelheit hervortrat. Der +sechste Arsakes, Mithradates I. (579? - 618? 175-136), ist der +eigentliche Gründer der parthischen Großmacht. Ihm erlag das an sich +weit mächtigere, aber teils durch die Fehden mit den skythischen +Reiterscharen von Turan und mit den Staaten am Indus, teils durch +innere Wirren bereits in allen Fugen erschütterte Baktrische Reich. +Fast gleiche Erfolge errang er in den Landschaften westlich von der +großen Wüste. Das Syrische Reich war eben damals, teils infolge der +verfehlten Hellenisierungsversuche des Antiochos Epiphanes, teils durch +die nach dessen Tode eintretenden Sukzessionswirren, aufs tiefste +zerrüttet und die inneren Provinzen im vollen Zuge, sich von Antiocheia +und der Küstenlandschaft abzulösen; in Kommagene zum Beispiel, der +nördlichsten Landschaft Syriens an der kappadokischen Grenze, machte +der Satrap Ptolemaeos, auf dem entgegengesetzten Ufer des Euphrat im +nördlichen Mesopotamien oder der Landschaft Osrhoene der Fürst von +Edessa, in der wichtigen Provinz Medien der Satrap Timarchos sich +unabhängig; ja der letztere ließ sich vom römischen Senat seine +Unabhängigkeit bestätigen und herrschte, gestützt auf das verbündete +Armenien, bis hinab nach Seleukeia am Tigris. Unordnungen dieser Art +waren im Asiatischen Reiche in Permanenz, sowohl die Provinzen unter +ihren halb oder ganz unabhängigen Satrapen in ewigem Aufstand als auch +die Hauptstadt mit ihrem gleich dem römischen und dem alexandrinischen +zuchtlosen und widerspenstigen Pöbel. Die gesamte Meute der +Nachbarkönige, Ägypten, Armenien, Kappadokien, Pergamon, mengte +unaufhörlich sich in die Angelegenheiten Syriens und nährte die +Erbfolgestreitigkeiten, so daß der Bürgerkrieg und die faktische +Teilung der Herrschaft unter zwei oder mehr Prätendenten fast zur +stehenden Landplage ward. Die römische Schutzmacht, wenn sie die +Nachbarn nicht aufstiftete, sah untätig zu. Zu allem diesem drängte von +Osten her das neue Partherreich, nicht bloß mit seiner materiellen +Macht, sondern auch mit dem ganzen Übergewicht seiner nationalen +Sprache und Religion, seiner nationalen Heer- und Staatsverfassung auf +die Fremdlinge ein. Es ist hier noch nicht der Ort dies regenerierte +Kyrosreich zu schildern; es genügt im allgemeinen, daran zu erinnern, +daß, so mächtig auch in ihm noch der Hellenismus auftritt, dennoch der +parthische Staat, verglichen mit dem der Seleukiden, auf einer +nationalen und religiösen Reaktion beruht und die alte iranische +Sprache, der Magierstand und der Mithrasdienst, die orientalische +Lehnsverfassung, die Reiterei der Wüste und Pfeil und Bogen hier zuerst +dem Hellenismus wieder übermächtig entgegentraten. Die Lage der +Reichskönige diesem allem gegenüber war in der Tat beklagenswert. Das +Geschlecht der Seleukiden war keineswegs so entnervt wie zum Beispiel +das der Lagiden, und einzelnen derselben mangelte es nicht an +Tapferkeit und Fähigkeit; sie wiesen auch wohl den einen oder den +andern jener zahllosen Rebellen, Prätendenten und Intervenienten in +seine Schranken zurück; aber es fehlte ihrer Herrschaft so sehr an +einer festen Grundlage, daß sie dennoch der Anarchie nicht auch nur +vorübergehend zu steuern vermochten. Das Ergebnis war denn, was es sein +mußte. Die östlichen Landschaften Syriens unter ihren unbeschützten +oder gar aufrührerischen Satrapen gerieten unter parthische +Botmäßigkeit; Persien, Babylonien, Medien wurden auf immer vom +Syrischen Reiche getrennt; der neue Staat der Parther reichte zu beiden +Seiten der großen Wüste vom Oxus und Hindukusch bis zum Tigris und zur +Arabischen Wüste, wiederum gleich dem Perserreich und all den älteren +asiatischen Großstaaten eine reine Kontinentalmonarchie und wiederum +eben gleich dem Perserreich in ewiger Fehde begriffen einerseits mit +den Völkern von Turan, andererseits mit den Okzidentalen. Der Syrische +Staat umfaßte außer der Küstenlandschaft höchstens noch Mesopotamien +und verschwand, mehr noch infolge seiner inneren Zerrüttung als seiner +Verkleinerung, auf immer aus der Reihe der Großstaaten. Wenn die +mehrfach drohende gänzliche Unterjochung des Landes durch die Parther +unterblieb, so ist dies nicht der Gegenwehr der letzten Seleukiden, +noch weniger dem Einfluß Roms zuzuschreiben, sondern vielmehr den +vielfältigen inneren Unruhen im Partherreiche selbst und vor allem den +Einfällen der turanischen Steppenvölker in dessen östliche +Landschaften. + +Diese Umwandlung der Völkerverhältnisse im inneren Asien ist der +Wendepunkt in der Geschichte des Altertums. Auf die Völkerflut, die +bisher von Westen nach Osten sich ergossen und in dem großen Alexander +ihren letzten und höchsten Ausdruck gefunden hatte, folgt die Ebbe. +Seit der Partherstaat besteht, ist nicht bloß verloren, was in Baktrien +und am Indus etwa noch von hellenischen Elementen sich erhalten haben +mochte, sondern auch das westliche Iran weicht wieder zurück in das +seit Jahrhunderten verlassene, aber noch nicht verwischte Geleise. Der +römische Senat opfert das erste wesentliche Ergebnis der Politik +Alexanders und leitet damit jene rückläufige Bewegung ein, deren letzte +Ausläufer im Alhambra von Granada und in der Großen Moschee von +Konstantinopel endigen. Solange noch das Land von Ragä und Persepolis +bis zum Mittelmeer dem König von Antiochia gehorchte, erstreckte auch +Roms Macht sich bis an die Grenze der großen Wüste; der Partherstaat, +nicht weil er so gar mächtig war, sondern weil er seinen Schwerpunkt +fern von der Küste, im inneren Asien fand, konnte niemals eintreten in +die Klientel des Mittelmeerreiches. Seit Alexander hatte die Welt den +Okzidentalen allein gehört und schien der Orient für diese nur zu sein, +was später Amerika und Australien für die Europäer wurden; mit +Mithradates I. trat dieser wieder ein in den Kreis der politischen +Bewegung. Die Welt hatte wieder zwei Herren. + +Es ist noch übrig, auf die maritimen Verhältnisse dieser Zeit einen +Blick zu werfen, obwohl darüber sich kaum etwas anderes sagen läßt, als +daß es nirgends mehr eine Seemacht gab. Karthago war vernichtet, +Syriens Kriegsflotte vertragsmäßig zugrunde gerichtet, Ägyptens einst +so gewaltige Kriegsmarine unter seinen gegenwärtigen schlaffen Regenten +in tiefem Verfall. Die kleineren Staaten und namentlich die Kaufstädte +hatten wohl einige bewaffnete Fahrzeuge, aber sie genügten nicht einmal +für die im Mittelmeere so schwierige Unterdrückung des Seeraubs. Mit +Notwendigkeit fiel diese Rom zu als der führenden Macht im Mittelmeer. +Wie ein Jahrhundert zuvor die Römer eben hierin mit besonderer und +wohltätiger Entschiedenheit aufgetreten waren und namentlich im Osten +ihre Suprematie zunächst eingeführt hatten durch die zum allgemeinen +Besten energisch gehandhabte Seepolizei, ebenso bestimmt bezeichnet die +vollständige Nichtigkeit derselben schon im Beginn dieser Periode den +furchtbar raschen Verfall des aristokratischen Regiments. Eine eigene +Flotte besaß Rom nicht mehr; man begnügte sich, wenn es nötig schien, +von den italischen, den kleinasiatischen und den sonstigen Seestädten +Schiffe einzufordern. Die Folge war natürlich, daß das Flibustierwesen +sich organisierte und konsolidierte. Zu dessen Unterdrückung geschah +nun wohl, wenn nicht genug, so doch etwas, soweit die unmittelbare +Macht der Römer reichte, im Adriatischen und Tyrrhenischen Meer. Die +gegen die dalmatischen und ligurischen Küsten in dieser Epoche +gerichteten Expeditionen bezweckten namentlich die Unterdrückung des +Seeraubs in den beiden italischen Meeren; aus gleichem Grunde wurden im +Jahre 631 (123) die Balearischen Inseln besetzt. Dagegen in den +mauretanischen und den griechischen Gewässern blieb es den Anwohnern +und den Schiffern überlassen, mit den Korsaren auf die eine oder die +andere Weise sich abzufinden, da die römische Politik daran festhielt +sich um diese entfernteren Gegenden so wenig wie irgend möglich zu +kümmern. Die zerrütteten und bankerotten Gemeinwesen in den also sich +selbst überlassenen Küstenstaaten wurden hierdurch natürlich zu +Freistätten der Korsaren; und an solchen fehlte es namentlich in Asien +nicht. Am ärgsten sah es in dieser Hinsicht aus auf Kreta, das durch +eine glückliche Lage und die Schwäche oder Schlaffheit der Großstaaten +des Westens und Ostens allein unter allen griechischen Ansiedlungen +seine Unabhängigkeit bewahrt hatte; die römischen Kommissionen kamen +und gingen freilich auch auf dieser Insel, aber richteten hier noch +weniger aus als selbst in Syrien und Ägypten. Fast schien es aber, als +habe das Schicksal den Kretern die Freiheit nur gelassen um zu zeigen, +was herauskomme bei der hellenischen Unabhängigkeit. Es war ein +schreckliches Bild. Die alte dorische Strenge der Gemeindeordnungen war +ähnlich wie in Tarent umgeschlagen in eine wüste Demokratie, der +ritterliche Sinn der Bewohner in eine wilde Rauf- und Beutegier; ein +achtbarer Hellene selbst bezeugt es, daß allein auf Kreta nichts für +schimpflich gelte, was einträglich sei, und noch der Apostel Paulus +führt billigend den Spruch eines kretischen Dichters an: “Lügner sind +all, Faulranzen, unsaubere Tiere die Kreter.” Die ewigen Bürgerkriege +verwandelten trotz der römischen Friedensstiftungen auf der alten +“Insel der hundert Städte” eine blühende Ortschaft nach der andern in +Ruinenhaufen. Ihre Bewohner durchstreiften als Räuber die Heimat und +die Fremde, die Länder und die Meere; die Insel ward der Werbeplatz für +die umliegenden Königreiche, seit dieser Unfug im Peloponnes nicht mehr +geduldet ward, und vor allem der rechte Sitz der Piraterie, wie denn +zum Beispiel um diese Zeit die Insel Siphnos durch eine kretische +Korsarenflotte völlig ausgeraubt ward. Rhodos, das ohnehin von dem +Verlust seiner Besitzungen auf dem Festland und den seinem Handel +zugefügten Schlägen sich nicht zu erholen vermochte, vergeudete seine +letzten Kräfte in den Kriegen, die es zur Unterdrückung der Piraterie +gegen die Kreter zu führen sich genötigt sah (um 600 150) und in denen +die Römer zwar zu vermitteln suchten, indes ohne Ernst und, wie es +scheint, ohne Erfolg. + +Neben Kreta fing bald auch Kilikien an, für diese Flibustierwirtschaft +eine zweite Heimat zu werden; und es war nicht bloß die Ohnmacht der +syrischen Herrscher, die ihr hier Vorschub tat: der Usurpator Diodotos +Tryphon, der sich vom Sklaven zum König Syriens aufgeschwungen hatte +(608-615 146-139), förderte, um durch Korsarenhilfe seinen Thron zu +befestigen, in seinem Hauptsitz, dem Rauhen oder westlichen Kilikien, +mit allen Mitteln von oben herab die Piraterie. Der ungemein +gewinnbringende Verkehr mit den Piraten, die zugleich die +hauptsächlichsten Sklavenfänger und Sklavenhändler waren, verschaffte +ihnen bei dem kaufmännischen Publikum, sogar in Alexandreia, Rhodos und +Delos eine gewisse Duldung, an der selbst die Regierungen wenigstens +durch Passivität sich beteiligten. Das Übel ward so ernsthaft, daß der +Senat um 611 (143) seinen besten Mann, Scipio Aemilianus, nach +Alexandreia und Syrien sandte, um an Ort und Stelle zu ermitteln, was +sich dabei tun lasse. Allein diplomatische Vorstellungen der Römer +machten die schwachen Regierungen nicht stark; es gab keine andere +Abhilfe als geradezu eine Flotte in diesen Gewässern zu unterhalten, +wozu es wieder der römischen Regierung an Energie und Konsequenz +gebrach. So blieb eben alles beim alten, die Piratenflotte die einzige +ansehnliche Seemacht im Mittelmeere, der Menschenfang das einzige +daselbst blühende Gewerbe. Die römische Regierung sah den Dingen zu, +die römischen Kaufleute aber standen als die besten Kunden auf dem +Sklavenmarkt mit den Piratenkapitänen als den bedeutendsten +Großhändlern in diesem Artikel auf Delos und sonst in regem und +freundlichem Geschäftsverkehr. + +Wir haben die Umgestaltung der äußeren Verhältnisse Roms und der +römisch-hellenischen Welt überhaupt in ihren Umrissen von der Schlacht +bei Pydna bis auf die Gracchenzeit, vom Tajo und vom Bagradas zum Nil +und zum Euphrat begleitet. Es war eine große und schwierige Aufgabe, +die Rom mit dem Regimente dieser römisch-hellenischen Welt übernahm; +sie ward nicht völlig verkannt, aber keineswegs gelöst. Die +Unhaltbarkeit des Gedankens der catonischen Zeit, den Staat auf Italien +zu beschränken und außerhalb Italiens nur durch Klientel zu herrschen, +ward von den leitenden Männern der folgenden Generation wohl begriffen +und wohl die Notwendigkeit eingesehen, an die Stelle dieses +Klientelregiments eine die Gemeindefreiheiten wahrende, unmittelbare +Herrschaft Roms zu setzen. Allein statt diese neue Ordnung fest, rasch +und gleichmäßig durchzuführen, wurden einzelne Landschaften eingezogen, +wo eben Gelegenheit, Eigensinn, Nebenvorteil und Zufall dazu führten, +wogegen der größere Teil des Klientelgebiets entweder in der +unerträglichen Halbheit seiner bisherigen Stellung verblieb oder gar, +wie namentlich Syrien, sich gänzlich dem Einfluß Roms entzog. Aber auch +das Regiment selbst ging mehr und mehr auf in einem schwächlichen und +kurzsichtigen Egoismus. Man begnügte sich von heute auf morgen zu +regieren und nur eben die laufenden Geschäfte notdürftig zu erledigen. +Man war gegen die Schwachen der strenge Herr - als die Stadt Mylasa in +Karien dem Publius Crassus Konsul 623 (131) zur Erbauung eines +Sturmbocks einen andern Balken als den verlangten sandte, ward der +Vorstand der Stadt deswegen ausgepeitscht; und Crassus war kein +schlechter Mann und ein streng rechtlicher Beamter. Dagegen ward die +Strenge da vermißt, wo sie an ihrem Platz gewesen wäre, wie gegen die +angrenzenden Barbaren und gegen die Piraten. Indem die Zentralregierung +auf jede Oberleitung und jede Übersicht der Provinzialverhältnisse +Verzicht tat, gab sie dem jedesmaligen Vogt nicht bloß die Interessen +der Untertanen, sondern auch die des Staates vollständig preis. Die +spanischen Vorgänge, unbedeutend an sich, sind hierfür belehrend. Hier, +wo die Regierung weniger als in den übrigen Provinzen sich auf die +bloße Zuschauerrolle beschränken konnte, wurde nicht bloß von den +römischen Statthaltern das Völkerrecht geradezu mit Füßen getreten und +durch eine Wort- und Treulosigkeit sondergleichen, durch das +frevelhafteste Spiel mit Kapitulationen und Verträgen, durch +Niedermetzelung untertäniger Leute und Mordanstiftung gegen die +feindlichen Feldherren die römische Ehre dauernd im Kote geschleift, +sondern es ward auch gegen den ausgesprochenen Willen der römischen +Oberbehörde Krieg geführt und Friede geschlossen und aus unbedeutenden +Vorfällen; wie zum Beispiel dem Ungehorsam der Numantiner, durch eine +seltene Vereinigung von Verkehrtheit und Verruchtheit eine für den +Staat verhängnisvolle Katastrophe entwickelt. Und das alles geschah, +ohne daß in Rom auch nur eine ernstliche Bestrafung deswegen verfügt +ward. Über die Besetzung der wichtigsten Stellen und die Behandlung der +bedeutendsten politischen Fragen entschieden nicht bloß die Sympathien +und Rivalitäten der verschiedenen Senatskoterien mit, sondern es fand +selbst schon das Gold der auswärtigen Dynasten Eingang bei den +Ratsherren von Rom. Als der erste, der mit Erfolg versuchte, den +römischen Senat zu bestechen, wird Timarchos genannt, der Gesandte des +Königs Antiochos Epiphanes von Syrien († 590 164); bald wurde die +Beschenkung einflußreicher Senatoren durch auswärtige Könige so +gewöhnlich, daß es auffiel, als Scipio Aemilianus die im Lager vor +Numantia ihm von dem König von Syrien zugekommenen Gaben in die +Kriegskasse einwarf. Durchaus ließ man den alten Grundsatz fallen, daß +der Lohn der Herrschaft einzig die Herrschaft und die Herrschaft +ebensosehr eine Pflicht und eine Last wie ein Recht und ein Vorteil +sei. So kam die neue Staatswirtschaft auf, welche von der Besteuerung +der Bürger absah und dagegen die Untertanenschaft als einen nutzbaren +Besitz der Gemeinde teils von Gemeinde wegen ausbeutete, teils der +Ausbeutung durch die Bürger überlieferte; nicht bloß wurde dem +rücksichtslosen Geldhunger des römischen Kaufmanns in der +Provinzialverwaltung mit frevelhafter Nachgiebigkeit Spielraum +gestattet, sondern es wurden sogar die ihm mißliebigen Handelsrivalen +durch die Heere des Staats aus dem Wege geräumt und die herrlichsten +Städte der Nachbarländer nicht der Barbarei der Herrschsucht, sondern +der weit scheußlicheren Barbarei der Spekulation geopfert. Durch den +Ruin der älteren, der Bürgerschaft allerdings schwere Opfer +auferlegenden Kriegsordnung grub der am letzten Ende doch nur auf +seinem militärischen Übergewicht ruhende Staat sich selber die Stütze +ab. Die Flotte ließ man ganz eingehen, das Landkriegswesen in der +unglaublichsten Weise verfallen. Die Bewachung der asiatischen und +afrikanischen Grenzen wurde auf die Untertanen abgewälzt und was man +nicht von sich abwälzen konnte, wie die italische, makedonische und +spanische Grenzverteidigung, in der elendesten Weise verwaltet. Die +besseren Klassen fingen an so sehr aus dem Heere zu verschwinden, daß +es schon schwer hielt, für die spanischen Heere die erforderliche +Anzahl von Offizieren aufzutreiben. Die immer steigende Abneigung +namentlich gegen den spanischen Kriegsdienst in Verbindung mit der von +den Beamten bei der Aushebung bewiesenen Parteilichkeit nötigten im +Jahre 602 (152) zum Aufgeben der alten Übung, die Auswahl der +erforderlichen Anzahl Soldaten aus der dienstpflichtigen Mannschaft dem +freien Ermessen der Offiziere zu überlassen, und zu deren Ersetzung +durch das Losen der sämtlichen Dienstpflichtigen - sicher nicht zum +Vorteil des militärischen Gemeingeistes und der Kriegstüchtigkeit der +einzelnen Abteilungen. Die Behörden, statt mit Strenge durchzugreifen, +erstreckten die leidige Volksschmeichelei auch hierauf mit: wenn einmal +ein Konsul für den spanischen Dienst pflichtmäßig strenge Aushebungen +veranstaltete, so machten die Tribune Gebrauch von ihrem +verfassungsmäßigen Recht, ihn zu verhaften (603, 616 151,138); und es +ward schon bemerkt, daß Scipios Ansuchen, ihm für den Numantinischen +Krieg die Aushebung zu gestatten, vom Senat geradezu abgeschlagen ward. +Schon erinnern denn auch die römischen Heere vor Karthago oder Numantia +an jene syrischen Armeen, in denen die Zahl der Bäcker, Köche, +Schauspieler und sonstigen Nichtkombattanten die der sogenannten +Soldaten um das Vierfache überstieg; schon geben die römischen Generale +ihren karthagischen Kollegen in der Heerverderbekunst wenig nach und +werden die Kriege in Afrika wie in Spanien, in Makedonien wie in Asien +regelmäßig mit Niederlagen eröffnet; schon schweigt man still zu der +Ermordung des Gnaeus Octavius, schon ist Viriathus’ Meuchelmord ein +Meisterwerk der römischen Diplomatie, schon die Eroberung von Numantia +eine Großtat. Wie völlig der Begriff von Volks- und Mannesehre bereits +den Römern abhanden gekommen war, zeigte mit epigrammatischer Schärfe +die Bildsäule des entkleideten und gebundenen Mancinus, welche dieser +selbst, stolz auf seine patriotische Aufopferung, in Rom sich setzen +ließ. Wohin man den Blick auch wendet, findet man Roms innere Kraft wie +seine äußere Macht in raschem Sinken. Der in Riesenkämpfen gewonnene +Boden wird in dieser Friedenszeit nicht erweitert, ja nicht einmal +behauptet. Das Weltregiment, schwer zu erringen, ist schwerer noch zu +bewahren; jenes hatte der römische Senat vermocht, an diesem ist er +gescheitert. + + + + +KAPITEL II. +Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus + + +Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna erfreute der +römische Staat sich der tiefsten, kaum hie und da an der Oberfläche +bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei Weltteile sich aus; der +Glanz der römischen Macht und der Ruhm des römischen Namens waren in +dauerndem Steigen; aller Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller +Reichtum strömten dahin: eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und +geistigen Lebensgenusses schien dort beginnen zu müssen. Mit +Bewunderung erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen +Republik des Westens, “die die Königreiche bezwang fern und nah, und +wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den Freunden und +Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden. Solche Herrlichkeit war +bei den Römern, und doch setzte keiner die Krone sich auf und prahlte +keiner im Purpurgewand; sondern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn +machten, auf den hörten sie, und war bei ihnen nicht Neid noch +Zwietracht.” + +So schien es in der Ferne; in der Nähe sahen die Dinge anders aus. Das +Regiment der Aristokratie war im vollen Zuge, sein eigenes Werk zu +verderben. Nicht als wären die Söhne und Enkel der Besiegten von Cannae +und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer Väter und Großväter +geschlagen; es waren weniger andere Menschen, die jetzt im Senate +saßen, als eine andere Zeit. Wo eine geschlossene Zahl alter Familien +festgegründeten Reichtums und ererbter staatsmännischer Bedeutung das +Regiment führt, wird sie in den Zeiten der Gefahr eine ebenso +unvergleichlich zähe Folgerichtigkeit und heldenmütige Opferfähigkeit +entwickeln wie in den Zeiten der Ruhe kurzsichtig, eigensüchtig und +schlaff regieren - zu dem einen wie dem andern liegen die Keime im +Wesen der Erblichkeit und der Kollegialität. Der Krankheitsstoff war +längst vorhanden, aber ihn zu entwickeln bedurfte es der Sonne des +Glückes. In Catos Frage, was aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat +mehr zu fürchten haben werde, lag ein tiefer Sinn. Jetzt war man so +weit: jeder Nachbar, den man hätte fürchten mögen, war politisch +vernichtet, und von den Männern, welche unter der alten Ordnung der +Dinge, in der ernsten Schule des Hannibalischen Krieges erzogen waren +und aus denen der Nachklang jener gewaltigen Zeit bis in ihr spätestes +Alter noch widerhallte, rief der Tod einen nach dem andern ab, bis +endlich auch die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato, im +Rathaus und auf dem Marktplatz verstummte. Eine jüngere Generation kam +an das Regiment, und ihre Politik war eine arge Antwort auf jene Frage +des alten Patrioten. Wie das Untertanenregiment und die äußere Politik +unter ihren Händen sich gestalteten, ist bereits dargelegt worden. +Womöglich noch mehr ließ man in den inneren Angelegenheiten das Schiff +vor dem Winde treiben; wenn man unter innerem Regiment mehr versteht +als die Erledigung der laufenden Geschäfte, so ward in dieser Zeit +überhaupt in Rom nicht regiert. Der einzige leitende Gedanke der +regierenden Korporation war die Erhaltung und womöglich Steigerung +ihrer usurpierten Privilegien. Nicht der Staat hatte für sein höchstes +Amt ein Anrecht auf den rechten und den besten Mann, sondern jedes +Glied der Kamaraderie ein angeborenes, weder durch unbillige Konkurrenz +der Standesgenossen noch durch Übergriffe der Ausgeschlossenen zu +verkürzendes Anrecht auf das höchste Staatsamt. Darum steckte die +Clique zu ihrem wichtigsten politischen Ziel sich die Beschränkung der +Wiederwahl zum Konsulat und die Ausschließung der “neuen Menschen”; es +gelang denn auch in der Tat, jene um das Jahr 603 (151) gesetzlich +untersagt zu erhalten ^1 und auszureichen mit einem Regiment adliger +Nullitäten. Auch die Tatenlosigkeit der Regierung nach außen hin hängt +ohne Zweifel mit dieser gegen die Bürgerlichen ausschließenden und +gegen die einzelnen Standesglieder mißtrauischen Adelspolitik zusammen. +Man konnte gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Taten waren, von den +lauteren Kreisen der Aristokratie nicht sicherer fern halten, als indem +man überhaupt es keinem gestattete, Taten zu verrichten; auch würde dem +bestehenden Regiment der allgemeinen Mittelmäßigkeit selbst ein adliger +Eroberer Syriens oder Ägyptens schon unbequem gewesen sein. Allerdings +fehlte es auch jetzt an einer Opposition nicht, und sie war sogar bis +zu einem gewissen Grade erfolgreich. Man verbesserte die Rechtspflege. +Die Administrativjurisdiktion, wie der Senat sie entweder selbst oder +gelegentlich durch außerordentliche Kommissionen über die +Provinzialbeamten ausübte, reichte anerkanntermaßen nicht aus; es war +eine für das ganze öffentliche Leben der römischen Gemeinde +folgenreiche Neuerung, daß im Jahre 605 (149) auf Vorschlag des Lucius +Calpurnius Piso eine ständige Senatorenkommission (quaestio ordinaria) +niedergesetzt ward, um die Beschwerden der Provinzialen gegen die +vorgesetzten römischen Beamten wegen Gelderpressung in gerichtlichen +Formen zu prüfen. Man suchte die Komitien von dem übermächtigen Einfluß +der Aristokratie zu emanzipieren. Die Panazee auch der römischen +Demokratie war die geheime Abstimmung in den Versammlungen der +Bürgerschaft, welche zuerst für die Magistratswahlen durch das +Gabinische (615 139), dann für die Volksgerichte durch das Cassische +(617 137), endlich für die Abstimmung über Gesetzvorschläge durch das +Papirische Gesetz (623 131) eingeführt ward. In ähnlicher Weise wurden +bald nachher (um 625 129) die Senatoren durch Volksbeschluß angewiesen, +bei dem Eintritt in den Senat ihr Ritterpferd abzugeben und also auf +den bevorzugten Stimmplatz in den achtzehn Ritterzenturien zu +verzichten. In diesen auf die Emanzipation der Wählerschaft von dem +regierenden Herrenstand gerichteten Maßregeln mochte die Partei, die +sie veranlaßte, vielleicht den Anfang zu einer Regeneration des Staates +erblicken; in der Tat ward dadurch in der Nichtigkeit und Unfreiheit +des gesetzlich höchsten Organs der römischen Gemeinde auch nicht das +mindeste geändert, ja dieselbe allen, die es anging und nicht anging, +nur noch handgreiflicher dargetan. Ebenso prahlhaftig und ebenso eitel +war die förmliche Anerkennung der Unabhängigkeit und Souveränität der +Bürgerschaft, welche ihr durch die Verlegung ihres Versammlungsplatzes +von der alten Dingstatt unter dem Rathaus auf den Marktplatz zuteil +ward (um 609 145). + +———————————————————— + +^1 Im Jahre 537 (217) wurde das die Wiederwahl zum Konsulat +beschränkende Gesetz auf die Dauer des Krieges in Italien (also bis 551 +203) suspendiert (Liv. 27, 6). Nach Marcellus’ Tode 546 (208) aber sind +Wiederwahlen zum Konsulat, wenn die abdizierenden Konsuln von 592 (162) +nicht mitgerechnet werden, überhaupt nur vorgekommen in den Jahren 547, +554, 560, 579, 585, 586, 591, 596, 599, 602 (207, 200, 194, 175, 169, +168, 163, 158, 155, 152); also nicht öfter in diesen sechsundfünfzig +als zum Beispiel in den zehn Jahren 401-410 (353-344). Nur eine von +diesen, und eben die letzte, ist mit Verletzung des zehnjährigen +Intervalls erfolgt; und ohne Zweifel ist die seltsame Wahl des Marcus +Marcellus, Konsul 588 (166) und 599 (155), zum dritten Konsulat für 602 +(152), deren nähere Umstände wir nicht kennen, die Veranlassung der +gesetzlichen Untersagung der Wiederwahl zum Konsulat überhaupt (Liv. +ep. 56) geworden; zumal da dieser Antrag, als von Cato unterstützt (p. +55 Jordan), vor 605 (149) eingebracht worden sein muß. + +——————————————————- + +Aber diese Fehde der formalen Volkssouveränität gegen die tatsächlich +bestehende Verfassung war zum guten Teil scheinhafter Art. Die +Parteiphrasen prasselten und klirrten; von den Parteien selbst war in +den wirklich und unmittelbar praktischen Angelegenheiten wenig zu +spüren. Das ganze siebente Jahrhundert hindurch bildeten die jährlichen +Gemeindewahlen zu den bürgerlichen Ämtern, namentlich zum Konsulat und +zur Zensur, die eigentlich stehende Tagesfrage und den Brennpunkt des +politischen Treibens; aber nur in einzelnen seltenen Fällen waren in +den verschiedenen Kandidaturen auch entgegengesetzte politische +Prinzipien verkörpert; regelmäßig blieben dieselben rein persönliche +Fragen und war es für den Gang der Angelegenheiten gleichgültig, ob die +Majorität der Wahlkörper dem Cäcilier oder dem Cornelier zufiel. Man +entbehrte also dessen, was die Übelstände des Parteilebens alle +überträgt und vergütet, der freien und gemeinschaftlichen Bewegung der +Massen nach dem als zweckmäßig erkannten Ziel, und duldete sie dennoch +alle lediglich zum Frommen des kleinen Spiels der herrschenden +Koterien. + +Es war dem römischen Adligen verhältnismäßig leicht, die Ämterlaufbahn +als Quästor und Volkstribun zu betreten, aber die Erlangung des +Konsulats und der Zensur war auch ihm nur durch große und jahrelange +Anstrengungen möglich. Der Preise waren viele, aber der lohnenden +wenige; die Kämpfer liefen, wie ein römischer Dichter einmal sagt, wie +in einer an den Schranken weiten, allmählich mehr und mehr sich +verengenden Bahn. Das war recht, solange das Amt war, wie es hieß, eine +“Ehre”, und militärische, politische, juristische Kapazitäten +wetteifernd um die seltenen Kränze warben; jetzt aber hob die +tatsächliche Geschlossenheit der Nobilität den Nutzen der Konkurrenz +auf und ließ nur ihre Nachteile übrig. Mit wenigen Ausnahmen drängten +die den regierenden Familien angehörenden jungen Männer sich in die +politische Laufbahn, und der hastige und unreife Ehrgeiz griff bald zu +wirksameren Mitteln, als nützliche Tätigkeit für das gemeine Beste war. +Die erste Bedingung für die öffentliche Laufbahn wurden mächtige +Verbindungen; dieselbe begann also nicht wie sonst im Lager, sondern in +den Vorzimmern der einflußreichen Männer. Was sonst nur Schutzbefohlene +und Freigelassene getan, daß sie ihrem Herrn am frühen Morgen +aufzuwarten kamen und öffentlich in seinem Gefolge erschienen, das +übertrug sich jetzt auf die neue vornehme Klientel. Aber auch der Pöbel +ist ein großer Herr und will als solcher respektiert sein. Der Janhagel +fing an, es als sein Recht zu fordern, daß der künftige Konsul in jedem +Lumpen von der Gasse das souveräne Volk erkenne und ehre und jeder +Bewerber bei seinem “Umgang” (ambitus) jeden einzelnen Stimmgeber bei +Namen begrüße und ihm die Hand drücke. Bereitwillig ging die vornehme +Welt ein auf diesen entwürdigenden Ämterbettel. Der richtige Kandidat +kroch nicht bloß im Palast, sondern auch auf der Gasse und empfahl sich +der Menge durch Liebäugeleien, Nachsichtigkeiten, Artigkeiten von +feinerer oder gröberer Qualität. Der Ruf nach Reformen und die +Demagogie wurden dazu vernutzt, sich bei dem Publikum bekannt und +beliebt zu machen; und sie wirkten um so mehr, je mehr sie nicht die +Sache angriffen, sondern die Person. Es ward Sitte, daß die bartlosen +Jünglinge vornehmer Geburt, um sich glänzend in das öffentliche Leben +einzuführen, mit der unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften +Beredsamkeit die Rolle Catos weiterspielten und aus eigener +Machtvollkommenheit sich womöglich gegen einen recht hochstehenden und +recht unbeliebten Mann zu Anwälten des Staats aufwarfen; man ließ es +geschehen, daß das ernste Institut der Kriminaljustiz und der +politischen Polizei ein Mittel für den Ämterbewerb ward. Die +Veranstaltung oder, was noch schlimmer war, die Verheißung prachtvoller +Volkslustbarkeiten war längst die gleichsam gesetzliche Vorbedingung +zur Erlangung des Konsulats; jetzt begannen auch schon, wie das um 595 +(159) dagegen erlassene Verbot bezeugt, die Stimmen der Wähler geradezu +mit Geld erkauft zu werden. Vielleicht die schlimmste Folge des +dauernden Buhlens der regierenden Aristokratie um die Gunst der Menge +war die Unvereinbarkeit dieser Bettler- und Schmeichlerrolle mit +derjenigen Stellung, welche der Regierung den Regierten gegenüber von +Rechts wegen zukommt. Das Regiment ward dadurch aus einem Segen für das +Volk zum Fluch. Man wagte es nicht mehr, über Gut und Blut der Bürger +zum Besten des Vaterlandes nach Bedürfnis zu verfügen. Man ließ die +Bürgerschaft sich an den gefährlichen Gedanken gewöhnen, daß sie selbst +von der vorschußweisen Entrichtung direkter Abgaben gesetzlich befreit +sei - nach dem Kriege gegen Perseus ist kein Schoß mehr von der +Gemeinde gefordert worden. Man ließ lieber das Heerwesen verfallen, als +daß man die Bürger zu dem verhaßten überseeischen Dienst zwang; wie es +den einzelnen Beamten erging, die die Konskription nach der Strenge des +Gesetzes durchzuführen versuchten, ist schon gesagt worden. + +In verhängnisvoller Weise verschlingen sich in dem Rom dieser Zeit die +zwiefachen Mißstände einer ausgearteten Oligarchie und einer noch +unentwickelten, aber schon im Keime vom Wurmfraß ergriffenen +Demokratie. Ihren Parteinamen nach, welche zuerst in dieser Periode +gehört werden, wollten die “Optimaten” den Willen der Besten, die +“Popularen” den der Gemeinde zur Geltung bringen; in der Tat gab es in +dem damaligen Rom weder eine wahre Aristokratie noch eine wahrhaft sich +selber bestimmende Gemeinde. Beide Parteien stritten gleichermaßen für +Schatten und zählten in ihren Reihen nur entweder Schwärmer oder +Heuchler. Beide waren von der politischen Fäulnis gleichmäßig ergriffen +und in der Tat beide gleich nichtig. Beide waren mit Notwendigkeit in +den Status quo gebannt, da weder hüben noch drüben ein politischer +Gedanke, geschweige denn ein politischer Plan sich fand, der über +diesen hinausgegangen wäre, und so vertrugen denn auch beide sich +miteinander so vollkommen, daß sie auf jeden Schritt sich in den +Mitteln wie in den Zwecken begegneten und der Wechsel der Partei mehr +ein Wechsel der politischen Taktik als der politischen Gesinnung war. +Das Gemeinwesen hätte ohne Zweifel gewonnen, wenn entweder die +Aristokratie statt der Bürgerschaftswahlen geradezu einen erblichen +Turnus eingeführt oder die Demokratie ein wirkliches Demagogenregiment +aus sich hervorgebracht hätte. Aber diese Optimaten und diese Popularen +des beginnenden siebenten Jahrhunderts waren die einen für die andern +viel zu unentbehrlich, um sich also auf Tod und Leben zu bekriegen; sie +konnten nicht bloß nicht einander vernichten, sondern, wenn sie es +gekonnt hätten, hätten sie es nicht gewollt. Darüber wich denn freilich +politisch wie sittlich das Gemeinwesen immer mehr aus den Fugen und +ging seiner völligen Auflösung entgegen. + +Es ging denn auch die Krise, durch welche die römische Revolution +eröffnet ward, nicht aus diesem dürftigen politischen Konflikt hervor, +sondern aus den ökonomischen und sozialen Verhältnissen, welche die +römische Regierung wie alles andere lediglich gehen ließ und welche +also Gelegenheit fanden, den seit langem gärenden Krankheitsstoff jetzt +ungehemmt mit furchtbarer Raschheit und Gewaltsamkeit zu zeigen. Seit +uralter Zeit beruhte die römische Ökonomie auf den beiden ewig sich +suchenden und ewig hadernden Faktoren, der bäuerlichen und der +Geldwirtschaft. Schon einmal hatte die letztere im engsten Bunde mit +dem großen Grundbesitz Jahrhunderte lang gegen den Bauernstand einen +Krieg geführt, der mit dem Untergang zuerst der Bauernschaft und +demnächst des ganzen Gemeinwesens endigen zu müssen schien, aber ohne +eigentliche Entscheidung abgebrochen ward infolge der glücklichen +Kriege und der hierdurch möglich gemachten umfänglichen und großartigen +Domanialaufteilung. Es ward schon früher gezeigt, daß in derselben +Zeit, welche den Gegensatz zwischen Patriziern und Plebejern unter +veränderten Namen erneuerte, das unverhältnismäßig anschwellende +Kapital einen zweiten Sturm gegen die bäuerliche Wirtschaft +vorbereitete. Zwar der Weg war ein anderer. Ehemals war der kleine +Bauer ruiniert worden durch Vorschüsse, die ihn tatsächlich zum Meier +seines Gläubigers herabdrückten; jetzt ward er erdrückt durch die +Konkurrenz des überseeischen und insonderheit des Sklavenkorns. Man +schritt fort mit der Zeit; das Kapital führte gegen die Arbeit, das +heißt gegen die Freiheit der Person, den Krieg, natürlich wie immer in +strengster Form Rechtens, aber nicht mehr in der unziemlichen Weise, +daß der freie Mann der Schulden wegen Sklave ward, sondern von Haus aus +mit rechtmäßig gekauften und bezahlten Sklaven; der ehemalige +hauptstädtische Zinsherr trat auf in zeitgemäßer Gestalt als +industrieller Plantagenbesitzer. Allein das letzte Ergebnis war in +beiden Fällen das gleiche: die Entwertung der italischen Bauernstellen, +die Verdrängung der Kleinwirtschaft zuerst in einem Teil der Provinzen, +sodann in Italien durch die Gutswirtschaft; die vorwiegende Richtung +auch dieser in Italien auf Viehzucht und auf Öl- und Weinbau; +schließlich die Ersetzung der freien Arbeiter in den Provinzen wie in +Italien durch Sklaven. Eben wie die Nobilität deshalb gefährlicher war +als das Patriziat, weil jene nicht wie dieses durch eine +Verfassungsänderung sich beseitigen ließ, so war auch diese neue +Kapitalmacht darum gefährlicher als die des vierten und fünften +Jahrhunderts, weil gegen sie mit Änderungen des Landrechts nichts +auszurichten war. + +Ehe wir es versuchen, den Verlauf dieses zweiten großen Konflikts von +Arbeit und Kapital zu schildern, wird es notwendig, über das Wesen und +den Umfang der Sklavenwirtschaft hier einige Andeutungen einzuschalten. +Wir haben es hier nicht zu tun mit der alten, gewissermaßen +unschuldigen Feldsklaverei, wonach der Bauer entweder zugleich mit +seinem Knechte ackert oder auch, wenn er mehr Land besitzt, als er +bewirtschaften kann, denselben entweder als Verwalter oder auch unter +Verpflichtung zur Ablieferung eines Teils vom Ertrag gewissermaßen als +Pächter über einen abgeteilten Meierhof setzt; solche Verhältnisse +bestanden zwar zu allen Zeiten - um Comum zum Beispiel waren sie noch +in der Kaiserzeit die Regel -, allein als Ausnahmezustände bevorzugter +Landschaften und milde verwalteter Güter. Hier ist die Großwirtschaft +mit Sklaven gemeint, welche im römischen Staat wie einst im +karthagischen aus der Übermacht des Kapitals sich entwickelte. Während +für den Sklavenbestand der älteren Zeit die Kriegsgefangenschaft und +die Erblichkeit der Knechtschaft ausreichten, beruht diese +Sklavenwirtschaft, völlig wie die amerikanische, auf systematisch +betriebener Menschenjagd, da bei der auf Leben und Fortpflanzung der +Sklaven wenig Rücksicht nehmenden Nutzungsweise die Sklavenbevölkerung +beständig zusammenschwand und selbst die stets neue Massen auf den +Sklavenmarkt liefernden Kriege das Defizit zu decken nicht ausreichten. +Kein Land, wo dieses jagdbare Wild sich vorfand, blieb hiervon +verschont; selbst in Italien war es keineswegs unerhört, daß der arme +Freie von seinem Brotherrn unter die Sklaven eingestellt ward. Das +Negerland jener Zeit aber war Vorderasien 2, wo die kretischen und +kilikischen Korsaren, die rechten gewerbsmäßigen Sklavenjäger und +Sklavenhändler, die Küsten Syriens und die griechischen Inseln +ausraubten, wo mit ihnen wetteifernd die römischen Zollpächter in den +Klientelstaaten Menschenjagden veranstalteten und die Gefangenen unter +ihr Sklavengesinde untersteckten - es geschah dies in solchem Umfang, +daß um 650 (100) der König von Bithynien sich unfähig erklärte, den +verlangten Zuzug zu leisten, da aus seinem Reich alle arbeitsfähigen +Leute von den Zollpächtern weggeschleppt seien. Auf dem großen +Sklavenmarkt in Delos, wo die kleinasiatischen Sklavenhändler ihre Ware +an die italischen Spekulanten absetzten, sollen an einem Tage bis zu +10000 Sklaven des Morgens ausgeschifft und vor Abend alle verkauft +gewesen sein - ein Beweis zugleich, welche ungeheure Zahl von Sklaven +geliefert ward und wie dennoch die Nachfrage immer noch das Angebot +überstieg. Es war kein Wunder. Bereits in der Schilderung der römischen +Ökonomie des sechsten Jahrhunderts ist es dargelegt worden, daß +dieselbe wie überhaupt die gesamte Großwirtschaft des Altertums auf dem +Sklavenbetriebe ruht. Worauf immer die Spekulation sich warf, ihr +Werkzeug war ohne Ausnahme der rechtlich zum Tier herabgesetzte Mensch. +Durch Sklaven wurden großenteils die Handwerke betrieben, so daß der +Ertrag dem Herrn zufiel. Durch die Sklaven der Steuerpachtgesellschaft +wurde die Erhebung der öffentlichen Gefälle in den untern Graden +regelmäßig beschafft. Ihre Hände besorgten den Grubenbau, die +Pechhütten und was derart sonst vorkommt; schon früh kam es auf, +Sklavenherden nach den spanischen Bergwerken zu senden, deren Vorsteher +sie bereitwillig annahmen und hoch verzinsten. Die Wein- und Olivenlese +wurde in Italien nicht von den Leuten auf dem Gut bewirkt, sondern +einem Sklavenbesitzer in Akkord gegeben. Die Hütung des Viehs ward +allgemein durch Sklaven beschafft; der bewaffneten, häufig berittenen +Hirtensklaven auf den großen Weidestrecken Italiens ist bereits gedacht +worden, und dieselbe Art der Weidewirtschaft ward bald auch in den +Provinzen ein beliebter Gegenstand der römischen Spekulation - so war +zum Beispiel Dalmatien kaum erobert (599 155), als die römischen +Kapitalisten anfingen, dort in italischer Weise die Viehzucht im großen +zu betreiben. Aber in jeder Beziehung weit schlimmer noch war der +eigentliche Plantagenbau, die Bestellung der Felder durch eine Herde +nicht selten mit dem Eisen gestempelter Sklaven, welche mit Fußschellen +an den Beinen unter Aufsehern des Tags die Feldarbeiten taten und +nachts in dem gemeinschaftlichen, häufig unterirdischen Arbeiterzwinger +zusammengesperrt wurden. Diese Plantagenwirtschaft war aus dem Orient +nach Karthago gewandert und scheint durch die Karthager nach Sizilien +gelangt zu sein, wo, wahrscheinlich aus diesem Grunde, die +Plantagenwirtschaft früher und vollständiger als in irgendeinem anderen +Gebiet der römischen Herrschaft durchgebildet auftritt 3. Die +Leontinische Feldmark von etwa 30 000 Jugera urbaren Landes, die als +römische Domäne von den Zensoren verpachtet wurde, finden wir einige +Dezennien nach der Gracchenzeit geteilt unter nicht mehr als 84 +Pächter, von denen also durchschnittlich auf jeden 360 Jugera kamen und +unter denen nur ein einziger Leontiner, die übrigen fremde, meistens +römische Spekulanten waren. Man sieht hieraus, mit welchem Eifer die +römischen Spekulanten hier in die Fußstapfen ihrer Vorgänger traten und +welche großartigen Geschäfte mit sizilischem Vieh und sizilischem +Sklavenkorn die römischen und nichtrömischen Spekulanten gemacht haben +werden, die mit ihren Hutungen und Pflanzungen die schöne Insel +bedeckten. Italien indes blieb von dieser schlimmsten Form der +Sklavenwirtschaft für jetzt noch wesentlich verschont. Wenngleich in +Etrurien, wo die Plantagenwirtschaft zuerst in Italien aufgekommen zu +sein scheint und wo sie wenigstens vierzig Jahre später in +ausgedehntestem Umfange bestand, höchstwahrscheinlich schon jetzt es an +Arbeiterzwingern nicht fehlte, so ward doch die italische +Ackerwirtschaft in dieser Zeit noch überwiegend durch freie Leute oder +doch durch ungefesselte Knechte, daneben durch Akkordierung größerer +Arbeiten an Unternehmer betrieben. Recht deutlich zeigt sich der +Unterschied des italischen Sklavenwesens von dem sizilischen darin, daß +bei dem sizilischen Sklavenaufstand 619-622 (135-1 S2) allein die +Sklaven der nach italischer Weise lebenden mamertinischen Gemeinde sich +nicht beteiligten. + +————————————————————— + +2 Auch damals wurde es geltend gemacht, daß die Menschenrasse daselbst +durch besondere Dauerhaftigkeit sich vorzugsweise zum Sklavenstand +eigne. Schon Plautus (Trip. 542) preist “den Syrerschlag, der mehr +verträgt als ein andrer sonst”. + +3 Auch die hybrid griechische Benennung des Arbeitshauses (ergastulum +von εργάζομαι nach Analogie von stabulum, operculum) deutet darauf, daß +diese Wirtschaftsweise aus einer Gegend des griechischen Sprachgebiets +und in einer noch nicht hellenisch durchgebildeten Zeit den Römern +zukam. + +————————————————————— + +Das Meer von Jammer und Elend, das in diesem elendesten aller +Proletariate sich vor unsern Augen auftut, mag ergründen, wer den Blick +in solche Tiefen wagt; es ist leicht möglich, daß mit denen der +römischen Sklavenschaft verglichen die Summe aller Negerleiden ein +Tropfen ist. Hier kommt es weniger auf den Notstand der Sklavenschaft +selbst an als auf die Gefahren, die sie über den römischen Staat +brachte und auf das Verhalten der Regierung denselben gegenüber. Daß +dies Proletariat weder durch die Regierung ins Leben gerufen war noch +geradezu von ihr beseitigt werden konnte, leuchtet ein; es hätte dies +nur geschehen können durch Heilmittel, die noch schlimmer gewesen wären +als das Übel. Der Regierung lag nur ob, teils die unmittelbare Gefahr +für Eigentum und Leben, womit das Sklavenproletariat die +Staatsangehörigen bedrohte, durch eine ernstliche Sicherheitspolizei +abzuwenden, teils auf die möglichste Beschränkung des Proletariats +durch Hebung der freien Arbeit hinzuwirken. Sehen wir, wie die römische +Aristokratie diesen beiden Aufgaben nachkam. + +Wie die Polizei gehandhabt ward, zeigen die allerorts ausbrechenden +Sklavenverschwörungen und Sklavenkriege. In Italien schienen die wüsten +Vorgänge, wie sie in den unmittelbaren Nachwehen des Hannibalischen +Krieges vorgekommen waren, sich jetzt zu erneuern; auf einmal mußte man +in der Hauptstadt 150, in Minturnae 450, in Sinuessa gar 4000 Sklaven +aufgreifen und hinrichten lassen (621 133). Noch schlimmer stand es +begreiflicherweise in den Provinzen. Auf dem großen Sklavenmarkt zu +Delos und in den attischen Silbergruben hatte man um dieselbe Zeit die +aufständischen Sklaven mit den Waffen zu Paaren zu treiben. Der Krieg +gegen Aristonikos und seine kleinasiatischen “Sonnenstädter” war +wesentlich ein Krieg der Besitzenden gegen die empörten Sklaven. Am +ärgsten aber stand es natürlicherweise in dem gelobten Lande des +Plantagensystems, in Sizilien. Die Räuberwirtschaft war daselbst, zumal +im Binnenlande, längst ein stehendes Übel; sie fing an, sich zur +Insurrektion zu steigern. Ein reicher und mit den italischen Herren in +industrieller Exploitierung seines lebendigen Kapitals wetteifernder +Pflanzer von Enna (Castrogiovanni), Damophilos, ward von seinen +erbitterten Feldsklaven überfallen und ermordet; worauf die wilde Schar +in die Stadt Enna strömte und dort derselbe Vorgang in größerem Maßstab +sich erneuerte. In Masse erhoben die Sklaven sich gegen ihre Herren, +töteten oder knechteten sie und riefen an die Spitze des schon +ansehnlichen Insurgentenheeres einen Wundermann aus dem syrischen +Apameia, der Feuer zu speien und zu orakeln verstand, bisher als Sklave +Eunus genannt, jetzt als Haupt der Insurgenten Antiochos der König der +Syrer. Warum auch nicht? Hatte doch wenige Jahre zuvor ein anderer +syrischer Knecht, der nicht einmal ein Prophet war, in Antiocheia +selbst das königliche Stirnband der Seleukiden getragen. Der tapfere +“Feldherr” des neuen Königs, der griechische Sklave Achäos, +durchstreifte die Insel, und nicht bloß die wilden Hirten strömten von +nah und fern unter die seltsamen Fahnen - auch die freien Arbeiter, die +den Pflanzern alles Üble gönnten, machten mit den empörten Sklaven +gemeinschaftliche Sache. In einer anderen Gegend Siziliens folgte ein +kilikischer Sklave, Kleon, einst in seiner Heimat ein dreister Räuber, +dem gegebenen Beispiel und besetzte Akragas, und da die Häupter +miteinander sich vertrugen, gelang es ihnen nach manchen geringeren +Erfolgen zuletzt, den Prätor Lucius Hypsaeus selbst mit seiner +größtenteils aus sizilischen Milizen bestehenden Armee gänzlich zu +schlagen und sein Lager zu erobern. Hierdurch kam fast die ganze Insel +in die Gewalt der Aufständischen, deren Zahl nach den mäßigsten Angaben +sich auf 70000 Waffenfähige belaufen haben soll; die Römer sahen sich +genötigt, drei Jahre nacheinander (620-622 134-132) Konsuln und +konsularische Heere nach Sizilien abzusenden, bis nach manchen +unentschiedenen, ja zum Teil unglücklichen Gefechten endlich mit der +Einnahme von Tauromenion und von Enna der Aufstand überwältigt war. Vor +der letzteren Stadt, in die sich die entschlossenste Mannschaft der +Insurgenten geworfen hatte, um sich in dieser unbezwinglichen Stellung +zu verteidigen, wie sich Männer verteidigen, die an Rettung wie an +Begnadigung verzweifeln, lagerten die Konsuln Lucius Calpurnius Piso +und Publius Rupilius zwei Jahre hindurch und bezwangen sie endlich mehr +durch den Hunger als durch die Waffen 4. + +————————————————————————- + +4 Noch jetzt finden sich vor Castrogiovanni, da, wo der Aufgang am +wenigsten jäh ist, nicht selten römische Schleuderkugeln mit dem Namen +des Konsuls von 621 (133): L. Piso L. f. cos. + +————————————————————————- + +Das waren die Ergebnisse der Sicherheitspolizei, wie sie von dem +römischen Senat und dessen Beamten in Italien und den Provinzen +gehandhabt ward. Wenn die Aufgabe, das Proletariat zu beseitigen, die +ganze Macht und Weisheit der Regierung erfordert und nur zu oft +übersteigt, so ist dagegen die polizeiliche Niederhaltung desselben für +jedes größere Gemeinwesen verhältnismäßig leicht. Es stände wohl um die +Staaten, wenn die besitzlosen Massen ihnen keine andere Gefahr +bereiteten, als wie sie auch droht von Bären und Wölfen; nur der +Ängsterling und wer mit der albernen Angst der Menge Geschäfte macht, +prophezeit den Untergang der bürgerlichen Ordnung in Sklavenaufständen +oder Proletariatinsurrektionen. Aber selbst dieser leichteren Aufgabe +der Bändigung der gedrückten Massen ward von der römischen Regierung +trotz des tiefsten Friedens und der unerschöpflichen Hilfsquellen des +Staats keineswegs genügt. Es war dies ein Zeichen ihrer Schwäche; aber +nicht ihrer Schwäche allein. Von Rechts wegen war der römische +Statthalter verpflichtet, die Landstraßen rein zu halten und die +aufgegriffenen Räuber, wenn es Sklaven waren, ans Kreuz schlagen zu +lassen; natürlich, denn Sklavenwirtschaft ist nicht möglich ohne +Schreckensregiment. Allein in dieser Zeit war in Sizilien wohl auch +mitunter, wenn die Straßen allzu unsicher wurden, von dem Statthalter +eine Razzia veranstaltet, aber um es mit den italischen Pflanzern nicht +zu verderben, wurden die gefangenen Räuber von der Behörde in der Regel +an ihre Herren zu gutfindender Bestrafung abgegeben; und diese Herren +waren sparsame Leute, welche ihren Hirtenknechten, wenn sie Kleider +begehrten, mit Prügel antworteten und mit der Frage, ob denn die +Reisenden nackt durch das Land zögen. Die Folge solcher Konnivenz war +denn, daß nach Überwältigung des Sklavenaufstandes der Konsul Publius +Rupilius alles, was lebend in seine Hände kam, es heißt über 20000 +Menschen, ans Kreuz schlagen ließ. Es war freilich nicht länger +möglich, das Kapital zu schonen. + +Unendlich schwerer zu gewinnende, freilich auch unendlich reichere +Früchte verhieß die Fürsorge der Regierung für Hebung der freien Arbeit +und folgeweise für Beschränkung des Sklavenproletariats. Leider geschah +in dieser Beziehung schlechterdings gar nichts. In der ersten sozialen +Krise hatte man gesetzlich dem Gutsherrn vorgeschrieben, eine nach der +Zahl seiner Sklavenarbeiter abgemessene Anzahl freier Arbeiter zu +verwenden. Jetzt ward auf Veranlassung der Regierung eine punische +Schrift über den Landbau, ohne Zweifel eine Anweisung zur +Plantagenwirtschaft nach karthagischer Art, zu Nutz und Frommen der +italischen Spekulation ins Lateinische übersetzt -das erste und einzige +Beispiel einer von dem römischen Senat veranlaßten literarischen +Unternehmung! Dieselbe Tendenz offenbart sich in einer wichtigeren +Angelegenheit oder vielmehr in der Lebensfrage für Rom, in dem +Kolonisierungssystem. Es bedurfte nicht der Weisheit, nur der +Erinnerung an den Verlauf der ersten sozialen Krise Roms, um zu +begreifen, daß gegen ein agrikoles Proletariat die einzige ernstliche +Abhilfe in einem umfassenden und regularisierten Emigrationssystem +bestand, wozu die äußeren Verhältnisse Roms die günstigste Gelegenheit +darboten. Bis gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts hatte man in der +Tat dem fortwährenden Zusammenschwinden des italischen Kleinbesitzes +durch fortwährende Gründung neuer Bauernhufen entgegengewirkt. Es war +dies zwar keineswegs in dem Maße geschehen, wie es hätte geschehen +können und sollen; man hatte nicht bloß das seit alten Zeiten von +Privaten okkupierte Domanialland nicht eingezogen, sondern auch weitere +Okkupationen neugewonnenen Landes gestattet und andere sehr wichtige +Erwerbungen, wie namentlich das Gebiet von Capua, zwar nicht der +Okkupation preisgegeben, aber doch auch nicht zur Verteilung gebracht, +sondern als nutzbare Domäne verwertet. Dennoch hatte die Landanweisung +segensreich gewirkt, vielen der Notleidenden Hilfe und allen Hoffnung +gegeben. Allein, nach der Gründung von Luna (577 177) findet sich, +außer der vereinzelt stehenden Anlage der picenischen Kolonie Auximum +(Osimo) im Jahre 597 (157), von weiteren Landanweisungen auf lange +hinaus keine Spur. Die Ursache ist einfach. Da seit der Besiegung der +Boier und Apuaner außer den wenig lockenden ligurischen Tälern neues +Gebiet in Italien nicht gewonnen ward, war daselbst kein anderes Land +zu verteilen als das verpachtete oder okkupierte Domanialland, dessen +Antastung der Aristokratie begreiflicherweise jetzt ebensowenig genehm +war wie vor dreihundert Jahren. Das außerhalb Italien! gewonnene Gebiet +zur Verteilung zu bringen, schien aber aus politischen Gründen +unzulässig; Italien sollte das herrschende Land bleiben und die +Scheidewand zwischen italischen Herren und dienenden Provinzialen nicht +fallen. Wenn man nicht die Rücksichten der höheren Politik oder gar die +Standesinteressen beiseite setzen wollte, blieb der Regierung nichts +übrig, als dem Ruin des italischen Bauernstandes zuzusehen, und also +geschah es. Die Kapitalisten fuhren fort, die kleinen Besitzer +auszukaufen, auch wohl, wenn sie eigensinnig blieben, deren Äcker ohne +Kaufbrief einzuziehen, wobei es begreiflich nicht immer gütlich abging +- eine besonders beliebte Weise war es, dem Bauer, während er im Felde +stand, Weib und Kinder vom Hofe zu stoßen und ihn mittels der Theorie +der vollendeten Tatsache zur Nachgiebigkeit zu bringen. Die +Gutsbesitzer fuhren fort, statt der freien Arbeiter sich vorwiegend der +Sklaven zu bedienen, schon deshalb, weil diese nicht wie jene zum +Kriegsdienst abgerufen werden konnten, und dadurch das freie +Proletariat auf das gleiche Niveau des Elends mit der Sklavenschaft +herabzudrücken. Sie fuhren fort, durch das spottwohlfeile sizilische +Sklavenkorn das italische von dem hauptstädtischen Markt zu verdrängen +und dasselbe auf der ganzen Halbinsel zu entwerten. In Etrurien hatte +die alte einheimische Aristokratie im Bunde mit den römischen +Kapitalisten schon im Jahre 520 (184) es so weit gebracht, daß es dort +keinen freien Bauern mehr gab. Es konnte auf dem Markt der Hauptstadt +laut gesagt werden, daß die Tiere ihr Lager hätten, den Bürgern aber +nichts geblieben sei als Luft und Sonnenschein und daß die, welche die +Herren der Welt hießen, keine Scholle mehr ihr eigen nennten. Den +Kommentar zu diesen Worten lieferten die Zählungslisten der römischen +Bürgerschaft. Vom Ende des Hannibalischen Krieges bis zum Jahre 595 +(159) ist die Bürgerzahl in stetigem Steigen, wovon die Ursache +wesentlich zu suchen ist in den fortdauernden und ansehnlichen +Verteilungen von Domanialland; nach 595 (159), wo die Zählung 328000 +waffenfähige Bürger ergab, zeigt sich dagegen ein regelmäßiges Sinken, +indem sich die Liste im Jahre 600 (154) auf 324000, im Jahre 607 (147) +auf 322000, im Jahre 623 (131) auf 319000 waffenfähige Bürger stellt - +ein erschreckendes Ergebnis für eine Zeit tiefen inneren und äußeren +Friedens. Wenn das so fortging, löste die Bürgerschaft sich auf in +Pflanzer und Sklaven und konnte schließlich der römische Staat, wie es +bei den Parthern geschah, seine Soldaten auf dem Sklavenmarkt kaufen. + +So standen die äußeren und inneren Verhältnisse Roms, als der Staat +eintrat in das siebente Jahrhundert seines Bestandes. Wohin man auch +das Auge wandte, fiel es auf Mißbräuche und Verfall; jedem einsichtigen +und wohlwollenden Mann mußte die Erwägung sich aufdrängen, ob denn hier +nicht zu helfen und zu bessern sei. Es fehlte an solchen in Rom nicht; +aber keiner schien mehr berufen zu dem großen Werk der politischen und +sozialen Reform als der Lieblingssohn des Aemilius Paullus, der +Adoptivenkel des großen Scipio, der dessen glorreichen Afrikanernamen +nicht bloß kraft Erb-, sondern auch kraft eigenen Rechtes trug, Publius +Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (570-625 184-129). Gleich seinem +Vater war er ein maßvoller, durch und durch gesunder Mann, nie krank am +Körper und nie unsicher über den nächsten und notwendigen Entschluß. +Schon in seiner Jugend hatte er sich ferngehalten von dem gewöhnlichen +Treiben der politischen Anfänger, dem Antichambrieren in den Zimmern +der vornehmen Senatoren und den gerichtlichen Deklamationen. Dagegen +liebte er die Jagd - als Siebzehnjähriger hatte er, nachdem er den +Feldzug gegen Perseus unter seinem Vater mit Auszeichnung mitgemacht +hatte, als Belohnung dafür sich freie Pirsch in dem seit vier Jahren +unberührten Wildhag der Könige von Makedonien erbeten - und vor allen +Dingen wandte er gern seine Muße auf wissenschaftlichen und +literarischen Genuß. Durch die Fürsorge seines Vaters war er früh in +diejenige echte griechische Bildung eingeführt worden, welche über das +geschmacklose Hellenisieren der gemeinen Halbbildung hinaushob; durch +seine ernste und treffende Würdigung des Echten und des Schlechten in +dem griechischen Wesen und durch sein adliges Auftreten imponierte +dieser Römer den Höfen des Ostens, ja sogar den spottlustigen +Alexandrinern. Seinen Hellenismus erkannte man vor allem in der feinen +Ironie seiner Rede und in seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht +eigentlich Schriftsteller, zeichnete er doch wie Cato seine politischen +Reden auf - sie wurden gleich den Briefen seiner Adoptivschwester, der +Mutter der Gracchen, von den späteren Literatoren als Meisterstücke +mustergültiger Prosa geschätzt - und zog mit Vorliebe die besseren +griechischen und römischen Literaten in seinen Kreis, welcher +plebejische Umgang ihm freilich nicht wenig verdacht ward von +denjenigen Kollegen im Senat, die auf ihre edle Geburt als einzige +Auszeichnung angewiesen waren. Ein sittlich fester und zuverlässiger +Mann, galt sein Wort bei Freund und Feind; er mied Bauten und +Spekulationen und lebte einfach; dafür handelte er in +Geldangelegenheiten nicht bloß ehrlich und uneigennützig, sondern auch +mit einer dem kaufmännischen Sinn seiner Zeitgenossen seltsam dünkenden +Zartheit und Liberalität. Er war ein tüchtiger Soldat und Offizier; aus +dem Afrikanischen Krieg brachte er den Ehrenkranz heim, der wegen +Rettung gefährdeter Bürger mit eigener Lebensgefahr erteilt zu werden +pflegte, und beendete den Krieg als Feldherr, den er als Offizier +begonnen hatte; an wirklich schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick +zu erproben, boten die Umstände ihm keine Gelegenheit. Scipio war so +wenig wie sein Vater eine geniale Natur - davon zeugt schon seine +Vorliebe für Xenophon, den nüchternen Militär und korrekten +Schriftsteller -, aber ein rechter und echter Mann, der vor andern +berufen schien, dem beginnenden Verfall durch organische Reformen zu +wehren. Um so bezeichnender ist es, daß er es nicht versucht hat. Zwar +half er, wo und wie er konnte, Mißbräuche abstellen und verhindern und +arbeitete namentlich hin auf Verbesserung der Rechtspflege. +Hauptsächlich durch seinen Beistand vermochte Lucius Cassius, ein +tüchtiger Mann von altväterischer Strenge und Ehrenhaftigkeit, gegen +den heftigsten Widerstand der Optimaten, sein Stimmgesetz +durchzubringen, welches für die noch immer den wichtigsten Teil der +Kriminaljurisdiktion umfassenden Volksgerichte die geheime Abstimmung +einführte. Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen +mögen, in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten Männer +der Aristokratie vor die Gerichte. In gleichem Geiste hat er als +Feldherr vor Karthago und vor Numantia die Weiber und die Pfaffen zu +den Toren des Lagers hinausgejagt und das Soldatengesindel wieder +zurück gezwungen unter den eisernen Druck der alten Heereszucht, als +Zensor (612 142) unter der vornehmen Welt der glattkinnigen +Manschettenträger aufgeräumt und mit ernsten Worten die Bürgerschaft +ermahnt, an den rechtschaffenen Sitten der Väter treulich zu halten. +Aber niemand, und er selber am wenigsten, konnte es verkennen, daß die +Verschärfung der Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren +nicht einmal Anfänge waren zur Heilung der organischen Übel, an denen +der Staat krankte. An diese hat Scipio nicht gerührt. Gaius Laelius +(Konsul 614 140), Scipios älterer Freund und sein politischer +Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefaßt, die Einziehung des +unvergebenen, aber vorläufig okkupierten italischen Domaniallandes +vorzuschlagen und durch dessen Aufteilung der zusehends verfallenden +italischen Bauernschaft Hilfe zu bringen; allein er stand von dem +Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm er zu erregen im Begriff war, +und ward fortan “der Verständige” genannt. Auch Scipio dachte also. Er +war von der Größe des Übels völlig durchdrungen und griff, wo er nur +sich selber wagte, mit ehrenwertem Mut ohne Ansehen der Person +rücksichtslos an und durch; allein er hatte sich auch überzeugt, daß +dem Lande nur zu helfen sei um den Preis derselben Revolution, die im +vierten und fünften Jahrhundert aus der Reformfrage sich entsponnen +hatte, und ihm schien, mit Recht oder mit Unrecht, das Heilmittel +schlimmer als das Übel. So stand er mit dem kleinen Kreis seiner +Freunde zwischen den Aristokraten, die ihm seine Befürwortung des +Cassischen Gesetzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch +auch nicht genügte noch genügen wollte, während seines Lebens einsam, +nach seinem Tode gefeiert von beiden Parteien, bald als Vormann der +Aristokratie, bald als Begünstiger der Reform. Bis auf seine Zeit +hatten die Zensoren bei der Niederlegung ihres Amtes die Götter +angerufen, dem Staat größere Macht und Herrlichkeit zu verleihen; der +Zensor Scipio betete, daß sie geneigen möchten, den Staat zu erhalten. +Sein ganzes Glaubensbekenntnis liegt in dem schmerzlichen Ausruf. + +Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das römische Heer aus tiefem +Verfall zum Siege geführt hatte, da getraute sich ein tatenloser +Jüngling, zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hieß Tiberius +Sempronius Gracchus (591-621 163-133). Sein gleichnamiger Vater (Konsul +577, 591; Zensor 585 177, 163;169) war das rechte Musterbild eines +römischen Aristokraten. Die glänzende, nicht ohne Bedrückung der +abhängigen Gemeinden zuwege gebrachte Pracht seiner ädilizischen Spiele +hatte ihm schweren und verdienten Tadel vom Senat zugezogen, während er +durch sein Einschreiten in dem leidigen Prozeß gegen die persönlich ihm +verfeindeten Scipionen sein ritterliches und wohl auch sein +Standesgefühl, durch sein energisches Auftreten gegen die +Freigelassenen in seiner Zensur seine konservative Gesinnung betätigte +und als Statthalter der Ebroprovinz durch Tapferkeit und vor allem +durch Gerechtigkeit sich um sein Vaterland ein bleibendes Verdienst und +zugleich in den Gemütern der unterworfenen Nation ein dauerndes +Gedächtnis in Ehrfurcht und Liebe erwarb. + +Seine Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher +ebenjenes hochherzigen Dazwischentretens wegen den bisherigen Gegner +sich zum Schwiegersohn erkoren hatte, sie selbst eine hochgebildete und +bedeutende Frau, die nach dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand +des Königs von Ägypten zurückgewiesen hatte und im Andenken an den +Gemahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der ältere +von den beiden Söhnen, Tiberius, war eine gute und sittliche Natur, +sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien, zu allem andern eher +bestimmt als zum Agitator der Massen. Mit allen seinen Beziehungen und +Anschauungen gehörte er dem Scipionischen Kreise an, dessen feine +griechische und nationale Durchbildung er und seine Geschwister +teilten. Scipio Aemilianus war zugleich sein Vetter und seiner +Schwester Gemahl; unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die +Erstürmung Karthagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des +strengen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Daß der +tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des Staats an +Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar waren, die +Gedanken namentlich über die Hebung des italischen Bauernstandes mit +aller Lebendigkeit und allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und +steigerte, ist begreiflich; waren es doch nicht bloß die jungen Leute, +denen das Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner +Reformideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius +Claudius, der gewesene Konsul (611 143) und Zensor (618 136), einer der +angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsamen +Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier erblich war +und blieb, daß der Scipionische Kreis den Plan der Domänenaufteilung so +rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es scheint, weil +er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die Zensur in persönliche +Konflikte gekommen war. Ebenso sprach Publius Crassus Mucianus sich +aus, der derzeitige Oberpontifex, als Mensch und Rechtsgelehrter im +Senat wie in der Bürgerschaft allgemein verehrt. Sogar dessen Bruder +Publius Mucius Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen +Jurisprudenz in Rom, schien dem Reformplan nicht abgeneigt, und seine +Stimme war von um so größerem Gewicht, als er gewissermaßen außerhalb +der Parteien stand. Ähnlich dachte Quintus Metellus, der Überwinder +Makedoniens und der Achäer, mehr aber noch als seiner Kriegstaten +halber geachtet als ein Muster alter Zucht und Sitte in seinem +häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben. Tiberius Gracchus stand +diesen Männern nahe, namentlich dem Appius, dessen Tochter er, und dem +Mucianus, dessen Tochter sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war +kein Wunder, daß der Gedanke sich in ihm regte, den Reformplan selber +wiederaufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden werde, die +ihm verfassungsmäßig die Initiative gestatte. Persönliche Motive +mochten ihn hierin bestärken. Der Friedensvertrag, den Mancinus 617 +(147) mit den Numantinern abschloß, war wesentlich Gracchus’ Werk; daß +der Senat ihn kassiert hatte, daß der Feldherr deswegen den Feinden +ausgeliefert worden und Gracchus mit den übrigen höheren Offizieren dem +gleichen Schicksal nur durch die größere Gunst, deren er bei der +Bürgerschaft genoß, entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen +und stolzen Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende +Aristokratie. Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern +philosophierte und politisierte, der Mytilenäer Diophanes, der Kymäer +Gaius Blossius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich +trug; als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte es +nicht an billigenden Stimmen, und mancher öffentliche Anschlag forderte +den Enkel des Afrikaners auf, des armen Volkes, der Rettung Italiens zu +gedenken. + +Am 10. Dezember 620 (134) übernahm Tiberius Gracchus das Volkstribunat. +Die entsetzlichen Folgen der bisherigen Mißregierung, der politische, +militärische, ökonomische, sittliche Verfall der Bürgerschaft lagen +eben damals nackt und bloß jedermann vor Augen. Von den beiden Konsuln +dieses Jahres focht der eine ohne Erfolg in Sizilien gegen die +aufständischen Sklaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit +Monaten beschäftigt, eine kleine spanische Landstadt nicht zu besiegen, +sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Aufforderung +bedurfte, um Gracchus’ Entschluß zur Tat werden zu lassen, sie lag in +diesen, jedes Patrioten Gemüt mit unnennbarer Angst erfüllenden +Zuständen. Sein Schwiegervater versprach Beistand mit Rat und Tat, man +durfte hoffen auf die Unterstützung des Juristen Scaevola, der kurz +vorher zum Konsul für 621 (133) erwählt worden war. So beantragte +Gracchus gleich nach Antritt seines Amtes die Erlassung eines +Ackergesetzes, das in gewissem Sinn nichts war als eine Erneuerung des +Licinisch-Sextischen vom Jahre 387 der Stadt (367). Es sollten danach +die sämtlichen okkupierten und von den Inhabern ohne Entgelt benutzten +Staatsländereien - die verpachteten, wie zum Beispiel das Gebiet von +Capua, berührte das Gesetz nicht - von Staats wegen eingezogen werden, +jedoch mit der Beschränkung, daß der einzelne Okkupant für sich 500 und +für jeden Sohn 250, im ganzen jedoch nicht über 1000 Morgen zu +bleibendem und garantiertem Besitz solle behalten oder dafür Ersatz in +Land in Anspruch nehmen dürfen. Für etwaige, von den bisherigen +Inhabern vorgenommene Verbesserungen, wie Gebäude und Pflanzungen, +scheint man Entschädigung bewilligt zu haben. Das also eingezogene +Domanialland sollte in Lose von 30 Morgen zerschlagen und diese teils +an Bürger, teils an italische Bundesgenossen verteilt werden, nicht als +freies Eigentum, sondern als unveräußerliche Erbpacht, deren Inhaber +das Land zum Feldbau zu benutzen und eine mäßige Rente an die +Staatskasse zu zahlen sich verpflichteten. Ein Kollegium von drei +Männern, die als ordentliche und stehende Beamte der Gemeinde angesehen +und jährlich von der Volksversammlung gewählt wurden, ward mit dem +Einziehungs- und Aufteilungsgeschäft beauftragt, wozu später noch der +wichtige und schwierige Auftrag kam, rechtlich festzustellen, was +Domanialland und was Privateigentum sei. Die Aufteilung war demnach +angelegt als auf unbestimmte Zeit fortgehend, bis daß die sehr +ausgedehnten und schwer festzustellenden italischen Domänen reguliert +sein würden. Mit dem Licinisch-Sextischen Gesetz verglichen waren neu +in dem Sempronischen Ackergesetz teils die Klausel zu Gunsten der +beerbten Besitzer, teils die für die neuen Landstellen beantragte +Erbpachtgutsqualität und Unveräußerlichkeit, teils und vor allem die +regulierte und dauernde Exekutive, deren Fehlen in dem älteren Gesetz +hauptsächlich bewirkt hatte, daß dasselbe ohne nachhaltige praktische +Anwendung geblieben war. + +Den großen Grundbesitzern, die jetzt wie vor drei Jahrhunderten ihren +wesentlichen Ausdruck fanden im Senat, war also der Krieg erklärt, und +seit langem zum erstenmal stand wieder einmal ein einzelner Beamter in +ernsthafter Opposition gegen die aristokratische Regierung. Sie nahm +den Kampf auf in der für solche Fälle hergebrachten Weise, die +Ausschreitungen des Beamtentums durch dieses selbst zu paralysieren. +Ein Kollege des Gracchus, Marcus Octavius, ein entschlossener und von +der Verwerflichkeit des beantragten Domanialgesetzes ernstlich +überzeugter Mann, tat Einspruch, als dasselbe zur Abstimmung gebracht +werden sollte; womit verfassungsmäßig der Antrag beseitigt war. +Gracchus sistierte nun seinerseits die Staatsgeschäfte und die +Rechtspflege und legte seine Siegel auf die öffentlichen Kassen; man +nahm es hin - es war unbequem, aber das Jahr ging ja doch auch zu Ende. +Gracchus, ratlos, brachte sein Gesetz zum zweitenmal zur Abstimmung; +natürlich wiederholte Octavius seinen Einspruch, und auf die +flehentliche Bitte seines Kollegen und bisherigen Freundes, ihm die +Rettung Italiens nicht zu wehren, mochte er erwidern, daß darüber, wie +Italien gerettet werden könne, eben die Ansichten verschieden, sein +verfassungsmäßiges Recht aber, gegen den Antrag des Kollegen seines +Veto sich zu bedienen, außer allem Zweifel sei. Der Senat machte jetzt +den Versuch, Gracchus einen leidlichen Rückzug zu eröffnen; zwei +Konsulare forderten ihn auf, die Angelegenheit in der Kurie +weiterzuverhandeln, und eifrig ging der Tribun hierauf ein. Er suchte +in diesen Antrag hineinzulegen, daß der Senat damit die +Domanialaufteilung im Prinzip zugestanden habe; allein weder lag dies +darin, noch war der Senat irgend geneigt, in der Sache nachzugeben; die +Verhandlungen endigten ohne jedes Resultat. Die verfassungsmäßigen Wege +waren erschöpft. In früheren Zeiten hatte man unter solchen +Verhältnissen es sich nicht verdrießen lassen, den gestellten Antrag +für dies Jahr zur Ruhe zu legen, aber in jedem folgenden ihn +wiederaufzunehmen, bis der Ernst des Forderns und der Druck der +öffentlichen Meinung den Widerstand brachen. Jetzt lebte man rascher. +Gracchus schien auf dem Punkte angelangt, wo er entweder auf die Reform +überhaupt verzichten oder die Revolution beginnen mußte; er tat das +letztere, indem er mit der Erklärung vor die Bürgerschaft trat, daß +entweder er oder Octavius aus dem Kollegium ausscheiden müsse, und +diesem ansann, die Bürger darüber abstimmen zu lassen, welchen von +ihnen sie entlassen wollten. Octavius weigerte sich natürlich, auf +diesen wunderlichen Zweikampf einzugehen; die Interzession war eben +dazu da, solchen Meinungsverschiedenheiten der Kollegen Raum zu +gewähren. Da brach Gracchus die Verhandlung mit dem Kollegen ab und +wandte sich an die versammelte Menge mit der Frage, ob nicht der +Volkstribun, der dem Volk zuwiderhandle, sein Amt verwirkt habe; und +die Versammlung, längst gewohnt, zu allen an sie gebrachten Anträgen ja +zu sagen und größtenteils zusammengesetzt aus dem vom Lande +hereingeströmten und bei der Durchführung des Gesetzes persönlich +interessierten agrikolen Proletariat, bejahte fast einstimmig die +Frage. Marcus Octavius ward auf Gracchus’ Befehl durch die +Gerichtsdiener von der Tribunenbank entfernt und hierauf unter +allgemeinem Jubel das Ackergesetz durchgebracht und die ersten +Teilungsherren ernannt. Die Stimmen fielen auf den Urheber des Gesetzes +nebst seinem erst zwanzigjährigen Bruder Gaius und seinem +Schwiegervater Appius Claudius. Eine solche Familienwahl steigerte die +Erbitterung der Aristokratie. Als die neuen Beamten sich wie üblich an +den Senat wandten, um ihre Ausstattungs- und Taggelder angewiesen zu +erhalten, wurden jene verweigert und ein Taggeld angewiesen von 24 +Assen (10 Groschen). Die Fehde griff immer weiter um sich und ward +immer gehässiger und persönlicher. Das schwierige und verwickelte +Geschäft der Abgrenzung, Einziehung und Aufteilung der Domänen trug den +Hader in jede Bürgergemeinde, ja selbst in die verbündeten italischen +Städte. Die Aristokratie hatte es kein Hehl, daß sie das Gesetz +vielleicht, weil sie müsse, sich gefallen lassen, der unberufene +Gesetzgeber aber ihrer Rache nimmermehr entgehen werde; und die +Ankündigung des Quintus Pompeius, daß er den Gracchus an demselben +Tage, wo er das Tribunat niederlege, in Anklagestand versetzen werde, +war unter den Drohungen, die gegen den Tribun fielen, noch bei weitem +nicht die schlimmste. Gracchus glaubte, wahrscheinlich mit Recht, seine +persönliche Sicherheit bedroht und erschien auf dem Markt nicht mehr +ohne eine Gefolge von drei- bis viertausend Menschen, worüber er selbst +von dem der Reform an sich nicht abgeneigten Metellus im Senat bittere +Worte hören wußte. Überhaupt, wenn er gemeint hatte, mit Durchbringung +seines Ackergesetzes am Ziele zu sein, so hatte er jetzt zu lernen, daß +er erst am Anfang stand. Das “Volk” war ihm zu Dank verpflichtet; aber +er war ein verlorener Mann, wenn er keinen anderen Schirm mehr hatte +als diese Dankbarkeit des Volkes, wenn er demselben nicht unentbehrlich +blieb und durch andere und weitergreifende Vorschläge neue und immer +neue Interessen und Hoffnungen an sich knüpfte. Ebendamals war durch +das Testament des letzten Königs von Pergamon den Römern Reich und +Vermögen der Attaliden zugefallen; Gracchus beantragte bei dem Volk, +den pergamenischen Schatz unter die neuen Landbesitzer zur Anschaffung +des erforderlichen Beschlags zu verteilen und vindizierte überhaupt, +gegen die bestehende Übung, der Bürgerschaft das Recht, über die neue +Provinz definitiv zu entscheiden. Weitere populäre Gesetze, über +Abkürzung der Dienstzeit, über Ausdehnung des Provokationsrechts, über +die Aufhebung des Vorrechts der Senatoren, ausschließlich als +Zivilgeschworene zu fungieren, sogar über die Aufnahme der italischen +Bundesgenossen in den römischen Bürgerverband, soll er vorbereitet +haben; wie weit seine Entwürfe in der Tat gereicht haben, läßt sich +nicht entscheiden, gewiß ist nur, daß Gracchus seine einzige Rettung +darin sah, das Amt, das ihn schützte, von der Bürgerschaft auf ein +zweites Jahr verliehen zu erhalten, und daß er, um diese +verfassungswidrige Verlängerung zu bewirken, weitere Reformen in +Aussicht stellte. Hatte er anfangs sich eingesetzt, um das Gemeinwesen +zu retten, so wußte er jetzt schon, um sich zu retten, das Gemeinwesen +aufs Spiel setzen. Die Bezirke traten zusammen zur Wahl der Tribunen +für das nächste Jahr, und die ersten Abteilungen gaben ihre Stimmen für +Gracchus; aber die Gegenpartei drang mit ihrem Einspruch schließlich +wenigstens insoweit durch, daß die Versammlung unverrichteter Sache +aufgelöst und die Entscheidung auf den folgenden Tag verschoben ward. +Für diesen setzte Gracchus alle Mittel in Bewegung, erlaubte und +unerlaubte: er zeigte sich dem Volke im Trauergewand und empfahl ihm +seinen unmündigen Knaben; für den Fall, daß die Wahl abermals durch +Einspruch gestört werden würde, traf er Vorkehrungen, den Anhang der +Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem +Kapitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahltag heran; +die Stimmen fielen wie an dem vorhergehenden und wieder erfolgte der +Einspruch; der Auflauf begann. Die Bürger zerstreuten sich; die +Wahlversammlung war faktisch aufgehoben; der Kapitolinische Tempel ward +geschlossen; man erzählte sich in der Stadt, bald daß Tiberius die +sämtlichen Tribunen abgesetzt habe, bald daß er ohne Wiederwahl sein +Amt fortzuführen entschlossen sei. Der Senat versammelte sich im Tempel +der Treue, hart bei dem Jupitertempel; die erbittertsten Gegner des +Gracchus führten in der Sitzung das Wort; als Tiberius die Hand nach +der Stirn bewegte, um in dem wilden Getümmel dem Volke zu erkennen zu +geben, daß sein Leben bedroht sei, hieß es, er fordere schon die Leute +auf, sein Haupt mit der königlichen Binde zu schmücken. Der Konsul +Scaevola ward angegangen, den Hochverräter sofort töten zu lassen; als +der gemäßigte, der Reform an sich keineswegs abgeneigte Mann das ebenso +unsinnige wie barbarische Begehren unwillig zurückwies, rief der +Konsular Publius Scipio Nasica, ein harter und leidenschaftlicher +Aristokrat, die Gleichgesinnten auf, sich zu bewaffnen, wie sie +könnten, und ihm zu folgen. Von den Landleuten war zu den Wahlen fast +niemand in die Stadt gekommen; das Stadtvolk wich scheu auseinander, +als es die vornehmen Männer mit Stuhlbeinen und Knütteln in den Händen +zornigen Auges heranstürmen sah; Gracchus versuchte, von wenigen +begleitet, zu entkommen. Aber er stürzte auf der Flucht am Abhang des +Kapitols und ward von einem der Wütenden - Publius Satureius und Lucius +Rufus stritten sich später um die Henkerehre - vor den Bildsäulen der +sieben Könige am Tempel der Treue durch einen Knüttelschlag auf die +Schläfe getötet; mit ihm dreihundert andere Männer, keiner durch +Eisenwaffen. Als es Abend geworden war, wurden die Körper in den +Tiberfluß gestürzt; vergebens bat Gaius, ihm die Leiche seines Bruders +zur Bestattung zu vergönnen. Solch einen Tag hatte Rom noch nicht +erlebt. Der mehr als hundertjährige Hader der Parteien während der +ersten sozialen Krise hatte zu keiner Katastrophe geführt, wie +diejenige war, mit der die zweite begann. Auch den besseren Teil der +Aristokratie mochte schaudern; indes man konnte nicht mehr zurück. Man +hatte nur die Wahl, eine große Zahl der zuverlässigsten Parteigenossen +der Rache der Menge preiszugeben oder die Verantwortung der Untat auf +die Gesamtheit zu übernehmen; das letztere geschah. Man hielt offiziell +daran fest, daß Gracchus die Krone habe nehmen wollen, und +rechtfertigte diesen neuesten Frevel mit dem uralten des Ahala; ja man +überwies sogar die weitere Untersuchung gegen Gracchus’ Mitschuldige +einer besonderen Kommission und ließ deren Vormann, den Konsul Publius +Popillius, dafür sorgen, daß durch Blutsentenzen gegen eine große +Anzahl geringer Leute der Bluttat gegen Gracchus nachträglich eine Art +rechtlichen Gepräges aufgedrückt ward (622 132). Nasica, gegen den vor +allen anderen die Menge Rache schnaubte und der wenigstens den Mut +hatte, sich offen vor dem Volke zu seiner Tat zu bekennen und sie zu +vertreten, ward unter ehrenvollen Vorwänden nach Asien gesandt und bald +darauf (624 130) abwesend mit dem Oberpontifikat bekleidet. Auch die +gemäßigte Partei trennte sich hierin nicht von ihren Kollegen. Gaius +Laelius beteiligte sich bei den Untersuchungen gegen die Gracchaner; +Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht hatte, +verteidigte sie später im Senat; als Scipio Aemilianus nach seiner +Rückkehr aus Spanien (622 132) aufgefordert ward, sich öffentlich +darüber zu erklären, ob er die Tötung seines Schwagers billige oder +nicht, gab er die wenigstens zweideutige Antwort, daß, wofern er nach +der Krone getrachtet habe, er mit Recht getötet worden sei. + +Versuchen wir über diese folgenreichen Ereignisse zu einem Urteil zu +gelangen. Die Einrichtung eines Beamtenkollegiums, das dem gefährlichen +Zusammenschwinden der Bauernschaft durch umfassende Gründung neuer +Kleinstellen aus dem gesamten, dem Staat zur Verfügung stehenden +italischen Grundbesitz entgegenzuwirken hatte, war freilich kein +Zeichen eines gesunden volkswirtschaftlichen Zustandes, aber unter den +obwaltenden politischen und sozialen Verhältnissen zweckmäßig. Die +Aufteilung der Domänen ferner war an sich keine politische Parteifrage; +sie konnte bis auf die letzte Scholle durchgeführt werden, ohne daß die +bestehende Verfassung geändert, das Regiment der Aristokratie irgend +erschüttert ward. Ebensowenig konnte hier von einer Rechtsverletzung +die Rede sein. Anerkanntermaßen war der Eigentümer des okkupierten +Landes der Staat; der Inhaber konnte als bloß geduldeter Besitzer in +der Regel nicht einmal den gutgläubigen Eigentumsbesitz sich +zuschreiben, und wo er ausnahmsweise es konnte, stand ihm entgegen, daß +gegen den Staat nach römischem Landrecht die Verjährung nicht lief. Die +Domänenaufteilung war keine Aufhebung, sondern eine Ausübung des +Eigentums; über die formelle Rechtsbeständigkeit derselben waren alle +Juristen einig. Allein damit, daß die Domänenaufteilung weder der +bestehenden Verfassung Eintrag tat noch eine Rechtsverletzung in sich +schloß, war der Versuch, diese Rechtsansprüche des Staats jetzt +durchzuführen, politisch noch keineswegs gerechtfertigt. Was man wohl +in unsern Tagen erinnert hat, wenn ein großer Grundherr rechtlich ihm +zustehende, aber tatsächlich seit langen Jahren nicht erhobene +Ansprüche plötzlich in ihrem ganzen Umfang geltend zu machen beginnt, +konnte mit gleichem und besserem Rechte auch gegen die Gracchische +Rogation eingewendet werden. Unleugbar hatten diese okkupierten Domänen +zum Teil seit dreihundert Jahren sich in erblichem Privatbesitz +befunden; das Bodeneigentum des Staats, das seiner Natur nach überhaupt +leichter als das des Bürgers den privatrechtlichen Charakter verliert, +war an diesen Grundstücken so gut wie verschollen und die jetzigen +Inhaber durchgängig durch Kauf oder sonstigen lästigen Erwerb zu diesen +Besitzungen gelangt. Der Jurist mochte sagen was er wollte; den +Geschäftsleuten erschien die Maßregel als eine Expropriation der großen +Grundbesitzer zum Besten des agrikolen Proletariats; und in der Tat +konnte auch kein Staatsmann sie anders bezeichnen. Daß die leitenden +Männer der catonischen Epoche nicht anders geurteilt hatten, zeigt sehr +klar die Behandlung eines ähnlichen, zu ihrer Zeit vorgekommenen +Falles. Das im Jahre 543 (211) zur Domäne geschlagene Gebiet von Capua +und den Nachbarstädten war in den folgenden unruhigen Zeiten +tatsächlich größtenteils in Privatbesitz übergegangen. In den letzten +Jahren des sechsten Jahrhunderts, wo man vielfältig, besonders durch +Catos Einfluß bestimmt, die Zügel des Regiments wieder straffer anzog, +beschloß die Bürgerschaft, das campanische Gebiet wieder an sich zu +nehmen und zum Besten des Staatsschatzes zu verpachten (582 172). +Dieser Besitz beruhte auf einer nicht durch vorgängige Aufforderung, +sondern höchstens durch Konnivenz der Behörden gerechtfertigten und +nirgends viel über ein Menschenalter hinaus fortgesetzten Okkupation; +dennoch wurden die Inhaber nicht anders als gegen eine im Auftrag des +Senats von dem Stadtprätor Publius Lentulus ausgeworfene +Entschädigungssumme aus dem Besitz gesetzt (ca. 589 165) 5. Weniger +bedenklich vielleicht, aber doch auch nicht unbedenklich war es, daß +für die neuen Landlose Erbpachtqualität und Unveräußerlichkeit +festgestellt ward. Die liberalsten Grundsätze in bezug auf die +Verkehrsfreiheit hatten Rom groß gemacht, und es vertrug sich sehr +wenig mit dem Geist der römischen Institutionen, daß diese neuen Bauern +von oben herab angehalten wurden, ihr Grundstück in einer bestimmten +Weise zu bewirtschaften, und daß für dasselbe Retraktrechte und alle +der Verkehrsbeschränkung anhängenden Einschnürungsmaßregeln +festgestellt wurden. + +———————————————————————- + +5 Die bisher nur aus Cicero (leg. agr. 2, 31, 82; vgl. Liv. 42, 2, 19) +teilweise bekannte Tatsache wird jetzt durch die Fragmente des +Licinianus (p. 4) wesentlich vervollständigt. Die beiden Berichte sind +dahin zu vereinigen, daß Lentulus die Possessoren gegen eine von ihm +festgesetzte Entschädigungssumme expropriierte, bei den wirklichen +Grundeigentümern aber nichts ausrichtete, da er sie zu expropriieren +nicht befugt war und sie auf Verkauf sich nicht einlassen wollten. + +——————————————————————— + +Man wird einräumen, daß diese Einwürfe gegen das Sempronische +Ackergesetz nicht leicht wogen. Dennoch entscheiden sie nicht. Jene +tatsächliche Expropriation der Domänenbesitzer war sicher ein großes +Übel; aber sie war dennoch das einzige Mittel, um einem noch viel +größeren, ja den Staat geradezu vernichtenden, dem Untergang des +italischen Bauernstandes, wenigstens auf lange hinaus zu steuern. Darum +begreift man es wohl, warum die ausgezeichnetsten und patriotischsten +Männer auch der konservativen Partei, an ihrer Spitze Gaius Laelius und +Scipio Aemilianus, die Domänenaufteilung an sich billigten und +wünschten. + +Aber wenn der Zweck des Tiberius Gracchus wohl der großen Majorität der +einsichtigen Vaterlandsfreunde gut und heilsam erschienen ist, so hat +dagegen der Weg, den er einschlug, keines einzigen nennenswerten und +patriotischen Mannes Billigung gefunden und finden können. Rom wurde um +diese Zeit regiert durch den Senat. Wer gegen die Majorität des Senats +eine Verwaltungsmaßregel durchsetzte, der machte Revolution. Es war +Revolution gegen den Geist der Verfassung, als Gracchus die +Domänenfrage vor das Volk brachte; Revolution auch gegen den +Buchstaben, als er das Korrektiv der Staatsmaschine, durch welches der +Senat die Eingriffe in sein Regiment verfassungsmäßig beseitigte, die +tribunizische Interzession durch die mit unwürdiger Sophistik +gerechtfertigte Absetzung seines Kollegen nicht bloß für jetzt, sondern +für alle Folgezeit zerstörte. Indes nicht hierin liegt die sittliche +und politische Verkehrtheit von Gracchus’ Tun. Für die Geschichte gibt +es keine Hochverratsparagraphen; wer eine Macht im Staat zum Kampf +aufruft gegen die andere, der ist gewiß ein Revolutionär, aber +vielleicht zugleich ein einsichtiger und preiswürdiger Staatsmann. Der +wesentliche Fehler der Gracchischen Revolution liegt in einer nur zu +oft übersehenen Tatsache: in der Beschaffenheit der damaligen +Bürgerversammlungen. Das Ackergesetz des Spurius Cassius und das des +Tiberius Gracchus hatten in der Hauptsache denselben Inhalt und +denselben Zweck; dennoch war das Beginnen beider Männer nicht weniger +verschieden als die ehemalige römische Bürgerschaft, welche mit den +Latinern und Hernikern die Volskerbeute teilte, und die jetzige, die +die Provinzen Asia und Africa einrichten ließ. Jene war eine städtische +Gemeinde, die zusammentreten und zusammen handeln konnte; diese ein +großer Staat, dessen Angehörige in einer und derselben Urversammlung zu +vereinigen und diese Versammlung entscheiden zu lassen ein ebenso +klägliches wie lächerliches Resultat gab. Es rächte sich hier der +Grundfehler der Politie des Altertums, daß sie nie vollständig von der +städtischen zur staatlichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem +System der Urversammlungen zum parlamentarischen fortgeschritten ist. +Die souveräne Versammlung Roms war, was die souveräne Versammlung in +England sein würde, wenn statt der Abgeordneten die sämtlichen Wähler +Englands zum Parlament zusammentreten wollten: eine ungeschlachte, von +allen Interessen und allen Leidenschaften wüst bewegte Masse, in der +die Intelligenz spurlos verschwand; eine Masse, die weder die +Verhältnisse zu übersehen noch auch nur einen eigenen Entschluß zu +fassen vermochte; eine Masse vor allem, in welcher, von seltenen +Ausnahmefällen abgesehen, unter dem Namen der Bürgerschaft ein paar +hundert oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufällig +aufgegriffene Individuen handelten und stimmten. Die Bürgerschaft fand +sich in den Bezirken wie in den Hundertschaften durch ihre faktischen +Repräsentanten in der Regel ungefähr ebenso genügend vertreten wie in +den Kurien durch die daselbst von Rechts wegen sie repräsentierenden +dreißig Gerichtsdiener; und eben wie der sogenannte Kurienbeschluß +nichts war als ein Beschluß desjenigen Magistrats, der die +Gerichtsdiener zusammenrief, so war auch der Tribus- und +Zenturienbeschluß in dieser Zeit wesentlich nichts als ein durch einige +obligate Jaherren legalisierter Beschluß des vorschlagenden Beamten. +Wenn aber in diesen Stimmversammlungen, den Komitien, sowenig man es +auch mit der Qualifikation genau nahm, im ganzen doch nur Bürger +erschienen, so war dagegen in den bloßen Volksversammlungen, den +Kontionen, platz- und schreiberechtigt, was nur zwei Beine hatte, +Ägypter und Juden, Gassenbuben und Sklaven. In den Augen des Gesetzes +bedeutete allerdings ein solches Meeting nichts; es konnte nicht +abstimmen noch beschließen. Allein tatsächlich beherrschte dasselbe die +Gasse und schon war die Gassenmeinung eine Macht in Rom und kam etwas +darauf an, ob diese wüste Masse bei dem, was ihr mitgeteilt ward, +schwieg oder schrie, ob sie klatschte und jubelte oder den Redner +auspfiff und anheulte. Nicht viele hatten den Mut, die Haufen +anzuherrschen, wie es Scipio Aemilianus tat, als sie wegen seiner +Äußerung über den Tod seines Schwagers ihn auszischten: Ihr da, sprach +er, denen Italien nicht Mutter ist sondern Stiefmutter, ihr habt zu +schweigen! Und da sie noch lauter tobten: ihr meint doch nicht, daß ich +die losgebunden fürchten werde, die ich in Ketten auf den Sklavenmarkt +geschickt habe? + +Daß man der verrosteten Maschine der Komitien sich für die Wahlen und +für die Gesetzgebung bediente, war schon übel genug. Aber wenn man +diesen Massen, zunächst den Komitien und faktisch auch den Kontionen, +Eingriffe in die Verwaltung gestattete und dem Senat das Werkzeug zur +Verhütung solcher Eingriffe aus den Händen wand; wenn man gar diese +sogenannte Bürgerschaft aus dem gemeinen Säckel sich selber Äcker samt +Zubehör dekretieren ließ; wenn man einem jeden, dem die Verhältnisse +und sein Einfluß beim Proletariat die Gelegenheit gab, die Gassen auf +einige Stunden zu beherrschen, die Möglichkeit eröffnete, seinen +Projekten den legalen Stempel des souveränen Volkswillens aufzudrücken, +so war man nicht am Anfang, sondern am Ende der Volksfreiheit, nicht +bei der Demokratie angelangt, sondern bei der Monarchie. Darum hatten +in der vorigen Periode Cato und seine Gesinnungsgenossen solche Fragen +nie an die Bürgerschaft gebracht, sondern lediglich sie im Senat +verhandelt. Darum bezeichnen Gracchus’ Zeitgenossen, die Männer des +Scipionischen Kreises, das Flaminische Ackergesetz von 522 (232), den +ersten Schritt auf jener verhängnisvollen Bahn, als den Anfang des +Verfalles der römischen Größe. Darum ließen dieselben den Urheber der +Domanialteilung fallen und erblickten in seinem schrecklichen Ende +gleichsam einen Damm gegen künftige ähnliche Versuche, während sie doch +die von ihm durchgesetzte Domanialteilung selbst mit aller Energie +festhielten und nutzten - so jammervoll standen die Dinge in Rom, daß +redliche Patrioten in die grauenvolle Heuchelei hineingedrängt wurden, +den Übeltäter preiszugeben und die Frucht der Übeltat sich anzueignen. +Darum hatten auch die Gegner des Gracchus in gewissem Sinne nicht +unrecht, als sie ihn beschuldigten, nach der Krone zu streben. Es ist +für ihn viel mehr eine zweite Anklage als eine Rechtfertigung, daß +dieser Gedanke ihm selber wahrscheinlich fremd war. Das aristokratische +Regiment war so durchaus verderblich, daß der Bürger, der den Senat ab- +und sich an dessen Stelle zu setzen vermochte, vielleicht dem +Gemeinwesen mehr noch nützte, als er ihm schadete. Allein dieser kühne +Spieler war Tiberius Gracchus nicht, sondern ein leidlich fähiger, +durchaus wohlmeinender, konservativ patriotischer Mann, der eben nicht +wußte, was er begann, der im besten Glauben, das Volk zu rufen, den +Pöbel beschwor und nach der Krone griff, ohne selbst es zu wissen, bis +die unerbittliche Konsequenz der Dinge ihn unaufhaltsam drängte in die +demagogisch-tyrannische Bahn, bis mit der Familienkommission, den +Eingriffen in das öffentliche Kassenwesen, den durch Not und +Verzweiflung erpreßten weiteren “Reformen”, der Leibwache von der Gasse +und den Straßengefechten der bedauernswerte Usurpator Schritt für +Schritt sich und andern klarer hervortrat, bis endlich die entfesselten +Geister der Revolution den unfähigen Beschwörer packten und +verschlangen. Die ehrlose Schlächterei, durch die er endigte, richtet +sich selber, wie sie die Adelsrotte richtet, von der sie ausging; +allein die Märtyrerglorie, mit der sie Tiberius Gracchus’ Namen +geschmückt hat, kam hier wie gewöhnlich an den unrechten Mann. Die +besten seiner Zeitgenossen urteilten anders. Als dem Scipio Aemilianus +die Katastrophe gemeldet ward, sprach er die Worte Homers: “Also +verderb’ ein jeder, der ähnliche Werke vollführt hat!” Und als des +Tiberius jüngerer Bruder Miene machte, in gleicher Weise aufzutreten, +schrieb ihm die eigene Mutter: “Wird denn unser Haus des Wahnsinns kein +Ende finden? Wo wird die Grenze sein? Haben wir noch nicht hinreichend +uns zu schämen, den Staat verwirrt und zerrüttet zu haben?” So sprach +nicht die besorgte Mutter, sondern die Tochter des Überwinders der +Karthager, die noch ein größeres Unglück kannte und erfuhr als den Tod +ihrer Kinder. + + + + +KAPITEL III. +Die Revolution und Gaius Gracchus + + +Tiberius Gracchus war tot; indes seine beiden Werke, die Landaufteilung +wie die Revolution, überlebten ihren Urheber. Dem verkommenen agrikolen +Proletariat gegenüber konnte der Senat wohl einen Mord wagen, aber +nicht diesen Mord zur Aufhebung des Sempronischen Ackergesetzes +benutzen; durch den wahnsinnigen Ausbruch der Parteiwut war das Gesetz +selbst weit mehr befestigt als erschüttert worden. Die reformistisch +gesinnte Partei der Aristokratie, welche die Domanialteilung offen +begünstigte, an ihrer Spitze Quintus Metellus, eben um diese Zeit (623 +131) Zensor, und Publius Scaevola, gewann in Verbindung mit der Partei +des Scipio Aemilianus, die der Reform wenigstens nicht abgeneigt war, +selbst im Senat für jetzt die Oberhand, und ausdrücklich wies ein +Senatsbeschluß die Teilherren an, ihre Arbeiten zu beginnen. Nach dem +Sempronischen Gesetz sollten dieselben jährlich von der Gemeinde +ernannt werden, und es ist dies auch wahrscheinlich geschehen; allein +bei der Beschaffenheit ihrer Aufgabe war es natürlich, daß die Wahl +wieder und wieder auf dieselben Männer fiel und eigentliche Neuwahlen +nur stattfanden, wo ein Platz durch den Tod sich erledigte. So trat für +Tiberius Gracchus in dieselbe ein der Schwiegervater seines Bruders +Gaius, Publius Crassus Mucianus; und als dieser 624 (130) gefallen und +auch Appius Claudius gestorben war, leiteten das Teilungsgeschäft in +Gemeinschaft mit dem jungen Gaius Gracchus zwei der tätigsten Führer +der Bewegungspartei, Marcus Fulvius Flaccus und Gaius Papirius Carbo. +Schon die Namen dieser Männer bürgen dafür, daß man das Geschäft der +Einziehung und Aufteilung des okkupierten Domaniallandes mit Eifer und +Nachdruck angriff, und in der Tat fehlt es auch dafür nicht an +Beweisen. Bereits der Konsul des Jahres 622 (132), Publius Popillius, +derselbe, der die Blutgerichte gegen die Anhänger des Tiberius Gracchus +leitete, verzeichnet auf einem öffentlichen Denkmal sich als “den +ersten, der auf den Domänen die Hirten aus- und dafür die Bauern +eingewiesen habe”, und auch sonst ist es überliefert, daß sich die +Aufteilung über ganz Italien erstreckte und überall in den bisherigen +Gemeinden die Zahl der Bauernstellen vermehrt ward - denn nicht durch +Gründung neuer Gemeinden, sondern durch Verstärkung der bestehenden die +Bauernschaft zu heben, war die Absicht des Sempronischen Ackergesetzes. +Den Umfang und die tiefgreifende Wirkung dieser Aufteilungen bezeugen +die zahlreichen in der römischen Feldmesserkunst auf die Gracchischen +Landanweisungen zurückgehenden Einrichtungen; wie denn zum Beispiel +eine gehörige und künftigen Irrungen vorbeugende Marksteinsetzung +zuerst durch die Gracchischen Grenzgerichte und Landaufteilungen ins +Leben gerufen zu sein scheint. Am deutlichsten aber reden die Zahlen +der Bürgerliste. Die Schätzung, die im Jahre 623 (131) veröffentlicht +ward und tatsächlich wohl Anfang 622 (132) stattfand, ergab nicht mehr +als 319000 waffenfähige Bürger, wogegen sechs Jahre später (629 125) +statt des bisherigen Sinkens sich die Ziffer auf 395000, also um 76000 +hebt - ohne allen Zweifel lediglich infolge dessen, was die +Teilungskommission für die römische Bürgerschaft tat. Ob dieselbe auch +bei den Italikern die Bauernstellen in demselben Verhältnis vermehrt +hat, läßt sich bezweifeln; auf alle Fälle war das, was sie erreichte, +ein großes und segensreiches Resultat. Freilich ging es dabei nicht ab +ohne vielfache Verletzung achtbarer Interessen und bestehender Rechte. +Das Teilherrenamt, besetzt mit den entschiedensten Parteimännern und +durchaus Richter in eigener Sache, ging mit seinen Arbeiten +rücksichtslos und selbst tumultuarisch vor; öffentliche Anschläge +forderten jeden, der dazu imstande sei, auf über die Ausdehnung des +Domaniallandes Nachweisungen zu geben; unerbittlich wurde +zurückgegangen auf die alten Erdbücher und nicht bloß neue und alte +Okkupation ohne Unterschied wieder eingefordert, sondern auch +vielfältig wirkliches Privateigentum, über das der Inhaber sich nicht +genügend auszuweisen vermochte, mitkonfisziert. Wie laut und +großenteils begründet auch die Klagen waren, der Senat ließ die +Aufteiler gewähren: es war einleuchtend, daß, wenn man einmal die +Domanialfrage erledigen wollte, ohne solches rücksichtsloses +Durchgreifen schlechterdings nicht durchzukommen war. Allein es hatte +dies Gewährenlassen doch seine Grenze. Das italische Domanialland war +nicht lediglich in den Händen römischer Bürger; große Strecken +desselben waren einzelnen bundesgenössischen Gemeinden durch Volks- +oder Senatsbeschlüsse zu ausschließlicher Benutzung zugewiesen, andere +Stücke von latinischen Bürgern erlaubter- oder unerlaubterweise +okkupiert worden. Das Teilungsamt griff endlich auch diese Besitzungen +an. Nach formalem Rechte war die Einziehung der von Nichtbürgern +einfach okkupierten Stücke unzweifelhaft zulässig, nicht minder +vermutlich die Einziehung des durch Senatsbeschlüsse, ja selbst des +durch Gemeindebeschlüsse den italischen Gemeinden überwiesenen +Domaniallandes, da der Staat damit keineswegs auf sein Eigentum +verzichtete und allem Anschein nach an Gemeinden eben wie an Private +nur auf Widerruf verlieh. Allein die Beschwerden dieser Bundes- oder +Untertanengemeinden, daß Rom die in Kraft stehenden Abmachungen nicht +einhalte, konnten doch nicht, wie die Klagen der durch das Teilungsamt +verletzten römischen Bürger, einfach beiseite gelegt werden. Rechtlich +mochten jene nicht besser begründet sein als diese; aber wenn es in +diesem Falle sich um Privatinteressen von Staatsangehörigen handelte, +so kam in Beziehung auf die latinischen Possessionen in Frage, ob es +politisch richtig sei, die militärisch so wichtigen und schon durch +zahlreiche rechtliche und faktische Zurücksetzungen Rom sehr +entfremdeten latinischen Gemeinden noch durch diese empfindliche +Verletzung ihrer materiellen Interessen aufs neue zu verstimmen. Die +Entscheidung lag in den Händen der Mittelpartei; sie war es gewesen, +die nach der Katastrophe des Gracchus im Bunde mit seinen Anhängern die +Reform gegen die Oligarchie geschützt hatte, und sie allein vermochte +jetzt in Vereinigung mit der Oligarchie der Reform eine Schranke zu +setzen. Die Latiner wandten sich persönlich an den hervorragendsten +Mann dieser Partei, Scipio Aemilianus, mit der Bitte, ihre Rechte zu +schützen; er sagte es zu, und wesentlich durch seinen Einfluß ^1 ward +im Jahre 625 (129) durch Volksschluß der Teilkommission die +Gerichtsbarkeit entzogen und die Entscheidung, was Domanial- und was +Privatbesitz sei, an die Zensoren und in deren Vertretung an die +Konsuln gewiesen, denen sie nach den allgemeinen Rechtsbestimmungen +zukam. Es war dies nichts anderes als eine Sistierung der weiteren +Domanialaufteilung in milder Form. Der Konsul Tuditanus, keineswegs +gracchanisch gesinnt und wenig geneigt, mit der bedenklichen +Bodenregulierung sich zu befassen, nahm die Gelegenheit wahr, zum +illyrischen Heer abzugehen und das ihm aufgetragene Geschäft +unvollzogen zu lassen; die Teilungskommission bestand zwar fort, aber +da die gerichtliche Regulierung des Domaniallandes stockte, blieb auch +sie notgedrungen untätig. Die Reformpartei war tief erbittert. Selbst +Männer wie Publius Mucius und Quintus Metellus mißbilligten Scipios +Zwischentreten. In anderen Kreisen begnügte man sich nicht mit der +Mißbilligung. Auf einen der nächsten Tage hatte Scipio einen Vortrag +über die Verhältnisse der Latiner angekündigt; am Morgen dieses Tages +ward er tot in seinem Bette gefunden. Daß der sechsundfünfzigjährige in +voller Gesundheit und Kraft stehende Mann, der noch den Tag vorher +öffentlich gesprochen und dann am Abend, um seine Rede für den nächsten +Tag zu entwerfen, sich früher als gewöhnlich in sein Schlafgemach +zurückgezogen hatte, das Opfer eines politischen Mordes geworden ist, +kann nicht bezweifelt werden; er selbst hatte kurz vorher der gegen ihn +gerichteten Mordanschläge öffentlich erwähnt. Welche meuchelnde Hand +den ersten Staatsmann und den ersten Feldherrn seiner Zeit bei +nächtlicher Weile erwürgt hat, ist nie an den Tag gekommen, und es +ziemt der Geschichte weder die aus dem gleichzeitigen Stadtklatsch +überlieferten Gerüchte zu wiederholen noch den kindischen Versuch +anzustellen, aus solchen Akten die Wahrheit zu ermitteln. Nur daß der +Anstifter der Tat der Gracchenpartei angehört haben muß, ist +einleuchtend: Scipios Ermordung war die demokratische Antwort auf die +aristokratische Blutszene am Tempel der Treue. Die Gerichte schritten +nicht ein. Die Volkspartei, mit Recht fürchtend, daß ihre Führer, Gaius +Gracchus, Flaccus, Carbo, schuldig oder nicht, in den Prozeß möchten +verwickelt werden, widersetzte sich mit allen Kräften der Einleitung +einer Untersuchung; und auch die Aristokratie, die an Scipio ebensosehr +einen Gegner wie einen Verbündeten verlor, ließ nicht ungern die Sache +ruhen. Die Menge und die gemäßigten Männer standen entsetzt; keiner +mehr als Quintus Metellus, der Scipios Einschreiten gegen die Reform +gemißbilligt hatte, aber von solchen Bundesgenossen schaudernd sich +abwandte und seinen vier Söhnen befahl, die Bahre des großen Gegners +zur Feuerstätte zu tragen. Die Leichenbestattung ward beschleunigt; +verhüllten Hauptes ward der Letzte aus dem Geschlecht des Siegers von +Zama hinausgetragen, ohne daß jemand zuvor des Toten Antlitz hätte +sehen dürfen, und die Flammen des Scheiterhaufens verzehrten mit der +Hülle des hohen Mannes zugleich die Spuren des Verbrechens. + +————————————————————————————— + +^1 Hierher gehört ein Rede contra legem iudiciariam Ti. Gracchi, womit +nicht, wie man gesagt hat, ein Gesetz über Quästionengerichte gemeint +ist, sondern das Supplementargesetz zu seiner Ackerrogation: ut +triumviri iudicarent, qua publicus ager, qua privatus esset (Liv. ep. +28; oben S. 95). + +————————————————————————————— + +Die Geschichte Roms kennt manchen genialeren Mann als Scipio +Aemilianus, aber keinen, der an sittlicher Reinheit, an völliger +Abwesenheit des politischen Egoismus, an edelster Vaterlandsliebe ihm +gleich kommt; vielleicht auch keinen, dem das Geschick eine tragischere +Rolle zugewiesen hat. Des besten Willens und nicht gemeiner Fähigkeiten +sich bewußt, war er dazu verurteilt, den Ruin seines Vaterlandes vor +seinen Augen sich vollziehen zu sehen und jeden ernstlichen Versuch +einer Rettung, in der klaren Einsicht, nur übel damit ärger zu machen, +in sich niederzukämpfen; dazu verurteilt, Untaten wie die des Nasica +gutheißen und zugleich das Werk des Ermordeten gegen seine Mörder +verteidigen zu müssen. Dennoch durfte er sich sagen, nicht umsonst +gelebt zu haben. Er war es, wenigstens ebensosehr wie der Urheber des +Sempronischen Gesetzes, dem die römische Bürgerschaft einen Zuwachs von +gegen 80000 neuen Bauernhufen verdankte; er war es auch, der diese +Domanialteilung hemmte, als sie genützt hatte, was sie nützen konnte. +Daß es an der Zeit war, damit abzubrechen, ward zwar damals auch von +wohlmeinenden Männern bestritten; aber die Tatsache, daß auch Gaius +Gracchus auf diese nach dem Gesetz seines Bruders zu verteilenden und +unverteilt gebliebenen Besitzungen nicht ernstlich zurückkam, spricht +gar sehr dafür, daß Scipio im wesentlichen den richtigen Moment traf. +Beide Maßregeln wurden den Parteien abgezwungen, die erste der +Aristokratie, die zweite den Reformfreunden; beide bezahlte ihr Urheber +mit seinem Leben. Es war Scipio beschieden, auf manchem Schlachtfeld +für sein Vaterland zu fechten und unverletzt heimzukehren, um dort den +Tod von Mörderhand zu finden; aber er ist in seiner stillen Kammer +nicht minder für Rom gestorben, als wenn er vor Karthagos Mauern +gefallen wäre. + +Die Landaufteilung war zu Ende; die Revolution ging an. Die +revolutionäre Partei, die in dem Teilungsamt gleichsam eine +konstituierte Vorstandschaft besaß, hatte schon bei Scipios Lebzeiten +hier und dort mit dem bestehenden Regiment geplänkelt; namentlich +Carbo, eines der ausgezeichnetsten Rednertalente dieser Zeit, hatte als +Volkstribun 623 (131) dem Senat nicht wenig zu schaffen gemacht, die +geheime Abstimmung in den Bürgerschaftsversammlungen durchgesetzt, +soweit es nicht bereits früher geschehen war, und sogar den +bezeichnenden Antrag gestellt, den Volkstribunen die Wiederbewerbung um +dasselbe Amt für das unmittelbar folgende Jahr freizugeben, also das +Hindernis, an dem Tiberius Gracchus zunächst gescheitert war, +gesetzlich zu beseitigen. Der Plan war damals durch den Widerstand +Scipios vereitelt worden; einige Jahre später, wie es scheint nach +dessen Tode, wurde das Gesetz, wenn auch mit beschränkenden Klauseln, +wieder ein- und durchgebracht 2. Die hauptsächliche Absicht der Partei +ging indes auf Reaktivierung des faktisch außer Tätigkeit gesetzten +Teilungsamts: unter den Führern ward der Plan ernstlich besprochen, die +Hindernisse, die die italischen Bundesgenossen derselben +entgegenstellten, durch Erteilung des Bürgerrechts an dieselben zu +beseitigen, und die Agitation nahm vorwiegend diese Richtung. Um ihr zu +begegnen, ließ der Senat 628 (126) durch den Volkstribun Marcus Iunius +Pennus die Ausweisung sämtlicher Nichtbürger aus der Hauptstadt +beantragen und trotz des Widerstandes der Demokraten, namentlich des +Gaius Gracchus, und der durch diese gehässige Maßregel hervorgerufenen +Gärung in den latinischen Gemeinden ging der Vorschlag durch. Marcus +Fulvius Flaccus antwortete im folgenden Jahr (629 125) als Konsul mit +dem Antrag, den Bürgern der Bundesgemeinden die Gewinnung der römischen +Bürgerrechte zu erleichtern und auch denen, die sie nicht gewonnen, +gegen Straferkenntnisse die Provokation an die römischen Komitien +einzuräumen; allein er stand fast allein - Carbo hatte inzwischen die +Farbe gewechselt und war jetzt eifriger Aristokrat, Gaius Gracchus +abwesend als Quästor in Sardinien - und scheiterte an dem Widerstand +nicht bloß des Senats, sondern auch der Bürgerschaft, die der +Ausdehnung ihrer Privilegien auf noch weitere Kreise sehr wenig geneigt +war. Flaccus verließ Rom, um den Oberbefehl gegen die Kelten zu +übernehmen; auch so durch seine transalpinischen Eroberungen den großen +Plänen der Demokratie vorarbeitend, zog er zugleich sich damit aus der +üblen Lage heraus, gegen die von ihm selber aufgestifteten +Bundesgenossen die Waffen tragen zu müssen. Fregellae, an der Grenze +von Latium und Kampanien am Hauptübergang über den Liris inmitten eines +großen und fruchtbaren Gebiets gelegen, damals vielleicht die zweite +Stadt Italiens und in den Verhandlungen mit Rom der gewöhnliche +Wortführer für die sämtlichen latinischen Kolonien, begann infolge der +Zurückweisung des von Flaccus eingebrachten Antrags den Krieg gegen Rom +- seit hundertfünfzig Jahren der erste Fall einer ernstlichen, nicht +durch auswärtige Mächte herbeigeführten Schilderhebung Italiens gegen +die römische Hegemonie. Indes gelang es diesmal noch, den Brand, ehe er +andere bundesgenössische Gemeinden ergriff, im Keime zu ersticken; +nicht durch die Überlegenheit der römischen Waffen, sondern durch den +Verrat eines Fregellaners, des Quintus Numitorius Pullus, ward der +Prätor Lucius Opimius rasch Meister über die empörte Stadt, die ihr +Stadtrecht und ihre Mauern verlor und gleich Capua ein Dorf ward. Auf +einem Teil ihres Gebietes ward 630 (124) die Kolonie Fabrateria +gegründet; der Rest und die ehemalige Stadt selbst wurden unter die +umliegenden Gemeinden verteilt. Das schnelle und furchtbare +Strafgericht schreckte die Bundesgenossenschaft, und endlose +Hochverratsprozesse verfolgten nicht bloß die Fregellaner, sondern auch +die Führer der Volkspartei in Rom, die begreiflicherweise der +Aristokratie als an dieser Insurrektion mitschuldig galten. Inzwischen +erschien Gaius Gracchus wieder in Rom. Die Aristokratie hatte den +gefürchteten Mann zuerst in Sardinien festzuhalten gesucht, indem sie +die übliche Ablösung unterließ und sodann, da er ohne hieran sich zu +kehren dennoch zurückkam, ihn als einen der Urheber des Fregellanischen +Aufstandes vor Gericht gezogen (629-630 125-124). Allein die +Bürgerschaft sprach ihn frei, und nun hob auch er den Handschuh auf, +bewarb sich um das Volkstribunat und ward in einer ungewöhnlich +zahlreich besuchten Wahlversammlung zum Volkstribun auf das Jahr 631 +(123) ernannt. Der Krieg war also erklärt. Die demokratische Partei, +immer arm an leitenden Kapazitäten, hatte neun Jahre hindurch +notgedrungen so gut wie gefeiert; jetzt war der Waffenstillstand zu +Ende und es stand diesmal an ihrer Spitze ein Mann, der redlicher als +Carbo und talentvoller als Flaccus in jeder Beziehung zur Führerschaft +berufen war. + +—————————————————————————— + +2 Die Restriktion, daß die Kontinuierung nur statthaft sein solle, wenn +es an anderen geeigneten Bewerbern fehle (App. civ. 1, 21), war nicht +schwer zu umgehen. Das Gesetz selbst scheint nicht den älteren +Ordnungen anzugehören (Römisches Staatsrecht, Bd. 1, 3. Aufl., S. 473), +sondern erst von den Gracchanern eingebracht zu sein. + +—————————————————————————— + +Gaius Gracchus (601-633 153-121) war sehr verschieden von seinem um +neun Jahre älteren Bruder. Wie dieser war er gemeiner Lust und gemeinem +Treiben abgewandt, ein durchgebildeter Mann und ein tapferer Soldat; er +hatte vor Numantia unter seinem Schwager und später in Sardinien mit +Auszeichnung gefochten. Allein an Talent, Charakter und vor allem an +Leidenschaft war er dem Tiberius entschieden überlegen. An der Klarheit +und Sicherheit, mit welcher der junge Mann sich später in dem Drang der +verschiedenartigsten, zur praktischen Durchführung seiner zahlreichen +Gesetze erforderlichen Geschäfte zu bewegen wußte, erkannte man die +echte staatsmännische Begabung, wie an der leidenschaftlichen bis zum +Tode getreuen Hingebung, mit der seine näheren Freunde an ihm hingen, +die Liebefähigkeit dieses adligen Gemütes. Der Energie seines Wollens +und Handelns war die durchgemachte Leidensschule, die notgedrungene +Zurückhaltung während der letzten neun Jahre zugute gekommen; nicht mit +geminderter, nur mit verdichteter Glut flammte in ihm die tief in die +innerste Brust zurückgedrängte Erbitterung gegen die Partei, die das +Vaterland zerrüttet und ihm den Bruder ermordet hatte. Durch diese +furchtbare Leidenschaft seines Gemütes ist er der erste Redner +geworden, den Rom jemals gehabt hat; ohne sie würden wir ihn +wahrscheinlich den ersten Staatsmännern aller Zeiten beizählen dürfen. +Noch unter den wenigen Trümmern seiner aufgezeichneten Reden sind +manche selbst in diesem Zustande von herzerschütternder Mächtigkeit 3, +und wohl begreift man, daß, wer sie hörte oder auch nur las, +fortgerissen ward von dem brausenden Sturm seiner Worte. Dennoch, +sosehr er der Rede Meister war, bemeisterte nicht selten ihn selber der +Zorn, so daß dem glänzenden Sprecher die Rede trübe oder stockend floß. +Es ist das treue Abbild seines politischen Tuns und Leidens. In Gaius’ +Wesen ist keine Ader von der Art seines Bruders, von jener etwas +sentimentalen und gar sehr kurzsichtigen und unklaren Gutmütigkeit, die +den politischen Gegner mit Bitten und Tränen umstimmen möchte; mit +voller Sicherheit betrat er den Weg der Revolution und strebte er nach +dem Ziel der Rache. “Auch mir”, schrieb ihm seine Mutter, “scheint +nichts schöner und herrlicher, als dem Feinde zu vergelten, wofern dies +geschehen kann, ohne daß das Vaterland zugrunde geht. Ist aber dies +nicht möglich, da mögen unsere Feinde bestehen und bleiben, was. sie +sind, tausendmal lieber, als daß das Vaterland verderbe.” Cornelia +kannte ihren Sohn; sein Glaubensbekenntnis war eben das Gegenteil. +Rache wollte er nehmen an der elenden Regierung, Rache um jeden Preis, +mochte auch er selbst, ja das Gemeinwesen darüber zugrunde gehen - die +Ahnung, daß das Verhängnis ihn so sicher ereilen werde wie den Bruder, +trieb ihn nur sich zu hasten, gleich dem tödlich Verwundeten, der sich +auf den Feind wirft. Die Mutter dachte edler; aber auch den Sohn, diese +tiefgereizte, leidenschaftlich erregte, durchaus italienische Natur hat +die Nachwelt mehr noch beklagt als getadelt, und sie hat recht daran +getan. + +———————————————————————————- + +3 So die bei der Ankündigung seiner Gesetzvorschläge gesprochenen +Worte: “Wenn ich zu euch redete und von euch begehrte, da ich von edler +Herkunft bin und meinen Bruder um euretwillen eingebüßt habe und nun +niemand weiter übrig ist von des Publius Africanus und des Tiberius +Gracchus Nachkommen als nur ich und ein Knabe, mich für jetzt feiern zu +lassen, damit nicht unser Stamm mit der Wurzel ausgerottet werde und +ein Sprößling dieses Geschlechts übrig bleibe: so möchte wohl solches +mir von euch bereitwillig zugestanden werden.” + +——————————————————————————— + +Tiberius Gracchus war mit einer einzelnen Administrativreform vor die +Bürgerschaft getreten. Was Gaius in einer Reihe gesonderter Vorschläge +einbrachte, war nichts anderes als eine vollständig neue Verfassung, +als deren erster Grundstein die schon früher durchgesetzte Neuerung +erscheint, daß es dem Volkstribun freistehen solle, sich für das +folgende Jahr wiederwählen zulassen. Wenn hiermit für das Volkshaupt +die Möglichkeit einer dauernden und den Inhaber schützenden Stellung +gewonnen war, so galt es weiter, demselben die materielle Macht zu +sichern, das heißt die hauptstädtische Menge - denn daß auf das nur von +Zeit zu Zeit nach der Stadt kommende Landvolk kein Verlaß war, hatte +sich sattsam gezeigt - mit ihren Interessen fest an den Führer zu +knüpfen. Hierzu diente zuvörderst die Einführung der hauptstädtischen +Getreideverteilung. Schon früher war das dem Staat aus den +Provinzialzehnten zukommende Getreide oftmals zu Schleuderpreisen an +die Bürgerschaft abgegeben worden. Gracchus verfügte, daß fortan jedem +persönlich in der Hauptstadt sich meldenden Bürger monatlich eine +bestimmte Quantität - es scheint 5 Modii (5/6 preuß. Scheffel) -aus den +öffentlichen Magazinen verabfolgt werden solle, der Modius zu 6 1/3 As +(2½ Groschen) oder noch nicht die Hälfte eines niedrigen +Durchschnittspreises; zu welchem Ende durch Anlage der neuen +Sempronischen Speicher die öffentlichen Kornmagazine erweitert wurden. +Diese Verteilung, welche folgeweise die außerhalb der Hauptstadt +lebenden Bürger ausschloß und notwendig die ganze Masse des +Bürgerproletariats nach Rom ziehen mußte, sollte das hauptstädtische +Bürgerproletariat, das bisher wesentlich von der Aristokratie +abgehangen hatte, in die Klientel der Führer der Bewegungspartei +bringen und damit dem neuen Herrn des Staats zugleich eine Leibwache +und eine feste Majorität in den Komitien gewähren. Zu mehrerer +Sicherheit hinsichtlich dieser wurde ferner die in den +Zenturiatkomitien noch bestehende Stimmordnung, wonach die fünf +Vermögensklassen in jedem Bezirk nacheinander ihre Stimmen abgaben, +abgeschafft; statt dessen sollten in Zukunft sämtliche Zenturien +durcheinander in einer jedesmal durch das Los festzustellenden +Reihenfolge stimmen. Wenn diese Bestimmungen wesentlich darauf +hinzielten, durch das hauptstädtische Proletariat dem neuen +Staatsoberhaupt die vollständige Herrschaft über die Hauptstadt und +damit über den Staat, die freieste Disposition über die Maschine der +Komitien und die Möglichkeit zu verschaffen, den Senat und die Beamten +nötigenfalls zu terrorisieren, so faßte doch der Gesetzgeber daneben +allerdings auch die Heilung der bestehenden sozialen Schäden mit Ernst +und Nachdruck an. Zwar die italische Domänenfrage war in gewissem Sinne +abgetan. Das Ackergesetz des Tiberius und selbst das Teilungsamt +bestanden rechtlich noch fort; das von Gaius durchgebrachte Ackergesetz +kann nichts neu festgesetzt haben als die Zurückgabe der verlorenen +Gerichtsbarkeit an die Teilherren. Daß hiermit nur das Prinzip gerettet +werden sollte und die Ackerverteilung wenn überhaupt, doch nur in sehr +beschränktem Umfang wiederaufgenommen ward, zeigt die Bürgerliste, die +für die Jahre 629 (125) und 639 (115) genau dieselbe Kopfzahl ergibt. +Unzweifelhaft ging Gaius hier deshalb nicht weiter, weil das von +römischen Bürgern in Besitz genommene Domanialland wesentlich bereits +verteilt war, die Frage aber wegen der von den Latinern benutzten +Domänen nur in Verbindung mit der sehr schwierigen über die Ausdehnung +des Bürgerrechts wiederaufgenommen werden durfte. Dagegen tat er einen +wichtigen Schritt hinaus über das Ackergesetz des Tiberius, indem er +die Gründung von Kolonien in Italien, namentlich in Tarent und vor +allem in Capua, beantragte, also auch das von Gemeinde wegen +verpachtete, bisher von der Aufteilung ausgeschlossene Domanialland zur +Verteilung mitheranzog, und zwar nicht zur Verteilung nach dem +bisherigen, die Gründung neuer Gemeinden ausschließenden Verfahren, +sondern nach dem Kolonialsystem. Ohne Zweifel sollten auch diese +Kolonien die Revolution, der sie ihre Existenz verdankten, dauernd +verteidigen helfen. Bedeutender und folgenreicher noch war es, daß +Gaius Gracchus zuerst dazu schritt, das italische Proletariat in den +überseeischen Gebieten des Staats zu versorgen, indem er an die Stätte, +wo Karthago gestanden, 6000 vielleicht nicht bloß aus den römischen +Bürgern, sondern auch aus den italischen Bundesgenossen erwählte +Kolonisten sendete und der neuen Stadt Iunonia das Recht einer +römischen Bürgerkolonie verlieh. Die Anlage war wichtig, aber wichtiger +noch das damit hingestellte Prinzip der überseeischen Emigration, womit +für das italische Proletariat ein bleibender Abzugskanal und in der Tat +eine mehr als provisorische Hilfe eröffnet, freilich aber auch der +Grundsatz des bisherigen Staatsrechts aufgegeben ward, Italien als das +ausschließlich regierende, das Provinzialgebiet als das ausschließlich +regierte Land zu betrachten. + +Zu diesen auf die große Frage hinsichtlich des Proletariats unmittelbar +bezüglichen Maßregeln kam eine Reihe von Verfügungen, die hervorgingen +aus der allgemeinen Tendenz, gegenüber der altväterischen Strenge der +bestehenden Verfassung gelindere und zeitgemäßere Grundsätze zur +Geltung zu bringen. Hierher gehören die Milderungen im Militärwesen. +Hinsichtlich der Länge der Dienstzeit bestand nach altem Recht keine +andere Grenze, als daß kein Bürger vor vollendetem siebzehnten und nach +vollendetem sechsundvierzigsten Jahre zum ordentlichen Felddienst +pflichtig war. Als sodann infolge der Besetzung Spaniens der Dienst +anfing stehend zu werden, scheint zuerst gesetzlich verfügt zu sein, +daß, wer sechs Jahre hintereinander im Felde gestanden, dadurch +zunächst ein Recht erhalte auf den Abschied, wenngleich dieser vor der +Wiedereinberufung den Pflichtigen nicht schützte; später, vielleicht um +den Anfang dieses Jahrhunderts, kam der Satz auf, daß zwanzigjähriger +Dienst zu Fuß oder zehnjähriger zu Roß überhaupt vom weiteren +Kriegsdienst befreie 4. Gracchus erneuerte die vermutlich öfter +gewaltsam verletzte Vorschrift, keinen Bürger vor dem begonnenen +achtzehnten Jahr in das Heer einzustellen, und beschränkte auch, wie es +scheint, die zur vollen Befreiung von der Militärpflicht erforderliche +Zahl von Feldzügen; überdies wurde den Soldaten die Kleidung, deren +Betrag ihnen bisher am Solde gekürzt worden war, fortan vom Staat +unentgeltlich geliefert. + +———————————————————————- + +4 So möchte die Angabe Appians (Hisp. 78), daß sechsjähriger Dienst +berechtige, den Abschied zu fordern, auszugleichen sein mit der +bekannteren des Polybios (6, 19), über welche Marquardt (Handbuch, Bd. +6, S. 381) richtig urteilt. Die Zeit, wo beide Neuerungen aufkamen, +läßt sich nicht weiter bestimmen, als daß die erste wahrscheinlich +schon im Jahre 603 (K. W. Nitzsch, Die Gracchen, S. 231), die zweite +sicher schon zu Polybios’ Zeit bestand. Daß Gracchus die Zahl der +gesetzlichen Dienstjahre herabsetzte, scheint aus Asconius (Corn. p. +68) zu folgen; vgl. Plut. Tib. Gracch. 16; Dio fr. 83; 7 Bekker. + +——————————————————————- + +Hierher gehört ferner die mehrfach in der Gracchischen Gesetzgebung +hervortretende Tendenz, die Todesstrafe wo nicht abzuschaffen, doch +noch mehr, als es schon geschehen war, zu beschränken, die zum Teil +selbst in der Militärgerichtsbarkeit sich geltend macht. Schon seit +Einführung der Republik hatte der Beamte das Recht verloren, über den +Bürger die Todesstrafe ohne Befragung der Gemeinde zu verhängen außer +nach Kriegsrecht; wenn dies Provokationsrecht des Bürgers bald nach der +Gracchenzeit auch im Lager anwendbar und das Recht des Feldherrn, +Todesstrafen zu vollstrecken, auf Bundesgenossen und Untertanen +beschränkt erscheint, so ist wahrscheinlich die Quelle hiervon zu +suchen in dem Provokationsgesetz des Gaius Gracchus. Aber auch das +Recht der Gemeinde, die Todesstrafe zu verhängen oder vielmehr zu +bestätigen, ward mittelbar, aber wesentlich dadurch beschränkt, daß +Gracchus diejenigen gemeinen Verbrechen, die am häufigsten zu +Todesurteilen Veranlassung gaben, Giftmischerei und überhaupt Mord, der +Bürgerschaft entzog und an ständige Kommissionsgerichte überwies, +welche nicht wie die Volksgerichte durch Einschreiten eines Tribuns +gesprengt werden konnten und von denen nicht bloß keine Appellation an +die Gemeinde ging, sondern deren Wahrsprüche auch so wenig wie die der +althergebrachten Zivilgeschworenen der Kassation durch die Gemeinde +unterlagen. Bei den Bürgerschaftsgerichten war es, namentlich bei den +eigentlich politischen Prozessen, zwar auch längst Regel, daß der +Angeklagte auf freiem Fuß prozessiert und ihm gestattet ward, durch +Aufgebung seines Bürgerrechts wenigstens Leben und Freiheit zu retten; +denn die Vermögensstrafe so wie die Zivilverurteilung konnten auch den +Exilierten noch treffen. Allein vorgängige Verhaftung und vollständige +Exekution blieben hier wenigstens rechtlich möglich und wurden selbst +gegen Vornehme noch zuweilen vollzogen, wie zum Beispiel Lucius +Hostilius Tubulus, Prätor 612 (142), der wegen eines schweren +Verbrechens auf den Tod angeklagt war, unter Verweigerung des +Exilrechts festgenommen und hingerichtet ward. Dagegen die aus dem +Zivilprozeß hervorgegangenen Kommissionsgerichte konnten wahrscheinlich +von Haus aus Freiheit und Leben des Bürgers nicht antasten und +höchstens auf Verbannung erkennen - diese, bisher eine dem schuldig +befundenen Mann gestattete Strafmilderung, ward nun zuerst zur +förmlichen Strafe. Auch dieses unfreiwillige Exil ließ gleich dem +freiwilligen dem Verbannten das Vermögen, soweit es nicht zur +Befriedigung der Ersatzforderungen und in Geldbußen daraufging. + +Im Schuldwesen endlich hat Gaius Gracchus zwar nichts geneuert; doch +behaupten sehr achtbare Zeugen, daß er den verschuldeten Leuten auf +Minderung oder Erlaß der Forderungen Hoffnung gemacht habe, was, wenn +es richtig ist, gleichfalls diesen radikal populären Maßregeln +beizuzählen ist. + +Während Gracchus also sich lehnte auf die Menge, die von ihm eine +materielle Verbesserung ihrer Lage teils erwartete, teils empfing, +arbeitete er mit gleicher Energie an dem Ruin der Aristokratie. Wohl +erkennend, wie unsicher jede bloß auf das Proletariat gebaute +Herrschaft des Staatsoberhauptes ist, war er vor allem darauf bedacht, +die Aristokratie zu spalten und einen Teil derselben in sein Interesse +zu ziehen. Die Elemente einer solchen Spaltung waren vorhanden. Die +Aristokratie der Reichen, die sich wie ein Mann gegen Tiberius Gracchus +erhoben hatte, bestand in der Tat aus zwei wesentlich ungleichen +Massen, die man einigermaßen der Lords- und der Cityaristokratie +Englands vergleichen kann. Die eine umfaßte den tatsächlich +geschlossenen Kreis der regierenden senatorischen Familien, die der +unmittelbaren Spekulation sich fernhielten und ihre ungeheuren +Kapitalien teils in Grundbesitz anlegten, teils als stille +Gesellschafter bei den großen Assoziationen verwerteten. Den Kern der +zweiten Klasse bildeten die Spekulanten, welche als Geschäftsführer +dieser Gesellschaften oder auf eigene Hand die Groß- und Geldgeschäfte +im ganzen Umfang der römischen Hegemonie betrieben. Es ist schon +dargestellt worden, wie die letztere Klasse namentlich im Laufe des +sechsten Jahrhunderts allmählich der senatorischen Aristokratie an die +Seite trat und, wie die gesetzliche Ausschließung der Senatoren von dem +kaufmännischen Betrieb durch den von dem Vorläufer der Gracchen Gaius +Flaminius veranlaßten Claudischen Volksschluß, eine äußere Scheidewand +zwischen den Senatoren und den Kauf- und Geldleuten zog. In der +gegenwärtigen Epoche beginnt die kaufmännische Aristokratie unter dem +Namen der “Ritterschaft” einen entscheidenden Einfluß auch in +politischen Angelegenheiten zu üben. Diese Bezeichnung, die +ursprünglich nur der diensttuenden Bürgerreiterei zukam, übertrug sich +allmählich, wenigstens im gewöhnlichen Sprachgebrauch, auf alle +diejenigen, die als Besitzer eines Vermögens von mindestens 400000 +Sesterzen zum Roßdienst im allgemeinen pflichtig waren, und begriff +also die gesamte senatorische und nichtsenatorische vornehme römische +Gesellschaft. Nachdem indes nicht lange vor Gaius Gracchus die +Inkompatibilität des Sitzes in der Kurie und des Reiterdienstes +gesetzlich festgestellt und die Senatoren also aus den Ritterfähigen +ausgeschieden waren, konnte der Ritterstand, im großen und ganzen +genommen, betrachtet werden als im Gegensatz zum Senat die +Spekulantenaristokratie vertretend, obwohl die nicht in den Senat +eingetretenen, namentlich also die jüngeren Glieder der senatorischen +Familien nicht aufhörten, als Ritter zu dienen und also zu heißen, ja +die eigentliche Bürgerreiterei, das heißt die achtzehn Ritterzenturien, +infolge ihrer Zusammensetzung durch die Zensoren, fortfuhren, +vorwiegend aus der jungen senatorischen Aristokratie sich zu ergänzen. + +Dieser Stand der Ritter, das heißt wesentlich der vermögenden +Kaufleute, berührte vielfältig sich unsanft mit dem regierenden Senat. +Es war eine natürliche Antipathie zwischen den vornehmen Adligen und +den Männern, denen mit dem Gelde der Rang gekommen war. Die regierenden +Herren, vor allem die besseren von ihnen, standen der Spekulation +ebenso fern, wie die politischen Fragen und Koteriefehden den Männern +der materiellen Interessen gleichgültig waren. Jene und diese waren +namentlich in den Provinzen schon öfter hart zusammengestoßen; denn +wenn auch im allgemeinen die Provinzialen weit mehr Grund hatten, sich +über die Parteilichkeit der römischen Beamten zu beschweren als die +römischen Kapitalisten, so ließen doch die regierenden Herren vom Senat +sich nicht dazu herbei, den Begehrlichkeiten und Unrechtfertigkeiten +der Geldmänner auf Kosten der Untertanen so durchaus und unbedingt die +Hand zu leihen, wie es von jenen begehrt ward. Trotz der Eintracht +gegen einen gemeinschaftlichen Feind, wie Tiberius Gracchus gewesen +war, klaffte zwischen der Adels- und Geldaristokratie ein tief gehender +Riß; und geschickter als sein Bruder erweiterte ihn Gaius, bis das +Bündnis gesprengt war und die Kaufmannschaft auf seiner Seite stand. +Daß die äußeren Vorrechte, durch die späterhin die Männer von +Ritterzensus von der übrigen Menge sich unterschieden - der goldene +Fingerreif statt des gewöhnlichen eisernen oder kupfernen und der +abgesonderte und bessere Platz bei den Bürgerfesten -, der Ritterschaft +zuerst von Gaius Gracchus verliehen worden sind, ist nicht gewiß, aber +nicht unwahrscheinlich. Denn aufgekommen sind sie auf jeden Fall um +diese Zeit, und wie die Erstreckung dieser bisher im wesentlichen +senatorischen Privilegien auf den von ihm emporgehobenen Ritterstand +ganz in Gracchus’ Art ist, so war es auch recht eigentlich sein Zweck, +der Ritterschaft den Stempel eines zwischen der senatorischen +Aristokratie und der gemeinen Menge in der Mitte stehenden, ebenfalls +geschlossenen und privilegierten Standes aufzudrücken; und ebendies +haben jene Standesabzeichen, wie gering sie an sich auch waren und wie +viele Ritterfähige auch ihrer sich nicht bedienen mochten, mehr +gefördert als manche an sich weit wichtigere Verordnung. Indes die +Partei der materiellen. Interessen, wenn sie dergleichen Ehren auch +keineswegs verschmäht, ist doch dafür allein nicht zu haben. Gracchus +erkannte es wohl, daß sie zwar dem Meistbietenden von Rechts wegen +zufällt, aber es auch eines hohen und reellen Gebotes bedurfte; und so +bot er ihr die asiatischen Gefälle und die Geschworenengerichte. + +Das System der römischen Finanzverwaltung, sowohl die indirekten +Steuern wie auch die Domanialgefälle durch Mittelsmänner zu erheben, +gewährte an sich schon dem römischen Kapitalistenstand auf Kosten der +Steuerpflichtigen die ausgedehntesten Vorteile. Die direkten Abgaben +indes bestanden entweder, wie in den meisten Ämtern, in festen, von den +Gemeinden zu entrichtenden Geldsummen, was die Dazwischenkunft +römischer Kapitalisten von selber ausschloß, oder, wie in Sizilien und +Sardinien, in einem Bodenzehnten, dessen Erhebung für jede einzelne +Gemeinde in den Provinzen selbst verpachtet ward und wobei also +regelmäßig die vermögenden Provinzialen, und sehr häufig die +zehntpflichtigen Gemeinden selbst, den Zehnten ihrer Distrikte +pachteten und dadurch die gefährlichen römischen Mittelsmänner von sich +abwehrten. Als sechs Jahre zuvor die Provinz Asia an die Römer gefallen +war, hatte der Senat sie im wesentlichen nach dem ersten System +einrichten lassen. Gaius Gracchus 5 stieß diese Verfügung durch einen +Volksschluß um und belastete nicht bloß die bis dahin fast steuerfreie +Provinz mit den ausgedehntesten indirekten und direkten Abgaben, +namentlich dem Bodenzehnten, sondern er verfügte auch, daß diese +Hebungen für die gesamte Provinz und in Rom verpachtet werden sollten - +eine Bestimmung, die die Beteiligung der Provinzialen tatsächlich +ausschloß und die in der Mittelsmännerschaft für Zehnten, Hutgeld und +Zölle der Provinz Asia eine Kapitalistenassoziation von kolossaler +Ausdehnung ins Leben rief. Charakteristisch für Gracchus’ Bestreben, +den Kapitalistenstand vom Senat unabhängig zu machen, ist dabei noch +die Bestimmung, daß der völlige oder teilweise Erlaß der Pachtsumme +nicht mehr, wie bisher, vom Senat nach Ermessen bewilligt werden, +sondern unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich eintreten solle. +Wenn hier dem Kaufmannsstand eine Goldgrube eröffnet und in den +Mitgliedern der neuen Gesellschaft ein selbst der Regierung +imponierender Kern der hohen Finanz, ein “Senat der Kaufmannschaft” +konstituiert ward, so ward denselben zugleich in den +Geschworenengerichten eine bestimmte öffentliche Tätigkeit zugewiesen. +Das Gebiet des Kriminalprozesses, der von Rechts wegen vor die +Bürgerschaft gehörte, war bei den Römern von Haus aus sehr eng und +ward, wie bemerkt, durch Gracchus noch weiter verengt; die meisten +Prozesse, sowohl die wegen gemeiner Verbrechen als auch die +Zivilsachen, wurden entweder von Einzelgeschworenen oder von teils +stehenden, teils außerordentlichen Kommissionen entschieden. Bisher +waren jene und diese ausschließlich aus dem Senat genommen worden; +Gracchus überwies sowohl in den eigentlichen Zivilprozessen wie bei den +ständigen und nichtständigen Kommissionen die Geschworenenfunktionen an +den Ritterstand, indem er die Geschworenenlisten nach Analogie der +Ritterzenturien aus den sämtlichen ritterfähigen Individuen jährlich +neu formieren ließ und die Senatoren geradezu, die jungen Männer der +senatorischen Familien durch Festsetzung einer gewissen Altersgrenze +von den Gerichten ausschloß 6. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die +Geschworenenwahl vorwiegend auf dieselben Männer gelenkt ward, die in +den großen kaufmännischen Assoziationen namentlich der asiatischen und +sonstigen Steuerpächter die erste Rolle spielten, eben weil diese ein +sehr nahes eigenes Interesse daran hatten, in den Gerichten zu sitzen; +und fielen also die Geschworenenliste und die Publikanensozietäten in +ihren Spitzen zusammen, so begreift man um so mehr die Bedeutung des +also konstituierten Gegensenats. Die wesentliche Folge hiervon war, +daß, während bisher es nur zwei Gewalten im Staate gegeben hatte, die +Regierung als verwaltende und kontrollierende, die Bürgerschaft als +legislative Behörde, die Gerichte aber zwischen beiden geteilt waren, +jetzt die Geldaristokratie nicht bloß auf der soliden Basis der +materiellen Interessen als festgeschlossene und privilegierte Klasse +sich zusammenfand, sondern auch als richtende und kontrollierende +Gewalt in den Staat eintrat und der regierenden Aristokratie sich fast +ebenbürtig zur Seite stellte. All die alten Antipathien der Kaufleute +gegen den Adel mußten fortan in den Wahrsprüchen der Geschworenen einen +nur zu praktischen Ausdruck finden; vor allen Dingen in den +Rechenschaftsgerichten der Provinzialstatthalter hatte der Senator +nicht mehr wie bisher von seinesgleichen, sondern von Großhändlern und +Bankiers die Entscheidung zu erwarten über seine bürgerliche Existenz. +Die Fehden zwischen den römischen Kapitalisten und den römischen +Statthaltern verpflanzten sich aus der Provinzialverwaltung auf den +bedenklichen Boden der Rechenschaftsprozesse. Die Aristokratie der +Reichen war nicht bloß gespalten, sondern es war auch dafür gesorgt, +daß der Zwist immer neue Nahrung und leichten Ausdruck fand. + +——————————————————————————- + +5 Daß er und nicht Tiberius der Urheber dieses Gesetzes ist, zeigt +jetzt Fronto in den Briefen an Verus z.A. Vgl. Gracchus bei Gell. 11, +10; Cic. rep. 3, 29 und Verr. 3, 6, 12; Vell. 2. 6. + +6 Die zunächst durch diese Veränderung des Richterpersonals veranlaßte +neue Gerichtsordnung für die ständige Kommission wegen Erpressungen +besitzen wir noch zum großen Teil: sie ist bekannt unter dem Namen des +Servilischen oder vielmehr Acilischen Repetundengesetzes. + +————————————————————————- + +Mit den also bereiteten Waffen, dem Proletariat und dem Kaufmannsstand, +ging Gracchus an sein Hauptwerk, an den Sturz der regierenden +Aristokratie. Den Senat stürzen hieß einerseits durch gesetzliche +Neuerungen eine wesentliche Kompetenz ihm entziehen, andererseits durch +Maßregeln mehr persönlicher und transitorischer Art die bestehende +Aristokratie zugrunde richten. Gracchus hat beides getan. Vor allem die +Verwaltung hatte bisher dem Senat ausschließlich zugestanden; Gracchus +nahm sie ihm ab, indem er teils die wichtigsten Administrativfragen +durch Komitialgesetze, das heißt tatsächlich durch tribunizische +Machtsprüche entschied, teils in den laufenden Angelegenheiten den +Senat möglichst beschränkte, teils selbst in der umfassendsten Weise +die Geschäfte an sich zog. Die Maßregeln der ersten Gattung sind schon +erwähnt: der neue Herr des Staats disponierte, ohne den Senat zu +fragen, über die Staatskasse, indem er durch die Getreideverteilung den +öffentlichen Finanzen eine dauernde und drückende Last aufbürdete, über +die Domänen, indem er Kolonien nicht wie bisher nach Senats- und +Volks-, sondern allein nach Volksschluß aussandte, über die +Provinzialverwaltung, indem er die vom Senat der Provinz Asia gegebene +Steuerverfassung durch ein Volksgesetz umstieß und eine durchaus andere +an deren Stelle setzte. Eines der wichtigsten unter den laufenden +Geschäften des Senats, die willkürliche Feststellung der jedesmaligen +Kompetenz der beiden Konsuln, wurde ihm zwar nicht entzogen, aber der +bisher dabei geübte indirekte Druck auf die höchsten Beamten dadurch +beschränkt, daß der Senat angewiesen ward, diese Kompetenzen +festzustellen, bevor die betreffenden Konsuln gewählt seien. Mit +beispielloser Tätigkeit endlich konzentrierte Gaius die +verschiedenartigsten und verwickeltsten Regierungsgeschäfte in seiner +Person: Er selbst überwachte die Getreideverteilung, erlas die +Geschworenen, gründete trotz des gesetzlich an die Stadt ihn fesselnden +Amtes persönlich die Kolonien, regulierte das Wegewesen und schloß die +Bauverträge ab, leitete die Senatsverhandlungen, bestimmte die +Konsulwahlen - kurz er gewöhnte das Volk daran, daß in allen Dingen ein +Mann der erste sei, und verdunkelte die schlaffe und lahme Verwaltung +des senatorischen Kollegiums durch sein kräftiges und gewandtes +persönliches Regiment. + +Noch energischer als in die Verwaltung griff Gracchus ein in die +senatorische Gerichtsallmacht. Daß er die Senatoren als Geschworene +beseitigte, ward schon gesagt; dasselbe geschah mit der Jurisdiktion, +die der Senat als oberste Verwaltungsbehörde sich in Ausnahmefällen +gestattete. Bei scharfer Strafe untersagte er, wie es scheint in dem +erneuerten Provokationsgesetz 7, die Niedersetzung außerordentlicher +Hochverratskommissionen durch Senatsbeschluß, wie diejenige gewesen +war, welche nach seines Bruders Ermordung über dessen Anhänger zu +Gericht gesessen hatte. Die Summe dieser Maßregeln ist, daß der Senat +die Kontrolle ganz verlor und von der Verwaltung nur behielt, was das +Staatshaupt ihm zu lassen für gut befand. Indes diese konstitutiven +Maßregeln genügten nicht; auch der gegenwärtig regierenden Aristokratie +wurde unmittelbar zu Leibe gegangen. Ein bloßer Akt der Rache war es, +daß dem zuletzt erwähnten Gesetz rückwirkende Kraft beigelegt und +dadurch derjenige Aristokrat, den nach Nasicas inzwischen erfolgtem +Tode der Haß der Demokraten hauptsächlich traf, Publius Popillius, +genötigt ward, das Land zu meiden. Merkwürdigerweise ging dieser Antrag +nur mit achtzehn gegen siebzehn Stimmen in der Bezirksversammlung durch +- ein Zeichen, was wenigstens in Fragen persönlichen Interesses noch +der Einfluß der Aristokratie bei der Menge vermochte. Ein ähnliches, +aber weit minder zu rechtfertigendes Dekret, den gegen Marcus Octavius +gerichteten Antrag, daß, wer durch Volksschluß sein Amt verloren habe, +auf immer unfähig sein solle, einen öffentlichen Posten zu bekleiden, +nahm Gaius zurück auf Bitten seiner Mutter und ersparte sich damit die +Schande, durch die Legalisierung einer notorischen +Verfassungsverletzung das Recht offen zu verhöhnen und an einem +Ehrenmann, der kein bitteres Wort gegen Tiberius gesprochen und nur der +Verfassung und seiner Pflicht, wie er sie verstand, gemäß gehandelt +hatte, niedrige Rache zu nehmen. Aber von ganz anderer Wichtigkeit als +diese Maßregeln war Gaius’ freilich wohl schwerlich zur Ausführung +gelangter Plan, den Senat durch 300 neue Mitglieder, das heißt ungefähr +ebenso viele als er bisher hatte, zu verstärken und diese aus dem +Ritterstand durch Komitien wählen zu lassen - eine Pairskreierung im +umfassendsten Stil, die den Senat in die vollständigste Abhängigkeit +von dem Staatsoberhaupt gebracht haben würde. + +———————————————————————— + +7 Dies und das Gesetz ne quis iudicio circumveniatur dürften identisch +sein. + +———————————————————————— + +Dies ist die Staatsverfassung, welche Gaius Gracchus entworfen und +während der beiden Jahre seines Volkstribunats (631, 632 123, 122) in +ihren wesentlichsten Punkten durchgeführt hat, soweit wir sehen, ohne +auf irgendeinen nennenswerten Widerstand zu stoßen und ohne zur +Erreichung seiner Zwecke Gewalt anwenden zu müssen. Die Reihenfolge, in +der die Maßregeln durchgebracht sind, läßt in der zerrütteten +Überlieferung sich nicht mehr erkennen, und auf manche naheliegende +Frage müssen wir die Antwort schuldig bleiben; es scheint indes nicht, +daß uns mit dem Fehlenden sehr wesentliche Momente entgangen sind, da +über die Hauptsachen vollkommen sichere Kunde vorliegt und Gaius +keineswegs wie sein Bruder durch den Strom der Ereignisse weiter und +weiter gedrängt ward, sondern offenbar einen wohl überlegten, +umfassenden Plan in einer Reihe von Spezialgesetzen im wesentlichen +vollständig realisierte. + +Daß nun Gaius Gracchus keineswegs, wie viele gutmütige Leute in alter +und neuer Zeit gemeint haben, die römische Republik auf neue +demokratische Basen stellen, sondern vielmehr sie abschaffen und in der +Form eines durch stehende Wiederwahl lebenslänglich und durch +unbedingte Beherrschung der formell souveränen Komitien absolut +gemachten Amtes, eines unumschränkten Volkstribunats auf Lebenszeit, +anstatt der Republik die Tyrannis, das heißt nach heutigem +Sprachgebrauch die nicht feudalistische und nicht theokratische, die +napoleonisch absolute Monarchie einführen wollte, das offenbart die +Sempronische Verfassung selbst mit voller Deutlichkeit einem jeden, der +Augen hat und haben will. In der Tat, wenn Gracchus, wie seine Worte +deutlich und deutlicher seine Werke es sagen, den Sturz des +Senatsregiments bezweckte, was blieb in einem Gemeinwesen, das über die +Urversammlungen hinaus und für das der Parlamentarismus nicht vorhanden +war, nach dem Sturz des aristokratischen Regiments für eine andere +politische Ordnung möglich als die Tyrannis? Träumer, wie sein +Vorgänger einer war, und Schwindler, wie sie die Folgezeit +heraufführte, mochten dies in Abrede stellen; Gaius Gracchus aber war +ein Staatsmann, und wenn auch die Formulierung, die der große Mann für +sein großes Werk bei sich selber aufstellte, uns nicht überliefert und +in sehr verschiedener Weise denkbar ist, so wußte er doch +unzweifelhaft, was er tat. Sowenig die beabsichtigte Usurpation der +monarchischen Gewalt sich verkennen läßt, so wenig wird, wer die +Verhältnisse übersieht, den Gracchus deswegen tadeln. Eine absolute +Monarchie ist ein großes Unglück für die Nation, aber ein minderes als +eine absolute Oligarchie; und wer der Nation statt des größeren das +kleinere Leiden auferlegt, den darf die Geschichte nicht schelten, am +wenigsten eine so leidenschaftlich ernste und allem Gemeinen so +fernstehende Natur wie Gaius Gracchus. Allein nichtsdestoweniger darf +sie es nicht verschweigen, daß durch die ganze Gesetzgebung desselben +eine Zwiespältigkeit verderblichster Art geht, indem sie einerseits das +gemeine Beste bezweckt, andererseits den persönlichen Zwecken, ja der +persönlichen Rache des Herrschers dient. Gracchus war ernstlich bemüht, +für die sozialen Schäden eine Abhilfe zu finden und dem einreißenden +Pauperismus zu steuern; dennoch zog er zugleich durch seine +Getreideverteilungen, die für alles arbeitsscheue hungernde +Bürgergesindel eine Prämie werden sollten und wurden, ein +hauptstädtisches Gassenproletariat der schlimmsten Art absichtlich +groß. Gracchus tadelte mit den bittersten Worten die Feilheit des +Senats und deckte namentlich den skandalösen Schacher, den Manius +Aquillius mit den kleinasiatischen Provinzen getrieben, mit +schonungsloser und gerechter Strenge auf 8. Aber es war desselben +Mannes Werk, daß der souveräne Pöbel der Hauptstadt für seine +Regierungssorgen sich on der Untertanenschaft alimentieren ließ. +Gracchus mißbilligte lebhaft die schändliche Ausplünderung der +Provinzen und veranlaßte nicht bloß, daß in einzelnen Fällen mit +heilsamer Strenge eingeschritten ward, sondern auch die Abschaffung der +durchaus unzureichenden senatorischen Gerichte, vor denen selbst Scipio +Aemilianus, um die entschiedensten Frevler zur Strafe zu ziehen, sein +ganzes Ansehen vergeblich eingesetzt hatte. Dennoch überlieferte er +zugleich durch die Einführung der Kaufmannsgerichte die Provinzialen +mit gebundenen Händen der Partei der materiellen Interessen und damit +einer noch rücksichtsloseren Despotie, als die aristokratische gewesen +war, und führte in Asia eine Besteuerung ein, gegen welche selbst die +nach karthagischem Muster in Sizilien geltende Steuerverfassung gelind +und menschlich heißen konnte - beides, weil er teils der Partei der +Geldmänner, teils für seine Getreideverteilungen und die sonstigen den +Finanzen neu aufgebürdeten Lasten neuer und umfassender Hilfsquellen +bedurfte. Gracchus wollte ohne Zweifel eine feste Verwaltung und eine +geordnete Rechtspflege, wie zahlreiche durchaus zweckmäßige Anordnungen +bezeugen; dennoch beruht sein neues Verwaltungssystem auf einer +fortlaufenden Reihe einzelner, nur formell legalisierter Usurpationen; +dennoch zog er das Gerichtswesen, das jeder geordnete Staat, soweit +irgend möglich, zwar nicht über die politischen Parteien, aber doch +außerhalb derselben zu stellen bemüht sein wird, absichtlich mitten in +den Strudel der Revolution. Allerdings fällt die Schuld dieser +Zwiespältigkeit in Gaius Gracchus’ Tendenzen zu einem sehr großen Teil +mehr auf die Stellung als auf die Person. Gleich hier an der Schwelle +der Tyrannis entwickelt sich das verhängnisvolle sittlich-politische +Dilemma, daß derselbe Mann zugleich, man möchte sagen, als +Räuberhauptmann sich behaupten und als der erste Bürger den Staat +leiten soll; ein Dilemma, dem auch Perikles, Caesar, Napoleon +bedenkliche Opfer haben bringen müssen. Indes ganz läßt sich Gaius +Gracchus’ Verfahren aus dieser Notwendigkeit nicht erklären; es wirkt +daneben in ihm die verzehrende Leidenschaft, die glühende Rache, die, +den eigenen Untergang voraussehend, den Feuerbrand schleudert in das +Haus des Feindes. Er selber hat es ausgesprochen, wie er über seine +Geschworenenordnung und ähnliche auf die Spaltung der Aristokratie +abzweckende Maßregeln dachte; Dolche nannte er sie, die er auf den +Markt geworfen, damit die Bürger - die vornehmen, versteht sich - mit +ihnen sich untereinander zerfleischen möchten. Er war ein politischer +Brandstifter; nicht bloß die hundertjährige Revolution, die von ihm +datiert, ist, soweit sie eines Menschen Werk ist, das Werk des Gaius +Gracchus, sondern vor allem ist er der wahre Stifter jenes +entsetzlichen, von oben herab beschmeichelten und besoldeten +hauptstädtischen Proletariats, das durch seine aus den Getreidespenden +von selber folgende Vereinigung in der Hauptstadt teils vollständig +demoralisiert, teils seiner Macht sich bewußt ward und mit seinen bald +pinselhaften, bald bübischen Ansprüchen und seiner Fratze von +Volkssouveränität ein halbes Jahrtausend hindurch wie ein Alp auf dem +römischen Gemeinwesen lastend nur mit diesem zugleich unterging. Und +doch - dieser größte der politischen Verbrecher ist auch wieder der +Regenerator seines Landes. Es ist kaum ein konstruktiver Gedanke in der +römischen Monarchie, der nicht zurückreichte bis auf Gaius Gracchus. +Von ihm rührt der wohl in gewissem Sinne im Wesen des althergebrachten +Kriegsrechts begründete, aber in dieser Ausdehnung und in dieser +praktischen Anwendung doch dem älteren Staatsrecht fremde Satz her, daß +aller Grund und Boden der untertänigen Gemeinden als Privateigentum des +Staats anzusehen sei - ein Satz, der zunächst benutzt ward, um dem +Staat das Recht zu vindizieren, diesen Boden beliebig zu besteuern, wie +es in Asien, oder auch zur Anlegung von Kolonien zu verwenden, wie es +in Afrika geschah, und der späterhin ein fundamentaler Rechtssatz der +Kaiserzeit ward. Von ihm rührt die Taktik der Demagogen und Tyrannen +her, auf die materiellen Interessen sich stützend die regierende +Aristokratie zu sprengen, überhaupt aber durch eine strenge und +zweckmäßige Administration anstatt des bisherigen Mißregiments die +Verfassungsänderung nachträglich zu legitimieren. Auf ihn gehen vor +allem zurück die Anfänge einer Ausgleichung zwischen Rom und den +Provinzen, wie sie die Herstellung der Monarchie unvermeidlich mit sich +bringen mußte; der Versuch, das durch die italische Rivalität zerstörte +Karthago wiederaufzubauen und überhaupt der italischen Emigration den +Weg in die Provinzen zu eröffnen, ist das erste Glied in der langen +Kette dieser folgen- und segensreichen Entwicklung. Es sind in diesem +seltenen Mann und in dieser wunderbaren politischen Konstellation Recht +und Schuld, Glück und Unglück so ineinander verschlungen, daß es hier +sich wohl ziemen mag, was der Geschichte nur selten ziemt, mit dem +Urteil zu verstummen. + +—————————————————————- + +8 Auf diesen Handel um den Besitz von Phrygien, welches nach der +Einziehung des Attalischen Reiches von Manius Aquillius den Königen von +Bithynien und von Pontos zu Kauf geboten und von dem letzteren durch +Mehrgebot erstanden ward, bezieht sich ein noch vorhandenes längeres +Redebruchstück des Gracchus. Er bemerkt darin, daß von den Senatoren +keiner umsonst sich um die öffentlichen Angelegenheiten bekümmere, und +fügt hinzu: in Beziehung auf das in Rede stehende Gesetz (über die +Verleihung Phrygiens an König Mithradates) teile der Senat sich in drei +Klassen: solcher, die dafür seien, solcher, die dagegen seien, und +solcher, die stillschwiegen - die ersten seien bestochen von König +Mithradates, die zweiten von König Nikomedes, die dritten aber seien +die feinsten, denn diese ließen sich von den Gesandten beider Könige +bezahlen und jede Partei glauben, daß in ihrem Interesse geschwiegen +werde. + +———————————————————————————— + +Als Gracchus die von ihm entworfene neue Staatsverfassung wesentlich +vollendet hatte, legte er Hand an ein zweites und schwierigeres Werk. +Noch schwankte die Frage hinsichtlich der italischen Bundesgenossen. +Wie die Führer der demokratischen Partei darüber dachten, hatte sich +sattsam gezeigt; sie wünschten natürlich die möglichste Ausdehnung des +römischen Bürgerrechts, nicht bloß, um die von den Latinern okkupierten +Domänen zur Verteilung bringen zu können, sondern vor allem, um mit der +ungeheuren Masse der Neubürger ihre Klientel zu verstärken, um die +Komitialmaschine durch immer weitere Ausdehnung der berechtigten +Wählerschaft immer vollständiger in ihre Gewalt zu bringen, überhaupt +um einen Unterschied zu beseitigen, der mit dem Sturz der +republikanischen Verfassung ohnehin jede ernstliche Bedeutung verlor. +Allein hier stießen sie auf Widerstand bei ihrer eigenen Partei und +vornehmlich bei derjenigen Bande, die sonst bereitwillig zu allem, was +sie verstand und nicht verstand, ihr souveränes Ja gab; aus dem +einfachen Grunde, daß diesen Leuten das römische Bürgerrecht sozusagen +wie eine Aktie erschien, die ihnen Anspruch gab auf allerlei sehr +handgreifliche direkte und indirekte Gewinnanteile, sie also ganz und +gar keine Lust hatten, die Zahl der Aktionäre zu vermehren. Die +Verwerfung des Fulvischen Gesetzes im Jahre 629 (125) und der daraus +entsprungene Aufstand der Fregellaner waren warnende Zeichen sowohl, +der eigensinnigen Beharrlichkeit der die Komitien beherrschenden +Fraktion der Bürgerschaft als auch des ungeduldigen Drängens der +Bundesgenossen. Gegen das Ende seines zweiten Tribunats (632 122) wagte +Gracchus, wahrscheinlich durch übernommene Verpflichtungen gegen die +Bundesgenossen gedrängt, einen zweiten Versuch; in Gemeinschaft mit +Marcus Flaccus, der, obwohl Konsular, um das früher von ihm ohne Erfolg +beantragte Gesetz jetzt durchzubringen, wiederum das Volkstribunat +übernommen hatte, stellte er den Antrag, den Latinern das volle +Bürger-, den übrigen italischen Bundesgenossen das bisherige Recht der +Latiner zu gewähren. Allein der Antrag stieß auf die vereinigte +Opposition des Senats und des hauptstädtischen Pöbels; welcher Art +diese Koalition war und wie sie focht, zeigt scharf und bestimmt ein +aus der Rede, die der Konsul Gaius Fannius vor der Bürgerschaft gegen +den Antrag hielt, zufällig erhaltenes Bruchstück. “So meint ihr also”, +sprach der Optimat, “wenn ihr den Latinern das Bürgerrecht erteilt, +eben wie ihr jetzt dort vor mir steht, auch künftig in der +Bürgerversammlung oder bei den Spielen und Volkslustbarkeiten Platz +finden zu können? Glaubt ihr nicht vielmehr, daß jene Leute jeden Fleck +besetzen werden?” Bei der Bürgerschaft des fünften Jahrhunderts, die an +einem Tage allen Sabinern das Bürgerrecht verlieh, hätte ein solcher +Redner wohl mögen ausgezischt werden: die des siebenten fand seine +Gründe ungemein einleuchtend und den von Gracchus ihr gebotenen Preis +der Assignation der latinischen Domänen weitaus zu niedrig. Schon daß +der Senat es durchsetzte, die sämtlichen Nichtbürger vor dem +entscheidenden Abstimmungstag aus der Stadt weisen zu dürfen, zeigte +das Schicksal, das dem Antrag selbst bevorstand. Als dann vor der +Abstimmung ein Kollege des Gracchus, Livius Drusus, gegen das Gesetz +einschritt, nahm das Volk dieses Veto in einer Weise auf, daß Gracchus +nicht wagen konnte, weiterzugehen oder gar dem Drusus das Schicksal des +Marcus Octavius zu bereiten. + +Es war, wie es scheint, dieser Erfolg, der dem Senat den Mut gab, den +Sturz des siegreichen Demagogen zu versuchen. Die Angriffsmittel waren +wesentlich dieselben, mit denen früher Gracchus selbst operiert hatte. +Gracchus’ Macht ruhte auf der Kaufmannschaft und dem Proletariat, +zunächst auf dem letzteren, das in diesem Kampf, in welchem +militärischer Rückhalt beiderseits nicht vorhanden war, gleichsam die +Rolle der Armee spielte. Es war einleuchtend, daß der Senat weder der +Kaufmannschaft noch dem Proletariat ihre neuen Rechte abzuzwingen +mächtig genug war; jeder Versuch, die Getreidegesetze oder die neue +Geschworenenordnung anzugreifen, hätte, in etwas plumperer oder etwas +zivilisierterer Form, zu einem Straßenkrawall geführt, dem der Senat +völlig wehrlos gegenüberstand. Allein es war nicht minder einleuchtend, +daß Gracchus selbst und diese Kaufleute und Proletarier einzig +zusammengehalten wurden durch den gegenseitigen Vorteil, und daß sowohl +die Männer der materiellen Interessen ihre Posten als der eigentliche +Pöbel sein Brotkorn ebenso von jedem andern zu nehmen bereit waren wie +von Gaius Gracchus. Gracchus’ Institutionen standen, für den Augenblick +wenigstens, unerschütterlich fest mit Ausnahme einer einzigen: seiner +eigenen Oberhauptschaft. Die Schwäche dieser lag darin, daß in +Gracchus’ Verfassung zwischen Haupt und Heer schlechterdings ein +Treuverhältnis nicht bestand und in der neuen Verfassung wohl alle +anderen Elemente der Lebensfähigkeit vorhanden waren, nur ein einziges +nicht: das sittliche Band zwischen Herrscher und Beherrschten, ohne das +jeder Staat auf tönernen Füßen steht. In der Verwerfung des Antrags, +die Latiner in den Bürgerverband aufzunehmen, war es mit schneidender +Deutlichkeit zu Tage gekommen, daß die Menge in der Tat niemals für +Gracchus stimmte, sondern immer nur für sich; die Aristokratie entwarf +den Plan, dem Urheber der Getreidespenden und Landanweisungen auf +seinem eigenen Boden die Schlacht anzubieten. Es versteht sich von +selbst, daß der Senat dem Proletariat nicht bloß das gleiche bot, was +Gracchus ihm an Getreide und sonst zugesichert hatte, sondern noch +mehr. Im Auftrag des Senats schlug der Volkstribun Marcus Livius Drusus +vor, den Gracchischen Landempfängern den auferlegten Zins zu erlassen +und ihre Landlose für freies und veräußerungsfähiges Eigentum zu +erklären; ferner, statt in den überseeischen, das Proletariat zu +versorgen in zwölf italischen Kolonien, jede von 3000 Kolonisten, zu +deren Ausführung das Volk die geeigneten Männer ernennen möge; nur +Drusus selbst verzichtete - im Gegensatz gegen das Gracchische +Familienkollegium - auf jegliche Teilnahme an diesem ehrenvollen +Geschäft. Als diejenigen, die die Kosten dieses Plans zu tragen hätten, +wurden vermutlich die Latiner genannt, denn anderes okkupiertes +Domanialland von einigem Umfang als das von ihnen benutzte scheint +nicht mehr in Italien vorhanden gewesen zu sein. Auch finden sich +einzelne Verfügungen des Drusus, wie die Bestimmung, daß dem +latinischen Soldaten nur von seinem vorgesetzten latinischen, nicht von +dem römischen Offizier Stockprügel sollten zuerkannt werden dürfen, die +allem Anschein nach den Zweck hatten, die Latiner für andere Verluste +zu entschädigen. Der Plan war nicht von den feinsten. Die +Konkurrenzunternehmung war allzu deutlich, allzu sichtlich das +Bestreben, das schöne Band zwischen Adel und Proletariat durch weitere +gemeinschaftliche Tyrannisierung der Latiner noch enger zu ziehen, die +Frage allzu nahe gelegt, wo denn auf der Halbinsel, nachdem die +italischen Domänen in der Hauptsache schon weggegeben waren - auch wenn +man die gesamten, den Latinern überwiesenen konfiszierte -, das für +zwölf neu zu bildende, zahlreiche und geschlossene Bürgerschaften +erforderliche, okkupierte Domanialland eigentlich belegen sein möge, +endlich Drusus’ Erklärung, daß er mit der Ausführung seines Gesetzes +nichts zu tun haben wolle, so verwünscht gescheit, daß sie beinahe +herzlich albern war. Indes für das plumpe Wild, das man fangen wollte, +war die grobe Schlinge eben recht. Es kam hinzu und war vielleicht +entscheidend, daß Gracchus, auf dessen persönlichen Einfluß alles +ankam, eben damals in Afrika die karthagische Kolonie einrichtete und +sein Stellvertreter in der Hauptstadt, Marcus Flaccus, durch sein +heftiges und ungeschicktes Auftreten den Gegnern in die Hände +arbeitete. Das “Volk” ratifizierte demnach die Livischen Gesetze ebenso +bereitwillig wie früher die Sempronischen. Es vergalt sodann dem +neuesten Wohltäter wie üblich dadurch, daß es dem früheren einen +mäßigen Tritt versetzte und, als dieser sich für das Jahr 633 (121) zum +drittenmal um das Tribunat bewarb, ihn nicht wiederwählte; wobei +übrigens auch noch Unrechtfertigkeiten des von Gracchus früher +beleidigten wahlleitenden Tribuns vorgekommen sein sollen. Damit brach +die Grundlage seiner Machthaberschaft unter ihm zusammen. Ein zweiter +Schlag traf ihn durch die Konsulwahlen, die nicht bloß im allgemeinen +gegen die Demokratie ausfielen, sondern durch welche in Lucius Opimius +der Mann, der als Prätor 629 (125) Fregellae erobert hatte, an die +Spitze des Staates gestellt ward, eines der entschiedensten und am +wenigsten bedenklichen Häupter der strengen Adelspartei, ein Mann fest +entschlossen, den gefährlichen Gegner bei erster Gelegenheit zu +beseitigen. Sie fand sich bald. Am 10. Dezember 632 (122) hörte +Gracchus auf, Volkstribun zu sein; am 1. Januar 633 (121) trat Opimius +sein Amt an. Der erste Angriff traf wie billig die nützlichste und die +unpopulärste Maßregel des Gracchus, die Wiederherstellung von Karthago. +Hatte man bisher die überseeischen Kolonien nur mittelbar durch die +lockenderen italischen angegriffen, so wühlten jetzt afrikanische +Hyänen die neugesetzten karthagischen Grenzsteine auf, und die +römischen Pfaffen bescheinigten auf Verlangen, daß solches Wunder und +Zeichen ausdrücklich warnen solle vor dem Wiederaufbau der +gottverfluchten Stätte. Der Senat fand dadurch sich in seinem Gewissen +gedrungen, ein Gesetz vorschlagen zu lassen, das die Ausführung der +Kolonie Iunonia untersagte. Gracchus, der mit den andern zur Anlegung +derselben ernannten Männern eben damals die Kolonisten auslas, erschien +an dem Tag der Abstimmung auf dem Kapitol, wohin die Bürgerschaft +berufen war, um mit seinem Anhang die Verwerfung des Gesetzes zu +bewirken. Gewalttätigkeiten wünschte er zu vermeiden, um den Gegnern +nicht den Vorwand, den sie suchten, selbst an die Hand zu geben; indes +hatte er nicht wehren können, daß ein großer Teil seiner Getreuen, der +Katastrophe des Tiberius sich erinnernd und wohl bekannt mit den +Absichten der Aristokratie, bewaffnet sich einfand, und bei der +ungeheuren Aufregung auf beiden Seiten waren Händel kaum zu vermeiden. +In der Halle des Kapitolinischen Tempels verrichtete der Konsul Lucius +Opimius das übliche Brandopfer; einer der ihm dabei behilflichen +Gerichtsdiener, Quintus Antullius, herrschte, die heiligen Eingeweide +in der Hand, die “schlechten Bürger” an, die Halle zu räumen, und +schien sogar an Gaius selbst Hand legen zu wollen; worauf ein eifriger +Gracchaner das Schwert zog und den Menschen niederstieß. Es entstand +ein furchtbarer Lärm. Gracchus suchte vergeblich zum Volk zu sprechen +und die Urheberschaft der gotteslästerlichen Mordtat von sich +abzulehnen; er lieferte den Gegnern nur einen formalen Anklagegrund +mehr, indem er, ohne dessen in dem Getümmel gewahr zu werden, einem +eben zum Volk sprechenden Tribun in die Rede fiel, worauf ein +verschollenes Statut aus der Zeit des alten Ständehaders die schwerste +Strafe gesetzt hatte. Der Konsul Lucius Opimius traf seine Maßregeln, +um den Aufstand zum Sturz der republikanischen Verfassung, wie man die +Vorgänge dieses Tages zu bezeichnen beliebte, mit bewaffneter Hand zu +unterdrücken. Er selbst durchwachte die Nacht im Kastortempel am +Markte; mit dem frühesten Morgen füllte das Kapitol sich mit kretischen +Bogenschützen, Rathaus und Markt mit den Männern der Regierungspartei, +den Senatoren und der ihnen anhängigen Fraktion der Ritterschaft, +welche auf Geheiß des Konsuls sämtlich bewaffnet und jeder von zwei +bewaffneten Sklaven begleitet sich eingefunden hatten. Es fehlte keiner +von der Aristokratie; selbst der ehrwürdige, hochbejahrte und der +Reform wohlgeneigte Quintus Metellus war mit Schild und Schwert +erschienen. Ein tüchtiger und in den spanischen Kriegen erprobter +Offizier, Decimus Brutus, übernahm das Kommando der bewaffneten Macht; +der Rat trat in der Kurie zusammen. Die Bahre mit der Leiche des +Gerichtsdieners ward vor der Kurie niedergesetzt; der Rat gleichsam +überrascht, erschien in Masse an der Tür, um die Leiche in Augenschein +zu nehmen, und zog sich sodann wieder zurück, um das weitere zu +beschließen. Die Führer der Demokratie hatten sich vom Kapitol in ihre +Häuser begeben; Marcus Flaccus hatte die Nacht damit zugebracht, zum +Straßenkrieg zu rüsten, während Gracchus es zu verschmähen schien, mit +dem Verhängnis zu kämpfen. Als man am andern Morgen die auf dem Kapitol +und dem Markt getroffenen Anstalten der Gegner erfuhr, begaben beide +sich auf den Aventin, die alte Burg der Volkspartei in den Kämpfen der +Patrizier und Plebejer. Schweigend und unbewaffnet ging Gracchus +dorthin; Flaccus rief die Sklaven zu den Waffen und verschanzte sich im +Tempel der Diana, während er zugleich seinen jüngeren Sohn Quintus in +das feindliche Lager sandte, um womöglich einen Vergleich zu +vermitteln. Dieser kam zurück mit der Meldung, daß die Aristokratie +unbedingte Ergebung verlange; zugleich brachte er die Ladung des Senats +an Gracchus und Flaccus, vor demselben zu erscheinen und wegen +Verletzung der tribunizischen Majestät sich zu verantworten. Gracchus +wollte der Vorladung folgen, allein Flaccus hinderte ihn daran und +wiederholte stattdessen den ebenso verkehrten wie schwächlichen +Versuch, solche Gegner zu einem Vergleich zu bestimmen. Als statt der +beiden vorgeladenen Führer bloß der junge Quintus Flaccus abermals sich +einstellte, behandelte der Konsul die Weigerung jener, sich zu stellen, +als den Anfang der offenen Insurrektion gegen die Regierung; er ließ +den Boten verhaften und gab das Zeichen zum Angriff auf den Aventin, +indem er zugleich in den Straßen ausrufen ließ, daß dem, der das Haupt +des Gracchus oder des Flaccus bringe, die Regierung dasselbe +buchstäblich mit Gold aufwiegen werde, sowie daß sie jedem, der vor dem +Beginn des Kampfs den Aventin verlasse, volle Straflosigkeit +gewährleiste. Die Reihen auf dem Aventin lichteten sich schnell; der +tapfere Adel im Verein mit den Kretern und den Sklaven erstürmte den +fast unverteidigten Berg und erschlug, wen er vorfand, bei 250 meist +geringe Leute. Marcus Flaccus flüchtete mit seinem ältesten Sohn in ein +Versteck, wo sie bald nachher aufgejagt und niedergemacht wurden. +Gracchus hatte, als das Gefecht begann, sich in den Tempel der Minerva +zurückgezogen und wollte hier sich mit dem Schwerte durchbohren, als +sein Freund Publius Laetorius ihm in den Arm fiel und ihn beschwor, +womöglich sich für bessere Zeiten zu erhalten. Gracchus ließ sich +bewegen, einen Versuch zu machen, nach dem andern Ufer des Tiber zu +entkommen; allein den Berg hinabeilend stürzte er und verstauchte sich +den Fuß. Ihm Zeit zum Entrinnen zu geben, warfen seine beiden +Begleiter, Marcus Pomponius an der Porta Trigemina unter dem Aventin, +Publius Laetorius auf der Tiberbrücke, da wo einst Horatius Cocles +allein gegen das Etruskerheer gestanden haben sollte, den Verfolgern +sich entgegen und ließen sich niedermachen; so gelangte Gracchus, nur +von seinem Sklaven Euporus begleitet, in die Vorstadt am rechten Ufer +des Tiber. Hier im Hain der Furrina fand man später die beiden Leichen; +es schien, als habe der Sklave zuerst dem Herrn und dann sich selber +den Tod gegeben. Die Köpfe der beiden gefallenen Führer wurden der +Regierung, wie befohlen, eingehändigt, auch dem Überbringer des Kopfes +des Gracchus, einem vornehmen Mann, Lucius Septumuleius, der bedungene +Preis und darüber ausgezahlt, dagegen die Mörder des Flaccus, geringe +Leute, mit leeren Händen fortgeschickt. Die Körper der Getöteten wurden +in den Fluß geworfen, die Häuser der Führer zur Plünderung der Menge +preisgegeben. Gegen die Anhänger des Gracchus begann der Prozeßkrieg im +großartigsten Stil; bis 3000 derselben sollen im Kerker aufgeknüpft +worden sein, unter ihnen der achtzehnjährige Quintus Flaccus, der an +dem Kampf nicht teilgenommen hatte und wegen seiner Jugend und seiner +Liebenswürdigkeit allgemein bedauert ward. Auf dem Freiplatz unter dem +Kapitol, wo der nach wiederhergestelltem innerem Frieden von Camillus +geweihte Altar und andere, bei ähnlichen Veranlassungen errichtete +Heiligtümer der Eintracht sich befanden, wurden diese kleinen Kapellen +niedergerissen und aus dem Vermögen der getöteten oder verurteilten +Hochverräter, das bis auf die Mitgift ihrer Frauen hin konfisziert +ward, nach Beschluß des Senats von dem Konsul Lucius Opimius ein neuer +glänzender Tempel der Eintracht mit dazugehöriger Halle errichtet - +allerdings war es zeitgemäß, die Zeichen der alten Eintracht zu +beseitigen und eine neue zu inaugurieren über den Leichen der drei +Enkel des Siegers von Zama, die nun alle, zuerst Tiberius Gracchus, +dann Scipio Aemilianus, endlich der jüngste und gewaltigste von ihnen, +Gaius Gracchus, von der Revolution verschlungen worden waren. Der +Gracchen Andenken blieb offiziell geächtet; nicht einmal das +Trauergewand durfte Cornelia um den Tod ihres letzten Sohnes anlegen. +Allein die leidenschaftliche Anhänglichkeit, die gar viele im Leben für +die beiden edlen Brüder und vornehmlich für Gaius empfunden hatten, +zeigte sich in rührender Weise auch nach ihrem Tode in der fast +religiösen Verehrung, die die Menge ihrem Andenken und an den Stätten, +wo sie gefallen waren, allen polizeilichen Vorkehrungen zum Trotz +fortfuhr zu zollen. + + + + +KAPITEL IV. +Die Restaurationsherrschaft + + +Das neue Gebäude, das Gaius Gracchus aufgeführt hatte, war mit seinem +Tode eine Ruine. Wohl war sein Tod wie der seines Bruders zunächst +nichts als ein Akt der Rache; allein es war doch zugleich ein sehr +wesentlicher Schritt zur Restauration der alten Verfassung, daß aus der +Monarchie, eben da sie im Begriff war, sich zu begründen, die Person +des Monarchen beseitigt ward; und in diesem Falle um so mehr, weil nach +der Katastrophe des Gaius und dem gründlichen Opimischen Blutgericht im +Augenblick schlechterdings niemand vorhanden war, der, sei es durch +Blutsverwandtschaft mit dem gefallenen Staatsoberhaupt, sei es durch +überwiegende Fähigkeit, auch nur zu einem Versuch, den erledigten Platz +einzunehmen, sich legitimiert gefühlt hätte. Gaius war ohne Kinder aus +der Welt gegangen, und auch Tiberius’ hinterlassener Knabe starb, bevor +er zu seinen Jahren kam; die ganze sogenannte Volkspartei war +buchstäblich ohne irgendeinen auch nur namhaft zu machenden Führer. Die +Gracchische Verfassung glich einer Festung ohne Kommandanten; Mauern +und Besatzung waren unversehrt, aber der Feldherr fehlte, und es war +niemand vorhanden, der an den leeren Platz sich hätte setzen mögen als +eben die gestürzte Regierung. + +So kam es denn auch. Nach Gaius Gracchus’ erblosem Abgang stellte das +Regiment des Senats gleichsam von selber sich wieder her; und es war +dies um so natürlicher, als dasselbe von dem Tribun nicht eigentlich +formell abgeschafft, sondern nur durch die von ihm ausgehenden +Ausnahmehandlungen tatsächlich zunichte gemacht worden war. Dennoch +würde man sehr irren, wenn man in dieser Restauration nichts weiter +sehen wollte als ein Zurückgleiten der Staatsmaschine in das alte, seit +Jahrhunderten befahrene und ausgefahrene Geleise. Restauration ist +immer auch Revolution; in diesem Falle aber ward nicht so sehr das alte +Regiment restauriert als der alte Regent. Die Oligarchie erschien neu +gerüstet in dem Heerzeug der gestürzten Tyrannis; wie der Senat den +Gracchus mit dessen eigenen Waffen aus dem Felde geschlagen hatte, so +fuhr er auch fort, in den wesentlichsten Stücken mit der Verfassung der +Gracchen zu regieren, allerdings mit dem Hintergedanken, sie seiner +Zeit wo nicht ganz zu beseitigen, doch gründlich zu reinigen von den +der regierenden Aristokratie in der Tat feindlichen Elementen. Fürs +erste reagierte man wesentlich nur gegen die Personen, rief den Publius +Popillius nach Kassierung der ihn betreffenden Verfügungen aus der +Verbannung zurück (633 121) und machte den Gracchanern den Prozeßkrieg; +wogegen der Versuch der Volkspartei, den Lucius Opimius nach +Niederlegung seines Amtes wegen Hochverrats zur Verurteilung zu +bringen, von der Regierungspartei vereitelt ward (634 120). Es ist für +den Charakter dieser Restaurationsregierung bezeichnend, wie die +Aristokratie an Gesinnungstüchtigkeit fortschritt. Gaius Carbo, einst +Bundesgenosse der Gracchen, hatte seit langem sich bekehrt und noch +kürzlich als Verteidiger des Opimius seinen Eifer und seine +Brauchbarkeit bewiesen. Aber er blieb der Überläufer; als gegen ihn von +den Demokraten die gleiche Anklage wie gegen Opimius erhoben ward, ließ +ihn die Regierung nicht ungern fallen, und Carbo, zwischen beiden +Parteien sich verloren sehend, gab sich mit eigener Hand den Tod. So +erwiesen die Männer der Reaktion in Personenfragen sich als lautere +Aristokraten. Dagegen die Getreideverteilungen, die Besteuerung der +Provinz Asia, die Gracchische Geschworenen- und Gerichtsordnung griff +die Reaktion zunächst nicht an und schonte nicht bloß die +Kaufmannschaft und das hauptstädtische Proletariat, sondern huldigte, +wie bereits bei der Einbringung der Livischen Gesetze, so auch ferner +diesen Mächten und vor allem dem Proletariat noch weit entschiedener, +als die Gracchen dies getan hatten. Es geschah dies nicht bloß, weil +die Gracchische Revolution in den Gemütern der Zeitgenossen noch lange +nachzitterte und ihre Schöpfungen schützte: die Hegung und Pflegung +wenigstens der Pöbelinteressen vertrug sich in der Tat aufs +vollkommenste mit dem eigenen Vorteil der Aristokratie, und es ward +dabei nichts weiter geopfert als bloß das gemeine Beste. Alle +diejenigen Maßregeln, die von Gaius Gracchus zur Förderung des +öffentlichen Wohls getroffen waren, eben den besten, freilich +begreiflicherweise auch den unpopulärsten Teil seiner Gesetzgebung, +ließ die Aristokratie fallen. Nichts wurde so rasch und so erfolgreich +angegriffen wie der großartigste seiner Entwürfe: der Plan, zunächst +die römische Bürgerschaft und Italien, sodann Italien und die Provinzen +rechtlich gleichzustellen und, indem also der Unterschied zwischen bloß +herrschenden und zehrenden und bloß dienenden und arbeitenden +Staatsangehörigen weggeräumt ward, zugleich durch die umfassendste und +systematischste Emigration, die die Geschichte kennt, die soziale Frage +zu lösen. Mit der ganzen Verbissenheit und dem ganzen grämlichen +Eigensinn der Altersschwäche drängte die restaurierte Oligarchie den +Grundsatz der abgelebten Geschlechter, daß Italien das herrschende Land +und Rom in Italien die herrschende Stadt bleiben müsse, der Gegenwart +aufs neue auf. Schon bei Lebzeiten des Gracchus war die Zurückweisung +der italischen Bundesgenossen eine vollendete Tatsache und war gegen +den großen Gedanken der überseeischen Kolonisation ein sehr ernsthafter +Angriff gerichtet worden, der die nächste Ursache zu Gracchus’ +Untergang geworden war. Nach seinem Tode wurde der Plan der +Wiederherstellung Karthagos mit leichter Mühe von der Regierungspartei +beseitigt, obgleich die einzelnen daselbst schon verteilten Landlose +den Empfängern geblieben sind. Zwar daß der demokratischen Partei auf +einem andern Punkte eine ähnliche Gründung gelang, konnte sie nicht +wehren: im Verlauf der Eroberungen jenseits der Alpen, welche Marcus +Flaccus begonnen hatte, wurde daselbst im Jahre 636 (118) die Kolonie +Narbo (Narbonne) begründet, die älteste überseeische Bürgerstadt im +Römischen Reiche, welche trotz vielfacher Anfechtungen der +Regierungspartei, trotz des geradezu auf Aufhebung derselben vom Senat +gestellten Antrags dennoch, geschützt wahrscheinlich durch die +beteiligten kaufmännischen Interessen, dauernden Bestand gehabt hat. +Indes abgesehen von dieser, in ihrer Vereinzelung nicht sehr +bedeutenden Ausnahme gelang es der Regierung, die Landanweisung +außerhalb Italiens durchgängig zu verhindern. + +In gleichem Sinne wurde die italische Domanialfrage geordnet. Die +italischen Kolonien des Gaius, vor allem Capua, wurden aufgehoben und, +soweit sie bereits zur Ausführung gekommen waren, wieder aufgelöst; nur +die unbedeutende tarentinische blieb in der Art bestehen, daß die neue +Stadt Neptunia der bisherigen griechischen Gemeinde an die Seite trat. +Was durch die nichtkoloniale Assignation von den Domänen bereits +verteilt war, blieb den Empfängern; die darauf von Gracchus im +Interesse des Gemeinwesens gelegten Beschränkungen, Erbzins und +Veräußerungsverbot, hatte bereits Marcus Drusus aufgehoben. Dagegen die +noch nach Okkupationsrecht besessenen Domänen, welche außer dem von den +Latinern genutzten Domanialland zum größten Teil bestanden haben werden +in dem gemäß des Gracchischen Maximum den Inhabern gebliebenen +Grundbesitz, war man entschlossen, den bisherigen Okkupanten definitiv +zuzuwenden und auch die Möglichkeit künftiger Aufteilung abzuschneiden. +Freilich waren es zunächst diese Ländereien, aus denen die 36000 von +Drusus verheißenen neuen Bauernhufen hätten gebildet werden sollen; +allein man sparte sich die Untersuchung, wo denn unter dem Monde diese +Hunderttausende von Morgen italischen Domaniallands belegen sein +möchten, und legte das Livische Kolonialgesetz, das seinen Dienst +getan, stillschweigend zu den Akten - nur etwa die kleine Kolonie von +Scolacium (Squillace) mag auf das Koloniengesetz des Drusus +zurückgehen. Dagegen wurde durch ein Gesetz, das im Auftrag des Senats +der Volkstribun Spurius Thorius durchbrachte, das Teilungsamt im Jahre +635 (119) aufgehoben und den Okkupanten des Domaniallandes ein fester +Zins auferlegt, dessen Ertrag dem hauptstädtischen Pöbel zugute kam - +es scheint, indem die Kornverteilung zum Teil darauf fundiert ward: +noch weitergehende Vorschläge, vielleicht eine Steigerung der +Getreidespenden, wehrte der verständige Volkstribun Gaius Marius ab. +Acht Jahre später (643 111) geschah der letzte Schritt, indem durch +einen neuen Volksschluß ^1 das okkupierte Domanialland geradezu +umgewandelt ward in zinsfreies Privateigentum der bisherigen +Okkupanten. Man fügte hinzu, daß in Zukunft Domanialland überhaupt +nicht okkupiert, sondern entweder verpachtet werden oder als gemeine +Weide offenstehen solle; für den letzteren Fall ward durch Feststellung +eines sehr niedrigen Maximum von zehn Stück Groß- und fünfzig Stück +Kleinvieh dafür gesorgt, daß nicht der große Herdenbesitzer den kleinen +tatsächlich ausschließe - verständige Bestimmungen, in denen die +Schädlichkeit des übrigen längst aufgegebenen Okkupationssystems +nachträglich offizielle Anerkennung fand, die aber leider erst +getroffen wurden, als dasselbe den Staat bereits wesentlich um seine +Domanialbesitzungen gebracht hatte. Indem die römische Aristokratie +also für sich selber sorgte und was von okkupiertem Lande noch in ihren +Händen war, sich in Eigentum umwandeln ließ, beschwichtigte sie +zugleich die italischen Bundesgenossen dadurch, daß sie denselben an +dem von ihnen und namentlich von ihrer munizipalen Aristokratie +genutzten latinischen Domanialland zwar nicht das Eigentum verlieh, +aber doch das ihnen durch ihre Privilegien verbriefte Recht daran +ungeschmälert wahrte. Die Gegenpartei war in der üblen Lage, daß in den +wichtigsten materiellen Fragen die Interessen der Italiker denen der +hauptstädtischen Opposition schnurstracks entgegenliefen, ja jene mit +der römischen Regierung eine Art Bündnis eingingen und gegen die +ausschweifenden Absichten mancher römischen Demagogen bei dem Senat +Schutz suchten und fanden. + +———————————————————————————— + +^1 Er ist großenteils noch vorhanden und bekannt unter dem jetzt seit +dreihundert Jahren fortgepflanzten falschen Namen des Thorischen +Ackergesetzes. + +———————————————————————————— + +Während also die restaurierte Regierung es sich angelegen sein ließ, +die Keime zum Bessern, die in der Gracchischen Verfassung vorhanden +waren, gründlich auszureuten, blieb sie den nicht zum Heil des Ganzen +von Gracchus erweckten feindlichen Mächten gegenüber vollständig +ohnmächtig. Das hauptstädtische Proletariat blieb bestehen in +anerkannter Zehrberechtigung; die Geschworenen aus dem Kaufmannsstand +ließ der Senat gleichfalls sich gefallen, so widerwärtig auch dieses +Joch eben dem besseren und stolzeren Teil der Aristokratie fiel. Es +waren unwürdige Fesseln, die die Aristokratie trug; aber wir finden +nicht, daß sie ernstlich dazu tat, sich derselben zu entledigen. Das +Gesetz des Marcus Aemilius Scaurus von 632 (122), das wenigstens die +verfassungsmäßigen Beschränkungen des Stimmrechts der Freigelassenen +einschärfte, war für lange Jahre der einzige, sehr zahme Versuch der +senatorischen Regierung, ihren Pöbeltyrannen wieder zu bändigen. Der +Antrag, den der Konsul Quintus Caepio siebzehn Jahre nach Einführung +der Rittergerichte (648 106) einbrachte auf Zurückgabe der Prozesse an +senatorische Geschworene, zeigte, was die Regierung wünschte, aber +auch, was sie vermochte, wenn es sich nicht darum handelte, Domänen zu +verschleudern, sondern einem einflußreichen Stande gegenüber eine +Maßregel durchzusetzen: sie fiel damit durch 2. Zu einer Emanzipation +der Regierung von ihren unbequemen Machtgenossen kam es nicht; wohl +aber trugen diese Maßregeln dazu bei, das niemals aufrichtige +Einverständnis der regierenden Aristokratie mit der Kaufmannschaft und +dem Proletariat noch ferner zu trüben. Beide wußten sehr genau, daß der +Senat alle Zugeständnisse nur aus Angst und widerwillig gewährte; weder +durch Dankbarkeits- noch durch Vorteilsrücksichten an die Herrschaft +des Senats dauernd gefesselt, waren beide sehr bereit, jedem anderen +Machthaber, der ihnen mehr oder auch nur das gleiche bot, dieselben +Dienste zu leisten, und hatten nichts dagegen, wenn sich eine +Gelegenheit gab, den Senat zu schikanieren oder zu hemmen. So regierte +die Restauration weiter mit den Wünschen und Gesinnungen der legitimen +Aristokratie und mit der Verfassung und den Regierungsmitteln der +Tyrannis. Ihre Herrschaft ruhte nicht bloß auf den gleichen Basen wie +die des Gracchus, sondern sie war auch gleich schlecht, ja noch +schlechter befestigt; sie war stark, wo sie mit dem Pöbel im Bunde +zweckmäßige Institutionen umstieß, aber den Gassenbanden wie den +kaufmännischen Interessen gegenüber vollkommen machtlos. Sie saß auf +dem erledigten Thron mit bösem Gewissen und geteilten Hoffnungen, den +Institutionen des eigenen Staates grollend und doch unfähig, auch nur +planmäßig sie anzugreifen, unsicher im Tun und Lassen außer, wo der +eigene materielle Vorteil sprach, ein Bild der Treulosigkeit gegen die +eigene wie die entgegengesetzte Partei, des inneren Widerspruchs, der +kläglichsten Ohnmacht, des gemeinsten Eigennutzes, ein unübertroffenes +Ideal der Mißregierung. + +—————————————————————————— + +2 Das zeigt, wie bekannt, der weitere Verlauf. Man hat dagegen geltend +gemacht, daß bei Valerius Maximus Quintus Caepio Patron des Senats +genannt werde; allein teils beweist dies nicht genug, teils paßt, was +daselbst erzählt wird, schlechterdings nicht auf den Konsul des Jahres +648 (106), und es muß hier eine Irrung sein, sei es nun im Namen oder +in den berichteten Tatsachen. + +—————————————————————————- + +Es konnte nicht anders sein; die gesamte Nation war in intellektuellem +und sittlichem Verfall, vor allem aber die höchsten Stände. Die +Aristokratie vor der Gracchenzeit war wahrlich nicht überreich an +Talenten und die Bänke des Senats vollgedrängt von feigem und +verlottertem adligen Gesindel; indes es saßen doch in demselben auch +Scipio Aemilianus, Gaius Laelius, Quintus Metellus, Publius Crassus, +Publius Scaevola und zahlreiche andere achtbare und fähige Männer, und +wer einigen guten Willen mitbrachte, konnte urteilen, daß der Senat in +der Unrechtfertigkeit ein gewisses Maß und ein gewisses Dekorum in dem +Mißregiment einhalte. Diese Aristokratie war gestürzt und sodann +wiederhergestellt worden; fortan ruhte auf ihr der Fluch der +Restauration. Hatte die Aristokratie früher regiert schlecht und recht +und seit mehr als einem Jahrhundert ohne jede fühlbare Opposition, so +hatte die durchgemachte Krise wie ein Blitz in dunkler Nacht ihr den +Abgrund gezeigt, der vor ihren Füßen klaffte. War es ein Wunder, daß +fortan der Groll immer und, wo sie es wagte, der Schrecken das Regiment +der altadligen Herrenpartei bezeichnete? daß die Regierenden noch +unendlich schroffer und gewaltsamer als bisher gegen die +nichtregierende Menge als festgeschlossene Partei zusammenstanden? daß +die Familienpolitik jetzt, eben wie in den schlimmsten Zeiten des +Patriziats, wiederum sich griff und zum Beispiel die vier Söhne und +(wahrscheinlich) die zwei Neffen des Quintus Metellus, mit einer +einzigen Ausnahme lauter unbedeutende, zum Teil ihrer Einfalt wegen +berufene Leute, innerhalb fünfzehn Jahren (631-645 123-109) sämtlich +zum Konsulat, mit Ausnahme eines einzigen auch zum Triumph gelangten, +von den Schwiegersöhnen und so weiter zu schweigen? daß, je gewalt- und +grausamer einer der Ihrigen gegen die Gegenpartei aufgetreten war, er +desto entschiedener von ihnen gefeiert, dem echten Aristokraten jeder +Frevel, jede Schamlosigkeit verziehen ward? daß die Regierenden und die +Regierten nur darin nicht zwei kriegführenden Parteien glichen, daß in +ihrem Krieg kein Völkerrecht galt? Es war leider nur zu begreiflich, +daß, wenn die alte Aristokratie das Volk mit Ruten schlug, diese +restaurierte es mit Skorpionen züchtigte. Sie kam zurück; aber sie kam +weder klüger noch besser. Nie hat es bis auf diese Zeit der römischen +Aristokratie so vollständig an staatsmännischen und militärischen +Kapazitäten gemangelt wie in dieser Restaurationsepoche zwischen der +Gracchischen und der Cinnanischen Revolution. Bezeichnend dafür ist der +Koryphäe der senatorischen Partei dieser Zeit, Marcus Aemilius Scaurus. +Der Sohn hochadliger, aber unvermögender Eltern und darum genötigt, +Gebrauch zu machen von seinen nicht gemeinen Talenten, schwang er sich +auf zum Konsul (639 115) und Zensor (645 109), war lange Jahre Vormann +des Senats und das politische Orakel seiner Standesgenossen und +verewigte seinen Namen nicht bloß als Redner und Schriftsteller, +sondern auch als Urheber einiger der ansehnlichsten in diesem +Jahrhundert ausgeführten Staatsbauten. Indes wenn man näher zusieht, +laufen seine vielgefeierten Großtaten darauf hinaus, daß er als +Feldherr einige wohlfeile Dorftriumphe in den Alpen, als Staatsmann mit +seinem Stimm- und Luxusgesetz einige ungefähr ebenso ernsthafte Siege +über den revolutionären Zeitgeist erfocht, sein eigentliches Talent +indes darin bestand, ganz ebenso zugänglich und bestechlich zu sein wie +jeder andere ehrenwerte Senator, aber mit einiger Schlauheit den +Augenblick, wo die Sache bedenklich zu werden anfing, zu wittern und +vor allem durch seine vornehme und ehrwürdige Erscheinung vor dem +Publikum den Fabricius zu agieren. In militärischer Hinsicht finden +sich zwar einige ehrenvolle Ausnahmen tüchtiger Offiziere aus den +höchsten Kreisen der Aristokratie; die Regel aber war, daß die +vornehmen Herren, wenn sie an die Spitze der Armeen treten sollten, +schleunigst aus den griechischen Kriegshandbüchern und den römischen +Annalen zusammenlasen, was nötig war, um einen militärischen Diskurs zu +führen und sodann im Feldlager im besten Fall das wirkliche Kommando +einem niedrig geborenen Offizier von erprobter Fähigkeit und erprobter +Bescheidenheit übergaben. In der Tat, wenn ein paar Jahrhunderte zuvor +der Senat einer Versammlung von Königen glich, so spielten diese ihre +Nachfahren nicht übel die Prinzen. Aber der Unfähigkeit dieser +restaurierten Adligen hielt völlig die Waage ihre politische und +sittliche Nichtswürdigkeit. Wenn nicht die religiösen Zustände, auf die +zurückzukommen sein wird, von der wüsten Zerfahrenheit dieser Zeit ein +treues Spiegelbild böten und ebenso die äußere Geschichte in dieser +Epoche die vollkommene Schlechtigkeit des römischen Adels als einen +ihrer wesentlichsten Faktoren aufwiese, so würden die entsetzlichsten +Verbrechen, die in den höchsten Kreisen Roms Schlag auf Schlag zum +Vorschein kamen, allein denselben hinreichend charakterisieren. + +Die Verwaltung war nach innen und nach außen, was sie sein konnte unter +einem solchen Regiment. Der soziale Ruin Italiens griff mit +erschreckender Geschwindigkeit um sich; seit die Aristokratie das +Auskaufen der Kleinbesitzer sich gesetzlich hatte erlauben lassen, und +in ihrem neuen Übermut das Austreiben derselben immer häufiger sich +selbst erlaubte, verschwanden die Bauernstellen wie die Regentropfen im +Meer. Wie mit der politischen die ökonomische Oligarchie mindestens +Schritt hielt, zeigt die Äußerung, die ein gemäßigt demokratischer +Mann, Lucius Marcius Philippus, um 650 (100) tat, daß es in der ganzen +Bürgerschaft kaum 2000 vermögende Familien gebe. Den praktischen +Kommentar dazu lieferten abermals die Sklavenaufstände, welche in den +ersten Jahren des Kimbrischen Krieges alljährlich in Italien +ausbrachen, so in Nuceria, in Capua, im Gebiet von Thurii. Diese letzte +Zusammenrottung war schon so bedeutend, daß gegen sie der städtische +Prätor mit seiner Legion hatte marschieren müssen und dennoch nicht +durch Waffengewalt, sondern nur durch tückischen Verrat der +Insurrektion Herr geworden war. Auch das war eine bedenkliche +Erscheinung, daß an der Spitze derselben kein Sklave gestanden hatte, +sondern der römische Ritter Titus Vettius, den seine Schulden zu dem +wahnsinnigen Schritt getrieben hatten, seine Sklaven frei und sich zu +ihrem König zu erklären (650 104). Wie gefährlich die Anhäufung der +Sklavenmassen in Italien der Regierung erschien, beweisen die +Vorsichtsmaßregeln hinsichtlich der Goldwäschereien von Victumulae, die +seit 611 (143) für Rechnung der römischen Regierung betrieben wurden: +die Pächter wurden zuerst verpflichtet, nicht über 5000 Arbeiter +anzustellen, später der Betrieb durch Senatsbeschluß gänzlich +eingestellt. Unter einem Regiment wie dem gegenwärtigen war in der Tat +alles zu fürchten, wenn, wie dies sehr möglich war, ein Heer von +Transalpinern in Italien eindrang und die großenteils stammverwandten +Sklaven zu den Waffen rief. + +Verhältnismäßig mehr noch litten die Provinzen. Man versuche sich +vorzustellen, wie es in Ostindien aussehen würde, wenn die englische +Aristokratie wäre, was in jener Zeit die römische war, und man wird +eine Vorstellung der Lage von Sizilien und Asia haben. Die +Gesetzgebung, indem sie der Kaufmannschaft die Kontrolle der Beamten +übertrug, nötigte diese, gewissermaßen gemeinschaftliche Sache mit +jener zu machen und durch unbedingte Nachgiebigkeit gegen die +Kapitalisten in den Provinzen sich unbeschränkte Plünderungsfreiheit +und Schutz vor der Anklage zu erkaufen. Neben diesen offiziell und +halboffiziell angestellten Räubern plünderten Land- und Seepiraten die +sämtlichen Landschaften des Mittelmeers. Vor allem in den asiatischen +Gewässern trieben die Flibustier es so arg, daß selbst die römische +Regierung sich genötigt sah, im Jahre 652 (102) eine wesentlich aus den +Schiffen der abhängigen Kaufstädte gebildete Flotte unter dem mit +prokonsularischer Gewalt bekleideten Prätor Marcus Antonius nach +Kilikien zu entsenden. Diese brachte nicht bloß eine Anzahl +Korsarenschiffe auf und nahm einige Felsennester aus, sondern die Römer +richteten hier sich sogar für die Dauer ein und besetzten zur +Unterdrückung des Seeraubs in dem Hauptsitz desselben, dem rauhen oder +westlichen Kilikien, feste militärische Positionen, was der Anfang war +zur Einrichtung der seitdem unter den römischen Ämtern erscheinenden +Provinz Kilikien 3. Die Absicht war löblich und der Plan an sich +zweckmäßig entworfen; nur bewies leider der Fortbestand und die +Steigerung des Korsarenunwesens in den asiatischen Gewässern und +speziell in Kilikien, mit wie unzulänglichen Mitteln man von der neu +genommenen Stellung aus die Piraterie bekämpfte. + +——————————————————————————- + +3 Vielfältig wird angenommen, daß die Einrichtung der Provinz Kilikien +erst erfolgte nach der kilikischen Expedition des Publius Servilius 676 +f. (78), allein mit Unrecht; denn schon 662 (92) finden wir Sulla (App. +Mithr. 57; civ. 1, 77; Aur. Vict. 75), 674 und 675 (80 79) Gnaeus +Dolabella (Cic. Verr. 1, 16 44) als Statthalter von Kilikien, wonach +nichts übrig bleibt, als die Einrichtung der Provinz in das Jahr 652 +(102) zu setzen. Hierfür spricht ferner, daß in dieser Zeit die Züge +der Römer gegen die Korsaren, wie zum Beispiel die balearischen, +ligurischen, dalmatischen, regelmäßig gerichtet erscheinen auf +Besetzung der Küstenpunkte, von wo der Seeraub ausging; natürlich, denn +da die Römer keine stehende Flotte hatten, war das einzige Mittel, dem +Seeraub wirksam zu steuern, die Besetzung der Küsten. Übrigens ist +daran zu erinnern, daß der Begriff der provincia nicht unbedingt Besitz +der Landschaft in sich schließt, sondern an sich nichts ist als ein +selbständiges militärisches Kommando; es ist sehr möglich, daß die +Römer zunächst in dieser rauhen Landschaft nichts nahmen als Station +für Schiffe und Mannschaft. + +Das ebene Ostkilikien blieb bis auf den Krieg gegen Tigranes bei dem +Syrischen Reich (App. Syr. 48); die ehemals zu Kilikien gerechneten +Landschaften nördlich des Tauros, das sogenannte kappadokische Kilikien +und Kataonien gehörten jenes seit der Auflösung des Attalischen Reiches +(Iust. 37, 1; oben S. 62), dieses wohl schon seit dem Frieden mit +Antiochos zu Kappadokien. + +—————————————————————————— + +Aber nirgends kam die Ohnmacht und die Verkehrtheit der römischen +Provinzialverwaltung in so nackter Blöße zu Tage wie in den +Insurrektionen des Sklavenproletariats, welche mit der Restauration der +Aristokratie zugleich in den vorigen Stand wieder eingesetzt zu sein +schienen. Jene aus Aufständen zu Kriegen anschwellenden +Schilderhebungen der Sklavenschaft, wie sie eben um das Jahr 620 (134) +als eine und vielleicht die nächste Ursache der Gracchischen Revolution +aufgetreten waren, erneuern und wiederholen sich in trauriger +Einförmigkeit. Wieder gärte es wie dreißig Jahre zuvor in der gesamten +Sklavenschaft im Römischen Reiche. Der italischen Zusammenrottungen +ward schon gedacht. In den attischen Silberbergwerken standen die +Grubenarbeiter auf, besetzten das Vorgebirge Sunion und plünderten +längere Zeit hindurch von dort aus die Umgegend; an anderen Orten +zeigten sich ähnliche Bewegungen. Vor allem war wieder der Hauptsitz +dieser fürchterlichen Vorgänge Sizilien mit seinen Plantagen und den +dort zusammenströmenden kleinasiatischen Sklavenhorden. Es ist +charakteristisch für die Größe des Übels, daß ein Versuch der +Regierung, den schlimmsten Unrechtfertigkeiten der Sklavenhalter zu +steuern, die nächste Ursache der neuen Insurrektion ward. Daß die +freien Proletarier in Sizilien wenig besser daran waren als die +Sklavenschaft, hatte schon ihr Verhalten zu dem ersten Aufstand +gezeigt; nach der Besiegung desselben nahmen die römischen Spekulanten +ihre Revanche und steckten die freien Provinzialen massenweise unter +die Sklavenschaften ein. Infolge einer hiergegen im Jahre 650 (204) vom +Senat erlassenen scharfen Verfügung setzte der damalige Statthalter von +Sizilien, Publius Licinius Nerva, in Syrakus ein Freiheitsgericht +nieder, das in der Tat mit Ernst durchgriff; in kurzer Zeit war in +achthundert Prozessen gegen die Sklavenbesitzer entschieden und die +Zahl der anhängig gemachten Sachen immer noch im Steigen. Die +erschreckten Plantagenbesitzer stürmten nach Syrakus, um von dem +römischen Statthalter die Sistierung solcher unerhörten Rechtspflege zu +erzwingen; Nerva war schwach genug, sich terrorisieren zu lassen und +die prozeßbittenden Unfreien mit barschen Worten anzuweisen, daß sie +sich des lästigen Verlangens von Recht und Gerechtigkeit zu begeben und +augenblicklich zu denen zurückzukehren hätten, die sich ihre Herren +nennten. Die Abgewiesenen rotteten statt dessen sich zusammen und +gingen in die Berge. Der Statthalter war auf militärische Maßregeln +nicht gefaßt und selbst der elende Landsturm der Insel nicht sogleich +zur Hand; weshalb er ein Bündnis abschloß mit einem der bekanntesten +Räuberhauptleute auf der Insel und durch das Versprechen eigener +Begnadigung ihn bewog, die aufständischen Sklaven durch Verrat den +Römern in die Hand zu spielen. Dieses Schwarmes ward man also Herr. +Allein einer anderen Bande entlaufener Sklaven gelang es, dafür eine +Abteilung der Besatzung von Enna (Castrogiovanni) zu schlagen, und +dieser erste Erfolg verschaffte den Insurgenten, was sie vor allem +bedurften, Waffen und Zulauf. Das Heergerät der gefallenen und +flüchtigen Gegner gab die erste Grundlage für ihre militärische +Organisation, und bald war die Zahl der Insurgenten auf viele Tausende +angeschwollen. Diese Syrer in der Fremde schienen bereits, gleich ihren +Vorgängern, sich nicht unwürdig, von Königen regiert zu werden wie ihre +Landsleute daheim und - den Lumpenkönig der Heimat bis auf den Namen +parodierend - stellten sie den Sklaven Salvius an ihre Spitze als König +Tryphon. In dem Strich zwischen Enna und Leontinoi (Lentini), wo diese +Haufen ihren Hauptsitz hatten, war das offene Land ganz in den Händen +der Insurgenten und Morgantia und andere ummauerte Städte schon von +ihnen belagert, als mit den eiligst zusammengerafften sizilischen und +italischen Scharen der römische Statthalter das Sklavenheer vor +Morgantia überfiel. Er besetzte das unverteidigte Lager; allein die +Sklaven, obwohl überrascht, hielten stand, und wie es zum Gefecht kam, +wich der Landsturm der Insel nicht bloß beim ersten Anprall, sondern, +da die Sklaven jeden, der die Waffen wegwarf, ungehindert entkommen +ließen, benutzten die Milizen fast ohne Ausnahme die gute Gelegenheit, +ihren Abschied zu nehmen, und das römische Heer lief vollständig +auseinander. Hätten die Sklaven in Morgantia mit ihren Genossen vor den +Toren gemeinschaftliche Sache machen wollen, so war die Stadt verloren; +sie zogen es indes vor, von ihren Herren gesetzmäßig die Freiheit +geschenkt zu nehmen und halfen ihnen durch ihre Tapferkeit die Stadt +retten, worauf sodann der römische Statthalter das den Sklaven von den +Herren feierlich gegebene Freiheitsversprechen als widerrechtlich +erzwungen von Rechts wegen kassierte. + +Während also im Innern der Insel der Aufstand in besorglicher Weise um +sich griff, brach ein zweiter aus auf der Westküste. An der Spitze +stand hier Athenion. Er war, eben wie Kleon, einst ein gefürchteter +Räuberhauptmann in seiner Heimat Kilikien gewesen und von dort als +Sklave nach Sizilien geführt worden. Ganz wie seine Vorgänger +versicherte er sich der Gemüter der Griechen und Syrer vor allem durch +Prophezeiungen und anderen erbaulichen Schwindel; aber kriegskundig und +einsichtig wie er war, bewaffnete er nicht, wie die übrigen Führer, die +ganze Masse der ihm zuströmenden Leute, sondern bildete aus den +kriegstüchtigen Mannschaften ein organisiertes Heer, während er die +Masse zu friedlicher Beschäftigung anwies. Bei der strengen Mannszucht, +die in seinen Truppen jedes Schwanken und jede unbotmäßige Regung +niederhielt, und der milden Behandlung der friedlichen Landbewohner und +selbst der Gefangenen errang er rasche und große Erfolge. Die Hoffnung, +daß die beiden Führer sich veruneinigen würden, schlug den Römern auch +diesmal fehl; freiwillig fügte sich Athenion dem weit minder fähigen +König Tryphon und erhielt damit die Einigkeit unter den Insurgenten. +Bald herrschten diese so gut wie unumschränkt auf dem platten Lande, wo +die freien Proletarier wieder mehr oder minder offen mit den Sklaven +hielten; die römischen Behörden waren nicht imstande, gegen sie das +Feld zu nehmen, und mußten sich begnügen, mit dem sizilischen und dem +eiligst herangezogenen afrikanischen Landsturm die Städte zu schützen, +welche sich in der beklagenswertesten Verfassung befanden. Die +Rechtspflege stockte auf der ganzen Insel, und es regierte einzig das +Faustrecht. Da kein Ackerbürger sich mehr vor das Tor, kein Landmann +sich in die Stadt wagte, brach die fürchterlichste Hungersnot herein, +und die städtische Bevölkerung dieser sonst Italien ernährenden Insel +mußte von den römischen Behörden mit Getreidesendungen unterstützt +werden. Dazu drohten überall im Innern die Verschwörungen der +Stadtsklaven und vor den Mauern die Insurgentenheere, wie denn selbst +Messana um ein Haar von Athenion erobert worden wäre. So schwer es der +Regierung fiel, während des ernsten Kimbrischen Krieges eine zweite +Armee ins Feld zu stellen, sie konnte doch nicht umhin, im Jahre 651 +(103) ein Heer von 14000 Römern und Italikern, umgerechnet die +überseeischen Milizen, unter dem Prätor Lucius Lucullus nach der Insel +zu entsenden. Das vereinigte Sklavenheer stand in den Bergen oberhalb +Sciacca und nahm die Schlacht an, die Lucullus anbot. Die bessere +militärische Organisation gab den Römern den Sieg: Athenion blieb für +tot auf der Walstatt, Tryphon mußte sich in die Bergfestung Triokala +werfen; die Insurgenten berieten ernstlich, ob es möglich sei, den +Kampf länger fortzusetzen. Indes die Partei, die entschlossen war, +auszuharren bis auf den letzten Mann, behielt die Oberhand; Athenion, +der in wunderbarer Weise gerettet worden war, trat wieder unter die +Seinigen und belebte den gesunkenen Mut; vor allem aber tat Lucullus +unbegreiflicherweise nicht das geringste, um seinen Sieg zu verfolgen, +ja er soll absichtlich die Armee desorganisiert und sein Feldgerät +verbrannt haben, um die gänzliche Erfolglosigkeit seiner Amtsführung zu +bedecken und von seinem Nachfolger nicht in Schatten gestellt zu +werden. Mag dies wahr sein oder nicht, sein Nachfolger Gaius Servilius +(652 102) erlangte nicht bessere Resultate, und beide Generale sind +später ihrer Amtsführung wegen kriminell belangt und verurteilt worden, +was freilich auch durchaus kein sicherer Beweis für ihre Schuld ist. +Athenion, der nach Tryphons Tode (652 102) den Oberbefehl allein +übernommen hatte, stand siegreich an der Spitze eines ansehnlichen +Heeres, als im Jahre 653 (101) Manius Aquillius, der das Jahr zuvor +unter Marius im Teutonenkriege sich ausgezeichnet hatte, als Konsul und +Statthalter die Führung des Krieges übernahm. Nach zweijährigen harten +Kämpfen - Aquillius soll mit Athenion persönlich gefochten und ihn im +Zweikampf getötet haben - schlug der römische Feldherr endlich die +verzweifelte Gegenwehr nieder und überwand die Insurgenten in ihren +letzten Schlupfwinkeln durch Hunger. Den Sklaven auf der Insel wurde +das Waffentragen untersagt und der Friede zog wieder auf ihr ein, das +heißt die neuen Peiniger wurden abgelöst von den altgewohnten; wie denn +namentlich der Sieger selbst unter den zahlreichen und energischen +Räuberbeamten dieser Zeit eine hervorragende Stelle einnimmt. Für wen +es aber noch eines Beweises bedurfte, wie das Regiment der +restaurierten Aristokratie im Innern beschaffen war, den konnte man auf +die Entstehung wie auf die Führung dieses zweiten fünfjährigen +Sizilischen Sklavenkrieges verweisen. + +Wo man aber auch hinsehen mochte in dem weiten Kreis der römischen +Verwaltung, es traten dieselben Ursachen und dieselben Wirkungen +hervor. Wenn der sizilische Sklavenkrieg zeigt, wie wenig die Regierung +auch nur der einfachsten Aufgabe, das Proletariat niederzuhalten, +gewachsen war, so offenbarten die gleichzeitigen Ereignisse in Afrika, +wie man jetzt in Rom es verstand, Klientelstaaten zu regieren. Um +dieselbe Zeit, wo der Sizilische Sklavenkrieg ausbrach, ward auch vor +den Augen der erstaunten Welt das Schauspiel aufgeführt, daß gegen die +gewaltige Republik, die die Königreiche Makedonien und Asien mit einem +Schlag ihres schweren Armes zerschmettert hatte, ein unbedeutender +Klientelfürst nicht mittels Waffen, sondern mittels der Erbärmlichkeit +ihrer regierenden Herren eine vierzehnjährige Usurpation und +Insurrektion durchzuführen vermochte. + +Das Königreich Numidien dehnte vom Flusse Molochat sich aus bis an die +Große Syrte, so daß es einerseits grenzte an das Mauretanische Reich +von Tingis (das heutige Marokko), andererseits an Kyrene und Ägypten, +und den schmalen Küstenstrich der römischen Provinz Africa westlich, +südlich und östlich umschloß; es umfaßte außer den alten Besitzungen +der numidischen Häuptlinge den bei weitem größten Teil desjenigen +Gebiets, welches Karthago in den Zeiten seiner Blüte in Afrika besessen +hatte, darunter mehrere bedeutende altphönikische Städte wie Hippo +regius (Bona) und Groß-Leptis (Lebidah), überhaupt den größten und +besten Teil des reichen nordafrikanischen Küstenlandes. Nächst Ägypten +war ohne Frage Numidien der ansehnlichste unter allen römischen +Klientelstaaten. Nach Massinissas Tode (605 149) hatte Scipio unter +dessen drei Söhne, die Könige Micipsa, Gulussa und Mastanabal, die +väterliche Herrschaft in der Art geteilt, daß der erstgeborene die +Residenz und die Staatskasse, der zweite den Krieg, der dritte die +Gerichtsbarkeit übernahm. Jetzt regierte nach dem Tode seiner beiden +Brüder wieder allein Massinissas ältester Sohn Micipsa 4, ein +schwacher, friedlicher Greis, der lieber als mit Staatsangelegenheiten +sich mit dem Studium der griechischen Philosophie beschäftigte. Da +seine Söhne noch nicht erwachsen waren, führte tatsächlich die Zügel +der Regierung ein illegitimer Neffe des Königs, der Prinz Jugurtha. +Jugurtha war kein unwürdiger Enkel Massinissas. Er war ein schöner Mann +und ein gewandter und mutiger Reiter und Jäger; seine Landsleute +hielten den klaren und einsichtigen Verwalter in hohen Ehren, und seine +militärische Brauchbarkeit hatte er als Führer des numidischen +Kontingents vor Numantia unter Scipios Augen erwiesen. Seine Stellung +im Königreich und der Einfluß, dessen er durch seine zahlreichen +Freunde und Kriegskameraden bei der römischen Regierung genoß, ließen +es König Micipsa ratsam erscheinen, ihn zu adoptieren (634 120) und in +seinem Testament zu verordnen, daß des Königs beide älteste leibliche +Söhne Adherbal und Hiempsal und sein Adoptivsohn Jugurtha selbdritt, +ebenso wie er selbst mit seinen beiden Brüdern, zu gesamter Hand das +Reich erben und regieren sollten. Zu größerer Sicherheit wurde diese +Verfügung unter die Garantie der römischen Regierung gestellt. Bald +nachher, im Jahre 636 (118) starb König Micipsa. Das Testament trat in +Kraft; allein die beiden Söhne Micipsas, mehr noch als der schwache +ältere Bruder der heftige Hiempsal, gerieten bald mit ihrem Vetter, den +sie als Eindringling in die legitime Erbfolge ansahen, so heftig +zusammen, daß der Gedanke an eine Gesamtregierung der drei Könige +aufgegeben werden mußte. Man versuchte eine Realteilung durchzuführen; +allein die hadernden Könige vermochten über die Landes- und +Schatzquoten sich nicht zu einigen, und die Schutzmacht, der hier von +Rechts wegen das entscheidende Wort zustand, bekümmerte wie gewöhnlich +um diese Angelegenheit sich nicht. Es kam zum Bruch; Adherbal und +Hiempsal mochten das Testament des Vaters als erschlichen bezeichnen +und Jugurthas Miterbrecht überhaupt bestreiten, wogegen Jugurtha +auftrat als Prätendent auf das gesamte Königreich. Noch während der +Verhandlungen über die Teilung ward Hiempsal durch gedungene +Meuchelmörder aus dem Wege geschafft; zwischen Adherbal und Jugurtha +kam es zum Bürgerkriege, in dem ganz Numidien Partei nahm. Mit seinen +minder zahlreichen, aber besser geübten und besser geführten Truppen +siegte Jugurtha und bemächtigte sich des gesamten Reichsgebiets unter +den grausamsten Verfolgungen gegen die seinem Vetter anhängenden +Häupter. Adherbal rettete sich nach der römischen Provinz und ging von +da nach Rom, um dort Klage zu führen. Jugurtha hatte es erwartet und +sich darauf eingerichtet, der drohenden Intervention zu begegnen. Er +hatte im Lager von Numantia noch mehr von Rom kennengelernt als die +römische Taktik: der numidische Prinz, eingeführt in die Kreise der +römischen Aristokraten, war zugleich eingeweiht worden in die römischen +Koterieintrigen und hatte an der Quelle studiert, was man römischen +Adligen zumuten könne; schon damals, sechzehn Jahre vor Micipsas Tode, +hatte er illoyale Unterhandlungen über die numidische Erbfolge mit +vornehmen römischen Kameraden gepflogen und hatte Scipio ihn ernstlich +erinnern müssen, daß es fremden Prinzen anständiger sei, mit dem +römischen Staat als mit einzelnen römischen Bürgern Freundschaft zu +halten. Jugurthas Gesandte erschienen in Rom, nicht bloß mit Worten +ausgerüstet; daß sie die richtigen diplomatischen Überzeugungsmittel +gewählt hatten, bewies der Erfolg. Die eifrigsten Vertreter von +Adherbals gutem Recht überzeugten in unglaublicher Geschwindigkeit sich +davon, daß Hiempsal seiner Grausamkeit halber von seinen Untertanen +umgebracht worden und daß der Urheber des Erbfolgkrieges nicht Jugurtha +sei, sondern Adherbal. Selbst die leitenden Männer im Senat erschraken +vor dem Skandal; Marcus Scaurus suchte zu steuern; es war umsonst. Der +Senat überging das Geschehene mit Stillschweigen und verfügte, daß die +beiden überlebenden Testamentserben das Reich zu gleichen Teilen +erhalten und zur Verhütung neuen Haders die Teilung durch eine +Kommission des Senats vorgenommen werden solle. Sie kam; der Konsular +Lucius Opimius, bekannt durch seine Verdienste um die Beseitigung der +Revolution, hatte die Gelegenheit wahrgenommen, den Lohn für seinen +Patriotismus einzuziehen, und sich an die Spitze dieser Kommission +stellen lassen. Die Teilung fiel durchaus zu Jugurthas Gunsten und +nicht zum Nachteil der Kommissarien aus; die Hauptstadt Cirta +(Constantine) mit ihrem Hafen Rusicade (Philippeville) kam zwar an +Adherbal, allein eben dadurch ward ihm der fast ganz aus Sandwüsten +bestehende östliche Teil des Reiches, Jugurtha dagegen die fruchtbare +und bevölkerte Westhälfte (das spätere Sitifensische und Cäsariensische +Mauretanien) zu teil. + +——————————————————————— + +4 Der Stammbaum der numidischen Fürsten ist folgender: + + +——————————————————————— + +Es war arg; bald kam es noch schlimmer. Um mit einigem Schein im Wege +der Verteidigung Adherbal um seine Hälfte bringen zu können, reizte +Jugurtha denselben zum Kriege; indes da der schwache Mann, durch die +gemachten Erfahrungen gewitzigt, Jugurthas Reiter sein Gebiet +ungehindert brandschatzen ließ und sich begnügte, in Rom Beschwerde zu +führen, begann Jugurtha, ungeduldig über diese Weitläufigkeiten, auch +ohne Vorwand den Krieg. In der Gegend des heutigen Philippeville ward +Adherbal vollständig geschlagen und warf sich in seine nahe Hauptstadt +Cirta. Während die Belagerung ihren Fortgang nahm und Jugurthas Truppen +mit den in Cirta zahlreich ansässigen und bei der Verteidigung der +Stadt lebhafter als die Afrikaner selbst sich beteiligenden Italikern +täglich sich herumschlugen, erschien die von dem römischen Senat auf +Adherbals erste Beschwerden abgeordnete Kommission; natürlich junge +unerfahrene Menschen, wie die Regierung damals sie zu gewöhnlichen +Staatssendungen regelmäßig verwandte. Die Gesandten verlangten, daß +Jugurtha sie als von der Schutzmacht an Adherbal abgeordnet in die +Stadt einlasse, überhaupt aber den Kampf einstelle und ihre Vermittlung +annehme. Jugurtha schlug beides kurzweg ab und die Gesandten zogen +schleunigst heim wie die Knaben, die sie waren, um an die Väter der +Stadt zu berichten. Die Väter hörten den Bericht an und ließen ihre +Landsleute in Cirta eben weiter fechten, solange es ihnen beliebte. +Erst als im fünften Monat der Belagerung ein Bote des Adherbal durch +die Verschanzungen der Feinde sich durchschlich, und ein Schreiben des +Königs voll der flehentlichsten Bitten an den Senat kam, raffte +derselbe sich auf und faßte wirklich einen Beschluß - nicht etwa den +Krieg zu erklären, wie die Minorität es verlangte, sondern eine neue +Gesandtschaft zu schicken, aber eine Gesandtschaft mit Marcus Scaurus +an der Spitze, dem großen Bezwinger der Taurisker und der +Freigelassenen, dem imponierenden Heros der Aristokratie, dessen bloßes +Erscheinen genügen werde, den ungehorsamen König auf andere Gedanken zu +bringen. In der Tat erschien Jugurtha, wie geheißen, in Utica, um mit +Scaurus zu verhandeln; endlose Debatten wurden gepflogen; als endlich +die Konferenz geschlossen ward, war nicht das geringste Resultat +erreicht. Die Gesandtschaft ging, ohne den Krieg erklärt zu haben, nach +Rom zurück und der König wieder ab zur Belagerung von Cirta. Adherbal +sah sich aufs Äußerste gebracht und verzweifelte an der römischen +Unterstützung; die Italiker in Cirta, der Belagerung müde und für ihre +eigene Sicherheit fest vertrauend auf die Furcht vor dem römischen +Namen, drängten überdies zur Übergabe. So kapitulierte die Stadt. +Jugurtha gab Befehl, seinen Adoptivbruder unter grausamen Martern +hinzurichten, die sämtliche erwachsene männliche Bevölkerung der Stadt +aber, Afrikaner wie Italiker, über die Klinge springen zu lassen (642 +112). + +Ein Schrei der Entrüstung ging durch ganz Italien. Die Minorität des +Senats selbst und alles, was nicht Senat war, verdammten einmütig diese +Regierung, für die die Ehre und das Interesse des Landes nichts zu sein +schienen als verkäufliche Artikel; am lautesten die Kaufmannschaft, die +durch die Hinopferung der römischen und italischen Kaufleute in Cirta +am nächsten getroffen worden war. Die Majorität des Senats sträubte +sich zwar auch jetzt noch; sie appellierte an die Standesinteressen der +Aristokratie und setzte alle Hebel der kollegialischen +Geschäftsverschleppung in Bewegung, um den lieben Frieden noch ferner +zu bewahren. Indes als der für 643 (111) gewählte Volkstribun Gaius +Memmius, ein tätiger und beredter Mann, sofort nach Antritt seines +Amtes den Handel öffentlich zur Sprache brachte und die schlimmsten +Sünder zu gerichtlicher Verantwortung ziehen zu wollen drohte, ließ der +Senat es geschehen, daß der Krieg an Jugurtha erklärt ward (642/43 +112/11). Es schien ernst zu werden. Jugurthas Gesandte wurden, ohne +vorgelassen zu sein, aus Italien ausgewiesen; der neue Konsul Lucius +Calpurnius Bestia, der, unter seinen Standesgenossen wenigstens, durch +Einsicht und Tätigkeit sich auszeichnete, betrieb die Rüstungen mit +Energie; Marcus Scaurus selbst übernahm eine Befehlshaberstelle in der +afrikanischen Armee; in kurzer Zeit stand ein römisches Heer auf +afrikanischem Boden und rückte, am Bagradas (Medscherda) +hinaufmarschierend, ein in das Numidische Königreich, wo die vor dem +Sitz der königlichen Macht entlegensten Städte, wie Groß-Leptis, +bereits freiwillig ihre Unterwerfung einsandten, während König Bocchus +von Mauretanien, obwohl seine Tochter mit Jugurtha vermählt war, doch +den Römern Freundschaft und Bündnis antrug. Jugurtha selbst verlor den +Mut und sandte Boten in das römische Hauptquartier, um Waffenstillstand +zu erbitten. Das Ende des Kampfes schien nahe und kam noch schneller, +als man dachte. Der Vertrag mit König Bocchus scheiterte daran, daß der +König, unbekannt mit den römischen Sitten, diesen den Römern +vorteilhaften Vertrag umsonst abschließen zu können gemeint und deshalb +versäumt hatte, seinen Boten den marktgängigen Preis römischer +Bündnisse mitzugeben. Jugurtha kannte allerdings die römischen +Institutionen besser und hatte nicht versäumt, seine +Waffenstillstandsanträge durch die gehörigen Begleitgelder zu +unterstützen; indes auch er hatte sich getäuscht. Nach den ersten +Verhandlungen ergab es sich, daß im römischen Hauptquartier nicht bloß +der Waffenstillstand feil sei, sondern auch der Friede. Die königliche +Schatzkammer war noch von Massinissas Zeiten her wohl gefüllt; rasch +war man handelseinig. Der Vertrag ward abgeschlossen, nachdem der Form +halber derselbe dem Kriegsrat vorgelegt und nach einer unordentlichen +und möglichst summarischen Verhandlung dessen Zustimmung erwirkt worden +war. Jugurtha unterwarf sich auf Gnade und Ungnade; der Sieger aber +übte Gnade und gab dem König sein Reich ungeschmälert zurück gegen eine +mäßige Buße und die Auslieferung der römischen Oberläufer und der +Kriegselefanten (643 111), welche letztere der König großenteils später +wiedereinhandelte durch Verträge mit den einzelnen römischen +Platzkommandanten und Offizieren. + +Auf die Kunde davon brach in Rom abermals der Sturm los. Alle Welt +wußte, wie der Friede zustande gekommen war; selbst Scaurus also war zu +haben, nur um einen höheren als den gemeinen senatorischen +Durchschnittspreis. Die Rechtsbeständigkeit des Friedens ward im Senat +ernstlich angefochten; Gaius Memmius erklärte, daß der König, wenn er +wirklich unbedingt sich unterworfen habe, sich nicht weigern könne, in +Rom zu erscheinen und man ihn demnach vorladen möge, um hinsichtlich +der durchaus irregulären Friedensverhandlungen durch Vernehmung der +beiden paziszierenden Teile den Tatbestand festzustellen. Man fügte +sich der unbequemen Forderung; rechtswidrig aber, da der König nicht +als Feind kam, sondern als unterworfener Mann, ward demselben zugleich +sicheres Geleit zugestanden. Daraufhin erschien der König in der Tat in +Rom und stellte sich zum Verhör vor dem versammelten Volke, das mühsam +bewogen ward, das sichere Geleit zu respektieren und den Mörder der +cirtensischen Italiker nicht auf der Stelle zu zerreißen. Allein kaum +hatte Gaius Memmius die erste Frage an den König gerichtet, als einer +seiner Kollegen kraft seines Veto einschritt und dem Könige befahl zu +schweigen. Auch hier also war das afrikanische Gold mächtiger als der +Wille des souveränen Volkes und seiner höchsten Beamten. Inzwischen +gingen im Senat die Verhandlungen über die Gültigkeit des soeben +abgeschlossenen Friedens weiter und der neue Konsul Spurius Postumius +Albinus nahm eifrig Partei für den Antrag, denselben zu kassieren, in +der Aussicht, daß dann der Oberbefehl in Afrika an ihn kommen werde. +Dies veranlaßte einen in Rom lebenden Enkel Massinissas, den Massiva, +seine Ansprüche auf das erledigte Numidische Reich bei dem Senat +geltend zu machen; worauf Bomilkar, einer der Vertrauten des Königs +Jugurtha, den Konkurrenten seines Herrn, ohne Zweifel in dessen +Auftrag, meuchlerisch aus dem Wege schaffte und, da ihm dafür der +Prozeß gemacht ward, mit Hilfe Jugurthas aus Rom entfloh. Dies neue, +unter den Augen der römischen Regierung verübte Verbrechen bewirkte +wenigstens so viel, daß der Senat nun den Frieden kassierte und den +König aus der Stadt auswies (Winter 643/44 111/10). Der Krieg ging also +wieder an, und der Konsul Spurius Albinus übernahm den Oberbefehl (644 +110). Allein das afrikanische Heer war bis in die untersten Schichten +hinab in derjenigen Zerrüttung, wie sie einer solchen politischen und +militärischen Oberleitung angemessen ist. Nicht bloß von Disziplin war +die Rede nicht mehr und die Plünderung der numidischen Ortschaften, ja +des römischen Provinzialgebiets während der Waffenruhe das +Hauptgeschäft der römischen Soldateska gewesen, sondern es hatten auch +nicht wenige Offiziere und Soldaten so gut wie ihre Generale heimliche +Einverständnisse angeknüpft mit dem Feinde. Daß ein solches Heer im +Felde nichts ausrichten konnte, ist begreiflich, und wenn Jugurtha auch +diesmal vom römischen Obergeneral die Untätigkeit kaufte, wie dies +später gegen denselben gerichtlich geltend gemacht ward, so tat er +wahrlich ein übriges. Spurius Albinus also begnügte sich damit, nichts +zu tun; dagegen sein Bruder, der nach seiner Abreise interimistisch den +Oberbefehl übernahm, der ebenso tolldreiste als unfähige Aulus +Postumius, kam mitten im Winter auf den Gedanken, durch einen kühnen +Handstreich sich der Schätze des Königs zu bemächtigen, die in der +schwer zugänglichen und schwer zu erobernden Stadt Suthul (später +Calama, jetzt Guelma) sich befanden. Das Heer brach dahin auf und +erreichte die Stadt; allein die Belagerung war erfolg- und +aussichtslos, und als der König, der eine Zeitlang mit seinen Truppen +vor der Stadt gestanden, in die Wüste ging, zog der römische Feldherr +es vor, ihn zu verfolgen. Dies eben hatte Jugurtha beabsichtigt; durch +einen nächtlichen Angriff, wobei die Schwierigkeiten des Terrains und +Jugurthas Einverständnisse in der römischen Armee zusammenwirkten, +eroberten die Numidier das römische Lager und trieben die großenteils +waffenlosen Römer in der vollständigsten und schimpflichsten Flucht vor +sich her. Die Folge war eine Kapitulation, deren Bedingungen: Abzug des +römischen Heeres unter dem Joch, sofortige Räumung des ganzen +numidischen Gebiets, Erneuerung des vom Senat kassierten +Bündnisvertrages, von Jugurtha diktiert und von den Römern angenommen +wurden (Anfang 645 109). + +Dies war denn doch zu arg. Während die Afrikaner jubelten und die +plötzlich eröffnende Aussicht auf den kaum noch für möglich gehaltenen +Sturz der Fremdherrschaft zahlreiche Stämme der freien und halbfreien +Wüstenbewohner unter die Fahnen des siegreichen Königs führte, brauste +in Italien die öffentliche Meinung hoch auf gegen die ebenso verdorbene +wie verderbliche Regierungsaristokratie und brach los in einem +Prozeßsturm, der, genährt durch die Erbitterung der Kaufmannschaft, +eine Reihe von Opfern aus den höchsten Kreisen des Adels wegraffte. Auf +den Antrag des Volkstribuns Gaius Mamilius Limetanus ward trotz der +schüchternen Versuche des Senats, das Strafgericht abzuwenden, eine +außerordentliche Geschworenenkommission bestellt zur Untersuchung des +in der numidischen Sukzessionsfrage vorgekommenen Landesverrats, und +ihre Wahlsprüche sandten die beiden bisherigen Oberfeldherren, Gaius +Bestia und Spurius Albinus, ferner den Lucius Opimius, das Haupt der +ersten afrikanischen Kommission und nebenbei den Henker des Gaius +Gracchus, außerdem zahlreiche andere weniger namhafte schuldige und +unschuldige Männer der Regierungspartei in die Verbannung. Daß indes +diese Prozesse einzig darauf hinausliefen, durch Aufopferung einiger +der am meisten kompromittierten Personen die aufgeregte öffentliche +Meinung namentlich der Kapitalistenkreise zu beschwichtigen, und daß +dabei von einer Auflehnung des Volkszorns gegen das recht- und ehrlose +Regiment selbst nicht die leiseste Spur vorhanden war, zeigt sehr +deutlich die Tatsache, daß an den schuldigsten unter den Schuldigen, an +den klugen und mächtigen Scaurus nicht bloß niemand sich wagte, sondern +daß er eben um diese Zeit zum Zensor, ja sogar unglaublicherweise zu +einem der Vorstände der außerordentlichen Hochverratskommission erwählt +ward. Um so weniger ward auch nur der Versuch gemacht, der Regierung in +ihre Kompetenz zu greifen, und es blieb lediglich dem Senat überlassen, +dem numidischen Skandal in der für die Aristokratie möglichst gelinden +Weise ein Ende zu machen; denn daß dies an der Zeit war, mochte wohl +selbst der adligste Adlige anfangen zu begreifen. + +Der Senat kassierte zunächst auch den zweiten Friedensvertrag - den +Oberbefehlshaber, der ihn abgeschlossen, dem Feinde auszuliefern, wie +dies noch vor dreißig Jahren geschehen war, schien nach den neuen +Begriffen von der Heiligkeit der Verträge nicht ferner nötig -, und die +Erneuerung des Krieges ward diesmal allen Ernstes beschlossen. Man +übergab den Oberbefehl in Afrika zwar wie natürlich einem Aristokraten, +aber noch einem der wenigen vornehmen Männer, die militärisch und +sittlich der Aufgabe gewachsen waren. Die Wahl fiel auf Quintus +Metellus. Er war wie die ganze mächtige Familie, der er angehörte, +seinen Grundsätzen nach ein starrer und rücksichtsloser Aristokrat, als +Beamter ein Mann, der es zwar sich zur Ehre rechnete, zum Besten des +Staats Meuchelmörder zu dingen, und was Fabricius gegen Pyrrhos tat, +vermutlich als unpraktische Donquichotterie verlacht haben würde, aber +doch ein unbeugsamer, weder der Furcht noch der Bestechung zugänglicher +Verwalter und ein einsichtiger und erfahrener Kriegsmann. In dieser +Hinsicht war er auch von seinen Standesvorurteilen so weit frei, daß er +sich zu seinen Unterbefehlshabern nicht vornehme Leute aussuchte, +sondern den trefflichen Offizier Publius Rutilius Rufus, der wegen +seiner musterhaften Mannszucht und als Urheber eines veränderten und +verbesserten Exerzierreglements in militärischen Kreisen geschätzt +ward, und den tapferen, von der Pike emporgedienten latinischen +Bauernsohn Gaius Marius. Von diesen und anderen fähigen Offizieren +begleitet, erschien Metellus im Laufe des Jahres 645 (109) als Konsul +und Oberfeldherr bei der afrikanischen Armee, die er in einem so +zerrütteten Zustand antraf, daß die Generale bisher nicht gewagt +hatten, sie auf das feindliche Gebiet zu führen und sie niemand +fürchterlich war als den unglücklichen Bewohnern der römischen Provinz. +Streng und rasch wurde sie reorganisiert und im Frühling des Jahres 646 +(108) 5 führte Metellus sie über die numidische Grenze. Wie Jugurtha +der veränderten Lage der Dinge inne ward, gab er sich verloren und +machte, noch ehe der Kampf begann, ernstlich gemeinte +Vergleichsanträge, indem er schließlich nichts weiter begehrte, als daß +man ihm das Leben zusichere. Indes Metellus war entschlossen und +vielleicht selbst angewiesen, den Krieg nicht anders zu beendigen als +mit der unbedingten Unterwerfung und der Hinrichtung des verwegenen +Klientelfürsten; was auch in der Tat der einzige Ausgang war, der den +Römern genügen konnte. Jugurtha galt seit dem Sieg über Albinus als der +Erlöser Libyens von der Herrschaft der verhaßten Fremden; rücksichtslos +und schlau, wie er, und unbeholfen, wie die römische Regierung war, +konnte er jederzeit auch nach dem Frieden wieder in seiner Heimat den +Krieg entzünden; die Ruhe war nicht eher gesichert und die Entfernung +der afrikanischen Armee nicht eher möglich, als wenn König Jugurtha +nicht mehr war. Offiziell gab Metellus ausweichende Antworten auf die +Anträge des Königs; insgeheim stiftete er die Boten desselben auf, +ihren Herrn lebend oder tot an die Römer auszuliefern. Indes wenn der +römische General es unternahm, mit dem Afrikaner auf dem Gebiet des +Meuchelmordes zu wetteifern, so fand er hier seinen Meister; Jugurtha +durchschaute den Plan und rüstete sich, da er nicht anders konnte, zur +verzweifelten Gegenwehr. Jenseits des völlig öden Gebirgszugs, über den +der Weg der Römer in das Innere führte, erstreckte sich in der Breite +von vier deutschen Meilen bis zu dem dem Gebirgszug parallel laufenden +Flusse Muthul eine weite Ebene, welche bis auf die unmittelbare +Nachbarschaft des Flusses wasser- und baumlos war und nur durch einen +mit niedrigem Gestrüpp bedeckten Hügelrücken in der Quere durchsetzt +ward. Auf diesem Hügelrücken erwartete Jugurtha das römische Heer. +Seine Truppen standen in zwei Massen: die eine, ein Teil der Infanterie +und die Elefanten, unter Bomilkar da, wo der Rücken auslief gegen den +Fluß, die andere, der Kern des Fußvolks und die gesamte Reiterei, höher +hinauf gegen den Gebirgszug, verdeckt durch das Gestrüpp. Aus dem +Gebirge debouchierend, erblickten die Römer den Feind in einer ihre +rechte Flanke vollständig beherrschenden Stellung und hatten, da sie +auf dem kahlen und wasserlosen Gebirgskamm unmöglich verweilen konnten +und den Fluß notwendig erreichen mußten, die schwierige Aufgabe zu +lösen, durch die vier Meilen breite, ganz offene Ebene, unter den Augen +der feindlichen Reiter und selber ohne leichte Kavallerie, an den Strom +zu gelangen. Metellus entsandte ein Detachement unter Rufus in gerader +Richtung an den Fluß, um daselbst ein Lager zu schlagen; die Hauptmasse +marschierte aus den Debouchés des Gebirges in schräger Richtung durch +die Ebene auf den Hügelrücken zu, um den Feind von demselben +herunterzuwerfen. Indes dieser Marsch in der Ebene drohte das Verderben +des Heeres zu werden, denn während numidische Infanterie im Rücken der +Römer die Gebirgsdefileen besetzte, wie diese sie räumten, sah sich die +römische Angriffskolonne auf allen Seiten von den feindlichen Reitern +umschwärmt, die von dem Hügelrücken herab angriffen. Das stete +Anprallen der feindlichen Schwärme hinderte den Vormarsch, und die +Schlacht drohte sich in eine Anzahl verwirrter Detailgefechte +aufzulösen; während gleichzeitig Bomilkar mit seiner Abteilung das +Korps unter Rufus festhielt, um es zu hindern, der schwer bedrängten +römischen Hauptarmee zu Hilfe zu eilen. Jedoch gelang es Metellus und +Marius mit ein paar tausend Soldaten, den Fuß des Hügelrückens zu +erreichen; und das numidische Fußvolk, das die Höhen verteidigte, lief +trotz der Überzahl und der günstigen Stellung fast ohne Widerstand +davon, als die Legionäre im Sturmschritt den Berg hinauf angriffen. +Ebenso schlecht hielt sich das numidische Fußvolk gegen Rufus; es ward +bei dem ersten Angriff zerstreut und die Elefanten in dem +durchschnittenen Terrain alle getötet oder gefangen. Spät am Abend +trafen die beiden römischen Heerhaufen, jeder für sich Sieger und jeder +besorgt um das Schicksal des andern, zwischen den beiden Walplätzen +zusammen. Es war eine Schlacht, die für Jugurthas ungemeines +militärisches Talent ebenso zeugte wie für die unverwüstliche +Tüchtigkeit der römischen Infanterie, welche allein die strategische +Niederlage in einen Sieg umgewandelt hatte. Jugurtha sandte nach der +Schlacht einen großen Teil seiner Truppen heim und beschränkte sich auf +den kleinen Krieg, den er gleichfalls mit Gewandtheit leitete. Die +beiden römischen Kolonnen, die eine von Metellus geführt, die andere +von Marius, der, obwohl von Geburt und Rang der geringste, seit der +Schlacht am Muthul unter den Korpschefs die erste Stelle einnahm, +durchzogen das numidische Gebiet, besetzten die Städte und machten, wo +eine Ortschaft die Tore nicht gutwillig geöffnet hatte, die erwachsene +männliche Bevölkerung nieder. Allein die ansehnlichste unter den +Städten im östlichen Binnenland, Zama, leistete den Römern ernsthaften +Widerstand, den der König nachdrücklich unterstützte. Sogar ein +Überfall des römischen Lagers gelang ihm, und die Römer sahen sich +endlich genötigt, die Belagerung aufzuheben und in das Winterquartier +zu gehen. Der leichteren Verpflegung wegen verlegte Metellus dasselbe, +unter Zurücklassung von Besatzungen in den eroberten Städten, in die +römische Provinz und benutzte die Waffenruhe, um wieder Unterhandlungen +anzuknüpfen, indem er sich geneigt zeigte, dem König einen erträglichen +Frieden zu bewilligen. Jugurtha ging darauf bereitwillig ein; bereits +hatte er sich anheischig gemacht, 200000 Pfund Silber zu entrichten, ja +sogar seine Elefanten und 300 Geiseln schon abgeliefert, ebenso 3000 +römische Überläufer, die sofort niedergemacht wurden. Gleichzeitig aber +wurde des Königs vertrautester Ratgeber, Bomilkar, der nicht mit +Unrecht besorgte, daß, wenn es zum Frieden käme, Jugurtha ihn als den +Mörder des Massiva den römischen Gerichten überliefern werde, von +Metellus gewonnen und gegen Zusicherung der Straflosigkeit für jenen +Mord und großer Belohnungen zu dem Versprechen bewogen, den König den +Römern lebendig oder tot in die Hände zu liefern. Indes weder jene +offizielle Verhandlung noch diese Intrige führte zu dem gewünschten +Resultat. Als Metellus mit dem Ansinnen herausrückte, daß der König +persönlich sich als Gefangener zu stellen habe, brach dieser die +Unterhandlungen ab; Bomilkars Verkehr mit dem Feinde ward entdeckt und +derselbe festgenommen und hingerichtet. Es soll keine Schutzrede sein +für diese diplomatischen Kabalen niedrigster Art; aber die Römer hatten +allen Grund, danach zu trachten, sich der Person ihres Gegners zu +bemächtigen. Der Krieg war auf dem Punkt angelangt, wo man ihn weder +weiterführen noch aufgeben konnte. Wie die Stimmung in Numidien war, +beweist zum Beispiel der Aufstand der bedeutendsten unter den Römern +besetzten Städten Vaga 6 im Winter 646/47 (108/07), wobei die gesamte +römische Besatzung, Offiziere und Gemeine, niedergemacht wurde mit +Ausnahme des Kommandanten Titus Turpilius Silanus, welcher später wegen +Einverständnisses mit dem Feinde, ob mit Recht oder Unrecht, läßt sich +nicht sagen, von dem römischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und +hingerichtet ward. Die Stadt wurde von Metellus am zweiten Tage nach +dem Abfall überrumpelt und der ganzen Strenge des Kriegsgerichts +preisgegeben; allein wenn die Gemüter der leicht erreichbaren und +verhältnismäßig fügsamen Anwohner des Bagradas also gestimmt waren, wie +mochte es da aussehen weiter landeinwärts und bei den schweifenden +Stämmen der Wüste? Jugurtha war der Abgott der Afrikaner, die in ihm +den doppelten Brudermörder gern übersahen über dem Retter und Rächer +der Nation. Zwanzig Jahre nachher mußte ein numidisches Korps, das für +die Römer in Italien focht, schleunigst nach Afrika zurückgesandt +werden, als in den feindlichen Reihen Jugurthas Sohn sich zeigte: man +mag daraus schließen, was er selber über die Seinen vermochte. Wie war +ein Ende des Krieges abzusehen in Landschaften, wo die vereinigten +Eigentümlichkeiten der Bevölkerung und des Bodens einem Führer, der +sich einmal der Sympathien der Nation versichert hat, es gestatten, den +Krieg in endlosen Kleingefechten fortzuspinnen oder auch gar ihn eine +Zeitlang schlafen zu legen, um ihn im rechten Augenblick mit neuer +Gewalt wiederzuerwecken? + +———————————————————————— + +5 In der spannenden und geistreichen Darstellung dieses Krieges von +Sallust ist die Chronologie mehr als billig vernachlässigt. Der Krieg +ging im Sommer 649 (105) zu Ende (c. 114); wenn also Marius seine +Kriegführung als Konsul 647 (107) begann, so führte er dort das +Kommando in drei Kampagnen. Allein die Erzählung schildert nur zwei, +und mit Recht. Denn eben wie Metellus allem Anschein nach zwar schon +645 (109) nach Afrika ging, aber, da er spät eintraf (c. 37, 44) und +die Reorganisation des Heeres Zeit kostete (c. 44), seine Operationen +erst im folgenden Jahr begann, trat auch Marius, der gleichfalls in +Italien längere Zeit sich mit Kriegsvorbereitungen aufhielt (c. 84), +entweder als Konsul 647 (107) spät im Jahre und nach beendigtem Feldzug +oder auch erst als Prokonsul 648 (106) den Oberbefehl an; so daß also +die beiden Feldzüge des Metellus 646, 647 (108, 107) die des Marius +648, 649 (106, 105) fallen. Dazu paßt, daß Metellus erst im Jahre 648 +(106) triumphierte (Eph. epigr. IV, S. 257). Dazu paßt ferner, daß die +Schlacht am Muthul und die Belagerung von Zama nach dem Verhältnis, in +dem sie zu Marius’ Bewerbung um das Konsulat stehen, notwendig in das +Jahr 646 (108) gesetzt werden müssen. Von Ungenauigkeiten ist der +Schriftsteller auf keinen Fall freizusprechen; wie denn Marius sogar +noch 649 (105) bei ihm Konsul genannt wird. + +Die Verlängerung des Kommandos des Metellus, die Sallustius (62, 10) +berichtet, kann sich nach dem Platze, an dem sie steht, nur beziehen +auf das Jahr 647 (107); als im Sommer 646 (108) auf Grund des +Sempronischen Gesetzes die Provinzen der für 647 (107) zu wählenden +Konsuln festzusetzen waren, bestimmte der Senat zwei andere Provinzen +und ließ also Numidien dem Metellus. Diesen Senatsschluß stieß das 72, +7 erwähnte Plebiszit um. Die folgenden in den besten Handschriften +beider Familien lückenhaft überlieferten Worte sed Paulo …. decreverat: +ea res frustra fuit müssen entweder die den Konsuln vom Senat +bestimmten Provinzen genannt haben - etwa sed paulo [ante uti +consulibus Italia et Gallia provinciae essent senatus] decreverat - +oder, nach der Ergänzung der Vulgathandschriften: sed Paulo [ante +senatus Metello Numidiam] decreverat. + +6 Jetzt Bedschah an der Medscherda. + +———————————————————— + +Als Metellus im Jahre 647 (107) wieder ins Feld rückte, hielt Jugurtha +ihm nirgends stand: bald tauchte er da auf, bald an einem andern, weit +entfernten Punkt; es schien, als würde man ebenso leicht Herr werden +über die Löwen wie über diese Reiter der Wüste. Eine Schlacht ward +geschlagen, ein Sieg gewonnen; aber was man mit dem Sieg gewonnen +hatte, war schwer zu sagen. Der König war verschwunden in die +unabsehliche Weite. Im Innern des heutigen Beilek von Tunis, hart am +Saum der großen Wüste, lag in quelliger Oase der feste Platz Thala 7; +dorthin hatte Jugurtha sich zurückgezogen mit seinen Kindern, seinen +Schätzen und dem Kern seiner Truppen, bessere Zeiten daselbst +abzuwarten. Metellus wagte es, durch eine Einöde, wo das Wasser auf +zehn deutsche Meilen in Schläuchen mitgeführt werden mußte, dem König +zu folgen; Thala ward erreicht und fiel nach vierzigtägiger Belagerung; +allein nicht bloß vernichteten die römischen Überläufer mit dem +Gebäude, in dem sie nach Einnahme der Stadt sich selber verbrannten, +zugleich den wertvollsten Teil der Beute, sondern, worauf mehr ankam, +der König Jugurtha war mit seinen Kindern und seiner Kasse entkommen. +Numidien zwar war so gut wie ganz in den Händen der Römer; aber statt +daß man damit am Ziele gestanden hätte, schien der Krieg nur über ein +immer weiteres Gebiet sich auszudehnen. Im Süden begannen die freien +gätulischen Stämme der Wüste auf Jugurthas Ruf den Nationalkrieg gegen +die Römer. Im Westen schien König Bocchus von Mauretanien, dessen +Freundschaft die Römer in früherer Zeit verschmäht hatten, jetzt nicht +abgeneigt, mit seinem Schwiegersohn gegen sie gemeinschaftliche Sache +zu machen: er nahm ihn nicht bloß bei sich auf, sondern rückte auch, +mit den eigenen zahllosen Reiterscharen Jugurthas Haufen vereinigend, +in die Gegend von Cirta, wo Metellus sich im Winterquartier befand. Man +begann zu unterhandeln; es war klar, daß er mit Jugurthas Person den +eigentlichen Kampfpreis für Rom in Händen hielt. Was er aber +beabsichtigte, ob den Römern den Schwiegersohn teuer zu verkaufen oder +mit dem Schwiegersohn gemeinschaftlich den Nationalkrieg aufzunehmen, +wußten weder die Römer noch Jugurtha und vielleicht der König selbst +nicht; derselbe beeilte sich auch keineswegs, aus seiner zweideutigen +Stellung herauszutreten. Darüber verließ Metellus die Provinz, die er +durch Volksbeschluß genötigt worden war, seinem ehemaligen +Unterfeldherrn, dem jetzigen Konsul Marius abzutreten und dieser +übernahm für den nächsten Feldzug 648 (106) den Oberbefehl. Er +verdankte ihn gewissermaßen einer Revolution. Im Vertrauen auf die von +ihm geleisteten Dienste und nebenher auf die ihm zuteil gewordenen +Orakel hatte er sich entschlossen, als Bewerber um das Konsulat +aufzutreten. Wenn die Aristokratie die ebenso verfassungsmäßige wie +sonst vollkommen gerechtfertigte Bewerbung des tüchtigen, durchaus +nicht oppositionell gesinnten Mannes unterstützt hätte, so würde dabei +nichts herausgekommen sein als die Verzeichnung eines neuen Geschlechts +in den konsularischen Fasten; statt dessen wurde der nicht adlige Mann, +der die höchste Gemeinwürde für sich begehrte, von der ganzen +regierenden Kaste als ein frecher Neuerer und Revolutionär geschmäht - +vollkommen wie einst der plebejische Bewerber von den Patriziern +behandelt worden war, nur jetzt ohne jeden formalen Rechtsgrund -, der +tapfere Offizier mit spitzen Reden von Metellus verhöhnt - Marius möge +mit seiner Kandidatur warten, hieß es, bis Metellus’ Sohn, ein +bartloser Knabe, mit ihm sich bewerben könne - und kaum im letzten +Augenblick aufs ungnädigste entlassen, um für das Jahr 647 (107), als +Bewerber um das Konsulat in der Hauptstadt aufzutreten. Hier vergalt er +das erlittene Unrecht seinem Feldherrn reichlich, indem er vor der +gaffenden Menge die Kriegführung und Verwaltung des Metellus in Afrika +in einer ebenso unmilitärischen wie schmählich unbilligen Weise +kritisierte, ja sogar es nicht verschmähte, dem lieben, ewig von +geheimen, höchst unerhörten und höchst unzweifelhaften Konspirationen +der vornehmen Herren munkelnden Pöbel das platte Märchen aufzutischen, +daß Metellus den Krieg absichtlich verschleppe, um so lange wie möglich +Oberbefehlshaber zu bleiben. Den Gassenbuben leuchtete dies vollkommen +ein; zahlreiche, aus guten und schlechten Ursachen der Regierung +mißwollende Leute, namentlich die mit Grund erbitterte Kaufmannschaft, +verlangten nichts Besseres als eine solche Gelegenheit, die +Aristokratie an ihrer empfindlichsten Stelle zu verletzen; er wurde +nicht bloß mit ungeheurer Majorität zum Konsul gewählt, sondern ihm +auch, während sonst nach dem Gesetze des Gaius Gracchus die +Entscheidung über die jedesmaligen Kompetenzen der Konsuln dem Senat +zustand, unter Umstoßung der vom Senat getroffenen Verfügung, die den +Metellus an seiner Stelle ließ, durch Beschluß der souveränen Komitien +der Oberbefehl im Afrikanischen Krieg übertragen. Demgemäß trat er im +Laufe des Jahres 647 (107) an Metellus’ Stelle und führte das Kommando +in dem Feldzuge des folgenden Jahres; allein die zuversichtliche +Verheißung, es besser zu machen als sein Vorgänger und den Jugurtha an +Händen und Füßen gebunden schleunigst nach Rom abzuliefern, war +leichter gegeben als erfüllt. Marius schlug sich herum mit den +Gätulern; er unterwarf einzelne noch nicht besetzte Städte; er +unternahm eine Expedition nach Capsa (Gafsa) im äußersten Südosten des +Königreichs, welche die von Thala an Schwierigkeit noch überbot, nahm +die Stadt durch Kapitulation und ließ trotz des Vertrages alle +erwachsenen Männer darin töten - freilich das einzige Mittel, den +Wiederabfall der fernliegenden Wüstenstadt zu verhüten; er griff ein am +Fluß Molochath, der das numidische Gebiet vom mauretanischen schied, +belegenes Bergkastell an, in das Jugurtha seine Kasse geschafft hatte, +und erstürmte, eben als er schon am Erfolg verzweifelnd von der +Belagerung abstehen wollte, durch den Handstreich einiger kühner +Kletterer glücklich das unbezwingliche Felsennest. Wenn es bloß darauf +angekommen wäre, durch dreiste Razzias das Heer abzuhärten und dem +Soldaten Beute zu schaffen oder auch Metellus’ Zug in die Wüste durch +eine noch weiter greifende Expedition zu verdunkeln, so konnte man +diese Kriegführung gelten lassen; in der Hauptsache ward das Ziel, +worauf alles ankam und das Metellus mit fester Konsequenz im Auge +behalten hatte, die Gefangennehmung des Jugurtha, dabei völlig beiseite +gesetzt. Der Zug des Marius nach Capsa war ein ebenso zweckloses wie +der des Metellus nach Thala ein zweckmäßiges Wagnis; die Expedition +aber an den Molochath, welche an, wo nicht in das mauretanische Gebiet +streifte, war geradezu zweckwidrig. König Bocchus, in dessen Hand es +lag, den Krieg zu einem für die Römer günstigen Ausgang zu bringen oder +ihn ins Endlose zu verlängern, schloß jetzt mit Jugurtha einen Vertrag +ab, in dem dieser ihm einen Teil seines Reiches abtrat, Bocchus aber +versprach, den Schwiegersohn gegen Rom tätig zu unterstützen. Das +römische Heer, das vom Fluß Molochath wieder zurückkehrte, sah sich +eines Abends plötzlich umringt von ungeheuren Massen mauretanischer und +numidischer Reiterei; man mußte fechten, wo und wie die Abteilungen +eben standen, ohne daß eine eigentliche Schlachtordnung und ein +leitendes Kommando sich hätten durchführen lassen, und sich glücklich +schätzen, die stark gelichteten Truppen auf zwei voneinander nicht weit +entfernten Hügeln vorläufig für die Nacht in Sicherheit zu bringen. +Indes die arge Nachlässigkeit der von ihrem Siege trunkenen Afrikaner +entriß ihnen die Folgen desselben; sie ließen sich von den während der +Nacht einigermaßen wiedergeordneten römischen Truppen beim grauenden +Morgen im tiefen Schlafe überfallen und wurden glücklich zerstreut. +Darauf setzte das römische Heer in besserer Ordnung und mit größerer +Vorsicht den Rückzug fort; allein noch einmal wurde es auf demselben +von allen vier Seiten zugleich angefallen und schwebte in großer +Gefahr, bis der Reiterobrist Lucius Cornelius Sulla zuerst die ihm +gegenüberstehenden Reiterhaufen auseinanderstäubte und von deren +Verfolgung rasch zurückkehrend sich weiter auf Jugurtha und Bocchus +warf, da wo sie persönlich das römische Fußvolk im Rücken bedrängten. +Also ward auch dieser Angriff glücklich abgeschlagen; Marius brachte +sein Heer zurück nach Cirta und nahm daselbst das Winterquartier +(648/49 106/05). Es ist wunderlich, aber freilich begreiflich, daß man +römischerseits um die Freundschaft des Königs Bocchus, die man anfangs +verschmäht, sodann wenigstens nicht eben gesucht hatte, jetzt, nachdem +er den Krieg begonnen hatte, anfing sich aufs eifrigste zu bemühen, +wobei es den Römern zustatten kam, daß von mauretanischer Seite keine +förmliche Kriegserklärung stattgefunden hatte. Nicht ungern trat König +Bocchus zurück in seine alte zweideutige Stellung; ohne den Vertrag mit +Jugurtha aufzulösen oder diesen zu entlassen, ließ er mit dem römischen +Feldherrn sich ein auf Verhandlungen über die Bedingungen eines +Bündnisses mit Rom. Als man einig geworden war oder zu sein schien, +erbat sich der König, daß Marius zum Abschluß des Vertrages und zur +Übernahme des königlichen Gefangenen den Lucius Sulla an ihn absenden +möge, der dem König bekannt und genehm sei teils von der Zeit her, wo +er als Gesandter des Senats am mauretanischen Hofe erschienen war, +teils durch Empfehlungen der nach Rom bestimmten mauretanischen +Gesandten, denen Sulla unterwegs Dienste geleistet hatte. Marius war in +einer unbequemen Lage. Lehnte er die Zumutung ab, so führte dies +wahrscheinlich zum Bruche; nahm er sie an, so gab er seinen adligsten +und tapfersten Offizier einem mehr als unzuverlässigen Mann in die +Hände, der, wie männiglich bekannt, mit den Römern und mit Jugurtha +doppeltes Spiel spielte, und der fast den Plan entworfen zu haben +schien, an Jugurtha und Sulla sich vorläufig nach beiden Seiten hin +Geiseln zu schaffen. Indes der Wunsch, den Krieg zu Ende zu bringen, +überwog jede andere Rücksicht, und Sulla verstand sich zu der +bedenklichen Aufgabe, die Marius ihm ansann. Dreist brach er auf, +geleitet von König Bocchus’ Sohn Volux, und seine Entschlossenheit +wankte selbst dann nicht, als sein Wegweiser ihn mitten durch das Lager +des Jugurtha führte. Er wies die kleinmütigen Fluchtvorschläge seiner +Begleiter zurück und zog, des Königs Sohn an der Seite, unverletzt +durch die Feinde. Dieselbe Entschiedenheit bewährte der kecke Offizier +in den Verhandlungen mit dem Sultan und bestimmte ihn endlich, +ernstlich eine Wahl zu treffen. Jugurtha ward aufgeopfert. Unter dem +Vorgeben, daß alle seine Begehren bewilligt werden sollten, wurde er +von dem eigenen Schwiegervater in einen Hinterhalt gelockt, sein +Gefolge niedergemacht und er selbst gefangengenommen. So fiel der große +Verräter durch den Verrat seiner Nächsten. Gefesselt brachte Lucius +Sulla den listigen und rastlosen Afrikaner mit seinen Kindern in das +römische Hauptquartier; damit war nach siebenjähriger Dauer der Krieg +zu Ende. Der Sieg ging zunächst auf den Namen des Marius; seinem +Triumphalwagen schritt in königlichem Schmuck und in Fesseln König +Jugurtha mit seinen beiden Söhnen vorauf, als der Sieger am 1. Januar +650 (104) in Rom einzog; auf seinen Befehl starb der Sohn der Wüste +wenige Tage darauf in dem unterirdischen Stadtgefängnis, dem alten +Brunnenhaus am Kapitol, dem “eisigen Badgemach”, wie der Afrikaner es +nannte, als er die Schwelle überschritt, um daselbst sei es erdrosselt +zu werden, sei es umzukommen durch Kälte und Hunger. Allein es ließ +sich nicht leugnen, daß Marius an den wirklichen Erfolgen den +geringsten Anteil hatte, daß Numidiens Eroberung bis an den Saum der +Wüste das Werk des Metellus, Jugurthas Gefangennahme das des Sulla war +und zwischen beiden Marius eine für einen ehrgeizigen Emporkömmling +einigermaßen kompromittierende Rolle spielte. Marius ertrug es ungern, +daß sein Vorgänger den Namen des Siegers von Numidien annahm; er +brauste zornig auf, als König Bocchus später ein goldnes Bildwerk auf +dem Kapitol weihte, welches die Auslieferung des Jugurtha an Sulla +darstellte; und doch stellten auch in den Augen unbefangener Urteiler +die Leistungen dieser beiden des Marius Feldherrnschaft gar sehr in +Schatten, vor allem Sullas glänzender Zug in die Wüste, der seinen Mut, +seine Geistesgegenwart, seinen Scharfsinn, seine Macht über die +Menschen vor dem Feldherrn selbst und vor der ganzen Armee zur +Anerkennung gebracht hatte. An sich wäre auf diese militärischen +Rivalitäten wenig angekommen, wenn sie nicht in den politischen +Parteikampf eingegriffen hätten; wenn nicht die Opposition durch Marius +den senatorischen General verdrängt gehabt, nicht die Regierungspartei +Metellus und mehr noch Sulla mit erbitternder Absichtlichkeit als die +militärischen Koryphäen gefeiert und dem nominellen Sieger vorgezogen +hätte - wir werden auf die verhängnisvollen Folgen dieser Verhetzungen +in der Darstellung der inneren Geschichte zurückzukommen haben. + +————————————————- + +7 Die Örtlichkeit ist nicht wiedergefunden. Die frühere Annahme, daß +Thelepte (bei Feriana, nördlich von Capsa) gemeint sei, ist willkürlich +und die Identifikation mit einer auch heute Thala genannten Örtlichkeit +östlich von Capsa auch nicht gehörig begründet. + +———————————————— + +Im übrigen verlief diese Insurrektion des numidischen Klientelstaats, +ohne weder in den allgemeinen politischen Verhältnissen noch auch nur +in denen der afrikanischen Provinz eine merkliche Veränderung +hervorzubringen. Abweichend von der sonst in dieser Zeit befolgten +Politik ward Numidien nicht in eine römische Provinz umgewandelt; +offenbar deshalb, weil das Land nicht ohne eine die Grenzen gegen die +Wilden der Wüste deckende Armee zu behaupten und man keineswegs gemeint +war, in Afrika ein stehendes Heer zu unterhalten. Man begnügte sich +deshalb, die westlichste Landschaft Numidiens, wahrscheinlich den +Strich vom Fluß Molochath bis zum Hafen von Saldae (Bougie) - das +spätere Mauretanien von Caesarea (Provinz Algier) - zu dem Reich des +Bocchus zu schlagen und das darum verkleinerte Königreich Numidien auf +den letzten noch lebenden legitimen Enkel Massinissas, Jugurthas an +Körper und Geist schwachen Halbbruder Gauda, zu übertragen, welcher +bereits im Jahre 646 (108) auf Veranlassung des Marius seine Ansprüche +bei dem Senat geltend gemacht hatte 8. Zugleich wurden die gätulischen +Stämme im inneren Afrika als freie Bundesgenossen unter die mit den +Römern in Vertrag stehenden unabhängigen Nationen aufgenommen. + +———————————————————————————————— + +8 Sallusts politisches Genregemälde des jugurthinischen Krieges, in der +sonst völlig verblaßten und verwaschenen Tradition dieser Epoche das +einzige in frischen Farben übriggebliebene Bild, schließt mit Jugurthas +Katastrophe, seiner Kompositionsweise getreu, poetisch, nicht +historisch; und auch anderweitig fehlt es an einem zusammenhängenden +Bericht über die Behandlung des Numidischen Reiches. Daß Gauda +Jugurthas Nachfolger ward deuten Sallust (c. 64) und Dio Cassius (fr. +79, 4 Bekk.) an und bestätigt eine Inschrift von Cartagena (Orelli +630), die ihn König und Vater Hiempsals II. nennt. Daß im Westen die +zwischen Numidien einer- und dem römischen Afrika und Kyrene +andererseits bestehenden Grenzverhältnisse unverändert blieben, zeigt +Caesar (civ. 2, 38), Bell. Afr. 43, 77 und die spätere +Provinzialverfassung. Dagegen liegt es in der Natur der Sache und wird +auch von Sallust (c. 97; 102; 111) angedeutet, daß Bocchus’ Reich +bedeutend vergrößert ward; womit es unzweifelhaft zusammenhängt, daß +Mauretanien, ursprünglich beschränkt auf die Landschaft von Tingis +(Marokko), in späterer Zeit sich erstreckt auf die Landschaft von +Caesarea (Provinz Algier) und die von Sitifis (westliche Hälfte der +Provinz Constantine). Da Mauretanien zweimal von den Römern vergrößert +ward, zuerst 649 (105) nach Jugurthas Auslieferung, sodann 708 (46) +nach Auflösung des Numidischen Reiches, so ist wahrscheinlich die +Landschaft von Caesarea bei der ersten, die von Sitifis bei der zweiten +Vergrößerung hinzugekommen. + +——————————————————————————————— + +Wichtiger als diese Regulierung der afrikanischen Klientel waren die +politischen Folgen des Jugurthinischen Krieges oder vielmehr der +Jugurthinischen Insurrektion, obgleich auch diese häufig zu hoch +angeschlagen worden sind. Allerdings waren darin alle Schäden des +Regiments in unverhüllter Nacktheit zu Tage gekommen; es war jetzt +nicht bloß notorisch, sondern sozusagen gerichtlich konstatiert, daß +den regierenden Herren Roms alles feil war, der Friedensvertrag wie das +Interzessionsrecht, der Lagerwall und das Leben der Soldaten; der +Afrikaner hatte nicht mehr gesagt als die einfache Wahrheit, als er bei +seiner Abreise von Rom äußerte, wenn er nur Geld genug hätte, mache er +sich anheischig, die Stadt selber zu kaufen. Allein das ganze äußere +und innere Regiment dieser Zeit trug den gleichen Stempel teuflischer +Erbärmlichkeit. Für uns verschiebt der Zufall, daß uns der Krieg in +Afrika durch bessere Berichte näher gerückt ist als die anderen +gleichzeitigen militärischen und politischen Ereignisse, die richtige +Perspektive; die Zeitgenossen erfuhren durch jene Enthüllungen eben +nichts, als was jedermann längst wußte und jeder unerschrockene Patriot +längst mit Tatsachen zu belegen imstande war. Daß man für die nur durch +ihre Unfähigkeit aufgewogene Niederträchtigkeit der restaurierten +Senatsregierung jetzt einige neue, noch stärkere und noch +unwiderleglichere Beweise in die Hände bekam, hätte dennoch von +Wichtigkeit sein können, wenn es eine Opposition und eine öffentliche +Meinung gegeben hätte, mit denen die Regierung genötigt gewesen wäre +sich abzufinden. Allein dieser Krieg hatte in der Tat nicht minder die +Regierung prostituiert als die vollständige Nichtigkeit der Opposition +offenbart. Es war nicht möglich, schlechter zu regieren als die +Restauration in den Jahren 637-645 (117-109) es tat, nicht möglich, +wehrloser und verlorener dazustehen, als der römische Senat im Jahre +645 (109) stand; hätte es in Rom eine wirkliche Opposition gegeben, das +heißt eine Partei, die eine prinzipielle Abänderung der Verfassung +wünschte und betrieb, so mußte diese notwendig jetzt wenigstens einen +Versuch machen, den restaurierten Senat zu stürzen. Er erfolgte nicht; +man machte aus der politischen eine Personenfrage, wechselte die +Feldherren und schickte ein paar nichtsnutzige und unbedeutende Leute +in die Verbannung. Damit stand es also fest, daß die sogenannte +Popularpartei als solche weder regieren konnte, noch regieren wollte; +daß es in Rom schlechterdings nur zwei mögliche Regierungsformen gab, +die Tyrannis und die Oligarchie; daß, solange es zufällig an einer +Persönlichkeit fehlte, die, wo nicht bedeutend, doch bekannt genug war, +um sich zum Staatsoberhaupt aufzuwerfen, die ärgste Mißwirtschaft +höchstens einzelne Oligarchen, aber niemals die Oligarchie gefährdete; +daß dagegen, sowie ein solcher Prätendent auftrat, nichts leichter war, +als die morschen kurulischen Stühle zu erschüttern. In dieser Hinsicht +war das Auftreten des Marius bezeichnend, eben weil es an sich so +völlig unmotiviert war. Wenn die Bürgerschaft nach Albinus’ Niederlage +die Kurie gestürmt hätte, es wäre begreiflich, um nicht zu sagen in der +Ordnung gewesen; aber nach der Wendung, die Metellus dem Numidischen +Krieg gegeben hatte, konnte von schlechter Führung, geschweige denn von +Gefahr für das Gemeinwesen wenigstens in dieser Beziehung nicht mehr +die Rede sein; und dennoch gelang es dem ersten besten ehrgeizigen +Offizier, das auszuführen, womit einst der ältere Africanus der +Regierung gedroht, und sich eines der vornehmsten militärischen +Kommandos gegen den bestimmt ausgesprochenen Willen der Regierung zu +verschaffen. Die öffentliche Meinung, nichtig in den Händen der +sogenannten Popularpartei, ward zur unwiderstehlichen Waffe in der Hand +des künftigen Königs von Rom. Es soll damit nicht gesagt werden, daß +Marius beabsichtigte, den Prätendenten zu spielen, am wenigsten damals +schon, als er um den Oberbefehl von Afrika bei dem Volke warb; aber +mochte er begreifen oder nicht begreifen, was er tat, es war +augenscheinlich zu Ende mit dem restaurierten aristokratischen +Regiment, wenn die Komitialmaschine anfing, Feldherren zu machen oder, +was ungefähr dasselbe war, wenn jeder populäre Offizier imstande war, +in legaler Weise sich selbst zum Feldherrn zu ernennen. Ein einziges +neues Element trat in diesen vorläufigen Krisen auf; es war das +Hineinziehen der militärischen Männer und der militärischen Macht in +die politische Revolution. Ob Marius’ Auftreten unmittelbar die +Einleitung sein werde zu einem neuen Versuch, die Oligarchie durch die +Tyrannis zu verdrängen, oder ob dasselbe, wie so manches Ähnliche, als +vereinzelter Eingriff in die Prärogative der Regierung ohne weitere +Folgen vorübergehen werde, ließ sich noch nicht bestimmen; wohl aber +war es vorauszusehen, daß, wenn diese Keime einer zweiten Tyrannis zur +Entwicklung gelangten, in derselben nicht ein Staatsmann, wie Gaius +Gracchus, sondern ein Offizier an die Spitze treten werde. Die +gleichzeitige Reorganisation des Heerwesens, indem zuerst Marius bei +der Bildung seiner nach Afrika bestimmten Armee von der bisher +geforderten Vermögensqualifikation absah und auch dem ärmsten Bürger, +wenn er sonst brauchbar war, als Freiwilligen den Eintritt in die +Legion gestattete, mag von ihrem Urheber aus rein militärischen +Rücksichten veranstaltet worden sein; allein darum war es +nichtsdestoweniger ein folgenreiches politisches Ereignis, daß das Heer +nicht mehr, wie ehemals, aus denen, die viel, nicht einmal mehr wie in +der jüngsten Zeit aus denen, die etwas zu verlieren hatten, gebildet +ward, sondern anfing sich zu verwandeln in einen Haufen von Leuten, die +nichts hatten als ihre Arme und was der Feldherr ihnen spendete. Die +Aristokratie herrschte im Jahre 650 (104) ebenso unumschränkt wie im +Jahre 620 (134); aber die Zeichen der herannahenden Katastrophe hatten +sich gemehrt, und am politischen Horizont war neben der Krone das +Schwert aufgegangen. + + + + +KAPITEL V. +Die Völker des Nordens + + +Seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts beherrschte die römische +Gemeinde die drei großen von dem nördlichen Kontinent in das Mittelmeer +hineinragenden Halbinseln, wenigstens im ganzen genommen; denn freilich +innerhalb derselben fuhren im Norden und Westen Spaniens, in den +Ligurischen Apenninen und Alpentälern, in den Gebirgen Makedoniens und +Thrakiens die ganz- oder halbfreien Völkerschaften fort, der schlaffen +römischen Regierung zu trotzen. Ferner war die kontinentale Verbindung +zwischen Spanien und Italien wie zwischen Italien und Makedonien nur in +der oberflächlichsten Weise hergestellt und die Landschaften jenseits +der Pyrenäen, der Alpen und der Balkankette, die großen Stromgebiete +der Rhone, des Rheins und der Donau lagen wesentlich außerhalb des +politischen Gesichtskreises der Römer. Es ist hier darzustellen, was +römischerseits geschah, um nach dieser Richtung hin das Reich zu +sichern und zu arrondieren und wie zugleich die großen Völkermassen, +die hinter jenem gewaltigen Gebirgsvorhang ewig auf und nieder wogten, +anfingen, an die Tore der nördlichen Gebirge zu pochen und die +griechisch-römische Welt wieder einmal unsanft daran zu mahnen, daß sie +mit Unrecht meine, die Erde für sich allein zu besitzen. + +Fassen wir zunächst die Landschaft zwischen den Westalpen und den +Pyrenäen ins Auge. Die Römer beherrschten diesen Teil der Küste des +Mittelmeers seit langem durch ihre Klientelstadt Massalia, eine der +ältesten, treuesten und mächtigsten der von Rom abhängigen +bundesgenössischen Gemeinden, deren Seestationen, westlich Agathe +(Agde) und Rhode (Rosas), östlich Tauroention (Ciotat), Olbia +(Hyères?), Antipolis (Antibes) und Nikäa (Nizza), die Küstenfahrt wie +den Landweg von den Pyrenäen zu den Alpen sicherten und deren +merkantile und politische Verbindungen weit ins Binnenland +hineinreichten. Eine Expedition in die Alpen oberhalb Nizza und Antibes +gegen die ligurischen Oxybier und Dekieten ward im Jahre 600 (154) von +den Römern teils auf Ansuchen der Massalioten, teils im eigenen +Interesse unternommen und nach heftigen und zum Teil verlustvollen +Gefechten dieser Teil des Gebirges gezwungen, den Massalioten fortan +stehende Geiseln zu geben und ihnen jährlichen Zins zu zahlen. Es ist +nicht unwahrscheinlich, daß um diese Zeit zugleich in dem ganzen von +Massalia abhängigen Gebiete jenseits der Alpen der nach dem Muster des +massaliotischen daselbst aufblühende Wein- und Ölbau im Interesse der +italischen Gutsbesitzer und Kaufleute untersagt ward ^1. Einen +ähnlichen Charakter finanzieller Spekulation trägt der Krieg, der wegen +der Goldgruben und Goldwäschereien von Victumulae (in der Gegend von +Vercelli und Bard und im ganzen Tal der Dora Baltea) von den Römern +unter dem Konsul Appius Claudius im Jahre 611 (143) gegen die Salasser +geführt ward. Die große Ausdehnung dieser Wäschereien, welche den +Bewohnern der niedriger liegenden Landschaft das Wasser für ihre Äcker +entzog, rief erst einen Vermittlungsversuch, sodann die bewaffnete +Intervention der Römer hervor; der Krieg, obwohl die Römer auch ihn wie +alle übrigen dieser Epoche mit einer Niederlage begannen, führte +endlich zu der Unterwerfung der Salasser und der Abtretung des +Goldbezirkes an das römische Ärar. Einige Jahrzehnte später (654 100) +ward auf dem hier gewonnenen Gebiet die Kolonie Eporedia (Ivrea) +angelegt, hauptsächlich wohl, um durch sie den westlichen wie durch +Aquileia den östlichen Alpenpaß zu beherrschen. Einen ernsteren +Charakter nahmen diese alpinischen Kriege erst an, als Marcus Fulvius +Flaccus, der treue Bundesgenosse des Gaius Gracchus, als Konsul 629 +(125) in dieser Gegend den Oberbefehl übernahm. Er zuerst betrat die +Bahn der transalpinischen Eroberungen. In der vielgeteilten keltischen +Nation war um diese Zeit, nachdem der Gau der Biturigen seine wirkliche +Hegemonie eingebüßt und nur eine Ehrenvorstandschaft behalten hatte, +der effektiv führende Gau in dem Gebiet von den Pyrenäen bis zum Rhein +und vom Mittelmeer bis zur Westsee der Arverner 2, und es erscheint +danach nicht gerade übertrieben, daß er bis 180000 Mann ins Feld zu +stellen vermocht haben soll. Mit ihnen rangen daselbst die Häduer (um +Autun) um die Hegemonie als ungleiche Rivalen; während in dem +nordöstlichen Gallien die Könige der Suessionen (um Soissons) den bis +nach Britannien hinüber sich erstreckenden Völkerbund der Belgen unter +ihrer Schutzherrschaft vereinigten. Griechische Reisende jener Zeit +wußten viel zu erzählen von der prachtvollen Hofhaltung des +Arvernerkönigs Luerius, wie derselbe, umgeben von seinem glänzenden +Clangefolge, den Jägern mit der gekoppelten Meute und der wandernden +Sängerschar, auf dem silberbeschlagenen Wagen durch die Städte seines +Reiches fuhr, das Gold mit vollen Händen auswerfend unter die Menge, +vor allen aber das Herz des Dichters mit dem leuchtenden Regen +erfreuend - die Schilderungen von der offenen Tafel, die er in einem +Raume von 1500 Doppelschritten ins Gevierte abhielt und zu der jeder +des Wegs Kommende geladen war, erinnern lebhaft an die Hochzeitstafel +Camachos. In der Tat zeugen die zahlreichen noch jetzt vorhandenen +arvernischen Goldmünzen dieser Zeit dafür, daß der Arvernergau zu +ungemeinem Reichtum und einer verhältnismäßig hoch gesteigerten +Zivilisation gediehen war. Flaccus’ Angriff traf indes zunächst nicht +auf die Arverner, sondern auf die kleineren Stämme in dem Gebiet +zwischen den Alpen und der Rhone, wo die ursprünglich ligurischen +Einwohner mit nachgerückten keltischen Scharen sich vermischt hatten +und eine der keltiberischen vergleichbare keltoligurische Bevölkerung +entstanden war. Er focht (629, 630 125, 124) mit Glück gegen die Salyer +oder Salluvier in der Gegend von Aix und im Tal der Durance und gegen +ihre nördlichen Nachbarn, die Vocontier (Dept. Vaucluse und Drôme), +ebenso sein Nachfolger Gaius Sextius Calvinus (631, 632 123, 122) gegen +die Allobrogen, einen mächtigen keltischen Clan in dem reichen Tal der +Isère, der auf die Bitte des landflüchtigen Königs der Salyer, +Tutomotulus, gekommen war, ihm sein Land wiedererobern zu helfen, aber +in der Gegend von Aix geschlagen wurde. Da die Allobrogen indes +nichtsdestoweniger sich weigerten, den Salyerkönig auszuliefern, drang +Calvinus’ Nachfolger Gnaeus Domitius Ahenobarbus in ihr eigenes Gebiet +ein (632 122). Bis dahin hatte der führende keltische Stamm dem +Umsichgreifen der italischen Nachbarn zugesehen; der Arvernerkönig +Betuhus, jenes Luerius’ Sohn, schien nicht sehr geneigt, des losen +Schutzverhältnisses wegen, in dem die östlichen Gaue zu ihm stehen +mochten, in einen bedenklichen Krieg sich einzulassen. Indes als die +Römer Miene machten, die Allobrogen auf ihrem eigenen Gebiet +anzugreifen, bot er seine Vermittlung an, deren Zurückweisung zur Folge +hatte, daß er mit seiner gesamten Macht den Allobrogen zu Hilfe +erschien; wogegen wieder die Häduer Partei ergriffen für die Römer. +Auch die Römer sandten auf die Nachricht von der Schilderhebung der +Arverner den Konsul des Jahres 633 (121) Quintus Fabius Maximus, um in +Verbindung mit Ahenobarbus dem drohenden Sturm zu begegnen. An der +südlichen Grenze des allobrogischen Kantons, am Einfluß der Isère in +die Rhone, ward am 8. August 633 (121) die Schlacht geschlagen, die +über die Herrschaft im südlichen Gallien entschied. König Betuitus, wie +er die zahllosen Haufen der abhängigen Clans auf der über die Rhone +geschlagenen Schiffbrücke an sich vorüberziehen und gegen sie die +dreimal schwächeren Römer sich aufstellen sah, soll ausgerufen haben, +daß dieser ja nicht genug seien, um die Hunde des Keltenheeres zu +sättigen. Allein Maximus, ein Enkel des Siegers von Pydna, erfocht +dennoch einen entscheidenden Sieg, welcher, da die Schiffbrücke unter +der Masse der Flüchtenden zusammenbrach, mit der Vernichtung des +größten Teils der arvernischen Armee endigte. Die Allobrogen, denen +ferner Beistand zu leisten der Arvernerkönig sich unfähig erklärte und +denen er selber riet, mit Maximus ihren Frieden zu machen, unterwarfen +sich dem Konsul, worauf derselbe, fortan der Allobrogiker genannt, nach +Italien zurückging und die nicht mehr ferne Beendigung des arvernischen +Krieges dem Ahenobarbus überließ. Dieser, auf König Betuitus persönlich +erbittert, weil er die Allobrogen veranlaßt habe, sich dem Maximus und +nicht ihm zu ergeben, bemächtigte sich in treuloser Weise der Person +des Königs und sandte ihn nach Rom, wo der Senat den Bruch des +Treuworts zwar mißbilligte, aber nicht bloß den verratenen Mann +festhielt, sondern auch befahl, den Sohn desselben, Congonnetiacus, +gleichfalls nach Rom zu senden. Dies scheint die Ursache gewesen zu +sein, daß der fast schon beendigte arvernische Krieg noch einmal +aufloderte und es bei Vindalium (oberhalb Avignon) am Einfluß der +Sorgue in die Rhone zu einer zweiten Entscheidung durch die Waffen kam. +Sie fiel nicht anders aus als die erste; es waren diesmal hauptsächlich +die afrikanischen Elefanten, die das Keltenheer zerstreuten. Hierauf +bequemten sich die Arverner zum Frieden und die Ruhe war in dem +Keltenland wiederhergestellt 3. + +————————————————————— + +^1 Wenn Cicero, indem er dies den Africanus schon im Jahre 625 (129) +sagen läßt (rep. 3, 9), nicht einen Anachronismus sich hat zu Schulden +kommen lassen, so bleibt wohl nur die im Text bezeichnete Auffassung +möglich. Auf Norditalien und Ligurien bezieht diese Verfügung sich +nicht, wie schon der Weinbau der Genuaten im Jahre 637 (117) beweist; +ebensowenig auf das unmittelbare Gebiet von Massalia (Just. 43, 4; +Poseid. fr. 25 Müller; Strab. 4, 179). Die starke Ausfuhr von Öl und +Wein aus Italien nach dem Rhonegebiet im siebenten Jahrhundert der +Stadt ist bekannt. + +2 In der Auvergne. Ihre Hauptstadt, Nemetum oder Nemossus, lag nicht +weit von Clermont. + +3 Die Schlacht bei Vindalium stellen zwar der Livianische Epitomator +und Orosius vor die an der Isara; allein auf die umgekehrte Folge +führen Florus und Strabon (4, 191), und sie wird bestätigt teils +dadurch, daß Maximus nach dem Auszug des Livius und Plinius (nat. 7, +50) die Gallier als Konsul besiegte, teils besonders durch die +Kapitolinischen Fasten, nach denen nicht bloß Maximus vor Ahenobarbus +triumphierte, sondern auch jener über die Allobrogen und den +Arvernerkönig, dieser nur über die Arverner. Es ist einleuchtend, daß +die Schlacht gegen Allobrogen und Arverner früher stattgefunden haben +muß als die gegen die Arverner allein. + +———————————————————————— + +Das Ergebnis dieser militärischen Operationen war die Einrichtung einer +neuen römischen Provinz zwischen den Seealpen und den Pyrenäen. Die +sämtlichen Völkerschaften zwischen den Alpen und der Rhone wurden von +den Römern abhängig und, soweit sie nicht nach Massalia zinsten, +vermutlich schon jetzt den Römern tributär. In der Landschaft zwischen +der Rhone und den Pyrenäen behielten die Arverner zwar die Freiheit und +wurden nicht den Römern zinspflichtig; allein sie hatten den +südlichsten Teil ihres mittel- oder unmittelbaren Gebiets, den Strich +südlich der Cevennen bis an das Mittelmeer und den oberen Lauf der +Garonne bis nach Tolosa (Toulouse), an die Römer abzutreten. Da der +nächste Zweck dieser Okkupationen die Herstellung einer Landverbindung +zwischen Spanien und Italien war, so wurde unmittelbar nach der +Besetzung gesorgt für die Chaussierung des Küstenweges. Zu diesem Ende +wurde von den Alpen zur Rhone der Küstenstrich in der Breite von 1/5 +bis 3/10 deutschen Meile den Massalioten, die ja bereits eine Reihe von +Seestationen an dieser Küste besaßen, überwiesen mit der Verpflichtung, +die Straße in gehörigem Stand zu halten; wogegen von der Rhone bis zu +den Pyrenäen die Römer selbst eine Militärchaussee anlegten, die von +ihrem Urheber Ahenobarbus den Namen der Domitischen Straße erhielt. Wie +gewöhnlich verband mit dem Straßenbau sich die Anlage neuer Festungen. +Im östlichen Teil fiel die Wahl auf den Platz, wo Gaius Sextius die +Kelten geschlagen hatte und wo die Anmut und Fruchtbarkeit der Gegend +wie die zahlreichen kalten und warmen Quellen zur Ansiedelung einluden; +hier entstand eine römische Ortschaft, die “Bäder des Sextius”, Aquae +Sextiae (Aix). Westlich von der Rhone siedelten die Römer in Narbo sich +an, einer uralten Keltenstadt an dem schiffbaren Fluß Atax (Aude) in +geringer Entfernung vom Meere, die bereits Hekatäos nennt und die schon +vor ihrer Besetzung durch die Römer als lebhafter an dem britannischen +Zinnhandel beteiligter Handelsplatz mit Massalia rivalisierte. Aquae +erhielt nicht Stadtrecht, sondern blieb ein stehendes Lager 4; dagegen +Narbo, obwohl gleichfalls wesentlich als Wacht- und Vorposten gegen die +Kelten gegründet, ward als “Marsstadt” römische Bürgerkolonie und der +gewöhnliche Sitz des Statthalters der neuen transalpinischen +Keltenprovinz oder, wie sie noch häufiger genannt wird, der Provinz +Narbo. + +———————————————————————————- + +4 Aquae ward nicht Kolonie, wie Livius (ep. 61) sagt, sondern Kastell +(Strab. 4, 180; Vell. 1, 15; J. N. Madvig, Opuscula academica. Bd. 1. +Kopenhagen 1834, S. 303). Dasselbe gilt von Italica und vielen anderen +Orten - so ist zum Beispiel Vindonissa rechtlich nie etwas anderes +gewesen als ein keltisches Dorf, aber dabei zugleich ein befestigtes +römisches Lager und eine sehr ansehnliche Ortschaft. + +———————————————————————————- + +Die Gracchische Partei, welche diese transalpinischen +Gebietserwerbungen veranlaßte, wollte offenbar sich hier ein neues und +unermeßliches Gebiet für ihre Kolonisationspläne eröffnen, das +dieselben Vorzüge darbot wie Sizilien und Afrika und leichter den +Eingeborenen entrissen werden konnte als die sizilischen und libyschen +Äcker den italischen Kapitalisten. Der Sturz des Gaius Gracchus machte +freilich auch hier sich fühlbar in der Beschränkung der Eroberungen und +mehr noch der Stadtgründungen; indes wenn die Absicht nicht in vollem +Umfang erreicht ward, so ward sie doch auch nicht völlig vereitelt. Das +gewonnene Gebiet und mehr noch die Gründung von Narbo, welcher +Ansiedelung der Senat vergeblich das Schicksal der karthagischen zu +bereiten suchte, blieben als unfertige, aber den künftigen Nachfolger +des Gracchus an die Fortsetzung des Baus mahnende Ansätze stehen. +Offenbar schützte die römische Kaufmannschaft, die nur in Narbo mit +Massalia in dem gallisch-britannischen Handel zu konkurrieren +vermochte, diese Anlage vor den Angriffen der Optimaten. + +Eine ähnliche Aufgabe wie im Nordwesten war auch gestellt im Nordosten +von Italien; sie ward gleichfalls nicht ganz vernachlässigt, aber noch +unvollkommener als jene gelöst. Mit der Anlage von Aquileia (571 183) +kam die Istrische Halbinsel in den Besitz der Römer; in Epirus und dem +ehemaligen Gebiet des Herrn von Skodra geboten sie zum Teil bereits +geraume Zeit früher. Allein nirgends reichte ihre Herrschaft ins +Binnenland hinein, und selbst an der Küste beherrschten sie kaum dem +Namen nach den unwirtlichen Ufersaum zwischen Istrien und Epirus, der +in seinen wildverschlungenen, weder von Flußtälern noch von +Küstenebenen unterbrochenen, schuppenartig aneinandergereihten +Bergkesseln und in der längs des Ufers sich hinziehenden Kette felsiger +Inseln Italien und Griechenland mehr scheidet als zusammenknüpft. Um +die Stadt Delminium (an der Cettina bei Trigl) schloß sich hier die +Eidgenossenschaft der Delmater oder Dalmater, deren Sitten rauh waren +wie ihre Berge: während die Nachbarvölker bereits zu reicher +Kulturentwicklung gelangt waren, kannte man in Dalmatien noch keine +Münze und teilte den Acker, ohne daran ein Sondereigentum anzuerkennen, +von acht zu acht Jahren neu auf unter die gemeinsässigen Leute. Land- +und Seeraub waren die einzigen bei ihnen heimischen Gewerbe. Diese +Völkerschaften hatten in früheren Zeiten in einem losen +Abhängigkeitsverhältnis zu den Herren von Skodra gestanden und waren +insofern mitbetroffen worden von den römischen Expeditionen gegen die +Königin Teuta und Demetrios von Pharos; allein bei dem +Regierungsantritt des Königs Genthios hatten sie sich losgemacht und +waren dadurch dem Schicksal entgangen, das das südliche Illyrien in den +Sturz des Makedonischen Reiches verflocht und es von Rom dauernd +abhängig machte. Die Römer überließen die wenig lockende Landschaft +gern sich selbst. Allein die Klagen der römischen Illyrier, namentlich +der Daorser, die an der Narenta südlich von den Dalmatern wohnten, und +der Bewohner der Insel Issa (Lissa), deren kontinentale Stationen +Tragyrion (Trau) und Epetion (bei Spalato) von den Eingeborenen schwer +zu leiden hatten, nötigten die römische Regierung, an diese eine +Gesandtschaft abzuordnen und, da diese die Antwort zurückbrachte, daß +die Dalmater um die Römer weder bisher sich gekümmert hätten noch +künftig kümmern würden, im Jahre 598 (156) ein Heer unter dem Konsul +Gaius Marcius Figulus dorthin zu senden. Er drang in Dalmatien ein, +ward aber wieder zurückgedrängt bis auf das römische Gebiet. Erst sein +Nachfolger Publius Scipio Nasica nahm 599 (155) die große und feste +Stadt Delminium, worauf die Eidgenossenschaft sich zum Ziel legte und +sich bekannte als den Römern untertänig. Indes war die arme und nur +oberflächlich unterworfene Landschaft nicht wichtig genug, um als +eigenes Amt verwaltet zu werden; man begnügte sich, wie man es schon +für die wichtigeren Besitzungen in Epirus getan, sie von Italien aus +mit dem diesseitigen Keltenland zugleich verwalten zu lassen; wobei es +wenigstens als Regel auch dann blieb, als im Jahre 608 (146) die +Provinz Makedonien eingerichtet und deren nordöstliche Grenze nördlich +von Skodra festgestellt worden war 5. + +———————————————————————— + +5 3, 49. Die Pirusten in den Tälern des Drin gehörten zur Provinz +Makedonien, streiften aber hinüber in das benachbarte Illyricum (Caes. +Gall. 5, 1). + +———————————————————————— + +Aber ebendiese Umwandlung Makedoniens in eine von Rom unmittelbar +abhängige Landschaft gab den Beziehungen Roms zu den Völkern im +Nordosten größere Bedeutung, indem sie den Römern die Verpflichtung +auferlegte, die überall offene Nord- und Ostgrenze gegen die +angrenzenden barbarischen Stämme zu verteidigen; und in ähnlicher Weise +ging nicht lange darauf (621 133) durch die Erwerbung des bisher zum +Reich der Attaliden gehörigen Thrakischen Chersones (Halbinsel von +Gallipoli) die bisher den Königen von Pergamon obliegende +Verpflichtung, die Hellenen hier gegen die Thraker zu schützen, +gleichfalls auf die Römer über. Von der zwiefachen Basis aus, die das +Potal und die makedonische Landschaft darboten, konnten die Römer jetzt +ernstlich gegen das Quellgebiet des Rheins und die Donau vorgehen und +der nördlichen Gebirge wenigstens insoweit sich bemächtigen, als die +Sicherheit der südlichen Landschaften es erforderte. Auch in diesen +Gegenden war damals die mächtigste Nation das große Keltenvolk, welches +der einheimischen Sage zufolge aus seinen Sitzen am westlichen Ozean +sich um dieselbe Zeit südlich der Hauptalpenkette in das Potal und +nördlich derselben in die Landschaften am oberen Rhein und an der Donau +ergossen hatte. Von ihren Stämmen saßen auf beiden Ufern des Oberrheins +die mächtigen, reichen und, da sie mit den Römern nirgends sich +unmittelbar berührten, mit ihnen in Frieden und Vertrag lebenden +Helvetier, die damals vom Genfer See bis zum Main sich erstreckend die +heutige Schweiz, Schwaben und Franken innegehabt zu haben scheinen. Mit +ihnen grenzten die Boier, deren Sitze das heutige Bayern und Böhmen +gewesen sein mögen 6. Südöstlich von ihnen begegnen wir einem anderen +Keltenstamm, der in der Steiermark und Kärnten unter dem Namen der +Taurisker, später der Noriker, in Friaul, Krain, Istrien unter dem der +Karner auftritt. Ihre Stadt Noreia (unweit St. Veit nördlich von +Klagenfurt) war blühend und weitbekannt durch die schon damals in +dieser Gegend eifrig betriebenen Eisengruben; mehr noch wurden eben in +dieser Zeit die Italiker dorthin gelockt durch die dort zu Tage +gekommenen reichen Goldlager, bis die Eingeborenen sie ausschlossen und +dies Kalifornien der damaligen Zeit für sich allein nahmen. Diese zu +beiden Seiten der Alpen sich ergießenden keltischen Schwärme hatten +nach ihrer Art vorwiegend nur das Flach- und Hügelland besetzt; die +eigentliche Alpenlandschaft und ebenso das Gebiet der Etsch und des +unteren Po war von ihnen unbesetzt und in den Händen der früher dort +einheimischen Bevölkerung geblieben, welche, ohne daß über ihre +Nationalität bis jetzt etwas Sicheres zu ermitteln gelungen wäre, unter +dem Namen der Räter in den Gebirgen der Ostschweiz und Tirols, unten +dem der Euganeer und Veneter um Padua und Venedig auftreten, so daß an +diesem letzten Punkt die beiden großen Keltenströme fast sich berühren +und nur ein schmaler Streif eingeborener Bevölkerung die keltischen +Cenomaner um Brescia von den keltischen Karnern in Friaul scheidet. Die +Euganeer und Veneter waren längst friedliche Untertanen der Römer; +dagegen die eigentlichen Alpenvölker waren nicht bloß noch frei, +sondern machten auch von ihren Bergen herab regelmäßig Streifzüge in +die Ebene zwischen den Alpen und dem Po, wo sie sich nicht begnügten zu +brandschatzen, sondern auch in den eingenommenen Ortschaften mit +fürchterlicher Grausamkeit hausten und nicht selten die ganze männliche +Bevölkerung bis zum Kinde in den Windeln niedermachten - vermutlich die +tatsächliche Antwort auf die römischen Razzias in den Alpentälern. Wie +gefährlich diese rätischen Einfälle waren, zeigt, daß einer derselben +um das Jahr 660 (94) die ansehnliche Ortschaft Comum zugrunde richtete. +Wenn bereits diese auf und jenseits der Alpenkette sitzenden keltischen +und nichtkeltischen Stämme vielfach sich gemischt haben mögen, so ist +die Völkermengung, wie begreiflich, noch in viel umfassenderer Weise +eingetreten in den Landschaften an der unteren Donau, wo nicht, wie in +den westlicheren, die hohen Gebirge als natürliche Scheidewände dienen. +Die ursprünglich illyrische Bevölkerung, deren letzter reiner Überrest +die heutigen Albanesen zu sein scheinen, war durchgängig wenigstens im +Binnenland stark gemengt mit keltischen Elementen und die keltische +Bewaffnung und Kriegsweise hier wohl überall eingeführt. Zunächst an +die Taurisker schlossen sich die Japyden, die auf den Julischen Alpen +im heutigen Kroatien bis hinab nach Fiume und Zeng saßen, ein +ursprünglich wohl illyrischer, aber stark mit Kelten gemischter Stamm. +An sie grenzten im Litoral die schon genannten Dalmater, in deren rauhe +Gebirge die Kelten nicht eingedrungen zu sein scheinen; im Binnenland +dagegen waren die keltischen Skordisker, denen das ehemals hier vor +allem mächtige Volk der Triballer erlegen war und die schon in den +Keltenzügen nach Delphi eine Hauptrolle gespielt hatten, an der unteren +Save bis zur Morawa im heutigen Bosnien und Serbien um diese Zeit die +führende Nation, die weit und breit nach Mösien, Thrakien und +Makedonien streifte und von deren wilder Tapferkeit und grausamen +Sitten man sich schreckliche Dinge erzählte. Ihr Hauptwaffenplatz war +das feste Segestica oder Siscia an der Mündung der Kulpa in die Save. +Die Völker, die damals in Ungarn, Siebenbürgen, Rumänien, Bulgarien +saßen, blieben für jetzt noch außerhalb des Gesichtskreises der Römer; +nur mit den Thrakern berührte man sich an der Ostgrenze Makedoniens in +den Rhodopegebirgen. + +—————————————————————- + +6 “Zwischen dem Herkynischen Walde (d. h. hier wohl der Rauhen Alb), +dem Rhein und dem Main wohnten die Helvetier”, sagt Tacitus (Germ. 28), +“weiterhin die Boier.” Auch Poseidonios (bei Strabon 7, 293) gibt an, +daß die Boier zu der Zeit, wo sie die Kimbrer abschlugen, den +Herkynischen Wald bewohnten, d. h. die Gebirge von der Rauhen Alb bis +zum Böhmerwald. Wenn Caesar sie “jenseits des Rheines” versetzt (Gall. +1, 5), so ist dies damit nicht im Widerspruch, denn da er hier von +helvetischen Verhältnissen ausgeht, kann er sehr wohl die Landschaft +nordöstlich vom Bodensee meinen; womit vollkommen übereinstimmt, daß +Strabon die ehemals boische Landschaft als dem Bodensee angrenzend +bezeichnet, nur daß er nicht ganz genau als Anwohner des Bodensees die +Vindeliker daneben nennt, da diese sich dort erst festsetzten, nachdem +die Boier diese Striche geräumt hatten. Aus diesen ihren Sitzen waren +die Boier von den Markomannen und anderen deutschen Stämmen schon vor +Poseidonios’ Zeit, also vor 650 (100) vertrieben; Splitter derselben +irrten zu Caesars Zeit in Kärnten umher (Caes. Gall. 1, 5) und kamen +von da zu den Helvetiern und in das westliche Gallien; ein anderer +Schwarm fand neue Sitze am Plattensee, wo er dann von den Geten +vernichtet ward, die Landschaft aber, die sogenannte “boische Einöde”, +den Namen dieses geplagtesten aller keltischen Völker bewahrte. Vgl. 2, +193 A. + +————————————————————— + +Es wäre für eine kräftigere Regierung, als die damalige römische es +war, keine leichte Aufgabe gewesen, gegen diese weiten und barbarischen +Gebiete eine geordnete und ausreichende Grenzverteidigung einzurichten; +was unter den Auspizien der Restaurationsregierung für den wichtigen +Zweck geschah, genügt auch den mäßigsten Anforderungen nicht. An +Expeditionen gegen die Alpenbewohner scheint es nicht gefehlt zu haben; +im Jahre 636 (118) ward triumphiert über die Stöner, die in den Bergen +oberhalb Verona gesessen haben dürften; im Jahre 659 (95) ließ der +Konsul Lucius Crassus die Alpentäler weit und breit durchstöbern und +die Einwohner niedermachen, und dennoch gelang es ihm nicht, derselben +genug zu erschlagen, um einen Dorftriumph feiern und mit seinem +Rednerruhm den Siegerlorbeer paaren zu können. Allein da man es bei +derartigen Razzias bewenden ließ, die die Eingeborenen nur erbitterten, +ohne sie unschädlich zu machen, und, wie es scheint, nach jedem solchen +Überlauf die Truppen wieder wegzog, so blieb der Zustand in der +Landschaft jenseits des Po im wesentlichen, wie er war. + +Auf der entgegengesetzten Grenze in Thrakien scheint man sich wenig um +die Nachbarn bekümmert zu haben; kaum daß im Jahre 651 (103) Gefechte +mit den Thrakern, im Jahre 657 (97) andere mit den Mädern in den +Grenzgebirgen zwischen Makedonien und Thrakien erwähnt werden. + +Ernstlichere Kämpfe fanden statt im illyrischen Land, wo über die +unruhigen Dalmater von den Nachbarn und den Schiffern auf der +Adriatischen See beständig Beschwerde geführt ward; und an der völlig +offenen Nordgrenze Makedoniens, welche nach dem bezeichnenden Ausdruck +eines Römers so weit ging als die römischen Schwerter und Speere +reichten, ruhten die Kämpfe mit den Nachbarn niemals. Im Jahre 619 +(135) ward ein Zug gemacht gegen die Ardyäer oder Vardäer und die +Pleräer oder Paralier, eine dalmatische Völkerschaft in dem Litoral +nördlich der Narentamündung, die nicht aufhörte, auf dem Meer und an +der gegenüberliegenden Küste Unfug zu treiben; auf Geheiß der Römer +siedelten sie von der Küste weg im Binnenland, der heutigen +Herzegowina, sich an und begannen den Acker zu bauen, verkümmerten aber +in der rauben Gegend bei dem ungewohnten Beruf. Gleichzeitig ward von +Makedonien aus ein Angriff gegen die Skordisker gerichtet, die +vermutlich mit den angegriffenen Küstenbewohnern gemeinschaftliche +Sache gemacht hatten. Bald darauf (625 129) demütigte der Konsul +Tuditanus in Verbindung mit dem tüchtigen Decimus Brutus, dem Bezwinger +der spanischen Callaeker, die Japyden und trug, nachdem er anfänglich +eine Niederlage erlitten, schließlich die römischen Waffen tief nach +Dalmatien hinein bis an den Kerkafluß, 25 deutsche Meilen abwärts von +Aquileia; die Japyden erscheinen fortan als eine befriedete und mit Rom +in Freundschaft lebende Nation. Dennoch erhoben zehn Jahre später (635 +119) die Dalmater sich aufs neue, abermals in Gemeinschaft mit den +Skordiskern. Während gegen diese der Konsul Lucius Cotta kämpfte und +dabei, wie es scheint, bis Segestica vordrang, zog gegen die Dalmater +sein Kollege, der ältere Bruder des Besiegten von Numidien, Lucius +Metellus, seitdem der Dalmatiker genannt, überwand sie und überwinterte +in Salona (Spalato), welche Stadt fortan als der Hauptwaffenplatz der +Römer in dieser Gegend erscheint. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in +diese Zeit auch die Anlage der Gabinischen Chaussee fällt, die von +Salona in östlicher Richtung nach Andetrium (bei Much) und von da +weiter landeinwärts führte. Mehr den Charakter des Eroberungskrieges +trug die Expedition des Konsuls des Jahres 539 (115), Marcus Aemilius +Scaurus, gegen die Taurisker 7; er überstieg, der erste unter den +Römern, die Kette der Ostalpen an ihrer niedrigsten Senkung zwischen +Triest und Laibach und schloß mit den Tauriskern Gastfreundschaft, +wodurch der nicht unwichtige Handelsverkehr gesichert ward, ohne daß +doch die Römer, wie eine förmliche Unterwerfung dies nach sich gezogen +haben würde, in die Völkerbewegungen nordwärts der Alpen hineingezogen +worden wären. + +——————————————————————————————————— + +7 Galli Karni heißen sie in den Triumphalfasten, Ligures Taurisci (denn +so ist statt des überlieferten Ligures et Cauristi zu schreiben) bei +Victor. + +———————————————————————————————————- + +Von den fast verschollenen Kämpfen mit den Skordiskern ist durch einen +kürzlich in der Nähe von Thessalonike zum Vorschein gekommenen +Denkstein aus dem Jahr Roms 636 (118) ein auch in seiner Vereinzelung +deutlich redendes Blatt wieder zum Vorschein gekommen. Danach fiel in +diesem Jahr der Statthalter Makedoniens Sextus Pompeius bei Argos +(unweit Stobi am oberen Axios oder Vardar) in einer diesen Kelten +gelieferten Schlacht; und nachdem dessen Quästor Marcus Annius mit +seinen Truppen herbeigekommen und der Feinde einigermaßen Herr geworden +war, brachen bald darauf dieselben Kelten in Verbindung mit dem König +der Mäder (am oberen Strymon) Tipas in noch größeren Massen abermals +ein, und mit Mühe erwehrten sich die Römer der andringenden Barbaren 8. +Die Dinge nahmen bald eine so drohende Gestalt an, daß es nötig wurde, +konsularische Heere nach Makedonien zu entsenden 9. Wenige Jahre darauf +wurde der Konsul des Jahres 640 (114), Gaius Porcius Cato, in den +serbischen Gebirgen von denselben Skordiskern überfallen und sein Heer +vollständig aufgerieben, während er selbst mit wenigen schimpflich +entfloh; mühsam schirmte der Prätor Marcus Didius die römische Grenze. +Glücklicher fochten seine Nachfolger Gaius Metellus Caprarius (641, 642 +113, 112), Marcus Livius Drusus (642, 643 112, 111), der erste römische +Feldherr, der die Donau erreichte, und Quintus Minucius Rufus (644-647 +110-107), der die Waffen längs der Morawa ^10 trug und die Skordisker +nachdrücklich schlug. Aber nichtsdestoweniger fielen sie bald nachher, +im Bunde wieder mit den Mädern und den Dardanern, in das römische +Gebiet und plünderten sogar das delphische Heiligtum; erst da machte +Lucius Scipio dem zweiunddreißigjährigen Skordiskerkrieg ein Ende und +trieb den Rest hinüber auf das linke Ufer der Donau ^11. Seitdem +beginnen an ihrer Stelle die ebengenannten Dardaner (in Serbien) in dem +Gebiet zwischen der Nordgrenze Makedoniens und der Donau die erste +Rolle zu spielen. + +———————————————————————— + +8 Der Quästor von Makedonien M. Annius P. f., dem die Stadt Lete +(Aivati, 4 Stadien nordwestlich von Thessalonike) im Jahre 29 der +Provinz, der Stadt 636 (118) diesen Denkstein setzte (SIG 247), ist +sonst nicht bekannt; der Prätor Sex. Pompeius, dessen Fall darin +erwähnt wird, kann kein anderer sein als der Großvater des Pompeius, +mit dem Caesar stritt, der Schwager des Dichters Lucilius. Die Feinde +werden bezeichnet als Γαλατών έθνος. Es wird hervorgehoben, daß Annius +aus Schonung gegen die Provinzialen es unterließ, ihre Kontingente +aufzubieten und mit den römischen Truppen allein die Barbaren +zurücktrieb. Allem Anschein nach hat Makedonien schon damals eine +faktisch stehende römische Besatzung erfordert. + +9 Ist Quintus Fabius Maximus Eburnus, Konsul 638 (116) nach Makedonien +gegangen (CIG 1534; A. Zumpt, Commentationes epigraphicae. Bd. z. +Berlin 1854, S. 167), so muß auch er dort einen Mißerfolg erlitten +haben, da Cicero (Pis. 16, 38) sagt: ex (Macedonia) aliquot praetorio +imperio, consulari quidem nemo rediit, qui incolumis fuerit, quin +triumpharit; denn die für diese Epoche vollständige Triumphalliste +kennt nur die drei makedonischen Triumphe des Metellus 643 (111), des +Drusus 644 (110) und des Minucius 648 (106). + +^10 Da nach Frontinus (grom. 2, 4, 3), Velleius und Eutrop die von +Minucius besiegte Völkerschaft die Skordisker waren, so kann es nur ein +Fehler von Florus sein, daß er statt des Margos (Morawa) den Hebros +(die Maritza) nennt. + +^11 Von dieser Vernichtung der Skordisker, während die Mäder und +Dardaner zum Vertrag zugelassen wurden, berichtet Appian (Ill. 5), und +in der Tat sind seitdem die Skordisker aus dieser Gegend verschwunden. +Wenn die schließliche Überwältigung im 32. Jahr από τής πρώτης εις +Κελτούς πείρας stattgefunden hat, so scheint dies von einem +zweiunddreißigjährigen Krieg zwischen den Römern und den Skordiskern +verstanden werden zu müssen, dessen Beginn vermutlich nicht lange nach +der Konstituierung der Provinz Makedonien (608 146) fällt und von dem +die oben verzeichneten Waffenereignisse (636-647 118-107) ein Teil +sind. Daß die Überwindung kurz vor dem Ausbruch der italischen +Bürgerkriege, also wohl spätestens 663 (91) erfolgt ist, geht aus +Appians Erzählung hervor. Sie fällt zwischen 650 (104) und 656 (98), +wenn ihr ein Triumph gefolgt ist, denn vor- und nachher ist das +Triumphalverzeichnis vollständig; indes ist es möglich, daß es aus +irgendeinem Grund zum Triumph nicht kam. Der Sieger ist weiter nicht +bekannt; vielleicht ist es kein anderer als der Konsul des Jahres 671 +(83), da dieser infolge der cinnanisch-marianischen Wirren füglich +verspätet zum Konsulat gelangt sein kann. + +————————————————————————- + +Indes diese Siege hatten eine Folge, welche die Sieger nicht ahnten. +Schon seit längerer Zeit irrte ein “unstetes Volk” an dem nördlichen +Saum der zu beiden Seiten der Donau von den Kelten eingenommenen +Landschaft. Sie nannten sich die Kimbrer, das heißt die Chempho, die +Kämpen oder, wie ihre Feinde übersetzten, die Räuber, welche Benennung +indes allem Anschein nach schon vor ihrem Auszug zum Volksnamen +geworden war. Sie kamen aus dem Norden und stießen unter den Kelten +zuerst, soweit bekannt, auf die Boier, wahrscheinlich in Böhmen. +Genaueres über die Ursache und die Richtung ihrer Heerfahrt haben die +Zeitgenossen aufzuzeichnen versäumt ^12 und kann auch durch keine +Mutmaßung ergänzt werden, da die derzeitigen Zustände nördlich von +Böhmen und dem Main und östlich vom unteren Rheine unseren Blicken sich +vollständig entziehen. Dagegen dafür, daß die Kimbrer und nicht minder +der ihnen später sich anschließende gleichartige Schwarm der Teutonen +ihrem Kerne nach nicht der keltischen Nation angehören, der die Römer +sie anfänglich zurechneten, sondern der deutschen, sprechen die +bestimmtesten Tatsachen: das Erscheinen zweier kleiner gleichnamiger +Stämme, allem Anschein nach in den Ursitzen zurückgebliebener Reste, +der Kimbrer im heutigen Dänemark, der Teutonen im nordöstlichen +Deutschland in der Nähe der Ostsee, wo ihrer schon Alexanders des +Großen Zeitgenosse Pytheas bei Gelegenheit des Bernsteinhandels +gedenkt; die Verzeichnung der Kimbrer und Teutonen in der germanischen +Völkertafel unter den Ingävonen neben den Chaukern; das Urteil Caesars, +der zuerst die Römer den Unterschied der Deutschen und der Kelten +kennen lehrte und die Kimbrer, deren er selbst noch manchen gesehen +haben muß, den Deutschen beizählt; endlich die Völkernamen selbst und +die Angaben über ihre Körperbildung und ihr sonstiges Wesen, die zwar +auf die Nordländer überhaupt, aber doch vorwiegend auf die Deutschen +passen. Andererseits ist es begreiflich, daß ein solcher Schwarm, +nachdem er vielleicht Jahrzehnte auf der Wanderschaft sich befunden und +auf seinen Zügen an und in dem Keltenland ohne Zweifel jeden +Waffenbruder, der sich anschloß, willkommen geheißen hatte, eine Menge +keltischer Elemente in sich schloß; so daß es nicht befremdet, wenn +Männer keltischen Namens an der Spitze der Kimbrer stehen oder wenn die +Römer sich keltisch redender Spione bedienen, um bei ihnen zu +kundschaften. Es war ein wunderbarer Zug, dessengleichen die Römer noch +nicht gesehen hatten; nicht eine Raubfahrt reisiger Leute, auch nicht +ein “heiliger Lenz” in die Fremde wandernder junger Mannschaft, sondern +ein wanderndes Volk, das mit Weib und Kind, mit Habe und Gut auszog, +eine neue Heimat sich zu suchen. Der Karren, der überall bei den noch +nicht völlig seßhaft gewordenen Völkern des Nordens eine andere +Bedeutung hatte als bei den Hellenen und den Italikern und auch von den +Kelten durchgängig ins Lager mitgeführt ward, war hier gleichsam das +Haus, wo unter dem übergespannten Lederdach neben dem Gerät Platz sich +fand für die Frau und die Kinder und selbst für den Haushund. Die +Südländer sahen mit Verwunderung diese hohen schlanken Gestalten mit +den tiefblonden Locken und den hellblauen Augen, die derben stattlichen +Frauen, die den Männern an Größe und Stärke wenig nachgaben, die Kinder +mit dem Greisenhaar, wie die Italiener verwundert die flachsköpfigen +Jungen des Nordlandes bezeichneten. Das Kriegswesen war wesentlich das +der Kelten dieser Zeit, die nicht mehr, wie einst die italischen, +barhäuptig und bloß mit Schwert und Dolch fochten, sondern mit +kupfernen, oft reichgeschmückten Helmen und mit einer eigentümlichen +Wurfwaffe, der Materis; daneben war das große Schwert geblieben und der +lange schmale Schild, neben dem man auch wohl noch einen Panzer trug. +An Reiterei fehlte es nicht; doch waren die Römer in dieser Waffe ihnen +überlegen. Die Schlachtordnung war wie früher eine rohe, angeblich +ebensoviel Glieder tief wie breit gestellte Phalanx, deren erstes Glied +in gefährlichen Gefechten nicht selten die metallenen Leibgürtel mit +Stricken zusammenknüpfte. Die Sitten waren rauh. Das Fleisch ward +häufig roh verschlungen. Heerkönig war der tapferste und womöglich der +längste Mann. Nicht selten ward, nach Art der Kelten und überhaupt der +Barbaren, Tag und Ort des Kampfes vorher mit dem Feinde ausgemacht, +auch wohl vor dem Beginn der Schlacht ein einzelner Gegner zum +Zweikampf herausgefordert. Die Einleitung zum Kampf machten +Verhöhnungen des Feindes durch unschickliche Gebärden und ein +entsetzliches Gelärm, indem die Männer ihr Schlachtgebrüll erhoben und +die Frauen und Kinder durch Rufpauken auf die ledernen Wagendeckel +nachhalfen. Der Kimbrer focht tapfer - galt ihm doch der Tod auf dem +Bett der Ehre als der einzige, der des freien Mannes würdig war -, +allein nach dem Siege hielt er sich schadlos durch die wildeste +Bestialität und verhieß auch wohl im voraus den Schlachtgöttern, +darzubringen, was der Sieg in die Gewalt der Sieger geben würde. Dann +wurden die Geräte zerschlagen, die Pferde getötet, die Gefangenen +aufgeknüpft oder nur aufbehalten, um den Göttern geopfert zu werden. Es +waren die Priesterinnen, greise Frauen in weißen linnenen Gewändern und +unbeschuht, die wie Iphigeneia im Skythenland diese Opfer vollzogen und +aus dem rinnenden Blut des geopferten Kriegsgefangenen oder Verbrechers +die Zukunft wiesen. Wieviel von diesen Sitten allgemeiner Brauch der +nordischen Barbaren, wieviel von den Kelten entlehnt, wie viel +deutsches Eigen sei, wird sich nicht ausmachen lassen; nur die Weise, +nicht durch Priester, sondern durch Priesterinnen das Heer geleiten und +leiten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche Art angesprochen +werden. So zogen die Kimbrer hinein in das unbekannte Land, ein +ungeheures Knäuel mannigfaltigen Volkes, das um einen Kern deutscher +Auswanderer von der Ostsee sich zusammengeballt hatte, nicht +unvergleichbar den Emigrantenmassen, die in unseren Zeiten ähnlich +belastet und ähnlich gemischt und nicht viel minder ins Blaue hinein +übers Meer fahren; ihre schwerfällige Wagenburg mit der Gewandtheit, +die ein langes Wanderleben gibt, hinüberführend über Ströme und +Gebirge, gefährlich den zivilisierteren Nationen wie die Meereswoge und +die Windsbraut, aber wie diese latinisch und unberechenbar, bald rasch +vordringend, bald plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich +wendend. Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren sie +verschwunden, und es fand sich leider in der unlebendigen Zeit, in der +sie erschienen, kein Beobachter, der es wert gehalten hätte, das +wunderbare Meteor genau abzuschildern. Als man später anfing, die Kette +zu ahnen, von welcher diese Heerfahrt, die erste deutsche, die den +Kreis der antiken Zivilisation berührt hat, ein Glied ist, war die +unmittelbare und lebendige Kunde von derselben lange verschollen. + +——————————————————————————— + +^12 Denn der Bericht, daß an den Küsten der Nordsee durch Sturmfluten +große Landschaften weggerissen und dadurch die massenhafte Auswanderung +der Kimbrer veranlaßt worden sei (Strab. 7, 293), erscheint zwar uns +nicht wie denen, die ihn aufzeichneten, märchenhaft, allein ob er auf +Überlieferung oder Vermutung sich gründet, ist doch nicht zu +entscheiden. + +——————————————————————————— + +Dies heimatlose Volk der Kimbrer, das bisher von den Kelten an der +Donau, namentlich den Boiern verhindert worden war, nach Süden +vorzudringen, durchbrach diese Schranke infolge der von den Römern +gegen die Donaukelten gerichteten Angriffe, sei es nun, daß die +Donaukelten die kimbrischen Gegner zu Hilfe riefen gegen die +vordringenden Legionen, oder daß jene durch den Angriff der Römer +verhindert wurden, ihre Nordgrenzen so wie bisher zu schirmen. Durch +das Gebiet der Skordisker einrückend in das Tauriskerland, näherten sie +im Jahre 641 (113) sich den Krainer Alpenpässen, zu deren Deckung der +Konsul Gnaeus Papirius Carbo auf den Höhen unweit Aquileia sich +aufstellte. Hier hatten siebzig Jahre zuvor keltische Stämme sich +diesseits der Alpen anzusiedeln versucht, aber auf Geheiß der Römer den +schon okkupierten Boden ohne Widerstand geräumt; auch jetzt erwies die +Furcht der transalpinischen Völker vor dem römischen Namen sich +mächtig. Die Kimbrer griffen nicht an; ja sie fügten sich, als Carbo +sie das Gebiet der Gastfreunde Roms, der Taurisker, räumen hieß, wozu +der Vertrag mit diesen ihn keineswegs verpflichtete, und folgten den +Führern, die ihnen Carbo gegeben hatte, um sie über die Grenze zu +geleiten. Allein diese Führer waren vielmehr angewiesen, die Kimbrer in +einen Hinterhalt zu locken, wo der Konsul ihrer wartete. So kam es +unweit Noreia im heutigen Kärnten zum Kampf, in dem die Verratenen über +den Verräter siegten und ihm beträchtlichen Verlust beibrachten; nur +ein Unwetter, das die Kämpfenden trennte, verhinderte die vollständige +Vernichtung der römischen Armee. Die Kimbrer hätten sogleich ihren +Angriff gegen Italien richten können; sie zogen es vor, sich westwärts +zu wenden. Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den Sequanern als +durch Gewalt der Waffen eröffneten sie sich den Weg auf das linke +Rheinufer und über den Jura und bedrohten hier einige Jahre nach Carbos +Niederlage abermals in nächster Nähe das römische Gebiet. Die +Rheingrenze und das zunächst gefährdete Gebiet der Allobrogen zu +decken, erschien 645 (109) im südlichen Gallien ein römisches Heer +unter Marcus Iunius Silanus. Die Kimbrer baten, ihnen Land anzuweisen, +wo sie friedlich sich niederlassen könnten - eine Bitte, die sich +allerdings nicht gewähren ließ. Der Konsul griff statt aller Antwort +sie an; er ward vollständig geschlagen und das römische Lager erobert. +Die neuen Aushebungen, welche durch diesen Unfall veranlaßt wurden, +stießen bereits auf so große Schwierigkeit, daß der Senat deshalb die +Aufhebung der vermutlich von Gaius Gracchus herrührenden, die +Verpflichtung zum Kriegsdienst der Zeit nach einschränkenden Gesetze +bewirkte. Indes die Kimbrer, statt ihren Sieg gegen die Römer zu +verfolgen, sandten an den Senat nach Rom, die Bitte um Anweisung von +Land zu wiederholen, und beschäftigten sich inzwischen, wie es scheint, +mit der Unterwerfung der umliegenden keltischen Kantone. So hatten vor +den Deutschen die römische Provinz und die neue römische Armee für den +Augenblick Ruhe; dagegen stand ein neuer Feind auf im Keltenland +selbst. Die Helvetier, die in den steten Kämpfen mit ihren +nordöstlichen Nachbarn viel zu leiden hatten, fühlten durch das +Beispiel der Kimbrer sich gereizt, gleichfalls im westlichen Gallien +sich ruhigere und fruchtbarere Sitze zu suchen, und hatten vielleicht +schon, als die Kimbrerscharen durch ihr Land zogen, sich dazu mit ihnen +verbündet; jetzt überschritten unter Divicos Führung die Mannschaften +der Tougener (unbekannter Lage) und der Tigoriner (am See von Murten) +den Jura ^13 und gelangten bis in das Gebiet der Nitiobrogen (um Agen +an der Garonne). Das römische Heer unter dem Konsul Lucius Cassius +Longinus, auf das sie hier stießen, ließ sich von den Helvetiern in +einen Hinterhalt locken, wobei der Feldherr selber und sein Legat, der +Konsular Lucius Piso, mit dem größten Teil der Soldaten ihren Tod +fanden; der interimistische Oberbefehlshaber der Mannschaft, die sich +in das Lager gerettet hatte, Gaius Popillius, kapitulierte auf Abzug +unter dem Joch gegen Auslieferung der Hälfte der Habe, die die Truppen +mit sich führten, und Stellung von Geiseln (647 107). So bedenklich +standen die Dinge für die Römer, daß in ihrer eigenen Provinz eine der +wichtigsten Städte, Tolosa, sich gegen sie erhob und die römische +Besatzung in Fesseln schlug. + +——————————————————- + +^13 Die gewöhnliche Annahme, daß die Tougener und Tigoriner mit den +Kimbrern zugleich in Gallien eingerückt seien, läßt sich auf Strabon 7, +293 nicht stützen und stimmt wenig zu dem gesonderten Auftreten der +Helvetier. Die Überlieferung über diesen Krieg ist übrigens in einer +Weise trümmerhaft, daß eine zusammenhängende Geschichtserzählung, +völlig wie bei den Samnitischen Kriegen, nur Anspruch machen kann auf +ungefähre Richtigkeit. + +——————————————————— + +Indes da die Kimbrer fortfuhren, sich anderswo zu tun zu machen und +auch die Helvetier vorläufig die römische Provinz nicht weiter +belästigten, hatte der neue römische Oberfeldherr Quintus Servilius +Caepio volle Zeit, sich der Stadt Tolosa durch Verrat wieder zu +bemächtigen und das alte und berühmte Heiligtum des Keltischen Apollon +von den darin aufgehäuften ungeheuren Schätzen mit Muße zu leeren - ein +erwünschter Gewinn für die bedrängte Staatskasse, nur daß leider die +Gold- und Silberfässer auf dem Wege von Tolosa nach Massalia der +schwachen Bedeckung durch einen Räuberhaufen abgenommen wurden und +spurlos verschwanden; wie es hieß, waren die Anstifter dieses +Überfalles der Konsul selbst und sein Stab (648 106). Inzwischen +beschränkte man sich gegen den Hauptfeind auf die strengste Defensive +und hütete mit drei starken Heeren die römische Provinz, bis es den +Kimbrern gefallen würde, den Angriff zu wiederholen. Sie kamen im Jahre +649 (105) unter ihrem König Boiorix, diesmal ernstlich denkend an einen +Einfall in Italien. Gegen sie befehligte am rechten Rhoneufer der +Prokonsul Caepio, am linken der Konsul Gnaeus Mallius Maximus und unter +ihm, an der Spitze eines abgesonderten Korps, sein Legat, der Konsular +Marcus Aurelius Scaurus. Der erste Angriff traf diesen: er ward völlig +geschlagen und selbst gefangen in das feindliche Hauptquartier +gebracht, wo der kimbrische König, erzürnt über die stolze Warnung des +gefangenen Römers, sich nicht mit seinem Heer nach Italien zu wagen, +ihn niederstieß. Maximus befahl darauf seinem Kollegen, sein Heer über +die Rhone zu führen; widerwillig sich fügend erschien dieser endlich +bei Arausio (Orange) am linken Ufer des Flusses, wo nun die ganze +römische Streitmacht dem Kimbrerheer gegenüberstand und ihm durch ihre +ansehnliche Zahl so imponiert haben soll, daß die Kimbrer anfingen zu +unterhandeln. Allein die beiden Führer lebten im heftigsten Zerwürfnis. +Maximus, ein geringer und unfähiger Mann, war als Konsul seinem +stolzeren und besser geborenen, aber nicht besser gearteten +prokonsularischen Kollegen Caepio von Rechts wegen übergeordnet; allein +dieser weigerte sich, ein gemeinschaftliches Lager zu beziehen und +gemeinschaftlich die Operationen zu beraten, und behauptete nach wie +vor sein selbständiges Kommando. Vergeblich versuchten Abgeordnete des +römischen Senats eine Ausgleichung zu bewirken; auch eine persönliche +Zusammenkunft der Feldherren, welche die Offiziere erzwangen, +erweiterte nur den Riß. Als Caepio den Maximus mit den Boten der +Kimbrer verhandeln sah, meinte er diesen im Begriff, die Ehre ihrer +Unterwerfung allein zu gewinnen, und warf mit seinem Heerteil allein +sich schleunigst auf den Feind. Er ward völlig vernichtet, so daß auch +das Lager dem Feinde in die Hände fiel (6. Oktober 649 105); und sein +Untergang zog die nicht minder vollständige Niederlage der zweiten +römischen Armee nach sich. Es sollen 80000 römische Soldaten und halb +soviel von dem ungeheuren und unbehilflichen Troß gefallen, nur zehn +Mann entkommen sein - so viel ist gewiß, daß es nur wenigen von den +beiden Heeren gelang, sich zu retten, da die Römer mit dem Fluß im +Rücken gefochten hatten. Es war eine Katastrophe, die materiell und +moralisch den Tag von Cannae weit überbot. Die Niederlagen des Carbo, +des Silanus, des Longinus waren an den Italikern ohne nachhaltigen +Eindruck vorübergegangen. Man war es schon gewohnt, jeden Krieg mit +Unfällen zu eröffnen; die Unüberwindlichkeit der römischen Waffen stand +so unerschütterlich fest, daß es überflüssig schien, die ziemlich +zahlreichen Ausnahmen zu beachten. Die Schlacht von Arausio aber, das +den unverteidigten Alpenpässen in erschreckender Weise sich nähernde +Kimbrerheer, die sowohl in der römischen Landschaft jenseits der Alpen +als auch bei den Lusitanern aufs neue und verstärkt ausbrechende +Insurrektion, der wehrlose Zustand Italiens rüttelten furchtbar auf aus +diesen Träumen. Man gedachte wieder der nie völlig vergessenen +Keltenstürme des vierten Jahrhunderts, des Tages an der Allia und des +Brandes von Rom; mit der doppelten Gewalt zugleich ältester Erinnerung +und frischester Angst kam der Gallierschreck über Italien; im ganzen +Okzident schien man es inne zu werden, daß die Römerherrschaft anfange +zu wanken. Wie nach der Cannensischen Schlacht wurde durch +Senatsbeschluß die Trauerzeit abgekürzt ^14. Die neuen Werbungen +stellten den drückendsten Menschenmangel heraus. Alle waffenfähigen +Italiker mußten schwören, Italien nicht zu verlassen; die Kapitäne der +in den italischen Häfen liegenden Schiffe wurden angewiesen, keinen +dienstpflichtigen Mann an Bord zu nehmen. Es ist nicht zu sagen, was +hätte kommen mögen, wenn die Kimbrer sogleich nach ihrem Doppelsieg +durch die Alpenpforten in Italien eingerückt wären. Indes sie +überschwemmten zunächst das Gebiet der Arverner, die mühsam in ihren +Festungen der Feinde sich erwehrten, und zogen bald von da, der +Belagerung müde, nicht nach Italien, sondern westwärts gegen die +Pyrenäen. + +——————————————————————— + +^14 Hierher gehört ohne Zweifel das Fragment Diodors Vat. p. 122. + +——————————————————————— + +Wenn der erstarrte Organismus der römischen Politik noch aus sich +selber zu einer heilsamen Krise gelangen konnte, so mußte sie jetzt +eintreten, wo durch einen der wunderbaren Glücksfälle, an denen die +Geschichte Roms so reich ist, die Gefahr nahe genug drohte, um alle +Energie und allen Patriotismus in der Bürgerschaft aufzurütteln, und +doch nicht so plötzlich hereinbrach, daß diesen Kräften kein Raum +geblieben wäre, sich zu entwickeln. Allein es wiederholten sich nur +ebendieselben Erscheinungen, die vier Jahre zuvor nach den +afrikanischen Niederlagen eingetreten waren. In der Tat waren die +afrikanischen und die gallischen Unfälle wesentlich gleicher Art. Es +mag sein, daß zunächst jene mehr der Oligarchie im ganzen, diese mehr +einzelnen Beamten zur Last fielen; allein die öffentliche Meinung +erkannte mit Recht in beiden vor allen Dingen den Bankrott der +Regierung, welche in fortschreitender Entwicklung zuerst die Ehre des +Staats und jetzt bereits dessen Existenz in Frage stellte. Man täuschte +sich damals so wenig wie jetzt über den wahren Sitz des Übels, allein +jetzt so wenig wie damals brachte man es auch nur zu einem Versuch, an +der rechten Stelle zu bessern. Man sah es wohl, daß das System die +Schuld trug; aber man blieb auch diesmal dabei stehen, einzelne +Personen zur Verantwortung zu ziehen - nur entlud freilich über den +Häuptern der Oligarchie dies zweite Gewitter sich mit um so viel +schwereren Schlägen, als die Katastrophe von 649 (105) die von 645 +(109) an Umfang und Gefährlichkeit übertraf. Das instinktmäßig sichere +Gefühl des Publikums, daß es gegen die Oligarchie kein Mittel gebe als +die Tyrannis, zeigte sich wiederum, indem dasselbe bereitwillig einging +auf jeden Versuch namhafter Offiziere, der Regierung die Hand zu +zwingen und unter dieser oder jener Form das oligarchische Regiment +durch eine Diktatur zu stürzen. + +Zunächst war es Quintus Caepio, gegen den die Angriffe sich richteten; +mit Recht, insofern die Niederlage von Arausio zunächst durch seine +Unbotmäßigkeit herbeigeführt war, auch abgesehen von der wahrscheinlich +gegründeten, aber nicht erwiesenen Unterschlagung der tolosanischen +Beute; indes trug zu der Wut, die die Opposition gegen ihn entwickelte, +wesentlich auch das bei, daß er als Konsul einen Versuch gewagt hatte, +den Kapitalisten die Geschworenenstellen zu entreißen. Um seinetwillen +ward der alte ehrwürdige Grundsatz, auch im schlechtesten Gefäß die +Heiligkeit des Amtes zu ehren, gebrochen und, während gegen den Urheber +des cannensischen Unglückstages der Tadel in die stille Brust +verschlossen worden war, der Urheber der Niederlage von Arausio durch +Volksbeschluß des Prokonsulats entsetzt und - was seit den Krisen, in +denen das Königtum untergegangen, nicht wieder vorgekommen war - sein +Vermögen von der Staatskasse eingezogen (649? 105). Nicht lange nachher +wurde derselbe durch einen zweiten Bürgerschluß aus dem Senat gestoßen +(650 104). Aber dies genügte nicht; man wollte mehr Opfer und vor allem +Caepios Blut. Eine Anzahl oppositionell gesinnter Volkstribune, an +ihrer Spitze Lucius Appuleius Saturninus und Gaius Norbanus, +beantragten im Jahre 651 (103) wegen des in Gallien begangenen +Unterschleifs und Landesverrats ein Ausnahmegericht niederzusetzen; +trotz der faktischen Abschaffung der Untersuchungshaft und der +Todesstrafe für politische Vergehen wurde Caepio verhaftet und die +Absicht unverhohlen ausgesprochen, das Todesurteil über ihn zu fällen +und zu vollstrecken. Die Regierungspartei versuchte, durch +tribunizische Interzession den Antrag zu beseitigen; allein die +einsprechenden Tribune wurden mit Gewalt aus der Versammlung verjagt +und bei dem heftigen Auflauf die ersten Männer des Senats durch +Steinwürfe verletzt. Die Untersuchung war nicht zu verhindern und der +Prozeßkrieg ging im Jahre 651 (103) seinen Gang wie sechs Jahre zuvor; +Caepio selbst, sein Kollege im Oberbefehl Gnaeus Malbus Maximus und +zahlreiche andere angesehene Männer wurden verurteilt; mit Mühe gelang +es einem mit Caepio befreundeten Volkstribun, durch Aufopferung seiner +eigenen bürgerlichen Existenz den Hauptangeklagten wenigstens das Leben +zu retten ^15. + +————————————————————— + +^15 Die Amtsentsetzung des Prokonsuls Caepio, mit der die +Vermögenseinziehung verbunden war (Liv. ep. 67), ward wahrscheinlich +unmittelbar nach der Schlacht von Arausio (6. Oktober 649 105) von der +Volksversammlung ausgesprochen. Daß zwischen der Absetzung und der +eigentlichen Katastrophe einige Zeit verstrich, zeigt deutlich der im +Jahre 650 (104) gestellte, auf Caepio gemünzte Antrag, daß +Amtsentsetzung den Verlust des Sitzes im Senat nach sich ziehen solle +(Ascon. Corn. 78). Die Fragmente des Licinianus (p. 10: Cn. Manilius ob +eandem causam quam et Caepio L. Saturnini rogatione e civitate est cito +[?] eiectus; wodurch die Andeutung bei Cicero (De orat. 2, 28,125) klar +wird, lehren jetzt, daß ein von Lucius Appuleius Saturninus +vorgeschlagenes Gesetz diese Katastrophe herbeigeführt hat. Es ist dies +offenbar kein anderes als das Appuleische Gesetz über die geschmälerte +Majestät des römischen Staates (Cic. De orat. 2, 25, 107; 49, 201) +oder, wie der Inhalt desselben schon früher (Bd. 2, S. 193 der ersten +Auflage [Orig.]) bestimmt ward, Saturninus’ Antrag auf Niedersetzung +einer außerordentlichen Kommission zur Untersuchung der während der +kimbrischen Unruhen vorgekommenen Landesverrätereien. Die +Untersuchungskommission wegen des Goldes von Tolosa (Cic. nat. deor. 3, +30, 74) entsprang in ganz ähnlicher Weise aus dem Appuleischen Gesetz, +wie die dort weiter genannten Spezialgerichte über eine ärgerliche +Richterbestechung aus dem Mucischen von 613 (141), die über die +Vorgänge mit den Vestalinnen aus dem Peducäischen von 641 (113), die +über den Jugurthinischen Krieg aus dem Mamilischen von 644 (110). Die +Vergleichung dieser Fälle lehrt auch, daß von dergleichen +Spezialkommissionen, anders als von den ordentlichen, selbst Strafen an +Leib und Leben erkannt werden konnten und erkannt worden sind. Wenn +anderweitig der Volkstribun Gaius Norbanus als derjenige genannt wird, +der das Verfahren gegen Caepio veranlaßte und dafür später zur +Verantwortung gezogen ward (Cic. De orat. 2, 40, 167; 48, 199; 4, 200. +part. 30, 105 u. a. St.), so ist dies damit nicht in Widerspruch; denn +der Antrag ging, wie gewöhnlich, von mehreren Volkstribunen aus (Rhet. +Her. 1, 14, 24; Cic. De orat. 2, 47, 197), und da Saturninus bereits +tot war, als die aristokratische Partei daran denken konnte, Vergeltung +zu üben, hielt man sich an den Kollegen. Was die Zeit dieser zweiten +und schließlichen Verurteilung Caepios anlangt, so ist die gewöhnliche, +sehr unüberlegte Annahme, welche dieselbe in das Jahr 650 (95), zehn +Jahre nach der Schlacht von Arausio setzt, bereits früher +zurückgewiesen worden. Sie beruht lediglich darauf, daß Crassus als +Konsul, also 659 (95) für Caepio sprach (Cic. Brut. 44,162); was er +aber offenbar nicht als dessen Sachwalter tat, sondern als Norbanus +wegen seines Verfahrens gegen Caepio im Jahre 659 (95) von Publius +Sulpicius Rufus zur Verantwortung gezogen ward. Früher wurde für diese +zweite Anklage das Jahr 650 (104) angenommen; seit wir wissen, daß sie +aus einem Antrag des Saturninus hervorging, kann man nur schwanken +zwischen dem Jahr 651 (103), wo dieser zum ersten (Plut. Mar. 14; Oros. +hist. 5, 17; App. 1, 28; Diod. p. 608, 631) und 654 (100), wo er zum +zweiten Male Volkstribun war. Ganz sicher entscheidende Momente finden +sich nicht, aber die sehr überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht für +das erstere Jahr, teils weil dies den Unglücksfällen in Gallien näher +steht, teils weil in den ziemlich ausführlichen Berichten über +Saturninus’ zweites Tribunat Quintus Caepio des Vaters und der gegen +diesen gerichteten Gewaltsamkeiten nicht gedacht wird. Daß die infolge +der Urteilssprüche wegen der unterschlagenen tolosanischen Beute an den +Staatsschatz zurückgezahlten Summen von Saturninus im zweiten Tribunat +für seine Kolonisationspläne in Anspruch genommen werden (Vir. ill. 73, +5 und dazu Orelli ind. legg. p. 137), ist an sich nicht entscheidend +und kann überdies leicht durch Verwechslung von dem ersten +afrikanischen auf das zweite allgemeine Ackergesetz des Saturninus +übertragen worden sein. + +Daß späterhin, als Norbanus belangt ward, dies eben auf Grund des von +ihm mitveranlaßten Gesetzes geschah, ist eine dem römischen politischen +Prozeß dieser Zeit gewöhnliche Ironie (Cic. Brut. 89, 305) und darf +etwa nicht zu dem Glauben verleiten, als sei das Appuleische Gesetz +schon, wie das spätere Cornelische, ein allgemeines Hochverratsgesetz +gewesen. + +———————————————————————— + +Wichtiger als diese Maßregel der Rache war die Frage, wie der +gefährliche Krieg jenseits der Alpen ferner geführt und zunächst, wem +darin die Oberfeldherrnschaft übertragen werden sollte. Bei +unbefangener Behandlung war es nicht schwer, eine passende Wahl zu +treffen. Rom war zwar im Vergleich mit früheren Zeiten an militärischen +Notabilitäten nicht reich; allein es hatten doch Quintus Maximus in +Gallien, Marcus Aemilius Scaurus und Quintus Minucius in den +Donauländern, Quintus Metellus, Publius Rutilius Rufus, Gaius Marius in +Afrika mit Auszeichnung kommandiert; und es handelte sich ja nicht +darum, einen Pyrrhos oder Hannibal zu schlagen, sondern den Barbaren +des Nordens gegenüber die oft erprobte Überlegenheit römischer Waffen +und römischer Taktik wieder in ihr Recht einzusetzen, wozu es keines +genialen, sondern nur eines strengen und tüchtigen Kriegsmanns +bedurfte. Allein es war eben eine Zeit, in der alles eher möglich war +als die unbefangene Erledigung einer Verwaltungsfrage. Die Regierung +war, wie es nicht anders sein konnte und wie schon der jugurthinische +Krieg gezeigt hatte, in der öffentlichen Meinung so vollständig +bankrott, daß ihre tüchtigsten Feldherren in der vollen Siegeslaufbahn +weichen mußten, sowie es einem namhaften Offizier einfiel, sie vor dem +Volk herunterzumachen und als Kandidat der Opposition von dieser sich +an die Spitze der Geschäfte stellen zu lassen. Es war kein Wunder, daß, +was nach den Siegen des Metellus geschehen war, gesteigert sich +wiederholte nach den Niederlagen des Gnaeus, Mallius und Quintus +Caepio. Abermals trat Gaius Marius trotz des Gesetzes, das das Konsulat +mehr als einmal zu übernehmen verbot, auf als Bewerber um das höchste +Staatsamt und nicht bloß ward er, während er noch in Afrika an der +Spitze des dortigen Heeres stand, zum Konsul ernannt und ihm der +Oberbefehl in dem Gallischen Krieg übergeben, sondern es ward ihm auch +fünf Jahre hintereinander (650-654 104-100) wieder und wieder das +Konsulat übertragen, in einer Weise, welche aussah wie ein berechneter +Hohn gegen den eben in Beziehung auf diesen Mann in seiner ganzen +Torheit und Kurzsichtigkeit bewährten exklusiven Geist der Nobilität, +aber freilich auch in den Annalen der Republik unerhört und in der Tat +mit dem Geiste der freien Verfassung Roms schlechterdings unverträglich +war. Namentlich in dem römischen Militärwesen, dessen im Afrikanischen +Krieg begonnene Umgestaltung aus einer Bürgerwehr in eine Söldnerschar +Marius während seines fünfjährigen, durch die Not der Zeit mehr noch +als durch die Klauseln seiner Bestallung unumschränkten Oberkommandos +fortsetzte und vollendete, sind die tiefen Spuren dieser +inkonstitutionellen Oberfeldherrnschaft des ersten demokratischen +Generals für alle Zeit sichtbar geblieben. + +Der neue Oberfeldherr Gaius Marius erschien im Jahre 650 (164) jenseits +der Alpen, gefolgt von einer Anzahl erprobter Offiziere, unter denen +der kühne Fänger des Jugurtha, Lucius Sulla, bald sich abermals +hervortat, und von zahlreichen Scharen italischer und +bundesgenössischer Soldaten. Zunächst fand er den Feind, gegen den er +geschickt war, nicht vor. Die wunderlichen Leute, die bei Arausio +gesiegt hatten, waren inzwischen, wie schon gesagt ward, nachdem sie +die Landschaft westlich der Rhone ausgeraubt hatten, über die Pyrenäen +gestiegen und schlugen sich eben in Spanien mit den tapferen Bewohnern +der Nordküste und des Binnenlandes herum; es schien, als wollten die +Deutschen ihr Talent, nicht zuzugreifen, gleich bei ihrem ersten +Auftreten in der Geschichte beweisen. So fand Marius volle Zeit, +einesteils die abgefallenen Tektosagen zum Gehorsam zurückzubringen, +die schwankende Treue der untertänigen gallischen und ligurischen Gaue +wieder zu befestigen und innerhalb wie außerhalb der römischen Provinz +von den gleich den Römern durch die Kimbrer gefährdeten Bundesgenossen, +wie zum Beispiel von den Massalioten, den Allobrogen, den Sequanern, +Beistand und Zuzug zu erlangen; andrerseits durch strenge Mannszucht +und unparteiische Gerechtigkeit gegen Vornehme und Geringe das ihm +anvertraute Heer zu disziplinieren und durch Märsche und ausgedehnte +Schanzarbeiten - insbesondere die Anlegung eines später den Massalioten +überwiesenen Rhonekanals zur leichteren Herbeischaffung der von Italien +dem Heer nachgesandten Transporte - die Soldaten für die ernstere +Kriegsarbeit tüchtig zu machen. Auch er verhielt sich in strenger +Defensive und überschritt nicht die Grenzen der römischen Provinz. +Endlich, es scheint im Laufe des Jahres 651 (103), flutete der +Kimbrenstrom, nachdem er in Spanien an dem tapferen Widerstand der +eingeborenen Völkerschaften, namentlich der Keltiberer sich gebrochen +hatte, wieder zurück über die Pyrenäen und von da, wie es scheint, am +Atlantischen Ozean hinauf, wo alles den schrecklichen Männern sich +unterwarf, von den Pyrenäen bis zur Seine. Erst hier, an der +Landesgrenze der tapferen Eidgenossenschaft der Belgen, trafen sie auf +ernstlichen Widerstand; allein eben auch hier, während sie im Gebiet +der Veliocasser (bei Rouen) standen, kam ihnen ansehnlicher Zuzug. +Nicht bloß drei Quartiere der Helvetier, darunter die Tigoriner und +Tougener, welche früher an der Garonne gegen die Römer gefochten +hatten, gesellten, wie es scheint um diese Zeit, sich zu den Kimbrern, +sondern es stießen auch zu ihnen die stammverwandten Teutonen unter +ihrem König Teutobod, welche durch uns nicht überlieferte Fügungen aus +ihrer Heimat an der Ostsee hierher an die Seine verschlagen waren ^16. +Aber auch die vereinigten Scharen vermochten den tapferen Widerstand +der Belgen nicht zu überwältigen. Die Führer entschlossen sich daher, +mit der also angeschwollenen Menge den schon mehrmals beratenen Zug +nach Italien nun allen Ernstes anzutreten. Um nicht mit dem bisher +zusammengeraubten Gut sich zu schleppen, wurde dasselbe hier +zurückgelassen unter dem Schutz einer Abteilung von 6000 Mann, aus +denen später nach mancherlei Irrfahrten die Völkerschaft der Aduatuker +an der Sambre erwachsen ist. Indes sei es wegen der schwierigen +Verpflegung auf den Alpenstraßen, sei es aus anderen Gründen, die +Massen lösten sich wieder auf in zwei Heerhaufen, von denen der eine, +die Kimbrer und Tigoriner, über den Rhein zurück und durch die schon im +Jahre 641 (113) erkundeten Pässe der Ostalpen, der andere, die +neuangelangten Teutonen, die Tougener und die schon in der Schlacht von +Arausio bewährte kimbrische Kernschar der Ambronen, durch das römische +Gallien und die Westpässe nach Italien eindringen sollte. Diese zweite +Abteilung war es, die im Sommer 652 (102) abermals ungehindert die +Rhone überschritt und am linken Ufer derselben mit den Römern den Kampf +nach fast dreijähriger Pause wieder aufnahm. Marius erwartete sie in +einem wohlgewählten und wohlverproviantierten Lager am Einfluß der +Isère in die Rhone, in welcher Stellung er die beiden einzigen damals +gangbaren Heerstraßen nach Italien, die über den Kleinen Bernhard und +die an der Küste, zugleich den Barbaren verlegte. Die Teutonen griffen +das Lager an, das ihnen den Weg sperrte; drei Tage nacheinander tobte +der Sturm der Barbaren um die römischen Verschanzungen, aber der wilde +Mut scheiterte an der Überlegenheit der Römer im Festungskrieg und an +der Besonnenheit des Feldherrn. Nach hartem Verlust entschlossen sich +die dreisten Gesellen, den Sturm aufzugeben und am Lager vorbei fürbaß +nach Italien zu marschieren. Sechs Tage hintereinander zogen sie daran +vorüber, ein Beweis mehr noch für die Schwerfälligkeit ihres Trosses +als für ihre ungeheure Zahl. Der Feldherr ließ es geschehen ohne +anzugreifen; daß er durch den höhnischen Zuruf der Feinde, ob die Römer +nicht Aufträge hätten an ihre Frauen daheim, sich nicht irren ließ, ist +begreiflich, aber daß er dies verwegene Vorbeidefilieren der +feindlichen Kolonnen vor der konzentrierten römischen Masse nicht +benutzte um zu schlagen, zeigt, wie wenig er seinen ungeübten Soldaten +vertraute. Als der Zug vorüber war, brach auch er sein Lager ab und +folgte dem Feinde auf dem Fuß, in strenger Ordnung und Nacht für Nacht +sich sorgfältig verschanzend. Die Teutonen, die der Küstenstraße +zustrebten, gelangten längs der Rhone hinabmarschierend bis in die +Gegend von Aquae Sextiae, gefolgt von den Römern. Beim Wasserschöpfen +stießen hier die leichten ligurischen Truppen der Römer mit der +feindlichen Nachhut, den Ambronen, zusammen; das Gefecht ward bald +allgemein; nach heftigem Kampf siegten die Römer und verfolgten den +weichenden Feind bis an die Wagenburg. Dieser erste glückliche +Zusammenstoß erhöhte dem Feldherrn wie den Soldaten den Mut; am dritten +Tage nach demselben ordnete Marius auf dem Hügel, dessen Spitze das +römische Lager trug, seine Reihen zur entscheidenden Schlacht. Die +Teutonen, längst ungeduldig, mit ihren Gegnern sich zu messen, stürmten +sofort den Hügel hinauf und begannen das Gefecht. Es war ernst und +langwierig; bis zum Mittag standen die Deutschen wie die Mauern; allein +die ungewohnte Glut der provencalischen Sonne erschlaffte ihre Sehnen +und ein blinder Lärm in ihrem Rücken, wo ein Haufen römischer Troßbuben +aus einem waldigen Versteck mit gewaltigem Geschrei hervorrannte, +entschied vollends die Auflösung der schwankenden Reihen. Der ganze +Schwarm ward gesprengt und, wie begreiflich in dem fremden Lande, +entweder getötet oder gefangen; unter den Gefangenen war der König +Teutobod, unter den Toten eine Menge Frauen, welche, nicht unbekannt +mit der Behandlung, die ihnen als Sklavinnen bevorstand, teils auf +ihren Karren in verzweifelter Gegenwehr sich hatten niedermachen +lassen, teils in der Gefangenschaft, nachdem sie umsonst gebeten, sie +dem Dienst der Götter und der heiligen Jungfrauen der Vesta zu widmen, +sich selber den Tod gegeben hatten (Sommer 652 102). + +———————————————————————- + +^16 Diese Darstellung beruht im wesentlichen auf dem verhältnismäßig +zuverlässigsten Livianischen Bericht in der Epitome (67, wo zu lesen +ist: reversi in Galliam in Vellocassis se Teutonis coniunxerunt) und +bei Obsequens, mit Beseitigung der geringeren Zeugnisse, die die +Teutonen schon früher, zum Teil, wie App. Celt. 13, schon in der +Schlacht von Noreia, neben den Kimbrern auftreten lassen. Damit sind +verbunden die Notizen bei Caesar (Gall. 1, 33; 2, 4 u. 29), da mit dem +Zug der Kimbrer in die römische Provinz und nach Italien nur die +Expedition von 652 (102) gemeint sein kann. + +——————————————————————— + +So hatte Gallien Ruhe vor den Deutschen; und es war Zeit, denn schon +standen deren Waffenbrüder diesseits der Alpen. Mit den Helvetiern +verbündet, waren die Kimbrer ohne Schwierigkeit von der Seine in das +obere Rheintal gelangt, hatten die Alpenkette auf dem Brennerpaß +überschritten und waren von da durch die Täler der Eisack und Etsch +hinabgestiegen in die italische Ebene. Hier sollte der Konsul Quintus +Lutatius Catulus die Pässe bewachen; allein der Gegend nicht völlig +kundig und fürchtend, umgangen zu werden hatte er sich nicht getraut, +in die Alpen selbst vorzurücken, sondern unterhalb Trient am linken +Ufer der Etsch sich aufgestellt und für alle Fälle den Rückzug auf das +rechte durch Anlegung einer Brücke sich gesichert. Allein als nun die +Kimbrer in dichten Scharen aus den Bergen hervordrangen, ergriff ein +panischer Schreck das römische Heer und Legionäre und Reiter liefen +davon, diese geradeswegs nach der Hauptstadt, jene auf die nächste +Anhöhe, die Sicherheit zu gewähren schien. Mit genauer Not brachte +Catulus wenigstens den größten Teil seines Heeres durch eine Kriegslist +wieder an den Fluß und über die Brücke zurück, ehe es den Feinden, die +den oberen Lauf der Etsch beherrschten und schon Bäume und Balken gegen +die Brücke hinabtreiben ließen, gelang, diese zu zerstören und damit +dem Heer den Rückzug abzuschneiden. Eine Legion indes hatte der +Feldherr auf dem anderen Ufer zurücklassen müssen und bereits wollte +der feige Tribun, der sie führte, kapitulieren, als der Rottenführer +Gnaeus Petreius von Atina ihn niederstieß und mitten durch die Feinde +auf das rechte Ufer der Etsch zu dem Hauptheer sich durchschlug. So war +das Heer und einigermaßen selbst die Waffenehre gerettet; allein die +Folgen der versäumten Besetzung der Pässe und des übereilten Rückzugs +waren dennoch sehr empfindlich. Catulus mußte auf das rechte Ufer des +Po sich zurückziehen und die ganze Ebene zwischen dem Po und den Alpen +in der Gewalt der Kimbrer lassen, so daß man die Verbindung mit +Aquileia nur zur See noch unterhielt. Dies geschah im Sommer 652 (102), +um dieselbe Zeit, wo es zwischen den Teutonen und den Römern bei Aquae +Sextiae zur Entscheidung kam. Hätten die Kimbrer ihren Angriff +ununterbrochen fortgesetzt, so konnte Rom in eine sehr bedrängte Lage +geraten; indes ihrer Gewohnheit, im Winter zu rasten, blieben sie auch +diesmal getreu und um so mehr, als das reiche Land, die ungewohnten +Quartiere unter Dach und Fach, die warmen Bäder, die neuen reichlichen +Speisen und Getränke sie einluden, es sich vorläufig wohl sein zu +lassen. Dadurch gewannen die Römer Zeit, ihnen mit vereinigten Kräften +in Italien zu begegnen. Es war keine Zeit, was der demokratische +General sonst wohl getan haben würde, den unterbrochenen Eroberungsplan +des Keltenlandes, wie Gaius Gracchus ihn mochte entworfen haben, jetzt +wieder aufzunehmen; von dem Schlachtfeld von Aix wurde das siegreiche +Heer an den Po geführt und nach kurzem Verweilen in der Hauptstadt, wo +er den ihm angetragenen Triumph bis nach völliger Überwindung der +Barbaren zurückwies, traf auch Marius selbst bei den vereinigten Armeen +ein. Im Frühjahr 653 (101) überschritten sie, 50000 Mann stark, unter +dem Konsul Marius und dem Prokonsul Catulus wiederum den Po und zogen +gegen die Kimbrer, welche ihrerseits flußaufwärts marschiert zu sein +scheinen, um den mächtigen Strom an seiner Quelle zu überschreiten. +Unterhalb Vercellae unweit der Mündung der Sesia in den Po ^17, ebenda, +wo Hannibal seine erste Schlacht auf italischem Boden geschlagen hatte, +trafen die beiden Heere aufeinander. Die Kimbrer wünschten die Schlacht +und sandten, ihrer Landessitte gemäß, zu den Römern, Zeit und Ort dazu +auszumachen: Marius willfahrte ihnen und nannte den nächsten Tag - es +war der 30. Juli 653 (101) - und das Raudische Feld, eine weite Ebene, +auf der die überlegene römische Reiterei einen vorteilhaften Spielraum +fand. Hier stieß man auf den Feind, erwartet und doch überraschend; +denn in dem dichten Morgennebel fand sich die kimbrische Reiterei im +Handgemenge mit der stärkeren römischen, ehe sie es vermutete, und ward +von ihr zurückgeworfen auf das Fußvolk, das eben zum Kampfe sich +ordnete. Mit geringen Opfern ward ein vollständiger Sieg erfochten und +die Kimbrer vernichtet. Glücklich mochte heißen, wer den Tod in der +Schlacht fand, wie die meisten, unter ihnen der tapfere König Boiorix; +glücklicher mindestens als die, die nachher verzweifelnd Hand an sich +selbst legten oder gar auf dem Sklavenmarkt in Rom den Herrn suchen +mußten, der dem einzelnen Nordmannen die Dreistigkeit vergalt, des +schönen Südens begehrt zu haben, ehe denn es Zeit war. Die Tigoriner, +die auf den Vorbergen der Alpen zurückgeblieben waren, um den Kimbrern +später zu folgen, verliefen sich auf die Kunde von der Niederlage in +ihre Heimat. Die Menschenlawine, die dreizehn Jahre hindurch von der +Donau bis zum Ebro, von der Seine bis zum Po die Nationen alarmiert +hatte, ruhte unter der Scholle oder fronte im Sklavenjoch; der +verlorene Posten der deutschen Wanderungen hatte seine Schuldigkeit +getan; das heimatlose Volk der Kimbrer mit seinen Genossen war nicht +mehr. + +————————————————————————- + +^17 Man hat nicht wohl getan, von der Überlieferung abweichend das +Schlachtfeld nach Verona zu verlegen; wobei übersehen ward, daß +zwischen den Gefechten an der Etsch und dem entscheidenden Treffen ein +ganzer Winter und vielfache Truppenbewegungen liegen, und daß Catulus +nach ausdrücklicher Angabe (Plut. Mar. 24) bis auf das rechte Poufer +zurückgewichen war. Auch die Angaben, daß am Po (Hier. chron. a. Abr.) +und daß da, wo Stilicho später die Geten schlug, d. h. bei Cherasco am +Tanaro, die Kimbrer geschlagen wurden, führen, obwohl beide ungenau, +doch viel eher nach Vercellae als nach Verona. + +—————————————————————————- + +Über den Leichen haderten die politischen Parteien Roms ihren +kümmerlichen Hader weiter, ohne um das große Kapitel der Weltgeschichte +sich zu bekümmern, davon hier das erste Blatt sich aufgeschlagen hatte, +ohne auch nur Raum zu geben dem reinen Gefühl, daß an diesem Tage Roms +Aristokraten wie Roms Demokraten ihre Schuldigkeit getan hatten. Die +Rivalität der beiden Feldherren, die nicht bloß politische Gegner, +sondern auch durch den so verschiedenen Erfolg der beiden vorjährigen +Feldzüge militärisch gespannt waren, kam sofort nach der Schlacht zum +widerwärtigsten Ausbruch. Catulus mochte mit Recht behaupten, daß das +Mitteltreffen, das er befehligte, den Sieg entschieden habe und daß von +seinen Leuten einunddreißig, von den Marianern nur zwei Feldzeichen +eingebracht seien - seine Soldaten führten sogar die Abgeordneten der +Stadt Parma durch die Leichenhaufen, um ihnen zu zeigen, daß Marius +tausend geschlagen habe, Catulus aber zehntausend. Nichtsdestoweniger +galt Marius als der eigentliche Besieger der Kimbrer, und mit Recht; +nicht bloß, weil er kraft seines höheren Ranges an dem entscheidenden +Tage den Oberbefehl geführt hatte und an militärischer Begabung und +Erfahrung seinem Kollegen ohne Zweifel weit überlegen war, sondern vor +allem, weil der zweite Sieg von Vercellae in der Tat nur möglich +geworden war durch den ersten von Aquae Sextiae. Allein in der +damaligen Zeit waren es weniger diese Erwägungen, die den Ruhm von den +Kimbrern und Teutonen Rom errettet zu haben ganz und voll an Marius’ +Namen knüpften, als die politischen Parteirücksichten. Catulus war ein +feiner und gescheiter Mann, ein so anmutiger Sprecher, daß der Wohllaut +seiner Worte fast wie Beredsamkeit klang, ein leidlicher +Memoirenschreiber und Gelegenheitspoet und ein vortrefflicher +Kunstkenner und Kunstrichter; aber er war nichts weniger als ein Mann +des Volkes und sein Sieg ein Sieg der Aristokratie. Die Schlachten aber +des groben Bauern, welcher von dem gemeinen Volke auf den Schild +gehoben war und das gemeine Volk zum Siege geführt hatte, diese +Schlachten waren nicht bloß Niederlagen der Kimbrer und Teutonen, +sondern auch Niederlagen der Regierung; es knüpften daran sich noch +ganz andere Hoffnungen als die, daß man wieder ungestört jenseits der +Alpen Geldgeschäfte machen oder diesseits den Acker bauen könne. +Zwanzig Jahre waren verstrichen, seit Gaius Gracchus’ blutende Leiche +den Tiber hinabgetrieben war; seit zwanzig Jahren ward das Regiment der +restaurierten Oligarchie ertragen und verwünscht; immer noch war dem +Gracchus kein Rächer, seinem angefangenen Bau kein zweiter Meister +erstanden. Es haßten und hofften viele, viele von den schlechtesten und +viele von den besten Bürgern des Staats; war der Mann, der diese Rache +und diese Wünsche zu erfüllen verstand, endlich gefunden in dem Sohn +des Tagelöhners von Arpinum? Stand man wirklich an der Schwelle der +neuen, vielgefürchteten und vielersehnten zweiten Revolution? + + + + +KAPITEL VI. +Revolutionsversuch des Marius und Reformversuch des Drusus + + +Gaius Marius ward, eines armen Tagelöhners Sohn, geboren im Jahre 599 +(155) in dem damals arpinatischen Dorfe Cereatae, das später als +Cereatae Marianae Stadtrecht erhielt und noch heute den Namen +“Mariusheimat” (Casamare) trägt. Beim Pfluge war er aufgekommen, in so +dürftigen Verhältnissen, daß sie ihm selbst zu den Gemeindeämtern von +Arpinum den Zugang zu verschließen schienen; er lernte früh, was er +später noch als Feldherr übte, Hunger und Durst, Sonnenbrand und +Winterkälte ertragen und auf der harten Erde schlafen. Sowie das Alter +es ihm erlaubte, war er in das Heer eingetreten und hatte in der +schweren Schule der Spanischen Kriege sich rasch zum Offizier +emporgedient; in Scipios Numantinischem Kriege zog er, damals +dreiundzwanzigjährig, des strengen Feldherrn Augen auf sich durch die +saubere Haltung seines Pferdes und seiner Waffen wie durch seine +Tapferkeit im Gefecht und sein ehrbares Betragen im Lager. Er war +heimgekehrt mit ehrenvollen Narben und kriegerischen Abzeichen und mit +dem lebhaften Wunsch, in der rühmlich betretenen Laufbahn sich einen +Namen zu machen; allein unter den damaligen Verhältnissen konnte zu den +politischen Ämtern, die allein zu höheren Militärstellen führten, auch +der verdienteste Mann nicht gelangen ohne Vermögen und ohne +Verbindungen. Beides ward dem jungen Offizier zuteil durch glückliche +Handelsspekulationen und durch die Verbindung mit einem Mädchen aus dem +altadligen Geschlecht der Julier; so gelangte er unter großen +Anstrengungen und nach vielfachen Mißerfolgen im Jahre 639 (115) bis +zur Prätur, in welcher er als Statthalter des jenseitigen Spaniens +seine militärische Tüchtigkeit aufs neue zu bewähren Gelegenheit fand. +Wie er sodann der Aristokratie zum Trotz im Jahre 647 (107) das +Konsulat übernahm und als Prokonsul (648, 649 106, 105) den +Afrikanischen Krieg beendigte, wie er, nach dem Unglückstag von Arausio +zur Oberleitung des Krieges gegen die Deutschen berufen, unter viermal +vom Jahre 650 (104) bis zum Jahre 653 (101) wiederholter, in den +Annalen der Republik beispielloser Erneuerung des Konsulats, die +Kimbrer jenseits, die Teutonen diesseits der Alpen überwand und +vernichtete, ist bereits erzählt worden. In seinem Kriegsamt hatte er +sich gezeigt als einen braven und rechtschaffenen Mann, der +unparteiisch Recht sprach, über die Beute mit seltener Ehrlichkeit und +Uneigennützigkeit verfügte und durchaus unbestechlich war; als einen +geschickten Organisator, der die einigermaßen eingerostete Maschine des +römischen Heerwesens wieder in brauchbaren Stand gesetzt hatte; als +einen fähigen Feldherrn, der den Soldaten in Zucht und doch bei guter +Laune erhielt und zugleich im kameradschaftlichen Verkehr seine Liebe +gewann, dem Feinde aber kühn ins Auge sah und zur rechten Zeit sich mit +ihm schlug. Eine militärische Kapazität im eminenten Sinn war er, +soweit wir urteilen können, nicht; allein die sehr achtungswerten +Eigenschaften, die er besaß, genügten unter den damals bestehenden +Verhältnissen vollkommen, um ihm den Ruf einer solchen zu verschaffen, +und auf diesen gestützt war er in einer beispiellos ehrenvollen Weise +eingetreten unter die Konsulare und die Triumphatoren. Allein er paßte +darum nicht besser in den glänzenden Kreis. Seine Stimme blieb rauh und +laut, sein Blick wild, als sähe er noch Libyer oder Kimbrer vor sich +und nicht wohlerzogene und parfümierte Kollegen. Daß er abergläubisch +war wie ein echter Lanzknecht, daß er zur Bewerbung um sein erstes +Konsulat sich nicht durch den Drang seiner Talente, sondern zunächst +durch die Aussagen eines etruskischen Eingeweidebeschauers bestimmen +ließ, und bei dem Feldzug gegen die Teutonen eine syrische Prophetin +Martha mit ihren Orakeln dem Kriegsrat aushalf, war nicht eigentlich +unaristokratisch; in solchen Dingen begegneten sich damals wie zu allen +Zeiten die höchsten und die niedrigsten Schichten der Gesellschaft. +Allein unverzeihlich war der Mangel an politischer Bildung; es war zwar +löblich, daß er die Barbaren zu schlagen verstand, aber was sollte man +denken von einem der verfassungsmäßigen Etikette so unkundigen Konsul, +daß er im Triumphalkostüm im Senat erschien! Auch sonst hing die Rotüre +ihm an. Er war nicht bloß - nach aristokratischer Terminologie - ein +armer Mann, sondern, was schlimmer war, genügsam und ein abgesagter +Feind aller Bestechung und Durchstecherei. Nach Soldatenart war er +nicht wählerisch, aber becherte gern, besonders in späteren Jahren; +Feste zu geben verstand er nicht und hielt einen schlechten Koch. +Ebenso übel war es, daß der Konsular nur Lateinisch verstand und die +griechische Konversation sich verbitten mußte; daß er bei den +griechischen Schauspielen sich langweilte, mochte hingehen - er war +vermutlich nicht der einzige -, aber daß er sich zu seiner Langenweile +bekannte, war naiv. So blieb er zeit seines Lebens ein unter die +Aristokraten verschlagener Bauersmann und geplagt von den empfindlichen +Stichelworten und dem empfindlicheren Mitleiden seiner Kollegen, das +wie diese selber zu verachten er denn doch nicht über sich vermochte. +Nicht viel weniger wie außerhalb der Gesellschaft stand Marius +außerhalb der Parteien. Die Maßregeln, die er in seinem Volkstribunat +(635 119) durchsetzte, eine bessere Kontrolle bei der Abgabe der +Stimmtäfelchen zur Abstellung der argen dabei stattfindenden +Betrügereien und die Verhinderung ausschweifender Anträge auf Spenden +an das Volk, tragen nicht den Stempel einer Partei, am wenigsten den +der demokratischen, sondern zeigen nur, daß ihm Unrechtfertigkeit und +Unvernunft verhaßt waren; und wie hätte auch ein Mann wie dieser, Bauer +von Geburt und Soldat aus Neigung, von Haus aus revolutionär sein +können? Die Anfeindungen der Aristokratie hatten ihn zwar später in das +Lager der Gegner der Regierung getrieben, und rasch sah er sich hier +auf den Schild gehoben zunächst als Feldherr der Opposition und +demnächst vielleicht bestimmt zu noch höheren Dingen. Allein es war +dies weit mehr die Folge der zwingenden Gewalt der Verhältnisse und des +allgemeinen Bedürfnisses der Opposition nach einem Haupte als sein +eigenes Werk; hatte er doch seit seinem Abgang nach Afrika 647/48 +(107/06) kaum vorübergehend auf kurze Zeit in der Hauptstadt verweilt. +Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 653 (101) kam er, Sieger wie über +die Kimbrer so über die Teutonen, nach Rom zurück, um den verschobenen +Triumph nun zwiefach zu feiern, entschieden der erste Mann in Rom und +doch zugleich politischer Anfänger. Es war unwidersprechlich +ausgemacht, nicht bloß daß Marius Rom gerettet habe, sondern daß er der +einzige Mann sei, der Rom habe retten können; sein Name war auf allen +Lippen; die Vornehmen erkannten seine Leistungen an; bei dem Volk war +er populär wie keiner vor oder nach ihm, populär durch seine Tugenden +wie durch seine Fehler, durch seine unaristokratische Uneigennützigkeit +nicht minder wie durch seine bäurische Derbheit; er hieß der Menge der +dritte Romulus und der zweite Camillus; gleich den Göttern wurden ihm +Trankopfer gespendet. Es war kein Wunder, wenn dem Bauernsohn der Kopf +mitunter schwindelte von all der Herrlichkeit, wenn er seinen Zug von +Afrika ins Kettenland den Siegesfahrten des Dionysos von Erdteil zu +Erdteil verglich und sich für seinen Gebrauch einen Becher - keinen von +den kleinsten - nach dem Muster des Bakchischen fertigen ließ. Es war +ebensoviel Hoffnung wie Dankbarkeit in dieser taumelnden Begeisterung +des Volkes, die wohl einen Mann von kälterem Blut und gereifterer +politischer Erfahrung zu irren vermocht hätte. Marius’ Werk schien +seinen Bewunderern keineswegs vollendet. Schwerer als die Barbaren +lastete auf dem Lande die elende Regierung; ihm, dem ersten Manne Roms, +dem Liebling des Volkes, dem Haupt der Opposition kam es zu, Rom zum +zweitenmal zu retten. Zwar war ihm, dem Bauer und Soldaten, das +hauptstädtische politische Treiben fremd und unbequem; er sprach so +schlecht, wie er gut kommandierte, und bewies den Lanzen und Schwertern +der Feinde gegenüber eine weit festere Haltung als gegen die +klatschende oder zischende Menge; aber auf seine Neigung kam wenig an. +Hoffnungen binden. Seine militärische und politische Stellung war von +der Art, daß, wenn er mit seiner ruhmvollen Vergangenheit nicht +brechen, die Erwartungen seiner Partei, ja der Nation nicht täuschen, +seiner eigenen Gewissenspflicht nicht untreu werden wollte, er der +Mißverwaltung der öffentlichen Angelegenheiten steuern und dem +Restaurationsregiment ein Ende machen mußte, und wenn er nur die +inneren Eigenschaften eines Volkshauptes besaß, so konnte er dessen, +was zum Volksführer ihm abging, allerdings entraten. + +Eine furchtbare Waffe hielt er in der Hand in der neu organisierten +Armee. Bis auf seine Zeit hatte man von dem Grundgedanken der +Servianischen Verfassung, die Aushebung lediglich auf die vermögenden +Bürger zu beschränken und die Unterschiede der Waffengattungen allein +nach den Vermögensklassen zu ordnen, wohl schon manches nachlassen +müssen: es war das zum Eintritt in das Bürgerheer verpflichtende +Minimalvermögen von 11000 Assen (300 Talern) herabgesetzt worden auf +4000 (115 Taler; 2, 345); es waren die älteren sechs in den +Waffengattungen unterschiedenen Vermögensklassen beschränkt worden auf +drei, indem man zwar wie nach der Servianischen Ordnung die Reiter aus +den vermögendsten, die Leichtbewaffneten aus den ärmsten +Dienstpflichtigen auslas, aber den Mittelstand, die eigentliche +Linieninfanterie unter sich nicht mehr nach dem Vermögen, sondern nach +dem Dienstalter in die drei Treffen der Hastaten, Principes und +Triarier ordnet. Man hatte ferner schon längst die italischen +Bundesgenossen in sehr ausgedehntem Maße zum Kriegsdienst +mitherangezogen, indes auch hier, ganz wie bei der römischen +Bürgerschaft, die Militärpflicht vorzugsweise auf die besitzenden +Klassen gelegt. Nichtsdestoweniger ruhte das römische Militärwesen bis +auf Marius im wesentlichen auf jener uralten Bürgerwehrordnung. Allein +für die veränderten Verhältnisse paßte dieselbe nicht mehr. Die +besseren Klassen der Gesellschaft zogen teils vom Heerdienst mehr und +mehr sich zurück, teils schwand der römische und italische Mittelstand +überhaupt zusammen; dagegen waren einesteils die beträchtlichen +Streitmittel der außeritalischen Bundesgenossen und Untertanen +verfügbar geworden, andererseits bot das italische Proletariat, richtig +verwandt, ein militärisch wenigstens sehr brauchbares Material. Die +Bürgerreiterei, die aus der Klasse der Wohlhabenden gebildet werden +sollte, war im Felddienst schon vor Marius tatsächlich eingegangen. Als +wirklicher Heerkörper wird sie zuletzt genannt in dem spanischen +Feldzug von 614 (140), wo sie den Feldherrn durch ihren höhnischen +Hochmut und ihre Unbotmäßigkeit zur Verzweiflung bringt und zwischen +beiden ein von den Reitern wie vom Feldherrn mit gleicher +Gewissenlosigkeit geführter Krieg ausbricht. Im Jugurthinischen Krieg +erscheint sie schon nur noch als eine Art Nobelgarde für den Feldherrn +und fremde Prinzen; von da an verschwindet sie ganz. Ebenso erwies sich +die Ergänzung der Legionen mit gehörig qualifizierten Pflichtigen schon +im gewöhnlichen Lauf der Dinge schwierig, so daß Anstrengungen, wie sie +nach der Schlacht von Arausio nötig waren, unter Einhaltung der +bestehenden Vorschriften über die Dienstpflicht wohl in der Tat +materiell unausführbar gewesen sein würden. Andererseits wurden schon +vor Marius, namentlich in der Kavallerie und der leichten Infanterie, +die außeritalischen Untertanen, die schweren Berittenen Thrakiens, die +leichte afrikanische Reiterei, das vortreffliche leichte Fußvolk der +bebenden Ligurer, die Schleuderer von den Balearen, in immer größerer +Anzahl auch außerhalb ihrer Provinzen bei den römischen Heeren +mitverwendet; und zugleich drängten sich, während an qualifizierten +Bürgerrekruten Mangel war, die nichtqualifizierten ärmeren Bürger +ungerufen zum Eintritt in die Armee, wie denn bei der Masse des +arbeitslosen oder arbeitsscheuen Bürgergesindels und bei den +ansehnlichen Vorteilen, die der römische Kriegsdienst abwarf, die +Freiwilligenwerbung nicht schwierig sein konnte. Es war demnach nichts +als eine notwendige Konsequenz der politischen und sozialen Umwandlung +des Staats, daß man im Militärwesen überging von dem System des +Bürgeraufgebots zu dem Zuzug- und Werbesystem, die Reiterei und die +leichten Truppen wesentlich aus den Kontingenten der Untertanen +bildete, wie denn für den kimbrischen Feldzug schon bis nach Bithynien +Zuzug angesagt ward, für die Linieninfanterie aber zwar die bisherige +Dienstpflichtordnung nicht aufhob, allein daneben jedem freigeborenen +Bürger den freiwilligen Eintritt in das Heer gestattete, was zuerst +Marius 647 (107) tat. + +Hierzu kam die Nivellierung innerhalb der Linieninfanterie, die +gleichfalls auf Marius zurückgeht. Die römische Weise aristokratischer +Gliederung hatte bis dahin auch innerhalb der Legion geherrscht. Die +vier Treffen der Leichten, der Hastaten, der Principes, der Triarier +oder, wie man auch sagen kann, der Vorhut, der ersten, zweiten und +dritten Linie hatten bis dahin jedes seine besondere Qualifikation nach +Vermögens- oder Dienstalter und großenteils auch verschiedene +Bewaffnung, jedes seinen ein für allemal bestimmten Platz in der +Schlachtordnung, jedes seinen bestimmten militärischen Rang und sein +eigenes Feldzeichen gehabt. Alle diese Unterschiede fielen jetzt über +den Haufen. Wer überhaupt als Legionär zugelassen ward, bedurfte keiner +weiteren Qualifikation, um in jeder Abteilung zu dienen; über die +Einordnung entschied einzig das Ermessen der Offiziere. Alle +Unterschiede der Bewaffnung fielen weg und somit wurden auch alle +Rekruten gleichmäßig geschult. Ohne Zweifel in Verbindung damit stehen +die vielfachen Verbesserungen, die in der Bewaffnung, dem Tragen des +Gepäcks und ähnlichen Dingen von Marius herrühren und ein rühmliches +Zeugnis ablegen von der Einsicht desselben in das praktische Detail des +Kriegshandwerks und seiner Fürsorge für die Soldaten; vor allem aber +das neue, von dem Kameraden des Marius im Afrikanischen Krieg, Publius +Rutilius Rufus (Konsul 649 105), entworfene Exerzierreglement; es ist +bezeichnend, daß dasselbe die militärische Ausbildung des einzelnen +Mannes beträchtlich steigerte und wesentlich sich anlehnte an die in +den damaligen Fechterschulen übliche Ausbildung der künftigen +Gladiatoren. Die Gliederung der Legion ward eine gänzlich andere. An +die Stelle der 30 Fähnlein (manipuli) schwerer Infanterie, die - jedes +zu zwei Zügen (centuriae) von je 60 Mann in den beiden ersten und je 30 +Mann im dritten Treffen - bisher die taktische Einheit gebildet hatten, +traten 10 Haufen (cohortes), jeder mit eigenem Feldzeichen und jeder zu +sechs, oft auch nur zu fünf Zügen von je 100 Mann; so daß, obgleich +gleichzeitig durch Einziehung der leichten Infanterie der Legion 1200 +Mann erspart wurden, dennoch die Gesamtzahl der Legion von 4200 auf +5000 bis 6000 Mann stieg. Die Sitte, in drei Treffen zu fechten, blieb +bestehen, allein wenn bisher jedes Treffen einen eigenen Truppenkörper +gebildet hatte, so war es in Zukunft dem Feldherrn überlassen, die +Kohorten, über die er disponierte, in die drei Linien nach Ermessen zu +verteilen. Den militärischen Rang bestimmte einzig die Ordnungsnummer +der Soldaten und der Abteilungen. Die vier Feldzeichen der einzelnen +Legionsteile, der Wolf, der mannköpfige Stier, das Roß, der Eber, die +bisher wahrscheinlich der Reiterei und den drei Treffen der schweren +Infanterie waren vorgetragen worden, verschwanden; dafür traten die +Fähnlein der neuen Kohorten ein und das neue Zeichen, das Marius der +gesamten Legion verlieh, der silberne Adler. Wenn also innerhalb der +Legion jede Spur der bisherigen bürgerlichen und aristokratischen +Gliederung verschwand und unter den Legionären fortan nur noch rein +soldatische Unterschiede vorkamen, so hatte sich dagegen schon einige +Jahrzehnte früher aus zufälligen Anlässen eine bevorzugte +Heeresabteilung neben den Legionen entwickelt: die Leibwache des +Feldherrn. Bis dahin hatten ausgesuchte Mannschaften aus den +bundesgenössischen Kontingenten die persönliche Bedeckung des Feldherrn +gebildet; römische Legionäre oder gar freiwillig sich erbietende +Mannschaften zum persönlichen Dienst bei dem selben zu verwenden, +widerstritt der strengen Gebundenheit des gewaltigen Gemeinwesens. Aber +als der Numantinische Krieg ein beispiellos demoralisiertes Heer +großgezogen hatte und Scipio Aemilianus, der berufen ward, dem wüsten +Unwesen zu steuern, es nicht bei der Regierung hatte durchsetzen +können, völlig neue Truppen unter die Waffen zu rufen, ward es ihm +wenigstens gewährt, außer einer Anzahl von Mannschaften, die ihm die +abhängigen Könige und Freistädte des Auslandes zur Verfügung stellten, +aus freiwilligen römischen Bürgern eine persönliche +Bedeckungsmannschaft von 500 Mann zu bilden. Diese Kohorte, teils aus +den besseren Ständen, teils aus der niederen persönlichen Klientel des +Feldherrn hervorgegangen und daher bald die der Freunde, bald die des +Hauptquartiers (praetoriani) genannt, hatte den Dienst in diesem +(praetorium), wofür sie vom Lager- und Schanzdienst frei war, und genoß +höheren Sold und größeres Ansehen. + +Diese vollständige Revolution der römischen Heerverfassung scheint +allerdings wesentlich aus rein militärischen Motiven hervorgegangen und +überhaupt weniger das Werk eines einzelnen, am wenigsten eines +berechnenden Ehrgeizigen, als die vom Drang der Umstände gebotene +Umgestaltung unhaltbar gewordener Einrichtungen gewesen zu sein. Es ist +wahrscheinlich, daß die Einführung des inländischen Werbesystems durch +Marius ebenso den Staat militärisch vom Untergang gerettet hat, wie +manches Jahrhundert später Arbogast und Stilicho durch Einführung des +ausländischen ihm noch auf eine Weile die Existenz fristeten. +Nichtsdestoweniger lag in ihr, wenn auch noch unentwickelt, zugleich +eine vollständige politische Revolution. Die republikanische Verfassung +ruhte zumeist darauf, daß der Bürger zugleich Soldat, der Soldat vor +allem Bürger war; es war mit ihr zu Ende, sowie ein Soldatenstand sich +bildete. Hierzu mußte schon das neue Exerzierreglement führen mit +seiner dem Kunstfechter abgeborgten Routine; der Kriegsdienst ward +allmählich Kriegshandwerk. Weit rascher noch wirkte die wenn auch +beschränkte Zuziehung des Proletariats zum Militärdienst, besonders in +Verbindung mit den uralten Satzungen, die dem Feldherrn ein nur mit +sehr soliden republikanischen Institutionen verträgliches arbiträres +Belohnungsrecht seiner Soldaten einräumten und dem tüchtigen und +glücklichen Soldaten eine Art Anrecht gaben, vom Feldherrn einen Teil +der beweglichen Beute, vom Staat ein Stück des gewonnenen Ackers zu +heischen. Wenn der ausgehobene Bürger und Bauer in dem Kriegsdienst +nichts sah als eine für das gemeine Beste zu übernehmende Last und im +Kriegsgewinn nichts als einen geringen Entgelt für den ihm aus dem +Dienst erwachsenden weit ansehnlicheren Verlust, so war dagegen der +geworbene Proletarier nicht bloß für den Augenblick allein angewiesen +auf seinen Sold, sondern auch für die Zukunft mußte er, den nach der +Entlassung kein Invaliden-, ja nicht einmal ein Armenhaus aufnahm, +wünschen, zunächst bei der Fahne zu bleiben und diese nicht anders zu +verlassen als mit Begründung seiner bürgerlichen Existenz. Seine +einzige Heimat war das Lager, seine einzige Wissenschaft der Krieg, +seine einzige Hoffnung der Feldherr - was hierin lag, leuchtet ein. Als +Marius nach dem Treffen auf dem Raudischen Feld zwei Kohorten +italischer Bundesgenossen ihrer tapferen Haltung wegen in Masse das +Bürgerrecht auf dem Schlachtfeld selbst verfassungswidrig verlieh, +rechtfertigte er später sich damit, daß er im Lärm der Schlacht die +Stimme der Gesetze nicht habe unterscheiden können. Wenn einmal in +wichtigeren Fragen das Interesse des Heers und des Feldherrn in +verfassungswidrigem Begehren sich begegneten, wer mochte dafür stehen, +daß alsdann nicht noch andere Gesetze über dem Schwertergeklirr nicht +würden vernommen werden? Man hatte das stehende Heer, den +Soldatenstand, die Garde; wie in der bürgerlichen Verfassung, so +standen auch in der militärischen bereits alle Pfeiler der künftigen +Monarchie: es fehlte einzig an dem Monarchen. Wie die zwölf Adler um +den Palatinischen Hügel kreisten, da riefen sie dem Königtum; der neue +Adler, den Gaius Marius den Legionen verlieh, verkündete das Reich der +Kaiser. + +Es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, daß Marius einging auf die +glänzenden Aussichten, die seine militärische und politische Stellung +ihm eröffnete. Es war eine trübe, schwere Zeit. Man hatte Frieden, aber +man ward des Friedens nicht froh; es war nicht mehr wie einst nach dem +ersten gewaltigen Anprall der Nordländer auf Rom, wo nach überstandener +Krise im frischen Gefühl der Genesung alle Kräfte sich neu geregt, wo +sie in üppiger Entfaltung das Verlorene rasch und reichlich ersetzt +hatten. Alle Welt fühlte, daß, mochten auch tüchtige Feldherren noch +aber und abermals das unmittelbare Verderben abwehren, das Gemeinwesen +darum nur um so sicherer zu Grunde gehe unter dem Regiment der +restaurierten Oligarchie; aber alle Welt fühlte auch, daß die Zeit +nicht mehr war, wo in solchen Fällen die Bürgerschaft sich selber half, +und daß nichts besser ward, solange des Gaius Gracchus Platz leer +blieb. Wie tief die Menge die nach dem Verschwinden jener beiden hohen +Jünglinge, welche der Revolution das Tor geöffnet hatten, +zurückgebliebene Lücke empfand, freilich auch wie kindisch sie nach +jedem Schatten des Ersatzes griff, beweist der falsche Sohn des +Tiberius Gracchus, welcher, obwohl die eigene Schwester der beiden +Gracchen ihn auf offenem Markte des Betruges zieh, dennoch einzig +seines usurpierten Namens wegen vom Volke für 655 (99) zum Tribun +gewählt ward. In demselben Sinne jubelte die Menge dem Gaius Marius +entgegen; wie sollte sie nicht? Wenn irgendeiner, schien er der rechte +Mann; war er doch der erste Feldherr und der populärste Name seiner +Zeit, anerkannt brav und rechtschaffen und selbst durch seine von dem +Parteitreiben entfernte Stellung zum Regenerator des Staats, empfohlen +- wie hätte nicht das Volk, wie hätte er selbst nicht sich dafür halten +sollen! Die öffentliche Meinung war so entschieden wie möglich +oppositionell; es ist bezeichnend dafür, daß die Besetzung der in den +höchsten geistlichen Kollegien erledigten Stellen durch die +Bürgerschaft anstatt durch die Kollegien selbst, die die Regierung noch +im Jahre 609 (145) durch Anregung der religiösen Bedenken in den +Komitien zu Fall gebracht hatte, im Jahre 650 (104) auf den Antrag des +Gnaeus Domitius durchging, ohne daß der Senat es hätte wagen können, +sich auch nur ernstlich zu widersetzen. Durchaus schien es nur an einem +Haupte zu fehlen, das der Opposition einen festen Mittelpunkt und ein +praktisches Ziel gab; und dies war jetzt in Marius gefunden. + +Zur Durchführung seiner Aufgabe bot sich ihm ein doppelter Weg: Marius +konnte die Oligarchie zu stürzen versuchen als Imperator an der Spitze +der Armee oder auf dem für konstitutionelle Änderungen verfassungsmäßig +bezeichneten Weg; dorthin wies seine eigene Vergangenheit, hierin der +Vorgang des Gracchus. Es ist sehr begreiflich, daß er den ersteren Weg +nicht betrat, vielleicht nicht einmal die Möglichkeit dachte, ihn zu +betreten. Der Senat war oder schien so macht- und ratlos, so verhaßt +und verachtet, daß Marius gegen ihn kaum einer anderen Stütze als +seiner ungeheuren Popularität zu bedürfen, nötigenfalls aber trotz der +Auflösung des Heeres sie in den entlassenen und ihrer Belohnungen +harrenden Soldaten zu finden meinte. Es ist wahrscheinlich, daß Marius, +im Hinblick auf Gracchus’ leichten und scheinbar fast vollständigen +Sieg und auf seine eigenen, denen des Gracchus weit überlegenen +Hilfsmittel, den Umsturz einer vierhundertjährigen, mit dem nach +komplizierter Hierarchie geordneten Staatskörper und der +mannigfaltigsten Gewohnheiten und Interessen innig verwachsenen +Verfassung für weit leichter hielt, als er war. Aber selbst wer tiefer +in die Schwierigkeiten des Unternehmens hineinsah, als es Marius +wahrscheinlich tat, mochte erwägen, daß das Heer, obwohl im Übergang +begriffen von der Bürgerwehr zur Söldnerschar, doch während dieses +Übergangszustandes noch keineswegs zum blinden Werkzeug eines +Staatsstreiches sich schickte und daß ein Versuch, die widerstrebenden +Elemente durch militärische Mittel zu beseitigen, die +Widerstandsfähigkeit der Gegner wahrscheinlich gesteigert haben würde. +Die organisierte Waffengewalt in den Kampf zu verwickeln, mußte auf den +ersten Blick überflüssig, auf den zweiten bedenklich erscheinen: man +war eben am Anfang der Krise und die Gegensätze von ihrem letzten, +kürzesten und einfachsten Ausdruck noch weit entfernt. + +Marius entließ also der bestehenden Ordnung gemäß nach dem Triumph sein +Heer und schlug den von Gaius Gracchus vorgezeichneten Weg ein, +vermittels der Übernahme der verfassungsmäßigen Staatsämter die +Oberhauptschaft im Staate an sich zu bringen. Er fand sich damit +angewiesen auf die sogenannte Volkspartei und in deren damaligen +Führern um so mehr seine Bundesgenossen, als der siegreiche General die +zur Gassenherrschaft erforderlichen Gaben und Erfahrungen durchaus +nicht besaß. So gelangte die demokratische Partei nach langer +Nichtigkeit plötzlich wieder zu politischer Bedeutung. Sie hatte in dem +langen Interim von Gaius Gracchus bis auf Marius sich wesentlich +verschlechtert. Wohl war das Mißvergnügen über das senatorische +Regiment jetzt nicht geringer als damals; aber manche der Hoffnungen, +die den Gracchen ihre treuesten Anhänger zugeführt hatten, war +inzwischen als Illusion erkannt worden und die Ahnung inzwischen +manchem aufgegangen, daß diese Gracchische Agitation auf ein Ziel +hinausliefe, wohin ein sehr großer Teil der Mißvergnügten keineswegs zu +folgen willig war; wie denn überhaupt in dem zwanzigjährigen Hetzen und +Treiben gar viel verschliffen und vergriffen war von der frischen +Begeisterung, dem felsenfesten Glauben, der sittlichen Reinheit des +Strebens, die die Anfangsstadien der Revolutionen bezeichnen. Aber wenn +die demokratische Partei nicht mehr war, was sie unter Gaius Gracchus +gewesen, so standen die Führer der Zwischenzeit jetzt ebenso tief unter +ihrer Partei, als Gaius Gracchus hoch über derselben gestanden hatte. +Es lag dies in der Natur der Sache. Bis wieder ein Mann auftraf, der es +wagte, wie Gaius Gracchus nach der Staatsoberhauptschaft zu greifen, +konnten die Führer nur Lückenbüßer sein: entweder politische Anfänger, +die ihre jugendliche Oppositionslust austobten und sodann, als +sprudelnde Feuerköpfe und beliebte Sprecher legitimiert, mit mehr oder +minder Geschicklichkeit ihren Rückzug in das Lager der Regierungspartei +bewerkstelligten; oder auch Leute, die an Vermögen und Einfluß nichts +zu verlieren, an Ehre gewöhnlich nicht einmal etwas zu gewinnen hatten, +und die aus persönlicher Erbitterung oder auch aus bloßer Lust am +Lärmschlagen sich ein Geschäft daraus machten, die Regierung zu hindern +und zu ärgern. Der ersten Gattung gehörten zum Beispiel an Gaius +Memmius und der bekannte Redner Lucius Crassus, die ihre in den Reihen +der Opposition gewonnenen oratorischen Lorbeern demnächst als eifrige +Regierungsmänner verwerteten. Die namhaftesten Führer der Popularpartei +aber um diese Zeit waren Männer der zweiten Gattung: sowohl Gaius +Servilius Glaucia, von Cicero der römische Hyperbolos genannt, ein +gemeiner Gesell niedrigster Herkunft und unverschämtester +Straßenberedsamkeit, aber wirksam und selbst gefürchtet wegen seiner +drastischen Witze, als auch sein besserer und fähigerer Genosse Lucius +Appuleius Saturninus, der selbst nach den Berichten seiner Feinde ein +feuriger und eindringlicher Sprecher war und wenigstens nicht von +gemein eigennützigen Motiven geleitet ward. Ihm war als Quästor die in +üblicher Weise ihm zugefallene Getreideverwaltung durch Beschluß des +Senats entzogen worden, weniger wohl wegen fehlerhafter Amtsführung als +um das eben damals populäre Amt lieber einem der Häupter der +Regierungspartei, dem Marcus Scaurus, als einem unbekannten, keiner der +herrschenden Familien angehörigen jungen Manne zuzuwenden. Diese +Kränkung hatte den aufstrebenden und lebhaften Mann in die Opposition +gedrängt; und er vergalt als Volkstribun 651 (103) das Empfangene mit +Zinsen. Ein ärgerlicher Handel hatte damals den anderen gedrängt. Er +hatte die von den Gesandten des Königs Mithradates in Rom bewirkten +Bestechungen auf offenem Markt zur Sprache gebracht - diese den Senat +aufs höchste kompromittierenden Enthüllungen hätten fast dem kühnen +Tribun das Leben gekostet. Er hatte gegen den Besieger Numidiens +Quintus Metellus, als derselbe sich für 652 (102) um die Zensur bewarb, +einen Auflauf erregt und denselben auf dem Kapitol belagert gehalten, +bis die Ritter ihn nicht ohne Blutvergießen befreiten; des Zensors +Metellus Vergeltung, die schimpfliche Ausstoßung des Saturninus wie des +Glaucia aus dem Senat bei Gelegenheit der Revision des +Senatorenverzeichnisses, war nur gescheitert an der Schlaffheit des dem +Metellus zugegebenen Kollegen. Er hauptsächlich hatte jenes +Ausnahmegericht gegen Caepio und dessen Genossen trotz des heftigsten +Widerstrebens der Regierungspartei, er gegen dieselben die lebhaft +bestrittene Wiederwahl des Marius zum Konsul für 652 (102) +durchgesetzt. Saturninus war entschieden der energischste Feind des +Senats und der tätigste und beredteste Führer der Volkspartei seit +Gaius Gracchus, freilich auch gewalttätig und rücksichtslos wie keiner +vor ihm, immer bereit, in die Straße hinabzusteigen und statt mit +Worten den Gegner mit Knütteln zu widerlegen. + +Solcher Art waren die beiden Führer der sogenannten Popularpartei, die +mit dem siegreichen Feldherrn jetzt gemeinschaftliche Sache machten. Es +war natürlich; die Interessen und die Zwecke gingen zusammen, und auch +schon bei Marius’ früheren Bewerbungen hatte wenigstens Saturninus aufs +entschiedenste und erfolgreichste für ihn Partei genommen. Sie wurden +sich dahin einig, daß für 654 (100) Marius um das sechste Konsulat, +Saturninus um das zweite Tribunat, Glaucia um die Prätur sich bewerben +sollten, um im Besitz dieser Ämter die beabsichtigte Staatsumwälzung +durchzuführen. Der Senat ließ die Ernennung des minder gefährlichen +Glaucia geschehen, aber tat, was er konnte, um Marius’ und Saturninus’ +Wahl zu hindern oder doch wenigstens jenem in Quintus Metellus einen +entschlossenen Gegner als Kollegen im Konsulat an die Seite zu setzen. +Von beiden Parteien wurden alle Hebel, erlaubte und unerlaubte, in +Bewegung gesetzt; allein es gelang dem Senat nicht, die gefährliche +Verschwörung im Keim zu ersticken. Marius selbst verschmähte es nicht, +Stimmenbettel, es heißt sogar auch Stimmenkauf zu betreiben; ja als in +den tribunizischen Wahlen neun Männer von der Liste der +Regierungspartei proklamiert waren und auch die zehnte Stelle bereits +einem achtbaren Mann derselben Farbe, Quintus Nunnius, gesichert +schien, ward dieser von einem wüsten Haufen, der vorzugsweise aus +entlassenen Soldaten des Marius bestanden haben soll, angefallen und +erschlagen. So gelangten die Verschworenen, freilich auf die +gewaltsamste Weise, zum Ziel. Marius wurde gewählt als Konsul, Glaucia +als Prätor, Saturninus als Volkstribun für 654 (109): nicht Quintus +Metellus, sondern ein unbedeutender Mann, Lucius Valerius Flaccus, +erhielt die zweite Konsulstelle; die verbündeten Männer konnten daran +gehen, ihre weiter beabsichtigten Pläne ins Werk zu setzen und das 633 +(121) unterbrochene Werk zu vollenden. + +Erinnern wir uns, welche Ziele Gaius Gracchus und mit welchen Mitteln +er sie verfolgt hatte. Es galt, die Oligarchie nach innen wie nach +außen zu brechen, also teils die vom Senat völlig abhängig gewordene +Beamtengewalt in ihre ursprünglichen souveränen Rechte +wiedereinzusetzen und die Ratsversammlung aus der regierenden wieder in +eine beratende Behörde umzuwandeln, teils der aristokratischen +Gliederung des Staats in die drei Klassen der herrschenden Bürger-, der +italischen Bundesgenossen- und der Untertanenschaft durch allmähliche +Ausgleichung dieser mit einem nichtoligarchischen Regiment +unverträglichen Gegensätze ein Ende zu machen. Diese Gedanken nahmen +die drei verbündeten Männer wieder auf in den Kolonialgesetzen, die +Saturninus als Volkstribun teils schon früher (651 103) eingebracht +hatte, teils jetzt (654 100) einbrachte ^1. Schon in jenem Jahre war +zunächst zu Gunsten der Marianischen Soldaten, der Bürger nicht bloß, +sondern, wie es scheint, auch der italischen Bundesgenossen, die +unterbrochene Verteilung des karthagischen Gebiets wieder aufgenommen +und jedem dieser Veteranen ein Landlos von 100 Morgen oder etwa dem +fünffachen Maß eines gewöhnlichen italischen Bauernhofs in der Provinz +Africa zugesichert worden. Jetzt ward für die römisch-italische +Emigration nicht bloß das bereits zur Verfügung stehende Provinzialland +in weitester Ausdehnung in Anspruch genommen, sondern auch mittels der +rechtlichen Fiktion, daß den Römern durch die Besiegung der Kimbrer das +gesamte von diesen besetzte Gebiet von Rechts wegen erworben sei, alles +Land der noch unabhängigen Keltenstämme jenseits der Alpen. Zur Leitung +der Landanweisungen wie der zu diesem Behuf etwa nötig erscheinenden +weiteren Maßregeln ward Gaius Marius berufen; die unterschlagenen, aber +von den schuldigen Aristokraten erstatteten oder noch zu erstattenden +Tempelschätze von Tolosa wurden zur Ausstattung der neuen Landempfänger +bestimmt. Dieses Gesetz nahm also nicht bloß die Eroberungspläne +jenseits der Alpen und die transalpinischen und überseeischen +Kolonisationsentwürfe, wie Gaius Gracchus und Flaccus sie entworfen +hatten, im ausgedehntesten Umfang wieder auf, sondern indem es die +Italiker neben den Römern zur Emigration zuließ und doch ohne Zweifel +die sämtlichen neuen Gemeinden als Bürgerkolonien einzurichten +vorschrieb, machte es einen Anfang, die so schwer durchzubringenden und +doch unmöglich auf die Länge abzuweisenden Ansprüche der Italiker auf +Gleichstellung mit den Römern zu befriedigen. Zunächst aber wurde, wenn +das Gesetz durchging und Marius zur selbständigen Ausführung dieser +ungeheuren Eroberungs- und Aufteilungspläne berufen ward, tatsächlich +derselbe bis zur Realisierung jener Pläne oder vielmehr, bei der +Unbestimmtheit und Schrankenlosigkeit derselben, auf zeit seines Lebens +Monarch von Rom; wozu denn vermutlich, wie Gracchus das Tribunat, so +Marius das Konsulat alljährlich sich erneuern zu lassen gedachte. +überhaupt ist bei der sonstigen Übereinstimmung der für den jüngeren +Gracchus und für Marius entworfenen politischen Stellungen in allen +wesentlichen Stücken oder zwischen dem landanweisenden Tribun und dem +landanweisenden Konsul darin ein sehr wesentlicher Unterschied, daß +jener eine rein bürgerliche, dieser daneben eine militärische Stellung +einnehmen sollte: ein Unterschied, der zwar mit, aber doch keineswegs +allein aus den persönlichen Verhältnissen hervorging, unter denen die +beiden Männer an die Spitze des Staates getreten waren. + +———————————————————————- + +^1 Es ist nicht möglich, genau zu unterscheiden, was dem ersten und was +dem zweiten Tribunat des Saturninus angehört; um so weniger, als +derselbe in beiden offenbar dieselben Gracchischen Tendenzen verfolgte. +Das afrikanische Ackergesetz setzt die Schrift ‘De viris illustribus’ +(73, 1) mit Bestimmtheit in 651 (103): und es pafft dies auch zu der +erst kurz vorher erfolgten Beendigung des Jugurthinischen Krieges. Das +zweite Ackergesetz gehört unzweifelhaft in das Jahr 654 (100). Das +Majestäts- und das Getreidegesetz sind nur vermutungsweise jenes in 651 +(103), dieses in 654 (100) gesetzt worden. + +——————————————————————— + +Wenn also das Ziel beschaffen war, das Marius und seine Genossen sich +vorgesteckt hatten, so fragte es sich weiter um die Mittel, durch +welche man den voraussichtlich hartnäckigen Widerstand der +Regierungspartei zu brechen gedachte. Gaius Gracchus hatte seine +Schlachten geschlagen mit dem Kapitalistenstand und dem Proletariat. +Seine Nachfolger versäumten zwar nicht, auch diesen entgegenzukommen. +Den Rittern ließ man nicht bloß die Gerichte, sondern ihre +Geschworenengewalt wurde ansehnlich gesteigert teils durch eine +verschärfte Ordnung für die den Kaufleuten vor allem wichtige stehende +Kommission wegen Erpressungen seitens der Staatsbeamten in den +Provinzen, welche Glaucia, wahrscheinlich in diesem Jahr, durchbrachte, +teils durch das wohl schon 651 (103) auf Saturninus’ Antrag +niedergesetzte Spezialgericht über die während der kimbrischen Bewegung +in Gallien vorgekommenen Unterschlagungen und sonstigen Amtsvergehen. +Zum Frommen des hauptstädtischen Proletariats ferner ward der bisher +bei den Getreideverteilungen für den römischen Scheffel zu entrichtende +Schleuderpreis von 6 1/3 As herabgesetzt auf eine bloße +Rekognitionsgebühr von 5/6 As. Indes obwohl man das Bündnis mit den +Rittern und dem hauptstädtischen Proletariat nicht verschmähte, so +ruhte doch die eigentlich zwingende Macht der Verbündeten wesentlich +nicht darauf, sondern auf den entlassenen Soldaten der Marianischen +Armee, welche ebendeshalb in den Kolonialgesetzen selbst in so +ausschweifender Weise bedacht worden waren. Auch hierin tritt der +vorwiegend militärische Charakter hervor, der hauptsächlich diesen +Revolutionsversuch von dem voraufgehenden unterscheidet. + +Man ging also ans Werk. Das Getreide- und das Kolonialgesetz stießen +bei der Regierung, wie begreiflich, auf die lebhafteste Gegenwehr. Man +bewies im Senat mit schlagenden Zahlen, daß jenes die öffentlichen +Kassen bankrott machen müsse; Saturninus kümmerte sich nicht darum. Man +erwirkte gegen beide Gesetze tribunizische Interzession; Saturninus +ließ weiterstimmen. Man zeigte den die Abstimmung leitenden Beamten an, +daß ein Donnerschlag vernommen worden sei, durch welches Zeichen nach +altem Glauben die Götter befahlen, die Volksversammlung zu entlassen; +Saturninus bemerkte den Abgesandten, der Senat werde wohl tun, sich +ruhig zu verhalten, sonst könne gar leicht nach dem Donner der Hagel +folgen. Endlich trieb der städtische Quästor Quintus Caepio, vermutlich +der Sohn des drei Jahre zuvor verurteilten Feldherrn 2 und gleich +seinem Vater ein heftiger Gegner der Popularpartei, mit einem Haufen +ergebener Leute die Stimmversammlung mit Gewalt auseinander. Allein die +derben Soldaten des Marius, die massenweise zu dieser Abstimmung nach +Rom geströmt waren, sprengten, rasch zusammengerafft, wieder die +städtischen Haufen, und so gelang es, auf dem wiedereroberten Stimmfeld +die Abstimmung über die Appuleischen Gesetze zu Ende zu führen. Der +Skandal war arg; als es indes zur Frage kam, ob der Senat der Klausel +des Gesetzes genügen werde, daß binnen fünf Tagen nach dessen +Durchbringung jeder vom Rat bei Verlust seiner Ratsherrnstelle auf +getreuliche Befolgung des Gesetzes einen Eid abzulegen habe, leisteten +diesen Eid die sämtlichen Senatoren mit einziger Ausnahme des Quintus +Metellus, der es vorzog, die Heimat zu verlassen. Nicht ungern sahen +Marius und Saturninus den besten Feldherrn und den tüchtigsten Mann +unter der Gegenpartei durch Selbstverbannung aus dem Staate scheiden. + +———————————————————— + +2 Dahin führen alle Spuren. Der ältere Quintus Caepio war 648 (106) +Konsul, der jüngere 651 (103) oder 654 (100) Quästor, also jener um +oder vor 605 (149), dieser um 624 (130) oder 627 (117) geboren; daß +jener starb, ohne Söhne zu hinterlassen (Strab. 4, 188), widerspricht +nicht, denn der jüngere Caepio fiel 664 (90) und der ältere, der im +Exil zu Smyrna sein Leben beschloß, kann gar wohl ihn überlebt haben. + +————————————————————- + +Man schien am Ziel; dem schärfer Sehenden mußte schon jetzt das +Unternehmen als gescheitert erscheinen. Die Ursache des Fehlschlagens +lag wesentlich in der ungeschickten Allianz eines politisch unfähigen +Feldherrn und eines fähigen, aber rücksichtslos heftigen, und mehr von +Leidenschaft als von staatsmännischen Zwecken erfüllten Demagogen von +der Gasse. Man hatte sich vortrefflich vertragen, solange es sich nur +noch um Pläne handelte; als es dann aber zur Ausführung kam, zeigte es +sich sehr bald, daß der gefeierte Feldherr in der Politik nichts war +als eine Inkapazität; daß sein Ehrgeiz der des Bauern war, der den +Adligen an Titeln erreichen und womöglich überbieten möchte, nicht aber +der des Staatsmannes, der regieren will, weil er dazu in sich die Kraft +fühlt; daß jedes Unternehmen, welches auf seine politische +Persönlichkeit gebaut war, auch unter den sonst günstigsten +Verhältnissen notwendig an ihm selber scheitern mußte. + +Er wußte weder seine Gegner zu gewinnen noch seine Partei zu bändigen. +Die Opposition gegen ihn und seine Genossen war an sich schon +ansehnlich genug; denn nicht bloß die Regierungspartei in Masse gehörte +dazu, sondern auch der große Teil der Bürgerschaft, der mit +eifersüchtigen Blicken den Italikern gegenüber über seinen +Sonderrechten Wache hielt; durch den Gang aber, den die Dinge nahmen, +wurde noch die gesamte begüterte Klasse zu der Regierung +hinübergedrängt. Saturninus und Glaucia waren von Haus aus Herren und +Diener des Proletariats und darum keineswegs auf gutem Fuße mit der +Geldaristokratie, die zwar nichts dagegen hatte, mittels des Pöbels dem +Senat einmal Schach zu bieten, aber Straßenaufläufe und arge +Gewalttätigkeiten nicht liebte. Schon in Saturninus’ erstem Tribunat +hatten dessen bewaffnete Rotten mit den Rittern sich herumgeschlagen; +die heftige Opposition, auf die seine Wahl zum Tribun für 654 (100) +stieß, zeigt deutlich, wie klein die ihm günstige Partei war. Es wäre +Marius’ Aufgabe gewesen, der bedenklichen Hilfe dieser Genossen sich +nur mit Maßen zu bedienen und männiglich zu überzeugen, daß sie nicht +bestimmt seien zu herrschen, sondern ihm, dem Herrscher, zu dienen. Da +er das gerade Gegenteil davon tat und die Sache ganz das Ansehen +gewann, als handle es sich nicht darum, einen intelligenten und +kräftigen Herrn, sondern die reine Kanaille ans Regiment zu bringen, so +schlossen dieser gemeinsamen Gefahr gegenüber die Männer der +materiellen Interessen, zum Tode erschrocken über das wüste Wesen, sich +wieder eng an den Senat an. Während Gaius Gracchus, wohl erkennend, daß +mit dem Proletariat allein keine Regierung gestürzt werden kann, vor +allen Dingen bemüht gewesen war, die besitzenden Klassen auf seine +Seite zu ziehen, fingen diese seine Fortsetzer damit an, die +Aristokratie mit der Bourgeoisie zu versöhnen. + +Aber noch rascher als die Versöhnung der Feinde führte den Ruin des +Unternehmens die Uneinigkeit herbei, welche unter dessen Urhebern +Marius’ mehr als zweideutiges Auftreten notwendigerweise hervorrief. +Während die entscheidenden Anträge von seinen Genossen gestellt, von +seinen Soldaten durchgefochten wurden, verhielt Marius sich vollständig +leidend, gleich als ob der politische Führer nicht ebenso wie der +militärische, wenn es zum Hauptangriff geht, überall und vor allen +einstehen müßte mit seiner Person. Aber es war damit nicht genug; vor +den Geistern, die er selber gerufen, erschrak er und nahm Reißaus. Als +seine Genossen zu Mitteln griffen, die ein ehrlicher Mann nicht +billigen konnte, ohne die aber freilich das angestrebte Ziel sich nicht +erreichen ließ, versuchte er in der üblichen Weise +politisch-moralischer Konfusionäre sich von der Teilnahme an jenen +Verbrechen reinzuwaschen und zugleich das Ergebnis derselben sich +zunutze zu machen. Es gibt ein Geschichtchen, daß der General einst in +zwei verschiedenen Zimmern seines Hauses in dem einen mit dem +Saturninus und den Seinen, in dem anderen mit den Abgeordneten der +Oligarchie geheime Unterhandlungen gepflogen habe, dort über das +Losschlagen gegen dem Senat, hier über das Einschreiten gegen die +Revolte, und daß er unter einem Vorwand, wie er der Peinlichkeit der +Situation entsprach, zwischen beiden Konferenzen ab und zu gegangen sei +- ein Geschichtchen, so sicherlich erfunden und so sicher treffend wie +nur irgendein Einfall des Aristophanes. Offenkundig ward die +zweideutige Stellung des Marius bei der Eidesfrage, wobei er anfangs +Miene machte, den durch die Appuleischen Gesetze geforderten Eid der +bei ihrer Durchbringung vorgekommenen Formfehler halber selbst zu +verweigern und dann denselben unter den Vorbehalt schwor, wofern die +Gesetze wirklich rechtsbeständig seien; ein Vorbehalt, der den Eid +selber aufhob, und den natürlich sämtliche Senatoren in ihren Schwur +gleichfalls aufnahmen, so daß durch diese Weise der Beeidigung die +Gültigkeit der Gesetze nicht gesichert, sondern vielmehr erst recht in +Frage gestellt ward. + +Die Folgen dieses unvergleichlich kopflosen Auftretens des gefeierten +Feldherrn entwickelten sich rasch. Saturninus und Glaucia hatten nicht +deswegen die Revolution unternommen und dem Marius die +Staatsoberhauptschaft verschafft, um sich von ihm verleugnen und +aufopfern zu lassen; wenn Glaucia, der spaßhafte Volksmann, bisher den +Marius mit den lustigsten Blumen seiner lustigen Beredsamkeit +überschüttet hatte, so dufteten die Kränze, welche er jetzt ihm wand, +keineswegs nach Rosen und Violen. Es kam zum vollständigen Bruch, womit +beide Teile verloren waren; denn weder stand Marius fest genug, um +allein das von ihm selbst in Frage gestellte Kolonialgesetz zu halten +und der ihm darin bestimmten Stellung sich zu bemächtigen, noch waren +Saturninus und Glaucia in der Lage, das für Marius begonnene Geschäft +auf eigene Rechnung fortzuführen. Indes die beiden Demagogen waren so +kompromittiert, daß sie nicht zurückkonnten und nur die Wahl hatten, +ihre Ämter in gewöhnlicher Weise niederzulegen und damit ihren +erbitterten Gegnern sich mit gebundenen Händen zu überliefern oder nun +selber nach dem Szepter zu greifen, dessen Gewicht sie freilich fühlten +nicht tragen zu können. Sie entschlossen sich zu dem letzteren; +Saturninus wollte für 655 (99) abermals um das Volkstribunat als +Bewerber auftreten, Glaucia, obwohl Prätor und erst nach zwei Jahren +wahlfähig zum Konsulat, um dieses sich bewerben. In der Tat wurden die +tribunizischen Wahlen durchaus in ihrem Sinne entschieden und Marius’ +Versuch, den falschen Tiberius Gracchus an der Bewerbung um das +Tribunat zu hindern, diente nur dazu, dem gefeierten Mann zu beweisen, +was seine Popularität jetzt noch wert war; die Menge sprengte die Tür +des Gefängnisses, in dem Gracchus eingesperrt saß, trug ihn im Triumph +durch die Straßen und wählte ihn mit großer Majorität zu ihrem Tribun. +Die wichtigere Konsulnwahl suchten Saturninus und Glaucia durch das im +vorigen Jahr erprobte Mittel zur Beseitigung unbequemer Konkurrenzen in +die Hand zu bekommen; der Gegenkandidat der Regierungspartei, Gaius +Memmius, derselbe, der elf Jahre zuvor gegen sie die Opposition geführt +hatte, wurde von einem Haufen Gesindel überfallen und mit Knütteln +erschlagen. Aber die Regierungspartei hatte nur auf ein eklatantes +Ereignis der Art gewartet, um Gewalt zu brauchen. Der Senat forderte +den Konsul Gaius Marius auf, einzuschreiten, und dieser gab in der Tat +sich dazu her, das Schwert, das er von der Demokratie erhalten und für +sie zu führen versprochen hatte, nun für die konservative Partei zu +ziehen. Die junge Mannschaft ward schleunigst aufgeboten, mit Waffen +aus den öffentlichen Gebäuden ausgerüstet und militärisch geordnet; der +Senat selbst erschien bewaffnet auf dem Markt, an der Spitze sein +greiser Vormann Marcus Scaurus. Die Gegenpartei war wohl im Straßenlärm +überlegen, aber auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet; sie mußte +nun sich wehren, wie es ging. Man erbrach die Tore der Gefängnisse und +rief die Sklaven zur Freiheit und unter die Waffen; man rief - so heißt +es wenigstens - den Saturninus zum König oder Feldherrn aus; an dem +Tage, wo die neuen Volkstribune ihr Amt anzutreten hatten, am 10. +Dezember 654 (100), kam es auf dem Großen Markte zur Schlacht, der +ersten, die, seit Rom stand, innerhalb der Mauern der Hauptstadt +geliefert worden ist. Der Ausgang war keinen Augenblick zweifelhaft. +Die Popularen wurden geschlagen und hinaufgedrängt auf das Kapitol, wo +man ihnen das Wasser abschnitt und sie dadurch nötigte, sich zu +ergeben. Marius, der den Oberbefehl führte, hätte gern seinen +ehemaligen Verbündeten und jetzigen Gefangenen das Leben gerettet; laut +rief Saturninus der Menge zu, daß alles, was er beantragt, im +Einverständnis mit dem Konsul geschehen sei; selbst einem schlechteren +Mann, als Marius war, mußte grauen vor der ehrlosen Rolle, die er an +diesem Tage spielte. Indes er war längst nicht mehr Herr der Dinge. +Ohne Befehl erklimmte die vornehme Jugend das Dach des Rathauses am +Markt, in das man vorläufig die Gefangenen eingesperrt hatte, deckte +die Ziegel ab und steinigte sie mit denselben. So kam Saturninus um mit +den meisten der namhafteren Gefangenen. Glaucia ward in einem Versteck +gefunden und gleichfalls getötet. Ohne Urteil und Recht starben an +diesem Tage vier Beamte des römischen Volkes. ein Prätor, ein Quästor, +zwei Volkstribune und eine Anzahl anderer bekannter und zum Teil guten +Familien angehöriger Männer. Trotz der schweren und blutigen +Verschuldungen, die die Häupter auf sich geladen hatten, durfte man +dennoch sie bedauern; sie fielen wie die Vorposten, die das Hauptheer +im Stich läßt und sie nötigt, im verzweifelten Kampf zwecklos +unterzugehen. + +Nie hatte die Regierungspartei einen vollständigeren Sieg erfochten, +nie die Opposition eine härtere Niederlage erlitten als an diesem 10. +Dezember. Es war das wenigste, daß man sich einiger unbequemer Schreier +entledigt hatte, die jeden Tag durch Gesellen von gleichem Schlag +ersetzt werden konnten; schwerer fiel ins Gewicht, daß der einzige +Mann, der damals imstande war, der Regierung gefährlich zu werden, sich +selber öffentlich und vollständig vernichtet hatte; am schwersten, daß +die beiden oppositionellen Elemente, der Kapitalistenstand und das +Proletariat, gänzlich entzweit aus dem Kampfe hervorgingen. Zwar das +Werk der Regierung war dies nicht; teils die Macht der Verhältnisse, +teils und vor allem die grobe Bauernfaust seines unfähigen Nachtreters +hatten wieder aufgelöst, was unter Gaius Gracchus’ gewandter Hand sich +zusammenfügte; allein im Resultat kam nichts darauf an, ob Berechnung +oder Glück der Regierung zum Siege verhalf. Eine kläglichere Stellung +ist kaum zu erdenken, als wie sie der Held von Aquae und Vercellae nach +jener Katastrophe einnahm - nur um so kläglicher, weil man nicht anders +konnte, als sie mit dem Glanze vergleichen, der nur wenige Monate zuvor +denselben Mann umgab. Weder auf aristokratischer noch auf +demokratischer Seite gedachte weiter jemand des siegreichen Feldherrn +bei der Besetzung der Ämter; der Mann der sechs Konsulate konnte nicht +einmal wagen, sich 656 (98) um die Zensur zu bewerben. Er ging fort in +den Osten, wie er sagte, um ein Gelübde dort zu lösen, in der Tat, um +nicht von der triumphierenden Rückkehr seines Todfeindes, des Quintus +Metellus, Zeuge zu sein; man ließ ihn gehen. Er kam wieder zurück und +öffnete sein Haus; seine Säle standen leer. Immer hoffte er, daß es +wieder Kämpfe und Schlachten geben und man seines erprobten Armes +abermals bedürfen werde; er dachte sich im Osten, wo die Römer +allerdings Ursache genug gehabt hätten, energisch zu intervenieren, +Gelegenheit zu einem Kriege zu machen. Aber auch dies schlug ihm fehl +wie jeder andere seiner Wünsche; es blieb tiefer Friede. Und dabei fraß +der einmal in ihm aufgestachelte Hunger nach Ehren, je öfter er +getäuscht ward, immer tiefer sich ein in sein Gemüt; abergläubisch wie +er war, nährte er in seinem Busen ein altes Orakelwort, das ihm sieben +Konsulate verheißen hatte, und sann in finsteren Gedanken, wie es +geschehen möge, daß dies Wort seine Erfüllung und er seine Rache +bekomme, während er allen, nur sich selbst nicht, unbedeutend und +unschädlich erschien. + +Folgenreicher noch als die Beseitigung des gefährlichen Mannes war die +tiefe Erbitterung gegen die sogenannten Popularen, welche die +Schilderhebung des Saturninus in der Partei der materiellen Interessen +zurückließ. Mit der rücksichtslosesten Härte verurteilten die +Rittergerichte jeden, der zu den oppositionellen Ansichten sich +bekannte; so ward Sextus Titius mehr noch als wegen seines +Ackergesetzes deswegen verdammt, weil er des Saturninus Bild im Hause +gehabt hatte; so Gaius Appuleius Decianus, weil er als Volkstribun das +Verfahren gegen Saturninus als ein ungesetzliches bezeichnet hatte. +Sogar für ältere, von den Popularen der Aristokratien zugefügte Unbill +wurde nun nicht ohne Aussicht auf Erfolg vor den Rittergerichten +Genugtuung gefordert. Weil Gaius Norbanus acht Jahre zuvor in +Gemeinschaft mit Saturninus den Konsular Quintus Caepio ins Elend +getrieben hatte, wurde er jetzt (659 95) auf Grund seines eigenen +Gesetzes des Hochverrats angeklagt, und lange schwankten die +Geschworenen - nicht, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig, +sondern ob sein Bundesgenosse oder sein Feind, Saturninus oder Caepio +ihnen hassenswerter erscheine, bis sie denn doch zuletzt für +Freisprechung sich entschieden. War man auch der Regierung an sich +nicht geneigter als früher, so erschien doch nun, seit man sich, wenn +auch nur einen Augenblick, am Rande der eigentlichen Pöbelherrschaft +befunden hatte, jedem, der etwas zu verlieren hatte, das bestehende +Regiment in einem anderen Licht es war notorisch elend und +staatsverderberisch, aber die kümmerliche Furcht vor dem noch elenderen +und noch staatsverderblicheren Regiment der Proletarier hatte ihm einen +relativen Wert verliehen. So ging jetzt die Strömung, daß die Menge +einen Volkstribun zerriß, der es gewagt hatte, die Rückkehr des Quintus +Metellus zu verzögern, und daß die Demokraten anfingen, ihr Heil zu +suchen in dem Bündnis mit Mördern und Giftmischern, wie sie zum +Beispiel des verhaßten Metellus durch Gift sich entledigten, oder gar +in dem Bündnis mit dem Landesfeind, wie denn einzelne von ihnen schon +flüchteten an den Hof des Königs Mithradates, der im stillen zum Krieg +rüstete gegen Rom. + +Auch die äußeren Verhältnisse gestalteten für die Regierung sich +günstig. Die römischen Waffen waren in der Zeit vom Kimbrischen bis auf +den Bundesgenossenkrieg nur wenig, überall aber mit Ehren tätig. +Ernstlich gestritten wurde nur in Spanien, wo während der letzten für +Rom so schweren Jahre die Lusitaner (649f. 105) und die Keltiberer sich +reit ungewohnter Heftigkeit gegen die Römer aufgelehnt hatten; hier +stellten in dem Jahre 656-661 (98-93) der Konsul Titus Didius in der +nördlichen und der Konsul Publius Crassus in der südlichen Provinz mit +Tapferkeit und Glück nicht bloß das Obergewicht der römischen Waffen +wieder her, sondern schleiften auch die wiederspenstigen Städte und +versetzten, wo es nötig schien, die Bevölkerung der festen Bergstädte +in die Ebenen. Daß um dieselbe Zeit die römische Regierung auch wieder +des ein Menschenalter hindurch vernachlässigten Ostens gedachte und +energischer, als seit langem erhört war, in Kyrene, Syrien, Kleinasien +auftrat, wird später darzustellen sein. Noch niemals seit dem Beginn +der Revolution war das Regiment der Restauration so fest begründet, so +populär gewesen. Konsularische Gesetze lösten die tribunizischen, +Freiheitsbeschränkungen die Fortschrittsmaßregeln ab. Die Kassierung +der Gesetze des Saturninus verstand sich von selbst; die überseeischen +Kolonien des Marius schwanden zusammen zu einer einzigen winzigen +Ansiedelung auf der wüsten Insel Korsika. Als der Volkstribun Sextus +Titius, ein karikierter Alkibiades, der im Tanz und Ballspiel stärker +war als in der Politik und dessen hervorragendstes Talent darin +bestand, nachts auf den Straßen die Götterbilder zu zerschlagen, das +Appuleische Ackergesetz im Jahre 655 (99) wieder ein- und durchbrachte, +konnte der Senat das neue Gesetz unter einem religiösen Vorwand +kassieren, ohne daß jemand dafür einzustehen auch nur versucht hätte; +den Urheber straften, wie schon erwähnt ward, die Ritter in ihren +Gerichten. Das Jahr darauf (656 98) machte ein von den beiden Konsuln +eingebrachtes Gesetz die übliche vierundzwanzigtägige Frist zwischen +Ein- und Durchbringung eines Gesetzvorschlags obligatorisch und verbot, +mehrere verschiedenartige Bestimmungen in einen Antrag +zusammenzufassen; wodurch die unvernünftige Ausdehnung der +legislatorischen Initiative wenigstens etwas beschränkt und offenbare +Überrumpelungen der Regierung durch neue Gesetze abgewehrt wurden. +Immer deutlicher zeigte es sich, daß die Gracchische Verfassung, die +den Sturz ihres Urhebers überdauert hatte, jetzt, seit die Menge und +die Geldaristokratie nicht mehr zusammengingen, in ihren Grundfesten +schwankte. Wie diese Verfassung geruht hatte auf der Spaltung der +Aristokratie, so schien die Zwiespältigkeit der Opposition sie zu Falle +bringen zu müssen. Wenn jemals, so war jetzt die Zeit gekommen, um das +unvollkommene Restaurationswerk von 633 (121) zu vollenden, um dem +Tyrannen endlich auch seine Verfassung nachzusenden und die regierende +Oligarchie in den Alleinbesitz der politischen Gewalt +wiedereinzusetzen. + +Es kam alles an auf die Wiedergewinnung der Geschworenenstellen. Die +Verwaltung der Provinzen, die hauptsächliche Grundlage des +senatorischen Regiments, war von den Geschworenengerichten, namentlich +von der Kommission wegen Erpressungen, in dem Maße abhängig geworden, +daß der Statthalter die Provinz nicht mehr für den Senat, sondern für +den Kapitalisten- und Kaufmannsstand zu verwalten schien. Wie +bereitwillig immer die Geldaristokratie der Regierung entgegenkam, wenn +es um Maßregeln gegen die Demokraten sich handelte, so unnachsichtlich +ahndete sie jeden Versuch, sie in diesem ihrem wohlerworbenen Recht +freiesten Schaltens in den Provinzen zu beschränken. Einzelne derartige +Versuche wurden jetzt gemacht; die regierende Aristokratie fing wieder +an, sich zu fühlen und eben ihre besten Männer hielten sich +verpflichtet, der entsetzlichen Mißwirtschaft in den Provinzen +wenigstens für ihre Person entgegenzutreten. Am entschlossensten tat +dies Quintus Mucius Scaevola, gleich seinem Vater Publius Oberpontifex +und im Jahre 659 (95) Konsul, der erste Jurist und einer der +vorzüglichsten Männer seiner Zeit. Als prätorischer Statthalter (um 656 +98) von Asia, der reichsten und gemißhandeltsten unter allen Provinzen, +statuierte er in Gemeinschaft mit seinem älteren, als Offizier, Jurist +und Geschichtschreiber ausgezeichneten Freunde, dem Konsular Publius +Rutilius Rufus, ein ernstes und abschreckendes Exempel. Ohne einen +Unterschied zwischen Italikern und Provinzialen, Vornehmen und Geringen +zu machen, nahm er jede Klage an und zwang nicht bloß die römischen +Kaufleute und Staatspächter wegen erwiesener Schädigungen, vollen +Geldersatz zu leisten, sondern, als einige ihrer angesehensten und +rücksichtslosesten Agenten todeswürdiger Verbrechen schuldig befunden +wurden, ließ er diese, taub gegen alle Bestechungsanträge, ans Kreuz +schlagen wie Rechtens. Der Senat billigte sein Verfahren und setzte +sogar seitdem den Statthaltern von Asia es in die Instruktion, daß sie +sich die Verwaltungsgrundsätze Scaevolas zum Muster nehmen möchten; +allein die Ritter, wenn sie gleich an den hochadligen und +vielvermögenden Staatsmann selber sich nicht wagten, zogen seine +Gefährten vor Gericht, zuletzt (um 662 92) sogar den angesehensten +derselben, seinen Legaten Publius Rufus, der nur durch Verdienste und +anerkannte Rechtschaffenheit, nicht durch Familienanhang verteidigt +war. Die Anklage, daß dieser Mann sich in Asia habe Erpressungen +zuschulden kommen lassen, brach zwar fast zusammen unter ihrer eigenen +Lächerlichkeit wie unter der Verworfenheit des Anklägers, eines +gewissen Apicius; allein man ließ dennoch die willkommene Gelegenheit, +den Konsular zu demütigen, nicht vorübergehen, und da dieser, die +falsche Beredsamkeit, die Trauergewänder, die Tränen verschmähend, sich +kurz, einfach und sachlich verteidigte und den souveränen Kapitalisten +die begehrte Huldigung stolz verweigerte, ward er in der Tat verurteilt +und sein mäßiges Vermögen zur Befriedigung erdichteter +Entschädigungsansprüche eingezogen. Der Verurteilte begab sich in die +angeblich von ihm ausgeplünderte Provinz und verlebte daselbst, von +sämtlichen Gemeinden mit Ehrengesandtschaften empfangen und zeit seines +Lebens gefeiert und beliebt, in literarischer Muße die ihm noch übrigen +Tage. Und diese schmachvolle Verurteilung war wohl der ärgste, aber +keineswegs der einzige Fall der Art. Mehr vielleicht noch als solcher +Mißbrauch der Justiz gegen Männer fleckenlosen Wandels, aber neuen +Adels erbitterte es die senatorische Partei, daß der reinste Adel nicht +mehr genügte, die etwaigen Flecken der Ehrlichkeit zuzudecken. Kaum war +Rufus aus dem Lande, als der angesehenste aller Aristokraten, seit +zwanzig Jahren der Vormann des Senats, der siebzigjährige Marcus +Scaurus, wegen Erpressungen vor Gericht gezogen ward; nach +aristokratischen Begriffen ein Sacrilegium, selbst wenn er schuldig +war. Das Anklägeramt fing an von schlechten Gesellen gewerbsmäßig +betrieben zu werden und nicht Unbescholtenheit, nicht Rang, nicht Alter +schützte mehr vor den frevelhaftesten und gefährlichsten Angriffen. Die +Erpressungskommission ward aus einer Schutzwehr der Provinzialen ihre +schlimmste Geißel; der offenkundige Dieb ging frei aus, wenn er nur +seine Mitthebe gewähren ließ und sich nicht weigerte, einen Teil der +erpreßten Summen den Geschworenen zufließen zu lassen; aber jeder +Versuch, den billigen Forderungen der Provinzialen auf Recht und +Gerechtigkeit zu entsprechen, reichte hin zur Verurteilung. Die +römische Regierung schien in dieselbe Abhängigkeit von dem +kontrollierenden Gericht versetzt werden zu sollen, in der einst das +Richterkollegium in Karthago den dortigen Rat gehalten hatte. In +furchtbarer Weise erfüllte sich Gaius Gracchus’ ahnungsvolles Wort, daß +mit dem Dolche seines Geschworenengesetzes die vornehme Welt sich +selber zerfleischen werde. + +Ein Sturm auf die Rittergerichte war unvermeidlich. Wer in der +Regierungspartei noch Sinn dafür hatte, daß das Regieren nicht bloß +Rechte, sondern auch Pflichten in sich schließt, ja wer nur noch +edleren und stolzeren Ehrgeiz in sich empfand, mußte sich auflehnen +gegen diese erdrückende und entehrende politische Kontrolle, die jede +Möglichkeit, rechtschaffen zu verwalten, von vornherein abschnitt. Die +skandalöse Verurteilung des Rutilius Rufus schien eine Aufforderung, +den Angriff sofort zu beginnen, und Marcus Livius Drusus, der im Jahre +663 (91) Volkstribun war, betrachtete dieselbe als besonders an sich +gerichtet. Der Sohn des gleichnamigen Mannes, der dreißig Jahre zuvor +zunächst den Gaius Gracchus gestürzt und später auch als Offizier durch +die Unterwerfung der Skordisker sich einen Namen gemacht hatte, war +Drusus, gleich seinem Vater, streng konservativ gesinnt und hatte diese +seine Gesinnung bereits in dem Aufstand des Saturninus tatsächlich +bewährt. Er gehörte den Kreisen des höchsten Adels an und war Besitzer +eines kolossalen Vermögens; auch der Gesinnung nach war er ein echter +Aristokrat - ein energisch stolzer Mann, der es verschmähte, mit den +Ehrenzeichen seiner Ämter sich zu behängen, aber auf dem Totenbette es +aussprach, daß nicht bald ein Bürger wiederkommen werde, der ihm gleich +sei; ein Mann, dem das schöne Wort, daß der Adel verpflichtet, die +Richtschnur seines Lebens ward und blieb. Mit der ganzen ernsten +Leidenschaft seines Gemütes hatte er sich abgewandt von der Eitelkeit +und Feilheit des vornehmen Pöbels; zuverlässig und sittenstreng war er +bei den geringen Leuten, denen seine Tür und sein Beutel immer +offenstanden, mehr geachtet als eigentlich beliebt und trotz seiner +Jugend durch die persönliche Würde seines Charakters von Gewicht im +Senat wie auf dem Markte. Auch stand er nicht allein. Marcus Scaurus +hatte den Mut, bei Gelegenheit seiner Verteidigung in dem Prozeß wegen +Erpressungen den Drusus öffentlich aufzufordern, Hand zu legen an die +Reform der Geschworenenordnung; er sowie der berühmte Redner Lucius +Crassus waren im Senat die eifrigsten Verfechter, vielleicht die +Miturheber seiner Anträge. Indes die Masse der regierenden Aristokratie +dachte keineswegs wie Drusus, Scaurus und Crassus. Es fehlte im Senat +nicht an entschiedenen Anhängern der Kapitalistenpartei, unter denen +namentlich sich bemerkbar machten der derzeitige Konsul Lucius Marcius +Philippus, der wie früher die Sache der Demokratie, so jetzt die des +Ritterstandes mit Eifer und Klugheit verfocht, und der verwegene und +rücksichtslose Quintus Caepio, den zunächst die persönliche Feindschaft +gegen Drusus und Scaurus zu dieser Opposition bestimmte. Allein +gefährlicher als diese entschiedenen Gegner war die feige und faule +Masse der Aristokratie, die zwar die Provinzen lieber allein geplündert +hätte, aber am Ende auch nicht viel dawider hatte, mit den Rittern die +Beute zu teilen, und, statt den Ernst und die Gefahren des Kampfes +gegen die übermütigen Kapitalisten zu übernehmen, es viel billiger und +bequemer fand, sich von ihnen durch gute Worte und gelegentlich durch +einen Fußfall oder auch eine runde Summe Straflosigkeit zu erkaufen. +Nur der Erfolg konnte zeigen, wieweit es gelingen werde, diese Masse +mit fortzureißen, ohne die es nun einmal nicht möglich war, zum Ziele +zu gelangen. + +Drusus entwarf den Antrag, die Geschworenenstellen den Bürgern vom +Ritterzensus zu entziehen und sie dem Senat zurückzugeben, welcher +zugleich durch Aufnahme von 300 neuen Mitgliedern in den Stand gesetzt +werden sollte, den vermehrten Obliegenheiten zu genügen; zur +Aburteilung derjenigen Geschworenen, die der Bestechlichkeit sich +schuldig gemacht hätten oder schuldig machen würden, sollte eine eigene +Kriminalkommission niedergesetzt werden. Hiermit war der nächste Zweck +erreicht, die Kapitalisten ihrer politischen Sonderrechte zu berauben +und sie für die verübte Unbill zur Verantwortung zu ziehen. Indes +Drusus’ Anträge und Absichten beschränkten sich hierauf keineswegs; +seine Vorschläge waren keine Gelegenheitsmaßregeln, sondern ein +umfassender und durchdachter Reformplan. Er beantragte ferner, die +Getreideverteilung zu erhöhen und die Mehrkosten zu decken durch die +dauernde Emission einer verhältnismäßigen Zahl von kupfernen +plattierten neben den silbernen Denaren, sodann das gesamte noch +unverteilte italische Ackerland, also namentlich die Kampanische +Domäne, und den besten Teil Siziliens zur Ansiedlung von +Bürgerkolonisten zu bestimmen; endlich ging er gegen die italischen +Bundesgenossen die bestimmtesten Verpflichtungen ein, ihnen das +römische Bürgerrecht zu verschaffen. So erschienen denn hier von +aristokratischer Seite ebendieselben Herrschaftsstützen und +ebendieselben Reformgedanken, auf denen Gaius Gracchus’ Verfassung +beruht hatte - ein seltsames und doch sehr begreifliches +Zusammentreffen. Es war nur in der Ordnung, daß, wie die Tyrannis gegen +die Oligarchie, so diese gegen die Geldaristokratie sich stützte auf +das besoldete und gewissermaßen organisierte Proletariat; hatte die +Regierung früher die Ernährung des Proletariats auf Staatskosten als +ein unvermeidliches Übel hingenommen, so dachte Drusus jetzt dasselbe, +wenigstens für den Augenblick, gegen die Geldaristokratie zu +gebrauchen. Es war nur in der Ordnung, daß der bessere Teil der +Aristokratie, ebenwie ehemals auf das Ackergesetz des Tiberius +Gracchus, so jetzt bereitwillig einging auf alle diejenigen +Reformmaßregeln, die, ohne die Oberhauptsfrage zu berühren, nur darauf +abzweckten, die alten Schäden des Staats auszuheilen. In der +Emigrations- und Kolonisationsfrage konnte man zwar so weit nicht gehen +wie die Demokratie, da die Herrschaft der Oligarchie wesentlich beruhte +auf dem freien Schalten über die Provinzen und durch jedes dauernde +militärische Kommando gefährdet ward; die Gedanken, Italien und die +Provinzen gleichzustellen und jenseits der Alpen zu erobern, vertrugen +mit den konservativen Prinzipien sich nicht. Allein die launischen und +selbst die kampanischen Domänen so wie Sizilien konnte der Senat recht +wohl aufopfern, um den italischen Bauernstand zu heben und dennoch die +Regierung nach wie vor behaupten; wobei noch hinzukam, daß man +künftigen Agitationen nicht wirksamer vorbeugen konnte als dadurch, daß +alles irgend verfügbare Land von der Aristokratie selbst zur Aufteilung +gebracht ward und für künftige Demagogen, nach Drusus’ eigenem +Ausdruck, nichts zu verteilen übrig blieb als der Gassenkot und das +Morgenrot. Ebenso war es für die Regierung, mochte dies nun ein Monarch +sein oder eine geschlossene Anzahl herrschender Familien, ziemlich +einerlei, ob halb oder ganz Italien zum römischen Bürgerverband +gehörte; und daher mußten wohl beiderseits die reformierenden Männer +sich in dem Gedanken begegnen, durch zweckmäßige und rechtzeitige +Erstreckung des Bürgerrechts die Gefahr abzuwenden, daß die +Insurrektion von Fregellae in größerem Maßstab wiederkehre, nebenher +auch an den zahl- und einflußreichen Italikern sich Bundesgenossen für +ihre Pläne suchen. So scharf in der Oberhauptsfrage die Ansichten und +Absichten der beiden großen politischen Parteien sich schieden, so +vielfach berührten sich in den Operationsmitteln und in den +reformistischen Tendenzen die besten Männer aus beiden Lagern; und wie +Scipio Aemilianus ebenso unter den Widersachern des Tiberius Gracchus +wie unter den Förderern seiner Reformbestrebungen genannt werden kann, +so war auch Drusus der Nachfolger und Schüler nicht minder als der +Gegner des Gaius. Die beiden hochgeborenen und hochsinnigen +jugendlichen Reformatoren waren sich ähnlicher, als es auf den ersten +Blick schien und auch persönlich beide nicht unwert, über dem trüben +Nebel des befangenen Parteitreibens in reineren und höheren +Anschauungen sich mit dem Kern ihrer patriotischen Bestrebungen zu +begegnen. + +Es handelte sich um die Durchbringung der von Drusus entworfenen +Gesetze, von denen übrigens der Antragsteller, ebenwie Gaius Gracchus, +den bedenklichen Vorschlag, den italischen Bundesgenossen das römische +Bürgerrecht zu verleihen, vorläufig zurückhielt und zunächst nur das +Geschworenen-, Acker- und Getreidegesetz vorlegte. Die +Kapitalistenpartei widerstand aufs heftigste und würde bei der +Unentschlossenheit des größten Teils der Aristokratie und der +Haltlosigkeit der Komitien ohne Frage die Verwerfung des +Geschworenengesetzes durchgesetzt haben, wenn es allein zur Abstimmung +gekommen wäre. Drusus faßte deshalb seine sämtlichen Anträge in einen +einzigen zusammen; und indem also alle bei den Getreide- und +Landverteilungen interessierten Bürger genötigt wurden, auch für das +Geschworenengesetz zu stimmen, gelang es durch sie und durch die +Italiker, welche mit Ausnahme der in ihrem Domanialbesitz bedrohten +großen Grundbesitzer, namentlich der umbrischen und etruskischen, fest +zu Drusus standen, das Gesetz durchzubringen - freilich erst, nachdem +Drusus den Konsul Philippus, der nicht aufhörte zu widerstreben, hatte +verhaften und durch den Büttel in den Kerker abführen lassen. Das Volk +feierte den Tribun als seinen Wohltäter und empfing ihn im Theater mit +Aufstehen und Beifallklatschen; allein die Abstimmung hatte den Kampf +nicht so sehr entschieden als auf einen anderen Boden verlegt, da die +Gegenpartei den Antrag des Drusus mit Recht als dem Gesetz von 656 (98) +zuwiderlaufend und deshalb als nichtig bezeichnete. Der Hauptgegner des +Tribuns, der Konsul Philippus, forderte den Senat auf, aus diesem +Grunde das Livische Gesetz als formwidrig zu kassieren; allein die +Majorität des Senats, erfreut, die Rittergerichte los zu sein, wies den +Antrag zurück. Der Konsul erklärte darauf auf offenem Markte, daß mit +einem solchen Senat zu regieren nicht möglich sei und er sich nach +einem anderen Staatsrat umsehen werde; er schien einen Staatsstreich zu +beabsichtigen. Der Senat, von Drusus deswegen berufen, sprach nach +stürmischen Verhandlungen gegen den Konsul ein Tadels- und +Mißtrauensvotum aus; allein im geheimen begann sich in einem großen +Teil der Majorität die Angst vor der Revolution zu regen, mit der +sowohl Philippus als ein großer Teil der Kapitalisten zu drohen schien. +Andere Umstände kamen hinzu. Einer der tätigsten und angesehensten +unter Drusus’ Gesinnungsgenossen, der Redner Lucius Crassus, starb +plötzlich wenige Tage nach jener Senatssitzung (September 663 91). Die +von Drusus mit den Italikern angeknüpften Verbindungen, die er anfangs +nur wenigen seiner Vertrautesten mitgeteilt hatte, wurden allmählich +ruchbar, und in das wütende Geschrei über Landesverrat, das die Gegner +erhoben, stimmten viele, vielleicht die meisten Männer der +Regierungspartei mit ein; selbst die edelmütige Warnung, die er dem +Konsul Philippus zukommen ließ, bei dem Bundesfest auf dem Albanerberg +vor den von den Italikern ausgesandten Mördern sich zu hüten, diente +nur dazu, ihn weiter zu kompromittieren, indem sie zeigte, wie tief er +in die unter den Italikern gärenden Verschwörungen verwickelt war. +Immer heftiger drängte Philippus auf Kassation des Livischen Gesetzes; +immer lauer ward die Majorität in der Verteidigung desselben. Bald +erschien die Rückkehr zu den früheren Verhältnissen der großen Menge +der Furchtsamen und Unentschiedenen im Senat als der einzige Ausweg, +und der Kassationsbeschluß wegen formeller Mängel erfolgte. Drusus, +nach seiner Art streng sich bescheidend, begnügte sich daran zu +erinnern, daß der Senat also selbst die verhaßten Rittergerichte +wiederherstelle, und begab sich seines Rechtes, den Kassationsbeschluß +durch Interzession ungültig zu machen. Der Angriff des Senats auf die +Kapitalistenpartei war vollständig abgeschlagen, und willig oder +unwillig fügte man sich abermals in das bisherige Joch. Aber die hohe +Finanz begnügte sich nicht gesiegt zu haben. Als Drusus eines Abends +auf seinem Hausflur die wie gewöhnlich ihn begleitende Menge eben +verabschieden wollte, stürzte er plötzlich vor dem Bilde seines Vaters +zusammen; eine Mörderhand hatte ihn getroffen und so sicher, daß er +wenige Stunden darauf den Geist aufgab. Der Täter war in der +Abenddämmerung verschwunden, ohne daß jemand ihn erkannt hatte, und +eine gerichtliche Untersuchung fand nicht statt; aber es brauchte +derselben nicht, um hier jenen Dolch zu erkennen, mit dem die +Aristokratie sich selber zerfleischte. Dasselbe gewaltsame und +grauenvolle Ende, das die demokratischen Reformatoren weggerafft hatte, +war auch dem Gracchus der Aristokratie bestimmt. Es lag darin eine +tiefe und traurige Lehre. An dem Widerstand oder an der Schwäche der +Aristokratie scheiterte die Reform, selbst wenn der Versuch zu +reformieren aus ihren eigenen Reihen hervorging. Seine Kraft und sein +Leben hatte Drusus darangesetzt, die Kaufmannsherrschaft zu stürzen, +die Emigration zu organisieren, den drohenden Bürgerkrieg abzuwenden; +er sah noch selbst die Kaufleute unumschränkter regieren als je, sah +alle seine Reformgedanken vereitelt und starb mit dem Bewußtsein, daß +seid jäher Tod das Signal zu dem fürchterlichsten Bürgerkrieg sein +werde, der je das schöne italische Land verheert hat. + + + + +KAPITEL VII. +Die Empörung der italischen Untertanen und die Sulpicische Revolution + + +Seitdem mit Pyrrhos’ Überwindung der letzte Krieg, den die Italiker für +ihre Unabhängigkeit geführt hatten, zu Ende gegangen war, das heißt +seit fast zweihundert Jahren, hatte jetzt das römische Prinzipat in +Italien bestanden, ohne daß es selbst unter den gefährlichsten +Verhältnissen ein einziges Mal in seiner Grundlage geschwankt hätte. +Vergeblich hatte das Heldengeschlecht der Barleiden, vergeblich die +Nachfolger des großen Alexander und der Achämeniden versucht, die +italische Nation zum Kampf aufzurütteln gegen die übermächtige +Hauptstadt; gehorsam war dieselbe auf den Schlachtfeldern am +Guadalquivir und an der Medscherda, am Tempepaß und am Sipylos +erschienen und hatte mit dem besten Blute ihrer Jugend ihren Herren die +Untertänigkeit dreier Weltteile erfechten helfen. Ihre eigene Stellung +indessen hatte sich wohl verändert, aber eher verschlechtert als +verbessert. In materieller Hinsicht zwar hatte sie sich im allgemeinen +nicht zu beklagen. Wenn auch der kleine und der mittlere Grundbesitzer +durch ganz Italien infolge der unverständigen römischen +Korngesetzgebung litt, so gediehen dafür die größeren Gutsherren und +mehr noch der Kaufmanns- und Kapitalistenstand, da die Italiker +hinsichtlich der finanziellen Ausbeutung der Provinzen im wesentlichen +denselben Schutz und dieselben Vorrechte genossen wie die römischen +Bürger und also die materiellen Vorteile des politischen Übergewichts +der Römer großenteils auch ihnen zugute kamen. Überhaupt waren die +wirtschaftlichen und sozialen Zustände Italiens nicht zunächst abhängig +von den politischen Unterschieden; es gab vorzugsweise +bundesgenössische Landschaften, wie Etrurien und Umbrien, in denen der +freie Bauernstand verschwunden war, andere, wie die Abruzzentäler, in +denen derselbe noch leidlich und zum Teil fast unberührt sich erhalten +hatte - ähnlich wie sich gleiche Verschiedenheit auch in den +verschiedenen römischen Bürgerdistrikten nachweisen läßt. Dagegen die +politische Zurücksetzung ward immer herber, immer schroffer. Wohl fand +ein förmlicher unverhüllter Rechtsbruch wenigstens in Hauptfragen nicht +statt. Die Kommunalfreiheit, welche unter dem Namen der Souveränität +den italischen Gemeinden vertragsmäßig zustand, wurde von der römischen +Regierung im ganzen respektiert; den Angriff, den die römische +Reformpartei im Anfang der agrarischen Bewegung auf die den besser +gestellten Gemeinden verbrieften römischen Domänen machte, hatte nicht +bloß die streng konservative sowie die Mittelpartei in Rom ernstlich +bekämpft, sondern auch die römische Opposition selbst sehr bald +aufgegeben. Allein die Rechte, welche Rom als der führenden Gemeinde +zustanden und zustehen mußten, die oberste Leitung des Kriegswesens und +die Oberaufsicht über die gesamte Verwaltung, wurden in einer Weise +ausgeübt, die fast ebenso schlimm war, als wenn man die Bundesgenossen +geradezu für rechtlose Untertanen erklärt hätte. Die zahlreichen +Milderungen des furchtbar strengen römischen Kriegsrechts, welche im +Laufe des siebenten Jahrhunderts in Rom eingeführt wurden, scheinen +sämtlich auf die römischen Bürgersoldaten beschränkt geblieben zu sein; +von der wichtigsten, der Abschaffung der standrechtlichen +Hinrichtungen, ist dies gewiß und der Eindruck leicht zu ermessen, +wenn, wie dies im Jugurthinischen Krieg geschah, angesehene latinische +Offiziere nach Urteil des römischen Kriegsrats enthauptet wurden, dem +letzten Bürgersoldaten aber im gleichen Fall das Recht zustand, an die +bürgerlichen Gerichte Roms Berufung einzulegen. In welchem Verhältnis +die Bürger und die italischen Bundesgenossen zum Kriegsdienst angezogen +werden sollten, war vertragsmäßig wie billig unbestimmt geblieben; +allein während in früherer Zeit beide durchschnittlich die gleiche Zahl +Soldaten gestellt hatten, wurden jetzt, obwohl das +Bevölkerungsverhältnis wahrscheinlich eher zu Gunsten als zum Nachteil +der Bürgerschaft sich verändert hatte, die Forderungen an die +Bundesgenossen allmählich unverhältnismäßig gesteigert, so daß man +ihnen teils den schwereren und kostbareren Dienst vorzugsweise +aufbürdete, teils jetzt regelmäßig auf einen Bürger zwei Bundesgenossen +aushob. Ähnlich wie die militärische Oberleitung wurde die bürgerliche +Oberaufsicht, welche mit Einschluß der davon kaum zu trennenden +obersten Administrativjurisdiktion die römische Regierung stets und mit +Recht über die abhängigen italischen Gemeinden sich vorbehalten hatte, +in einer Weise ausgedehnt, daß die Italiker fast nicht minder als die +Provinzialen sich der Willkür eines jeden der zahllosen römischen +Beamten schutzlos preisgegeben sahen. In Teanum Sidicinum, einer der +angesehensten Bundesstädte, hatte ein Konsul den Bürgermeister der +Stadt an dem Schandpfahl auf dem Markt mit Ruten stäupen lassen, weil +seiner Gemahlin, die in dem Männerbad zu baden verlangte, die +Munizipalbeamten nicht schleunig genug die Badenden ausgetrieben hatten +und ihr das Bad nicht sauber erschienen war. Ähnliche Auftritte waren +in Ferentinum, gleichfalls einer Stadt besten Rechts, ja in der alten +und wichtigen latinischen Kolonie Cales vorgefallen. In der latinischen +Kolonie Venusia war ein freier Bauersmann von einem durchpassierenden +jungen, amtlosen römischen Diplomaten wegen eines Spaßes, den er sich +über dessen Sänfte erlaubt hatte, angehalten, niedergeworfen und mit +dem Tragriemen der Sänfte zu Tode gepeitscht worden. Dieser Vorfälle +wird um die Zeit des fregellanischen Aufstandes gelegentlich gedacht; +es leidet keinen Zweifel, daß ähnliche Unrechtfertigkeiten häufig +vorkamen und ebensowenig, daß eine ernstliche Genugtuung für solche +Missetaten nirgends zu erlangen war, wogegen das nicht leicht +ungestraft verletzte Provokationsrecht wenigstens Leib und Leben des +römischen Bürgers einigermaßen schützte. Es konnte nicht fehlen, daß +infolge dieser Behandlung der Italiker seitens der römischen Regierung +die Spannung, welche die Weisheit der Ahnen zwischen den latinischen +und den sonstigen italischen Gemeinden sorgfältig unterhalten hatte, +wenn nicht verschwand, so doch nachließ. Die Zwingburgen Roms und die +durch die Zwingburgen in Gehorsam erhaltenen Landschaften lebten jetzt +unter dem gleichen Druck; der Latiner konnte den Picenter daran +erinnern, daß sie beide in gleicher Weise “den Beilen unterworfen” +seien; die Vögte und die Knechte von ehemals vereinigte jetzt der +gemeinsame Haß gegen den gemeinsamen Zwingherrn. + +Wenn also der gegenwärtige Zustand der italischen Bundesgenossen aus +einem leidlichen Abhängigkeitsverhältnis umgeschlagen war in die +drückendste Knechtschaft, so war zugleich denselben jede Aussicht auf +Erlangung besseren Rechts genommen worden. Schon mit der Unterwerfung +Italiens hatte die römische Bürgerschaft sich abgeschlossen und die +Erteilung des Bürgerrechts an ganze Gemeinden vollständig aufgegeben, +die an einzelne Personen sehr beschränkt. Jetzt ging man noch einen +Schritt weiter: bei Gelegenheit der die Erstreckung des römischen +Bürgerrechts auf ganz Italien bezweckenden Agitation in den Jahren 628, +632 (126, 122) griff man das Übersiedlungsrecht selbst an und wies +geradezu die sämtlichen in Rom sich aufhaltenden Nichtbürger durch +Volks- und Senatbeschluß aus der Hauptstadt aus - eine ebenso durch +ihre Illiberalität gehässige wie durch die vielfach dabei verletzten +Privatinteressen gefährliche Maßregel. Kurz, wenn die italischen +Bundesgenossen zu den Römern früher gestanden hatten teils als +bevormundete Brüder, mehr beschützt als beherrscht und nicht zu ewiger +Unmündigkeit bestimmt, teils als leidlich gehaltene und der Hoffnung +auf die Freilassung nicht völlig beraubte Knechte, so standen sie jetzt +sämtlich ungefähr in gleicher Untertänigkeit und gleicher +Hoffnungslosigkeit unter den Ruten und Beilen ihrer Zwingherren und +durften höchstens als bevorrechtete Knechte sich es herausnehmen, die +von den Herren empfangenen Fußtritte an die armen Provinzialen +weiterzugeben. + +Es liegt in der Natur solcher Zerwürfnisse, daß sie anfangs, +zurückgehalten durch das Gefühl der nationalen Einheit und die +Erinnerung gemeinschaftlich überdauerter Gefahr, leise und gleichsam +bescheiden auftreten, bis allmählich der Riß sich erweitert und +zwischen den Herrschern, deren Recht lediglich ihre Macht ist, und den +Beherrschten, deren Gehorsam nicht weiter reicht als ihre Furcht, das +unverhohlene Gewaltverhältnis sich offenbart. Bis zu der Empörung und +Schleifung von Fregellae im Jahre 629 (125), die gleichsam offiziell +den veränderten Charakter der römischen Herrschaft konstatierte, trug +die Gärung unter den Italikern nicht eigentlich einen revolutionären +Charakter. Das Begehren nach Gleichberechtigung hatte allmählich sich +gesteigert von stillem Wunsch zu lauter Bitte, nur um, je bestimmter es +auftrat, desto entschiedener abgewiesen zu werden. Sehr bald konnte man +erkennen, daß eine gutwillige Gewährung nicht zu hoffen sei, und der +Wunsch, das Verweigerte zu ertrotzen, wird nicht gefehlt haben; allein +Roms damalige Stellung ließ den Gedanken, diesen Wunsch zur Tat zu +machen, kaum aufkommen. Obwohl das Zahlenverhältnis der Bürger und +Nichtbürger in Italien sich nicht gehörig ermitteln läßt, so kann es +doch als ausgemacht gelten, daß die Zahl der Bürger nicht sehr viel +geringer war als die der italischen Bundesgenossen und auf ungefähr +400000 waffenfähige Bürger mindestens 500000, wahrscheinlich 600000 +Bundesgenossen kamen ^1. Solange bei einem solchen Verhältnis die +Bürgerschaft einig und kein nennenswerter äußerer Feind vorhanden war, +konnte die in eine Unzahl einzelner Stadt- und Gaugemeinden +zersplitterte und durch tausendfache öffentliche und Privatverhältnisse +mit Rom verknüpfte italische Bundesgenossenschaft zu einem +gemeinschaftlichen Handeln nimmermehr gelangen und mit mäßiger Klugheit +es der Regierung nicht fehlen, die schwierigen und grollenden +Untertanenschaften teils durch die kompakte Masse der Bürgerschaft, +teils durch die sehr ansehnlichen Hilfsmittel, die die Provinzen +darboten, teils eine Gemeinde durch die andere zu beherrschen. Darum +verhielten die Italiker sich ruhig, bis die Revolution Rom zu +erschüttern begann; sowie aber diese ausgebrochen war, griffen auch sie +ein in das Treiben und Wogen der römischen Parteien, um durch die eine +oder die andere die Gleichberechtigung zu erlangen. Sie hatten +gemeinschaftliche Sache gemacht erst mit der Volks-, sodann mit der +Senatspartei und bei beiden gleich wenig erreicht. Sie hatten sich +überzeugen müssen, daß zwar die besten Männer beider Parteien die +Gerechtigkeit und Billigkeit ihrer Forderungen anerkannten, daß aber +diese besten Männer, Aristokraten wie Populare, gleich wenig +vermochten, bei der Masse ihrer Partei diesen Forderungen Gehör zu +verschaffen. Sie hatten es mitangesehen, wie die begabtesten, +energischsten, gefeiertsten Staatsmänner Roms in demselben Augenblick, +wo sie als Sachwalter der Italiker auftraten, sich von ihren eigenen +Anhängern verlassen gefunden hatten und deshalb gestürzt worden waren. +In all den Wechselfällen der dreißigjährigen Revolution und +Restauration waren Regierungen genug ein- und abgesetzt worden, aber +wie auch das Programm wandelbar sein mochte, die kurzsichtige +Engherzigkeit saß ewig am Steuer. Vor allem die neuesten Vorgänge +hatten es deutlich offenbart, wie vergeblich die Italiker die +Berücksichtigung ihrer Ansprüche von Rom erwarteten. Solange sich die +Begehren der Italiker mit denen der Revolutionspartei gemischt hatten +und bei dieser an dem Unverstand der Massen gescheitert waren, konnte +man sich noch dem Glauben überlassen, als sei die Oligarchie nur den +Antragstellern, nicht dem Antrag selbst feindlich gesinnt gewesen, als +sei noch eine Möglichkeit vorhanden, daß der intelligentere Staat die +mit dem Wesen der Oligarchie verträgliche und dem Senat heilsame +Maßregel seinerseits aufnehmen werde. Allein die letzten Jahre, in +denen der Senat wieder fast unumschränkt regierte, hatten über die +Absichten auch der römischen Oligarchie eine nur zu leidige Klarheit +verbreitet. Statt der gehofften Milderungen erging im Jahre 659 (95) +ein konsularisches Gesetz, das den Nichtbürgern aufs strengste +untersagte, des Bürgerrechts sich anzumaßen, und die Kontravenienten +mit Untersuchung und Strafe bedrohte - ein Gesetz, das eine große +Anzahl der angesehensten und bei der Gleichberechtigungsfrage am +meisten interessierten Personen aus den Reihen der Römer in die der +Italiker zurückwarf und das in seiner juristischen Unanfechtbarkeit und +staatsmännischen Wahnwitzigkeit vollkommen auf einer Linie steht mit +jener berühmten Akte, welche den Grund legte zur Trennung Nordamerikas +vom Mutterland, und denn auch ebenwie diese die nächste Ursache des +Bürgerkrieges ward. Es war nur um so schlimmer, daß die Urheber dieses +Gesetzes keineswegs zu den verstockten und unverbesserlichen Optimaten +gehörten, sondern keine anderen waren als der kluge und allgemein +verehrte, freilich, wie Georg Grenville, von der Natur zum +Rechtsgelehrten und vom Verhängnis zum Staatsmann bestimmte Quintus +Scaevola, welcher durch seine ebenso ehrenwerte als schädliche +Rechtlichkeit erst den Krieg zwischen Senat und Rittern und dann den +zwischen Römern und Italikern mehr als irgendein zweiter entzündet hat, +und der Redner Lucius Crassus, der Freund und Bundesgenosse des Drusus +und überhaupt einer der gemäßigtsten und einsichtigsten Optimaten. +Inmitten der heftigen Gärung, die dies Gesetz und die daraus +entstandenen zahlreichen Prozesse in ganz Italien hervorriefen, schien +den Italikern noch einmal der Stern der Hoffnung aufzugehen in Marcus +Drusus. Was fast unmöglich gedünkt hatte, daß ein Konservativer die +reformatorischen Gedanken der Gracchen aufnehmen und die +Gleichberechtigung der Italiker durchfechten werde, war nun dennoch +eingetreten; ein hocharistokratischer Mann hatte sich entschlossen, +zugleich die Italiker von der sizilischen Meerenge bis an die Alpen hin +und die Regierung zu emanzipieren und all seinen ernsten Eifer, all +seine zuverlässige Hingebung an diese hochherzigen Reformpläne zu +setzen. Ober wirklich, wie erzählt wird, sich an die Spitze eines +Geheimbundes gestellt hat, dessen Fäden durch ganz Italien liefen und +dessen Mitglieder sich eidlich 2 verpflichteten, zusammenzustehen für +Drusus und die gemeinschaftliche Sache, ist nicht auszumachen; aber +wenn er auch nicht zu so gefährlichen und in der Tat für einen +römischen Beamten unverantwortlichen Dingen die Hand geboten hat, so +ist es doch sicher nicht bei allgemeinen Verheißungen geblieben und +sind, wenngleich vielleicht ohne und gegen seinen Willen, auf seinen +Namen hin bedenkliche Verbindungen geknüpft worden. Jubelnd vernahm man +in Italien, daß Drusus unter Zustimmung der großen Mehrheit des Senats +seine ersten Anträge durchgesetzt habe; mit noch größerem Jubel +feierten alle Gemeinden Italiens nicht lange darauf die Genesung des +plötzlich schwer erkrankten Tribuns. Aber wie Drusus’ weitere Absichten +sich enthüllten, wechselten die Dinge; er konnte nicht wagen, das +Hauptgesetz einzubringen; er mußte verschieben, mußte zögern, mußte +bald zurückweichen. Man vernahm, daß die Majorität des Senats unsicher +werde und von ihrem Führer abzufallen drohe; in rascher Folge lief +durch die Gemeinden Italiens die Kunde, daß das durchgebrachte Gesetz +kassiert sei, daß die Kapitalisten unumschränkter schalteten als je, +daß der Tribun von Mörderhand getroffen, daß er tot sei (Herbst 663 +91). + +——————————————————————————- + +^1 Diese Ziffern sind den Zensuszahlen der Jahre 639 (115) und 684 (70) +entnommen; waffenfähige Bürger zählte man in jenem Jahr 394336, in +diesem 910000 (nach Phlegon fr. 13 Müller, welchen Satz Clinton und +dessen Ausschreiber fälschlich auf den Zensus von 668 (86) beziehen; +nach Liv. ep. 98 wurden - nach der richtigen Lesung - 900000 Köpfe +gezählt). Die einzige zwischen diesen beiden bekannte Zählungsziffer, +die des Zensus von 668 (86), der nach Hieronymus 463000 Köpfe ergab, +ist wohl nur deshalb so gering ausgefallen, weil er mitten in der Krise +der Revolution stattfand. Da ein Steigen der Bevölkerung Italiens in +der Zeit von 639 (115) bis 684 (70) nicht denkbar ist, und selbst die +Sullanischen Landanweisungen die Lücken, die der Krieg gerissen, +höchstens gedeckt haben können, so darf der Überschuß von reichlich +500000 Waffenfähigen mit Sicherheit auf die inzwischen erfolgte +Aufnahme der Bundesgenossen zurückgeführt werden. Indes ist es möglich +und sogar wahrscheinlich, daß in diesen verhängnisvollen Jahren der +Gesamtstand der italischen Bevölkerung vielmehr zurückging; rechnet man +das Gesamtdefizit auf 100000 Waffenfähige, was nicht übertrieben +erscheint, so kommen für die Zeit des Bundesgenossenkrieges in Italien +auf zwei Bürger drei Nichtbürger. + +2 Die Eidesformel ist erhalten (bei Diod. Vat. p. 128); sie lautet: +“Ich schwöre bei dem Kapitolinischen Jupiter und bei der römischen +Vesta und bei dem angestammten Mars und bei der zeugenden Sonne und bei +der nährenden Erde und bei den göttlichen Gründern und Mehrern (den +Penaten) der Stadt Rom, daß mir Freund sein soll und Feind sein soll, +wer Freund und Feind ist dem Drusus; ingleichen daß ich weder meines +eigenen noch des Lebens meiner Kinder und meiner Eltern schonen will, +außer insoweit es dem Drusus frommt und den Genossen dieses Eides. Wenn +ich aber Bürger werden sollte durch das Gesetz des Drusus, so will ich +Rom achten als meine Heimat und Drusus als den größten meiner +Wohltäter. Diesen Eid will ich abnehmen so vielen meiner Mitbürger, als +ich vermag; und schwöre ich recht, so gehe es mir wohl, schwöre ich +falsch, so gehe es mir übel!” + +Indes wird man Wohltun, diesen Bericht mit Vorsicht zu benutzen; er +rührt entweder her aus den gegen Drusus von Philippus gehaltenen Reden +(worauf die sinnlose, von dem Auszugmacher der Eidesformel vorgesetzte +Überschrift ‘Eid des Philippus’ zu führen scheint) oder im besten Fall +aus den später über diese Verschwörung in Rom aufgenommenen +Kriminalprozeßakten; und auch bei der letzteren Annahme bleibt es +fraglich, ob diese Eidesformel aus den Inkulpaten heraus- oder in sie +hineininquiriert ward. + +———————————————————- + +Die letzte Hoffnung, durch Vertrag die Aufnahme in den römischen +Bürgerverband zu erlangen, ward den Italikern mit Marcus Drusus zu +Grabe getragen. Wozu dieser konservative und energische Mann unter den +günstigsten Verhältnissen seine eigene Partei nicht hatte bestimmen +können, dazu war überhaupt auf dem Wege der Güte nicht zu gelangen. Den +Italikern blieb nur die Wahl, entweder geduldig sich zu fügen oder den +Versuch, der vor fünfunddreißig Jahren durch die Zerstörung von +Fregellae im Keim erstickt worden war, noch einmal und womöglich mit +gesamter Hand zu wiederholen und mit den Waffen sei es Rom zu +vernichten und zu beerben, sei es wenigstens die Gleichberechtigung mit +Rom zu erzwingen. Es war dieser letztere Entschluß freilich ein +Entschluß der Verzweiflung; wie die Sachen lagen, mochte die Auflehnung +der einzelnen Stadtgemeinden gegen die römische Regierung gar leicht +noch hoffnungsloser erscheinen als der Aufstand der amerikanischen +Pflanzstädte gegen das Britische Imperium; allem Anschein nach konnte +die römische Regierung mit mäßiger Aufmerksamkeit und Tatkraft dieser +zweiten Schilderhebung das Schicksal der früheren bereiten. Allein war +es etwa minder ein Entschluß der Verzweiflung, wenn man stillsaß und +die Dinge über sich kommen ließ? Wenn man sich erinnerte, wie die Römer +ungereizt in Italien zu hausen gewohnt waren, was war jetzt zu +erwarten, wo die angesehensten Männer in jeder italischen Stadt mit +Drusus in einem Einverständnis gestanden hatten oder haben sollten - +beides war hinsichtlich der Folgen ziemlich dasselbe -, das geradezu +gegen die jetzt siegreiche Partei gerichtet und füglich als Hochverrat +zu qualifizieren war? Allen denen, die an diesem Geheimbund teilgehabt, +ja allen, die nur der Teilhaberschaft verdächtigt werden konnten, blieb +keine andere Wahl, als den Krieg zu beginnen oder ihren Nacken unter +das Henkerbeil zu beugen. Es kam hinzu, daß für eine allgemeine +Schilderhebung durch ganz Italien der gegenwärtige Augenblick noch +verhältnismäßig günstige Aussichten darbot. Wir sind nicht genau +darüber unterrichtet, inwieweit die Römer die Sprengung der größeren +italischen Eidgenossenschaften durchgeführt hatten; es ist indes nicht +unwahrscheinlich, daß die Marser, die Paeligner, vielleicht sogar die +Samniten und Lucaner damals noch in ihrer alten, wenn auch politisch +bedeutungslos gewordenen, zum Teil wohl auf bloße Fest- und +Opfergemeinschaft zurückgeführten Gemeindebünden zusammenstanden. Immer +fand die beginnende Insurrektion jetzt noch an diesen Verbänden einen +Stützpunkt; wer aber konnte sagen, wie bald die Römer ebendarum dazu +schreiten würden, auch sie zu beseitigen? Der Geheimbund ferner, an +dessen Spitze Drusus gestanden haben sollte, hatte sein wirkliches oder +gehofftes Haupt an ihm verloren, aber er selber bestand und gewährte +für die politische Organisation des Aufstandes einen wichtigen Anhalt, +während die militärische daran anknüpfen konnte, daß jede Bundesstadt +ihr eigenes Heerwesen und erprobte Soldaten besaß. Andrerseits war man +in Rom auf nichts ernstlich gefaßt. Man vernahm wohl davon, daß +unruhige Bewegungen in Italien stattfänden und die bundesgenössischen +Gemeinden miteinander einen auffallenden Verkehr unterhielten; aber +statt schleunigst die Bürger unter die Waffen zu rufen, begnügte das +regierende Kollegium sich damit, in herkömmlicher Art die Beamten zur +Wachsamkeit zu ermahnen und Spione auszusenden, um etwas Genaueres zu +erfahren. Die Hauptstadt war so völlig unverteidigt, daß ein +entschlossener marsischer Offizier Quintus Pompaedius Silo, einer von +den vertrautesten Freunden des Drusus, den Plan entworfen haben soll, +an der Spitze einer Schar zuverlässiger, unter den Gewändern Schwerter +führender Männer sich in dieselbe einzuschleichen und sich ihrer durch +einen Handstreich zu bemächtigen. Ein Aufstand bereitete also sich vor; +Verträge wurden geschlossen, die Rüstungen still und tätig betrieben, +bis endlich, wie gewöhnlich noch etwas früher, als die leitenden Männer +beabsichtigt hatten, durch einen Zufall die Insurrektion zum Ausbruch +kam. Der römische Prätor mit prokonsularischer Gewalt Gaius Servilius, +durch seine Kundschafter davon benachrichtigt, daß die Stadt Asculum +(Ascoli) in den Abruzzen an die Nachbargemeinden Geiseln sende, begab +sich mit seinem Legaten Fonteius und wenigem Gefolge dorthin und +richtete an die eben zur Feier der großen Spiele im Theater versammelte +Menge eine donnernde Drohrede. Der Anblick der nur zu bekannten Beile, +die Verkündigung der nur zu ernst gemeinten Drohungen warf den Funken +in den seit Jahrhunderten aufgehäuften Zunder des erbitterten Hasses; +die römischen Beamten wurden im Theater selbst von der Menge zerrissen +und sofort, gleich als gelte es, durch einen furchtbaren Frevel jede +Brücke der Versöhnung abzubrechen, die Tore auf Befehl der Obrigkeit +geschlossen, die sämtlichen in Asculum verweilenden Römer niedergemacht +und ihre Habe geplündert. Wie die Flamme durch die Steppe lief die +Empörung durch die Halbinsel. Voran ging das tapfere und zahlreiche +Volk der Marser in Verbindung mit den kleinen, aber kernigen +Eidgenossenschaften in den Abruzzen, den Paelignern, Marrucinern, +Frentanern und Vestinern; der schon genannte tapfere und kluge Quintus +Silo war hier die Seele der Bewegung. Von den Marsern wurde zuerst den +Römern förmlich abgesagt, wonach späterhin dem Krieg der Name des +marsischen blieb. Dem gegebenen Beispiel folgten die samnitischen und +überhaupt die Masse der Gemeinden vom Liris und den Abruzzen bis hinab +nach Kalabrien und Apulien, so daß bald in ganz Mittel- und Süditalien +gegen Rom gerüstet ward. Die Etrusker und Umbrer dagegen hielten zu +Rom, wie sie bereits früher mit den Rittern zusammengehalten hatten +gegen Drusus. Es ist bezeichnend, daß in diesen Landschaften seit alten +Zeiten die Grund- und Geldaristokratie übermächtig und der Mittelstand +gänzlich verschwunden war, wogegen in und an den Abruzzen der +Bauernstand sich reiner und frischer bewahrt hatte als irgendwo sonst +in Italien; der Bauern- und überhaupt der Mittelstand also war es, aus +dem der Aufstand wesentlich hervorging, wogegen die munizipale +Aristokratie auch jetzt noch Hand in Hand ging mit der hauptsächlichen +Regierung. Danach ist es auch leicht erklärlich, daß in den +aufständischen Distrikten einzelne Gemeinden und in den aufständischen +Gemeinden Minoritäten festhielten an dem römischen Bündnis; wie zum +Beispiel die Vestinerstadt Pinna für Rom eine schwere Belagerung +aushielt und ein im Hirpinerland gebildetes Loyalistenkorps unter +Minatus Magius von Aeclanum die römischen Operationen in Kampanien +unterstützte. Endlich hielten fest an Rom die am besten gestellten +bundesgenössischen Gemeinden, in Kampanien, Nola und Nuceria, und die +griechischen Seestädte Neapolis und Rhegion, desgleichen wenigstens die +meisten latinischen Kolonien, wie zum Beispiel Alba und Aesernia - +ebenwie im Hannibalischen Kriege die latinischen und die griechischen +Städte im ganzen für die sabellischen gegen Rom Partei genommen hatten. +Die Vorfahren hatten Italiens Beherrschung auf die aristokratische +Gliederung gegründet und mit geschickter Abstufung der Abhängigkeiten +die schlechter gestellten Gemeinden durch die besseren Rechts, +innerhalb jeder Gemeinde aber die Bürgerschaft durch die +Munizipalaristokratie in Untertänigkeit gehalten. Erst jetzt, unter dem +unvergleichlich schlechten Regiment der Oligarchie, erprobte es sich +vollständig, wie fest und gewaltig die Staatsmänner des vierten und +fünften Jahrhunderts ihre Werksteine ineinandergefügt hatten; auch +diese Sturmflut hielt der vielfach erschütterte Bau noch aus. Freilich +war damit, daß die besser gestellten Städte nicht auf den ersten Stoß +von Rom ließen, noch keineswegs gesagt, daß sie auch jetzt, wie im +Hannibalischen Kriege, auf die Länge und nach schweren Niederlagen +ausdauern würden, ohne in ihrer Treue gegen Rom zu schwanken; die +Feuerprobe war noch nicht überstanden. + +Das erste Blut war also geflossen und Italien in zwei große Heerlager +auseinandergetreten. Zwar fehlte, wie wir sahen, noch gar viel an einer +allgemeinen Schilderhebung der italischen Bundesgenossenschaft; dennoch +hatte die Insurrektion schon eine vielleicht die Hoffnungen der Führer +selbst übertreffende Ausdehnung gewonnen, und die Insurgenten konnten +ohne Übermut daran denken, der römischen Regierung ein billiges +Abkommen anzubieten. Sie sandten Boten nach Rom und machten sich +anheischig, gegen Aufnahme in den Bürgerverband die Waffen +niederzulegen; es war vergebens. Der Gemeinsinn, der so lange in Rom +vermißt worden war, schien plötzlich wiedergekehrt zu sein, nun es sich +darum handelte, einem gerechten und jetzt auch mit ansehnlicher Macht +unterstützten Begehren der Untertanen mit starrer Borniertheit in den +Weg zu treten. Die nächste Folge der italischen Insurrektion war, +ähnlich wie nach den Niederlagen, die die Regierungspolitik in Afrika +und Gallien erlitten hatte, die Eröffnung eines Prozeßkrieges, mittels +dessen die Richteraristokratie Rache nahm an denjenigen Männern der +Regierung, in denen man, mit Recht oder Unrecht, die nächste Ursache +dieses Unheils sah. Auf den Antrag des Tribuns Quintus Varius ward +trotz des Widerstandes der Optimaten und trotz der tribunizischen +Interzession eine besondere Hochverratskommission, natürlich aus dem +mit offener Gewalt für diesen Antrag kämpfenden Ritterstand, +niedergesetzt zur Untersuchung der von Drusus angezettelten und, wie in +Italien so auch in Rom, weitverzweigten Verschwörung, aus der die +Insurrektion hervorgegangen war und die jetzt, da halb Italien in +Waffen stand, der gesamten erbitterten und erschreckten Bürgerschaft +als unzweifelhafter Landesverrat erschien. Die Urteile dieser +Kommission räumten stark auf in den Reihen der senatorischen +Vermittlungspartei; unter andern namhaften Männern ward Drusus’ genauer +Freund, der junge talentvolle Gaius Cotta, in die Verbannung gesandt, +und mit Not entging der greise Marcus Scaurus dem gleichen Schicksal. +Der Verdacht gegen die den Reformen des Drusus geneigten Senatoren ging +soweit, daß bald nachher der Konsul Lupus aus dem Lager an den Senat +berichtete über die Verbindungen, die zwischen den Optimaten in seinem +Lager und dem Feinde beständig unterhalten würden; ein Verdacht, der +sich freilich bald durch das Aufgreifen marsischer Spione als +unbegründet auswies. Insofern konnte der König Mithradates nicht mit +Unrecht sagen, daß der Hader der Faktionen ärger als der +Bundesgenossenkrieg selbst den römischen Staat zerrüttete. Zunächst +indes stellte der Ausbruch der Insurrektion und der Terrorismus, den +die Hochverratskommission übte, wenigstens einen Schein her von +Einigkeit und Kraft. Die Parteifehden schwiegen; die fähigen Offiziere +aller Farben, Demokraten wie Gaius Marius, Aristokraten wie Lucius +Sulla, Freunde des Drusus wie Publius Sulpicius Rufus, stellten sich +der Regierung zur Verfügung; die Getreideverteilungen wurden, wie es +scheint, um diese Zeit durch Volksbeschluß wesentlich beschränkt, um +die finanziellen Kräfte des Staates für den Krieg zusammenzuhalten, was +um so notwendiger wir, als bei der drohenden Stellung des Königs +Mithradates die Provinz Asia jeden Augenblick in Feindeshand geraten +und damit eine der Hauptquellen des römischen Schatzes versiegen +konnte; die Gerichte stellten mit Ausnahme der Hochverratskommission +nach Beschluß des Senats vorläufig ihre Tätigkeit ein; alle Geschäfte +stockten und man dachte an nichts als an Aushebung von Soldaten und +Anfertigung von Waffen. + +Während also der führende Staat in Voraussicht des bevorstehenden +schweren Krieges sich straffer zusammennahm, hatten die Insurgenten die +schwierigere Aufgabe zu lösen, sich während des Kampfes politisch zu +organisieren. In dem inmitten der marsischen, samnitischen, +marrucinischen und vestinischen Gaue, also im Herzen der insurgierten +Landschaften belegenen Gebiete der Päligner, in der schönen Ebene an +dem Pescarafluß ward die Stadt Corfinium auserlesen zum Gegen-Rom oder +zur Stadt Italia, deren Bürgerrecht den Bürgern sämtlicher insurgierter +Gemeinden erteilt ward; hier wurden in entsprechender Größe Markt und +Rathaus abgesteckt. Ein Senat von fünfhundert Mitgliedern erhielt den +Auftrag, die Verfassung festzustellen, und die Oberleitung des +Kriegswesens. Nach seiner Anordnung erlas die Bürgerschaft aus den +Männern senatorischen Ranges zwei Konsuln und zwölf Prätoren, die +ebenwie Roms zwei Konsuln und sechs Prätoren die höchste Amtsgewalt in +Krieg und Frieden .übernahmen. Die lateinische Sprache, die damals +schon bei den Marsern und Picentern die landübliche war, blieb in +offiziellem Gebrauch, aber es trat ihr die samnitische als die im +südlichen Italien vorherrschende gleichberechtigt zur Seite und beider +bediente man sich abwechselnd auf den Silbermünzen, die man nach +römischen Mustern und nach römischem Fuß auf den Namen des neuen +italischen Staates zu schlagen anfing, also das seit zwei Jahrhunderten +von Rom ausgeübte Münzmonopol ebenfalls ihm aneignend. Es geht aus +diesen Bestimmungen hervor, was sich freilich schon von selbst +versteht, daß die Italiker jetzt nicht mehr sich Gleichberechtigung von +den Römern zu erstreiten, sondern diese zu vernichten oder zu +unterwerfen und einen neuen Staat zu bilden gedachten. Aber es geht +daraus auch hervor, daß ihre Verfassung nichts war als ein reiner +Abklatsch der römischen oder, was dasselbe ist, die altgewohnte, bei +den italischen Nationen seit undenklicher Zeit hergebrachte Politik: +eine Stadtordnung statt einer Staatskonstitution, mit Urversammlungen +von gleicher Unbehilflichkeit und Nichtigkeit, wie die römischen +Komitien es waren, mit einem regierenden Kollegium, das dieselben +Elemente der Oligarchie in sich trug wie der römische Senat, mit einer +in gleicher Art durch eine Vielzahl konkurrierender höchster Beamten +ausgeübten Exekutive - es geht diese Nachbildung bis in das kleinste +Detail hinab, wie zum Beispiel der Konsul- oder Prätortitel des +höchstkommandierenden Magistrats auch von den Feldherren der Italiker +nach einem Siege vertauscht wird mit dem Titel Imperator. Es ändert +sich eben nichts als der Name, ganz wie auf den Münzen der Insurgenten +dasselbe Götterbild erscheint und nur die Beschrift nicht Roma, sondern +Italia lautet. Nur darin unterscheidet, nicht zu seinem Vorteil, sich +dies Insurgenten-Rom von dem ursprünglichen, daß das letztere denn doch +eine städtische Entwicklung gehabt und seine unnatürliche +Zwischenstellung zwischen Stadt und Staat wenigstens auf natürlichem +Wege sich gebildet hatte, wogegen das neue Italia gar nichts war als +der Kongreßplatz der Insurgenten und durch eine reine Legalfiktion die +Bewohner der Halbinsel zu Bürgern dieser neuen Hauptstadt gestempelt +wurden. Bezeichnend aber ist es, daß hier, wo die plötzliche +Verschmelzung einer Anzahl einzelner Gemeinden zu einer neuen +politischen Einheit den Gedanken einer Repräsentativverfassung im +modernen Sinn so nahelegte, doch von einer solchen keine Spur, ja das +Gegenteil sich zeigt 3 und nur die kommunale Organisation in einer noch +widersinnigeren Weise als bisher reproduziert wird. Vielleicht nirgends +zeigt es sich so deutlich wie hier, daß dem Altertum die freie +Verfassung unzertrennlich ist von dem Auftreten des souveränen Volkes +in eigener Person in den Urversammlungen oder von der Stadt, und daß +der große Grundgedanke des heutigen republikanisch-konstitutionellen +Staates: die Volkssouveränität auszudrücken durch eine +Repräsentantenversammlung, dieser Gedanke, ohne den der freie Staat ein +Unding wäre, ganz und vollkommen modern ist. Selbst die italische +Staatenbildung, obwohl sie in den gewissermaßen repräsentativen Senaten +und in dem Zurücktreten der Komitien dem freien Staat der Neuzeit sich +nähert, hat doch weder als Rom noch als Italia jemals die Grenzlinie zu +überschreiten vermocht. + +—————————————————————————- + +3 Selbst aus unserer dürftigen Kunde, worunter Diodor (p. 538) und +Strabon (5, 4, 2) noch das Beste geben, erhellt dies sehr bestimmt; wie +denn zum Beispiel der letztere ausdrücklich sagt, daß die Bürgerschaft +die Beamten wählte. Daß der Senat von Italia in anderer Weise gebildet +werden und andere Kompetenz haben sollte als der römische, ist wohl +behauptet, aber nicht bewiesen worden. Man wird bei der ersten +Zusammensetzung natürlich für eine einigermaßen gleichmäßige Vertretung +der insurgierten Städte gesorgt haben; allein daß die Senatoren von +Rechts wegen von den Gemeinden deputiert werden sollten, ist nirgends +überliefert. Ebensowenig schließt der Auftrag an den Senat, die +Verfassung zu entwerfen, die Promulgation durch den Beamten und die +Ratifikation durch die Volksversammlung aus. + +————————————————————————- + +So begann wenige Monate nach Drusus’ Tode im Winter 663/64 (91/90) der +Kampf, wie eine der Insurgentenmünzen ihn darstellt, des sabellinischen +Stiers gegen die römische Wölfin. Beiderseits rüstete man eifrig; in +Italia wurden große Vorräte an Waffen, Zufuhr und Geld aufgehäuft; in +Rom bezog man aus den Provinzen, namentlich aus Sizilien, die +erforderlichen Vorräte und setzte für alle Fälle die lange +vernachlässigten Mauern in Verteidigungszustand. Die Streitkräfte waren +einigermaßen gleich gewogen. Die Römer füllten die Lücken in den +italischen Kontingenten teils durch gesteigerte Aushebung aus der +Bürgerschaft und aus den schon fast ganz romanisierten Bewohnern der +Keltenlandschaften diesseits der Alpen, von denen allein bei der +kampanischen Armee 10000 dienten 4, teils durch die Zuzüge der Numidier +und anderer überseeischer Nationen, und brachten mit Hilfe der +griechischen und kleinasiatischen Freistädte eine Kriegsflotte zusammen +5. Beiderseits wurden, ohne die Besatzungen zu rechnen, bis 100000 +Soldaten mobil gemacht 6 und an Tüchtigkeit der Mannschaft, an +Kriegstaktik und Bewaffnung standen die Italiker hinter den Römern in +nichts zurück. Die Führung des Krieges war für die Insurgenten wie für +die Römer deswegen sehr schwierig, weil das aufständische Gebiet sehr +ausgedehnt und eine große Zahl zu Rom haltender Festungen in demselben +zerstreut war; so daß einerseits die Insurgenten sich genötigt sahen, +einen sehr zersplitternden und zeitraubenden Festungskrieg mit einer +ausgedehnten Grenzdeckung zu verbinden, andrerseits die Römer nicht +wohl anders konnten, als die nirgends recht zentralisierte Insurrektion +in allen insurgierten Landschaften zu bekämpfen. Militärisch zerfiel +das insurgierte Land in zwei Hälften: in der nördlichen, die von +Picenum und den Abruzzen bis an die kampanische Nordgrenze reichte und +die lateinisch redenden Distrikte umfaßte, übernahmen italischerseits +der Marser Quintus Silo, römischerseits Publius Rutilius Lupus, beide +als Konsuln, den Oberbefehl; in der südlichen, welche Kampanien, +Samnium und überhaupt die sabellisch redenden Landschaften in sich +schloß, befehligte als Konsul der Insurgenten der Samnite Gaius Papius +Mutilus, als römischer Konsul Lucius Iulius Caesar. Jedem der beiden +Oberfeldherrn standen auf italischer Seite sechs, auf römischer fünf +Unterbefehlshaber zur Seite, so daß ein jeder von diesen in einem +bestimmten Bezirk den Angriff und die Verteidigung leitete, die +konsularischen Heere aber die Bestimmung hatten, freier zu agieren und +die Entscheidung zu bringen. Die angesehensten römischen Offiziere, wie +zum Beispiel Gaius Marius, Quintus Catulus und die beiden im Spanischen +Krieg erprobten Konsulare Titus Didius und Publius Crassus, stellten +für diese Posten den Konsuln sich zur Verfügung; und wenn man auf +Seiten der Italiker nicht so gefeierte Namen entgegenzustellen hatte, +so bewies doch der Erfolg, daß ihre Führer den römischen militärisch in +nichts nachstanden. + +—————————————————————————- + +4 Die Schleuderbleie von Asculum beweisen, daß auch im Heere des Strabo +die Gallier sehr zahlreich waren. + +5 Wir haben noch einen römischen Senatsbeschluß vom 22. Mai 676 (78), +welcher dreien griechischen Schiffskapitänen von Karystos, Klazomenä +und Miletos für die seit dem Beginn des Italischen Krieges (664 90) +geleisteten treuen Dienste bei ihrer Entlassung Ehren und Vorteile +zuerkennt. Gleichartig ist die Nachricht Memnons, daß von Herakleia am +Schwarzen Meer für den Italischen Krieg zwei Trieren aufgeboten und +dieselben im elften Jahre mit reichen Ehrengaben heimgekehrt seien. + +6 Daß diese Angaben Appians nicht übertrieben ist, beweisen die +Schleuderbleie von Asculum, die unter anderen die fünfzehnte Legion +nennen. + +—————————————————————————— + +Die Offensive in diesem durchaus dezentralisierten Krieg war im ganzen +auf seiten der Römer, tritt aber auch hier nirgends mit Entschiedenheit +auf. Es fällt auf, daß weder die Römer ihre Truppen zusammennahmen, um +einen überlegenen Angriff gegen die Insurgenten auszuführen, noch die +Insurgenten den Versuch machten, in Latium einzurücken und sich auf die +feindliche Hauptstadt zu werfen; wir sind indes mit den beiderseitigen +Verhältnissen zu wenig bekannt; um zu beurteilen, ob und wie man anders +hätte handeln können und inwieweit die Schlaffheit der römischen +Regierung einer- und die lose Verbindung der föderierten Gemeinden +andrerseits zu diesem Mangel an Einheit in der Kriegführung beigetragen +haben. Es ist begreiflich, daß bei diesem System es wohl zu Siegen und +Niederlagen kam, aber sehr lange nicht zu einer endgültigen Erledigung; +nicht minder aber auch, saß von einem solchen Krieg, der in eine Reihe +von Gefechten einzelner gleichzeitig, bald gesondert, bald kombiniert +operierender Korps sich auflöste, aus unserer beispiellos trümmerhaften +Überlieferung ein anschauliches Bild sich nicht herstellen läßt. + +Der erste Sturm traf selbstverständlich die in den insurgierten +Landschaften zu Rom haltenden Festungen, die schleunigst ihre Tore +schlossen und die bewegliche Habe vom Lande hereinschafften. Silo warf +sich auf die Zwingburg der Marser, das feste Alba, Mutilus auf die im +Herzen Samniums angelegte Latinerstadt Aesernia: dort wie hier trafen +sie auf den entschlossensten Widerstand. Ähnliche Kämpfe mögen im +Norden um Firmum, Hatria, Pinna, im Süden um Luceria, Benevent, Nola, +Paestum getobt haben, bevor und während die römischen Heere sich an den +Grenzen der insurgierten Landschaft aufstellten. Nachdem die Südarmee +unter Caesar in der größtenteils noch zu Rom haltenden kampanischen +Landschaft sich im Frühjahr 664 (90) gesammelt und Capua mit seinem für +die Finanzen Roms so wichtigen Domanialgebiet sowie die bedeutenderen +Bundesstädte mit Besatzung versehen hatte, versuchte sie zur Offensive +überzugehen und den kleineren, nach Samnium und Lucanien unter Marcus +Marcellus und Publius Crassus vorausgesandten Abteilungen zu Hilfe zu +kommen. Allein Caesar ward von den Samniten und den Marsern unter +Publius Vettius Scato mit starkem Verlust zurückgewiesen, und die +wichtige Stadt Venafrum trat hierauf über zu den Insurgenten, denen sie +die römische Besatzung in die Hände lieferte. Durch den Abfall dieser +Stadt, die auf der Heerstraße von Kampanien nach Samnium lag, war +Aesernia abgeschnitten, und die bereits hart angegriffene Festung sah +sich jetzt ausschließlich auf den Mut und die Ausdauer ihrer +Verteidiger und ihres Kommandanten Marcellus angewiesen. Zwar machte +ein Streifzug, den Sulla mit derselben kühnen Verschlagenheit wie vor +Jahren den Zug zu Bocchus glücklich zu Ende führte, den bedrängten +Aeserninern für einen Augenblick Luft; allein dennoch wurden sie nach +hartnäckiger Gegenwehr gegen Ende des Jahres durch die äußerste +Hungersnot gezwungen zu kapitulieren. Auch in Lucanien ward Publius +Crassus von Marcus Lamponius geschlagen und genötigt, sich in Grumentum +einzuschließen, das nach langer und harter Belagerung fiel. Apulien und +die südlichen Landschaften hatte man ohnehin gänzlich sich selbst +überlassen müssen. Die Insurrektion griff um sich; wie Mutilus an der +Spitze der samnitischen Armee in Kampanien einrückte, übergab die +Bürgerschaft von Nola ihm ihre Stadt und lieferte die römische +Besatzung aus, deren Befehlshaber auf Mutilus’ Befehl hingerichtet, die +Mannschaft in die siegreiche Armee untergesteckt ward. Mit einziger +Ausnahme von Nuceria, das fest an Rom hielt, ging ganz Kampanien bis +zum Vesuv den Römern verloren; Salernum, Stabiae, Pompeii, Herculaneum +erklärten sich für die Insurgenten; Mutilus konnte in das Gebiet +nördlich vom Vesuv vorrücken und mit seiner samnitisch-lucanischen +Armee Acerrae belagern. Die Numidier, die in großer Zahl bei Caesars +Armee standen, fingen an, scharenweise zu Mutilus überzugehen oder +vielmehr zu Oxyntas, dem Sohne Jugurthas, der bei der Übergabe von +Venusia den Samniten in die Hände gefallen war und nun im königlichen +Purpur in den Reihen der Samniten erschien, so daß Caesar sich genötigt +sah, das ganze afrikanische Korps in die Heimat zurückzuschicken. +Mutilus wagte sogar einen Sturm auf das römische Lager; allein er ward +abgeschlagen, und die Samniten, denen bei dem Abzug die römische +Reiterei in den Rücken gefallen war, ließen bei 6000 Tote auf dem +Schlachtfeld. Es war der erste namhafte Erfolg, den in diesem Kriege +die Römer errangen; das Heer rief den Feldherrn zum Imperator aus, und +in der Hauptstadt fing der tief gesunkene Mut wieder an sich zu heben. +Zwar ward nicht lange darauf die siegreiche Armee bei einem +Flußübergang von Marius Egnatius angegriffen und so nachdrücklich +geschlagen, daß sie bis Teanum zurückweichen und dort wieder +organisiert werden mußte; indes gelang es den Anstrengungen des tätigen +Konsuls, sein Heer noch vor Einbruch des Winters wieder in +kriegsfähigen Zustand zu setzen und seine alte Stellung wieder +einzunehmen unter den Mauern von Acerrae, das die samnitische +Hauptarmee unter Mutilus fortfuhr zu belagern. + +Gleichzeitig hatten die Operationen auch in Mittelitalien begonnen, wo +der Aufstand von den Abruzzen und der Landschaft am Fuciner See aus in +gefährlicher Nähe die Hauptstadt bedrohte. Ein selbständiges Korps +unter Gnaeus Pompeius Strabo ward ins Picenische gesandt, um, auf +Firmum und Falerio gestützt, Asculum zu bedrohen; die Hauptmasse +dagegen der römischen Nordarmee stellte unter dem Konsul Lupus sich auf +an der Grenze des latinischen und des marsischen Gebietes, wo an der +Valerischen und der Salarischen Chaussee der Feind der Hauptstadt am +nächsten stand; der kleine Fluß Tolenus (Turano), der zwischen Tibur +und Alba die Valerische Straße schneidet und bei Rieti in den Velino +fällt, schied die beiden Heere. Ungeduldig drängte der Konsul Lupus zur +Entscheidung und überhörte den unbequemen Rat des Marius, die des +Dienstes ungewohnte Mannschaft erst im kleinen Krieg zu üben. Zunächst +ward ihm die 10000 Mann starke Abteilung des Gaius Perpenna vollständig +geschlagen. Der Oberfeldherr entsetzte den geschlagenen General seines +Kommandos und vereinigte den Rest des Korps mit dem unter Marius’ +Befehl stehenden, ließ sich aber dadurch nicht abhalten, die Offensive +zu ergreifen und in zwei teils von ihm selbst, teils von Marius +geführten Abteilungen auf zwei nicht weit voneinander geschlagenen +Brücken den Tolenus zu überschreiten. Ihnen gegenüber stand Publius +Scato mit den Marsern; er hatte sein Lager an der Stelle geschlagen, wo +Marius den Bach überschritt, allein ehe der Übergang stattfand, sich +mit Hinterlassung der bloßen Lagerposten von dort weggezogen und weiter +flußaufwärts eine verdeckte Stellung genommen, in welcher er das +römische Korps unter Lupus unvermutet während des Übergehens angriff +und es teils niedermachte, teils in den Fluß sprengte (11. Juni 664 +90). Der Konsul selbst und 8000 der Seinen blieben. Es konnte kaum ein +Ersatz heißen, daß Marius, Scatos Abmarsch endlich gewahrend, über den +Fluß gegangen war und nicht ohne Verlust der Feinde deren Lager besetzt +hatte. Doch zwang dieser Flußübergang und gleichzeitig von dem +Feldherrn Servius Sulpicius über die Paeligner erfochtener Sieg die +Marser, ihre Verteidigungslinie etwas zurückzunehmen, und Marius, +welcher nach Beschluß des Senats als Höchstkommandierender an Lupus’ +Stelle trat, verhinderte wenigstens, daß der Feind weitere Erfolge +errang. Allein Quintus Caepio, der bald darauf ihm gleichberechtigt zur +Seite gesetzt ward, weniger wegen eines glücklich von ihm bestandenen +Gefechtes, als weil er den damals in Rom tonangebenden Rittern durch +seine heftige Opposition gegen Drusus sich empfohlen hatte, ließ sich +von Silo durch die Vorspiegelung, ihm sein Heer verraten zu wollen, in +einen Hinterhalt locken und ward mit einem großen Teil seiner +Mannschaft von den Marsern und Vestinern zusammengehauen. Marius, nach +Caepios Fall wiederum alleiniger Oberbefehlshaber, hinderte durch +seinen zähen Widerstand den Gegner, die errungenen Vorteile zu +benutzen, und drang allmählich tief in das marsische Gebiet ein. Die +Schlacht versagte er lange; als er endlich sie lieferte, überwand er +seinen stürmischen Gegner, der unter anderen Toten den Hauptmann der +Marruciner Herius Asinius auf der Walstatt zurückließ. In einem zweiten +Treffen wirkten Marius’ Heer und das zur Südarmee gehörige Korps des +Sulla zusammen, um den Marsern eine noch empfindlichere Niederlage +beizubringen, die ihnen 6000 Mann kostete; die Ehre dieses Tages aber +blieb dem jüngeren Offizier, denn Marius hatte zwar die Schlacht +geliefert und gewonnen, aber Sulla den Flüchtigen den Rückzug verlegt +und sie aufgerieben. + +Während also am Fuciner See heftig und mit wechselndem Erfolg gefochten +ward, hatte auch das picenische Korps unter Strabo unglücklich und +glücklich gestritten. Die Insurgentenchefs Gaius Iudacilius aus +Asculum, Publius Vettius Scato und Titus Lafrenius hatten mit vereinten +Kräften dasselbe angegriffen, es geschlagen und gezwungen, sich nach +Firmum zu werfen, wo Lafrenius den Strabo belagert hielt, während +Iudacilius in Apulien einrückte und Canusium, Venusia und die sonstigen +dort noch zu Rom haltenden Städte zum Anschluß an die Aufständischen +bestimmte. Allein auf der römischen Seite bekam Servius Sulpicius durch +seinen Sieg über die Paeligner freie Hand, um in Picenum einzurücken +und Strabo Hilfe zu bringen. Lafrenius ward, während von vorn Strabo +ihn angriff, von Sulpicius in den Rücken gefaßt und sein Lager in Brand +gesteckt; er selber fiel, der Rest seiner Truppen warf sich in +aufgelöster Flucht nach Asculum. So vollständig hatte im Picenischen +die Lage der Dinge sich geändert, daß wie vorher die Römer auf Firmum, +so jetzt die Italiker auf Asculum sich beschränkt sahen und der Krieg +also sich abermals in eine Belagerung verwandelte. + +Endlich war im Laufe des Jahres zu den beiden schwierigen und +vielgeteilten Kriegen im südlichen und mittleren Italien noch ein +dritter in der nördlichen Landschaft gekommen, indem die für Rom so +gefährliche Lage der Dinge nach den ersten Kriegsmonaten einen großen +Teil der umbrischen und einzelne etruskische Gemeinden veranlaßt hatte, +sich für die Insurrektion zu erklären, so daß es nötig geworden war, +gegen die Umbrer den Aulus Plotius, gegen die Etrusker den Lucius +Porcius Cato zu entsenden. Hier indes stießen die Römer auf einen weit +minder energischen Widerstand als im marsischen und samnitischen Land +und behaupteten das entschiedenste Übergewicht im Felde. + +So ging das schwere erste Kriegsjahr zu Ende, militärisch wie politisch +trübe Erinnerungen und bedenkliche Aussichten hinterlassend. +Militärisch waren beide Armeen der Römer, die marsische wie die +kampanische, durch schwere Niederlagen geschwächt und entmutigt, die +Nordarmee genötigt, vor allem auf die Deckung der Hauptstadt bedacht zu +sein, die Südarmee bei Neapel in ihren Kommunikationen ernstlich +bedroht, da die Insurgenten ohne viele Schwierigkeit aus dem marsischen +oder samnitischen Gebiet hervorbrechen und zwischen Rom und Neapel sich +festsetzen konnten; weswegen man es notwendig fand, wenigstens eine +Postenkette von Cumae nach Rom zu ziehen. Politisch hatte die +Insurrektion während dieses ersten Kampfjahres nach allen Seiten hin +Boden gewonnen, der Obertritt von Nola, die rasche Kapitulation der +festen und großen latinischen Kolonie Venusia, der umbrisch-etruskische +Aufstand waren bedenkliche Zeichen, daß die römische Symmachie in ihren +innersten Fugen wanke und nicht imstande sei, diese letzte Probe +auszuhalten. Schon hatte man der Bürgerschaft das Äußerste zugemutet, +schon, um jene Postenkette an der latinisch-kampanischen Küste zu +bilden, gegen 6000 Freigelassene in die Bürgermiliz eingereiht, schon +von den noch treugebliebenen Bundesgenossen die schwersten Opfer +gefordert; es war nicht möglich, die Sehne des Bogens noch schärfer +anzuziehen, ohne alles aufs Spiel zu setzen. Die Stimmung der +Bürgerschaft war unglaublich gedrückt. Nach der Schlacht am Tolenus, +als der Konsul und die zahlreichen mit ihm gefallenen namhaften Bürger +von dem nahen Schlachtfeld nach der Hauptstadt als Leichen +zurückgebracht und daselbst bestattet wurden, als die Beamten zum +Zeichen der öffentlichen Trauer den Purpur und die Ehrenabzeichen von +sich legten, als von der Regierung an die hauptstädtischen Bewohner der +Befehl erging, in Masse sich zu bewaffnen, hatten nicht wenige sich der +Verzweiflung überlassen und alles verloren gegeben. Zwar war die +schlimmste Entmutigung gewichen nach den von Caesar bei Acerrae, von +Strabo im Picenischen erfochtenen Siegen; auf die Meldung des ersteren +hatte man in der Hauptstadt den Kriegsrock wieder mit dem Bürgerkleid +vertauscht, auf die des zweiten die Zeichen der Landestrauer abgelegt; +aber es war doch nicht zweifelhaft, daß im ganzen die Römer in diesem +Waffengang den kürzeren gezogen hatten, und vor allen Dingen war aus +dem Senat wie aus der Bürgerschaft der Geist entwichen, der sie einst +durch alle Krisen des Hannibalischen Krieges hindurch zum Siege +getragen hatte. Man begann den Krieg wohl noch mit dem gleichen +trotzigen Übermut wie damals, aber man wußte ihn nicht wie damals damit +zu endigen; der starre Eigensinn, die zähe Konsequenz hatten einer +schlaffen und feigen Gesinnung Platz gemacht. Schon nach dem ersten +Kriegsjahr wurde die äußere und innere Politik plötzlich eine andere +und wandte sich zur Transaktion. Es ist kein Zweifel, daß man damit das +Klügste tat, was sich tun ließ; aber nicht weil man, durch die +unmittelbare Gewalt der Waffen genötigt, nicht umhin konnte, sich +nachteilige Bedingungen gefallen zu lassen, sondern weil das, worum +gestritten ward, die Verewigung des politischen Vorranges der Römer vor +den übrigen Italikern, dem Gemeinwesen selber mehr schädlich als +förderlich war. Es trifft im öffentlichen Leben wohl, daß ein Fehler +den anderen ausgleicht; hier machte, was der Eigensinn verschuldet +hatte, die Feigheit gewissermaßen wieder gut. Das Jahr 664 (90) hatte +begonnen mit der schroffsten Zurückweisung des von den Insurgenten +angebotenen Vergleichs und mit der Eröffnung eines Prozeßkrieges, in +welchem die leidenschaftlichsten Verteidiger des patriotischen +Egoismus, die Kapitalisten, Rache nahmen an allen denjenigen, die im +Verdacht standen, der Mäßigung und der rechtzeitigen Nachgiebigkeit das +Wort geredet zu haben. Dagegen brachte der Tribun Marcus Plautius +Silvanus, der am 10. Dezember desselben Jahres sein Amt antrat, ein +Gesetz durch, das die Hochverratskommission den +Kapitalistengeschworenen entzog und anderen, aus der freien, nicht +ständisch qualifizierten Wahl der Distrikte hervorgegangenen +Geschworenen anvertraute; wovon die Folge war, daß diese Kommission aus +einer Geißel der Moderierten zu einer Geißel der Ultras ward und sie +unter anderen ihren eigenen Urheber Quintus Varius, dem die öffentliche +Stimme die schlimmsten demokratischen Greueltaten, die Vergiftung des +Quintus Metellus und die Ermordung des Drusus, schuld gab, in die +Verbannung sandte. Wichtiger als diese seltsam offenherzige politische +Palinodie war die veränderte Richtung, die man in der Politik gegen die +Italiker einschlug. Genau dreihundert Jahre waren verflossen, seit Rom +zum letzten Male sich hatte den Frieden diktieren lassen müssen; Rom +war jetzt wieder unterlegen, und da es den Frieden begehrte, war +derselbe nur möglich wenigstens durch teilweises Eingehen auf die +Bedingungen der Gegner. Mit den Gemeinden, die bereits in Waffen sich +erhoben hatten, um Rom zu unterwerfen und zu zerstören, war die Fehde +zu erbittert geworden, als daß man in Rom es über sich gewonnen hätte, +ihnen die verlangten Zugeständnisse zu machen; und hätte man es getan, +sie wären vielleicht jetzt von der anderen Seite zurückgewiesen worden. +Indes wenn den bis jetzt noch treugebliebenen Gemeinden die +ursprünglichen Forderungen unter gewissen Einschränkungen gewährt +wurden, so ward damit teils der Schein freiwilliger Nachgiebigkeit +gerettet, teils die sonst unvermeidliche Konsolidierung der +Konföderation verhindert und damit der Weg zu ihrer Überwindung +gebahnt. So taten denn die Pforten des römischen Bürgertums, die der +Bitte so lange verschlossen geblieben waren, jetzt plötzlich sich auf, +als die Schwerter daran pochten; jedoch auch jetzt nicht voll und ganz, +sondern selbst für die Aufgenommenen in widerwilliger und kränkender +Weise. Ein von dem Konsul Lucius Caesar 7 durchgebrachtes Gesetz +verlieh das römische Bürgerrecht den Bürgern aller derjenigen +italischen Bundesgemeinden, die bis dahin noch nicht Rom offen abgesagt +hatten; ein zweites der Volkstribune Marcus Plautius Silvanus und Gaius +Papirius Carbo setzte jedem in Italien verbürgerten und domizilierten +Mann eine zweimonatliche Frist, binnen welcher es ihm gestattet sein +solle, durch Anmeldung bei einem römischen Beamten das römische +Bürgerrecht zu gewinnen. Indes sollten diese Neubürger, ähnlich den +Freigelassenen, im Stimmrecht in der Art beschränkt sein, daß von den +fünfunddreißig Bezirken sie nur in acht, wie die Freigelassenen nur in +vier, eingeschrieben werden konnten; ob die Beschränkung persönlich +oder, wie es scheint, erblich war, ist nicht mit Sicherheit zu +entscheiden. Diese Maßregel bezog sich zunächst auf das eigentliche +Italien, das nördlich damals noch wenig über Ancona und Florenz +hinausreichte. In dem Kettenland diesseits der Alpen, das zwar +rechtlich Ausland war, aber in der Administration wie in der +Kolonisierung längst als Teil Italiens galt, wurden sämtliche +latinische Kolonien behandelt wie die italischen Gemeinden. Im übrigen +war hier diesseits des Po der größte Teil des Bodens nach Auflösung der +alten keltischen Stammgemeinden zwar nicht nach dem munizipalen Schema +organisiert, stand aber doch im Eigentum römischer, meist in +Marktflecken (fora) zusammenwohnender Bürger. Die nicht zahlreichen +bundesgenössischen Ortschaften diesseits des Po, namentlich Ravenna, +sowie die gesamte Landschaft zwischen dem Po und den Alpen ward infolge +eines von dem Konsul Strabo im Jahre 665 (89) eingebrachten Gesetzes +nach italischer Stadtverfassung organisiert, so daß die hierzu sich +nicht eignenden Gemeinden, namentlich die Ortschaften in den +Alpentälern, einzelnen Städten als abhängige und zinspflichtige Dörfer +zugelegt wurden, diese neuen Stadtgemeinden aber nicht mit dem +römischen Bürgertum beschenkt, sondern durch die rechtliche Fiktion, +daß sie latinische Kolonien seien, mit denjenigen Rechten bekleidet, +welche bisher den latinischen Städten geringeren Rechts zugestanden +hatten. Italien endigte also damals tatsächlich am Po, während die +transpadanische Landschaft als Vorland behandelt ward. Hier, nördlich +vom Po, gab es außer Cremona, Eporedia und Aquileia keine Bürger- oder +latinische Kolonien, und es waren auch die einheimischen Stämme hier +keineswegs, wie südlich vom Po, verdrängt worden. Die Abschaffung der +keltischen Gau- und die Einführung der italischen Stadtverfassung +bahnte die Romanisierung des reichen und wichtigen Gebietes an; es war +dies der erste Schritt zu der langen und folgenreichen Umgestaltung des +gallischen Stammes, im Gegensatz zu dem und zu dessen Abwehr einstmals +Italien sich zusammengefunden hatte, in Genossen ihrer italischen +Herren. + +————————————————————— + +7 Das Julische Gesetz muß in den letzten Monaten des Jahres 664 (90) +erlassen sein, da während der guten Jahreszeit Caesar im Felde stand; +das Plautische ist wahrscheinlich, wie in der Regel die tribunizischen +Anträge, unmittelbar nach dem Amtsantritt der Tribune, also Dezember +664 (90) oder Januar 665 (89) durchgebracht worden. + +————————————————————- + +So ansehnlich diese Zugeständnisse waren, wenn man sie vergleicht mit +der seit mehr als hundertfünfzig Jahren festgehaltenen starren +Abgeschlossenheit der römischen Bürgerschaft, so schlossen sie doch +nichts weniger als eine Kapitulation mit den wirklichen Insurgenten +ein, sondern sollten teils die schwankenden und mit dem Abfall +drohenden Gemeinden festhalten, teils möglichst viele Überläufer aus +den feindlichen Reihen herüberziehen. In welchem Umfang diese Gesetze, +namentlich das wichtigste derselben, das des Caesar, zur Anwendung +gekommen sind, läßt sich nicht genau sagen, da wir den Umfang der +Insurrektion zur Zeit der Erlassung des Gesetzes nur im allgemeinen +anzugeben vermögen. Die Hauptsache war auf jeden Fall, daß die bisher +latinischen Gemeinden, sowohl die Überreste der alten latinischen +Eidgenossenschaft, wie Tibur und Praeneste, als auch besonders die +latinischen Kolonien, mit Ausnahme der wenigen zu den Insurgenten +übergegangenen, dadurch eintraten in den römischen Bürgerverband. +Außerdem fand das Gesetz Anwendung auf die treugebliebenen Bundesstädte +in Etrurien und besonders in Süditalien, wie Nuceria und Neapolis. Daß +einzelne bisher besonders bevorzugte Gemeinden über die Annahme des +Bürgerrechts schwankten, Neapolis zum Beispiel Bedenken trug, seinen +bisherigen Vertrag mit Rom, der den Bürgern Freiheit vom Landdienst und +ihre griechische Verfassung, vielleicht auch überdies Domanialnutzungen +garantierte, gegen das beschränkte Neubürgerrecht hinzugeben, ist +begreiflich; es ist wahrscheinlich aus den dieser Anstände wegen +geschlossenen Vergleichen herzuleiten, daß diese Stadt, sowie auch +Rhegion und vielleicht noch andere griechische Gemeinden in Italien, +selbst nach dem Eintritt in den Bürgerverband ihre bisherige +Kommunalverfassung und die griechische Sprache als offizielle +unverändert beibehalten haben. Auf alle Fälle ward infolge dieser +Gesetze der römische Bürgerverband außerordentlich erweitert durch das +Aufgehen von zahlreichen und ansehnlichen von der sizilischen Meerenge +bis zum Po zerstreuten Stadtgemeinden in denselben, außerdem die +Landschaft zwischen dem Po und den Alpen durch die Erteilung des besten +bundesgenössischen Rechts gleichsam mit der gesetzlichen Anwartschaft +auf das volle Bürgerrecht beliehen. + +Gestützt auf diese Konzessionen an die schwankenden Gemeinden nahmen +die Römer mit neuem Mute den Kampf auf gegen die aufständischen +Distrikte. Man hatte von den bestehenden politischen Institutionen so +viel niedergerissen, als notwendig schien, um die Ausbreitung des +Brandes zu hindern; die Insurrektion griff fortan wenigstens nicht +weiter um sich. Namentlich in Etrurien und Umbrien, wo sie erst im +Beginn war, wurde sie wohl mehr noch durch das Julische Gesetz als +durch den Erfolg der römischen Waffen so auffallend rasch überwältigt. +In den ehemaligen latinischen Kolonien, in der dicht bewohnten +Polandschaft eröffneten sich reiche und jetzt zuverlässige +Hilfsquellen; mit diesen und mit denen der Bürgerschaft selbst konnte +man daran gehen, den jetzt isolierten Brand zu bewältigen. Die beiden +bisherigen Oberbefehlshaber gingen nach Rom zurück, Caesar als +erwählter Zensor, Marius, weil man seine Kriegführung als unsicher und +langsam tadelte und den sechsundsechzigjährigen Mann für altersschwach +erklärte. Sehr wahrscheinlich war dieser Vorwurf unbegründet; Marius +bewies, indem er täglich in Rom auf dem Turnplatz erschien, wenigstens +seine körperliche Frische, und auch als Oberbefehlshaber scheint er in +dem letzten Feldzug im ganzen die alte Tüchtigkeit bewährt zu haben; +aber glänzende Erfolge, mit denen allein er nach seinem politischen +Bankrott sich hätte in der öffentlichen Meinung rehabilitieren können, +hatte er nicht erfochten, und so ward der gefeierte Degen zu seinem +bitteren Kummer jetzt auch als Offizier ohne Umstände zu dem alten +Eisen geworfen. An Marius’ Stelle trat bei der marsischen Armee der +Konsul dieses Jahres Lucius Porcius Cato, der mit Auszeichnungen in +Etrurien gefochten hatte, an Caesars bei der kampanischen der +Unterfeldherr Lucius Sulla, dem man einige der wesentlichsten Erfolge +des vorigen Feldzugs verdankte; Gnaeus Strabo behielt, jetzt als +Konsul, das mit so großem Erfolg von ihm geführte Kommando im +picenischen Gebiet. + +So begann der zweite Feldzug 665 (89), den noch im Winter die +Insurgenten eröffneten durch den kühnen, an den großartigen Gang der +Samnitischen Kriege erinnernden Versuch, einen marsischen Heerhaufen +von 15000 Mann der in Norditalien gärenden Insurrektion zu Hilfe nach +Etrurien zu senden. Allein Strabo, durch dessen Bereich er zu passieren +hatte, verlegte ihm den Weg und schlug ihn vollständig; nur wenige +gelangten zurück in die weit entfernte Heimat. Als dann die Jahreszeit +den römischen Heeren gestattete, die Offensive zu ergreifen, betrat +Cato das marsische Gebiet und drang unter glücklichen Gefechten in +demselben vor, allein er fiel in der Gegend des Fuciner Sees bei einem +Sturm auf das feindliche Lager, wodurch die ausschließliche Oberleitung +der Operationen in Mittelitalien auf Strabo überging. Dieser +beschäftigte sich teils mit der fortgesetzten Belagerung von Asculum, +teils mit der Unterwerfung der marsischen, sabellischen und apulischen +Landschaften. Zum Entsatz seiner bedrängten Heimatstadt erschien vor +Asculum Iudacilius mit dem picentischen Aufgebot und griff die +belagernde Armee an, während gleichzeitig die ausfallende Besatzung +sich auf die römischen Linien warf. Es sollen an diesem Tage 75000 +Römer gegen 60000 Italiker gefochten haben. Der Sieg blieb den Römern, +doch gelang es dem Iudacilius, mit einem Teil des Entsatzheeres sich in +die Stadt zu werfen. Die Belagerung nahm ihren Fortgang; sie war +langwierig 8 durch die Festigkeit des Platzes und die verzweifelte +Verteidigung der Bewohner, welche fochten in Erinnerung an die +schreckliche Kriegserklärung innerhalb ihrer Mauern. Als Iudacilius +endlich nach mehrmonatlicher tapferer Verteidigung die Kapitulation +herankommen sah, ließ er die Häupter der römisch gesinnten Fraktion der +Bürgerschaft unter Martern umbringen und gab sodann sich selbst den +Tod. So wurden die Tore geöffnet und die römischen Exekutionen lösten +die italischen ab: alle Offiziere und alle angesehenen Bürger wurden +hingerichtet, die übrigen mit dem Bettelstab ausgetrieben, sämtliches +Hab und Gut von Staats wegen eingezogen. Während der Belagerung und +nach dem Fall von Asculum durchzogen zahlreiche römische Korps die +benachbarten aufständischen Landschaften und bewogen eine nach der +anderen zur Unterwerfung. Die Marruciner fügten sich, nachdem Servius +Sulpicius sie bei Teate (Chieti) nachdrücklich geschlagen hatte. In +Apulien drang der Prätor Gaius Cosconius ein, nahm Salapia und Cannae +und belagerte Canusium. Einen samnitischen Heerhaufen, der unter Marius +Egnatius der unkriegerischen Landschaft zu Hilfe kam und in der Tat die +Römer zurückdrängte, gelang es dem römischen Feldherrn bei dem Übergang +über den Aufidus zu schlagen; Egnatius fiel und der Rest des Heeres +mußte in den Mauern von Canusium Schutz suchen. Die Römer drangen +wieder vor bis nach Venusia und Rubi und wurden Herren von ganz +Apulien. Auch am Fuciner See und am Majellagebirg, in den Hauptsitzen +der Insurrektion, stellten die Römer ihre Herrschaft wieder her; die +Marser ergaben sich an die Unterfeldherren Strabos, Quintus Metellus +Pius und Gaius Cinna, die Vestiner und Paeligner im folgenden Jahr (666 +88) an Strabo selbst; die Insurgentenhauptstadt Italia ward wieder die +bescheidene pälignische Landstadt Corfinium; die Reste des italischen +Senats flüchteten auf samnitisches Gebiet. + +——————————————————————— + +8 Schleuderbleie mit dem Namen der Legion, die sie warf, auch wohl mit +Verwünschungen der “entlaufenen Sklaven” - demnach römische - oder mit +der Aufschrift entweder: “triff die Picenter” oder “triff den Pompeius” +-jene römische, diese italische - finden sieh von jener Zeit her noch +jetzt zahlreich in der Gegend von Ascoli. + +——————————————————————- + +Die römische Südarmee, welche jetzt unter Lucius Sullas Befehlen stand, +hatte gleichzeitig die Offensive ergriffen und war eingedrungen in das +vom Feind besetzte südliche Kampanien. Stabiae ward von Sulla selbst +erobert und zerstört (30. April 665 89), Herculaneum von Titus Didius, +der indes, es scheint bei diesem Sturm, selber fiel (11. Juni). Länger +widerstand Pompeii. Der samnitische Feldherr Lucius Cluentius kam +herbei, der Stadt Entsatz zu bringen, allein er ward von Sulla +zurückgewiesen, und als er, durch Keltenscharen verstärkt, seinen +Versuch wiederholte, hauptsächlich durch den Wankelmut dieser +unzuverlässigen Gesellen so vollständig geschlagen, daß sein Lager +erobert und er selbst mit dem größten Teil der Seinigen auf der Flucht +nach Nola zu niedergehauen ward. Das dankbare römische Heer verlieh +seinem Feldherrn den Graskranz, mit welchem schlichten Zeichen nach +Lagerbrauch der Soldat geschmückt wurde, der durch seine Tüchtigkeit +eine Abteilung seiner Kameraden gerettet hatte. Ohne mit der Belagerung +Nolas und den anderen von den Samniten noch besetzten kampanischen +Städte sich aufzuhalten, rückte Sulla sofort in das innere Land ein, wo +der Hauptherd der Insurrektion war. Die rasche Eroberung und +fürchterliche Bestrafung von Aeclanum verbreitete Schrecken in der +ganzen hirpinischen Landschaft; sie unterwarf sich, noch ehe der +lucanische Zuzug herankam, der zu ihrem Beistand sich in Bewegung +setzte, und Sulla konnte ungehindert vordringen, bis in das Gebiet der +samnitischen Eidgenossenschaft. Der Paß, wo die samnitische Landwehr +unter Mutilus ihn erwartete, wurde umgangen, die samnitische Armee im +Rücken angegriffen und geschlagen; das Lager ging verloren, der +Feldherr rettete sich verwundet nach Aesernia. Sulla rückte vor die +Hauptstadt der samnitischen Landschaft Bovianum und zwang sie durch +einen zweiten, unter ihren Mauern erfochtenen Sieg zu kapitulieren. +Erst die vorgerückte Jahreszeit machte hier dem Feldzug ein Ende. + +Es war der vollständigste Umschwung der Dinge. So gewaltig, so +siegreich, so vordringend die Insurrektion den Feldzug des Jahres 665 +(89) begonnen hatte, so tiefgebeugt, so überall geschlagen, so völlig +hoffnungslos ging sie aus demselben hervor. Ganz Norditalien war +beruhigt. In Mittelitalien waren beide Küsten völlig in römischer +Gewalt, die Abruzzen fast vollständig, Apulien bis auf Venusia, +Kampanien bis auf Nola in den Händen der Römer und durch die Besetzung +des hirpinischen Gebietes die Verbindung gesprengt zwischen den beiden +einzigen noch in offener Gegenwehr beharrenden Landschaften, der +samnitischen und der lucanisch-brettischen. Das Insurrektionsgebiet +glich einer erlöschenden ungeheuren Brandstätte; überall traf das Auge +auf Asche und Trümmer und verglimmende Brände, hie und da loderte noch +zwischen den Ruinen die Flamme empor, aber man war des Feuers überall +Meister und nirgends drohte mehr Gefahr. Es ist zu bedauern, daß wir +die Ursachen dieses plötzlichen Umschwunges in der oberflächlichen +Überlieferung nicht mehr genügend erkennen. So unzweifelhaft Strabos +und mehr noch Sullas geschickte Führung und namentlich die energischere +Konzentrierung der römischen Streitkräfte, die raschere Offensive +wesentlich dazu beigetragen hat, so mögen doch neben den militärischen +auch politische Unruhen bei dem beispiellos raschen Sturz der +Insurgentenmacht im Spiel gewesen sein; es mag das Gesetz des Silvanus +und Carbo seinen Zweck, Abfall und Verrat der gemeinen Sache in die +Reihen der Feinde zu tragen, erfüllt haben, es mag, wie so oft, unter +die lose verknüpften aufständischen Gemeinden das Unglück als Apfel der +Zwietracht gefallen sein. Wir sehen nur - und es deutet auch dies auf +eine sicher unter heftigen Konvulsionen erfolgte innerliche Auflösung +der Italia -, daß die Samniten, vielleicht unter Leitung des Marsers +Quintus Silo, der von Haus aus die Seele des Aufstandes gewesen und +nach der Kapitulation der Marser landflüchtig zu dem Nachbarvolk +gegangen war, jetzt sich eine andere, rein landschaftliche Organisation +gaben und, nachdem die “Italia” überwunden war, es unternahmen, als +“Safinen” oder Samniten den Kampf noch weiter fortzusetzen 9. Das feste +Aesernia ward aus der Zwingburg der letzte Hort der samnitischen +Freiheit; ein Heer sammelte sich von angeblich 30000 Mann zu Fuß und +1000 zu Pferd und ward durch Freisprechung und Einordnung von 20000 +Sklaven verstärkt; fünf Feldherren traten an dessen Spitze, darunter +als der erste Silo und neben ihm Mutilus. Mit Erstaunen sah man nach +zweihundertjähriger Pause die Samnitenkriege aufs neue beginnen und das +entschlossene Bauernvolk abermals, ganz wie im fünften Jahrhundert, +nachdem die italische Konföderation gescheitert war, noch einen Versuch +machen, seine landschaftliche Unabhängigkeit auf eigene Faust von Rom +zu ertrotzen. Allein dieser Entschluß der tapfersten Verzweiflung +änderte in der Hauptsache nicht viel; es mochte der Bergkrieg in +Samnium und Lucanien noch einige Zeit und einige Opfer fordern, die +Insurrektion war nichtsdestoweniger schon jetzt wesentlich zu Ende. + +—————————————————————————— + +9 Dieser Epoche müssen die seltenen Denare mit Safinim und G. Mutil in +oskischer Schrift angehören; denn solange die Italia von den +Insurgenten festgehalten ward, konnte kein einzelner Gau als souveräne +Macht Münzen mit dem eigenen Namen schlagen. + +—————————————————————————— + +Allerdings war inzwischen eine neue Komplikation eingetreten, indem die +asiatischen Verwicklungen es zu einer gebieterischen Notwendigkeit +gemacht hatten, an König Mithradates von Pontos den Krieg zu erklären +und für das nächste Jahr (666 88) den einen Konsul und eine +konsularische Armee nach Kleinasien zu bestimmen. Wäre dieser Krieg ein +Jahr früher zum Ausbruch gekommen, so hätte die gleichzeitige Empörung +des halben Italiens und der wichtigsten Provinz dem römischen Staat +eine ungeheure Gefahr bereitet. Jetzt, nachdem in dem raschen Sturz der +italischen Insurrektion das wunderbare Glück Roms sich abermals bewährt +hatte, war dieser neu beginnende asiatische Krieg, trotzdem daß er mit +dem verendenden italischen sich verschlang, doch nicht eigentlich +bedrohlicher Art, um so weniger, als Mithradates in seinem Übermut die +Aufforderung der Italiker, ihnen unmittelbaren Beistand zu leisten, von +der Hand wies, aber freilich immer noch in hohem Grade unbequem. Die +Zeiten waren nicht mehr, wo man einen italischen und einen +überseeischen Krieg unbedenklich nebeneinander führte; die Staatskasse +war nach zwei Kriegsjahren bereits vollständig erschöpft, die Bildung +einer neuen Armee neben den bereits im Felde stehenden schien kaum +ausführbar. Indes man half sich wie man konnte. Der Verkauf der seit +alter Zeit auf und an der Burg freigebliebenen Plätze an die +Baulustigen, woraus 9000 Pfund Gold (2½ Mill. Taler) gelöst wurden, +lieferte die erforderlichen Geldmittel. Eine neue Armee ward nicht +gebildet, sondern die in Kampanien unter Sulla stehende bestimmt, nach +Asien sich einzuschiffen, sobald der Stand der Dinge im südlichen +Italien es ihr gestatten würde sich zu entfernen; war bei den +Fortschritten der im Norden unter Strabo operierenden Armee +voraussichtlich bald geschehen konnte. + +So begann der dritte Feldzug 666 (88) unter günstigen Aussichten für +Rom. Strabo dämpfte den letzten Widerstand, der noch in den Abruzzen +geleistet ward. In Apulien machte Cosconius’ Nachfolger Quintus +Metellus Pius, der Sohn des Überwinders von Numidien und an energisch +konservativer Gesinnung wie an militärischer Begabung seinem Vater +nicht ungleich, dem Widerstand ein Ende durch die Einnahme von Venusia, +wobei 3000 Bewaffnete gefangen genommen wurden. In Samnium gelang zwar +Silo die Wiedereinnahme von Bovianum; allein in einer Schlacht, die er +dem römischen General Mamercus Aemilius lieferte, siegten die Römer, +und was wichtiger war als der Sieg selbst, unter 6000 Toten, die die +Samniten auf der Walstatt ließen, war auch Silo. In Kampanien wurden +die kleineren Ortschaften, die die Samniten noch besetzt hielten, von +Sulla ihnen entrissen und Nola umstellt. Auch in Lucanien drang der +römische Feldherr Aulus Gabinius ein und errang nicht geringe Erfolge; +allein nachdem er bei einem Angriff auf das feindliche Lager gefallen +war, herrschte der Insurgentenführer Lamponius mit den Seinen wiederum +fast ungestört in der weiten und öden lucanisch-brettischen Landschaft. +Er machte sogar einen Versuch sich Rhegions zu bemächtigen, den indes +der sizilische Statthalter Gaius Norbanus vereitelte. Trotz einzelner +Unfälle näherte man sich unaufhaltsam dem Ziel; der Fall von Nola, die +Unterwerfung von Samnium, die Möglichkeit, ansehnliche Streitkräfte für +Asien verfügbar zu machen, schienen nicht mehr fern, als die Wendung +der Dinge in der Hauptstadt der fast schon erstickten Insurrektion +unvermutet Luft machte. + +Rom war in fürchterlicher Gärung. Drusus’ Angriff auf die +Rittergerichte und sein durch die Ritterpartei bewirkter jäher Sturz, +sodann der zweischneidige Varische Prozeßkrieg hatten die bitterste +Zwietracht gesät zwischen Aristokratie und Bourgeoisie sowie zwischen +den Gemäßigten und den Ultras. Die Ereignisse hatten der Partei der +Nachgiebigkeit vollständig recht gegeben: was sie beantragt hatte, +freiwillig zu verschenken, das hatte man mehr als halb gezwungen +zugestehen müssen; allein die Art, wie dies Zugeständnis erfolgt war, +trug eben wie die frühere Weigerung den Charakter des eigensinnigen und +kurzsichtigen Neides. Statt allen italischen Gemeinden das gleiche +Recht zu gewähren, hatte man die Zurücksetzung nur anders formuliert. +Man hatte eine große Anzahl italischer Gemeinden in den römischen +Bürgerverband aufgenommen, aber was man verlieh, wieder mit einem +ehrenrührigen Makel behaftet, die Neu- neben die Altbürger ungefähr wie +die Freigelassenen neben die Freigeborenen gestellt. Man hatte die +Gemeinden zwischen dem Po und den Alpen durch das Zugeständnis des +latinischen Rechts mehr gereizt als befriedigt. Man hatte endlich einem +ansehnlichen und nicht dem schlechtesten Teil der Italiker, sämtlichen +wieder unterworfenen insurgierten Gemeinden, nicht bloß das Bürgerrecht +vorenthalten, sondern sogar ihre ehemaligen, durch den Aufstand +vernichteten Verträge ihnen nicht wieder rechtlich verbrieft, höchstens +im Gnadenweg und auf beliebigen Widerruf dieselben erneuert ^10. Die +Zurücksetzung im Stimmrecht verletzte um so tiefer, als sie bei der +damaligen Beschaffenheit der Komitien politisch sinnlos war und die +scheinheilige Fürsorge der Regierung für die unbefleckte Reinheit der +Wählerschaft jedem Unbefangenen lächerlich erscheinen mußte; all jene +Beschränkungen aber waren insofern gefährlich, als sie jeden Demagogen +dazu einluden, durch Aufnahme der mehr oder minder gerechten +Forderungen der Neubürger sowohl wie der vom Bürgerrecht +ausgeschlossenen Italiker seine anderweitigen Zwecke durchzusetzen. +Wenn somit die heller sehende Aristokratie diese halben und +mißgünstigen Konzessionen ebenso unzulänglich finden mußte wie die +Neubürger und die Ausgeschlossenen selbst, so vermißte sie ferner +schmerzlich in ihren Reihen die zahlreichen und vorzüglichen Männer, +die die Varische Hochverratskommission ins Elend gesandt hatte und die +zurückzurufen deswegen nur noch schwieriger war, weil sie nicht durch +Volks-, sondern durch Geschworenengerichte verurteilt worden waren; +denn sowenig man Bedenken trug, einen Volksschluß auch richterlicher +Natur durch einen zweiten zu kassieren, so erschien doch die Kassation +eines Geschworenenverdikts durch das Volk eben der besseren +Aristokratie als ein sehr gefährliches Beispiel. So waren weder die +Ultras noch die Gemäßigten mit dem Ausgang der italischen Krise +zufrieden. Aber von noch tieferem Grolle schwoll das Herz des alten +Mannes, der mit erfrischten Hoffnungen in den Italischen Krieg gezogen +und daraus unfreiwillig zurückgekommen war, mit dem Bewußtsein, neue +Dienste geleistet und dafür neue schwerste Kränkungen empfangen zu +haben, mit dem bitteren Gefühle, von den Feinden nicht mehr gefürchtet, +sondern geringgeschätzt zu werden, mit jenem Wurm der Rache im Herzen, +der sich aufnährt an seinem eigenen Gifte. Auch von ihm galt, was von +den Neubürgern und den Ausgeschlossenen: unfähig und unbehilflich wie +er sich erwiesen hatte, war doch sein populärer Name in der Hand eines +Demagogen ein furchtbares Werkzeug. + +——————————————————————— + +^10 Dediticiis, sagt Licinianus (p. 15) unter dem Jahre 667 (87), +omnibus [ci]vita[sJ data; qui polliciti mult[aJ milia militum vix XV … +cobortes miserunt worin der Livianische Bericht (ep. 80: Italicis +populis a senatu civltas data est) in teilweise schärferer Fassung +wiedererscheint. Dediticii sind nach römischem Staatsrecht diejenigen +peregrinischen Freien (Gaius inst. 13-15, 25; Ulp. 20, 14; 22, 2), die +den Römern untertan geworden und zu keinem Bündnis zugelassen worden +sind. Sie behalten nicht bloß Leben, Freiheit und Eigentum, sondern +können auch in Gemeinden mit eigener Verfassung konstituiert sein. +Απόλιδες, nullius certae civitatis cives (Ulp. 20, 14; vgl. Dig. 48, +19, 17, 1), sind nur die durch rechtliche Fiktion den dediticii +gleichgestellten Freigelassenen (ii qui dediticiorum numero sunt, nur +mißbräuchlich und bei besseren Schriftstellern selten geradezu +dediticii genannt: Gaius inst. 1, 12; Ulp. 1, 14; Paul. 4, 12, 6) +ebenso wie die verwandten liberti Latini Juniani. Aber die dediticii +sind dennoch dem römischen Staate gegenüber insofern rechtlos, als nach +römischem Staatsrecht jede Dedition notwendig unbedingt ist (Polyb. +21,1; vgl. 20, 9 u.10; 36, 2) und alle ihnen ausdrücklich oder +stillschweigend zugestandenen Rechte nur precario, also auf beliebigen +Widerruf zugestanden werden (App. Hisp. 44), der römische Staat also, +was er auch gleich oder später über seine Deditizier verhängen mag, +niemals gegen sie eine Rechtsverletzung begehen kann. Diese +Rechtlosigkeit hört erst auf durch Abschließung eines Bündnisvertrages +(Liv. 34, 57). Darum erscheinen deditio und foedus als staatsrechtlich +sich ausschließende Gegenstände (Liv. 4, 30; 28, 34; Cod. Theod. 7, 13, +16 und dazu Gothofr.), und nichts anderes ist auch der den Juristen +geläufige Gegensatz der Quasideditizier und der Quasilatiner, denn die +Latiner sind eben die Föderierten im eminenten Sinn (Cic. Balb. 24, +54). + +Nach dem älteren Staatsrecht gab es, mit Ausnahme der nicht +zahlreichen, infolge des Hannibalischen Krieges ihrer Verträge +verlustig erklärten Gemeinden, keine italischen Deditizier; noch in dem +Plautischen Gesetz von 664/65 (90/89) schloß die Bezeichnung: qui +foederatis civitatibus adscripti fuerunt (Cic. Arch. 4, 7) wesentlich +alle Italiker ein. Da nun aber unter den dediticii, die 667 (87) +nachträglich das Bürgerrecht empfingen, doch nicht füglich bloß die +Brettier und Picenter verstanden sein können, so wird man annehmen +dürfen, daß alle Insurgenten, soweit sie die Waffen niedergelegt und +nicht nach dem Plautisch-Papirischen Gesetz das Bürgerrecht erworben +hatten, als Deditizier behandelt oder, was dasselbe ist, daß ihre durch +die Insurrektion von selbst kassierten Verträge (darum qui foederati +fuerunt in der angeführten Ciceronischen Stelle) ihnen bei der Ergebung +nicht rechtlich erneuert wurden. + +——————————————————————- + +Mit diesen Elementen politischer Konvulsionen verband sich der rasch +fortschreitende Verfall der ehrbaren Kriegssitte und der militärischen +Disziplin. Die Keime, welche die Einstellung der Proletarier in das +Heer in sich trug, entwickelten sich mit erschreckender Geschwindigkeit +während des demoralisierenden Insurgentenkriegs, der jeden +waffenfähigen Mann ohne Unterschied zum Dienst zuzulassen nötigte und +der vor allem unmittelbar in das Hauptquartier wie in das Soldatenzelt +die politische Propaganda trug. Bald zeigten sich die Folgen in dem +Erschlaffen aller Bande der militärischen Hierarchie. Während der +Belagerung von Pompeii ward der Befehlshaber des Sullanischen +Belagerungskorps, der Konsular Aulus Postumius Albinus, von seinen +Soldaten, die von ihrem Feldherrn dem Feinde verraten zu sein glaubten, +mit Steinen und Knütteln erschlagen; und der Oberbefehlshaber Sulla +begnügte sich, die Truppen zu ermahnen, durch tapferes Verhalten vor +dem Feind die Erinnerung an diesen Vorgang auszulöschen. Die Urheber +dieser Tat waren die Flottensoldaten, von jeher die am mindesten +achtbare Truppe: bald folgte eine vorwiegend aus dem Stadtpöbel +ausgehobene Abteilung der Legionäre dem gegebenen Beispiel. Angestiftet +von einem der Helden des Marktes, Gaius Titius, vergriff sie sich an +dem Konsul Cato. Durch einen Zufall entging derselbe diesmal dem Tode; +Titius aber ward zwar festgesetzt, indes nicht bestraft. Als Cato dann +bald darauf wirklich in einem Gefechte umkam, wurden seine eigenen +Offiziere, namentlich der jüngere Gaius Marius, ob mit Recht oder mit +Unrecht ist nicht auszumachen, als die Urheber seines Todes bezeichnet. + +Zu dieser beginnenden politischen und militärischen kam die vielleicht +noch entsetzlichere ökonomische Krise, die im Verfolg des +Bundesgenossenkrieges und der asiatischen Unruhen über die römischen +Geldmänner hereingebrochen war. Die Schuldner, unfähig, auch nur die +Zinsen zu erschwingen, und dennoch von ihren Gläubigern unerbittlich +gedrängt, hatten bei dem beikommenden Gerichtsvorstand, dem Stadtprätor +Asellio, teils Aufschub erbeten, um ihre Besitzungen verkaufen zu +können, teils die alten verschollenen Zinsgesetze wieder hervorgesucht +und nach der vor Zeiten festgestellten Vorschrift den vierfachen Betrag +der dem Gesetz zuwider gezahlten Zinsen von den Gläubigern eingeklagt. +Asellio gab sich dazu her, das tatsächlich bestehende Recht durch +dessen Buchstaben zu beugen, und instruierte in gewöhnlicher Weise die +verlangten Zinsklagen; worauf die verletzten Gläubiger unter Leitung +des Volkstribuns Lucius Cassius sich auf dem Markt zusammentaten und +den Prätor, da er eben in priesterlichem Schmuck ein Opfer darbrachte, +vor dem Tempel der Eintracht überfielen und erschlugen - eine +Freveltat, wegen deren nicht einmal eine Untersuchung stattfand (665 +89). Andererseits ging in den Schuldnerkreisen die Rede, daß der +leidenden Menge nicht anders geholfen werden könne als durch “neue +Rechnungsbücher”, das heißt durch gesetzliche Vernichtung der +Forderungen sämtlicher Gläubiger an sämtliche Schuldner. Es war genau +wieder wie während des Ständestreits: wieder machten die Kapitalisten +im Bunde mit der befangenen Aristokratie der gedrückten Menge und der +zur Mäßigung des starren Rechtes mahnenden Mittelpartei den Krieg und +den Prozeß; wieder stand man an dem Rande desjenigen Abgrundes, in den +der verzweifelte Schuldner den Gläubiger mit sich hinabreißt; nur war +seitdem an die Stelle der einfach bürgerlichen und sittlichen Ordnung +einer großen Ackerstadt die soziale Zerrissenheit einer Kapitale vieler +Nationen und diejenige Demoralisation getreten, in der der Prinz mit +dem Bettler sich begegnet; nur waren alle Mißverhältnisse breiter, +schroffer, in grauenhafter Weise großartiger geworden. Indem der +Bundesgenossenkrieg all die gärenden politischen und sozialen Elemente +in der Bürgerschaft gegeneinander rüttelte, legte er den Grund zu einer +neuen Revolution. Zum Ausbruch brachte sie ein Zufall. + +Der Volkstribun Publius Sulpicius Rufus war es, der im Jahre 666 (88) +bei der Bürgerschaft die Anträge stellte, jeden Senator, der über 2000 +Denare (600 Taler) schulde, seiner Ratsstelle verlustig zu erklären; +den durch unfreie Geschworenengerichte verurteilten Bürgern die +Rückkehr in die Heimat freizugeben; die Neubürger durch sämtliche +Distrikte zu verteilen und ingleichen den Freigelassenen Stimmrecht in +allen Distrikten zu gestatten. Es waren Vorschläge, die aus dem Munde +dieses Mannes zum Teil wenigstens überraschten. Publius Sulpicius Rufus +(geboren 630 124) verdankte seine politische Bedeutung weniger seiner +adligen Geburt, seinen bedeutenden Verbindungen und seinem angeerbten +Reichtum als seinem ungemeinen Rednertalent, worin von den +Altersgenossen keiner ihm gleichkam; die mächtige Stimme, die +lebhaften, zuweilen an Theateraktion streifenden Gebärden, die üppige +Fülle seines Wortstroms ergriffen auch wen sie nicht überzeugten. +Seiner Parteistellung nach stand er von Haus aus auf der Seite des +Senats, und sein erstes politisches Auftreten (659 95) war die Anklage +des der Regierungspartei tödlich verhaßten Norbanus gewesen. Unter den +Konservativen gehörte er zu der Fraktion des Crassus und Drusus. Was +ihn zunächst veranlaßte, sich für das Jahr 666 (88) um das +Volkstribunat zu bewerben und um dessentwillen seinen patrizischen Adel +abzulegen, wissen wir nicht; doch scheint es dadurch, daß auch er, wie +die gesamte Mittelpartei, von den Konservativen als Revolutionär +verfolgt worden war, noch keineswegs Revolutionär geworden zu sein und +keineswegs einen Umsturz der Verfassung im Sinne des Gaius Gracchus +beabsichtigt zu haben. Eher mag er, als der einzige aus dem Varischen +Prozeßsturm unversehrt hervorgegangene namhafte Mann der Partei des +Crassus und Drusus, sich berufen gefühlt haben, das Werk des Drusus zu +vollenden und die noch bestehenden Zurücksetzungen der Neubürger +schließlich zu beseitigen, wozu er des Tribunats bedurfte. Noch aus +seinem Tribunat werden mehrere Handlungen von ihm erwähnt, die das +gerade Gegenteil demagogischer Absichten verraten - so hinderte er +durch sein Einschreiten einen seiner Kollegen, die auf Grund des +Varischen Gesetzes ergangenen Geschworenenurteile durch Volksschluß zu +kassieren; und als der gewesene Ädil Gaius Caesar verfassungswidrig +sich mit Überspringung der Prätur um das Konsulat für 667 (87) bewarb, +wie es heißt in der Absicht, sich später die Führung des Asiatischen +Krieges übertragen zu lassen, trat, entschlossener und schärfer als +irgendein anderer, Sulpicius ihm entgegen. Ganz im Sinne des Drusus +also forderte er von sich wie von andern zunächst und vor allem die +Einhaltung der Verfassung. Aber freilich vermochte er ebensowenig wie +Drusus das Unverträgliche zu vereinigen und die von ihm beabsichtigte, +an sich verständige, aber von der ungeheuren Mehrzahl der +Altbürgerschaft auf gütlichem Wege niemals zu erlangende +Verfassungsänderung in strenger Form Rechtens durchzusetzen. Der Bruch +mit der mächtigen Familie der Iulier, unter denen namentlich der Bruder +des Gaius, der Konsular Lucius Caesar, im Senat sehr einflußreich war, +und mit der derselben anhängenden Fraktion der Aristokratie hat ohne +Zweifel auch wesentlich mitgewirkt und den zornmütigen Mann durch +persönliche Erbitterung über die ursprüngliche Absicht hinausgeführt. +Aber der Charakter der von ihm eingebrachten Anträge ist doch von der +Art, daß sie keineswegs die Persönlichkeit und die bisherige +Parteistellung ihres Urhebers verleugnen. Die Gleichstellung der +Neubürger mit den Altbürgern war nichts als die teilweise +Wiederaufnahme der von Drusus entworfenen Anträge zu Gunsten der +Italiker und wie diese nur die Erfüllung der Vorschriften einer +gesunden Politik. Die Zurückrufung der durch die Varischen Geschworenen +Verurteilten opferte zwar den Grundsatz der Unverletzlichkeit des +Geschworenenwahrspruchs, für den Sulpicius eben noch selbst mit der Tat +eingestanden war, aber sie kam zunächst wesentlich den eigenen +Parteigenossen des Antragstellers, den gemäßigten Konservativen, +zugute, und es läßt sich von dem stürmischen Mann recht wohl begreifen, +daß er bei seinem ersten Auftreten eine solche Maßregel entschieden +bekämpfte und dann, ergrimmt über den Widerstand, auf den er traf, sie +selber beantragte. Die Maßregel gegen die Überschuldung der Senatoren +war ohne Zweifel herbeigeführt durch die Bloßlegung der trotz alles +äußeren Glanzes tief zerrütteten ökonomischen Lage der regierenden +Familien bei Gelegenheit der letzten finanziellen Krise; es war zwar +peinlich, aber an sich doch im wohlverstandenen Interesse der +Aristokratie, wenn, wie dies die Folge des Sulpicischen Antrags sein +mußte, alle Individuen aus dem Senat ausschieden, die nicht vermochten, +ihre Passiva rasch zu liquidieren, und wenn das Koteriewesen, das in +der Überschuldung vieler Senatoren und ihrer dadurch herbeigeführten +Abhängigkeit von den reichen Kollegen seinen hauptsächlichen Halt fand, +durch die Beseitigung des notorisch feilen Senatorengesindels gedämpft +ward - womit natürlich nicht geleugnet werden soll, daß Rufus eine den +Senat so schroff und gehässig prostituierende Säuberung der Kurie, wie +er sie vorschlug, ohne seine persönlichen Zerwürfnisse mit den +herrschenden Koteriehäuptern sicher niemals beantragt haben würde. +Endlich die Bestimmung zu Gunsten der Freigelassenen hatte +unzweifelhaft zunächst den Zweck, den Antragsteller zum Herrn der Gasse +zu machen; an sich aber war sie weder unmotiviert noch mit der +aristokratischen Verfassung unvereinbar. Seitdem man angefangen hatte, +die Freigelassenen zum Militärdienst mit hinzuzuziehen, war ihre +Forderung des Stimmrechts insofern gerechtfertigt, als Stimmrecht und +Dienstpflicht stets Hand in Hand gegangen waren. Vor allen Dingen aber +kam bei der Nichtigkeit der Komitien politisch sehr wenig darauf an, ob +in diesen Sumpf noch eine Kloake mehr sich entleerte. Die Möglichkeit, +mit den Komitien zu regieren, ward für die Oligarchie eher gesteigert +als gemindert durch die unbeschränkte Zulassung der Freigelassenen, +welche ja zu einem sehr großen Teil von den regierenden Familien +persönlich und ökonomisch abhängig waren und richtig verwandt eben ein +Mittel für die Regierung abgeben konnten, die Wahlen gründlicher noch +als bisher zu beherrschen. Wider die Tendenzen der reformistisch +gesinnten Aristokratie lief diese Maßregel allerdings wie jede andere +politische Begünstigung des Proletariats; allein sie war auch für Rufus +schwerlich etwas anderes, als was das Getreidegesetz für Drusus gewesen +war: ein Mittel, um das Proletariat auf seine Seite zu ziehen und mit +dessen Hilfe den Widerstand gegen die beabsichtigten, wahrhaft +gemeinnützigen Reformen zu brechen. Es ließ sich leicht voraussehen, +daß dieser nicht gering sein, daß die bornierte Aristokratie und die +bornierte Bourgeoisie ebendenselben stumpfsinnigen Neid wie vor dem +Ausbruch der Insurrektion jetzt nach ihrer Überwindung betätigen, daß +die große Majorität aller Parteien die im Augenblick der furchtbarsten +Gefahr gemachten halben Zugeständnisse im stillen oder auch laut als +unzeitige Nachgiebigkeit bezeichnen und jeder Ausdehnung derselben sich +leidenschaftlich widersetzen werde. Drusus’ Beispiel hatte gezeigt, was +dabei herauskam, wenn man konservative Reformen allein im Vertrauen auf +die Senatsmajorität durchzusetzen unternahm; es war vollkommen +erklärlich, daß sein Freund und Gesinnungsgenosse verwandte Absichten +in Opposition gegen diese Mehrheit und in den Formen der Demagogie zu +realisieren versuchte. Rufus gab demnach sich keine Mühe, durch den +Köder der Geschworenengerichte den Senat für sich zu gewinnen. Besseren +Rückhalt fand er bei den Freigelassenen und vor allem an dem +bewaffneten Gefolge - dem Bericht seiner Gegner zufolge bestand es aus +3000 gedungenen Leuten und einem “Gegensenat” von 600 jungen Männern +aus der besseren Klasse -, mit dem er in den Straßen und auf dem Markte +erschien. Seine Anträge stießen denn auch auf den entschiedensten +Widerstand bei der Majorität des Senats, welche zunächst, um Zeit zu +gewinnen, die Konsuln Lucius Cornelius Sulla und Quintus Pompeius +Rufus, beide abgesagte Gegner der Demagogie, bewog, außerordentliche +religiöse Festlichkeiten anzuordnen, während deren die +Volksversammlungen ruhten. Sulpicius antwortete mit einem heftigen +Auflauf, bei welchem unter anderen Opfern der junge Quintus Pompeius, +der Sohn des einen und Schwiegersohn des anderen Konsuls, den Tod fand +und das Leben der beiden Konsuln selbst ernstlich bedroht ward - Sulla +soll sogar nur dadurch gerettet worden sein, daß Marius ihm sein Haus +öffnete. Man mußte nachgeben; Sulla verstand sich dazu, die +angekündigten Festlichkeiten abzusagen, und die Sulpicischen Anträge +gingen nun ohne weiteres durch. Allein es war damit ihr Schicksal noch +keineswegs gesichert. Mochte auch in der Hauptstadt sich die +Aristokratie geschlagen geben, so gab es jetzt - zum erstenmal seit dem +Beginn der Revolution - noch eine andere Macht in Italien, die nicht +übersehen werden durfte: die beiden starken und siegreichen Armeen des +Prokonsuls Strabo und des Konsuls Sulla. War auch Strabos politische +Stellung zweideutig, so stand Sulla, obwohl er der offenbaren Gewalt +für den Augenblick gewichen war, nicht bloß mit der Senatsmajorität in +vollem Einvernehmen, sondern war auch, unmittelbar nachdem er die +Festlichkeiten abgesagt hatte, abgegangen nach Kampanien zu seiner +Armee. Den unbewaffneten Konsul durch die Knüttelmänner oder die +wehrlose Hauptstadt durch die Schwerter der Legionen zu terrorisieren, +lief am Ende auf dasselbe hinaus; Sulpicius setzte voraus, daß der +Gegner, jetzt wo er konnte, Gewalt mit Gewalt vergelten und an der +Spitze seiner Legionen nach der Hauptstadt zurückkehren werde, um den +konservativen Demagogen mitsamt seinen Gesetzen über den Haufen zu +werfen. Vielleicht irrte er sich. Sulla wünschte den Krieg gegen +Mithradates ebensosehr, wie ihm grauen mochte vor dem hauptstädtischen +politischen Brodel; bei seinem originellen Indifferentismus und seiner +unübertroffenen politischen Nonchalance hat es große +Wahrscheinlichkeit, daß er den Staatsstreich, den Sulpicius erwartete, +keineswegs beabsichtigte und daß er, wenn man ihn hätte gewähren +lassen, nach der Einnahme von Nola, dessen Belagerung ihn noch +beschäftigte, unverweilt sich mit seinen Truppen nach Asien +eingeschifft haben würde. Indes wie dem auch sein mag, Sulpicius +entwarf, um den vermuteten Streich zu parieren, den Plan, Sulla den +Oberbefehl abzunehmen, und ließ zu diesem Ende mit Marius sich ein, +dessen Name noch immer hinreichend populär war, um einen Antrag, den +Oberbefehl im Asiatischen Kriege auf ihn zu übertragen, der Menge +plausibel erscheinen zu lassen, und dessen militärische Stellung und +Kapazität für den Fall eines Bruches mit Sulla eine Stütze werden +konnte. Die Gefahr, die darin lag, den alten, ebenso unfähigen als +rach- und ehrsüchtigen Mann an die Spitze der kampanischen Armee zu +stellen, mochte Sulpicius nicht übersehen und ebensowenig die arge +Abnormität, einem Privatmann ein außerordentliches Oberkommando durch +Volksschluß zu übertragen; aber eben Marius’ erprobte staatsmännische +Unfähigkeit gab eine Art Garantie dafür, daß er die Verfassung nicht +ernstlich würde gefährden können, und vor allem war Sulpicius’ eigene +Lage, wenn er Sullas Absichten richtig beurteilte, eine so bedrohte, +daß dergleichen Rücksichten kaum mehr in Betracht kamen. Daß der +abgestandene Held selbst bereitwillig jedem entgegenkam, der ihn als +Condottiere gebrauchen wollte, versteht sich von selbst; nach dem +Oberbefehl nun gar in einem asiatischen Krieg gelüstete sein Herz seit +vielen Jahren und nicht weniger vielleicht danach, einmal gründlich +abzurechnen mit der Senatsmajorität. Demnach erhielt auf Antrag des +Sulpicius durch Beschluß des Volkes Gaius Marius mit außerordentlicher +höchster oder sogenannter prokonsularischer Gewalt das Kommando der +kampanischen Armee und den Oberbefehl in dem Krieg gegen Mithradates, +und es wurden, um das Heer von Sulla zu übernehmen, zwei Volkstribune +in das Lager von Nola abgesandt. + +Die Botschaft kam an den unrechten Mann. Wenn irgend jemand berufen +war, den Oberbefehl im Asiatischen Kriege zu führen, so war es Sulla. +Er hatte wenige Jahre zuvor mit dem größten Erfolge auf demselben +Kriegsschauplatz kommandiert: er hatte mehr als irgendein anderer Mann +beigetragen zur Überwältigung der gefährlichen italischen Insurrektion; +ihm als Konsul des Jahres, in welchem der Asiatische Krieg zum Ausbruch +kam, war in der hergebrachten Weise und mit voller Zustimmung seines +ihm befreundeten und verschwägerten Kollegen das Kommando in demselben +übertragen worden. Es war ein starkes Ansinnen, einen unter solchen +Verhältnissen übernommenen Oberbefehl nach Beschluß der souveränen +Bürgerschaft von Rom abzugeben an einen alten militärischen und +politischen Antagonisten, in dessen Händen die Armee, niemand mochte +sagen zu welchen Gewaltsamkeiten und Verkehrtheiten, mißbraucht werden +konnte. Sulla war weder gutmütig genug, um freiwillig einem solchen +Befehl Folge zu leisten, noch abhängig genug, um es zu müssen. Sein +Heer war, teils infolge der von Marius herrührenden Umgestaltungen des +Heerwesens, teils durch die von Sulla gehandhabte sittlich lockere und +militärisch strenge Disziplin, wenig mehr als eine ihrem Führer +unbedingt ergebene und in politischen Dingen indifferente +Lanzknechtschar. Sulla selbst war ein blasierter, kalter und klarer +Kopf, dem die souveräne römische Bürgerschaft ein Pöbelhaufen war, der +Held von Aquae Sextiae ein bankrotter Schwindler, die formelle +Legalität eine Phrase, Rom selbst eine Stadt ohne Besatzung und mit +halbverfallenen Mauern, die viel leichter erobert werden konnte als +Nola. In diesem Sinne handelte er. Er versammelte seine Soldaten - es +waren sechs Legionen oder etwa 35000 Mann - und setzte ihnen die von +Rom angelangte Botschaft auseinander, nicht vergessend, ihnen +anzudeuten, daß der neue Oberfeldherr ohne Zweifel nicht dieses Heer, +sondern andere, neu gebildete Truppen nach Kleinasien führen werde. Die +höheren Offiziere, immer noch mehr Bürger als Militärs, hielten sich +zurück, und nur ein einziger von ihnen folgte dem Feldherrn gegen die +Hauptstadt; allein die Soldaten, die nach früheren Erfahrungen in Asien +einen bequemen Krieg und unendliche Beute zu finden hofften, brausten +auf; in einem Nu waren die beiden von Rom gekommenen Tribune zerrissen +und von allen Seiten erscholl der Zuruf, daß der Feldherr sie auf Rom +zu führen möge. Unverweilt brach der Konsul auf, und unterwegs seinen +Gleichgesinnten Kollegen an sich ziehend, gelang er in raschen +Märschen, wenig sich kümmernd um die von Rom ihm entgegeneilenden +Abgesandten, die ihn aufzuhalten versuchten, bis unter die Mauern der +Hauptstadt. Unerwartet sah man Sullas Heersäulen sich aufstellen an der +Tiberbrücke und am Collinischen und Esquilinischen Tore und sodann zwei +Legionen in Reih’ und Glied, ihre Feldzeichen voran, den Befriedeten +Mauerring überschreiten, jenseits dessen das Gesetz den Krieg gebannt +hatte. So viel schlimmer Hader, so viele bedeutende Fehden waren +innerhalb dieser Mauern zum Austrag gekommen, ohne daß ein römisches +Heer den heiligen Stadtfrieden gebrochen hätte; jetzt geschah es, +zunächst um der elenden Frage willen, ob dieser oder jener Offizier +berufen sei, im Osten zu kommandieren. Die einrückenden Legionen gingen +vor bis auf die Höhe des Esquilin; als die von den Dächern +heranregnenden Geschosse und Steine die Soldaten unsicher machten und +sie zu weichen anfingen, erhob Sulla selbst die flammende Fackel und, +mit Brandpfeilen und Anzündung der Häuser drohend, brachen die Legionen +sich Bahn bis auf den Esquilinischen Marktplatz (unweit S. Maria +Maggiore). Hier wartete ihrer die eiligst von Marius und Sulpicius +zusammengeraffte Mannschaft und warf die zuerst eindringenden Kolonnen +durch die Überzahl zurück. Aber von den Toren kam denselben +Verstärkung; eine andere Abteilung der Sullaner machte Anstalt, auf der +Suburastraße die Verteidiger zu umgehen; sie mußten zurück. Am Tempel +der Tellus, wo der Esquilin anfängt sich gegen den Großen Marktplatz zu +senken, versuchte Marius noch einmal sich zu setzen; er beschwor Senat +und Ritter und die gesamte Bürgerschaft, den Legionen sich +entgegenzuwerfen. Aber er selbst hatte dieselben aus Bürgern in +Lanzknechte umgeschaffen; sein eigenes Werk wandte sich gegen ihn; sie +gehorchten nicht der Regierung, sondern ihrem Feldherrn. Selbst als die +Sklaven unter dem Versprechen der Freiheit aufgefordert wurden, sich zu +bewaffnen, erschienen ihrer nicht mehr als drei. Es blieb den Führern +nichts übrig, als eiligst durch die noch unbesetzten Tore zu entrinnen; +nach wenigen Stunden war Sulla unumschränkter Herr von Rom. Diese Nacht +brannten die Wachfeuer der Legionen auf dem Großen Marktplatz der +Hauptstadt. + +Die erste militärische Intervention in den bürgerlichen Fehden hatte es +zur vollen Evidenz gebracht, sowohl daß die politischen Kämpfe auf dem +Punkt angekommen waren, wo nur noch offene und unmittelbare Gewalt die +Entscheidung gibt, als auch daß die Gewalt des Knüttels nichts ist +gegen die Gewalt des Schwertes. Es ist die konservative Partei gewesen, +die das Schwert zuerst gezogen und an der denn auch jenes ahnungsvolle +Wort des Evangeliums über den, der zuerst das Schwert erhebt, +seinerzeit sich erfüllt hat. Für jetzt triumphierte sie vollständig und +durfte ihren Sieg nach Belieben selber formulieren. Von selbst verstand +es sich, daß die Sulpicischen Gesetze als von Rechts wegen nichtig +bezeichnet wurden. Ihr Urheber und seine namhaftesten Anhänger hatten +sich geflüchtet; sie wurden, zwölf an der Zahl, von dem Senat als +Vaterlandsfeinde zur Fahndung und Hinrichtung ausgeschrieben. Publius +Sulpicius ward infolgedessen bei Laurentum ergriffen und niedergemacht +und das an Sulla gesandte Haupt des Tribuns nach dessen Anordnung auf +dem Markt auf ebenderselben Rednerbühne zur Schau gestellt, wo er +selbst noch wenige Tage zuvor in voller Jugend- und Rednerkraft +gestanden hatte. Die anderen Geächteten wurden verfolgt; auch dem alten +Gaius Marius waren die Mörder auf den Fersen. Wie der Feldherr auch die +Erinnerung an seine glorreichen Tage durch eine Kette von +Erbärmlichkeiten getrübt haben mochte, jetzt, wo der Retter des +Vaterlandes um sein Leben lief, war er wieder der Sieger von Vercellae +und mit atemloser Spannung vernahm man in ganz Italien die Ereignisse +seiner wundersamen Flucht. In Ostia hatte er ein Fahrzeug bestiegen, um +nach Afrika zu segeln; allein widrige Winde und Mangel an Vorräten +zwangen ihn, am Circeischen Vorgebirg zu landen und auf gut Glück in +die Irre zu gehen. Von wenigen begleitet und keinem Dach sich +anvertrauend, gelangte der greise Konsular zu Fuß, oft vom Hunger +gepeinigt, in die Nähe der römischen Kolonie Minturnae an der Mündung +des Garigliano. Hier zeigten sich in der Ferne die verfolgenden Reiter; +mit genauer Not ward das Ufer erreicht, und ein dort liegendes +Handelsschiff entzog ihn seinen Verfolgern; allein die ängstlichen +Schiffer legten bald wieder an und suchten das Weite, während Marius am +Strande schlief. In dem Strandsumpf von Minturnae, bis zum Gürtel in +den Schlamm versunken und das Haupt unter einem Schilfhaufen verborgen, +fanden ihn seine Verfolger und lieferten ihn ab an die Stadtbehörde von +Minturnae. Er ward ins Gefängnis gelegt und der Stadtbüttel, ein +kimbrischer Sklave, gesandt, ihn hinzurichten; allein der Deutsche +erschrak vor dem blitzenden Auge seines alten Besiegers und das Beil +entsank ihm, als der General mit seiner gewaltigen Stimme ihn +anherrschte, ob er der Mann sei, den Gaius Marius zu töten. Als man +dies vernahm, ergriff die Beamten von Minturnae die Scham, daß der +Retter Roms größere Ehrfurcht finde bei den Sklaven, denen er die +Knechtschaft, als bei den Mitbürgern, denen er die Freiheit gebracht +hatte; sie lösten seine Fesseln, gaben ihm Schiff und Reisegeld und +sandten ihn nach Aenaria (Ischia). Die Verbannten mit Ausnahme des +Sulpicius fanden in diesen Gewässern sich allmählich zusammen; sie +liefen am Eryx und bei dem ehemaligen Karthago an, allein die römischen +Beamten wiesen sie in Sizilien wie in Afrika zurück. So entrannen sie +nach Numidien, dessen öde Stranddünen ihnen einen Zufluchtsort für den +Winter gewährten. Allein der König Hiempsal II., den sie zu gewinnen +hofften und der auch eine Zeitlang sich die Miene gegeben hatte, mit +ihnen sich verbinden zu wollen, hatte es nur getan, um sie sicher zu +machen, und versuchte jetzt, sich ihrer Personen zu bemächtigen. Mit +genauer Not entrannen die Flüchtlinge seinen Reitern und fanden +vorläufig eine Zuflucht auf der kleinen Insel Kerkina (Kerkena) an der +tunesischen Küste. Wir wissen es nicht, ob Sulla seinem Glücksstern +auch dafür dankte, daß es ihm erspart blieb, den Kimbrersieger töten zu +lassen; wenigstens scheint es nicht, daß die minturnensischen Beamten +bestraft worden sind. + +Um die vorhandenen Übelstände zu beseitigen und künftige Umwälzungen zu +verhüten, veranlaßte Sulla eine Reihe neuer gesetzlicher Bestimmungen. +Für die bedrängten Schuldner scheint nichts geschehen zu sein, als daß +man die Vorschriften über das Zinsmaximum einschärfte ^11; außerdem +wurde die Ausführung einer Anzahl von Kolonien angeordnet. Der in den +Schlachten und Prozessen des Bundesgenossenkrieges sehr +zusammengeschwundene Senat ward ergänzt durch die Aufnahme von 300 +neuen Senatoren, deren Auswahl natürlich im optimatischen Interesse +getroffen ward. Endlich wurden hinsichtlich des Wahlmodus und der +legislatorischen Initiative wesentliche Änderungen vorgenommen. Die +alte Servianische Stimmordnung der Zenturiatkomitien, nach der die +erste Steuerklasse mit einem Vermögen von 100000 Sesterzen (7600 +Talern) oder darüber allein fast die Hälfte der Stimmen inne hatte, +trat wieder an die Stelle der im Jahre 513 (241) eingeführten, das +Übergewicht der ersten Klasse mildernden Ordnungen. Tatsächlich ward +damit für die Wahl der Konsuln, Prätoren und Zensoren ein Zensus +eingeführt, der die nicht Wohlhabenden vom aktiven Wahlrecht der Sache +nach ausschloß. Die legislatorische Initiative wurde den Volkstribunen +dadurch beschränkt, daß jeder Antrag fortan von ihnen zunächst dem +Senat vorgelegt werden mußte und erst, wenn dieser ihn gebilligt hatte, +an das Volk gelangen konnte. + +———————————————————————— + +^11 Klar ist es nicht, was das “Zwölftelgesetz’, der Konsuln Sulla und +Rufus von 666 (88) in dieser Hinsicht vorschrieb; die einfachste +Annahme bleibt aber, darin eine Erneuerung des Gesetzes von 397 (357) +zu sehen, so daß der höchste erlaubte Zinsfuß wieder 1/12 des Kapitals +für das zehnmonatliche oder 10 Prozent für das zwölfmonatliche Jahr +ward. + +————————————————————————- + +Diese durch den Sulpicischen Revolutionsversuch hervorgerufenen +Verfügungen desjenigen Mannes, der darin als Schild und Schwert der +Verfassungspartei aufgetreten war, des Konsuls Sulla, tragen einen ganz +eigentümlichen Charakter. Sulla wagte es, ohne die Bürgerschaft oder +Geschworene zu fragen, über zwölf der angesehensten Männer, darunter +fungierende Beamte und den berühmtesten General seiner Zeit, das +Todesurteil zu verhängen und öffentlich zu diesen Ächtungen sich zu +bekennen, eine Verletzung der altheiligen Provokationsgesetze, die +selbst von sehr konservativen Männern, wie zum Beispiel von Quintus +Scaevola, strengen Tadel erfuhr. Er wagte es, eine seit anderthalb +Jahrhunderten bestehende Wahlordnung umzustoßen und den seit langem +verschollenen und verfemten Wahlzensus wiederherzustellen. Er wagte es, +das Recht der Legislation seinen beiden uralten Faktoren, den Beamten +und den Komitien, tatsächlich zu entziehen und es auf eine Behörde zu +übertragen, die zu keiner Zeit formell ein anderes Recht in dieser +Hinsicht besessen hatte als das, dabei um Rat gefragt werden zu können. +Kaum hatte je ein Demokrat in so tyrannischen Formen Justiz geübt, mit +so rücksichtsloser Kühnheit an den Fundamenten der Verfassung gerüttelt +und gemodelt wie dieser konservative Reformator. Sieht man aber auf die +Sache statt auf die Form, so gelangt man zu sehr verschiedenen +Ergebnissen. Revolutionen sind nirgends und am wenigsten in Rom +beendigt worden, ohne eine gewisse Zahl von Opfern zu fordern, welche, +in mehr oder minder der Justiz abgeborgten Formen, die Schuld, +überwunden zu sein, gleichsam als ein Verbrechen büßen. Wer sich +erinnert an die prozessualischen Konsequenzen, wie sie die siegende +Partei nach dem Sturz der Gracchen und des Saturninus gezogen hatte, +der fühlt sich geneigt, dem Sieger vom Esquilinischen Markt das Lob der +Offenheit und der relativen Mäßigung zu erteilen, indem er einmal ohne +viel Umstände das, was Krieg war, auch als Krieg nahm und die +geschlagenen Männer als rechtlose Feinde in die Acht erklärte; zweitens +die Zahl der Opfer möglichst beschränkte und wenigstens das widerliche +Wüten gegen die geringen Leute nicht gestattete. Eine ähnliche Mäßigung +zeigt sich in den politischen Organisationen. Die Neuerung hinsichtlich +der Gesetzgebung, die wichtigste und scheinbar durchgreifendste, +brachte in der Tat nur den Buchstaben der Verfassung mit dem Geist +derselben in Einklang. Die römische Legislation, wo jeder Konsul, +Prätor oder Tribun jede beliebige Maßregel bei der Bürgerschaft +beantragen und ohne Debatte zur Abstimmung bringen konnte, war von Haus +aus unvernünftig gewesen und mit der steigenden Nullität der Komitien +es immer mehr geworden; sie ward nur ertragen, weil faktisch der Senat +sich das Vorberatungsrecht vindiziert hatte und regelmäßig den ohne +solche Vorberatung zur Abstimmung ge langenden Antrag erstickte durch +politische oder religiöse Interzession. Diese Dämme hatte die +Revolution fortgeschwemmt; infolgedessen fing nun jenes absurde System +an, seine Konsequenzen vollständig und jedem mutwilligen Buben den +Umsturz des Staats in formell legaler Weise möglich zu machen. Was war +unter solchen Umständen natürlicher, notwendiger, im rechten Sinne +konservativer, als die bisher auf Umwegen realisierte Legislation des +Senats jetzt förmlich und ausdrücklich anzuerkennen? Etwas Ähnliches +gilt von der Erneuerung des Wahlzensus. Die ältere Verfassung ruhte +durchaus auf demselben; auch die Reform von 513 (241) hatte die +Bevorzugung der Vermögenden nur beschränkt. Aber seit diesem Jahr war +eine ungeheure finanzielle Umwandlung eingetreten, welche eine Erhöhung +des Wahlzensus wohl rechtfertigen konnte. Auch die neue Timokratie +änderte also den Buchstaben der Verfassung nur, um dem Geiste derselben +treu zu bleiben, indem sie zugleich dem schändlichen Stimmenkauf samt +allem, was daran hing, in der möglichst milden Form zu wehren +wenigstens versuchte. Endlich die Bestimmungen zu Gunsten der +Schuldner, die Wiederaufnahme der Kolonisationspläne gaben den redenden +Beweis, daß Sulla, wenn er auch nicht gemeint war, Sulpicius’ +leidenschaftlichen Anträgen beizupflichten, doch eben wie er und wie +Drusus, wie überhaupt alle heller sehenden Aristokraten, den +materiellen Reformen an sich geneigt war; wobei nicht übersehen werden +darf, daß er diese Maßregel nach dem Siege und durchaus freiwillig +beantragte. Wenn man hiermit verbindet, daß Sulla die hauptsächlichen +Fundamente der Gracchischen Verfassung bestehen ließ und weder an den +Rittergerichten noch an den Kornverteilungen rüttelte, so wird man das +Urteil gerechtfertigt finden, daß die Sullanische Ordnung von 666 (86) +an dem seit dem Sturz des Gaius Gracchus bestehenden Status quo +wesentlich festhielt und nur teils die dem bestehenden Regiment +zunächst Gefahr drohenden überlieferten Satzungen zeitgemäß änderte, +teils den vorhandenen sozialen Übeln nach Kräften abzuhelfen suchte, +soweit beides sich tun ließ, ohne die tieferliegenden Schäden zu +berühren. Energische Verachtung des konstitutionellen Formalismus in +Verbindung mit einem lebendigen Gefühl für den inneren Gehalt der +bestehenden Ordnungen, klare Einsichten und löbliche Absichten +bezeichnen durchaus diese Gesetzgebung; ebenso aber eine gewisse +Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit, wie denn namentlich sehr viel +guter Wille dazu gehörte, um zu glauben, daß die Feststellung des +Zinsmaximums den verwirrten Kreditverhältnissen aufhelfen und daß das +Vorberatungsrecht des Senats sich gegen die künftige Demagogie +widerstandsfähiger erweisen werde als bisher das Interzessionsrecht und +die Religion. + +In der Tat stiegen an dem reinen Himmel der Konservativen sehr bald +neue Wolken auf. Die asiatischen Verhältnisse nahmen einen immer +drohenderen Charakter an. Schon hatte der Staat dadurch, daß die +Sulpicische Revolution den Abgang des Heeres nach Asien verzögert +hatte, den schwersten Schaden erlitten; die Einschiffung konnte auf +keinen Fall länger verschoben werden. Inzwischen hoffte Sulla teils in +den Konsuln, die nach der neuen Wahlordnung gewählt würden, teils +besonders in den mit der Bezwingung der Reste der italischen +Insurrektion beschäftigten Armeen Garanten gegen einen neuen Sturm auf +die Oligarchie in Italien zurückzulassen. Allein in den +Konsularkomitien fiel die Wahl nicht auf die von Sulla aufgestellten +Kandidaten, sondern neben Gnaeus Octavius, einem allerdings streng +optimatisch gesinnten Mann, auf Lucius Cornelius Cinna, der zur +entschiedensten Opposition gehörte. Vermutlich war es hauptsächlich die +Kapitalistenpartei, die mit dieser Wahl dem Urheber des Zinsgesetzes +vergalt. Sulla nahm die unbequeme Wahl mit der Erklärung hin, daß es +ihn freue, die Bürger von ihrer verfassungsmäßigen Wahlfreiheit +Gebrauch machen zu sehen, und begnügte sich, beiden Konsuln den Schwur +abzunehmen auf treue Beobachtung der bestehenden Verfassung. Von den +Armeen kam es vornehmlich auf die Nordarmee an, da die kampanische +größten teils nach Asien abzugehen bestimmt war. Sulla ließ durch +Volksschluß das Kommando über jene auf seinen treuergebenen Kollegen +Quintus Rufus übertragen und den bisherigen Feldherrn Gnaeus Strabo in +möglichst schonender Weise zurückrufen, um so mehr als dieser der +Ritterpartei angehörte und seine passive Haltung während der +Sulpicischen Unruhen der Aristokratie nicht geringe Bedenken erregt +hatte. Rufus traf bei dem Heer ein und übernahm an Strabos Stelle den +Oberbefehl; allein wenige Tage nachher ward er von den Soldaten +erschlagen und Strabo trat wieder zurück in das kaum abgegebene +Kommando. Er galt als der Anstifter des Mordes; gewiß ist es, daß er +ein Mann war, zu dem man solcher Tat sich versehen konnte, der die +Früchte der Untat erntete und die wohlbekannten Urheber nur mit Worten +strafte. Für Sulla war Rufus’ Beseitigung und Strabos Feldherrnschaft +eine neue und ernste Gefahr; doch tat er nichts, um diesem das Kommando +abzunehmen. Als bald darauf sein Konsulat zu Ende ging, sah er sich +einerseits von seinem Nachfolger Cinna gedrängt, endlich nach Asien +abzugehen, wo seine Anwesenheit allerdings dringend not tat, +andererseits von einem der neuen Tribune vor das Volksgericht geladen; +es war dem blödesten Auge klar, daß ein neuer Sturm gegen ihn und seine +Partei sich vorbereitete und daß die Gegner seine Entfernung wünschten. +Sulla hatte die Wahl, mit Cinna, vielleicht mit Strabo es zum Bruche zu +treiben und abermals auf Rom zu marschieren, oder die italischen +Angelegenheiten gehen zu lassen, wie sie konnten und mochten und nach +einem andern Weltteil sich zu entfernen. Sulla entschied sich - ob mehr +aus Patriotismus oder mehr aus Indifferenz, wird nie ausgemacht werden +- für die letztere Alternative, übergab das in Samnium zurückbleibende +Korps dem zuverlässigen und kriegskundigen Quintus Metellus Pius, der +an Sullas Stelle den prokonsularischen Oberbefehl in Unteritalien +übernahm, die Leitung der Belagerung von Nola dem Proprätor Appius +Claudius und schiffte im Anfang des Jahres 667 (87) mit seinen Legionen +nach dem hellenischen Osten sich ein. + + + + +KAPITEL VIII. +Der Osten und König Mithradates + + +Die atemlose Spannung, in welcher die Revolution mit ihrem ewig sich +erneuernden Feuerlärm und Löschruf die römische Regierung erhielt, war +die Ursache, daß dieselbe die Provinzialverhältnisse überhaupt aus den +Augen verlor, am meisten aber die des asiatischen Ostens, dessen ferne +und unkriegerische Nationen nicht so unmittelbar wie Afrika, Spanien +und die transalpinischen Nachbarn der Beachtung der Regierung sich +aufdrängten. Nach der Einziehung des Attalischen Königreiches, die mit +dem Ausbruch der Revolution zusammenfällt, ist ein volles Menschenalter +hindurch kaum irgendeine ernstliche Beteiligung Roms an den +orientalischen Angelegenheiten nachzuweisen, mit Ausnahme der durch die +maßlose Dreistigkeit der kilikischen Piraterie den Römern abgedrungenen +Einrichtung der Provinz Kilikien im Jahre 652 (102), welche der Sache +nach auch nichts weiter war als die Anordnung einer bleibenden Station +für eine kleine römische Heer- und Flottenabteilung in den östlichen +Gewässern. Erst nachdem die Marianische Katastrophe im Jahre 654 (100) +die Restaurationsregierung einigermaßen konsolidiert hatte, begann die +römische Regierung aufs neue den Ereignissen im Osten einige +Aufmerksamkeit zuzuwenden. + +In vieler Hinsicht waren die Verhältnisse noch, wie wir dreißig Jahre +zuvor sie verließen. Das Reich Ägypten mit seinen beiden Nebenländern +Kyrene und Kypros löste mit dem Tode Euergetes II. (637 117) teils +rechtlich, teils tatsächlich sich auf. Kyrene kam an den natürlichen +Sohn desselben, Ptolemaeos Apion, und trennte sich auf immer von dem +Hauptland. Um die Herrschaft in diesem haderten die Witwe des letzten +Königs, Kleopatra († 665 89), und dessen beide Söhne Soter II. Lathyros +(† 673 81) und Alexander I. († 666 88), was die Ursache ward, daß auch +Kypros auf längere Zeit von Ägypten sich schied. Die Römer griffen in +die Wirren nicht ein; ja als ihnen im Jahre 658 (96) das Kyrenische +Reich durch das Testament des kinderlosen Königs Apion anfiel, schlugen +sie diesen Erwerb zwar nicht geradezu aus, aber überließen doch die +Landschaft im wesentlichen sich selbst, indem sie die griechischen +Städte des Reiches, Kyrene, Ptolemais, Berenike, zu Freistädten +erklärten und denselben sogar die Nutzung der königlichen Domänen +überwiesen. Die Oberaufsicht des Statthalters von Africa über dieses +Gebiet war bei dessen Entlegenheit noch weit mehr eine bloß nominelle +als die des Statthalters von Makedonien über die hellenischen +Freistädte. Die Folgen dieser Maßregel, die ohne Zweifel nicht aus dem +Philhellenismus, sondern lediglich aus der Schwäche und Nachlässigkeit +der römischen Regierung hervorging, waren wesentlich dieselben, die +unter gleichen Verhältnissen in Hellas eingetreten waren: Bürgerkriege +und Usurpation zerrissen die Landschaft so, daß, als dort zufällig im +Jahre 668 (86) ein höherer römischer Offizier erschien, die Einwohner +ihn dringend ersuchten, ihre Verhältnisse zu ordnen und ein dauerhaftes +Regiment bei ihnen zu begründen. + +Auch in Syrien war es in der Zwischenzeit nicht viel anders, am +wenigsten besser geworden. Während des zwanzigjährigen Erbfolgekrieges +der beiden Halbbrüder Antiochos Grypos († 658 96) und Antiochos von +Kyzikos († 659 95), der sich nach dem Tode derselben auf ihre Söhne +forterbte, ward das Reich, um das man stritt, fast zu einem eitlen +Namen, in dem die kilikischen Seekönige, die Araberscheichs der +syrischen Wüste, die Fürsten der Juden und die Magistrate der größeren +Städte in der Regel mehr zu sagen hatten als die Träger des Diadems. +Inzwischen setzten im westlichen Kilikien die Römer sich fest und ging +das wichtige Mesopotamien definitiv über an die Parther. + +Die Monarchie der Arsakiden hatte, hauptsächlich infolge der Einfälle +turanischer Stämme, um die Zeit der Gracchen eine gefährliche Krise +durchzumachen gehabt. Der neunte Arsakide, Mithradates II. oder der +Große (630 ? - 667 ? 124 ? 87 ?), hatte dem Staat zwar seine +überwiegende Stellung in Innerasien zurückgegeben, die Skythen +zurückgeschlagen und gegen Syrien und Armenien die Grenze des Reiches +vorgeschoben, allein gegen das Ende seines Lebens lähmten neue Unruhen +sein Regiment; und während die Großen des Reiches, ja der eigene Bruder +Orodes gegen den König sich auflehnten und endlich dieser Bruder ihn +stürzte und töten ließ, erhob sich das bis dahin unbedeutende Armenien. +Dieses Land, das seit seiner Selbständigkeitserklärung in die +nordöstliche Hälfte oder das eigentliche Armenien, das Reich der +Artaxiaden, und die südwestliche oder Sophene, das Reich der +Zariadriden, geteilt gewesen war, wurde durch den Artaxiaden Tigranes +(regierte seit 660 94) zum erstenmal zu einem Königreich vereinigt, und +teils diese Machtverdoppelung, teils die Schwäche der parthischen +Herrschaft machten es dem neuen König von ganz Armenien möglich, nicht +bloß aus der Klientel der Parther sich zu lösen und die früher an sie +abgetretenen Landschaften zurückzugewinnen, sondern sogar das +Oberkönigtum von Asien, wie es von den Achämeniden auf die Seleukiden +und von diesen auf die Arsakiden übergegangen war, an Armenien zu +bringen. + +In Kleinasien endlich bestand die Länderteilung, wie sie nach der +Auflösung des Attalischen Reiches unter römischer Einwirkung +festgestellt worden war, noch wesentlich ungeändert. In dem Zustande +der Klientelstaaten, der Königreiche Bithynien, Kappadokien, Pontus, +der Fürstentümer Paphlagoniens und Galatiens, der zahlreichen +Städtebünde und Freistädte, war eine äußerliche Änderung zunächst nicht +wahrzunehmen. Innerlich hatte dagegen der Charakter der römischen +Herrschaft allerdings überall sich wesentlich umgestaltet. Teils durch +die bei jedem tyrannischen Regiment naturgemäß eintretende stetige +Steigerung des Druckes, teils durch die mittelbare Einwirkung der +römischen Revolution - man erinnere sich an die Einziehung des +Bodeneigentums in der Provinz Asien durch Gaius Gracchus, an die +römischen Zehnten und Zölle und an die Menschenjagden, die die Zöllner +daselbst nebenbei betrieben - lastete die schon von Haus aus schwer +erträgliche römische Herrschaft in einer Weise auf Asien, daß weder die +Königskrone noch die Bauernhütte daselbst mehr sicher war vor +Konfiskation, daß jeder Halm für den römischen Zehntherrn zu wachsen, +jedes Kind freier Eltern für die römischen Sklavenzwinger geboren zu +werden schien. Zwar ertrug der Asiate in seiner unerschöpflichen +Passivität auch diese Qual; allein es waren nicht Geduld und +Überlegung, die ihn ruhig tragen hießen, sondern der eigentümlich +orientalische Mangel der Initiative, und es konnten in diesen +friedlichen Landschaften, unter diesen weichlichen Nationen wunderbare, +schreckhafte Dinge sich ereignen, wenn einmal ein Mann unter sie trat, +der es verstand, das Zeichen zu geben. + +Es regierte damals im Reiche Pontus König Mithradates VI. mit dem +Beinamen Eupator (geb. um 624 130, gest. 691 63), der sein Geschlecht +von väterlicher Seite im sechzehnten Glied auf den König Dareios +Hystaspes’ Sohn, im achten auf den Stifter des Pontischen Reiches, +Mithradates I., zurückführte, von mütterlicher den Alexandriden und +Seleukiden entstammte. Nach dem frühen Tode seines Vaters Mithradates +Euergetes, der in Sinope von Mörderhand fiel, war er um 634 (120) als +elfjähriger Knabe König genannt worden; allein das Diadem brachte ihm +nur Not und Gefahr. Die Vormünder, ja, wie es scheint, die eigene, +durch des Vaters Testament zur Mitregierung berufene Mutter standen dem +königlichen Knaben nach dem Leben; es wird erzählt, daß er, um den +Dolchen seiner gesetzlichen Beschützer sich zu entziehen, freiwillig in +das Elend gegangen sei und sieben Jahre hindurch, Nacht für Nacht die +Ruhestätte wechselnd, ein Flüchtling in seinem eigenen Reiche, ein +heimatloses Jägerleben geführt habe. Also ward der Knabe ein gewaltiger +Mann. Wenngleich unsere Berichte über ihn im wesentlichen auf +schriftliche Aufzeichnungen der Zeitgenossen zurückgehen, so hat +nichtsdestoweniger die im Orient blitzschnell sich bildende Sage den +mächtigen König früh geschmückt mit manchen der Züge ihrer Simson und +Rustem; aber auch diese gehören zum Charakter ebenwie die Wolkenkrone +zum Charakter der höchsten Bergspitzen: die Grundlinien des Bildes +erscheinen in beiden Fällen nur farbiger und phantastischer, nicht +getrübt noch wesentlich geändert. Die Waffenstücke, die dem +riesengroßen Leibe des Königs Mithradates paßten, erregten das Staunen +der Asiaten und mehr noch der Italiker. Als Läufer überholte er das +schnellste Wild; als Reiter bändigte er das wilde Roß und vermochte mit +gewechselten Pferden an einem Tage 25 deutsche Meilen zurückzulegen; +als Wagenlenker fuhr er mit sechzehn und gewann im Wettrennen manchen +Preis - freilich war es gefährlich, in solchem Spiel dem König +obzusiegen. Auf der Jagd traf er das Wild im vollen Galopp vom Pferde +herab, ohne zu fehlen; aber auch an der Tafel suchte er seinesgleichen +- er veranstaltete wohl Wettschmäuse und gewann darin selber die für +den derbsten Esser und für den tapfersten Trinker ausgesetzten Preise - +und nicht minder in den Freuden des Harems, wie unter anderm die +zügellosen Billets seiner griechischen Mätressen bewiesen, die sich +unter seinen Papieren fanden. Seine geistigen Bedürfnisse befriedigte +er im wüstesten Aberglauben -Traumdeuterei und das griechische +Mysterienwesen füllten nicht wenige der Stunden des Königs aus - und in +einer rohen Aneignung der hellenischen Zivilisation. Er liebte +griechische Kunst und Musik, das heißt er sammelte Pretiosen, reiches +Gerät, alte persische und griechische Prachtstücke - sein Ringkabinett +war berühmt -, hatte stets griechische Geschichtschreiber, Philosophen, +Poeten in seiner Umgebung und setzte bei seinen Hoffesten neben den +Preisen für Esser und Trinker auch welche aus für den drolligsten +Spaßmacher und den besten Sänger. So war der Mensch; der Sultan +entsprach ihm. Im Orient, wo das Verhältnis des Herrschers und der +Beherrschten mehr den Charakter des Natur- als des sittlichen Gesetzes +trägt, ist der Untertan hündisch treu und hündisch falsch, der +Herrscher grausam und mißtrauisch. In beiden ist Mithradates kaum +übertroffen worden. Auf seinen Befehl starben oder verkamen in ewiger +Haft wegen wirklicher oder angeblicher Verräterei seine Mutter, sein +Bruder, seine ihm vermählte Schwester, drei seiner Söhne und ebenso +viele seiner Töchter. Vielleicht noch empörender ist es, daß sich unter +seinen geheimen Papieren im voraus aufgesetzte Todesurteile gegen +mehrere seiner vertrautesten Diener vorfanden. Ebenso ist es echt +sultanisch, daß er späterhin, nur um seinen Feinden die Siegestrophäen +zu entziehen, seine beiden griechischen Gattinnen, seine Schwestern und +seinen ganzen Harem töten ließ und den Frauen nur die Wahl der Todesart +freigab. Das experimentale Studium der Gifte und Gegengifte betrieb er +als einen wichtigen Zweig der Regierungsgeschäfte und versuchte, seinen +Körper an einzelne Gifte zu gewöhnen. Verrat und Mord hatte er von früh +auf von jedermann und zumeist von den Nächsten erwarten und gegen +jedermann und zumeist gegen die Nächsten üben gelernt, wovon denn die +notwendige und durch seine ganze Geschichte belegte Folge war, daß all +seine Unternehmungen schließlich mißlangen durch die Treulosigkeit +seiner Vertrauten. Dabei begegnen wohl einzelne Züge von hochherziger +Gerechtigkeit; wenn er Verräter bestrafte, schonte er in der Regel +diejenigen, welche nur durch ihr persönliches Verhältnis zu dem +Hauptverbrecher mitschuldig geworden waren; allein dergleichen Anfälle +von Billigkeit fehlen bei keinem rohen Tyrannen. Was Mithradates in der +Tat auszeichnet unter der großen Anzahl gleichartiger Sultane, ist +seine grenzenlose Rührigkeit. Eines schönen Morgens war er aus seiner +Hofburg verschwunden und blieb Monate lang verschollen, so daß man ihn +bereits verloren gab; als er zurückkam, hatte er unerkannt ganz +Vorderasien durchwandert und Land und Leute überall militärisch +erkundet. Von gleicher Art ist es, daß er nicht bloß überhaupt ein +redefertiger Mann war, sondern auch den zweiundzwanzig Nationen, über +die er gebot, jeder in ihrer Zunge Recht sprach, ohne eines +Dolmetschers zu bedürfen - ein bezeichnender Zug für den regsamen +Herrscher des sprachenreichen Ostens. Denselben Charakter trägt seine +ganze Regententätigkeit. Soweit wir sie kennen - denn von der inneren +Verwaltung schweigt unsere Überlieferung leider durchaus -, geht sie +auf wie die eines jeden anderen Sultans im Sammeln von Schätzen, im +Zusammentreiben der Heere, die wenigstens in seinen früheren Jahren +gewöhnlich nicht der König selbst, sondern irgendein griechischer +Condottiere gegen den Feind führt, in dem Bestreben, neue Satrapien zu +den alten zu fügen; von höheren Elementen, Förderung der Zivilisation, +ernstlicher Führerschaft der nationalen Opposition, eigenartiger +Genialität finden sich, in unserer Überlieferung wenigstens, bei +Mithradates keine bewußten Spuren, und wir haben keinen Grund, auch nur +mit den großen Regenten der Osmanen, wie Muhamed II. und Suleiman +waren, ihn auf eine Linie zu stellen. Trotz der hellenischen Bildung, +die ihm nicht viel besser sitzt als seinen Kappadokiern die römische +Rüstung, ist er durchaus ein Orientale gemeinen Schlags, roh, voll +sinnlichster Begehrlichkeit, abergläubisch, grausam, treu- und +rücksichtslos, aber so kräftig organisiert, so gewaltig physisch +begabt, daß sein trotziges Umsichschlagen, sein unverwüstlicher +Widerstandsmut häufig wie Talent, zuweilen sogar wie Genie aussieht. +Wenn man auch in Anschlag bringt, daß während der Agonie der Republik +es leichter war, Rom Widerstand zu leisten als in den Zeiten Scipios +oder Traians, und daß nur die Verschlingung der asiatischen Ereignisse +mit den inneren Bewegungen Italiens es Mithradates möglich machte, +doppelt so lange als Jugurtha den Römern zu widerstehen, so bleibt es +darum doch nicht minder wahr, daß bis auf die Partherkriege er der +einzige Feind ist, der im Osten den Römern ernstlich zu schaffen +gemacht, und daß er gegen sie sich gewehrt hat wie gegen den Jäger der +Löwe der Wüste. Aber mehr als solchen naturkräftigen Widerstand sind +wir nach dem, was vorliegt, auch nicht berechtigt, in ihm zu erkennen. + +Indes wie man immer über die Individualität des Königs urteilen möge, +seine geschichtliche Stellung bleibt in hohem Grade bedeutsam. Die +Mithradatischen Kriege sind zugleich die letzte Regung der politischen +Opposition von Hellas gegen Rom und der Anfang einer auf sehr +verschiedenen und weit tieferen Gegensätzen beruhenden Auflehnung gegen +die römische Suprematie, der nationalen Reaktion der Asiaten gegen die +Okzidentalen. Wie Mithradates selbst so war auch sein Reich ein +orientalisches, die Polygamie und das Haremwesen herrschend am Hofe und +überhaupt unter den Vornehmen, die Religion der Landesbewohner wie die +offizielle des Hofes vorwiegend der alte Nationalkult; der Hellenismus +daselbst war wenig verschieden von dem Hellenismus der armenischen +Tigraniden und der Arsakiden des Partherreichs. Es mochten die +kleinasiatischen Griechen einen kurzen Augenblick für ihre politischen +Träume an diesem König einen Halt zu finden meinen; in der Tat ward in +seinen Schlachten um ganz andere Dinge gestritten, als worüber auf den +Feldern von Magnesia und Pydna die Entscheidung fiel. Es war nach +langer Waffenruhe ein neuer Gang in dem ungeheuren Zweikampf des +Westens und des Ostens, welcher von den Kämpfen bei Marathon auf die +heutige Generation sich vererbt hat und vielleicht seine Zukunft ebenso +nach Jahrtausenden zählen mag wie seine Vergangenheit. + +So offenbar indes in dem ganzen Sein und Tun des kappadokischen Königs +das fremdartige und unhellenische Wesen hervortritt, so schwierig ist +es, das hier obwaltende nationale Element bestimmt anzugeben, und kaum +wird es je gelingen, in dieser Hinsicht über Allgemeinheiten hinaus und +zu einer wirklichen Anschauung zu gelangen. In dem ganzen Kreis der +antiken Zivilisation gibt es keinen Bezirk, in welchem so zahlreiche, +so verschiedenartige, so seit fernster Zeit mannigfaltig verschlungene +Stämme neben- und durcheinander geschoben und wo demzufolge die +Verhältnisse der Nationalitäten weniger klar wären wie in Kleinasien. +Die semitische Bevölkerung setzt sich von Syrien her in +ununterbrochenem Zuge nach Kypros und Kilikien fort, und es scheint ihr +ferner auch an der Ostküste in der karischen lydischen Landschaft der +Grundstock der Bevölkerung anzugehören, während die nordwestliche +Spitze von den Bithynern, den Stammverwandten der europäischen Thraker, +eingenommen wird. Dagegen das Binnenland und die Nordküste sind +vorwiegend von indogermanischen, am nächsten den iranischen verwandten +Völkerschaften erfüllt. Von der armenischen und der phrygischen Sprache +^1 ist es ausgemacht, von der kappadokischen höchstwahrscheinlich, daß +sie zunächst an das Zend grenzten; und wenn von den Mysern angegeben +wird, daß bei ihnen lydische und phrygische Sprache sich begegneten, so +bezeichnet dies eben eine semitisch-iranische, etwa der assyrischen +vergleichbare Mischbevölkerung. Was die zwischen Kilikien und Karien +sich ausbreitenden Landschaften, namentlich die lykische, anlangt, so +mangelt es, trotz der gerade hier in Fülle vorhandenen Überreste +einheimischer Sprache und Schrift, bis jetzt über dieselbe noch an +gesicherten Ergebnissen, und es ist nur wahrscheinlich, daß diese +Stämme eher den Indogermanen als den Semiten zuzuzählen sind. Wie dann +überall dieses Völkergewirre sich zuerst ein Netz griechischer +Kaufstädte, sodann der durch das kriegerische wie das geistige +Übergewicht der griechischen Nation ins Leben gerufene Hellenismus +gelegt hat, ist in seinen Umrissen bereits früher auseinandergesetzt +worden. + +————————————————————— + +^1 Die als phrygisch angeführten Wörter Βαγαίος = Zeus und der alte +Königsname Μάνις sind unzweifelhaft richtig auf das zendische bagha = +Gott und das deutsche Mannus, indisch Manus zurückgeführt worden. Chr. +Lassen in: ZDMG, 10, 1888, S. 329f. + +————————————————————— + +In diesen Gebieten herrschte König Mithradates und zwar zunächst in +Kappadokien am Schwarzen Meer oder der sogenannten pontischen +Landschaft, da wo, am nordöstlichen Ende Kleinasiens gegen Armenien zu +und mit diesem in steter Berührung, sich die iranische Nationalität +vermutlich minder gemischt als irgendwo sonst in Kleinasien behauptet +hatte. Nicht einmal der Hellenismus war hier tief eingedrungen. Mit +Ausnahme der Küste, wo mehrere ursprünglich griechische Ansiedlungen +bestanden, namentlich die bedeutenden Handelsplätze Trapezus, Amisos +und vor allem die Geburts- und Residenzstadt Mithradats und die +blühendste Stadt des Reiches, Sinope, war das Land noch in einem sehr +primitiven Zustand. Nicht als hätte es wüst gelegen; vielmehr wie die +pontische Landschaft noch heute eine der lachendsten der Erde ist, in +der Getreidefelder mit Wäldern von wilden Obstbäumen wechseln, war sie +ohne Zweifel auch zu Mithradates’ Zeit wohl bebaut und verhältnismäßig +auch bevölkert. Allein eigentliche Städte gab es daselbst kaum, sondern +nur Burgen, die den Ackerleuten als Zufluchtsstätten und dem König als +Schatzkammern zur Aufbewahrung der eingehenden Steuern dienten, wie +denn allein in Kleinarmenien fünfundsiebzig solcher kleiner königlicher +Kastelle gezählt wurden. Wir finden nicht, daß Mithradates wesentlich +dazu getan hätte, das städtische Wesen in seinem Reiche emporzubringen; +und wie er gestellt war, in tatsächlicher, wenn auch vielleicht ihm +selbst nicht völlig bewußter Reaktion gegen den Hellenismus, begreift +sich dies wohl. Um so tätiger erscheint er, gleichfalls in ganz +orientalischer Weise, bemüht, sein Reich, das schon nicht klein war, +wenn auch der Umfang desselben wohl übertrieben auf 500 deutsche Meilen +angegeben wird, nach allen Seiten hin zu erweitern: am Schwarzen Meer +wie gegen Armenien und gegen Kleinasien finden wir seine Heere, seine +Flotten und seine Botschafter tätig. Nirgends aber bot sich ihm ein so +freier und so weiter Spielraum wie an den östlichen und den nördlichen +Gestaden des Schwarzen Meeres, auf deren damalige Zustände hier einen +Blick zu werfen nicht unterlassen werden darf, so schwierig oder +vielmehr unmöglich es ist, ein wirklich anschauliches Bild davon zu +geben. An dem östlichen Ufer des Schwarzen Meeres, das bisher fast +unbekannt erst durch Mithradates der allgemeineren Kunde aufgeschlossen +ward, wurde die kolchische Landschaft am Phasis (Mingrelien und +Imereti) mit der wichtigen Handelsstadt Dioskurias den einheimischen +Fürsten entrissen und verwandelt in eine pontische Satrapie. +Folgenreicher noch waren seine Unternehmungen in den nördlichen +Landschaften 2. Die weiten hügel- und waldlosen Steppen, die sich +nördlich vom Schwarzen Meer, vom Kaukasus und von der Kaspischen See +hinziehen, sind ihrer Naturbeschaffenheit zufolge, namentlich wegen der +zwischen dem Klima von Stockholm und von dem von Madeira schwankenden +Temperaturdifferenz und der nicht selten eintretenden und bis zu 22 +Monaten und länger anhaltenden absoluten Regen- und Schneelosigkeit, +für den Ackerbau und überhaupt für feste Ansiedlung wenig geeignet und +waren dies immer, wenngleich vor zweitausend Jahren die klimatischen +Verhältnisse vermutlich etwas weniger ungünstig standen, als dies +heutzutage der Fall ist 3. Die verschiedenen Stämme, die der +Wandertrieb in diese Gegenden geführt hatte, fügten sich diesem Gebot +der Natur und führten und führen zum Teil noch jetzt ein wanderndes +Hirtenleben, indem sie mit ihren Rinder- oder häufiger noch mit ihren +Roßherden Wohn- und Weideplätze wechselten und ihr Gerät auf +Wagenhäusern sich nachführten. Auch die Bewaffnung und Kampfweise +richtete sich hiernach: die Bewohner dieser Steppen fochten großenteils +beritten und immer aufgelöst, mit Helm und Panzer von Leder und +lederüberzogenem Schild gerüstet, gewaffnet mit Schwert, Lanze und +Bogen - die Vorfahren der heutigen Kosaken. Den ursprünglich hier +ansässigen Skythen, die mongolischer Rasse und in Sitte und +Körpergestalt den heutigen Bewohnern Sibiriens verwandt gewesen zu sein +scheinen, hatten sich, von Osten nach Westen vorrückend, sarmatische +Stämme nachgeschoben, Sauromaten, Roxolaner, Jazygen, die gemeiniglich +für slawischer Abkunft gehalten werden, obwohl diejenigen Eigennamen, +welche man ihnen zuzuschreiben befugt ist, mehr mit medischen und +persischen sich verwandt zeigen und vielleicht jene Völker vielmehr dem +großen Zendstamme angehört haben. In entgegengesetzter Richtung +fluteten thrakische Schwärme, namentlich die Geten, die bis zum Dnjestr +gelangten; dazwischen drängten sich, wahrscheinlich als Ausläufer der +großen germanischen Wanderung, deren Hauptmasse das Schwarze Meer nicht +berührt zu haben scheint, am Dnjepr sogenannte Kelten, ebendaselbst die +Bastarner, an der Donaumündung die Peukinen. Ein eigentlicher Staat +bildete sich nirgends; es lebte jeder Stamm unter seinen Fürsten und +Ältesten für sich. Zu all diesen Barbaren in scharfem Gegensatz standen +die hellenischen Ansiedlungen, welche zur Zeit des gewaltigen +Aufschwungs des griechischen Handels, namentlich von Miletos aus, an +diesen Gestaden gegründet worden waren, teils als Emporien, teils als +Stationen für den wichtigen Fischfang und selbst für den Ackerbau, für +welchen, wie schon gesagt ward, das nordwestliche Gestade des Schwarzen +Meeres im Altertum minder ungünstige Verhältnisse darbot, als dies +heutzutage der Fall ist; für die Benutzung des Bodens zahlten hier die +Hellenen, wie die Phöniker in Libyen, den einheimischen Herren Schoß +und Grundzins. Die wichtigsten dieser Ansiedlungen waren die Freistadt +Chersonesos (unweit Sevastopol), auf dem Gebiet der Skythen in der +Taurischen Halbinsel (Krim) angelegt und unter nicht vorteilhaften +Verhältnissen durch ihre gute Verfassung und den Gemeingeist ihrer +Bürger in mäßigem Wohlstand sich behauptend; ferner auf der +gegenüberliegenden Seite der Halbinsel an der Straße von dem Schwarzen +in das Asowsche Meer Pantikapäon (Kertsch), seit dem Jahre 457 (297) +Roms regiert von erblichen Bürgermeistern, später bosporanische Könige +genannt, den Archäanaktiden, Spartokiden und Pärisaden. Der Getreidebau +und der Fischfang im Asowschen Meer hatten die Stadt schnell zur Blüte +gebracht. Ihr Gebiet umfaßte in der Mithradatischen Zeit noch die +kleinere Osthälfte der Krim mit Einschluß der Stadt Theodosia und auf +dem gegenüberliegenden asiatischen Kontinent die Stadt Phanagoria und +die Sindische Landschaft. In besseren Zeiten hatten die Herren von +Pantikapäon zu Lande die Völker an der Ostküste des Asowschen Meeres +und das Kubantal, zur See mit ihrer Flotte das Schwarze Meer +beherrscht; allein Pantikapäon war nicht mehr, was es gewesen war. +Nirgends empfand man tiefer als an diesen fernen Grenzposten den +traurigen Rückgang der hellenischen Nation. Athen in seiner guten Zeit +ist der einzige Griechenstaat gewesen, der hier die Pflichten der +führenden Macht erfüllte, die allerdings auch den Athenern durch ihren +Bedarf pontischen Getreides besonders nahegelegt wurden. Von dem Sturz +der attischen Seemacht an blieben diese Landschaften im ganzen sich +selbst überlassen. Die griechischen Landmächte sind nie dazu gelangt, +ernstlich hier einzugreifen, obwohl Philippos, der Vater Alexanders, +und Lysimachos einigemal dazu ansetzten; und auch die Römer, auf welche +mit der Eroberung Makedoniens und Kleinasiens die politische +Verpflichtung überging, hier, wo die griechische Zivilisation dessen +bedurfte, ihr starker Schild zu sein, vernachlässigten völlig das Gebot +des Vorteils wie der Ehre. Der Fall von Sinope, das Sinken von Rhodos +vollendeten die Isolierung der Hellenen am Nordgestade des Schwarzen +Meeres. Ein lebendiges Bild ihrer Lage den schweifenden Barbaren +gegenüber gibt uns eine Inschrift von Olbia (unweit der Dnjeprmündung +bei Očakov), die nicht allzulange vor der Mithradatischen Zeit gesetzt +zu sein scheint. Die Bürgerschaft muß dem Barbarenkönig nicht bloß +jährlichen Zins an sein Hoflager schicken, sondern ihm auch, wenn er +vor der Stadt lagert oder auch nur vorbeizieht, eine Verehrung machen, +in ähnlicher Weise auch geringere Häuptlinge, ja zuweilen den ganzen +Schwarm der Barbaren mit Geschenken abfinden, und es geht ihr übel, +wenn die Gabe zu geringfügig erscheint. Die Stadtkasse ist bankrott, +und man muß die Tempelkleinode zum Pfand setzen. Inzwischen drängen +draußen vor den Toren sich die Stämme der Wilden: das Gebiet wird +verwüstet, die Feldarbeiter in Masse weggeschleppt, ja, was das ärgste +ist, die schwächeren der barbarischen Nachbarn, die Skythen, suchen, um +vor dem Andrang der wilderen Kelten sich selber zu bergen, der +ummauerten Stadt sich zu bemächtigen, so daß zahlreiche Bürger dieselbe +verlassen und man schon daran denkt, sie ganz aufzugeben. + +——————————————————————- + +2 Sie sind hier zusammengefaßt, da sie freilich zum Teil erst zwischen +den ersten und den zweiten, zum Teil aber doch schon vor den ersten +Krieg mit Rom fallen (Memn. 30; Iust. 38, 7 a. E.; App. Mithr. 13; +Eutr. 5, 5) und eine Erzählung nach der Zeitfolge sich hier nun einmal +schlechterdings nicht durchführen läßt. Auch das neu gefundene Dekret +von Chersonesos hat in dieser Hinsicht keinen Aufschluß gegeben. Danach +ist Diophantos zweimal gegen die taurischen Skythen gesandt worden; +aber daß die zweite Schilderhebung derselben mit dem Beschluß des +römischen Senats zu Gunsten der skythischen Fürsten in Verbindung +steht, erhellt aus der Urkunde nicht und ist nicht einmal +wahrscheinlich. + +3 Es hat viele Wahrscheinlichkeit, daß die ungemeine Trockenheit, die +vornehmlich jetzt den Ackerbau in der Krim und in diesen Gegenden +überhaupt erschwert, sehr gesteigert worden ist durch das Schwinden der +Wälder des mittleren und südlichen Rußland, die ehemals bis zu einem +gewissen Grad die Küstenlandschaft gegen den austrocknenden Nordostwind +schützten. + +——————————————————————- + +Diese Zustände fand Mithradates vor, als seine makedonische Phalanx den +Kamm des Kaukasus überschreitend hinabstieg in die Täler des Kuban und +Terek und gleichzeitig seine Flotte in den Gewässern der Krim sich +zeigte. Kein Wunder, daß auch hier überall, wie es schon in Dioskurias +geschehen war, die Hellenen den pontischen König mit offenen Armen +empfingen und in dem Halbhellenen und seinen griechisch gerüsteten +Kappadokiern ihre Befreier sahen. Es zeigte sich, was Rom hier versäumt +hatte. Den Herren von Pantikapäon waren ebendamals die +Tributforderungen zu unerschwinglicher Höhe gesteigert worden; die +Stadt Chersonesos sah sich von dem König der auf der Halbinsel +hausenden Skythen, Skiluros, und dessen fünfzig Söhnen hart bedrängt; +gern gaben jene ihre Erbherrschaft, diese die lang bewahrte Freiheit +hin, um ihr letztes Gut, ihr Hellenentum, zu retten. Es war nicht +umsonst. Mithradates’ tapfere Feldherren Diophantos und Neoptolemos und +seine disziplinierten Truppen wurden leicht mit den Steppenvölkern +fertig. Neoptolemos schlug sie in der Straße von Pantikapäon teils zu +Wasser, teils im Winter auf dem Eise; Chersonesos wurde befreit, die +Burgen der Taurier gebrochen und durch zweckmäßig angelegte Festungen +der Besitz der Halbinsel gesichert. Gegen die Reuxinaler oder, wie sie +später heißen, die Roxolaner (zwischen Dnjepr und Don), die den +Tauriern zu Hilfe herbeikamen, zog Diophantos; ihrer 50000 flohen vor +seinen 6000 Phalangiten und bis zum Dnjepr drangen die pontischen +Waffen 4. So erwarb Mithradates hier sich ein zweites, mit dem +pontischen verbundenes und gleich diesem wesentlich auf eine Anzahl +griechischer Handelsstädte gegründetes Königreich, das Bosporanische +genannt, das die heutige Krim mit der gegenüberliegenden asiatischen +Landspitze umfaßte und jährlich 200 Talente (314000 Taler) und 180000 +Scheffel Getreide in die königlichen Kassen und Magazine lieferte. Die +Steppenvölker selbst vom Nordabhang des Kaukasus bis zur Donaumündung +traten wenigstens zum großen Teil in Klientel oder in Vertrag mit dem +pontischen König und boten ihm, wenn nicht andere Hilfe, doch +wenigstens einen unerschöpflichen Werbeplatz für seine Armeen. + +——————————————————————————— + +4 Das kürzlich aufgefundene Ehrendekret der Stadt Chersonesos für +diesen Diophantos (SIG 252) bestätigt die Überlieferung durchaus. Es +zeigt uns die Stadt in nächster Nähe - den Hafen von Balaklava müssen +die Taurer, Simferopol die Skythen damals in der Gewalt gehabt haben -, +bedrängt teils von den Taurern an der Südküste der Krim, teils und vor +allem von den Skythen, die das ganze Innere der Halbinsel und das +angrenzende Festland in der Gewalt haben; es zeigt uns ferner, wie der +Feldherr des Königs Mithradates nach allen Seiten hin der Griechenstadt +Luft macht die Taurer niederschlägt und in ihrem Gebiet eine Zwingburg +(wahrscheinlich Eupatorion) errichtet, die Verbindung zwischen den +westlichen und den östlichen Hellepen der Halbinsel herstellt, im +Westen die Dynastie des Skiluros, im Osten den Skythenfürsten Saumakos +überwältigt, die Skythen bis auf den Kontinent verfolgt und endlich sie +mit den Reuxinalern - so heißen hier, wo sie zuerst auftreten, die +späteren Roxolaner - in der großen Feldschlacht besiegt, deren auch die +schriftliche Überlieferung gedenkt. Eine formelle Unterordnung der +Griechenstadt unter den König scheint nicht stattgefunden zu haben; +Mithradates erscheint nur als schützender Bundesgenosse, der gegen die +als unbesiegbar geltenden (τούς ανυποστάτους δοκούντασ ειμεν) Skythen +für die Griechenstadt die Schlachten schlägt, welche wahrscheinlich zu +ihm ungefähr in dem Verhältnis gestanden hat wie Massalia und Athen zu +Rom. Die Skythen dagegen in der Krim werden Untertanen (υπάκοιοι) des +Mithradates. + +———————————————————————————- + +Während also gegen Norden die bedeutendsten Erfolge gelangen, griff der +König zugleich um sich gegen Osten und gegen Westen. Wichtiger als die +Einziehung Kleinarmeniens, das durch ihn aus einer abhängigen +Herrschaft zum integrierenden Teil des Pontischen Reiches ward, war die +enge Verbindung, in die er mit dem König von Großarmenien trat. Er gab +dem Tigranes nicht bloß seine Tochter Kleopatra zur Gemahlin, sondern +er war es auch wesentlich, durch dessen Unterstützung Tigranes sich der +Herrschaft der Arsakiden entwand und ihre Stelle in Asien einnahm. Es +scheint zwischen beiden eine Verabredung in der Art getroffen zu sein, +daß Tigranes Syrien und das innere Asien, Mithradates Kleinasien und +die Küsten des Schwarzen Meeres zu besetzen übernahmen unter Zusage +gegenseitiger Unterstützung, und ohne Zweifel war es der tätigere und +fähigere Mithradates, der dies Abkommen hervorrief, um sich den Rücken +zu decken und einen mächtigen Bundesgenossen zu sichern. + +In Kleinasien endlich richtete der König die Blicke auf das +binnenländische Paphlagonien - die Küste gehörte seit langem zum +Poptischen Reich - und auf Kappadokien 5. Auf jenes machte man +pontischerseits Ansprüche als durch Testament des letzten der +Pylämeniden vermacht an den König Mithradates Euergetes; wogegen +freilich legitime oder illegitime Prätendenten und das Land selbst +protestierten. Was Kappadokien anlangt, so hatten die pontischen +Herrscher nicht vergessen, daß dies Land und Kappadokien am Meer einst +zusammengehört hatten, und trugen sich fortwährend mit Reunionsideen. +Paphlagonien ward von Mithradates besetzt in Gemeinschaft mit König +Nikomedes von Bithynien, mit dem er das Land teilte. Als der Senat +dagegen Einspruch erhob, fügte sich Mithradates demselben, während +Nikomedes einen seiner Söhne mit dem Namen Pylämenes ausstattete und +unter diesem Titel die Landschaft an sich behielt. Noch schlimmere Wege +ging die Politik der Verbündeten in Kappadokien. König Ariarathes VI. +ward ermordet durch Gordios, es hieß im Auftrage, jedenfalls im +Interesse des Schwagers, des Ariarathes Mithradates Eupator; sein +junger Sohn Ariarathes wußte den Übergriffen des Königs von Bithynien +nur zu begegnen vermittels der zweideutigen Hilfe seines Oheims, für +welche dieser dann ihm ansann, dem flüchtig gewordenen Mörder seines +Vaters die Rückkehr nach Kappadokien zu gestatten. Es kam hierüber zum +Bruch und zum Krieg; jedoch als beide Heere zur Schlacht sich +gegenüberstanden, begehrte der Oheim zuvor eine Zusammenkunft mit dem +Neffen und stieß dabei den unbewaffneten Jüngling mit eigener Hand +nieder. Gordios, der Mörder des Vaters, übernahm hierauf im Auftrage +Mithradats die Regierung; und obwohl die unwillige Bevölkerung sich +gegen ihn erhob und den jüngeren Sohn des letzten Königs zur Herrschaft +berief, vermochte dieser doch Mithradats überlegenen Streitkräften +keinen dauernden Widerstand zu leisten. Der baldige Tod des von dem +Volke auf den Thron gesetzten Jünglings gab dem pontischen König um so +mehr freie Hand, als mit diesem das kappadokische Regentenhaus erlosch. +Als nomineller Regent ward, ebenwie in Bithynien geschehen war, ein +falscher Ariarathes proklamiert, unter dessen Namen Gordios als +Statthalter Mithradats das Reich verwaltete. Gewaltiger als seit langem +ein einheimischer Monarch herrschte König Mithradates am nördlichen wie +am südlichen Gestade des Schwarzen Meeres und weit in das innere +Kleinasien hinein. Die Hilfsquellen des Königs für den Krieg zu Lande +und zu Wasser schienen unermeßlich. Sein Werbeplatz reichte von der +Donaumündung bis zum Kaukasus und dem Kaspischen Meer; Thraker, +Skythen, Sauromaten, Bastarner, Kolchier, Iberer (im heutigen Georgien) +drängten sich unter seine Fahne; vor allem rekrutierte er seine +Kriegsscharen aus den tapferen Bastarnern. Für die Flotte lieferte ihm +die kolchische Satrapie außer Flachs, Hanf, Pech und Wachs das +trefflichste, vom Kaukasus herabgeflößte Bauholz; Steuermänner und +Offiziere wurden in Phönikien und Syrien gedungen. In Kappadokien, hieß +es, sei der König eingerückt mit 600 Sichelwagen, 1000 Pferden und 8000 +Mann zu Fuß; und er hatte für diesen Krieg bei weitem noch nicht +aufgeboten, was er aufzubieten vermochte. Bei dem Mangel einer +römischen oder sonst namhaften Seemacht beherrschte die pontische +Flotte, gestützt auf Sinope und die Häfen der Krim, das Schwarze Meer +ausschließlich. + +———————————————————————— + +5 Die Chronologie der folgenden Ereignisse ist nur ungefähr zu +bestimmen. Um 640 (114) etwa scheint Mithradates Eupator tatsächlich +die Regierung angetreten zu haben; Sullas Intervention fand 662 (92) +statt (Liv. ep. 70), womit die Berechnung der Mithradatischen Kriege +auf einen Zeitraum von dreißig Jahren (662-691 92-63) zusammenstimmt +(Plin. nat. 7, 26, 97). In die Zwischenzeit fallen die paphlagonischen +und kappadokischen Sukzessionshändel, mit denen die von Mithradates, +wie es scheint, in Saturninus’ erstem Tribunat 651 (103) in Rom +versuchte Bestechung (Diod. 631) wahrscheinlich schon zusammenhängt. +Marius, der 655 (99) Rom verließ und nicht lange im Osten verweilte, +traf Mithradates schon in Kappadokien und verhandelte mit ihm wegen +seiner Übergriffe (Cic. Brut. 1, 5; Plut. Mar. 31); Ariarathes VI. war +also damals schon ermordet. + +——————————————————————— + +Daß der römische Senat seine allgemeine Politik, die mehr oder minder +von ihm abhängigen Staaten niederzuhalten, auch gegen den pontischen +geltend machte, beweist sein Verhalten bei dem Thronwechsel nach dem +plötzlichen Tode Mithradates V. Dem unmündigen Knaben, der ihm folgte, +wurde das dem Vater für seine Teilnahme an dem Kriege gegen Aristonikos +oder vielmehr für sein gutes Geld verliehene Großphrygien genommen und +diese Landschaft dem unmittelbar römischen Gebiet hinzugefügt 6. Aber +nachdem dieser Knabe dann zu seinen Jahren gelangt war, bewies derselbe +Senat gegen dessen allseitige Übergriffe und gegen diese imposante +Machtbildung, deren Entwicklung vielleicht einen zwanzigjährigen +Zeitraum ausfüllt, völlige Passivität. Er ließ es geschehen, daß einer +seiner Klientelstaaten sich militärisch zu einer Großmacht entwickelte, +die über hunderttausend Bewaffnete gebot; daß er in die engste +Verbindung trat mit dem neuen, zum Teil durch seine Hilfe an die Spitze +der innerasiatischen Staaten gestellten Großkönig des Ostens; daß er +die benachbarten asiatischen Königreiche und Fürstentümer unter +Vorwänden einzog, die fast wie ein Hohn auf die schlecht berichtete und +weit entfernte Schutzmacht klangen; daß er endlich sogar in Europa sich +festsetzte und als König auf der Taurischen Halbinsel, als Schutzherr +fast bis an die makedonisch-thrakische Grenze gebot. Wohl ward über +diese Verhältnisse im Senat verhandelt; aber wenn das hohe Kollegium +sich in der paphlagonischen Erbangelegenheit schließlich dabei +beruhigte, daß Nikomedes sich auf seinen falschen Pylämenes berief, so +war dasselbe offenbar nicht so sehr getäuscht als dankbar für jeden +Vorwand, der ihm das ernstliche Einschreiten ersparte. Inzwischen +wurden die Beschwerden immer zahlreicher und dringender. Die Fürsten +der taurischen Skythen, die Mithradates aus der Krim verdrängt hatte, +wandten sich um Hilfe nach Rom; wer von den Senatoren irgend noch der +traditionellen Maximen der römischen Politik gedachte, mußte sich +erinnern, daß einst unter so ganz anderen Verhältnissen der Übergang +des Königs Antiochos nach Europa und die Besetzung des thrakischen +Chersones durch seine Truppen das Signal zu dem Asiatischen Krieg +geworden war, und mußte begreifen, daß die Besetzung des taurischen +durch den pontischen König jetzt noch viel weniger geduldet werden +konnte. Den Ausschlag gab endlich die faktische Reunion des Königreichs +Kappadokien, wegen welcher überdies Nikomedes von Bithymen, der auch +seinerseits durch einen andern falschen Ariarathes Kappadokien in +Besitz zu nehmen gehofft hatte und durch den pontischen Prätendenten +den seinigen ausgeschlossen sah, nicht ermangelt haben wird, die +römische Regierung zur Intervention zu drängen. Der Senat beschloß, daß +Mithradates die skythischen Fürsten wiedereinzusetzen habe - so weit +war man durch die schlaffe Regierungsweise aus den Bahnen der richtigen +Politik gedrängt, daß man jetzt, statt die Hellenen gegen die Barbaren, +umgekehrt die Skythen gegen die halben Landsleute unterstützen mußte. +Paphlagonien wurde abhängig erklärt und der falsche Pylämenes des +Nikomedes angewiesen, das Land zu räumen. Ebenso sollte der falsche +Ariarathes des Mithradates aus Kappadokien weichen und, da die +Vertreter des Landes die angebotene Freiheit ausschlugen, durch freie +Volkswahl ihm wiederum ein König gesetzt werden. Die Beschlüsse klangen +energisch genug; nur war es übel, daß man, statt ein Heer zu senden, +den Statthalter von Kilikien, Lucius Sulla, mit der Handvoll Leute, die +er daselbst gegen die Räuber und Piraten kommandierte, anwies, in +Kappadokien zu intervenieren. Zum Glück vertrat im Osten die Erinnerung +an die ehemalige Energie der Römer besser ihr Interesse als ihr +gegenwärtiges Regiment und ergänzte die Energie und Gewandtheit des +Statthalters, was der Senat an beiden vermissen ließ. Mithradates hielt +sich zurück und begnügte sich, den Großkönig Tigranes von Armenien, der +den Römern gegenüber eine freiere Stellung hatte als er, zu +veranlassen, Truppen nach Kappadokien zu senden. Sulla nahm rasch seine +Mannschaft und die Zuzüge der asiatischen Bundesgenossen zusammen, +überstieg den Taurus und schlug den Statthalter Gordios samt seinen +armenischen Hilfstruppen aus Kappadokien hinaus. Dies wirkte. +Mithradates gab in allen Stücken nach; Gordios mußte die Schuld der +kappadokischen Wirren auf sich nehmen und der falsche Ariarathes +verschwand; die Königswahl, die der pontische Anhang vergebens auf +Gordios zu lenken versucht hatte, fiel auf den angesehenen Kappadokier +Ariobarzanes. Als Sulla im Verfolg seiner Expedition in die Gegend des +Euphrat gelangte, in dessen Wellen damals zuerst römische Feldzeichen +sich spiegelten, fand bei dieser Gelegenheit auch die erste Berührung +statt zwischen den Römern und den Parthern, welche letztere infolge der +Spannung zwischen ihnen und Tigranes Ursache hatten, den Römern sich zu +nähern. Beiderseits schien man zu fühlen, daß etwas darauf ankam bei +dieser ersten Berührung der beiden Großmächte des Westens und des +Ostens, dem Anspruch auf die Herrschaft der Welt nichts zu vergeben; +aber Sulla, kecker als der parthische Bote, nahm und behauptete in der +Zusammenkunft den Ehrenplatz zwischen dem König von Kappadokien und dem +parthischen Abgesandten. Mehr als durch seine Siege im Osten mehrte +Sullas Ruhm sich durch diese vielgefeierte Konferenz am Euphrat; der +parthische Gesandte büßte später seinem Herrn dafür mit dem Kopfe. +Indes für den Augenblick hatte diese Berührung keine weitere Folge. +Nikomedes unterließ es im Vertrauen auf die Gunst der Römer, +Paphlagonien zu räumen; aber die gegen Mithradates gefaßten +Senatsbeschlüsse wurden ferner vollzogen, die Wiederherstellung der +skythischen Häuptlinge von ihm wenigstens zugesagt; der frühere Status +quo im Osten schien wiederhergestellt (662 92). + +———————————————————————- + +6 Ein vor kurzem in dem Dorfe Aresli südlich von Synnada gefundener +Senatsbeschluß vom Jahre 638 (116) (Viereck, sermo Graecus quo senatus +Romanus usus sit, S. 51) bestätigt sämtliche, von dem König bis zu +seinem Tode getroffenen Anordnungen und zeigt also, daß Großphrygien +nach dem Tode des Vaters nicht bloß dem Sohn genommen ward, was auch +Appian berichtet, sondern damit geradezu unter römische Botmäßigkeit +kam. + +————————————————————————- + +So hieß es; in der Tat war von einer ernstlichen Zurückführung der +früheren Ordnung der Dinge wenig zu verspüren. Kaum hatte Sulla Asien +verlassen, als König Tigranes von Großarmenien über den neuen König von +Kappadokien, Ariobarzanes, herfiel, ihn vertrieb und an seiner Stelle +den pontischen Prätendenten Ariarathes wiedereinsetzte. In Bithynien, +wo nach dem Tode des alten Königs Nikomedes Il. (um 663 91) dessen Sohn +Nikomedes III. Philopator vom Volk und vom römischen Senat als +rechtmäßiger König anerkannt worden war. trat dessen jüngerer Bruder +Sokrates als Kronprätendent auf und bemächtigte sich der Herrschaft. Es +war klar, daß der eigentliche Urheber der kappadokischen wie der +bithynischen Wirren kein anderer als Mithradates war, obwohl er sich +jeder offenkundigen Beteiligung enthielt. Jedermann wußte, daß Tigranes +nur handelte auf seinen Wink: in Bithynien aber war Sokrates mit +pontischen Truppen eingerückt und des rechtmäßigen Königs Leben durch +Mithradates’ Meuchelmörder bedroht. In der Krim gar und den +benachbarten Landschaften dachte der pontische König nicht daran +zurückzuweichen und trug vielmehr seine Waffen weiter und weiter. + +Die römische Regierung, von den Königen Ariobarzanes und Nikomedes +persönlich um Hilfe angerufen, schickte nach Kleinasien zur +Unterstützung des dortigen Statthalters Lucius Cassius den Konsular +Manius Aquillius, einen im Kimbrischen und im Sizilischen Krieg +erprobten Offizier, jedoch nicht als Feldherrn an der Spitze einer +Armee, sondern als Gesandten, und wies die asiatischen Klientelstaaten +und namentlich den Mithradates an, nötigenfalls mit gewaffneter Hand +Beistand zu leisten. Es kam eben wie zwei Jahre zuvor. Der römische +Offizier vollzog dem ihm gewordenen Auftrag mit Hilfe des kleinen +römischen Korps, über das der Statthalter der Provinz Asia verfügte, +und des Aufgebots der Phryger und der Galater; König Nikomedes und +König Ariobarzanes bestiegen wieder ihre schwankenden Throne; +Mithradates entzog sich zwar der Aufforderung, Zuzug zu gewähren, unter +verschiedenen Vorwänden, allein er leistete nicht bloß den Römern +keinen offenen Widerstand, sondern der bithynische Prätendent Sokrates +wurde sogar auf sein Geheiß getötet (664 90). + +Es war eine sonderbare Verwicklung. Mithradates war vollkommen +überzeugt, gegen die Römer in offenem Kampfe nichts ausrichten zu +können und es nicht zum offenen Bruch und zum Kriege mit ihnen kommen +lassen zu dürfen. Wäre er nicht also entschlossen gewesen, so fand sich +kein günstigerer Augenblick, den Kampf zu beginnen, als der +gegenwärtige: eben damals, als Aquillius in Bithymen und Kappadokien +einrückte, stand die italische Insurrektion auf dem Höhepunkt ihrer +Macht und konnte selbst den Schwachen Mut machen, gegen Rom sich zu +erklären; dennoch ließ Mithradates das Jahr 664 (90) ungenutzt +verstreichen. Aber nichtsdestoweniger verfolgte er so zäh wie rührig +seinen Plan, in Kleinasien sich auszubreiten. Diese seltsame Verbindung +der Politik des Friedens um jeden Preis mit der der Eroberung war +allerdings in sich unhaltbar und beweist nur aufs neue, daß Mithradates +nicht zu den Staatsmännern rechter Art gehörte und weder zum Kampf zu +rüsten wußte wie König Philippos noch sich zu fügen wie König Attalos, +sondern in echter Sultansart ewig hin- und hergezogen ward zwischen +begehrlicher Eroberungslust mit dem Gefühl seiner eigenen Schwäche. +Aber auch so läßt sich sein Beginnen nur begreifen, wenn man sich +erinnert, daß Mithradates in zwanzigjähriger Erfahrung die damalige +römische Politik kennengelernt hatte. Er wußte sehr genau, daß die +römische Regierung nichts weniger als kriegslustig war, ja daß sie, im +Hinblick auf die ernstliche Gefahr, die jeder berühmte General ihrer +Herrschaft bereitete, in frischer Erinnerung an den Kimbrischen Krieg +und Marius, den Krieg womöglich noch mehr fürchtete als er selbst. +Daraufhin handelte er. Er scheute sich nicht, in einer Weise +aufzutreten, die jeder energischen und nicht durch egoistische +Rücksichten gefesselten Regierung hundertfach Ursache und Anlaß zur +Kriegserklärung gegeben haben würde; aber er vermied sorgfältig den +offenen Bruch, der den Senat in die Notwendigkeit dazu versetzt hätte. +Sowie Ernst gezeigt ward, wich er zurück, vor Sulla wie vor Aquillius; +er hoffte unzweifelhaft darauf, daß nicht immer energische Feldherren +ihm gegenüberstehen, daß auch er so gut wie Jugurtha auf seine Scaurus +und Albinus treffen würde. Es muß zugestanden werden, daß diese +Hoffnung nicht unverständig war, obwohl freilich eben Jugurthas +Beispiel auch wieder gezeigt hatte, wie verkehrt es war, die Bestechung +eines römischen Heerführers und die Korruption einer römischen Armee +mit der Überwindung des römischen Volkes zu verwechseln. So standen die +Dinge zwischen Frieden und Krieg und ließen ganz dazu an, noch lange +sich in gleicher Art weiterzuschleppen. Aber dies zuzulassen war +Aquillius’ Absicht nicht, und da er seine Regierung nicht zwingen +konnte, Mithradates den Krieg zu erklären, so bediente er sich dazu des +Königs Nikomedes. Dieser, ohnehin in die Hand des römischen Feldherrn +gegeben und überdies noch für die abgelaufenen Kriegskosten und die dem +Feldherrn persönlich zugesicherten Summen sein Schuldner, konnte sich +dem Ansinnen desselben, mit Mithradates den Krieg zu beginnen, nicht +entziehen. Die bithynische Kriegserklärung erfolgte; aber selbst als +Nikomedes’ Schiffe den pontischen den Bosporus sperrten, seine Truppen +in die pontischen Grenzdistrikte einrückten und die Gegend von Amastris +brandschatzten, blieb Mithradates noch unerschüttert bei seiner +Friedenspolitik; statt die Bithyner über die Grenze zu werfen, führte +er Klage bei der römischen Gesandtschaft und bat dieselbe, entweder +vermitteln oder ihm die Selbstverteidigung gestatten zu wollen. Allein +er ward von Aquillius dahin beschieden, daß er unter allen Umständen +sich des Krieges gegen Nikomedes zu enthalten habe. Das freilich war +deutlich. Genau dieselbe Politik hatte man gegen Karthago angewendet; +man ließ das Schlachtopfer von der römischen Meute überfallen und +verbot ihm, gegen dieselbe sich zu wehren. Auch Mithradates erachtete +sich verloren, ebenwie die Karthager es getan hatten; aber wenn die +Phöniker sich aus Verzweiflung ergaben, so tat dagegen der König von +Sinope das Gegenteil und rief seine Truppen und Schiffe zusammen - +“Wehrt nicht”, so soll er gesagt haben, “auch wer unterliegen muß, +dennoch sich gegen den Räuber?” Sein Sohn Ariobarzanes erhielt Befehl, +in Kappadokien einzurücken; es ging noch einmal eine Botschaft an die +römischen Gesandten, um ihnen anzuzeigen, wozu die Notwehr den König +gezwungen habe, und eine letzte Erklärung von ihnen zu fordern. Sie +lautete, wie zu erwarten war. Obwohl weder der römische Senat noch +König Mithradates noch König Nikomedes den Bruch gewollt hatten, +Aquillius wollte ihn und man hatte Krieg (Ende 665 80). + +Mit aller ihm eigenen Energie betrieb Mithradates die politischen und +militärischen Vorbereitungen zu dem ihm aufgedrungenen Waffengang. Vor +allen Dingen knüpfte er das Bündnis mit König Tigranes von Armenien +fester und erlangte von ihm das Versprechen eines Hilfsheeres, das in +Vorderasien einrücken und Grund und Boden daselbst für König +Mithradates, die bewegliche Habe für König Tigranes in Besitz nehmen +sollte. Der parthische König, verletzt durch das stolze Verhalten +Sullas, trat wenn nicht gerade als Gegner, doch auch nicht als +Bundesgenosse der Römer auf. Den Griechen war der König bemüht, sich in +der Rolle des Philippos und des Perseus, als Vertreter der griechischen +Nation gegen die römische Fremdherrschaft darzustellen. Pontische +Gesandte gingen an den König von Ägypten und an den letzten Überrest +des freien Griechenlands, den kretensischen Städtebund, und beschworen +sie, für die Rom auch schon die Ketten geschmiedet, jetzt im letzten +Augenblick einzustehen für die Rettung der hellenischen Nationalität; +es war dies wenigstens auf Kreta nicht ganz vergeblich, und zahlreiche +Kretenser nahmen Dienste im pontischen Heer. Man hoffte auf die +sukzessive Insurrektion der kleineren und kleinsten Schutzstaaten, +Numidiens, Syriens, der hellenischen Republiken, auf die Empörung der +Provinzen, vor allem des maßlos gedrückten Vorderasiens. Man arbeitete +an der Erregung eines thrakischen Aufstandes, ja an der Insurgierung +Makedoniens. Die schon vorher blühende Piraterie wurde jetzt als +willkommene Bundesgenossin überall entfesselt, und mit furchtbarer +Raschheit erfüllten bald Korsarengeschwader, pontische Kaper sich +nennend, weithin das Mittelmeer. Man vernahm mit Spannung und Freude +die Kunde von den Gärungen innerhalb der römischen Bürgerschaft und von +der zwar überwundenen, aber doch noch lange nicht unterdrückten +italischen Insurrektion. Unmittelbare Beziehungen indes mit den +Unzufriedenen und Insurgenten in Italien bestanden nicht; nur wurde in +Asien ein römisch bewaffnetes und organisiertes Fremdenkorps gebildet, +dessen Kern römische und italische Flüchtlinge waren. Streitkräfte +gleich denen Mithradats waren seit den Perserkriegen in Asien nicht +gesehen worden. Die Angaben, daß er, das armenische Hilfsheer +ungerechnet, mit 250000 Mann zu Fuß und 40 000 Reitern das Feld nahm, +daß 300 pontische Deck- und 100 offene Schiffe in See stachen, scheinen +nicht allzu übertrieben bei einem Kriegsherrn, der über die zahllosen +Steppenbewohner verfügte. Die Feldherrn, namentlich die Brüder +Neoptolemos und Archelaos, waren erfahrene und umsichtige griechische +Hauptleute; auch unter den Soldaten des Königs fehlte es nicht an +tapferen todverachtenden Männern, und die gold- und silberblinkenden +Rüstungen und reichen Gewänder der Skythen und Meder mischten sich +lustig mit dem Erz und Stahl der griechischen Reisigen. Ein +einheitlicher militärischer Organismus freilich hielt diese +buntscheckigen Haufen nicht zusammen - auch die Armee des Mithradates +war nichts als eine jener ungeheuerlichen asiatischen Kriegsmaschinen, +wie sie oft schon, zuletzt, genau ein Jahrhundert zuvor, bei Magnesia +einer höheren militärischen Organisation unterlegen waren; immer aber +stand doch der Osten gegen die Römer in Waffen, während auch in der +westlichen Hälfte des Reichs es nichts weniger als friedlich aussah. So +sehr es an sich für Rom eine politische Notwendigkeit war, Mithradates +den Krieg zu erklären, so war doch gerade dieser Augenblick so übel +gewählt wie möglich, und auch aus diesem Grunde ist es sehr +wahrscheinlich, daß Manius Aquillius zunächst aus Rücksichten auf seine +eigenen Interessen den Bruch zwischen Rom und Mithradates eben jetzt +herbeigeführt hat. Für den Augenblick hatte man in Asien keine anderen +Truppen zur Verfügung als die kleine römische Abteilung unter Lucius +Cassius und die vorderasiatischen Milizen, und bei der militärischen +und finanziellen Klemme, in der man daheim sich infolge des +Insurrektionskrieges befand, konnte eine römische Armee im günstigsten +Fall nicht vor dem Sommer 666 (88) in Asien landen. Bis dahin hatten +die römischen Beamten daselbst einen schweren Stand; indes hoffte man, +die römische Provinz decken und sich behaupten zu können, wo man stand: +das bithynische Heer unter König Nikomedes in seiner im vorigen Jahr +eingenommenen Stellung auf paphlagonischem Gebiet zwischen Amastris und +Sinope, weiter rückwärts in der bithynischen, galatischen, +kappadokischen Landschaft die Abteilungen unter Lucius Cassius, Manius +Aquillius, Quintus Oppius, während die bithynisch-römische Flotte +fortfuhr, den Bosporus zu sperren. + +Mit dem Beginn des Frühjahrs 666 (88) ergriff Mithradates die +Offensive. An einem Nebenfluß des Halys, dem Amnias (bei dem heutigen +Tesch köpri), stieß der pontische Vortrab, Reiterei und +Leichtbewaffnete, auf die bithynische Armee und sprengte dieselbe trotz +ihrer sehr überlegenen Zahl im ersten Anlauf so vollständig +auseinander, daß das geschlagene Heer sich auflöste und Lager und +Kriegskasse den Siegern in die Hände fielen. Es waren hauptsächlich +Neoptolemos und Archelaos, denen der König diesen glänzenden Erfolg +verdankte. Die weiter zurückstehenden, noch viel schlechteren +asiatischen Milizen gaben hierauf sich überwunden, noch ehe sie mit dem +Feinde zusammenstießen; wo Mithradates’ Feldherren sich ihnen näherten, +stoben sie auseinander. Eine römische Abteilung ward in Kappadokien +geschlagen; Cassius suchte in Phrygien mit dem Landsturm das Feld zu +halten, allein er entließ ihn wieder, ohne mit ihm eine Schlacht wagen +zu mögen, und warf sich mit seinen wenigen zuverlässigen Leuten in die +Ortschaften am oberen Mäander, namentlich nach Apameia; Oppius räumte +in gleicher Weise Pamphylien und schloß in dem phrygischen Laodikeia +sich ein; Aquillius ward im Zurückweichen am Sangarios im bithynischen +Gebiet eingeholt und so vollständig geschlagen, daß er sein Lager +verlor und sich in die römische Provinz nach Pergamon retten mußte; +bald war auch diese überschwemmt und Pergamon selbst in den Händen des +Königs, ebenso der Bosporus und die daselbst befindlichen Schiffe. Nach +jedem Sieg hatte Mithradates sämtliche Gefangene der kleinasiatischen +Miliz entlassen und nichts versäumt, die von Anfang an ihm zugewandten +nationalen Sympathien zu steigern. Jetzt war die ganze Landschaft bis +zum Mäander mit Ausnahme weniger Festungen in seiner Gewalt; zugleich +erfuhr man, daß in Rom eine neue Revolution ausgebrochen, daß der gegen +Mithradates bestimmte Konsul Sulla, statt nach Asien sich +einzuschiffen, gegen Rom marschiert sei, daß die gefeiertsten römischen +Generale sich untereinander Schlachten lieferten um auszumachen, wem +der Oberbefehl im Asiatischen Kriege gebühre. Rom schien eifrigst +bemüht, sich selber zugrunde zu richten; es ist kein Wunder, daß, +wenngleich Minoritäten auch jetzt noch überall zu Rom hielten, doch die +große Masse der Kleinasiaten den Pontikern zufiel. Die Hellenen und die +Asiaten vereinigten sich in dem Jubel, der den Befreier empfing; es +ward üblich, den König, in dem wie in dem göttlichen Indersieger Asien +und Hellas sich abermals zusammenfanden, zu verehren unter dem Namen +des neuen Dionysos. Die Städte und Inseln sandten, wo er hinkam, ihm +Boten entgegen, “den rettenden Gott” zu sich einzuladen, und festlich +gekleidet strömte die Bürgerschaft vor die Tore, ihn zu empfangen. +Einzelne Orte lieferten die bei ihnen verweilenden römischen Offiziere +gebunden an den König ein, so Laodikeia den Kommandanten der Stadt +Quintus Oppius, Mytilene auf Lesbos den Konsular Manius Aquillius 7. +Die ganze Wut des Barbaren, der den, vor dem er gezittert hat, in seine +Macht bekommt, entlud sich über den unglücklichen Urheber des Krieges. +Bald zu Fuß an einen gewaltigen berittenen Bastarner angefesselt, bald +auf einen Esel gebunden und seinen eigenen Namen abrufend ward der +bejahrte Mann durch ganz Kleinasien geführt und, als endlich das arme +Schaustück wieder am königlichen Hof in Pergamon anlangte, auf Befehl +des Königs, um seine Habgier, die eigentlich den Krieg veranlaßt habe, +zu sättigen, ihm geschmolzenes Gold in den Hals gegossen, daß er unter +Qualen den Geist aufgab. Aber es blieb nicht bei diesem rohen Hohn, der +allein hinreicht, seinen Urheber auszustreichen aus der Reihe der +adligen Männer. Von Ephesos aus erließ König Mithradates an alle von +ihm abhängigen Statthalter und Städte den Befehl, an einem und +demselben Tage sämtliche in ihrem Bezirk sich aufhaltende Italiker, +Freie und Unfreie, ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters zu +töten und bei schwerer Strafe keinem der Verfemten zur Rettung +behilflich zu sein, die Leichen der Erschlagenen den Vögeln zum Fraß +hinzuwerfen, die Habe einzuziehen und sie zur Hälfte an die Mörder, zur +Hälfte an den König abzuliefern. Die entsetzlichen Befehle wurden mit +Ausnahme weniger Bezirke, wie zum Beispiel der Insel Kos, pünktlich +vollzogen und achtzig-, nach anderen Berichten hundertundfünfzigtausend +wenn nicht unschuldige, so doch wehrlose Männer, Frauen und Kinder mit +kaltem Blut an einem Tage in Kleinasien geschlachtet - eine grauenvolle +Exekution, bei welcher die gute Gelegenheit, der Schulden sich zu +entledigen und die dem Sultan zu jedem Henkerdienst bereite asiatische +Schergenwillfährigkeit wenigstens ebensosehr mitgewirkt haben wie das +vergleichungsweise edle Gefühl der Rache. Politisch war diese Maßregel +nicht bloß ohne jeden vernünftigen Zweck - denn der finanzielle ließ +auch ohne diesen Blutbefehl sich erreichen, und die Kleinasiaten waren +selbst durch das Bewußtsein der ärgsten Blutschuld nicht zum +kriegerischen Eifer zu treiben -, sondern sogar zweckwidrig, indem sie +einerseits den römischen Senat, soweit er irgend noch der Energie fähig +war, zur ernstlichen Kriegführung zwang, andererseits nicht bloß die +Römer traf, sondern ebensogut des Königs natürliche Bundesgenossen, die +nichtrömischen Italiker. Es ist dieser ephesische Mordbefehl durchaus +nichts als ein zweckloser Akt der tierisch blinden Rache, welcher nur +durch die kolossalen Proportionen, in denen hier der Sultanismus +auftritt, einen falschen Schein von Großartigkeit erhält. + +—————————————————————————- + +7 Die Urheber der Gefangennehmung und Auslieferung des Aquillius traf +fünfundzwanzig Jahre später die Vergeltung, indem sie nach Mithradates’ +Tode dessen Sohn Pharnakes an die Römer übergab. + +—————————————————————————- + +Überhaupt ging des Königs Sinn hoch; aus Verzweiflung hatte er den +Krieg begonnen, aber der unerwartet leichte Sieg, das Ausbleiben des +gefürchteten Sulla ließen ihn übergehen zu den hochfahrendsten +Hoffnungen. Er richtete sich häuslich in Vorderasien ein; der Sitz des +römischen Statthalters, Pergamon, ward seine neue Hauptstadt; das alte +Reich von Sinope wurde als Statthalterschaft an des Königs Sohn +Mithradates zur Verwaltung übergeben; Kappadokien, Phrygien, Bithymen +wurden organisiert als pontische Satrapien. Die Großen des Reichs und +des Königs Günstlinge wurden mit reichen Gaben und Lehen bedacht und +sämtlichen Gemeinden nicht bloß die rückständigen Steuern erlassen, +sondern auch Steuerfreiheit auf fünf Jahre zugesichert - eine Maßregel, +die ebenso verkehrt war wie die Ermordung der Römer, wenn der König +dadurch sich die Treue der Kleinasiaten zu sichern meinte. + +Freilich füllte des Königs Schatz ohnehin sich reichlich durch die +unermeßlichen Summen, die aus dem Vermögen der Italiker und anderen +Konfiskationen einkamen; wie denn z. B. allein auf Kos 800 Talente +(1250000 Taler), welche die Juden dort deponiert hatten, von +Mithradates weggenommen wurden. Der nördliche Teil von Kleinasien und +die meisten dazu gehörigen Inseln waren in des Königs Gewalt; außer +einigen kleinen paphlagonischen Dynasten gab es hier kaum einen Bezirk, +der noch zu Rom hielt; das gesamte Ägäische Meer ward beherrscht von +seinen Flotten. Nur der Südwesten, die Städtebünde von Karien und +Lykien und die Stadt Rhodos widerstanden ihm. In Karien ward zwar +Stratonikeia mit den Waffen bezwungen; Magnesia am Sipylos aber bestand +glücklich eine schwere Belagerung, bei welcher Mithradates’ tüchtigster +Offizier Archelaos geschlagen und verwundet ward. Rhodos, der +Zufluchtsort der aus Asien entkommenen Römer, unter ihnen des +Statthalters Lucius Cassius, wurde von Mithradates zu Wasser und zu +Lande mit ungeheurer Übermacht angegriffen. Aber seine Seeleute, so +mutig sie unter den Augen des Königs ihre Pflicht taten, waren +ungeschickte Neulinge, und es kam vor, daß rhodische Geschwader +vielfach stärkere pontische überwanden und mit erbeuteten Schiffen +heimkehrten. Auch zu Lande rückte die Belagerung nicht vor; nachdem ein +Teil der Arbeiten zerstört worden war, gab Mithradates das Unternehmen +auf und die wichtige Insel sowie das gegenüberliegende Festland blieben +in den Händen der Römer. + +Aber nicht bloß die asiatische Provinz wurde, hauptsächlich infolge der +zur ungelegensten Zeit ausbrechenden Sulpicischen Revolution, fast +unverteidigt von Mithradates besetzt, sondern derselbe richtete schon +den Angriff auch gegen Europa. Bereits seit dem Jahre 662 (92) hatten +die Grenznachbarn Makedoniens gegen Norden und Osten ihre Einfälle mit +auffallender Heftigkeit und Streitigkeit erneuert; in den Jahren 664, +665 (90, 89) überrannten die Thraker. Makedonien und ganz Epeiros und +plünderten den Tempel von Dodona. Noch auffallender ist es, daß damit +noch einmal der Versuch verbunden ward, einen Prätendenten auf den +makedonischen Thron in der Person eines gewissen Euphenes aufzustellen. +Mithradates, der von der Krim aus Verbindungen mit den Thrakern +unterhielt, war all diesen Vorgängen schwerlich fremd. Zwar erwehrte +sich der Prätor Gaius Sentius mit Hilfe der thrakischen Dentheleten +dieser Eingedrungenen; allein es dauerte nicht lange, daß ihm +mächtigere Gegner kamen. Mithradates hatte, fortgerissen von seinen +Erfolgen, den kühnen Entschluß gefaßt, wie Antiochos den Krieg um die +Herrschaft über Asien in Griechenland zur Entscheidung zu bringen, und +zu Lande oder zur See den Kern seiner Truppen dorthin dirigiert. Sein +Sohn Ariarathes drang von Thrakien aus in das schwach verteidigte +Makedonien ein, unterwegs die Landschaft unterwerfend und in pontische +Satrapien einteilend. Abdera, Philippi wurden Hauptstützpunkte der +pontischen Waffen in Europa. Die pontische Flotte, geführt von +Mithradates’ bestem Feldherrn Archelaos, erschien im Ägäischen Meer, wo +kaum ein römisches Segel zu finden war. Delos, der Stapelplatz des +römischen Handels in diesen Gewässern, ward besetzt und bei 20000 +Menschen, größtenteils Italiker, daselbst niedergemetzelt; Euböa erlitt +ein gleiches Schicksal; bald waren östlich vom Malfischen Vorgebirg +alle Inseln in Feindes Hand; man konnte weitergehen zum Angriff auf das +Festland selbst. Zwar den Angriff, den die pontische Flotte von Euböa +aus auf das wichtige Demetrias machte, schlug Bruttius Sura, der +tapfere Unterfeldherr des Statthalters von Makedonien, mit seiner +Handvoll Leute und wenigen zusammengerafften Schiffen ab und besetzte +sogar die Insel Skiathos: aber er konnte nicht verhindern, daß der +Feind im eigentlichen Griechenland sich festsetzte. Auch hier wirkte +Mithradates nicht bloß mit den Waffen, sondern zugleich mit der +nationalen Propaganda. Sein Hauptwerkzeug für Athen war ein gewisser +Aristion, seiner Geburt nach ein attischer Sklave, seines Handwerks +ehemals Schulmeister der Epikurischen Philosophie, jetzt Günstling +Mithradats; ein vortrefflicher Peisthetäros, der durch die glänzende +Karriere, die er bei Hof gemacht, den Pöbel zu blenden und ihm mit +Aplomb zu versichern verstand, daß aus dem seit beiläufig sechzig +Jahren in Schutt liegenden Karthago die Hilfe für Mithradates schon +unterwegs sei. Durch solche Reden des neuen Perikles ward es erreicht, +daß die wenigen Verständigen aus Athen entwichen, der Pöbel aber und +ein paar toll gewordene Literaten den Römern förmlich absagten. So ward +aus dem Exphilosophen ein Gewaltherrscher, der, gestützt auf seine +pontische Söldnerbande, ein Schand- und Blutregiment begann, und aus +dem Peiräeus ein pontischer Landungsplatz. Sowie Mithradats Truppen auf +dem griechischen Kontinent standen, fielen die meisten der kleinen +Freistaaten ihnen zu: Achäer, Lakonen, Böoter, bis hinauf nach +Thessalien. Sura, nachdem er aus Makedonien einige Verstärkung +herangezogen hatte, rückte in Böotien ein, um dem belagerten Thespiä +Hilfe zu bringen, und schlug sich bei Chäroneia in dreitägigen +Gefechten mit Archelaos und Aristion; aber sie führten zu keiner +Entscheidung und Sura mußte zurückgehen, als die pontischen +Verstärkungen aus dem Peloponnes sich näherten (Ende 666, Anfang 667 +88, 87). + +So gebietend war die Stellung Mithradats vor allem zur See, daß eine +Botschaft der italischen Insurgenten ihn auffordern konnte, einen +Landungsversuch in Italien zu machen; allein ihre Sache war damals +bereits verloren und der König wies das Ansinnen zurück. + +Die Lage der römischen Regierung fing an bedenklich zu werden. +Kleinasien und Hellas waren ganz, Makedonien zum guten Teil in +Feindeshand; auf der See herrschte ohne Nebenbuhler die pontische +Flagge. Dazu kam die italische Insurrektion, die, im ganzen zu Boden +geschlagen, immer noch in weiten Gebieten Italiens unbestritten die +Herrschaft führte; dazu die kaum beschwichtigte Revolution, die jeden +Augenblick drohte, wiederum und furchtbarer emporzulodern; dazu endlich +die durch die inneren Unruhen in Italien und die ungeheuren Verluste +der asiatischen Kapitalisten hervorgerufene fürchterliche Handels- und +Geldkrise und der Mangel an zuverlässigen Truppen. Die Regierung hätte +dreier Armeen bedurft, um in Rom die Revolution niederzuhalten, in +Italien die Insurrektion völlig zu ersticken und in Asien Krieg zu +führen; sie hatte eine einzige, die des Sulla, denn die Nordarmee war +unter dem unzuverlässigen Gnaeus Strabo nichts als eine Verlegenheit +mehr. Die Wahl unter jenen drei Aufgaben stand bei Sulla; er entschied +sich, wie wir sahen, für den asiatischen Krieg. Es war nichts Geringes, +man darf vielleicht sagen eine große patriotische Tat, daß in diesem +Konflikt des allgemeinen vaterländischen und des besonderen +Parteiinteresses das erstere die Oberhand behielt und Sulla trotz der +Gefahren, die seine Entfernung aus Italien für seine Verfassung und für +seine Partei nach sich zog, dennoch im Frühling 667 (87) landete an der +Küste von Epeiros. Aber er kam nicht, wie sonst römische Oberfeldherrn +im Osten aufzutreten pflegten. Daß sein Heer von fünf Legionen oder +höchstens 30000 Mann 8 wenig stärker war als eine gewöhnliche +Konsulararmee, war das wenigste. Sonst hatte in den östlichen Kriegen +eine römische Flotte niemals gefehlt, ja ohne Ausnahme die See +beherrscht; Sulla, gesandt, um zwei Kontinente und die Inseln des +Ägäischen Meeres wiederzuerobern, kam ohne ein einziges Kriegsschiff. +Sonst hatte der Feldherr eine volle Kasse mit sich geführt und den +größten Teil seiner Bedürfnisse auf dem Seeweg aus der Heimat bezogen; +Sulla kam mit leeren Händen - denn die für den Feldzug von 666 (88) mit +Not flüssig gemachten Summen waren in Italien draufgegangen - und sah +sich ausschließlich angewiesen auf Requisitionen. Sonst hatte der +Feldherr seinen einzigen Gegner im feindlichen Lager gefunden und +hatten dem Landesfeind gegenüber seit der Beendigung des Ständekampfes +die politischen Faktionen ohne Ausnahme zusammengestanden; unter +Mithradates’ Feldzeichen fochten namhafte römische Männer, große +Landschaften Italiens begehrten, mit ihm in Bündnis zu treten, und es +war wenigstens zweifelhaft, ob die demokratische Partei das rühmliche +Beispiel, das Sulla ihr gegeben, befolgen und mit ihm Waffenstillstand +halten werde, solange er gegen den asiatischen König focht. Aber der +rasche General, der mit all diesen Verlegenheiten zu ringen hatte, war +nicht gewohnt, vor Erledigung der nächsten Aufgabe um die ferneren +Gefahren sich zu bekümmern. Da seine an den König gerichteten +Friedensanträge, die im wesentlichen auf die Wiederherstellung des +Zustandes vor dem Kriege hinausliefen, keine Annahme fanden, so rückte +er, wie er gelandet war, von den epeirotischen Häfen bis nach Böotien +vor, schlug hier am Thilphossischen Berge die Feldherren der Feinde, +Archelaos und Aristion, und bemächtigte sich nach diesem Siege fast +ohne Widerstand des gesamten griechischen Festlandes mit Ausnahme der +Festung Athen und des Peiräeus, wohin Aristion und Archelaos sich +geworfen hatten und die durch einen Handstreich zu nehmen mißlang. Eine +römische Abteilung unter Lucius Hortensius besetzte Thessalien und +streifte bis in Makedonien; eine andere unter Munatius stellte vor +Chalkis sich auf, um das unter Neoptolemos auf Euböa stehende +feindliche Korps abzuwehren; Sulla selbst bezog ein Lager bei Eleusis +und Megara, von wo aus er Griechenland und den Peloponnes beherrschte +und die Belagerung der Stadt und des Hafens von Athen betrieb. Die +hellenischen Städte, wie immer von der nächsten Furcht regiert, +unterwarfen sich den Römern auf jede Bedingung und waren froh, wenn sie +mit Lieferungen von Vorräten und Mannschaft und mit Geldbußen schwerere +Strafen abkaufen durften. Minder rasch gingen die Belagerungen in +Attika vonstatten. Sulla sah sich genötigt, in aller Form das schwere +Belagerungszeug zu rüsten, wozu die Bäume der Akademie und des Lykeion +das Holz liefern mußten. Archelaos leitete die Verteidigung ebenso +kräftig wie besonnen; er bewaffnete seine Schiffsmannschaft, schlug +also verstärkt die Angriffe der Römer mit überlegener Macht ab und +machte häufige und nicht selten glückliche Ausfälle. Zwar die zum +Entsatz herbeirückende pontische Armee des Dromichätes ward unter den +Mauern Athens nach hartem Kampf, bei dem namentlich Sullas tapferer +Unterfeldherr Lucius Licinius Murena sich hervortat, von den Römern +geschlagen; aber die Belagerung schritt darum nicht rascher vor. Von +Makedonien aus, wo die Kappadokier inzwischen sich definitiv +festgesetzt hatten, kam reichliche und regelmäßige Zufuhr zur See, die +Sulla nicht imstande war, der Hafenfestung abzuschneiden; in Athen +gingen zwar die Vorräte auf die Neige, doch konnte bei der Nähe der +beiden Festungen Archelaos mehrfache Versuche machen, +Getreidetransporte nach Athen zu werfen, die nicht alle mißlangen. So +verfloß in peinlicher Resultatlosigkeit der Winter 667/68 (87/86). Wie +die Jahreszeit es erlaubte, warf Sulla sich mit Ungestüm auf den +Peiräeus; in der Tat gelang es, durch Geschütze und Minen einen Teil +der gewaltigen Perikleischen Mauern in Bresche zu legen, und sofort +schritten die Römer zum Sturm; allein er ward abgeschlagen, und als er +wiederholt ward, fanden sich hinter den eingestürzten Mauerteilen +halbmondförmige Verschanzungen errichtet, aus denen die Eindringenden +sich von drei Seiten beschossen und zur Umkehr gezwungen sahen. Sulla +hob darauf die Belagerung auf und begnügte sich mit einer Blockade. In +Athen waren inzwischen die Lebensmittel ganz zu Ende gegangen; die +Besatzung versuchte eine Kapitulation zustande zu bringen, aber Sulla +wies ihre redefertigen Boten zurück mit dem Bedeuten, daß er nicht als +Student, sondern als General vor ihnen stehe und nur unbedingte +Unterwerfung annehme. Als Aristion, wohl wissend, welches Schicksal +dann ihm bevorstand, damit zögerte, wurden die Leitern angelegt und die +kaum noch verteidigte Stadt erstürmt (1. März 668 86). Aristion warf +sich in die Akropolis, wo er bald darauf sich ergab. Der römische +Feldherr ließ die Soldateska in der eroberten Stadt morden und plündern +und die angeseheneren Rädelsführer des Abfalls hinrichten; die Stadt +selbst aber erhielt von ihm ihre Freiheit und ihre Besitzungen, sogar +das wichtige Delos zurück und ward also noch einmal gerettet durch ihre +herrlichen Toten. + +—————————————————————————— + +8 Man muß sich erinnern, daß seit dem Bundesgenossenkrieg auf die +Legion, da sie nicht mehr von italischen Kontingenten begleitet ist, +mindestens nur die halbe Mannzahl kommt wie vordem. + +——————————————————————————- + +Über den Epikureischen Schulmeister also hatte man gesiegt; indes +Sullas Lage blieb im höchsten Grade peinlich, ja verzweifelt. Mehr als +ein Jahr stand er nun im Felde, ohne irgendeinen nennenswerten Schritt +vorwärtsgekommen zu sein, ein einziger Hafenplatz spottete all seiner +Anstrengungen, während Asien gänzlich sich selbst überlassen, die +Eroberung Makedoniens von Mithradates’ Statthaltern kürzlich durch die +Einnahme von Amphipolis vollendet war. Ohne Flotte - dies zeigte sich +immer deutlicher - war es nicht bloß unmöglich, die Verbindungen und +die Zufuhr von den feindlichen und den zahllosen Piratenschiffen zu +sichern, sondern auch nur den Peiräeus, geschweige denn Asien und die +Inseln wiederzugewinnen; und doch ließ sich nicht absehen, wie man zu +Kriegsschiffen gelangen konnte. Schon im Winter 667/68 (87/86) hatte +Sulla einen seiner fähigsten und gewandtesten Offiziere, Lucius +Licinius Lucullus, in die östlichen Gewässer entsandt, um dort +womöglich Schiffe aufzutreiben. Mit sechs offenen Booten, die er von +den Rhodiern und andern kleinen Gemeinden zusammengeborgt hatte, lief +Lucullus aus; einem Piratengeschwader, das die meisten seiner Boote +aufbrachte, entging er selbst nur durch einen Zufall; mit gewechselten +Schiffen den Feind täuschend, gelangte er über Kreta und Kyrene nach +Alexandreia; allein der ägyptische Hof schlug die Bitte um +Unterstützung mit Kriegsschiffen ebenso höflich wie entschieden ab. +Kaum irgendwo zeigt sich so deutlich wie hier der tiefe Verfall des +römischen Staats, der einst das Angebot der Könige von Ägypten, mit +ihrer ganzen Seemacht den Römern beizustehen, dankbar abzulehnen +vermocht hatte und jetzt selbst den alexandrinischen Staatsmännern +schon bankrott erschien. Zu allem dem kam die finanzielle Bedrängnis; +schon hatte Sulla die Schatzhäuser des Olympischen Zeus, des +Delphischen Apollon, des Epidaurischen Asklepios leeren müssen, wofür +die Götter entschädigt wurden durch die zur Straße eingezogene +Halbscheid des thebanischen Gebiets. Aber weit schlimmer als all diese +militärische und finanzielle Verlegenheit war der Rückschlag der +politischen Umwälzung in Rom, deren rasche, durchgreifende, gewaltsame +Vollendung die ärgsten Befürchtungen weit hinter sich gelassen hatte. +Die Revolution führte in der Hauptstadt das Regiment; Sulla war +abgesetzt, das asiatische Kommando an seiner Stelle dem demokratischen +Konsul Lucius Valerius Flaccus übertragen worden, den man täglich in +Griechenland erwarten konnte. Zwar hatte die Soldateska festgehalten an +Sulla, der alles tat, um sie bei guter Laune zu erhalten; aber was ließ +sich erwarten, wo Geld und Zufuhr ausblieben, wo der Feldherr abgesetzt +und geächtet, sein Nachfolger im Anmarsch war und zu allem diesem der +Krieg gegen den zähen seemächtigen Gegner aussichtslos sich hinspann! + +König Mithradates übernahm es, den Gegner aus seiner bedenklichen Lage +zu befreien. Allem Anschein nach war er es, der das Defensivsystem +seiner Generale mißbilligte und ihnen Befehl schickte, den Feind +fördersamst zu überwinden. Schon 667 (87) war sein Sohn Ariarathes aus +Makedonien aufgebrochen, um Sulla im eigentlichen Griechenland zu +bekämpfen; nur der plötzliche Tod, der den Prinzen auf dem Marsch am +Tisäischen Vorgebirg in Thessalien ereilte, hatte die Expedition damals +rückgängig gemacht. Sein Nachfolger Taxiles erschien jetzt (668 86), +das in Thessalien stehende römische Korps vor sich hertreibend, mit +einem Heer von angeblich 100000 Mann zu Fuß und 10000 Reitern an den +Thermopylen. Mit ihm vereinigte sich Dromichätes. Auch Archelaos räumte +- es scheint, weniger durch Sullas Waffen gezwungen als durch Befehle +seines Herrn - den Peiräeus erst teilweise, sodann ganz und stieß in +Böotien zu der pontischen Hauptarmee. Sulla, nachdem der Peiräeus mit +all seinen vielbewunderten Bauwerken auf seinen Befehl zerstört worden +war, folgte der pontischen Armee in der Hoffnung, vor dem Eintreffen +des Flaccus eine Hauptschlacht liefern zu können. Vergeblich riet +Archelaos, sich hierauf nicht einzulassen, sondern die See und die +Küsten besetzt und den Feind hinzuhalten; wie einst unter Dareios und +Antiochos, so stürzten auch jetzt die Massen der Orientalen, wie +geängstigte Tiere in die Feuersbrunst, sich rasch und blindlings in den +Kampf; und törichter als je war dies hier angewandt, wo die Asiaten +vielleicht nur einige Monate hätten warten dürfen, um bei einer +Schlacht zwischen Sulla und Flaccus die Zuschauer abzugeben. In der +Ebene des Kephissos unweit Chäroneia im März 668 (86) trafen die Heere +aufeinander. Selbst mit Einschluß der aus Thessalien zurückgedrängten +Abteilung, der es geglückt war, ihre Verbindung mit der römischen +Hauptarmee zu bewerkstelligen, und mit Einschluß der griechischen +Kontingente fand sich das römische Heer einem dreifach stärkeren Feind +gegenüber und namentlich einer weit überlegenen und bei der +Beschaffenheit des Schlachtfeldes sehr gefährlichen Reiterei, gegen die +Sulla seine Flanken durch verschanzte Gräben zu decken nötig fand, +sowie er in der Front zum Schutz gegen die feindlichen Streitwagen +zwischen seiner ersten und zweiten Linie eine Palisadenkette anbringen +ließ. Als die Streitwagen den Kampf zu eröffnen heranrollten, zog sich +das erste Treffen der Römer hinter diese Pfahlreihe zurück; die Wagen, +an ihr abprallend und gescheucht durch die römischen Schleuderer und +Schützen, warfen sich auf die eigene Linie und brachten Verwirrung +sowohl in die makedonische Phalanx wie in das Korps der italischen +Flüchtlinge. Archelaos zog eilig seine Reiterei von beiden Flanken +herbei und schickte sie dem Feinde entgegen, um Zeit zu gewinnen, sein +Fußvolk wieder zu ordnen; sie griff mit großem Feuer an und durchbrach +die römischen Reihen; allein die römische Infanterie formierte sich +rasch in geschlossene Massen und hielt den von allen Seiten auf sie +anstürmenden Reitern mutig stand. Inzwischen führte Sulla selbst auf +dem rechten Flügel seine Reiterei in die entblößte Flanke des Feindes; +die asiatische Infanterie wich, ohne eigentlich zum Schlagen gekommen +zu sein, und ihr Weichen brachte Unruhe auch in die Reitermassen. Ein +allgemeiner Angriff des römischen Fußvolks, das durch die schwankende +Haltung der feindlichen Reiter wieder Luft bekam, entschied den Sieg. +Die Schließung der Lagertore, die Archelaos anordnete, um die Flucht zu +hemmen, bewirkte nur, daß das Blutbad um so größer ward und, als die +Tore endlich sich auftaten, die Römer mit den Asiaten zugleich +eindrangen. Nicht den zwölften. Mann soll Archelaos nach Chalkis +gerettet haben. Sulla folgte ihm bis an den Euripos; den schmalen +Meeresarm zu überschreiten war er nicht imstande. + +Es war ein großer Sieg, aber die Resultate waren geringfügig, was wegen +des Mangels einer Flotte, teils weil der römische Sieger sich genötigt +sah, statt die Besiegten zu verfolgen, zunächst vor seinen Landsleuten +sich zu schützen. Die See war noch immer ausschließlich bedeckt von den +pontischen Geschwadern, die jetzt selbst westlich vom Malfischen +Vorgebirge sich zeigten; noch nach der Schlacht von Chäroneia setzte +Archelaos auf Zakynthos Truppen ans Land und machte einen Versuch, auf +dieser Insel sich festzusetzen. Ferner war inzwischen in der Tat Lucius +Flaccus mit zwei Legionen in Epeiros gelandet, nicht ohne unterwegs +durch Stürme und durch die im Adriatischen Meer kreuzenden feindlichen +Kriegsschiffe starken Verlust erlitten zu haben; bereits standen seine +Truppen in Thessalien; dorthin zunächst mußte Sulla sich wenden. Bei +Melitäa am nördlichen Abhang des Othrysgebirges lagerten beide +römischen Heere sich gegenüber; ein Zusammenstoß schien unvermeidlich. +Indes Flaccus, nachdem er Gelegenheit gehabt hatte sich zu überzeugen, +daß Sullas Soldaten keineswegs geneigt war ihren siegreichen Führer an +den gänzlich unbekannten demokratischen Oberfeldherrn zu verraten, daß +vielmehr seine eigene Vorhut anfing, in das Sullanische Lager zu +desertieren, wich dem Kampfe aus, dem er in keiner Hinsicht gewachsen +war, und brach auf gegen Norden, um durch Makedonien und Thrakien nach +Asien zu gelangen und dort durch Überwältigung Mithradats sich den Weg +zu weiteren Erfolgen zu bahnen. Daß Sulla den schwächeren Gegner +ungehindert abziehen ließ und, statt ihm zu folgen, vielmehr zurück +nach Athen ging, wo er den Winter 668/69 (86/85) verweilt zu haben +scheint, ist militärisch betrachtet auffallend; vielleicht darf man +annehmen, daß auch hier politische Beweggründe ihn leiteten und er +gemäßigt und + +Patriotisch genug dachte, um wenigstens so lange, als man doch mit den +Asiaten zu tun hatte, gern einen Sieg über die Landsleute zu vermeiden +und die erträglichste Lösung der leidigen Verwicklung darin zu finden, +wenn die Revolutionsarmee in Asien, die der Oligarchie in Europa mit +dem gemeinschaftlichen Feinde stritt. + +Mit dem Frühling 669 (85) gab es in Europa wieder neue Arbeit. +Mithradates, der in Kleinasien seine Rüstungen unermüdlich fortsetzte, +hatte eine, der bei Chäroneia aufgeriebenen an Zahl nicht viel +nachstehende Armee unter Dorylaos nach Euböa gesandt; von dort war +dieselbe in Verbindung mit den Überbleibseln der Armee des Archelaos +über den Euripos nach Böotien gegangen. Der pontische König, der in den +Siegen über die bithynische und die kappadokische Miliz den Maßstab +fand für die Leistungsfähigkeit seiner Armee, begriff die ungünstige +Wendung nicht, die die Dinge in Europa nahmen; schon flüsterten die +Kreise der Höflinge von Verrat des Archelaos; peremtorischer Befehl war +gegeben, mit der neuen Armee sofort eine zweite Schlacht zu liefern und +nun unfehlbar die Römer zu vernichten. Der Wille des Herrn geschah, wo +nicht im Siegen, doch wenigstens im Schlagen. Abermals in der +Kephissosebene bei Orchomenos, begegneten sich die Römer und die +Asiaten. Die zahlreiche und vortreffliche Reiterei der letzteren warf +sich ungestüm auf das römische Fußvolk, das zu schwanken und zu weichen +begann; die Gefahr ward so dringend, daß Sulla ein Feldzeichen ergriff +und mit seinen Adjutanten und Ordonnanzen gegen den Feind vorgehend mit +lauter Stimme den Soldaten zurief, wenn man daheim sie frage, wo sie +ihren Feldherrn im Stich gelassen hätten, so möchten sie antworten: bei +Orchomenos. Dies wirkte; die Legionen standen wieder und überwältigten +die feindlichen Reiter, worauf auch die Infanterie mit leichter Mühe +geworfen ward. Am folgenden Tage wurde das Lager der Asiaten umstellt +und erstürmt; der weitaus größte Teil derselben fiel oder kam in den +Kopaischen Sümpfen um; nur wenige, unter ihnen Archelaos, gelangten +nach Euböa. Die böotischen Gemeinden hatten den abermaligen Abfall von +Rom schwer, zum Teil bis zur Vernichtung zu büßen. Dem Einmarsch in +Makedonien und Thrakien stand nichts im Wege: Philippi ward besetzt, +Abdera von der pontischen Besatzung freiwillig geräumt, überhaupt das +europäische Festland von den Feinden gesäubert. Am Ende des dritten +Kriegsjahres (669 85) konnte Sulla Winterquartiere in Thessalien +beziehen, um im Frühjahr 670 (84) 9 den asiatischen Feldzug zu +beginnen, zu welchem Ende er Befehl gab, in den thessalischen Häfen +Schiffe zu bauen. + +————————————————————- + +9 Die Chronologie dieser Ereignisse liegt, wie alle Einzelheiten +überhaupt, in einem Dunkel, das die Forschung höchstens bis zur +Dämmerung zu zerstreuen vermag. Daß die Schlacht von Chäroneia, wenn +auch nicht an demselben Tage wie die Erstürmung von Athen (Paus. 1, +20), doch bald nachher, etwa im März 668 (86), stattfand, ist ziemlich +sicher. Daß die darauf folgende thessalische und die zweite böotische +Kampagne nicht bloß den Rest des Jahres 668 (86), sondern auch das +ganze Jahr 669 (85) in Anspruch nahmen, ist an sich wahrscheinlich und +wird es noch mehr dadurch, daß Sullas Unternehmungen in Asien nicht +genügen, um mehr als einen Feldzug auszufüllen. Auch scheint Licinianus +anzudeuten, daß Sulla für den Winter 668/69 (86/85) wieder nach Athen +zurückging und hier die Untersuchungen und Bestrafungen vornahm; worauf +dann die Schlacht von Orchomenos erzählt wird. Darum ist der Übergang +Sullas nach Asien nicht 669 (85), sondern 670 (84) gesetzt worden. + +—————————————————————— + +Inzwischen hatten auch die kleinasiatischen Verhältnisse sich +wesentlich geändert. Wenn König Mithradates einst aufgetreten war als +der Befreier der Hellenen, wenn er mit Förderung der städtischen +Unabhängigkeit und mit Steuererlassen seine Herrschaft eingeleitet +hatte, so war auf diesen kurzen Taumel nur zu rasch und nur zu bitter +die Enttäuschung gefolgt. Sehr bald war er in seinem wahren Charakter +hervorgetreten und hatte eine die Tyrannei der römischen Vögte weit +überbietende Zwingherrschaft zu üben begonnen, die sogar die geduldigen +Kleinasiaten zu offener Auflehnung trieb. Der Sultan griff dagegen +wieder zu den gewaltsamsten Mitteln. Seine Verordnungen verliehen den +zugewandten Ortschaften die Selbständigkeit, den Insassen das +Bürgerrecht, den Schuldnern vollen Schuldenerlaß, den Besitzlosen +Äcker, den Sklaven die Freiheit; an 15000 solcher freigelassener +Sklaven fochten im Heer des Archelaos. Die fürchterlichsten Szenen +waren die Folge dieser von oben herab erfolgenden Umwälzung aller +bestehenden Ordnung. Die ansehnlichsten Kaufstädte, Smyrna, Kolophon, +Ephesos, Tralleis, Sardeis, schlossen den Vögten des Königs die Tore +oder brachten sie um und erklärten sich für Rom ^10. Dagegen ließ der +königliche Vogt Diodoros, ein namhafter Philosoph wie Aristion, von +anderer Schule, aber gleich brauchbar zur schlimmsten Herrendienerei, +im Auftrag seines Herrn den gesamten Stadtrat von Adramytion +niedermachen. Die Chier, die der Hinneigung zu Rom verdächtig schienen, +wurden zunächst um 2000 Talente (3150000 Taler) gebüßt und, da die +Zahlung nicht richtig befunden wurde, in Masse auf Schiffe gesetzt und +gebunden, unter Aufsicht ihrer eigenen Sklaven, an die kolchische Küste +deportiert, während ihre Insel mit pontischen Kolonisten besetzt ward. +Die Häuptlinge der kleinasiatischen Kelten befahl der König sämtlich an +einem Tage mit ihren Weibern und Kindern umzubringen und Galatien in +eine pontische Satrapie zu verwandeln. Die meisten dieser Blutbefehle +wurden auch entweder an Mithradates’ eigenem Hoflager oder im +galatischen Lande vollstreckt, allein die wenigen Entronnenen stellten +sich an die Spitze ihrer kräftigen Stämme und schlugen den Statthalter +des Königs, Eumachos, aus ihren Grenzen hinaus. Daß diesen König die +Dolche der Mörder verfolgten, ist begreiflich; sechzehnhundert Menschen +wurden als in solche Komplotte verwickelt von den königlichen +Untersuchungsgerichten zum Tode verurteilt. + +———————————————————————- + +^10 Es ist kürzlich (Waddington, Zusätze zu Lebas, 3, 136a) der +desfällige Beschluß der Bürgerschaft von Ephesos aufgefunden worden. +Sie seien, erklären die Bürger, in die Gewalt des “Königs von +Kappadokien” Mithradates geraten, erschreckt durch die Masse seiner +Streitkräfte und die Plötzlichkeit seines Angriffs; wie aber die +Gelegenheit dazu sich darbiete, erklärten sie “für die Herrschaft +(ηγεμονία) der Römer und die gemeine Freiheit” ihm den Krieg. + +——————————————————————— + +Wenn also der König durch dies selbstmörderische Wüten seine +derzeitigen Untertanen gegen sich unter die Waffen rief, so begannen +gleichzeitig die Römer auch in Asien, ihn zur See und zu Lande zu +drängen. Lucullus hatte, nachdem der Versuch, die ägyptische Flotte +gegen Mithradates vorzuführen, gescheitert war, sein Bemühen, sich +Kriegsschiffe zu verschaffen, in den syrischen Seestädten mit besserem +Erfolg wiederholt und seine werdende Flotte in den kyprischen, +pamphylischen und rhodischen Häfen verstärkt, bis er sich stark genug +fand, zum Angriff überzugehen. Gewandt vermied er es, mit überlegenen +Streitkräften sich zu messen und errang dennoch nicht unbedeutende +Erfolge. Die knidische Insel und Halbinsel wurden von ihm besetzt, +Samos angegriffen, Kolophon und Chios den Feinden entrissen. + +Inzwischen war auch Flaccus mit seiner Armee durch Makedonien und +Thrakien nach Byzantion und von dort, die Meerenge passierend, nach +Kalchedon gelangt (Ende 668 86). Hier brach gegen den Feldherrn eine +Militärinsurrektion aus, angeblich weil er den Soldaten die Beute +unterschlug; die Seele derselben war einer der höchsten Offiziere des +Heeres, ein Mann, dessen Name in Rom sprichwörtlich geworden war für +den rechten Pöbelredner, Gaius Flavius Fimbria, welcher, nachdem er mit +seinem Oberfeldherrn sich entzweit hatte, das auf dem Markt begonnene +Demagogengeschäft ins Lager übertrug. Flaccus ward von dem Heer +abgesetzt und bald nachher in Nikomedeia unweit Kalchedon getötet; an +seine Stelle trat nach Beschluß der Soldaten Fimbria. Es versteht sich, +daß er seinen Leuten alles nachsah: in dem befreundeten Kyzikos zum +Beispiel ward der Bürgerschaft befohlen, ihre gesamte Habe an die +Soldaten bei Todesstrafe auszuliefern und zum warnenden Exempel zwei +der angesehensten Bürger sogleich vorläufig hingerichtet. Allein +militärisch war der Wechsel des Oberbefehls dennoch ein Gewinn; Fimbria +war nicht wie Flaccus ein unfähiger General, sondern energisch und +talentvoll. Bei Miletopolis (am Rhyndakos westlich von Brussa) schlug +er den jüngeren Mithradates, der als Statthalter der pontischen +Satrapie ihm entgegengezogen war, vollständig in einem nächtlichen +Überfall und öffnete sich durch diesen Sieg den Weg nach der Hauptstadt +sonst der römischen Provinz, jetzt des pontischen Königs, Pergamon, von +wo er den König vertrieb und ihn zwang, sich nach dem wenig entfernten +Hafen Pitane zu retten, um dort sich einzuschiffen. Eben jetzt erschien +Lucullus mit seiner Flotte in diesen Gewässern; Fimbria beschwor ihn, +durch seinen Beistand ihm die Gefangennehmung des Königs möglich zu +machen. Aber der Optimat war mächtiger in Lucullus als der Patriot; er +segelte weiter, und der König entkam nach Mytilene. Auch so war +Mithradates’ Lage bedrängt genug. Am Ende des Jahres 669 (85) war +Europa verloren, Kleinasien gegen ihn teils im Aufstand begriffen, +teils von einem römischen Heer eingenommen und er selbst von diesem in +unmittelbarer Nähe bedroht. Die römische Flotte unter Lucullus hatte an +der Küste der troischen Landschaft in zwei glücklichen Seegefechten am +Vorgebirg Lekton und bei der Insel Tenedos ihre Stellung behauptet; sie +zog daselbst die inzwischen nach Sullas Anordnung in Thessalien +erbauten Schiffe an sich und verbürgte in ihrer den Hellespont +beherrschenden Stellung dem Feldherrn der römischen Senatsarmee für das +nächste Frühjahr den sicheren und bequemen Übergang nach Asien. + +Mithradates versuchte zu unterhandeln. Unter anderen Verhältnissen zwar +hätte der Urheber des ephesischen Mordedikts nie und nimmermehr hoffen +dürfen, zum Frieden mit Rom gelassen zu werden; allein bei den inneren +Konvulsionen der römischen Republik, wo die herrschende Regierung den +gegen Mithradates ausgesandten Feldherrn in die Acht erklärt hatte und +daheim gegen seine Parteigenossen in der grauenhaftesten Weise wütete, +wo ein römischer General gegen den andern und doch wieder beide gegen +denselben Feind standen, hoffte er nicht bloß einen Frieden, sondern +einen günstigen Frieden erlangen zu können. Er hatte die Wahl, sich an +Sulla oder an Fimbria zu wenden; mit beiden ließ er unterhandeln, doch +scheint seine Absicht von Haus aus gewesen zu sein, mit Sulla +abzuschließen, der wenigstens in dem Horizont des Königs als seinem +Nebenbuhler entschieden überlegen erschien. Sein Feldherr Archelaos +forderte nach Anweisung seines Herrn Sulla auf, Asien an den König +abzutreten und dafür die Hilfe desselben gegen die demokratische Partei +in Rom zu gewärtigen. Aber Sulla, kühl und klar wie immer, wünschte +zwar wegen der Lage der Dinge in Italien dringend die schleunige +Erledigung der asiatischen Angelegenheiten, schlug aber die Vorteile +der kappadokischen Allianz für den ihm in Italien bevorstehenden Krieg +sehr niedrig an und war überhaupt viel zu sehr Römer, um in eine so +entehrende und so nachteilige Abtretung zu willigen. In den +Friedenskonferenzen, die im Winter 669/70 (85/84) zu Delion an der +böotischen Küste, Euböa gegenüber, stattfanden, weigerte er sich +bestimmt, auch nur einen Fußbreit Landes abzutreten, ging aber, der +alten römischen Sitte, die vor dem Kampfe erhobenen Forderungen nach +dem Siege nicht zu steigern, aus gutem Grunde getreu, über die früher +gestellten Bedingungen nicht hinaus. Er forderte die Rückgabe aller von +dem König gemachten und ihm noch nicht wiederentrissenen Eroberungen, +Kappadokiens, Paphlagoniens, Galatiens, Bithyniens, Kleinasiens und der +Inseln, die Auslieferung der Gefangenen und Überläufer, die Übergabe +der achtzig Kriegsschiffe des Archelaos zur Verstärkung der immer noch +geringen römischen Flotte, endlich Sold und Verpflegung für das Heer +und Ersatz der Kriegskosten mit der sehr mäßigen Summe von 3000 +Talenten (4¾ Mill. Taler). Die nach dem Schwarzen Meer weggeführten +Chier sollten heimgesandt, den römisch gesinnten Makedoniern ihre +weggeführten Familien zurückgegeben, den mit Rom verbündeten Städten +eine Anzahl Kriegsschiffe zugestellt werden. Von Tigranes, der streng +genommen gleichfalls mit in den Frieden hätte eingeschlossen werden +sollen, schwieg man auf beiden Seiten, da an den endlosen Weiterungen, +die seine Beiziehung machen mußte, keinem der kontrahierenden Teile +gelegen war. Der Besitzstand also, den der König vor dem Kriege gehabt +hatte, blieb ihm und es ward ihm keine ehrenkränkende Demütigung +angesonnen ^11. Archelaos, deutlich erkennend, daß verhältnismäßig +unerwartet viel erreicht und mehr nicht zu erreichen sei, schloß auf +diese Bedingungen die Präliminarien und den Waffenstillstand ab und zog +die Truppen aus den Plätzen heraus, die die Asiaten noch in Europa +innehatten. Allein Mithradates verwarf den Frieden und begehrte +wenigstens, daß die Römer auf die Auslieferung der Kriegsschiffe +verzichten und ihm Paphlagonien einräumen wollten; indem er zugleich +geltend machte, daß Fimbria ihm weit günstigere Bedingungen zu gewähren +bereit sei. Sulla, beleidigt durch dies Gleichstellen seiner +Anerbietungen mit denen eines amtlosen Abenteurers und bei dem +äußersten Maß der Nachgiebigkeit bereits angelangt, brach die +Unterhandlungen ab. Er hatte die Zwischenzeit benutzt, um Makedonien +wiederzuordnen und die Dardaner, Sinter, Mäder zu züchtigen, wobei er +zugleich seinem Heer Beute verschaffte und sich Asien näherte; denn +dahin zu gehen war er auf jeden Fall entschlossen, um mit Fimbria +abzurechnen. Nun setzte er sofort seine in Thrakien stehenden Legionen +sowie seine Flotte in Bewegung nach dem Hellespont. Da endlich gelang +es Archelaos, seinem eigensinnigen Herrn die widerstrebende +Einwilligung zu dem Traktat zu entreißen; wofür er später am +königlichen Hofe als der Urheber des nachteiligen Friedens scheel +angesehen, ja des Verrats bezichtigt ward, so daß einige Zeit nachher +er sich genötigt sah, das Land zu räumen und zu den Römern zu flüchten, +die ihn bereitwillig aufnahmen und mit Ehren überhäuften. Auch die +römischen Soldaten murrten; daß die gehoffte asiatische Kriegsbeute +ihnen entging, mochte dazu freilich mehr beitragen als der an sich wohl +gerechtfertigte Unwille, daß man den Barbarenfürsten, der +achtzigtausend ihrer Landsleute ermordet und über Italien und Asien +unsägliches Elend gebracht hatte, mit dem größten Teil der in Asien +zusammengeplünderten Schätze ungestraft abziehen ließ in seine Heimat. +Sulla selbst mag es schmerzlich empfunden haben, daß die politischen +Verwicklungen seine militärisch so einfache Aufgabe in peinlichster +Weise durchkreuzten und ihn zwangen, nach solchen Siegen sich mit einem +solchen Frieden zu begnügen. Indes zeigt sich die Selbstverleugnung und +die Einsicht, mit der er diesen ganzen Krieg geführt hat, nur aufs neue +in diesem Friedensschluß; denn der Krieg gegen einen Fürsten, dem fast +die ganze Küste des Schwarzen Meeres gehorchte und dessen Starrsinn +noch die letzten Verhandlungen deutlich offenbarten, nahm selbst im +günstigsten Fall Jahre in Anspruch, und die Lage Italiens war von der +Art, daß es fast schon für Sulla zu spät schien, um mit den wenigen +Legionen, die er besaß, der dort regierenden Partei entgegenzutreten +^12. Indes bevor dies geschehen konnte, war es schlechterdings +notwendig, den kecken Offizier niederzuwerfen, der in Asien an der +Spitze der demokratischen Armee stand, damit derselbe nicht, wie Sulla +jetzt von Asien aus die. italische Revolution zu unterdrücken hoffte, +so dereinst ebenfalls von Asien aus derselben zu Hilfe komme. Bei +Kypsela am Hebros erreichte Sulla die Nachricht von der Ratifikation +des Friedens durch Mithradates; allein der Marsch nach Asien ging +weiter. Der König, hieß es, wünsche persönlich mit dem römischen +Feldherrn zusammenzutreffen und den Frieden mit ihm zu vereinbaren; +vermutlich war dies nichts als ein schicklicher Vorwand, um das Heer +nach Asien überzuführen und dort mit Fimbria ein Ende zu machen. So +überschritt Sulla, begleitet von seinen Legionen und von Archelaos, den +Hellespont; nachdem er am asiatischen Ufer desselben in Dardanos mit +Mithradates zusammengetroffen war und mündlich den Vertrag +abgeschlossen hatte, ließ er den Marsch fortsetzen, bis er bei +Thyateira unweit Pergamon auf das Lager des Fimbria traf. Hart an +demselben schlug er das seinige auf. Die Sullanischen Soldaten, an +Zahl, Zucht, Führung und Tüchtigkeit den Fimbrianern weit überlegen, +sahen mit Verachtung auf die verzagten und demoralisierten Haufen und +deren unberufenen Oberfeldherrn. Die Desertionen unter den Fimbrianern +wurden immer zahlreicher. Als Fimbria anzugreifen befahl, weigerten die +Soldaten sich, gegen ihre Mitbürger zu fechten, ja sogar den +geforderten Eid, treulich im Kampf zusammenzustehen, in seine Hände +abzulegen. Ein Mordversuch auf Sulla schlug fehl; zu der von Fimbria +erbetenen Zusammenkunft erschien Sulla nicht, sondern begnügte sich, +ihm durch einen seiner Offiziere eine Aussicht auf persönliche Rettung +zu eröffnen. Fimbria war eine frevelhafte Natur, aber keine Memme; +statt das von Sulla ihm angebotene Schiff anzunehmen und zu den +Barbaren zu fliehen, ging er nach Pergamon und fiel im Tempel des +Asklepios in sein eigenes Schwert. Die kompromittiertesten aus seinem +Heer begaben sich zu Mithradates oder zu den Piraten, wo sie +bereitwillige Aufnahme fanden; die Masse stellte sich unter die Befehle +Sullas. + +———————————————————————- + +^11 Die Angabe, daß Mithradates den Städten, die seine Partei ergriffen +hatten im Frieden Straflosigkeit ausbedungen habe (Memn. 35), erscheint +schon nach dem Charakter des Siegers wie des Besiegten wenig glaublich +und fehlt auch bei Appian wie bei Licinianus. Die schriftliche +Abfassung des Friedensvertrages ward versäumt, was später zu vielen +Entstellungen benutzt ward. + +^12 Auch die armenische Tradition kennt den Ersten Mithradatischen +Krieg. König Ardasches von Armenien, berichtet Moses von Khorene, +begnügte sich nicht mit dem zweiten Rang, der ihm im Persischen +(Parthischen) Reich von Rechts wegen zukam, sondern zwang den +Partherkönig Arschagan, ihm die höchste Gewalt abzutreten, worauf er in +Persien sich einen Palast bauen und daselbst Münzen mit eigenem Bildnis +schlagen ließ und den Arschagan zum Unterkönig Persiens, seinen Sohn +Dicran (Tigranes) zum Unterkönig Armeniens bestellte, seine Tochter +Ardaschama aber vermählte mit dem Großfürsten der Iberer Mihrdates +(Mithradates), der von dem Mihrdates, Satrapen des Dareios und +Statthalters Alexanders über die besiegten Iberer, abstammte und in den +nördlichen Bergen sowie über das Schwarze Meer befahl. Ardasches nahm +darauf den König der Lydier Krösos gefangen, unterwarf das Festland +zwischen den beiden großen Meeren (Kleinasien) und ging über das Meer +mit unzähligen Schiffen, um den Westen zu bezwingen. Da in Rom damals +Anarchie war, fand er nirgends ernstlichen Widerstand, aber seine +Soldaten brachten einander um und Ardasches fiel von der Hand seiner +Leute. Nach Ardasches’ Tode rückte sein Nachfolger Dicran gegen die +Armee der Griechen (d. i. der Römer), die jetzt ihrerseits in das +armenische Land eindrangen; er setzte ihrem Vordringen ein Ziel, +übergab seinem Schwager Mithradates die Verwaltung von Madschag (Mazaka +in Kappadokien) und des Binnenlandes nebst einer ansehnlichen +Streitmacht und kehrte zurück nach Armenien. Viele Jahre später zeigte +man noch in den armenischen Städten Statuen griechischer Götter von +bekannten Meistern, Siegeszeichen aus diesem Feldzug. + +Man erkennt hier verschiedene Tatsachen des Ersten Mithradatischen +Kriegs ohne Mühe wieder, aber die ganze Erzählung ist augenscheinlich +durcheinandergeworfen, mit fremdartigen Zusätzen ausgestattet und +namentlich durch patriotische Fälschung auf Armenien übertragen. Ganz +ebenso wird später der Sieg über Crassus den Armeniern beigelegt. Diese +orientalischen Nachrichten sind mit um so größerer Vorsicht +aufzunehmen, als sie keineswegs reine Volkssage sind, sondern teils die +Nachrichten des Josephus, Eusebius und anderer, den Christen des +fünften Jahrhunderts geläufiger Quellen darin mit den armenischen +Traditionen verschmolzen, teils auch die historischen Romane der +Griechen und ohne Frage auch die eigenen patriotischen Phantasien des +Moses dafür ansehnlich in Kontribution gesetzt sind. So schlecht unsere +okzidentalische Überlieferung an sich ist, so kann die Zuziehung der +orientalischen in diesem und in ähnlichen Fällen, wie zum Beispiel der +unkritische Saint-Martin sie versucht hat, doch nur dahin führen, sie +noch stärker zu trüben. + +—————————————————————————- + +Sulla beschloß, diese beiden Legionen, denen er für den bevorstehenden +Krieg doch nicht traute, in Asien zurückzulassen, wo die entsetzliche +Krise noch lange in den einzelnen Städten und Landschaften +nachzitterte. Das Kommando über dieses Korps und die Statthalterschaft +im römischen Asien übergab er seinem besten Offizier Lucius Licinius +Murena. Die revolutionären Maßregeln Mithradats, wie die Befreiung der +Sklaven und die Kassation der Forderungen, wurden natürlich aufgehoben; +eine Restauration, die freilich an vielen Orten nicht ohne Waffengewalt +durchgesetzt werden konnte. Die Städte des östlichen Grenzgebiets +unterlagen einer durchgreifenden Reorganisation und rechneten seit dem +Jahre 670 (84) als dem ihrer Konstituierung. Es ward ferner +Gerechtigkeit geübt, wie die Sieger sie verstanden. Die namhaftesten +Anhänger Mithradats und die Urheber der an den Italikern verübten +Mordtaten traf die Todesstrafe. Die Steuerpflichtigen mußten die +sämtlichen von den letzten fünf Jahren her rückständigen Zehnten und +Zölle sofort nach Abschätzung bar erlegen; außerdem hatten sie eine +Kriegsentschädigung von 20000 Talenten (32 Mill. Talern) zu entrichten, +zu deren Eintreibung Lucius Lucullus zurückblieb. Es waren die +Maßregeln von furchtbarer Strenge und schrecklichen Folgen; wenn man +sich indes des ephesischen Dekrets und seiner Exekution erinnert, so +fühlt man sich geneigt, dieselben als eine verhältnismäßig noch gelinde +Vergeltung zu betrachten. Daß die sonstigen Erpressungen nicht +ungewöhnlich drückend waren, beweist der Betrag der später im Triumph +aufgeführten Beute, der an edlem Metall sich nur auf etwa 8 Mill. Taler +belief. Die wenigen treugebliebenen Gemeinden dagegen, namentlich die +Insel Rhodos, die lykische Landschaft, Magnesia am Mäander wurden reich +belohnt; Rhodos erhielt wenigstens einen Teil der nach dem Kriege gegen +Perseus ihm entzogenen Besitzungen zurück. Desgleichen wurden die Chier +für die ausgestandene Not, die Ilienser für die wahnsinnig grausame +Mißhandlung, die ihnen Fimbria wegen der mit Sulla angeknüpften +Verhandlungen zugefügt hatte, nach Möglichkeit durch Freibriefe und +Vergünstigungen entschädigt. Die Könige von Bithynien und Kappadokien +hatte Sulla schon in Dardanos mit dem pontischen König zusammengeführt +und sie alle Frieden und gute Nachbarschaft geloben lassen; wobei +freilich der stolze Mithradates sich geweigert hatte, den nicht von +königlichem Blute stammenden Ariobarzanes, den Sklaven, wie er ihn +nannte, persönlich vor sich zu lassen. Gaius Scribonius Curio ward +beauftragt, in den beiden von Mithradates geräumten Reichen die +Wiederherstellung der gesetzlichen Zustände zu überwachen. + +So war man am Ziel. Nach vier Kriegsjahren war der pontische König +wieder ein Klient der Römer und in Griechenland, Makedonien und +Kleinasien ein einheitliches und geordnetes Regiment wiederhergestellt; +die Gebote des Vorteils und der Ehre waren, wo nicht zur Genüge, doch +zur Notdurft befriedigt. Sulla hatte nicht bloß als Soldat und Feldherr +glänzend sich hervorgetan, sondern die schwere Mittelstraße zwischen +kühnem Ausharren und klugem Nachgeben auf seinem von tausendfachen +Hindernissen durchkreuzten Gange einzuhalten verstanden. Fast wie +Hannibal hatte er gekriegt und gesiegt, um mit den Streitkräften, die +der erste Sieg ihm gab, alsbald zu einem zweiten und schwereren Kampfe +sich zu schicken. Nachdem er seine Soldaten durch die üppigen +Winterquartiere in dem reichen Vorderasien einigermaßen für ihre +ausgestandenen Strapazen entschädigt hatte, ging er im Frühjahr 671 +(83) auf 1600 Schiffen von Ephesos nach dem Peiräeus und von da auf dem +Landweg nach Paträ, wo die Schiffe wiederum bereit standen, um die +Truppen nach Brundisium zu führen. Ihm vorauf ging ein Bericht an den +Senat über seine Feldzüge in Griechenland und Asien, dessen Schreiber +von seiner Absetzung nichts zu wissen schien; es war die stumme +Ankündigung der bevorstehenden Restauration. + + + + +KAPITEL IX. +Cinna und Sulla + + +Die gespannten und unklaren Verhältnisse, in denen Sulla bei seiner +Abfahrt nach Griechenland im Anfang des Jahres 667 (87) Italien +zurückließ, sind früher dargelegt worden: die halb erstickte +Insurrektion, die Hauptarmee unter dem mehr als halb usurpierten +Kommando eines politisch sehr zweideutigen Generals, die Verwirrung und +die vielfach tätige Intrige in der Hauptstadt. Der Sieg der Oligarchie +durch Waffengewalt hatte trotz oder wegen seiner Mäßigung vielfältige +Mißvergnügte gemacht. Die Kapitalisten, von den Schlägen der schwersten +Finanzkrise, die Rom noch erlebt hatte, schmerzlich getroffen, grollten +der Regierung wegen des Zinsgesetzes, das sie erlassen, und wegen des +Italischen und des Asiatischen Krieges, die sie nicht verhütet hatte. +Die Insurgenten, soweit sie die Waffen niedergelegt, beklagten nicht +bloß den Verlust ihrer stolzen Hoffnungen auf Erlangung gleicher Rechte +mit der herrschenden Bürgerschaft, sondern auch den ihrer +althergebrachten Verträge und ihre neue völlig rechtlose +Untertanenstellung. Die Gemeinden zwischen Alpen und Po waren ebenfalls +unzufrieden mit den ihnen gemachten halben Zugeständnissen und die +Neubürger und Freigelassenen erbittert durch die Kassation der +Sulpicischen Gesetze. Der Stadtpöbel litt unter der allgemeinen +Bedrängnis und fand es unerlaubt, daß das Säbelregiment sich die +verfassungsmäßige Knüttelherrschaft nicht ferner hatte wollen gefallen +lassen. Der hauptstädtische Anhang der nach der Sulpicischen Umwälzung +Geächteten, der infolge der ungemeinen Mäßigung Sullas sehr zahlreich +geblieben war, arbeitete eifrig daran, diesen die Erlaubnis zur +Rückkehr zu erwirken; namentlich einige reiche und angesehene Frauen +sparten für diesen Zweck keine Mühe und kein Geld. Keine dieser +Verstimmungen war eigentlich von der Art, daß sie einen neuen +gewaltsamen Zusammenstoß der Parteien in nahe Aussicht stellte; +größtenteils waren sie zielloser und vorübergehender Art: aber sie alle +nährten das allgemeine Mißbehagen und hatten schon mehr oder minder +mitgewirkt bei der Ermordung des Rufus, den wiederholten Mordversuchen +gegen Sulla, dem zum Teil oppositionellen Ausfall der Konsul- und +Tribunenwahlen für 667 (87). Der Name des Mannes, den die Mißvergnügten +an die Spitze des Staats berufen hatten, des Lucius Cornelius Cinna, +war bis dahin kaum genannt worden, außer insofern er als Offizier im +Bundesgenossenkrieg sich gut geschlagen hatte; über die Persönlichkeit +desselben und seine ursprünglichen Absichten sind wir weniger +unterrichtet als über die irgendeines andern Parteiführers in der +römischen Revolution. Die Ursache ist allem Anschein nach keine andere, +als daß dieser ganz gemeine und durch den niedrigsten Egoismus +geleitete Gesell weitergehende politische Pläne von Haus aus gar nicht +gehabt hat. Es ward gleich bei seinem Auftreten behauptet, daß er gegen +ein tüchtiges Stück Geld sich den Neubürgern und der Koterie des Marius +verkauft habe, und die Beschuldigung sieht sehr glaublich aus; wäre sie +aber auch falsch, so bleibt es nichtsdestoweniger charakteristisch, daß +ein derartiger Verdacht, wie er nie gegen Saturninus und Sulpicius +geäußert worden war, an Cinna haftete. In der Tat hat die Bewegung, an +deren Spitze er sich stellte, ganz den Anschein der Geringhaltigkeit +sowohl der Beweggründe wie der Ziele. Sie ging nicht so sehr von einer +Partei aus als von einer Anzahl Mißvergnügter ohne eigentlich +politische Zwecke und nennenswerten Rückhalt, die hauptsächlich die +Rückberufung der Verbannten in gesetzlicher oder ungesetzlicher Weise +durchzusetzen sich vorgenommen hatte. Cinna scheint in die Verschwörung +nur nachträglich und nur deshalb hineingezogen zu sein, weil die +Intrige, die infolge der Beschränkung der tribunizischen Gewalt zur +Vorbringung ihrer Anträge einen Konsul brauchte, unter den +Konsularkandidaten für 667 (87) in ihm das geeignetste Werkzeug ersah +und dann ihn als den Konsul vorschob. Unter den in zweiter Linie +erscheinenden Leitern der Bewegung fanden sich einige fähigere Köpfe, +so der Volkstribun Gnaeus Papirius Carbo, der durch seine stürmische +Volksberedsamkeit sich einen Namen gemacht hatte, und vor allem Quintus +Sertorius, einer der talentvollsten römischen Offiziere und in jeder +Hinsicht ein vorzüglicher Mann, welcher seit seiner Bewerbung um das +Volkstribunat mit Sulla persönlich verfeindet und durch diesen Hader in +die Reihen der Mißvergnügten geführt worden war, wohin er seiner Art +nach keineswegs gehörte. Der Prokonsul Strabo, obwohl mit der Regierung +gespannt, war dennoch weit entfernt, mit dieser Fraktion sich +einzulassen. + +Solange Sulla in Italien stand, hielten die Verbündeten aus guten +Gründen sich still. Als indes der gefürchtete Prokonsul, nicht den +Mahnungen des Konsuls Cinna, sondern dem dringenden Stand der Dinge im +Osten nachgebend, sich eingeschifft hatte, legte Cinna, unterstützt von +der Majorität des Tribunenkollegiums, sofort die Gesetzentwürfe vor, +wodurch man übereingekommen war, gegen die Sullanische Restauration von +666 (88) teilweise zu reagieren; sie enthielten die politische +Gleichstellung der Neubürger und der Freigelassenen, wie Sulpicius sie +beantragt hatte, und die Wiedereinsetzung der infolge der Sulpicischen +Revolution Geächteten in den vorigen Stand. In Masse strömten die +Neubürger nach der Hauptstadt, um dort mit den Freigelassenen zugleich +die Gegner einzuschüchtern und nötigenfalls zu zwingen. Aber auch die +Regierungspartei war entschlossen, nicht zu weichen; es stand Konsul +gegen Konsul, Gnaeus Octavius gegen Lucius Cinna, und Tribun gegen +Tribun; beiderseits erschien man am Tage der Abstimmung großenteils +bewaffnet auf dem Stimmplatz. Die Tribune von der Senatspartei legten +Interzession ein; als gegen sie auf der Rednerbühne selbst die +Schwerter gezückt wurden, brauchte Octavius gegen die Gewalttäter +Gewalt. Seine geschlossenen Haufen bewaffneter Männer säuberten nicht +bloß die Heilige Straße und den Marktplatz, sondern wüteten auch, der +Befehle ihres milder gesinnten Führers nicht achtend, in grauenhafter +Weise gegen die versammelten Massen. Der Marktplatz schwamm in Blut an +diesem “Octaviustag”, wie niemals vor- oder nachher - auf zehntausend +schätzte man die Zahl der Leichen. Cinna rief die Sklaven auf, sich +durch Teilnahme an dem Kampf die Freiheit zu erkaufen; aber sein Ruf +war ebenso erfolglos wie der gleiche des Marius das Jahr zuvor, und es +blieb den Führern der Bewegung nichts übrig, als zu flüchten. Weiter +gegen die Häupter der Verschwörung, solange ihr Amtsjahr lief, zu +verfahren gab die Verfassung kein Mittel an die Hand. Allein ein +vermutlich mehr loyaler als frommer Prophet hatte geweissagt, daß die +Verbannung des Konsuls Cinna und der sechs mit ihm haltenden +Volkstribune dem Lande Frieden und Ruhe wiedergeben werde; und in +Gemäßheit zwar nicht der Verfassung, aber wohl dieses glücklich von den +Orakelbewahrern aufgefangenen Götterratschlags wurde durch Beschluß des +Senats der Konsul Cinna seines Amtes entsetzt, an seiner Stelle Lucius +Cornelius Merula gewählt und gegen die flüchtigen Häupter die Acht +ausgesprochen. Die ganze Krise schien damit endigen zu sollen, daß die +Zahl der ausgetretenen Männer in Numidien um einige Köpfe sich +vermehrte. + +Ohne Zweifel wäre auch bei der Bewegung nichts weiter herausgekommen, +wenn nicht teils der Senat in seiner gewöhnlichen Schlaffheit es +unterlassen hätte, die Flüchtlinge rasch wenigstens zur Räumung +Italiens zu nötigen, teils diese in der Lage gewesen wären, zu ihren +Gunsten als der Verfechter der Emanzipation der Neubürger gewissermaßen +den Aufstand der Italiker zu erneuern. Ungehindert erschienen sie in +Tibur, in Praeneste, in allen bedeutenden Neubürgergemeinden Latiums +und Kampaniens und forderten und erhielten überall zur Durchführung der +gemeinschaftlichen Sache Geld und Mannschaft. So unterstützt zeigten +sie sich bei der Belagerungsarmee von Nola. Die Heere dieser Zeit waren +demokratisch und revolutionär gesinnt, wo immer nicht der Feldherr +durch seine imponierende Persönlichkeit sie an sich selber fesselte; +die Reden der flüchtigen Beamten, die überdies zum Teil, wie namentlich +Cinna und Sertorius, aus den letzten Feldzügen in gutem Andenken bei +den Soldaten standen, machten tiefen Eindruck; die verfassungswidrige +Absetzung des popularen Konsuls, der Eingriff des Senats in die Rechte +des souveränen Volkes wirkten auf den gemeinen Mann, und den Offizieren +machte das Gold des Konsuls oder vielmehr der Neubürger den +Verfassungsbruch deutlich. Das kampanische Heer erkannte den Cinna als +Konsul an und schwor ihm Mann für Mann den Eid der Treue; es ward der +Kern für die von den Neubürgern und selbst den bundesgenössischen +Gemeinden herbeiströmenden Scharen. Bald bewegten ansehnliche, wenn +auch meistens aus Rekruten bestehende Haufen sich von Kampanien auf die +Hauptstadt zu. Andere Schwärme nahten ihr von Norden. Auf Cinnas +Einladung waren die das Jahr zuvor Verbannten bei Telamon an der +etruskischen Küste gelandet. Es waren nicht mehr als etwa 500 +Bewaffnete, größtenteils Sklaven der Flüchtlinge und geworbene +numidische Reiter; aber Gaius Marius, wie er das Jahr zuvor mit dem +hauptstädtischen Gesindel hatte Gemeinschaft machen wollen, ließ jetzt +die Zwinghäuser erbrechen, in denen die Gutsbesitzer dieser Gegend ihre +Feldarbeiter zur Nachtzeit einschlossen, und die Waffen, die er diesen +bot, um sich die Freiheit zu erfechten, wurden nicht verschmäht. Durch +diese Mannschaft und die Zuzüge der Neubürger sowie der von allen +Seiten mit ihrem Anhang herbeiströmenden landflüchtigen Leute +verstärkt, zählte er bald 6000 Mann unter seinen Adlern und konnte +vierzig Schiffe bemannen, die sich vor die Tibermündung legten und auf +die nach Rom segelnden Getreideschiffe Jagd machten. Mit diesen stellte +er sich dem “Konsul” Cinna zur Verfügung. Die Führer der kampanischen +Armee schwankten; die einsichtigeren, namentlich Sertorius, warnten +ernstlich vor der allzuengen Gemeinschaft mit einem Manne, der durch +seinen Namen an die Spitze der Bewegung geführt werden mußte und doch +notorisch ebenso jedes staatsmännischen Handelns unfähig wie von +wahnsinnigem Rachedurst gepeinigt war; indes Cinna achtete diese +Bedenklichkeiten nicht und bestätigte dem Marius den Oberbefehl in +Etrurien und zur See mit prokonsularischer Gewalt. + +So zog sich das Gewitter um die Hauptstadt zusammen, und es konnte +nicht länger verschoben werden, zu ihrem Schutz die Regierungstruppen +heranzuziehen ^1. Aber die Streitkräfte des Metellus wurden in Samnium +und vor Nola durch die Italiker festgehalten; Strabo allein war +imstande, der Hauptstadt zu Hilfe zu eilen. Er erschien auch und schlug +sein Lager am Collinischen Tor; mit seiner starken und krieggewohnten +Armee wäre er wohl imstande gewesen, die noch schwachen +Insurgentenhaufen rasch und völlig zu vernichten; allein dies schien +nicht in seiner Absicht zu liegen. Vielmehr ließ er es geschehen, daß +Rom von den Insurgenten in der Tat umstellt ward. Cinna mit seinem +Korps und dem des Carbo stellten sich am rechten Tiberufer dem +Ianiculum gegenüber auf, Sertorius am linken, Pompeius gegenüber gegen +den Servianischen Wall zu. Marius, mit seinem allmählich auf drei +Legionen angewachsenen Haufen und im Besitz einer Anzahl von +Kriegsschiffen, besetzte einen Küstenplatz nach dem andern, bis zuletzt +sogar Ostia durch Verrat in seine Gewalt kam und, gleichsam zum +Vorspiel der herannahenden Schreckensherrschaft, der wilden Bande von +dem Feldherrn zu Mord und Plünderung preisgegeben ward. Die Hauptstadt +schwebte, schon durch die bloße Hemmung des Verkehrs, in großer Gefahr; +auf Befehl des Senats wurden Mauern und Tore in Verteidigungszustand +gesetzt und das Bürgeraufgebot auf das Ianiculum befehligt. Strabos +Untätigkeit erregte bei Vornehmen und Geringen gleichmäßig Befremden +und Entrüstung. Der Verdacht, daß er mit Cinna insgeheim unterhandle, +lag nahe, war indes wahrscheinlich unbegründet; ein ernstliches +Gefecht, das er dem Haufen des Sertorius lieferte, und die +Unterstützung, die er dem Konsul Octavius gewährte, als Marius durch +Einverständnis mit einem der Offiziere der Besatzung in das Ianiculum +eingedrungen war, und durch die es in der Tat gelang, die Insurgenten +mit starkem Verlust wieder hinauszuschlagen, bewiesen es, daß er nichts +weniger beabsichtigte, als sich den Insurgentenführern anzuschließen +oder vielmehr unterzuordnen. Vielmehr scheint seine Absicht gewesen zu +sein, der geängsteten hauptstädtischen Regierung und Bürgerschaft +seinen Beistand gegen die Insurrektion um den Preis des Konsulats für +das nächste Jahr zu verkaufen und damit das Heft des Regiments selber +in die Hände zu bekommen. Der Senat war indes nicht geneigt, um dem +einen Usurpator zu entgehen, sich dem andern in die Arme zu werfen, und +suchte sich anderweitig zu helfen. Den sämtlichen, an dem Aufstand der +Bundesgenossen beteiligten italischen Gemeinden, die die Waffen +niedergelegt und infolgedessen ihr altes Bündnis eingebüßt hatten, +wurde durch Senatsbeschluß nachträglich das Bürgerrecht verliehen 2. Es +schien gleichsam offiziell konstatiert werden zu sollen, daß Rom in dem +Krieg gegen die Italiker seine Existenz nicht um eines großen Zweckes, +sondern um der eigenen Eitelkeit willen eingesetzt hatte: in der ersten +augenblicklichen Verlegenheit wurde, um ein paar tausend Soldaten mehr +auf die Beine zu bringen, alles aufgeopfert, was in dem +Bundesgenossenkrieg um so fürchterlich teuren Preis errungen worden +war. In der Tat kamen auch Truppen aus den Gemeinden, denen diese +Nachgiebigkeit zugute kam; aber statt der versprochenen vielen Legionen +betrug ihr Zuzug im ganzen nicht mehr als höchstens zehntausend Mann. +Wichtiger noch wäre es gewesen, mit den Samniten und Nolanern zu einem +Abkommen zu gelangen, um die Truppen des durchaus zuverlässigen +Metellus zum Schutze der Hauptstadt verwenden zu können. Allein die +Samniten stellten Forderungen, die an das Caudinische Joch erinnerten: +Rückgabe des den Samniten abgenommenen Beuteguts und ihrer Gefangenen +und Überläufer; Verzicht auf die samnitischerseits den Römern +entrissene Beute; Bewilligung des Bürgerrechts an die Samniten selbst +sowie an die zu ihnen übergetretenen Römer. Der Senat verwarf selbst in +dieser Not so entehrende Friedensbedingungen, wies aber den noch den +Metellus an, mit Zurücklassung einer kleinen Abteilung alle im +südlichen Italien irgend entbehrlichen Truppen schleunigst selber nach +Rom zu führen. Er gehorchte; aber die Folge war, daß die Samniten den +gegen sie zurückgelassenen Legaten des Metellus Plautius mit seinem +schwachen Haufen angriffen und schlugen, daß die nolanische Besatzung +ausrückte und die benachbarte, mit Rom verbündete Stadt Abella in Brand +steckte; daß ferner Cinna und Marius den Samniten alles bewilligten, +was sie begehrten - was lag ihnen an römischer Ehre! -und samnitischer +Zuzug die Reihen der Insurgenten verstärkte. Ein empfindlicher Verlust +war es auch, daß nach einem für die Regierungstruppen unglücklichen +Gefecht Ariminum von den Insurgenten besetzt und dadurch die wichtige +Verbindung zwischen Rom und dem Potal, von wo Mannschaft und Zufuhren +erwartet wurden, unterbrochen ward. Mangel und Hunger stellten sich +ein. Die große volkreiche, stark mit Truppen besetzte Stadt war nur +ungenügend mit Vorräten versehen; und namentlich Marius ließ es sich +angelegen sein, ihr die Zufuhr mehr und mehr abzuschneiden. Schon +früher hatte er den Tiber durch eine Schiffbrücke gesperrt; jetzt +brachte er durch die Eroberung von Antium, Lanuvium, Aricia und anderen +Ortschaften die noch offenen Landverbindungswege in seine Gewalt und +kühlte zugleich vorläufig seine Rache, indem er, wo immer Gegenwehr +geleistet worden war, die gesamte Bürgerschaft mit Ausnahme derer, die +etwa die Stadt ihm verraten hatten, über die Klinge springen ließ. +Ansteckende Krankheiten waren die Folge der Not und räumten in den +dicht um die Hauptstadt zusammengedrängten Heermassen fürchterlich auf +von Strabos Veteranenheer sollen 11000, von den Truppen des Octavius +6000 Mann denselben erlegen sein. Dennoch verzweifelte die Regierung +nicht; und ein glückliches Ereignis für sie war Strabos plötzlicher +Tod. Er starb an der Pest 3; die aus vielen Gründen gegen ihn +erbitterten Massen rissen seinen Leichnam von der Bahre und schleiften +ihn durch die Straßen. Was von seinen Truppen übrig war, vereinigte der +Konsul Octavius mit seiner Armee. Nach Metellus’ Eintreffen und Strabos +Abscheiden war die Regierungsarmee wieder ihren Gegnern wenigstens +gewachsen und konnte am Albaner Gebirge gegen die Insurgenten zum +Kampfe sich stellen. Allein die Gemüter der Regierungssoldaten waren +tief erschüttert; als Cinna ihnen gegenüber erschien, empfingen sie ihn +mit Zuruf, als wäre er noch ihr Feldherr und Konsul; Metellus fand es +geraten, es nicht auf die Schlacht ankommen zu lassen, sondern die +Truppen in das Lager zurückzuführen. Die Optimaten selbst wurden +unsicher und unter sich uneins. Während eine Partei, an ihrer Spitze +der ehrenwerte, aber störrige und kurzsichtige Konsul Octavius, sich +beharrlich gegen jede Nachgiebigkeit setzte, versuchte der +kriegskundigere und verständigere Metellus einen Vergleich zustande zu +bringen; aber seine Zusammenkunft mit Cinna erregte den Zorn der Ultras +beider Parteien: Cinna hieß dem Marius ein Schwächling, Metellus dem +Octavius ein Verräter. Die Soldaten, ohnehin verstört und nicht ohne +Ursache der Führung des unerprobten Octavius mißtrauend, sannen +Metellus an, den Oberbefehl zu übernehmen, und begannen, da dieser sich +weigerte, haufenweise die Waffen wegzuwerfen oder gar zum Feind zu +desertieren. Die Stimmung der Bürgerschaft wurde täglich gedrückter und +schwieriger. Auf den Ruf der Herolde Cinnas, daß den überlaufenden +Sklaven die Freiheit zugesichert sei, strömten dieselben scharenweise +aus der Hauptstadt in das feindliche Lager. Dem Vorschlage aber, daß +der Senat den Sklaven, die in das Heer eintreten würden, die Freiheit +zusichern solle, widersetzte Octavius sich entschieden. Die Regierung +konnte es sich nicht verbergen, daß sie geschlagen war und daß nichts +übrig blieb, als mit den Führern der Bande womöglich ein Abkommen zu +treffen, wie der überwältigte Wanderer es trifft mit dem +Räuberhauptmann. Boten gingen an Cinna; allein da sie törichterweise +Schwierigkeiten machten, ihn als Konsul anzuerkennen und Cinna während +dieser Weiterungen sein Lager hart vor die Stadttore verlegte, so griff +das Überlaufen so sehr um sich, daß es nicht mehr möglich war, +irgendwelche Bedingungen festzusetzen, sondern der Senat sich einfach +dem in die Acht erklärten Konsul unterwarf, indem er nur die Bitte +hinzufügte, des Blutvergießens sich zu enthalten. Cinna sagte es zu, +aber weigerte sich, sein Versprechen eidlich zu bekräftigen; Marius, +ihm zur Seite den Verhandlungen beiwohnend, verharrte in finsterem +Schweigen. + +—————————————————— + +^1 Die ganze folgende Darstellung beruht wesentlich auf dem neu +aufgefundenen Bericht des Licinianus, der eine Anzahl früher +unbekannter Tatsachen mitteilt und vor allem die Folge und Verknüpfung +dieser Vorgänge deutlicher, als bisher möglich war, erkennen läßt. + +2 3, 258. Daß eine Bestätigung durch die Komitien nicht stattfand, geht +aus Cic. Phil. 12, 11, 27 hervor. Der Senat scheint sich der Form +bedient zu haben, die Frist des Plautisch-Papirischen Gesetzes einfach +zu verlängern, was ihm nach Herkommen freistand und tatsächlich +hinauslief auf Erteilung des Bürgerrechts an alle Italiker. + +3 Adflatus sidere wie Livius (nach Obsequens 56) sagt, heißt “von der +Pest ergriffen” (Petr. 2; Plin. nat. 2, 41, 108; Liv. 8, 9, 12), nicht +“vom Blitz getroffen”, wie die Späteren es mißverstanden haben. + +————————————————————————- + +Die Tore der Hauptstadt öffneten sich. Der Konsul zog ein mit seinen +Legionen; aber Marius, spöttisch erinnernd an das Achtgesetz, weigerte +sich, die Stadt zu betreten, bevor das Gesetz es ihm gestatte, und +eilig versammelten sich die Bürger auf dem Markt, um den kassierenden +Beschluß zu fassen. So kam er denn und mit ihm die +Schreckensherrschaft. Es war beschlossen, nicht einzelne Opfer +auszuwählen, sondern die namhaften Männer der Optimatenpartei sämtlich +niedermachen zu lassen und ihre Güter einzuziehen. Die Tore wurden +gesperrt; fünf Tage und fünf Nächte währte unausgesetzt die +Schlächterei; einzelne Entkommene oder Vergessene wurden auch nachher +noch täglich erschlagen und monatelang ging die Blutjagd durch ganz +Italien. Der Konsul Gnaeus Octavius war das erste Opfer. Seinem oft +ausgesprochenen Grundsatz getreu, lieber den Tod zu leiden als den +rechtlosen Leuten das geringste Zugeständnis zu machen, weigerte er +auch jetzt sich zu fliehen, und im konsularischen Schmuck harrte er auf +dem Ianiculum des Mörders, der nicht lange säumte. Es starben Lucius +Caesar (Konsul 644 90), der gefeierte Sieger von Acerrae; sein Bruder +Gaius, dessen unzeitiger Ehrgeiz den Sulpicischen Tumult +heraufbeschworen hatte, bekannt als Redner und Dichter und als +liebenswürdiger Gesellschafter; Marcus Antonius (Konsul 665 99), nach +dem Tode des Lucius Crassus unbestritten der erste Sachwalter seiner +Zeit; Publius Crassus (Konsul 657 97), der im Spanischen und im +Bundesgenossenkrieg und noch während der Belagerung Roms mit +Auszeichnung kommandiert hatte: überhaupt eine Menge der angesehensten +Männer der Regierungspartei, unter denen von den gierigen Häschern +namentlich die reichen mit besonderem Eifer verfolgt wurden. Jammervoll +vor allen schien der Tod des Lucius Merula, der sehr wider seinen +Wunsch Cinnas Nachfolger geworden war und nun deswegen peinlich +angeklagt und vor die Komitien geladen, um der unvermeidlichen +Verurteilung zuvorzukommen, sich die Adern öffnete und am Altar des +Höchsten Jupiter, dessen Priester er war, nach Ablegung der +priesterlichen Kopfbinde, wie es die religiöse Pflicht des sterbenden +Flamen mit sich brachte, den Geist aushauchte; und mehr noch der Tod +des Quintus Catulus (Konsul 652 102), einst in besseren Tagen in dem +herrlichsten Sieg und Triumph der Gefährte desselben Marius, der jetzt +für die flehenden Verwandten seines alten Kollegen keine andere Antwort +hatte als den einsilbigen Bescheid: “Er muß sterben!” Der Urheber all +dieser Untaten war Gaius Marius. Er bezeichnete die Opfer und die +Henker - nur ausnahmsweise ward, wie gegen Merula und Catulus, eine +Rechtsform beobachtet; nicht selten war ein Blick oder das +Stillschweigen, womit er die Begrüßenden empfing, das Todesurteil, das +stets sofort vollstreckt ward. Selbst mit dem Tode des Opfers ruhte +seine Rache nicht; er verbot, die Leichen zu bestatten; er ließ - worin +freilich Sulla ihm vorangegangen war - die Köpfe der getöteten +Senatoren an die Rednerbühne auf dem Marktplatz heften; einzelne +Leichen ließ er über den Markt schleifen, die des Gaius Caesar an der +Grabstätte des vermutlich einst von Caesar angeklagten Quintus Varius +noch einmal durchbohren; er umarmte öffentlich den Menschen, der ihm, +während er bei Tafel saß, den Kopf des Antonius überreichte, den selber +in seinem Versteck aufzusuchen und mit eigener Hand umzubringen er kaum +hatte abgehalten werden können. Hauptsächlich seine Sklavenlegionen, +namentlich eine Abteilung Ardyäer, dienten ihm als Schergen und +versäumten nicht, in diesen Saturnalien ihrer neuen Freiheit die Häuser +ihrer ehemaligen Herren zu plündern und was ihnen darin vorkam, zu +schänden und zu morden. Seine eigenen Genossen waren in Verzweiflung +über dieses wahnsinnige Wüten; Sertorius beschwor den Konsul, demselben +um jeden Preis Einhalt zu tun, und auch Cinna war erschrocken. Aber in +Zeiten, wie diese waren, wird der Wahnsinn selbst eine Macht; man +stürzt sich in den Abgrund, um vor dem Schwindel sich zu retten. Es war +nicht leicht, dem rasenden alten Mann und seiner Bande in den Arm zu +fallen, und am wenigsten Cinna hatte den Mut dazu; er wählte den Marius +vielmehr für das nächste Jahr zu seinem Kollegen im Konsulat. Das +Schreckensregiment terrorisierte die gemäßigteren Sieger nicht viel +weniger als die geschlagene Partei; nur die Kapitalisten waren nicht +unzufrieden damit, daß eine fremde Hand sich dazu herlieh, die stolzen +Oligarchen einmal gründlich zu demütigen, und zugleich infolge der +umfassenden Konfiskationen und Versteigerungen der beste Teil der Beute +an sie kam - sie erwarben in diesen Schreckenszeiten bei dem Volke sich +den Beinamen der “Einsäckler”. + +Dem Urheber dieses Terrorismus, dem alten Gaius Marius, hatte also das +Verhängnis seine beiden höchsten Wünsche gewährt. Er hatte Rache +genommen an der ganzen vornehmen Meute, die ihm seine Siege vergällt, +seine Niederlagen vergiftet hatte; er hatte jeden Nadelstich mit einem +Dolchstich vergelten können. Er trat ferner das neue Jahr noch einmal +an als Konsul; das Traumbild des siebenten Konsulates, das der +Orakelspruch ihm zugesichert, nach dem er seit dreizehn Jahren +gegriffen hatte, war nun wirklich geworden. Was er wünschte, hatten die +Götter ihm gewährt; aber auch jetzt noch, wie in der alten Sagenzeit, +übten sie die verhängnisvolle Ironie, den Menschen zu verderben durch +die Erfüllung seiner Wünsche. In seinen ersten Konsulaten der Stolz, im +sechsten das Gespött seiner Mitbürger, stand er jetzt im siebenten +belastet mit dem Fluche aller Parteien, mit dem Haß der ganzen Nation; +er, der von Haus aus rechtliche, tüchtige, kernbrave Mann, gebrandmarkt +als das wahnwitzige Oberhaupt einer ruchlosen Räuberbande. Er selbst +schien es zu fühlen. Wie im Taumel vergingen ihm die Tage, und des +Nachts versagte ihm seine Lagerstatt die Ruhe, so daß er zum Becher +griff, um nur sich zu betäuben. Ein hitziges Fieber ergriff ihn; nach +siebentägigem Krankenlager, in dessen wilden Phantasien er auf den +kleinasiatischen Gefilden die Schlachten schlug, deren Lorbeer Sulla +bestimmt war, am 13. Januar 668 (86) war er eine Leiche. Er starb, über +siebzig Jahr alt, im Vollbesitz dessen, was er Macht und Ehre nannte, +und in seinem Bette; aber die Nemesis ist mannigfaltig und sühnt nicht +immer Blut mit Blut. Oder war es etwa keine Vergeltung, daß Rom und +Italien bei der Nachricht von dem Tode des gefeierten Volkserretters +jetzt aufatmeten wie kaum bei der Kunde von der Schlacht auf dem +Raudischen Feld? + +Auch nach seinem Tode zwar kamen einzelne Auftritte vor, die an die +Schreckenszeit erinnerten; so machte zum Beispiel Gaius Fimbria, der +wie kein anderer bei den Marianischen Schlächtereien seine Hand in Blut +getaucht hatte, bei dem Leichenbegängnis des Marius selbst einen +Versuch, den allgemein verehrten und selbst von Marius verschonten +Oberpontifex Quintus Scaevola (Konsul 659 95) umzubringen und klagte +dann, als derselbe von der empfangenen Wunde genas, ihn peinlich an, +wegen des Verbrechens, wie er scherzhaft sich ausdrückte, daß er sich +nicht habe wollen ermorden lassen. Aber die Orgien des Mordens waren +doch vorüber. Unter dem Vorwand der Soldzahlung rief Sertorius die +Marianischen Banditen zusammen, umzingelte sie mit seinen zuverlässigen +keltischen Truppen und ließ sie, nach den geringsten Angaben 4000 an +der Zahl, sämtlich niederhauen. + +Mit dem Schreckensregiment zugleich war die Tyrannis gekommen. Cinna +stand nicht bloß vier Jahre nacheinander (667-670 87-84) als Konsul an +der Spitze des Staats, sondern er ernannte auch regelmäßig sich und +seine Kollegen, ohne das Volk zu befragen; es war, als ob diese +Demokraten die souveräne Volksversammlung mit absichtlicher +Geringschätzung beiseite schöben. Kein anderes Haupt der Popularpartei +vor- oder nachher hat eine so vollkommen absolute Gewalt in Italien wie +in dem größten Teil der Provinzen so lange Zeit hindurch fast ungestört +besessen wie Cinna; aber es ist auch keiner zu nennen, dessen Regiment +so vollkommen nichtig und ziellos gewesen wäre. Man nahm natürlich das +von Sulpicius und später von Cinna selbst beantragte, den Neubürgern +und den Freigelassenen gleiches Stimmrecht mit den Altbürgern +zusichernde Gesetz wieder auf und ließ dasselbe durch einen +Senatsbeschluß förmlich als zu Recht bestehend bestätigen (670 84). Man +ernannte Zensoren (668 86), um demgemäß sämtliche Italiker in die +fünfunddreißig Bürgerbezirke zu verteilen - eine seltsame Fügung dabei +war es, daß infolge des Mangels von fähigen Kandidaten zur Zensur +derselbe Philippus, der als Konsul 663 (91) hauptsächlich den Plan des +Drusus, den Italikern das Stimmrecht zu verleihen, hatte scheitern +machen, jetzt dazu ausersehen ward, sie als Zensor in die Bürgerrollen +einzuschreiben. Man stieß natürlich die von Sulla im Jahre 666 (88) +begründeten reaktionären Institutionen um. Man tat einiges, um dem +Proletariat sich gefällig zu erweisen - so wurden wahrscheinlich die +vor einigen Jahren eingeführten Beschränkungen der Getreideverteilung +jetzt wiederum beseitigt; so wurde nach dem Vorschlag des Volkstribuns +Marcus Iunius Brutus die von Gaius Gracchus beabsichtigte +Koloniegründung in Capua im Frühjahr 671 (83) in der Tat ins Werk +gesetzt; so veranlaßte Lucius Valerius Flaccus der Jüngere ein +Schuldgesetz, das jede Privatforderung auf den vierten Teil ihres +Nominalbetrags herabsetzte und drei Viertel zu Gunsten der Schuldner +kassierte. Diese Maßregeln aber, die einzigen konstitutiven während des +ganzen Cinnanischen Regiments, sind ohne Ausnahme vom Augenblick +diktiert; es liegt - und vielleicht ist dies das Entsetzlichste bei +dieser ganzen Katastrophe - derselben nicht etwa ein verkehrter, +sondern gar kein politischer Plan zu Grunde. Man liebkoste den Pöbel +und verletzte ihn zugleich in höchst unnötiger Weise durch zwecklose +Mißachtung der verfassungsmäßigen Wahlordnung. Man konnte an der +Kapitalistenpartei einen Halt finden und schädigte sie aufs +empfindlichste durch das Schuldgesetz. Die eigentliche Stütze des +Regiments waren - durchaus ohne dessen Zutun - die Neubürger; man ließ +sich ihren Beistand gefallen, aber es geschah nichts, um die seltsame +Stellung der Samniten zu regeln, die dem Namen nach jetzt römische +Bürger waren, aber offenbar tatsächlich ihre landschaftliche +Unabhängigkeit als den eigentlichen Zweck und Preis des Kampfes +betrachteten und diese gegen all und jeden zu verteidigen in Waffen +blieben. Man schlug die angesehenen Senatoren tot wie tolle Hunde; aber +nicht das geringste ward getan, um den Senat im Interesse der Regierung +zu reorganisieren oder auch nur dauernd zu terrorisieren, so daß +dieselbe auch seiner keineswegs sicher war. So hatte Gaius Gracchus den +Sturz der Oligarchie nicht verstanden, daß der neue Herr sich auf +seinem selbstgeschaffenen Thron verhalten könne, wie es legitime +Nullkönige zu tun belieben. Aber diesen Cinna hatte nicht sein Wollen, +sondern der reine Zufall emporgetragen; war es ein Wunder, daß er +blieb, wo die Sturmflut der Revolution ihn hingespült hatte, bis eine +zweite Sturmflut kam, ihn wiederfortzuschwemmen? + +Dieselbe Verbindung der gewaltigsten Machtfülle mit der vollständigsten +Impotenz und Inkapazität der Machthaber zeigte die Kriegführung der +revolutionären Regierung gegen die Oligarchie, an der denn doch +zunächst ihre Existenz hing. In Italien gebot sie unumschränkt. Unter +den Altbürgern war ein sehr großer Teil grundsätzlich demokratisch +gesinnt; die noch größere Masse der ruhigen Leute mißbilligte zwar die +Marianischen Greuel, sahen aber in einer oligarchischen Restauration +nichts als die Eröffnung eines zweiten Schreckensregiments der +entgegengesetzten Partei. Der Eindruck der Untaten des Jahres 667 (87) +auf die Nation insgesamt war verhältnismäßig gering gewesen, da sie +vorwiegend doch nur die hauptstädtische Aristokratie betroffen hatten, +und ward überdies einigermaßen ausgelöscht durch das darauffolgende +dreijährige, leidlich ruhige Regiment. Die gesamte Masse der Neubürger +endlich, vielleicht drei Fünftel der Italiker, stand entschieden wo +nicht für die gegenwärtige Regierung, doch gegen die Oligarchie. + +Gleich Italien hielten zu jener die meisten Provinzen: Sizilien, +Sardinien, beide Gallien, beide Spanien. In Africa machte Quintus +Metellus, der den Mördern glücklich entkommen war, einen Versuch, diese +Provinz für die Optimaten zu halten; zu ihm begab sich aus Spanien +Marcus Crassus, der jüngste Sohn des in dem Marianischen Blutbad +umgekommenen Publius Crassus, und verstärkte ihn durch einen in Spanien +zusammengebrachten Haufen. Allein sie mußten, da sie sich untereinander +entzweiten, dem Statthalter der revolutionären Regierung, Gaius Fabius +Hadrianus, weichen. Asien war in den Händen Mithradats; somit blieb als +einzige Freistatt der verfemten Oligarchie die Provinz Makedonien, +soweit sie in Sullas Gewalt war. Dorthin retteten sich Sullas Gemahlin +und Kinder, die mit Mühe dem Tode entgangen waren, und nicht wenige +entkommene Senatoren, so daß bald in seinem Hauptquartier eine Art von +Senat sich bildete. An Dekreten gegen den oligarchischen Prokonsul ließ +es die Regierung nicht fehlen. Sulla ward durch die Komitien seines +Kommandos und seiner sonstigen Ehren und Würden entsetzt und geächtet, +wie das in gleicher Weise auch gegen Metellus, Appius Claudius und +andere angesehene Flüchtlinge geschah; sein Haus in Rom wurde +geschleift, seine Landgüter verwüstet. Indes damit freilich war die +Sache nicht erledigt. Hätte Gaius Marius länger gelebt, so wäre er ohne +Zweifel selbst gegen Sulla dorthin marschiert, wohin noch auf seinem +Todbette die Fieberbilder ihn führten; welche Maßregeln nach seinem +Tode die Regierung ergriff, ward schon erzählt. Lucius Valerius Flaccus +der jüngere 4, der nach Marius’ Tode das Konsulat und das Kommando im +Osten übernahm (668 86), war weder Soldat noch Offizier, sein Begleiter +Gaius Fimbria nicht unfähig, aber unbotmäßig, das ihnen mitgegebene +Heer schon der Zahl nach dreifach schwächer als die Sullanische Armee. +Man vernahm nacheinander, daß Flaccus, um nicht von Sulla erdrückt zu +werden, an ihm vorüber nach Asien abgezogen sei (668 86), daß Fimbria +ihn beseitigt und sich selbst an seine Stelle gesetzt habe (Anfang 669 +85), daß Sulla Frieden geschlossen habe mit Mithradates (669/70 85/84). +Bis dahin hatte Sulla den in der Hauptstadt regierenden Behörden +gegenüber geschwiegen; jetzt lief ein Schreiben von ihm an den Senat +ein, worin er die Beendigung des Krieges berichtete und seine Rückkehr +nach Italien ankündigte; die den Neubürgern erteilten Rechte werde er +achten; Strafexekutionen seien zwar unvermeidlich, allein sie würden +nicht die Massen, sondern die Urheber treffen. Diese Ankündigung +schreckte Cinna aus seiner Untätigkeit auf; wenn er bisher nichts gegen +Sulla getan hatte, als daß einige Mannschaft unter die Waffen gestellt +und eine Anzahl Schiffe im Adriatischen Meere versammelt worden war, so +beschloß er jetzt, schleunigst nach Griechenland überzugehen. Aber +andererseits weckte Sullas Schreiben, das den Umständen nach äußerst +gemäßigt zu nennen war, in der Mittelpartei Hoffnungen auf eine +friedliche Ausgleichung. Die Majorität des Senats beschloß nach dem +Vorschlag des älteren Flaccus, einen Sühneversuch einzuleiten und zu +dem Ende Sulla aufzufordern, sich unter Verbürgung sicheren Geleits in +Italien einzufinden, die Konsuln Cinna und Carbo aber zu veranlassen, +bis zum Eingang von Sullas Antwort die Rüstungen einzustellen. Sulla +wies die Vorschläge nicht unbedingt von der Hand; er kam zwar natürlich +nicht selbst, aber ließ durch Boten erklären, daß er nichts fordere als +Wiedereinsetzung der Verbannten in den vorigen Stand und gerichtliche +Bestrafung der begangenen Verbrechen, Sicherheit übrigens nicht +geleistet begehre, sondern denen daheim zu bringen gedenke. Seine +Abgesandten fanden den Stand der Dinge in Italien wesentlich verändert. +Cinna hatte, ohne um jenen Senatsbeschluß sich weiter zu bekümmern, +sofort nach aufgehobener Sitzung sich zum Heer begeben und die +Einschiffung desselben betrieben. Die Aufforderung, in der bösen +Jahreszeit sich dem Meer anzuvertrauen, rief unter den schon +schwierigen Truppen im Hauptquartier zu Ancona eine Meuterei hervor, +deren Opfer Cinna ward (Anfang 670 84), worauf sein Kollege Carbo sich +genötigt sah, die schon übergegangenen Abteilungen zurückzuführen und, +auf das Aufnehmen des Krieges in Griechenland verzichtend, +Winterquartiere in Ariminum zu beziehen. Sullas Anträge aber fanden +darum keine bessere Aufnahme: der Senat wies seine Vorschläge zurück, +ohne auch nur die Boten nach Rom zu lassen, und befahl ihm kurzweg, die +Waffen niederzulegen. Es war nicht zunächst die Koterie der Marianer, +welche dies entschiedene Auftreten bewirkte. Eben jetzt, wo es galt, +mußte diese Faktion die bisher usurpierte Besetzung des höchsten Amtes +abgeben und für das entscheidende Jahr 671 (83) wieder Konsulwahlen +veranstalten. Die Stimmen vereinigten hierbei sich nicht auf den +bisherigen Konsul Carbo noch auf einen der fähigen Offiziere der bis +dahin regierenden Clique, wie Quintus Sertorius oder Gaius Marius den +Sohn, sondern auf Lucius Scipio und Gaius Norbanus, zwei Inkapazitäten, +von denen keiner zu schlagen, Scipio nicht einmal zu sprechen verstand, +und von denen jener nur als der Urenkel des Antiochossiegers, dieser +als politischer Gegner der Oligarchie sich der Menge empfahlen. Die +Marianer wurden nicht so sehr ihrer Untaten wegen verabscheut als ihrer +Nichtigkeit wegen verachtet; aber wenn die Nation nichts von diesen, so +wollte sie in ihrer großen Majorität noch viel weniger von Sulla und +einer oligarchischen Restauration etwas wissen. Man dachte ernstlich an +Abwehr. Während Sulla nach Asien überging, das Heer des Fimbria zum +Übertritt bestimmte und dessen Führer durch seine eigene Hand fiel, +benutzte die Regierung in Italien die durch diese Schritte Sullas ihr +gegönnte weitere Jahresfrist zu energischen Rüstungen: es sollen bei +Sullas Landung 100000, später sogar die doppelte Anzahl von Bewaffneten +gegen ihn gestanden haben. + +—————————————————————- + +4 Lucius Valerius Flaccus, den die Fasten als Konsul 668 (86) nennen, +ist nicht der Konsul des Jahres 654 (100), sondern ein gleichnamiger +jüngerer Mann, vielleicht des vorigen Sohn. Einmal ist das Gesetz, das +die Wiederwahl zum Konsulat untersagte, von ca. 603 (151) bis 673 (81) +rechtlich in Kraft geblieben, und es ist nicht wahrscheinlich, daß +dasselbe, war für Scipio Aemilianus und Marius, auch für Flaccus +geschah. Zweitens wird nirgends, wo der eine oder der andere Flaccus +genannt wird, eines doppelten Konsulats gedacht, auch nicht, wo es +notwendig war wie Cic. Flacc. 32, 77. Drittens kann der Lucius Valerius +Flaccus, der im Jahre 669 (85) als Vormann des Senats, also als +Konsulat in Rom tätig war (Liv. 83), nicht der Konsul des Jahres 668 +(86) sein, da dieser damals bereits nach Asien abgegangen und +wahrscheinlich schon tot war. Der Konsul 654 (100), Zensor 657 (97), +ist derjenige, den Cicero (Att. 8, 3, 6) unter den 667 (87) in Rom +anwesenden Konsulaten nennt; er war 669 (85) unzweifelhaft der älteste +lebende Altzensor und also geeignet zum Vormann des Senats; er ist auch +der Zwischenkönig und der Reiterführer von 672 (82). Dagegen ist der +Konsul 668 (86), der in Nikomedeia umkam, der Vater des von Cicero +verteidigten Lucius Flaccus (Flacc. 25, 61; vgl. 23, 55; 32, 77). + +——————————————————————- + +Gegen diese italische Macht hatte Sulla nichts in die Waagschale zu +legen als seine fünf Legionen, die, auch mit Einrechnung einiger in +Makedonien und im Peloponnes aufgebotener Zuzüge, kaum auf 40000 Mann +sich belaufen mochten. Allerdings hatte dies Heer in siebenjährigen +Kämpfen in Italien, Griechenland und Asien des Politisierens sich +entwöhnt und hing seinem Feldherrn, der den Soldaten alles, +Schwelgerei, Bestialität, sogar Meuterei gegen die Offiziere, nachsah, +nichts verlangte als Tapferkeit und Treue gegen den Feldherrn und für +den Sieg die verschwenderischsten Belohnungen in Aussicht stellte, mit +allem jenem soldatischen Enthusiasmus an, der um so gewaltiger ist, als +dabei die edelsten und die gemeinsten Leidenschaften oft in derselben +Brust sich begegnen. Freiwillig schworen nach römischer Sitte die +Sullanischen Soldaten sich einander es zu, fest zusammenzuhalten, und +freiwillig brachte ein jeder dem Feldherrn seinen Sparpfennig als +Beisteuer zu den Kriegskosten. Allein so ansehnlich diese geschlossene +Kernschar gegen die feindlichen Massen ins Gewicht fiel, so erkannte +doch Sulla sehr wohl, daß Italien nicht mit fünf Legionen bezwungen +werden konnte, wenn es im entschlossenen Widerstande einig +zusammenhielt. Mit der Popularpartei und ihren unfähigen Autokraten +fertig zu werden, wäre nicht schwierig gewesen; aber er sah sich +gegenüber und mit dieser vereinigt die ganze Masse derer, die keine +oligarchische Schreckensrestauration wollten, und vor allen Dingen die +gesamte Neubürgerschaft, sowohl diejenigen, die durch das Julische +Gesetz von der Teilnahme an der Insurrektion sich hatten abhalten +lassen, als diejenigen, deren Schilderhebung vor wenigen Jahren Rom an +den Rand des Verderbens geführt hatte. Sulla übersah vollkommen die +Lage der Verhältnisse und war weit entfernt von der blinden Erbitterung +und der eigensinnigen Starrheit, die die Majorität seiner Partei +charakterisierten. Während das Staatsgebäude in vollen Flammen stand, +während man seine Freunde ermordete, seine Häuser zerstörte, seine +Familie ins Elend trieb, war er unbeirrt auf seinem Posten verblieben, +bis der Landesfeind überwältigt und die römische Grenze gesichert war. +In demselben Sinne patriotischer und einsichtiger Mäßigung behandelte +er auch jetzt die italischen Verhältnisse und tat, was er irgend tun +konnte, um die Gemäßigten und die Neubürger zu beruhigen und um zu +verhindern, daß nicht unter dem Namen des Bürgerkrieges der weit +gefährlichere Krieg zwischen den Altrömern und den italischen +Bundesgenossen abermals emporlodere. Schon das erste Schreiben, das +Sulla an den Senat richtete, hatte nichts als Recht und Gerechtigkeit +gefordert und eine Schreckensherrschaft ausdrücklich zurückgewiesen; im +Einklang damit stellte er nun allen denen, die noch jetzt von der +revolutionären Regierung sich lossagen würden, unbedingte Begnadigung +in Aussicht und veranlaßte seine Soldaten, Mann für Mann, zu schwören, +daß sie den Italikern durchaus als Freunden und Mitbürgern begegnen +würden. Die bündigsten Erklärungen sicherten den Neubürgern die von +ihnen erworbenen politischen Rechte; so daß Carbo deshalb von jeder +italischen Stadtgemeinde sich Geiseln wollte stellen lassen, was indes +an der allgemeinen Indignation und an dem Widerspruch des Senats +scheiterte. Die Hauptschwierigkeit der Lage Sullas bestand in der Tat +darin, daß bei der eingerissenen Wort- und Treulosigkeit die Neubürger +allen Grund hatten, wenn nicht an seinen persönlichen Absichten, doch +daran zu zweifeln, ob er es vermögen werde, seine Partei zum Worthalten +nach dem Siege zu bestimmen. + +Im Frühling 671 (83) landete Sulla mit seinen Legionen in dem Hafen von +Brundisium. Der Senat erklärte auf die Nachricht davon das Vaterland in +Gefahr und übertrug den Konsuln unbeschränkte Vollmacht; aber diese +unfähigen Leiter hatten sich nicht vorgesehen und waren durch die seit +Jahren in Aussicht stehende Landung dennoch überrascht. Das Heer befand +sich noch in Ariminum, die Häfen waren unbesetzt und überhaupt +unglaublicherweise in dem ganzen südöstlichen Litoral kein Mann unter +den Waffen. Die Folgen zeigten sich bald. Gleich Brundisium selbst, +eine ansehnliche Neubürgergemeinde, öffnete ohne Widerstand dem +oligarchischen General die Tore und dem gegebenen Beispiel folgte ganz +Messapien und Apulien. Die Armee marschierte durch diese Gegenden wie +durch Freundesland und hielt, ihres Eides eingedenk, durchgängig die +strengste Mannszucht. Von allen Seiten strömten die versprengten Reste +der Optimatenpartei in das Lager Sullas. Aus den Bergschluchten +Liguriens, wohin er von Afrika sich gerettet hatte, kam Quintus +Metellus und übernahm wieder, als Kollege Sullas, das im Jahr 667 (87) +ihm übertragene und von der Revolution ihm aberkannte prokonsularische +Kommando; ebenso erschien von Afrika her mit einer kleinen Schar +Bewaffneter Marcus Crassus. Die meisten Optimaten freilich kamen als +vornehme Emigranten mit großen Ansprüchen und geringer Kampflust, so +daß sie von Sulla selbst bittere Worte zu hören bekamen über die +adligen Herren, die zum Heil des Staates sich wollten retten lassen und +nicht einmal dazu zu bringen seien, ihre Sklaven zu bewaffnen. +Wichtiger war es, daß schon Überläufer aus dem demokratischen Lager +sich einstellten - so der feine und angesehene Lucius Philippus, nebst +ein paar notorisch unfähigen Leuten der einzige Konsular, der mit der +revolutionären Regierung sich eingelassen und unter ihr Ämter +angenommen hatte; er fand bei Sulla die zuvorkommendste Aufnahme und +erhielt den ehrenvollen und bequemen Auftrag, die Provinz Sardinien für +ihn zu besetzen. Ebenso wurden Quintus Lucretius Ofelia und andere +brauchbare Offiziere empfangen und sofort beschäftigt; selbst Publius +Cethegus, einer der nach der Sulpicischen Erneute von Sulla geächteten +Senatoren, erhielt Verzeihung und eine Stellung im Heer. Wichtiger noch +als die einzelnen Übertritte war der der Landschaft Picenum, der +wesentlich dem Sohne des Strabo, dem jungen Gnaeus Pompeius, verdankt +ward. Dieser, gleich seinem Vater von Haus aus kein Anhänger der +Oligarchie, hatte die revolutionäre Regierung anerkannt und sogar in +Cinnas Heer Dienste genommen; allein es ward ihm nicht vergessen, daß +sein Vater die Waffen gegen die Revolution getragen hatte; er sah sich +vielfach angefeindet, ja sogar durch Anklage auf Herausgabe der nach +der Einnahme von Asculum von seinem Vater wirklich oder angeblich +unterschlagenen Beute mit dem Verlust seines sehr beträchtlichen +Vermögens bedroht. Zwar wendete mehr als die Beredsamkeit des Konsulars +Lucius Philippus und des jungen Quintus Hortensius der Schutz des ihm +persönlich gewogenen Konsuls Carbo den ökonomischen Ruin von ihm ab; +aber die Verstimmung blieb. Auf die Nachricht von Sullas Landung ging +er nach Picenum, wo er ausgedehnte Besitzungen und von seinem Vater und +dem Bundesgenossenkriege her die besten munizipalen Verbindungen hatte +und pflanzte in Auximum (Osimo) die Fahne der optimatischen Partei auf. +Die meistens von Altbürgern bewohnte Landschaft fiel ihm zu; die junge +Mannschaft, welche großenteils mit ihm unter seinem Vater gedient +hatte, stellte sich bereitwillig unter den beherzten Führer, der, noch +nicht dreiundzwanzigjährig, ebensosehr Soldat wie General war, im +Reitergefecht den Seinen voraussprengte und tüchtig mit in den Feind +einhieb. Das picenische Freiwilligenkorps wuchs bald auf drei Legionen; +den aus der Hauptstadt zur Dämpfung der picenischen Insurrektion +ausgesandten Abteilungen unter Cloelius, Gaius Carrinas, Lucius Iunius +Brutus Damasippus 5 wußte der improvisierte Feldherr, die unter +denselben entstandenen Zwistigkeiten geschickt benutzend, sich zu +entziehen oder sie einzeln zu schlagen und mit dem Hauptheer Sullas, +wie es scheint in Apulien, die Verbindung herzustellen. Sulla begrüßte +ihn als Imperator, das heißt als einen im eigenen Namen kommandierenden +und nicht unter, sondern nehmen ihm stehenden Offizier und zeichnete +den Jüngling durch Ehrenbezeigungen aus, wie er sie keinem seiner +vornehmen Klienten erwies - vermutlich nicht ohne die Nebenabsicht, der +charakterlosen Schwäche seiner eigenen Parteigenossen damit eine +indirekte Züchtigung zukommen zu lassen. + +——————————————————————- + +5 Nur an diesen kann hier gedacht werden, da Marcus Brutus, der Vater +des sogenannten Befreiers, im Jahr 671 (83) Volkstribun war, also nicht +im Felde kommandieren konnte. + +——————————————————————- + +Also moralisch und materiell ansehnlich verstärkt gelangten Sulla und +Metellus nach Apulien durch die immer noch insurgierten samnitischen +Gegenden nach Kampanien. Hierhin wandte sich auch die feindliche +Hauptmacht, und es schien die Entscheidung hier fallen zu müssen. Das +Heer des Konsuls Gaius Norbanus stand bereits bei Capua, wo eben die +neue Kolonie mit allem demokratischen Pomp sich konstituierte; die +zweite Konsulararmee rückte ebenfalls auf der Appischen Straße heran. +Aber bevor sie eintraf, stand Sulla schon dem Norbanus gegenüber. Ein +letzter Vermittlungsversuch, den Sulla machte, führte nur dazu, daß man +an seinen Boten sich vergriff. In frischer Erbitterung warfen seine +kampfgewohnten Scharen sich auf den Feind; ihr gewaltiger Stoß vom +Berge Tifata herab zersprengte den in der Ebene aufgestellten Feind im +ersten Anlauf; mit dem Rest seiner Mannschaft warf sich Norbanus in die +revolutionäre Kolonie Capua und die Neubürgerstadt Neapolis und ließ +dort sich blockieren. Sullas Truppen, bisher nicht ohne Besorgnis ihre +schwache Zahl mit den feindlichen Massen vergleichend, hatten durch +diesen Sieg das Vollgefühl militärischer Überlegenheit gewonnen; statt +mit der Belagerung der Trümmer der geschlagenen Armee sich aufzuhalten, +ließ Sulla die Städte umstellen, wo sie sich befanden, und rückte auf +der Appischen Straße vor gegen Teanum, wo Scipio stand. Auch ihm bot +er, ehe der Kampf begann, noch einmal die Hand zum Frieden; es scheint +in gutem Ernste. Scipio, schwach wie er war, ging darauf ein; ein +Waffenstillstand ward geschlossen; zwischen Cales und Teanum kamen die +beiden Feldherren, beide Glieder des gleichen Adelsgeschlechts, beide +gebildet und feingesittet und langjährige Kollegen im Senat, persönlich +zusammen; man ließ sich auf die einzelnen Fragen ein; schon war man so +weit, daß Scipio einen Boten nach Capua absandte, um die Meinung seines +Kollegen einzuholen. Inzwischen mischten sich die Soldaten beider +Lager; die Sullaner, von ihrem Feldherrn reichlich mit Geld versehen, +machten es den nicht allzu kriegslustigen Rekruten beim Becher leicht +begreiflich, daß es besser sei, sie zu Kameraden als zu Feinden zu +haben; vergeblich warnte Sertorius den Feldherrn, diesem gefährlichen +Verkehr ein Ende zu machen. Die Verständigung, die so nahe geschienen, +trat doch nicht ein; Scipio war es, welcher den Waffenstillstand +kündigte. Aber Sulla behauptete, daß es zu spät und der Vertrag bereits +abgeschlossen gewesen sei; und unter dem Vorwand, daß ihr Feldherr den +Waffenstillstand widerrechtlich aufgesagt, gingen Scipios Soldaten in +Masse über in die feindlichen Reihen. Die Szene schloß mit einer +allgemeinen Umarmung, der die kommandierenden Offiziere der +Revolutionsarmee zuzusehen hatten. Sulla ließ den Konsul auffordern, +sein Amt niederzulegen, was er tat, und ihn nebst seinem Stab durch +seine Reiter dahin eskortieren, wohin sie begehrten; allein kaum in +Freiheit gesetzt, legte Scipio die Abzeichen seiner Würde wieder an und +begann aufs neue, Truppen zusammenzuziehen, ohne indes weiter etwas von +Belang auszurichten. Sulla und Metellus nahmen Winterquartiere in +Kampanien und hielten, nachdem ein zweiter Versuch, mit Norbanus sich +zu verständigen, gescheitert war, Capua den Winter über blockiert. + +Die Ergebnisse des ersten Feldzugs waren für Sulla die Unterwerfung von +Apulien, Picenum und Kampanien, die Auflösung der einen, die Besiegung +und Blockierung der anderen konsularischen Armee. Schon traten die +italischen Gemeinden, genötigt, zwischen ihren zwiefachen Drängern jede +für sich Partei zu ergreifen, zahlreich mit ihm in Unterhandlung und +ließen sich die von der Gegenpartei erworbenen politischen Rechte durch +förmliche Separatverträge von dem Feldherrn der Oligarchie garantieren; +Sulla hegte die bestimmte Erwartung und trug sie absichtlich zur Schau, +die revolutionäre Regierung in dem nächsten Feldzug niederzuwerfen und +wieder in Rom einzuziehen. + +Aber auch der Revolution schien die Verzweiflung neue Kräfte zu geben. +Das Konsulat übernahmen zwei ihrer entschiedensten Führer, Carbo zum +dritten Male und Gaius Marius der Sohn; daß der letztere eben +zwanzigjährige Mann gesetzmäßig das Konsulat nicht bekleiden konnte, +achtete man so wenig wie jeden anderen Punkt der Verfassung. Quintus +Sertorius, der in dieser und in anderen Angelegenheiten eine unbequeme +Kritik machte, wurde angewiesen, um neue Werbungen vorzunehmen, nach +Etrurien und von da in seine Provinz, das Diesseitige Spanien, +abzugehen. Die Kasse zu füllen, mußte der Senat die Einschmelzung des +goldenen und silbernen Tempelgeräts der Hauptstadt verfügen; wie +bedeutend der Ertrag war, erhellt daraus, daß nach mehrmonatlicher +Kriegführung davon noch über 4 Millionen Taler (14000 Pfund Gold und +6000 Pfund Silber) vorrätig waren. In dem beträchtlichen Teile +Italiens, der gezwungen oder freiwillig noch zu der Revolution hielt, +wurden die Rüstungen lebhaft betrieben. Aus Etrurien, wo die +Neubürgergemeinden sehr zahlreich waren, und dem Pogebiet kamen +ansehnliche neu gebildete Abteilungen. Auf den Ruf des Sohnes stellten +die Marianischen Veteranen in großer Anzahl sich bei den Fahnen ein. +Aber nirgends ward zum Kampf gegen Sulla so leidenschaftlich gerüstet +wie in dem insurgierten Samnium und einzelnen Strichen von Lucanien. Es +war nichts weniger als Ergebenheit gegen die revolutionäre römische +Regierung, daß zahlreicher Zuzug aus den oskischen Gegenden ihre Heere +verstärkte; wohl aber begriff man daselbst, daß eine von Sulla +restaurierte Oligarchie sich die jetzt faktisch bestehende +Selbständigkeit dieser Landschaften nicht so gefallen lassen werde wie +die schlaffe Cinnanische Regierung; und darum erwachte in dem Kampf +gegen Sulla noch einmal die uralte Rivalität der Sabeller gegen die +Latiner. Für Samnium und Latium war dieser Krieg so gut ein +Nationalkampf wie die Kriege des fünften Jahrhunderts; man stritt nicht +um ein Mehr oder Minder von politischen Rechten, sondern um den lange +verhaltenen Haß durch Vernichtung des Gegners zu sättigen. Es war darum +kein Wunder, wenn dieser Teil des Krieges einen ganz anderen Charakter +trug als die übrigen Kämpfe, wenn hier keine Verständigung versucht, +kein Quartier gegeben oder genommen, die Verfolgung bis aufs äußerste +fortgesetzt ward. + +So trat man den Feldzug des Jahres 672 (82) beiderseits mit verstärkten +Streitkräften und gesteigerter Leidenschaft an. Vor allem die +Revolution warf die Scheide weg; auf Carbos Antrag ächteten die +römischen Komitien alle in Sullas Lager befindlichen Senatoren. Sulla +schwieg; er mochte denken, daß man im voraus sich selber das Urteil +spreche. + +Die Armee der Optimaten teilte sich. Der Prokonsul Metellus übernahm +es, gestützt auf die picenische Insurrektion, nach Oberitalien +vorzudringen, während Sulla von Kampanien aus geradeswegs gegen die +Hauptstadt marschierte. Jenem warf Carbo sich entgegen; der feindlichen +Hauptarmee wollte Marius in Latium begegnen. Auf der Launischen Straße +heranrückend, traf Sulla unweit Signia auf den Feind, der vor ihm +zurückwich bis nach dem sogenannten “Hafen des Sacer” zwischen Signia +und dem Hauptwaffenplatz der Marianen dem festen Praeneste. Hier +stellte Marius sich zur Schlacht. Sein Heer war etwa 40000 Mann stark +und er an wildem Grimme und persönlicher Tapferkeit seines Vaters +rechter Sohn; aber es waren nicht die wohlgeübten Scharen, mit denen +dieser seine Schlachten geschlagen hatte, und noch minder durfte der +unerfahrene junge Mann mit dem alten Kriegsmeister sich vergleichen. +Bald wichen seine Truppen; der Übertritt einer Abteilung noch während +des Gefechts beschleunigte die Niederlage. Über die Hälfte der Marianer +waren tot oder gefangen; der Überrest, weder imstande, das Feld zu +halten, noch, das andere Ufer des Tiber zu gewinnen, genötigt, in den +benachbarten Festungen Schutz zu suchen; die Hauptstadt, die zu +verproviantieren man versäumt hatte, unrettbar verloren. Infolgedessen +gab Marius dem daselbst befehligten Prätor Lucius Brutus Damasippus den +Befehl, sie zu räumen, vorher aber alle bisher noch verschonten +angesehenen Männer der Gegenpartei niederzumachen. Der Auftrag, durch +den der Sohn die Ächtungen des Vaters noch überbot, ward vollzogen; +Damasippus berief unter einem Vorwand den Senat, und die bezeichneten +Männer wurden teils in der Sitzung selbst, teils auf der Flucht vor dem +Rathaus niedergestoßen. Trotz der vorhergegangenen gründlichen +Aufräumung fanden sich doch noch einzelne namhaftere Opfer: so der +gewesene Ädil Publius Antistius, der Schwiegervater des Gnaeus +Pompeius, und der gewesene Prätor Gaius Carbo, der Sohn des bekannten +Freundes und nachherigen Gegners der Gracchen, nach dem Tode so vieler +ausgezeichneter Talente die beiden besten Gerichtsredner auf dem +verödeten Markt; der Konsular Lucius Domitius und vor allem der +ehrwürdige Oberpriester Quintus Scaevola, der dem Dolch des Fimbria nur +entgangen war, um jetzt während der letzten Krämpfe der Revolution in +der Halle des seiner Obhut anvertrauten Vestatempels zu verbluten. Mit +stummem Entsetzen sah die Menge die Leichen dieser letzten Opfer des +Terrorismus durch die Straßen schleifen und sie in den Fluß werfen. + +Marius’ aufgelöste Haufen warfen sich in die nahen und festen +Neubürgerstädte Norba und Praeneste, er selbst mit der Kasse und dem +größten Teil der Flüchtlinge in die letztere. Sulla ließ, ebenwie das +Jahr zuvor vor Capua, vor Praeneste einen tüchtigen Offizier, den +Quintus Ofelia, zurück, mit dem Auftrag, seine Kräfte nicht an die +Belagerung der festen Stadt zu vergeuden, sondern sie mit einer weiten +Blockadelinie einzuschließen und sie auszuhungern; er selbst rückte von +verschiedenen Seiten auf die Hauptstadt zu, welche er wie die ganze +Umgegend vom Feinde verlassen fand und ohne Gegenwehr besetzte. Kaum +nahm er sich die Zeit, das Volk durch eine Ansprache zu beruhigen und +die nötigsten Anordnungen zu treffen; sofort ging er weiter nach +Etrurien, um in Verbindung mit Metellus die Gegner auch aus Norditalien +zu vertreiben. + +Metellus war inzwischen am Fluß Aesis (Esino zwischen Ancona und +Sinigaglia), der die picenische Landschaft von der gallischen Provinz +schied, auf Carbos Unterfeldherrn Carrinas gestoßen und hatte diesen +geschlagen; als Carbo selbst mit seiner überlegenen Armee herbeikam, +hatte er das weitere Vordringen aufgeben müssen. Allein auf die +Nachricht von der Schlacht am Sacerhafen war Carbo, um seine +Kommunikationen besorgt, zurückgegangen bis auf die Flaminische +Chaussee, um in deren Knotenpunkt Ariminum sein Hauptquartier zu nehmen +und von dort teils die Pässe des Apennin, teils das Potal zu behaupten. +Bei dieser rückgängigen Bewegung gerieten nicht bloß verschiedene +Abteilungen dem Feinde in die Hände, sondern ward auch von Pompeius +Sena gallica erstürmt und Carbos Nachhut in einem glänzenden +Reitergefecht zersprengt; indes erreichte Carbo im ganzen seinen Zweck. +Der Konsulat Norbanus übernahm im Potal das Kommando; Carbo selbst +begab sich nach Etrurien. Aber der Marsch Sullas mit seinen siegreichen +Legionen nach Etrurien änderte die Lage der Dinge: bald reichten von +Gallien, Umbrien und Rom aus drei Sullanische Heere einander die Hände. +Metellus ging mit der Flotte an Ariminum vorbei nach Ravenna und +schnitt bei Faventia die Verbindung ab zwischen Ariminum und dem Potal, +in das auf der großen Straße nach Placentia er eine Abteilung vorgehen +ließ unter Marcus Lucullus, dem Quästor Sullas und dem Bruder seines +Flottenführers im Mithradatischen Krieg. Der junge Pompeius und sein +Altersgenosse und Nebenbuhler Crassus drangen aus dem Picenischen auf +Bergwegen in Umbrien ein und gewannen die Flaminische Straße bei +Spoletium, wo sie Carbos Unterfeldherrn Carrinas schlugen und in die +Stadt einschlossen; indes gelang es diesem in einer regnerischen Nacht, +aus derselben zu entweichen und, wenngleich nicht ohne Verlust, zum +Heer des Carbo durchzudringen. Sulla selbst rückte von Rom aus in zwei +Heerhaufen in Etrurien ein, von denen der eine an der Küste vorgehend +bei Saturnia (zwischen den Flüssen Ombrone und Albegna) das ihm +entgegenstehende Korps schlug, der zweite unter Sullas eigener Führung +im Clanistal auf die Armee des Carbo traf und ein glückliches Gefecht +mit dessen spanischer Reiterei bestand. Aber die Hauptschlacht, die +zwischen Carbo und Sulla in der Gegend von Chiusi geschlagen ward, +endigte zwar ohne eigentliche Entscheidung, jedoch insofern zu Gunsten +Carbos, als Sullas siegreiches Vordringen gehemmt ward. Auch in der +Umgegend von Rom schienen die Dinge für die revolutionäre Partei sich +günstiger wenden und der Krieg wieder sich hauptsächlich nach dieser +Gegend ziehen zu wollen. Denn während die oligarchische Partei alle +ihre Kräfte um Etrurien konzentrierte, machte die Demokratie aller +Orten die äußerste Anstrengung, um die Blockade von Praeneste zu +sprengen. Selbst der Statthalter von Sizilien, Marcus Perpenna, machte +sich dazu auf; es scheint indes nicht, daß er nach Praeneste gelangte. +Ebensowenig glückte dies dem von Carbo detachierten, sehr ansehnlichen +Korps unter Marcius; von den bei Spoletium stehenden feindlichen +Truppen überfallen und geschlagen, durch Unordnung, Mangel an Zufuhr +und Meuterei demoralisiert, ging ein Teil zu Carbo zurück, ein anderer +nach Ariminum, der Rest verlief sich. Ernstliche Hilfe dagegen kam aus +Süditalien. Hier brachen die Samniten unter Pontius von Telesia, die +Lucaner unter ihrem erprobten Feldherrn Marcus Lamponius auf, ohne daß +der Abmarsch ihnen gewehrt worden wäre, zogen im Kampanien, wo Capua +noch immer sich hielt, eine Abteilung der Besatzung unter Gutta an sich +und rückten also, angeblich 70000 Mann stark, auf Praeneste zu. Sulla +selbst kehrte darauf, mit Zurücklassung eines Korps gegen Carbo, nach +Latium zurück und nahm in den Engpässen vorwärts Praeneste 6 eine +wohlgewählte Stellung, in der er dem Entsatzheer den Weg sperrte. +Vergeblich versuchte die Besatzung, Ofelias Linien zu durchbrechen, +vergeblich das Entsatzherr Sulla zu vertreiben; beide verharrten +unbeweglich in ihren festen Stellungen, selbst nachdem, von Carbo +gesendet, Damasippus mit zwei Legionen das Entsatzheer verstärkt hatte. +Während aber der Gang des Krieges in Etrurien wie in Latium stockte, +kam es im Potal zur Entscheidung. Hier hatte bisher der Feldherr der +Demokratie Gaius Norbanus die Oberhand behauptet, den Unterfeldherrn +des Metellus, Marcus Lucullus, mit überlegener Macht angegriffen und +ihn genötigt, sich in Placentia einzuschließen, endlich sich gegen +Metellus selbst gewandt. Bei Faventia traf er auf diesen und griff am +späten Nachmittag mit seinen vom Marsch ermüdeten Truppen sofort an; +die Folge war eine vollständige Niederlage und die totale Auflösung +seines Korps, von dem nur etwa 1000 Mann nach Etrurien zurückkamen. Auf +die Nachricht von dieser Schlacht fiel Lucullus aus Placentia aus und +schlug die gegen ihn zurückgebliebene Abteilung bei Fidentia (zwischen +Piacenza und Parma). Die lucanischen Truppen des Albinovanus traten in +Masse über; ihr Führer machte seine anfängliche Zögerung wieder gut, +indem er die vornehmsten Offiziere der revolutionären Armee zu einem +Bankett bei sich einlud und sie dabei niedermachen ließ; überhaupt +schloß, wer irgend nur durfte, jetzt seinen Frieden. Ariminum mit allen +Vorräten und Kassen geriet in Metellus’ Gewalt; Norbanus schiffte nach +Rhodos sich ein; das ganze Land zwischen Alpen und Apenninen erkannte +das Optimatenregiment an. Die bisher dort beschäftigten Truppen konnten +sich wenden zum Angriff auf Etrurien, die letzte Landschaft, wo die +Gegner noch das Feld behaupteten. Als Carbo im Lager bei Clusium diese +Nachrichten erhielt, verlor er die Fassung. Obwohl er eine noch immer +ansehnliche Truppenmasse unter seinen Befehlen hatte, entwich er +dennoch heimlich aus seinem Hauptquartier und schiffte nach Afrika sich +ein. Die im Stich gelassenen Truppen befolgten teils das Beispiel, mit +dem der Feldherr ihnen vorangegangen war, und gingen nach Hause, teils +wurden sie von Pompeius aufgerieben; die letzten Scharen nahm Carrinas +zusammen und führte sie nach Latium zu der Armee von Praeneste. Hier +hatte inzwischen nichts sich verändert; und die letzte Entscheidung +nahte heran. Carrinas’ Haufen waren nicht zahlreich genug, um Sullas +Stellung zu erschüttern; schon näherte sich der Vortrab der bisher in +Etrurien beschäftigten Armee der oligarchischen Partei unter Pompeius; +in wenigen Tagen zog die Schlinge um das Heer der Demokraten und der +Samniten sich zusammen. Da entschlossen sich die Führer desselben, von +Praeneste abzulassen und mit gesamter Macht auf das nur einen starken +Tagemarsch entfernte Rom sich zu werfen. Militärisch waren sie damit +verloren; ihre Rückzugslinie, die Latinische Straße, geriet durch +diesen Marsch in Sullas Hand, und wenn sie auch Roms sich bemächtigten, +so wurden sie, eingeschlossen in die zur Verteidigung keineswegs +geeignete Stadt und eingekeilt zwischen Metellus und Sullas weit +überlegene Armeen, darin unfehlbar erdrückt. Aber es handelte sich auch +nicht mehr um Rettung, sondern einzig um Rache bei diesem Zug nach Rom, +dem letzten Wutausbruch der leidenschaftlichen Revolutionäre und vor +allem der verzweifelnden sabellischen Nation. Es war Ernst, was Pontius +von Telesia den Seinigen zurief: um der Wölfe, die Italien die Freiheit +geraubt hätten, loszuwerden, müsse man den Wald vernichten, in dem sie +hausten. Nie hat Rom in einer furchtbareren Gefahr geschwebt als am 1. +November 672 (82), als Pontius, Lamponius, Carrinas, Damasippus auf der +Latinischen Straße gegen Rom herangezogen, etwa eine Viertelmeile vom +Collinischen Tor lagerten. Es drohte ein Tag wie der 20. Juli 365 der +Stadt (389) und der 15. Juni 455 n. Chr., die Tage der Kelten und der +Vandalen. Die Zeiten waren nicht mehr, wo ein Handstreich gegen Rom ein +törichtes Unternehmen war, und an Verbindungen in der Hauptstadt konnte +es den Anrückenden nicht fehlen. Die Freiwilligenschar, die aus der +Stadt ausrückte, meist vornehme Jünglinge, zerstob wie Spreu vor der +ungeheuren Übermacht. Die einzige Hoffnung der Rettung beruhte auf +Sulla. Dieser war, auf die Nachricht vom Abmarsch des samnitischen +Heeres in der Richtung auf Rom, gleichfalls eiligst aufgebrochen der +Hauptstadt zu Hilfe. Den sinkenden Mut der Bürgerschaft belebte im +Laufe des Morgens das Erscheinen seiner ersten Reiter unter Balbus; am +Mittag erschien er selbst mit der Hauptmacht und ordnete sofort am +Tempel der Erykinischen Aphrodite vor dem Collinischen Tor (unweit +Porta Pia) die Reihen zur Schlacht. Seine Unterbefehlshaber beschworen +ihn, nicht die durch den Gewaltmarsch erschöpften Truppen sofort in den +Kampf zu schicken; aber Sulla erwog, was die Nacht über Rom bringen +könne, und befahl noch am späten Nachmittag den Angriff. Die Schlacht +war hart bestritten und blutig. Der linke Flügel Sullas, den er selbst +anführte, wich zurück bis an die Stadtmauer, so daß es notwendig ward, +die Stadttore zu schließen; schon brachten Versprengte die Nachricht an +Ofelia, daß die Schlacht verloren sei. Allein auf den rechten Flügel +warf Marcus Crassus den Feind und verfolgte ihn bis Antemnae, wodurch +auch der andere Flügel wider Luft bekam und eine Stunde nach +Sonnenuntergang seinerseits ebenfalls zum Vorrücken überging. Die ganze +Nacht und noch den folgenden Morgen ward gefochten; erst der Übertritt +einer Abteilung von 3000 Mann, die sofort die Waffen gegen die früheren +Kameraden wandten, setzte dem Kampf ein Ziel. Rom war gerettet. Die +Insurgentenarmee, für die es nirgends einen Rückzug gab, wurde +vollständig aufgerieben. Die in der Schlacht gemachten Gefangenen, 3000 +bis 4000 an der Zahl, darunter die Generale Damasippus, Carrinas und +den schwer verwundeten Pontius, ließ Sulla am dritten Tage nach der +Schlacht in das städtische Meierhaus auf dem Marsfeld führen und +daselbst bis auf den letzten Mann niederhauen, so daß man in dem nahen +Tempel der Bellona, wo Sulla eben eine Senatssitzung abhielt, deutlich +das Klirren der Waffen und das Stöhnen der Sterbenden vernahm. Es war +eine gräßliche Exekution und sie soll nicht entschuldigt werden; aber +es ist nicht gerecht zu verschweigen, daß diese selben Menschen, die +dort starben, wie eine Räuberbande über die Hauptstadt und die +Bürgerschaft hergefallen waren und sie, wenn sie Zeit gefunden hätten, +so weit vernichtet haben würden, als Feuer und Schwert eine Stadt und +eine Bürgerschaft zu vernichten vermögen. + +—————————————————————————- + +6 Es wird gemeldet, daß Sulla in dem Engpaß stand, durch den Praeneste +allein zugänglich war (App. I, 90); und die weiteren Ereignisse zeigen, +daß sowohl ihm als dem Entsatzheer die Straße nach Rom offenstand. Ohne +Zweifel stand Sulla auf der Querstraße, die von der Latinischen, auf +der sie Samniten herankamen, bei Valmontono nach Palestrina abbiegt; in +diesem Fall kommunizierte Sulla auf der praenestinischen, die Feinde +auf der Launischen oder labicanischen mit der Hauptstadt. + +————————————————————————- + +Damit war der Krieg in der Hauptsache zu Ende. Die Besatzung von +Praeneste ergab sich, als die aus den über die Mauer geworfenen Köpfen +des Carrinas und anderer Offiziere den Ausgang der Schlacht von Rom +erfuhr. Die Führer, der Konsul Gaius Marius und der Sohn des Pontius, +stürzten, nachdem ein Versuch zu entkommen ihnen vereitelt war, sich +einer in des andern Schwert. Die Menge gab der Hoffnung sich hin und +ward durch Cethegus darin bestärkt, daß der Sieger für sie auch jetzt +noch Gnade walten lassen werde. Aber deren Zeiten waren vorbei. Je +unbedingter Sulla bis zum letzten Augenblick den Übertretenden volle +Verzeihung gewährt hatte, desto unerbittlicher erwies er sich gegen die +Führer und Gemeinden, die ausgehalten hatten bis zuletzt. Von den +praenestinischen Gefangenen, 12000 an der Zahl, wurden zwar außer den +Kindern und Frauen die meisten Römer und einzelne Pränestiner +entlassen, aber die römischen Senatoren, fast alle Pränestiner und +sämtliche Samniten wurden entwaffnet und zusammengehauen, die reiche +Stadt geplündert. Es ist begreiflich, daß nach solchem Vorgang die noch +nicht übergegangenen Neubürgerstädte den Widerstand in hartnäckigster +Weise fortsetzten. So töteten in der latinischen Stadt Norba, als +Aemilius Lepidus durch Verrat daselbst eindrang, die Bürger sich +untereinander und zündeten selbst ihre Stadt an, um nur ihren Henkern +die Rache und die Beute zu entziehen. In Unteritalien war bereits +früher Neapolis erstürmt und, wie es scheint, Capua freiwillig +aufgegeben worden; Nola aber wurde erst im Jahr 674 (80) von den +Samniten geräumt. Auf der Flucht von hier fiel der letzte noch übrige +namhafte Führer der Italiker, der Insurgentenkonsul des +hoffnungsreichen Jahres 664 (90), Gaius Papius Mutilus, abgewiesen von +seiner Gattin, zu der er verkleidet sich durchgeschlichen und bei der +er einen Zufluchtsort zu finden gedacht hatte, vor der Tür des eigenen +Hauses in Teanum in sein Schwert. Was die Samniten anlangt, so erklärte +der Diktator, daß Rom nicht Ruhe haben werde, solange Samnium bestehe, +und daß darum der samnitische Name von der Erde vertilgt werden müsse; +und wie er diese Worte an den vor Rom und in Praeneste Gefangenen in +schrecklicher Weise wahr machte, so scheint er auch noch einen +Verheerungszug durch die Landschaft unternommen, Aesernia 7 eingenommen +(674? 80) und die bis dahin blühende und bevölkerte Landschaft in die +Einöde umgewandelt zu haben, die sie seitdem geblieben ist. Ebenso ward +in Umbrien Tuder durch Marcus Crassus erstürmt. Länger wehrten sich in +Etrurien Populonium und vor allem das unbezwingliche Volaterrae, das +aus den Resten der geschlagenen Partei ein Heer von vier Legionen um +sich sammelte und eine zweijährige, zuerst von Sulla persönlich, sodann +von dem gewesenen Prätor Gaius Carbo, dem Bruder des demokratischen +Konsuls, geleitete Belagerung aushielt, bis endlich im dritten Jahre +nach der Schlacht am Collinischen Tor (675 79) die Besatzung gegen +freien Abzug kapitulierte. Aber in dieser entsetzlichen Zeit galt weder +Kriegsrecht noch Kriegszucht; die Soldaten schrien über Verrat und +steinigten ihren allzu nachgiebigen Feldherrn; eine von der römischen +Regierung geschickte Reiterschar hieb die gemäß der Kapitulation +abziehende Besatzung nieder. Das siegreiche Heer wurde durch Italien +verteilt und alle unsicheren Ortschaften mit starken Besatzungen +belegt; unter der eisernen Hand der Sullanischen Offiziere verendeten +langsam die letzten Zuckungen der revolutionären und nationalen +Opposition. + +——————————————————————————- + +7 Ein anderer Name kann wohl kaum in der Korruptel Liv. 89 miam in +Samnio sich verbergen; vgl. Strab. 5, 3, 10. + +——————————————————————————— + +Noch gab es in den Provinzen zu tun. Zwar Sardinien war dem Statthalter +der revolutionären Regierung Quintus Antonius rasch durch Lucius +Philippus entrissen worden (672 82) und auch das Transalpinische +Gallien leistete geringen oder gar keinen Widerstand; aber in Sizilien, +Spanien, Africa schien die Sache der in Italien geschlagenen Partei +noch keineswegs verloren. Sizilien regierte für sie der zuverlässige +Statthalter Marcus Perpenna. Quintus Sertorius hatte im Diesseitigen +Spanien die Provinzialen an sich zu fesseln und aus den in Spanien +ansässigen Römern eine nicht unansehnliche Armee sich zu bilden gewußt, +welche zunächst die Pyrenäenpässe sperrte; er hatte auch hier wieder +bewiesen, daß, wo immer man ihn hinstellte, er an seinem Platze und +unter all den revolutionären Inkapazitäten er der einzige praktisch +brauchbare Mann war. In Africa war der Statthalter Hadrianus zwar, da +er das Revolutionieren allzu gründlich betrieb und den Sklaven die +Freiheit zu schenken anfing, bei einem durch die römischen Kaufleute +von Utica angezettelten Auflauf in seiner Amtswohnung überfallen und +mit seinem Gesinde verbrannt worden (672 82); indes hielt die Provinz +nichtsdestoweniger zu der revolutionären Regierung, und Cinnas +Schwiegersohn, der junge fähige Gnaeus Domitius Ahenobarbus, übernahm +daselbst den Oberbefehl. Es war sogar von dort aus die Propaganda in +die Klientelstaaten Numidien und Mauretanien getragen worden. Deren +legitime Regenten Hiempsal II., des Gauda, und Bogud, des Bocchus Sohn, +hielten zwar mit Sulla; aber mit Hilfe der Cinnaner war jener durch den +demokratischen Prätendenten Hiarbas vom Thron gestoßen worden, und +ähnliche Fehden bewegten das Mauretanische Reich. Der aus Italien +geflüchtete Konsul Carbo verweilte auf der Insel Kossyra (Pantellaria) +zwischen Afrika und Sizilien, unschlüssig, wie es scheint, ob er nach +Ägypten sich flüchten oder in einer der treuen Provinzen versuchen +sollte, den Kampf zu erneuern. + +Sulla sandte nach Spanien den Gaius Annius und den Gaius Valerius +Flaccus, als Statthalter jenen der jenseitigen, diesen der Ebroprovinz. +Das schwierige Geschäft, die Pyrenäenpässe mit Gewalt sich zu eröffnen, +ward ihnen dadurch erspart, daß der von Sertorius dort hingestellte +General durch einen seiner Offiziere ermordet ward und darauf die +Truppen desselben sich verliefen. Sertorius, viel zu schwach, um sich +im gleichen Kampfe zu behaupten, raffte eilig die nächststehenden +Abteilungen zusammen und schiffte in Neukarthago sich ein - wohin, +wußte er selbst nicht, vielleicht an die afrikanische Küste oder nach +den Kanarischen Inseln, nur irgendwohin, wohin Sullas Arm nicht reiche. +Spanien unterwarf hierauf sich willig den Sullanischen Beamten (um 673 +81), und Flaccus focht glücklich mit den Kelten, durch deren Gebiet er +marschierte, und mit den spanischen Keltiberern (674 80). + +Nach Sizilien ward Gnaeus Pompeius als Proprätor gesandt und die Insel, +als Pompeius mit 120 Segeln und sechs Legionen sich an der Küste +zeigte, von Perpenna ohne Gegenwehr geräumt. Pompeius schickte von dort +ein Geschwader nach Kossyra, das die daselbst verweilenden Marianischen +Offiziere aufhob; Marcus Brutus und die übrigen wurden sofort +hingerichtet, den Konsul Carbo aber hatte Pompeius befohlen, vor ihn +selbst nach Lilybäon zu führen, um ihn hier, uneingedenk des in +gefährlicher Zeit ihm von ebendiesem Manne zuteil gewordenen Schutzes, +persönlich dem Henker zu überliefern (672 82). Von hier weiter beordert +nach Afrika, schlug Pompeius die von Ahenobarbus und Hiarbas +gesammelten, nicht unbedeutenden Streitkräfte mit seinem allerdings +weit zahlreicheren Heer aus dem Felde und gab, die Begrüßung als +Imperator vorläufig ablehnend, sogleich das Zeichen zum Sturm auf das +feindliche Lager. So ward er an einem Tage der Feinde Herr; Ahenobarbus +war unter den Gefallenen; mit Hilfe des Königs Bogud ward Hiarbas in +Bulla ergriffen und getötet und Hiempsal in sein angestammtes Reich +wiedereingesetzt; eine große Razzia gegen die Bewohner der Wüste, von +denen eine Anzahl gätulischer, von Marius als frei anerkannter Stämme +Hiempsal untergeben wurden, stellte auch hier die gesunkene Achtung des +römischen Namens wieder her; in vierzig Tagen nach Pompeius’ Landung in +Afrika war alles zu Ende (674? 80). Der Senat wies ihn an, sein Heer +aufzulösen, worin die Andeutung lag, daß er nicht zum Triumph gelassen +werden solle, auf welchen er als außerordentlicher Beamter dem +Herkommen nach keinen Anspruch machen durfte. Der Feldherr grollte +heimlich, die Soldaten laut; es schien einen Augenblick, als werde die +afrikanische Armee gegen den Senat revoltieren und Sulla gegen seinen +Tochtermann zu Felde ziehen. Indes Sulla gab nach und ließ den jungen +Mann sich berühmen, der einzige Römer zu sein, der eher Triumphator +(12. März 675 79) als Senator geworden war; ja bei der Heimkehr von +diesen bequemen Großtaten begrüßte der “Glückliche”, vielleicht nicht +ohne einige Ironie, den Jüngling als den “Großen”. + +Auch im Osten hatten nach Sullas Einschiffung im Frühling 671 (83) die +Waffen nicht geruht. Die Restauration der alten Verhältnisse und die +Unterwerfung einzelner Städte kostete, wie in Italien so auch in Asien, +noch manchen blutigen Kampf; namentlich gegen die freie Stadt Mytilene +mußte Lucius Lucullus, nachdem er alle milderen Mittel erschöpft hatte, +endlich Truppen führen, und selbst ein Sieg im freien Felde machte dem +eigensinnigen Widerstand der Bürgerschaft kein Ende. + +Mittlerweile war der römische Statthalter von Asien, Lucius Murena, mit +dem König Mithradates in neue Verwicklungen geraten. Dieser hatte sich +nach dem Frieden beschäftigt, seine auch in den nördlichen Provinzen +erschütterte Herrschaft wieder zu befestigen; er hatte die Kolchier +beruhigt, indem er seinen tüchtigen Sohn Mithradates ihnen zum +Statthalter setzte, dann diesen selbst aus dem Wege geräumt, und +rüstete nun zu einem Zug in sein Bosporanisches Reich. Auf die +Versicherungen des Archelaos hin, der inzwischen bei Murena eine +Freistatt hatte suchen müssen, daß diese Rüstungen gegen Rom gerichtet +seien, setzte sich Murena unter dem Vorgeben, daß Mithradates noch +kappadokische Grenzdistrikte in Besitz habe, mit seinen Truppen nach +dem kappadokischen Komana in Bewegung, verletzte also die pontische +Grenze (671 83). Mithradates begnügte sich, bei Murena und, da dies +vergeblich war, bei der römischen Regierung Beschwerde zu führen. In +der Tat erschienen Beauftragte Sullas den Statthalter abzumahnen; +allein er fügte sich nicht, sondern überschritt den Halys und betrat +das unbestritten pontische Gebiet, worauf Mithradates beschloß, Gewalt +mit Gewalt zu vertreiben. Sein Feldherr Gordios mußte das römische Heer +festhalten, bis der König mit weit überlegenen Streitkräften herankam +und die Schlacht erzwang; Murena ward besiegt und mit großem Verlust +bis über die römische Grenze nach Phrygien zurückgeworfen, die +römischen Besatzungen aus ganz Kappadokien vertrieben. Murena hatte +zwar die Stirn, wegen dieser Vorgänge sich Sieger zu nennen und den +Imperatorentitel anzunehmen (672 82); indes die derbe Lektion und eine +zweite Mahnung Sullas bewogen ihn doch endlich, die Sache nicht +weiterzutreiben; der Friede zwischen Rom und Mithradates ward erneuert +(673 81). + +Über diese törichte Fehde war die Bezwingung der Mytilenäer verzögert +worden; erst Murenas Nachfolger gelang es nach langer Belagerung zu +Lande und zur See, wobei die bithynische Flotte gute Dienste tat, die +Stadt mit Sturm einzunehmen (675 79). + +Die zehnjährige Revolution und Insurrektion war im Westen und im Osten +zu Ende; der Staat hatte wieder eine einheitliche Regierung und Frieden +nach außen und innen. Nach den fürchterlichen Konvulsionen der letzten +Jahre war schon diese Rast eine Erleichterung; ob sie mehr gewähren +sollte, ob der bedeutende Mann, dem das schwere Werk der Bewältigung +des Landesfeindes, das schwerere der Bändigung der Revolution gelungen +war, auch dem schwersten von allen, der Wiederherstellung der in ihren +Grundfesten schwankenden sozialen und politischen Ordnung zu genügen +vermochte, mußte demnächst sich entscheiden. + + + + +KAPITEL X. +Die Sullanische Verfassung + + +Um die Zeit, als die erste Feldschlacht zwischen Römern und Römern +geschlagen ward, in der Nacht des 6. Juli 671 (83), war der ehrwürdige +Tempel, den die Könige errichtet, die junge Freiheit geweiht, die +Stürme eines halben Jahrtausends verschont hatten, der Tempel des +Römischen Jupiter, auf dem Kapitol in Flammen aufgegangen. Es war kein +Anzeichen, aber wohl ein Abbild des Zustandes der römischen Verfassung. +Auch diese lag in Trümmern und bedurfte eines neuen Aufbaus. Die +Revolution war zwar besiegt, aber es fehlte doch viel, daß damit von +selber das alte Regiment wieder sich hergestellt hätte. Allerdings +meinte die Masse der Aristokratie, daß jetzt nach dem Tode der beiden +revolutionären Konsuln es genügen werde, die gewöhnliche Ergänzungswahl +zu veranstalten und es dem Senat zu überlassen, was ihm zur Belohnung +der siegreichen Armee, zur Bestrafung der schuldigsten Revolutionäre, +etwa auch zur Verhütung ähnlicher Ausbrüche weiter erforderlich +erscheinen werde. Allein Sulla, in dessen Händen der Sieg für den +Augenblick alle Macht vereinigt hatte, urteilte richtiger über die +Verhältnisse und die Personen. Die Aristokratie Roms war in ihrer +besten Epoche nicht hinausgekommen über ein halb großartiges, halb +borniertes Festhalten an den überlieferten Formen; wie sollte das +schwerfällige kollegialische Regiment dieser Zeit dazu kommen, eine +umfassende Staatsreform energisch und konsequent durchzuführen? Und +eben jetzt, nachdem die letzte Krise fast alle Spitzen des Senats +weggerafft hatte, war in demselben die zu einem solchen Beginnen +erforderliche Kraft und Intelligenz weniger als je zu finden. Wie +unbrauchbar durchgängig das aristokratische Vollblut und wie wenig +Sulla über dessen Nichtsnutzigkeit im unklaren war, beweist die +Tatsache, daß mit Ausnahme des ihm verschwägerten Quintus Metellus er +sich seine Werkzeuge sämtlich auslas aus der ehemaligen Mittelpartei +und den Überläufern aus dem demokratischen Lager - so Lucius Flaccus, +Lucius Philippus, Quintus Ofella, Gnaeus Pompeius. Sulla war die +Wiederherstellung der alten Verfassung so sehr Ernst wie nur dem +leidenschaftlichsten aristokratischen Emigranten; aber er begriff, wohl +auch nicht in dem ganzen und vollen Umfang - wie hätte er sonst +überhaupt Hand ans Werk zu legen vermocht? -, aber doch besser als +seine Partei, welchen ungeheuren Schwierigkeiten dieses +Restaurationswerk unterlag. Als unumgänglich betrachtete er teils +umfassende Konzessionen, soweit Nachgiebigkeit möglich war, ohne das +Wesen der Oligarchie anzutasten, teils die Herstellung eines +energischen Repressiv- und Präventivsystems; und er sah es deutlich, +daß der Senat, wie er war, jede Konzession verweigern oder verstümmeln, +jeden systematischen Neubau parlamentarisch ruinieren werde. Hatte +Sulla schon nach der Sulpicischen Revolution, ohne viel zu fragen, in +der einen und der andern Richtung durchgesetzt, was er für nötig +erachtete, so war er auch jetzt unter weit schärferen und gespannteren +Verhältnissen entschlossen, die Oligarchie nicht mit, sondern trotz der +Oligarchen auf eigene Hand zu restaurieren. Sulla aber war nicht wie +damals Konsul, sondern bloß mit prokonsularischer, das heißt rein +militärischer Gewalt ausgestattet; er bedurfte einer möglichst nahe an +den verfassungsmäßigen Formen sich haltenden, aber doch +außerordentlichen Gewalt, um Freunden und Feinden seine Reform zu +oktroyieren. In einem Schreiben an den Senat eröffnete er demselben, +daß es ihm unumgänglich scheine, die Ordnung des Staates in die Hände +eines einzigen, mit unumschränkter Machtvollkommenheit ausgerüsteten +Mannes zu legen, und daß er sich für geeignet halte, diese schwierige +Aufgabe zu erfüllen. Dieser Vorschlag, so unbequem er vielen kam, war +unter den obwaltenden Umständen ein Befehl. Im Auftrag des Senats +brachte der Vormann desselben, der Zwischenkönig Lucius Valerius +Flaccus der Vater, als interimistischer Inhaber der höchsten Gewalt bei +der Bürgerschaft den Antrag ein, daß dem Prokonsul Lucius Cornelius +Sulla für die Vergangenheit die nachträgliche Billigung aller von ihm +als Konsul und Prokonsul vollzogenen Amtshandlungen, für die Zukunft +aber das Recht erteilt werden möge, über Leben und Eigentum der Bürger +in erster und letzter Instanz zu erkennen, mit den Staatsdomänen nach +Gutdünken zu schalten, die Grenzen Roms, Italiens, des Staats nach +Ermessen zu verschieben, in Italien Stadtgemeinden aufzulösen oder zu +gründen, über die Provinzen und die abhängigen Staaten zu verfügen, das +höchste Imperium anstatt des Volkes zu vergeben und Prokonsuln und +Proprätoren zu ernennen, endlich durch neue Gesetze für die Zukunft den +Staat zu ordnen; daß es in sein eigenes Ermessen gestellt werden solle, +wann er seine Aufgabe gelöst und es an der Zeit erachte, dies +außerordentliche Amt niederzulegen; daß endlich während desselben es +von seinem Gutfinden abhängen solle, die ordentliche höchste +Magistratur daneben eintreten oder auch ruhen zu lassen. Es versteht +sich, daß die Annahme ohne Widerspruch stattfand (November 672 82), und +nun erst erschien der neue Herr des Staates, der bisher als Prokonsul +die Hauptstadt zu betreten vermieden hatte, innerhalb der Mauern von +Rom. Den Namen entlehnte dies neue Amt von der seit dem Hannibalischen +Kriege tatsächlich abgeschafften Diktatur; aber sie außer seinem +bewaffneten Gefolge ihm doppelt so viele Liktoren vorausschritten als +dem Diktator der älteren Zeit, so war auch in der Tat diese neue +“Diktatur zur Abfassung von Gesetzen und zur Ordnung des Gemeinwesens”, +wie die offizielle Titulatur lautet, ein ganz anderes als jenes +ehemalige, der Zeit und der Kompetenz nach beschränkte, die Provokation +an die Bürgerschaft nicht ausschließende und die ordentliche +Magistratur nicht annullierende Amt. Es glich dasselbe vielmehr dem der +“Zehnmänner zur Abfassung von Gesetzen”, die gleichfalls als +außerordentliche Regierung mit unbeschränkter Machtvollkommenheit unter +Beseitigung der ordentlichen Magistratur aufgetreten waren und +tatsächlich wenigstens ihr Amt als ein der Zeit nach unbegrenztes +verwaltet hatten. Oder vielmehr dies neue Amt mit seiner auf einem +Volksbeschluß ruhenden, durch keine Befristung und Kollegialität +eingeengten absoluten Gewalt war nichts anderes als das alte Königtum, +das ja eben auch beruhte auf der freien Verpflichtung der Bürgerschaft, +einem aus ihrer Mitte als absolutem Herrn zu gehorchen. Selbst von +Zeitgenossen wird zur Rechtfertigung Sullas es geltend gemacht, daß ein +König besser sei als eine schlechte Verfassung ^1, und vermutlich ward +auch der Diktatortitel nur gewählt um anzudeuten, daß, wie die +ehemalige Diktatur eine vielfach beschränkte, so diese neue eine +vollständige Wiederaufnahme der königlichen Gewalt in sich enthalte. So +fiel denn seltsamerweise Sullas Weg auch hier zusammen mit dem, den in +so ganz anderer Absicht Gaius Gracchus eingeschlagen hatte. Auch hier +mußte die konservative Partei von ihren Gegnern borgen, der Schirmherr +der oligarchischen Verfassung selbst auftreten als Tyrann, um die ewig +andringende Tyrannis abzuwehren. Es war gar viel Niederlage in diesem +letzten Siege der Oligarchie. + +———————————————————— + +^1 Satius est uti regibus quam uti malis legibus (Rhet. Her. 2, 22). + +———————————————————— + +Sulla hatte die schwierige und grauenvolle Arbeit des +Restaurationswerkes nicht gesucht und nicht gewünscht; da ihm aber +keine andere Wahl blieb, als sie gänzlich unfähigen Händen zu +überlassen oder sie selber zu übernehmen, griff er sie an mit +rücksichtsloser Energie. Vor allen Dingen mußte eine Feststellung +hinsichtlich der Schuldigen getroffen werden. Sulla war an sich zum +Verzeihen geneigt. Sanguinischen Temperaments wie er war, konnte er +wohl zornig aufbrausen, und der mochte sich hüten, der sein Auge +flammen und seine Wangen sich färben sah; aber die chronische +Rachsucht, wie sie Marius in seiner greisenhaften Verbitterung eigen +war, war seinem leichten Naturell durchaus fremd. Nicht bloß nach der +Revolution von 666 (88) war er mit verhältnismäßig großer Milde +aufgetreten; auch die zweite, die so furchtbare Greuel verübt und ihn +persönlich so empfindlich getroffen hatte, hatte ihn nicht aus dem +Gleichgewicht gebracht. In derselben Zeit, so der Henker die Körper +seiner Freunde durch die Straßen der Hauptstadt schleifte, hatte er dem +blutbefleckten Fimbria das Leben zu retten gesucht und, da dieser +freiwillig den Tod nahm, Befehl gegeben, seine Leiche anständig zu +bestatten. Bei der Landung in Italien hatte er ernstlich sich erboten, +zu vergeben und zu vergessen, und keiner, der seinen Frieden zu machen +kam, war zurückgewiesen worden. Noch nach den ersten Erfolgen hatte er +in diesem Sinne mit Lucius Scipio verhandelt; die Revolutionspartei war +es gewesen, die diese Verhandlungen nicht bloß abgebrochen, sondern +nach denselben, im letzten Augenblicke vor ihrem Sturz, die Mordtaten +abermals und grauenvoller als je wieder aufgenommen, ja zur Vernichtung +der Stadt Rom sich mit dem uralten Landesfeind verschworen hatte. Nun +war es genug. Kraft seiner neuen Amtsgewalt erklärte Sulla unmittelbar +nach Übernahme der Regentschaft als Feinde des Vaterlands vogelfrei +sämtliche Zivil- und Militärbeamte, welche nach dem, Sullas Behauptung +zufolge rechtsbeständig abgeschlossenen, Vertrag mit Scipio noch für +die Revolution tätig gewesen wären, und von den übrigen Bürgern +diejenigen, die in auffallender Weise derselben Vorschub getan hätten. +Wer einen dieser Vogelfreien tötete, war nicht bloß straffrei wie der +Henker, der ordnungsmäßig eine Exekution vollzieht, sondern erhielt +auch für die Hinrichtung eine Vergütung von 12000 Denaren (3600 +Tälern); jeder dagegen, der eines Geächteten sich annahm, selbst der +nächste Verwandte, unterlag der schwersten Strafe. Das Vermögen der +Geächteten verfiel dem Staat gleich der Feindesbeute; ihre Kinder und +Enkel wurden von der politischen Laufbahn ausgeschlossen, dennoch aber, +insofern sie senatorischen Standes waren, verpflichtet, die +senatorischen Lasten für ihren Teil zu übernehmen. Die letzten +Bestimmungen fanden auch Anwendung auf die Güter und die Nachkommen +derjenigen, die im Kampfe für die Revolution gefallen waren; was noch +hinausging selbst über die im ältesten Recht gegen solche, die die +Waffen gegen ihr Vaterland getragen hatten, geordneten Strafen. Das +Schrecklichste in diesem Schreckenssystem war die Unbestimmtheit der +aufgestellten Kategorien, gegen die sofort im Senat remonstriert ward +und der Sulla selber dadurch abzuhelfen suchte, daß er die Namen der +Geächteten öffentlich anschlagen ließ und als letzten Termin für den +Schluß der Ächtungsliste den 1. Juni 673 (81) festsetzte. Sosehr diese +täglich anschwellende und zuletzt bis auf 4700 Namen steigende +Bluttafel 2 das gerechte Entsetzen der Bürger war, so war doch damit +der reinen Schergenwillkür in etwa gesteuert. Es war wenigstens nicht +der persönliche Groll des Regenten, dem die Masse dieser Opfer fiel; +sein grimmiger Haß richtete sich einzig gegen die Marier, die Urheber +der scheußlichen Metzeleien von 667 (87) und 672 (82). Auf seinen +Befehl ward das Grab des Siegers von Aquae Sextiae wiederaufgerissen +und die Asche desselben in den Anio gestreut, die Denkmäler seiner +Siege über Afrikaner und Deutsche umgestürzt und, da ihn selbst sowie +seinen Sohn der Tod seiner Rache entrückt hatte, sein Adoptivneffe +Marcus Marius Gratidianus, der zweimal Prätor gewesen und bei der +römischen Bürgerschaft sehr beliebt war, an dem Grabe des +bejammernswertesten der Marianischen Schlachtopfer, des Catulus, unter +den grausamsten Martern hingerichtet. Auch sonst hatte der Tod schon +die namhaftesten der Gegner hingerafft; von den Führern waren nur noch +übrig Gaius Norbanus, der in Rhodos Hand an sich selbst legte, während +die Ekklesia über seine Auslieferung beriet; Lucius Scipio, dem seine +Bedeutungslosigkeit und wohl auch seine vornehme Geburt Schonung +verschafften und die Erlaubnis, in seiner Zufluchtsstätte Massalia +seine Tage in Ruhe beschließen zu dürfen; und Quintus Sertorius, der +landflüchtig an der mauretanischen Küste umherirrte. Aber dennoch +häuften sich am Servilischen Bassin, da wo die Jugarische Gasse in den +Marktplatz einmündete, die Häupter der getöteten Senatoren, welche hier +öffentlich auszustellen der Diktator befohlen hatte, und vor allem +unter den Männern zweiten und dritten Ranges hielt der Tod eine +furchtbare Ernte. Außer denen, die für Ehre Dienste in der oder für die +revolutionäre Armee ohne viele Wahl, zuweilen wegen eines einem der +Offiziere derselben gemachten Vorschusses oder wegen der mit einem +solchen geschlossenen Gastfreundschaft, in die Liste eingetragen +wurden, traf namentlich jene Kapitalisten, die über die Senatoren zu +Gericht gesessen und in Marianischen Konfiskationen spekuliert hatten, +“die Einsäckler”, die Vergeltung; etwa sechzehnhundert der sogenannten +Ritter 3 waren auf der Ächtungsliste verzeichnet. Ebenso büßten die +gewerbsmäßigen Ankläger, die schwerste Geißel der Vornehmen, die sich +ein Geschäft daraus machten, die Männer senatorischen Standes vor die +Rittergerichte zu ziehen - “Wie geht es nur zu”, fragte bald darauf ein +Sachwalter, “daß sie uns die Gerichtsbänke gelassen haben, da sie doch +Ankläger und Richter totschlugen?” Die wildesten und schändlichsten +Leidenschaften rasten viele Monate hindurch ungefesselt durch Italien. +In der Hauptstadt war es ein Keltentrupp, dem zunächst die Exekutionen +aufgetragen wurden, und Sullanische Soldaten und Unteroffiziere +durchzogen zu gleichem Zweck die verschiedenen Distrikte Italiens; aber +auch jeder Freiwillige war ja willkommen, und vornehmes und niederes +Gesindel drängte sich herbei, nicht bloß, um die Mordprämie zu +verdienen, sondern auch, um unter dem Deckmantel der politischen +Verfolgung die eigene Rachsucht oder Habsucht zu befriedigen. Es kam +wohl vor, daß der Eintragung in die Ächtungsliste die Ermordung nicht +nachfolgte, sondern voranging. Ein Beispiel zeigt, in welcher Art diese +Exekutionen erfolgten. In Larinum, einer marianisch gesinnten +Neubürgerstadt, trat ein gewisser Statius Albius Oppianicus, der um +einer Anklage wegen Mordes zu entgehen in das Sullanische Hauptquartier +entwichen war, nach dem Sieg auf als Kommissarius des Regenten, setzte +die Stadtobrigkeit ab und sich und seine Freunde an deren Stelle und +ließ den, der ihn mit der Anklage bedroht hatte, nebst dessen nächsten +Verwandten und Freunden ächten und töten. So fielen unzählige, darunter +nicht wenige entschiedene Anhänger der Oligarchie, als Opfer der +Privatfeindschaft oder ihres Reichtums; die fürchterliche Verwirrung +und die sträfliche Nachsicht, die Sulla wie überall so auch hier gegen +die ihm näher Stehenden bewies, verhinderten jede Ahndung auch nur der +hierbei mit untergelaufenen gemeinen Verbrechen. + +————————————————————————- + +2 Diese Gesamtzahl gibt Valerius Maximus 9, 2, 1. Nach Appian (civ. 1, +9.5) wurden von Sulla geächtet gegen 40 Senatoren, wozu nachträglich +noch einige hinzukamen, und etwa 1600 Ritter; nach Florus (2, 9; daraus +Aug. civ. 3, 28) 2000 Senatoren und Ritter. Nach Plutarch (Sull. 31) +wurden in den ersten drei Tagen 520, nach Orosius (hist. 5, 21) in den +ersten Tagen 580 Namen in die Liste eingetragen. Zwischen all diesen +Berichten ist ein wesentlicher Widerspruch nicht vorhanden, da ja teils +nicht bloß Senatoren und Ritter getötet wurden, teils die Liste +monatelang offenblieb, Wenn an einer anderen Stelle Appian (civ. 1, +103) als von Sulla getötet oder verbannt aufführt fünfzehn Konsulare, +90 Senatoren, 2600 Ritter, so sind hier, wie schon der Zusammenhang +zeigt, die Opfer des Bürgerkriegs überhaupt und die Opfer Sullas +verwechselt. Die fünfzehn Konsulate sind Quintus Catulus Konsul 652 +(102), Marcus Antonius 655 (99), Publius Crassus 657 (97) Quintus +Scaevola 659 (95), Lucius Domitius 660 (94), Lucius Caesar 664 (90), +Quintus Rufus 666 (88), Lucius Cinna 667-670 (87-84), Gnaeus Octavius +667 (87), Lucius Merula 667 (87), Lucius Flaccus 668 (86), Gnaeus Carbo +669, 670, 672 (85, 84, 82), Gaius Norbanus 671 (83), Lucius Scipio 671 +(83), Gaius Marius 672 (82), von denen vierzehn getötet, einer, Lucius +Scipio, verbannt wurde. Wenn dagegen der Livianische Bericht bei Eutrop +(5, 9) und Orosius (5, 22) als im Bundesgenossen- und Bürgerkrieg +weggerafft (consumpti) angibt 24 Konsulare, sieben Prätorier, sechs +Ädilizier, 200 Senatoren, so sind hier teils die im Italischen Kriege +gefallenen Männer mitgezählt, wie die Konsulare Aulus Albinus, Konsul +655 (99), Titus Didius 656 (98), Publius Lupus 664 (90), Lucius Cato +665 (89), teils vielleicht Quintus Metellus Numidicus, Manius +Aquillius, Gaius Marius der Vater, Gnaeus Strabo, die man allenfalls +auch als Opfer dieser Zeit ansehen konnte, oder andere Männer, deren +Schicksal uns nicht bekannt ist. Von den vierzehn getöteten Konsularen +sind drei, Rufus, Cinna und Flaccus, durch Militärrevolten, dagegen +acht Sullanische, drei Marianische Konsulate als Opfer der Gegenpartei +gefallen. Nach der Vergleichung der oben angegebenen Ziffern galten als +Opfer des Marius 50 Senatoren und 1000 Ritter, als Opfer des Sulla 40 +Senatoren und 1600 Ritter; es gibt dies einen wenigstens nicht ganz +willkürlichen Maßstab zur Abschätzung des Umfangs der beiderseitigen +Frevel. + +3 Einer von diesen ist der in Ciceros Rede für Publius Quinctius öfter +genannte Senator Sextus Alfenus. + +————————————————————————————— + +In ähnlicher Weise ward mit dem Beutegut verfahren. Sulla wirkte aus +politischen Rücksichten dahin, daß die angesehenen Bürger sich bei +dessen Ersteigerung beteiligten; ein großer Teil drängte übrigens +freiwillig sich herbei, keiner eifriger als der junge Marcus Crassus. +Unter den obwaltenden Umständen war die ärgste Schleuderwirtschaft +nicht zu vermeiden, die übrigens zum Teil schon aus der römischen Weise +folgte, die vom Staat eingezogenen Vermögen gegen eine Pauschalsumme +zur Realisierung zu verkaufen; es kam noch hinzu, daß der Regent teils +sich selbst nicht vergaß, teils besonders seine Gemahlin Metella und +andere ihm nahestehende vornehme und geringe Personen, selbst +Freigelassene und Kneipgenossen, bald ohne Konkurrenz kaufen ließ, bald +ihnen den Kaufschilling ganz oder teilweise erließ - so soll zum +Beispiel einer seiner Freigelassenen ein Vermögen von 6 Millionen +(457000 Talern) für 2000 Sesterzen (152 Taler) ersteigert haben und +einer seiner Unteroffiziere durch derartige Spekulationen zu einem +Vermögen von 10 Mill. Sesterzen (761000 Talern) gelangt sein. Der +Unwille war groß und gerecht; schon während Sollas Regentschaft fragte +ein Advokat, ob der Adel den Bürgerkrieg nur geführt habe, um seine +Freigelassenen und Knechte zu reichen Leuten zu machen. Trotz dieser +Schleuderei indes betrug der Gesamterlös aus den konfiszierten Gütern +nicht weniger als 350 Mill. Sesterzen (27 Mill. Taler), was von dem +ungeheuren Umfang dieser hauptsächlich auf den reichsten Teil der +Bürgerschaft fallenden Einziehungen einen ungefähren Begriff gibt. Es +war durchaus ein fürchterliches Strafgericht. Es gab keinen Prozeß, +keine Begnadigung mehr; bleischwer lastete der dumpfe Schrecken auf dem +Lande, und das freie Wort war auf dem Markte der Haupt- wie der +Landstadt verstummt. Das oligarchische Schreckensregiment trug wohl +einen anderen Stempel als das revolutionäre; wenn Marius seine +persönliche Rachsucht im Blute seiner Feinde gelöscht hatte, so schien +Sulla den Terrorismus man möchte sagen abstrakt als zur Einführung der +neuen Gewaltherrschaft notwendig zu erachten und die Metzelei fast +gleichgültig zu betreiben oder betreiben zu lassen. Aber nur um so +entsetzlicher erschien das Schreckensregiment, indem es von der +konservativen Seite her und gewissermaßen ohne Leidenschaft auftrat; +nur um so unrettbarer schien das Gemeinwesen verloren, indem der +Wahnsinn und der Frevel auf beiden Seiten im Gleichgewicht standen. + +In der Ordnung der Verhältnisse Italiens und der Hauptstadt hielt +Sulla, obwohl er sonst im allgemeinen alle während der Revolution +vorgenommenen, nicht bloß die laufenden Geschäfte erledigenden +Staatshandlungen als nichtig behandelte, doch fest an dem von ihr +aufgestellten Grundsatz, daß jeder Bürger einer italischen Gemeinde +damit von selbst auch Bürger von Rom sei; die Unterschiede zwischen +Bürgern und italischen Bundesgenossen, zwischen Altbürgern besseren und +Neubürgern beschränkteren Rechts waren und blieben beseitigt. Nur den +Freigelassenen ward das unbeschränkte Stimmrecht abermals entzogen und +für sie das alte Verhältnis wiederhergestellt. Den aristokratischen +Ultras mochte dies als eine große Konzession erscheinen; Sulla sah, daß +den revolutionären Führern jene mächtigen Hebel notwendig aus der Hand +gewunden werden mußten und daß die Herrschaft der Oligarchie durch die +Vermehrung der Zahl der Bürger nicht wesentlich gefährdet ward. Aber +mit dieser Nachgiebigkeit im Prinzip verband sich das härteste Gericht +über die einzelnen Gemeinden in sämtlichen Landschaften Italiens, +ausgeführt durch Spezialkommissare und unter Mitwirkung der durch die +ganze Halbinsel verteilten Besatzungen. Manche Städte wurden belohnt, +wie zum Beispiel die erste Gemeinde, die sich an Sulla angeschlossen +hatte, Brundisium, jetzt die für diesen Seehafen so wichtige +Zollfreiheit erhielt; mehrere bestraft. Den minder Schuldigen wurden +Geldbußen, Niederreißung der Mauern, Schleifung der Burgen diktiert; +den hartnäckigsten Gegnern konfiszierte der Regent einen Teil ihrer +Feldmark, zum Teil sogar das ganze Gebiet, wie denn dies rechtlich +allerdings als verwirkt angesehen werden konnte, mochte man nun sie als +Bürgergemeinden behandeln, die die Waffen gegen ihr Vaterland getragen, +oder als Bundesstaaten, die dem ewigen Friedensvertrag zuwider mit Rom +Krieg geführt hatten. In diesem Falle ward zugleich allen aus dem +Besitz gesetzten Bürgern, aber auch nur diesen, ihr Stadt- und zugleich +das römische Bürgerrecht aberkannt, wogegen sie das schlechteste +latinische empfingen 4. Man vermied also an italischen +Untertanengemeinden geringeren Rechts der Opposition einen Kern zu +gewähren; die heimatlosen Expropriierten mußten bald in der Masse des +Proletariats sich verlieren. In Kampanien ward nicht bloß, wie sich von +selbst versteht, die demokratische Kolonie Capua aufgehoben und die +Domäne an den Staat zurückgegeben, sondern auch, wahrscheinlich um +diese Zeit, der Gemeinde Neapolis die Insel Aenaria (Ischia) entzogen. +In Latium wurde die gesamte Mark der großen und reichen Stadt Praeneste +und vermutlich auch die von Norba eingezogen, ebenso in Umbrien die von +Spoletium. Sulmo in der pälignischen Landschaft ward sogar geschleift. +Aber vor allem schwer lastete des Regenten eiserner Arm auf den beiden +Landschaften, die bis zuletzt und noch nach der Schlacht am +Collinischen Tor ernstlichen Widerstand geleistet hatten, auf Etrurien +und Samnium. Dort traf die Gesamtkonfiskation eine Reihe der +ansehnlichsten Kommunen, zum Beispiel Florentia, Faesulae, Arretium, +Volaterrae. Von Samniums Schicksal ward schon gesprochen; hier ward +nicht konfisziert, sondern das Land für immer verwüstet, seine +blühenden Städte, selbst die ehemalige latinische Kolonie Aesernia, öde +gelegt und die Landschaft der bruttischen und lucanischen +gleichgestellt. + +——————————————————————- + +4 Es kam hierbei noch die eigentümliche Erschwerung hinzu, daß das +latinische Recht sonst regelmäßig, ebenwie das peregrinische, die +Mitgliedschaft in einer bestimmten latinischen oder peregrinischen +Gemeinde in sich schloß, hier aber - ähnlich wie bei den späteren +Freigelassenen latinischen und deditizischen Rechts (vgl. 3, 258 A.) - +ohne ein solches eigenes Stadtrecht auftrat. Die Folge war, daß diese +Latiner die an die Stadtverfassung geknüpften Privilegien entbehrten, +genau genommen auch nicht testieren konnten, da niemand anders ein +Testament errichten kann als nach dem Recht seiner Stadt; wohl aber +konnten sie aus römischen Testamenten erwerben und unter Lebenden unter +sich wie mit Römern oder Latinern in den Formen des römischen Rechts +verkehren. + +———————————————————————- + +Diese Anordnungen über das italische Bodeneigentum stellten teils +diejenigen römischen Domanialländereien, welche den ehemaligen +Bundesgenossengemeinden zur Nutznießung übertragen waren und jetzt mit +deren Auflösung an die römische Regierung zurückfielen, teils die +eingezogenen Feldmarken der straffälligen Gemeinden zur Verfügung des +Regenten; und er benutzte sie, um darauf die Soldaten der siegreichen +Armee ansässig zu machen. Die meisten dieser neuen Ansiedlungen kamen +nach Etrurien, zum Beispiel nach Faesulae und Arretium, andere nach +Latium und Kampanien, wo unter andern Praeneste und Pompeii Sullanische +Kolonien wurden. Samnium wiederzubevölkern lag, wie gesagt, nicht in +der Absicht des Regenten. Ein großer Teil dieser Assignationen erfolgte +in gracchanischer Weise, so daß die Angesiedelten zu einer schon +bestehenden Stadtgemeinde hinzutraten. Wie umfassend die Ansiedelung +war, zeigt die Zahl der verteilten Landlose, die auf 120000 angegeben +wird; wobei dennoch einige Ackerkomplexe anderweitig verwandt wurden, +wie zum Beispiel der Dianentempel auf dem Berg Tifata mit Ländereien +beschenkt ward, andere, wie die volaterranische Mark und ein Teil der +arretinischen, unverteilt blieben, andere endlich nach dem alten, +gesetzlich untersagten, aber jetzt wiederauftauchenden Mißbrauch von +Sullas Günstlingen nach Okkupationsrecht eingenommen wurden. Die +Zwecke, die Sulla bei dieser Kolonisation verfolgte, waren mannigfacher +Art. Zunächst löste er damit seinen Soldaten das gegebene Wort. Ferner +nahm er damit den Gedanken auf, in dem die Reformpartei und die +gemäßigten Konservativen zusammentrafen und demgemäß er selbst schon im +Jahre 666 (88) die Gründung einer Anzahl von Kolonien angeordnet hatte: +die Zahl der ackerbauenden Kleinbesitzer in Italien durch Zerschlagung +größerer Besitzungen von Seiten der Regierung zu vermehren; wie +ernstlich ihm hieran gelegen war, zeigt das erneuerte Verbot des +Zusammenschlagens der Ackerlose. Endlich und vor allem sah er in diesen +angesiedelten Soldaten gleichsam stehende Besatzungen, die mit ihrem +Eigentumsrecht zugleich seine neue Verfassung schirmen würden; weshalb +auch, wo nicht die ganze Mark eingezogen ward, wie zum Beispiel in +Pompeii, die Kolonisten nicht mit der Stadtgemeinde verschmolzen, +sondern die Altbürger und die Kolonisten als zwei in demselben +Mauerring vereinigte Bürgerschaften konstituiert wurden. Diese +Kolonialgründungen ruhten wohl auch wie die älteren auf Volksschluß, +aber doch nur mittelbar, insofern sie der Regent auf Grund der +desfälligen Klausel des Valerischen Gesetzes konstituierte; der Sache +nach gingen sie hervor aus der Machtvollkommenheit des Herrschers und +erinnerten insofern an das freie Schalten der ehemaligen königlichen +Gewalt über das Staatsgut. Insofern aber, als der Gegensatz des +Soldaten und des Bürgers, der sonst eben durch die Deduktion der +Soldaten aufgehoben ward, bei den Sullanischen Kolonien noch nach ihrer +Ausführung lebendig bleiben sollte und blieb, und als diese Kolonisten +gleichsam das stehende Heer des Senats bildeten, werden sie nicht +unrichtig im Gegensatz gegen die älteren als Militärkolonien +bezeichnet. + +Dieser faktischen Konstituierung einer stehenden Armee des Senats +verwandt ist die Maßregel des Regenten, aus den Sklaven der Geächteten +über 10000 der jüngsten und kräftigsten Männer auszuwählen und +insgesamt freizusprechen. Diese neuen Cornelier, deren bürgerliche +Existenz an die Rechtsbeständigkeit der Institutionen ihres Patrons +geknüpft war, sollten eine Art von Leibwache für die Oligarchie sein +und ihr den städtischen Pöbel beherrschen helfen, auf den nun einmal in +der Hauptstadt in Ermangelung einer Besatzung alles ankam. + +Diese außerordentlichen Stützen, auf die zunächst der Regent die +Oligarchie lehnte, schwach und ephemer wie sie wohl auch ihrem Urheber +erscheinen mochten, waren doch die einzig möglichen, wenn man nicht zu +Mitteln greifen wollte, wie die förmliche Aufstellung eines stehendes +Heeres in Rom und dergleichen Maßregeln mehr, die der Oligarchie noch +weit eher ein Ende gemacht haben würden als ,die demagogischen +Angriffe. Das dauernde Fundament der ordentlichen Regierungsgewalt der +Oligarchie mußte natürlich der Senat sein mit einer so gesteigerten und +so konzentrierten Gewalt, daß er an jedem einzelnen Angriffspunkt den +nichtorganisierten Gegnern überlegen gegenüberstand. Das vierzig Jahre +hindurch befolgte System der Transaktionen war zu Ende. Die Gracchische +Verfassung, noch geschont in der ersten Sullanischen Reform von 666, +ward jetzt von Grund aus beseitigt. Seit Gaius Gracchus hatte die +Regierung dem hauptstädtischen Proletariat gleichsam das Recht der +Erneute zugestanden und es abgekauft durch regelmäßige +Getreideverteilungen an die in der Hauptstadt domizilierten Bürger; +Sulla schaffte dieselben ab. Durch die Verpachtung der Zehnten und +Zölle der Provinz Asia in Rom hatte Gaius Gracchus den +Kapitalistenstand organisiert und fundiert; Sulla hob das System der +Mittelsmänner auf und verwandelte die bisherigen Leistungen der Asiaten +in feste Abgaben, welche nach den zum Zweck der Nachzahlung der +Rückstände entworfenen Schätzungslisten auf die einzelnen Bezirke +umgelegt wurden 5. Gaius Gracchus hatte durch Übergabe der +Geschworenenposten an die Männer vom Ritterzensus dem Kapitalistenstand +eine indirekte Mitverwaltung und Mitregierung erwirkt, die nicht selten +sich stärker als die offizielle Verwaltung und Regierung erwies; Sulla +schaffte die Rittergerichte ab und stellte die senatorischen wieder +her. Gaius Gracchus oder doch die gracchische Zeit hatte den Rittern +einen Sonderstand bei den Volksfesten eingeräumt, wie ihn schon seit +längerer Zeit die Senatoren besaßen; Sulla hob ihn auf und wies die +Ritter zurück auf die Plebejerbänke 6. Der Ritterstand, als solcher +durch Gaius Gracchus geschaffen, verlor seine politische Existenz durch +Sulla. Unbedingt, ungeteilt und auf die Dauer sollte der Senat die +höchste Macht in Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichten überkommen und +auch äußerlich nicht bloß als privilegierter, sondern als einzig +privilegierter Stand auftreten. + +———————————————————————— + +5 Daß Sullas Umlage der rückständigen fünf Jahresziele und der +Kriegskosten auf die Gemeinden von Asia (App. Mithr. 62 und sonst) auch +für die Zukunft maßgebend war, zeigt schon die Zurückführung der +Einteilung Asias in vierzig Distrikte auf Sulla (Cassiod. chron. 670) +und die Zugrundelegung der sullanischen Repartition bei späteren +Ausschreibungen (Cic. Flacc. 14, 32), ferner, daß bei dem Flottenbau +672 (81) die hierzu verwandten Summen an der Steuerzahlung (ex pecunia +vectigali populo Romano) gekürzt werden (Cic. Verr. 1, 35, 89). +Geradezu sagt endlich Cicero (ad Q. fr. 1, 11, 33), daß die Griechen +“nicht imstande waren, von sich aus den von Sulla ihnen auferlegten +Zins zu zahlen ohne Steuerpächter”. + +6 Überliefert ist es freilich nicht, von wem dasjenige Gesetz erlassen +ward, welches die Erneuerung des älteren Privilegs durch das Roscische +Theatergesetz 687 (67) nötig machte (Friedländer in Becker, Handbuch, +Bd. 4, S. 531), aber nach der Lage der Sache war der Urheber dieses +Gesetzes unzweifelhaft Sulla. + +——————————————————————— + +Vor allem mußte zu diesem Ende die Regierungsbehörde ergänzt und selber +unabhängig gestellt werden. Durch die letzten Krisen war die Zahl der +Senatoren furchtbar zusammengeschwunden. Zwar stellte Sulla den durch +die Rittergerichte Verbannten jetzt die Rückkehr frei, wie dem Konsular +Publius Rutilius Rufus, der übrigens von der Erlaubnis keinen Gebrauch +machte, und dem Freunde des Drusus, Gaius Cotta; allein es war dies ein +geringer Ersatz für die Lücken, die der revolutionäre wie der +reaktionäre Terrorismus in die Reihen des Senats gerissen hatte. +Deshalb wurde nach Sullas Anordnung der Senat außerordentlicherweise +ergänzt durch etwa 300 neue Senatoren, welche die Distriktversammlung +aus den Männern vom Ritterzensus zu ernennen hatte und die sie, wie +begreiflich, vorzugsweise teils aus den jüngeren Männern der +senatorischen Häuser, teils aus Sullanischen Offizieren und anderen, +durch die letzte Umwälzung Emporgekommenen auslas. Aber auch für die +Zukunft ward die Aufnahme in den Senat neu geordnet und auf wesentlich +andere Grundlagen gestellt. Nach der bisherigen Verfassung trat man in +den Senat ein entweder durch zensorische Berufung, was der eigentliche +und ordentliche Weg war, oder durch die Bekleidung eines der drei +kurulischen Ämter: des Konsulats, der Prätur oder der Ädilität, an +welche seit dem Ovinischen Gesetz von Rechts wegen Sitz und Stimme im +Senat geknüpft war; die Bekleidung eines niederen Amtes, des Tribunats +oder der Quästur, gab wohl einen faktischen Anspruch auf einen Platz im +Senat, insofern die zensorische Auswahl vorzugsweise auf diese Männer +sich lenkte, aber keineswegs eine rechtliche Anwartschaft. Von diesen +beiden Eintrittswegen hob Sulla den ersteren auf durch die wenigstens +tatsächliche Beseitigung der Zensur und änderte den zweiten dahin ab, +daß der gesetzliche Eintritt in den Senat statt an die Ädilität an die +Quästur geknüpft und zugleich die Zahl der jährlich zu ernennenden +Quästoren auf zwanzig 7 erhöht ward. Die bisher den Zensoren rechtlich +zustehende, obwohl tatsächlich längst nicht mehr in ihrem +ursprünglichen ernstlichen Sinn geübte Befugnis, bei den von fünf zu +fünf Jahren stattfindenden Revisionen jeden Senator unter Angabe von +Gründen von der Liste zu streichen, fiel für die Zukunft ebenfalls +fort; die bisherige faktische Unabsetzbarkeit der Senatoren ward also +von Sulla schließlich festgestellt. Die Gesamtzahl der Senatoren, die +bis dahin vermutlich die alte Normalzahl von 300 nicht viel überstiegen +und oft wohl nicht einmal erreicht hatte, ward dadurch beträchtlich, +vielleicht durchschnittlich um das Doppelte erhöht, 8 was auch schon +die durch die Übertragung der Geschworenenfunktionen stark vermehrten +Geschäfte des Senats notwendig machten. Indem ferner sowohl die +außerordentlich eintretenden Senatoren als die Quästoren ernannt wurden +von den Tributkomitien, wurde der bisher mittelbar auf den Wahlen des +Volkes ruhende Senat jetzt durchaus auf direkte Volkswahl gegründet, +derselbe also einem repräsentativen Regiment so weit genähert, als dies +mit dem Wesen der Oligarchie und den Begriffen des Altertums überhaupt +sich vertrug. Aus einem nur zum Beraten der Beamten bestimmten +Kollegium war im Laufe der Zeit der Senat eine den Beamten befehlende +und selbstregierende Behörde geworden; es war hiervon nur eine +konsequente Weiterentwicklung, wenn das den Beamten ursprünglich +zustehende Recht, die Senatoren zu ernennen und zu kassieren, denselben +entzogen und der Senat auf dieselbe rechtliche Grundlage gestellt +wurde, auf welcher die Beamtengewalt selber ruhte. Die exorbitante +Befugnis der Zensoren, die Ratliste zu revidieren und nach Gutdünken +Namen zu streichen oder zuzusetzen, vertrug in der Tat sich nicht mit +einer geordneten oligarchischen Verfassung. Indem jetzt durch die +Quästorenwahl für eine genügende regelmäßige Ergänzung gesorgt ward, +wurden die zensorischen Revisionen überflüssig und durch deren Wegfall +das wesentliche Grundprinzip jeder Oligarchie, die Inamovibilität und +Lebenslänglichkeit der zu Sitz und Stimme gelangten Glieder des +Herrenstandes, endgültig konsolidiert. + +———————————————————————— + +7 Wieviele Quästoren bis dahin jährlich gewählt wurden, ist nicht +bekannt. Im Jahre 487 (267) stellte sich die Zahl auf acht: zwei +städtische, zwei Militär- und vier Flottenquästoren; wozu dann die in +den Ämtern beschäftigten Quästoren hinzugetreten sind. Denn die +Flottenquästuren in Ostia, Cales und so weiter gingen keineswegs ein, +und auch die Militärquästoren konnten nicht anderweitig verwendet +werden, da sonst der Konsul, wo er als Oberfeldherr auftrat, ohne +Quästor gewesen sein würde. Da es nun bis auf Sulla neun Ämter gab, +überdies nach Sizilien zwei Quästoren gingen, so könnte er +möglicherweise schon achtzehn Quästoren vorgefunden haben. Wie indes +auch die Zahl der Oberbeamten dieser Zeit beträchtlich geringer als die +ihrer Kompetenzen gewesen und hier stets durch Fristerstreckung und +andere Aushilfen Rat geschafft worden ist, überhaupt die Tendenz der +römischen Regierung darauf ging, die Zahl der Beamten möglichst zu +beschränken, so mag es auch mehr quästorische Kompetenzen gegeben haben +als Quästoren, und es kann selbst sein, daß in kleine Provinzen, wie +zum Beispiel Kilikien, in dieser Zeit gar kein Quästor ging. Aber +sicher hat es doch schon vor Sulla mehr als acht Quästoren gegeben. + +8 Von einer festen Zahl der Senatoren kann genau genommen überhaupt +nicht die Rede sein. Wenn auch die Zensoren vor Sulla jedesmal eine +Liste von 300 Köpfen anfertigten, so traten doch zu dieser immer noch +diejenigen Nichtsenatoren hinzu, die nach Abfassung der Liste bis zur +Aufstellung der nächsten ein kurulisches Amt bekleideten; und nach +Sulla gab es so viele Senatoren, als gerade Quästorier am Leben waren. +Wohl aber ist anzunehmen, daß Sulla den Senat auf ungefähr 500 bis 600 +Köpfe zu bringen bedacht war; und diese Zahl ergibt sich, wenn jährlich +20 neue Mitglieder von durchschnittlich 30 Jahren eintraten und man die +durchschnittliche Dauer der senatorischen Würde auf 25 bis 30 Jahre +ansetzt. In einer stark besuchten Senatssitzung der ciceronischen Zeit +waren 417 Mitglieder anwesend. + +————————————————————————- + +Hinsichtlich der Gesetzgebung begnügte sich Sulla, die im Jahre 666 +(88) getroffenen Bestimmungen wiederaufzunehmen und die legislatorische +Initiative, wie sie längst tatsächlich dem Senat zustand, wenigstens +den Tribunen gegenüber auch gesetzlich ihm zu sichern. Die Bürgerschaft +blieb der formelle Souverän; allein was ihre Urversammlungen anlangt, +so schien es dem Regenten notwendig, die Form zwar sorgfältig zu +konservieren, aber jede wirkliche Tätigkeit derselben noch sorgfältiger +zu verhüten. Sogar mit dem Bürgerrecht selbst ging Sulla in der +geringschätzigsten Weise um; er machte keine Schwierigkeit, weder den +Neubürgergemeinden es zuzugestehen noch Spanier und Kelten in Masse +damit zu beschenken; ja es geschah, wahrscheinlich nicht ohne Absicht, +schlechterdings gar nichts für die Feststellung der Bürgerliste, die +doch nach so gewaltigen Umwälzungen einer Revision dringend bedurfte, +wenn es überhaupt der Regierung noch mit den hieran sich knüpfenden +Rechtsbefugnissen Ernst war. Geradezu beschränkt wurde die +legislatorische Kompetenz der Komitien übrigens nicht; es war auch +nicht nötig, da ja infolge der besser gesicherten Initiative des Senats +das Volk ohnehin nicht leicht wider den Willen der Regierung in die +Verwaltung, das Finanzwesen und die Kriminaljurisdiktion eingreifen +konnte und seine legislative Mitwirkung wesentlich wieder zurückgeführt +ward auf das Recht, zu Änderungen der Verfassung ja zu sagen. + +Wichtiger war die Beteiligung der Bürgerschaft bei den Wahlen, deren +man nun einmal nicht entbehren zu können schien, ohne mehr +aufzurütteln, als Sullas obenhin sich haltende Restauration aufrütteln +konnte und wollte. Die Eingriffe der Bewegungspartei in die +Priesterwahlen wurden beseitigt; nicht bloß das Domitische Gesetz von +650 (104), das die Wahlen zu den höchsten Priesterämtern überhaupt dem +Volke übertrug, sondern auch die älteren gleichartigen Verfügungen +hinsichtlich des Oberpontifex und des Obercurio wurden von Sulla +kassiert und den Priesterkollegien das Recht der Selbstergänzung in +seiner ursprünglichen Unbeschränktheit zurückgegeben. Hinsichtlich der +Wahlen zu den Staatsämtern aber blieb es im ganzen bei der bisherigen +Weise; außer insofern die sogleich zu erwähnende neue Regulierung des +militärischen Kommandos allerdings folgeweise eine wesentliche +Beschränkung der Bürgerschaft in sich schloß, ja gewissermaßen das +Vergebungsrecht der Feldherrnstellen von der Bürgerschaft auf den Senat +übertrug. Es scheint nicht einmal, daß Sulla die früher versuchte +Restauration der Servianischen Stimmordnung jetzt wiederaufnahm, sei es +nun, daß er es überhaupt als gleichgültig betrachtete, ob die +Stimmabteilungen so oder so zusammengesetzt seien, sei es, daß diese +ältere Ordnung ihm den gefährlichen Einfluß der Kapitalisten zu +steigern schien. Nur die Qualifikationen wurden wiederhergestellt und +teilweise gesteigert. Die zur Bekleidung eines jeden Amtes +erforderliche Altersgrenze ward aufs neue eingeschärft; ebenso die +Bestimmung, daß jeder Bewerber um das Konsulat vorher die Prätur, jeder +Bewerber um die Prätur vorher die Quästur bekleidet haben müsse, +wogegen es gestattet war, die Ädilität zu übergehen. Mit besonderer +Strenge wurde, in Hinblick auf die jüngst mehrfach vorgenommenen +Versuche, in der Form des durch mehrere Jahre hindurch fortgesetzten +Konsulats die Tyrannis zu begründen, gegen diesen Mißbrauch +eingeschritten und verfügt, daß zwischen der Bekleidung zweier +ungleicher Ämter mindestens zwei, zwischen der zweimaligen Bekleidung +desselben Amtes mindestens zehn Jahre verfließen sollten; mit welcher +letzteren Bestimmung, anstatt der in der jüngsten ultraoligarchischen +Epoche beliebten absoluten Untersagung jeder Wiederwahl zum Konsulat, +wieder die ältere Ordnung vom Jahre 412 (342) aufgenommen ward. Im +ganzen aber ließ Sulla den Wahlen ihren Lauf und suchte nur die +Beamtengewalt in der Art zu fesseln, daß, wen auch immer die +unberechenbare Laune der Komitien zum Amte berief, der Gewählte +außerstande sein würde, gegen die Oligarchie sich aufzulehnen. + +Die höchsten Beamten des Staats waren in dieser Zeit tatsächlich die +drei Kollegien der Volkstribune, der Konsuln und Prätoren und der +Zensoren. Sie alle gingen aus der Sullanischen Restauration mit +wesentlich geschmälerten Rechten hervor; vor allem das tribunizische +Amt, das dem Regenten erschien als ein zwar auch für das Senatsregiment +unentbehrliches, aber dennoch, als von der Revolution erzeugt und stets +geneigt, wieder Revolutionen aus sich zu erzeugen, strenger und +dauernder Fesselung bedürftiges Werkzeug. Von dem Rechte, die +Amtshandlungen der Magistrate durch Einschreiten zu kassieren, den +Kontravenienten eventuell zu brächen und dessen weitere Bestrafung zu +veranlassen, war die tribunizische Gewalt ausgegangen; dies blieb den +Tribunen auch jetzt, nur daß auf den Mißbrauch des Interzessionsrechts +eine schwere, die bürgerliche Existenz regelmäßig vernichtende +Geldstrafe gesetzt ward. Die weitere Befugnis des Tribuns, mit dem +Volke nach Gutdünken zu verhandeln, teils um Anklagen einzubringen, +insbesondere gewesene Beamte vor dem Volk zur Rechenschaft zu ziehen, +teils um Gesetze zur Abstimmung vorzulegen, war der Hebel gewesen, +durch den die Gracchen, Saturninus, Sulpicius den Staat umgewälzt +hatten; sie ward nicht aufgehoben, aber wohl von einer vorgängig bei +dem Senat nachzusuchenden Erlaubnis abhängig gemacht 9. Endlich wurde +hinzugefügt, daß die Bekleidung des Tribunats in Zukunft zur Übernahme +eines höheren Amtes unfähig machen solle - eine Bestimmung, die wie so +manches andere in Sullas Restauration wieder auf die altpatrizischen +Satzungen zurückkam und, ganz wie in den Zeiten vor der Zulassung der +Plebejer zu den bürgerlichen Ämtern, das Tribunat einer- und die +kurulischen Ämter andererseits miteinander unvereinbar erklärte. Auf +diese Weise hoffte der Gesetzgeber der Oligarchie, der tribunizischen +Demagogie zu wehren und alle ehrgeizigen und aufstrebenden Männer von +dem Tribunat fernzuhalten, dagegen dasselbe festzuhalten als Werkzeug +des Senats, sowohl zur Vermittlung zwischen diesem und der +Bürgerschaft, als auch vorkommendenfalls zur Niederhaltung der +Magistratur; und wie die Herrschaft des Königs und später der +republikanischen Beamten über die Bürgerschaft kaum irgendwo so klar zu +Tage tritt wie in dem Satze, daß ausschließlich sie das Recht haben, +öffentlich zum Volke zu reden, so zeigt sich die jetzt zuerst rechtlich +festgestellte Oberherrlichkeit des Senats am bestimmtesten in dieser +von dem Vormann des Volkes für jede Verhandlung mit demselben vom Senat +zu erbittenden Erlaubnis. + +——————————————————————- + +9 Darauf gehen die Worte des Lepidus bei Sallust (bist. 1, 41, 11 +Dietsch): populus Romanus exutus … iure agitandi, auf die Tacitus (ann. +3, 27) anspielt: statim turbidis Lepidi rogationibus neque multo post +tribunis reddita licentia quoquo vellent populum agitandi. Daß die +Tribune nicht überhaupt das Recht verloren, mit dem Volke zu +verhandeln, zeigt deutlicher als Cic. leg. 3, 4, 10 das Plebiszit de +Thermensibus, welches aber auch in der Eingangsformel sich bezeichnet +als de senatus sententia erlassen. Daß die Konsuln dagegen auch nach +der Sullanischen Ordnung ohne vorgängigen Senatsbeschluß Anträge an das +Volk bringen konnten, beweist nicht bloß das Stillschweigen der +Quellen, sondern auch der Verlauf der Revolutionen von 667 (87) und 676 +(78), deren Führer eben aus diesem Grunde nicht Tribune, sondern +Konsuln gewesen sind. Darum begegnen auch in dieser Zeit konsularische +Gesetze über administrative Nebenfragen, wie zum Beispiel das +Getreidegesetz von 681 (73), für die zu andern Zeiten sicher Plebiszite +eingetreten sein würden. + +—————————————————————- + +Auch Konsulat und Prätur, obwohl sie von dem aristokratischen +Regenerator Roms mit günstigeren Augen betrachtet wurden als das an +sich verdächtige Tribunat, entgingen doch keineswegs dem Mißtrauen +gegen das eigene Werkzeug, welches durchaus die Oligarchie bezeichnet. +Sie wurden in schonenderen Formen, aber in sehr fühlbarer Weise +beschränkt. Sulla knüpfte hier an die Geschäftsteilung an. Zu Anfang +dieser Periode bestand dafür die folgende Ordnung. Den beiden Konsuln +lag immer noch, wie ehemals der Inbegriff der Geschäfte des höchsten +Amtes überhaupt, so jetzt derjenige Inbegriff der höchsten +Amtsgeschäfte ob, für welchen nicht gesetzlich besondere Kompetenzen +festgestellt waren. Dies letztere war der Fall mit dem hauptstädtischen +Gerichtswesen, womit die Konsuln sich nach einer unverbrüchlich +festgehaltenen Regel nicht befassen durften, und mit den damals +bestehenden überseeischen Ämtern: Sizilien, Sardinien und den beiden +Spanien, in denen der Konsul das Kommando zwar führen konnte, aber nur +ausnahmsweise führte. Im ordentlichen Lauf der Dinge wurden demnach +sechs Spezialkompetenzen, die beiden hauptstädtischen +Gerichtsvorstandschaften und die vier überseeischen Ämter unter die +sechs Prätoren vergeben, woneben den beiden Konsuln kraft ihrer +Generalkompetenz die Leitung der hauptstädtischen nichtgerichtlichen +Geschäfte und das militärische Kommando in den festländischen +Besitzungen oblag. Da diese Generalkompetenz also doppelt besetzt war, +blieb der Sache nach der eine Konsul zur Verfügung der Regierung, und +für gewöhnliche Zeiten kam man demnach mit jenen acht höchsten +Jahresbeamten vollständig, ja reichlich aus. Für außerordentliche Fälle +blieb es ferner vorbehalten, teils die nicht militärischen Kompetenzen +zu kumulieren, teils die militärischen über die Endfrist hinaus +fortdauern zu lassen (prorogare). Es war nicht ungewöhnlich, die beiden +Gerichtsvorstandschaften demselben Prätor zu übertragen und die +regelmäßig von den Konsuln zu beschaffenden hauptstädtischen Geschäfte +durch den Stadtprätor versehen zu lassen; wogegen es verständigerweise +möglichst vermieden ward, mehrere Kommandos in derselben Hand zu +vereinigen. Hier half vielmehr die Regel aus, daß im militärischen +Imperium es kein Interregnum gab, also dasselbe, obwohl gesetzlich +befristet, doch nach Eintritt des Endtermines von Rechts wegen noch so +lange fortdauerte, bis der Nachfolger erschien und dem Vorgänger das +Kommando abnahm, oder, was dasselbe ist, daß der kommandierende Konsul +oder Prätor nach Ablauf seiner Amtszeit, wenn der Nachfolger nicht +erschien, an Konsuls oder Prätors Statt weiter fungieren konnte und +mußte. Der Einfluß des Senats auf diese Geschäftsverteilung bestand +darin, daß es observanzmäßig von ihm abhing, entweder die Regel walten, +also die sechs Prätoren die sechs Spezialkompetenzen unter sich +verlosen und die Konsuln die festländischen, nichtgerichtlichen +Geschäfte besorgen zu lassen, oder irgendeine Abweichung von derselben +anzuordnen, etwa dem Konsul ein augenblicklich besonders wichtiges +überseeisches Kommando zuzuweisen oder eine außerordentliche +militärische und gerichtliche Kommission, zum Beispiel das +Flottenkommando oder eine wichtige Kriminaluntersuchung, unter die zur +Verteilung kommenden Kompetenzen aufzunehmen und die dadurch weiter +nötig werdenden Kumulationen und Fristerstreckungen zu veranlassen - +wobei übrigens lediglich die Absteckung der jedesmaligen konsularischen +und respektiv prätorischen Kompetenzen, nicht die Bezeichnung der für +das einzelne Amt eintretenden Personen dem Senate zustand, die letztere +vielmehr durchgängig durch Vereinbarung der konkurrierenden Beamten +oder durch das Los erfolgte. Die Bürgerschaft war in der älteren Zeit +wohl veranlaßt worden, die in dem Unterlassen der Ablösung enthaltene +tatsächliche Verlängerung des Kommandos durch besonderen +Gemeindebeschluß zu regularisieren; indes war dies mehr dem Geiste, als +dem Buchstaben der Verfassung nach notwendig und bald griff die +Bürgerschaft hierbei nicht weiter ein. Im Laufe des siebenten +Jahrhunderts traten nun allmählich zu den bestehenden sechs +Spezialkompetenzen sechs andere hinzu; die fünf neuen +Statthalterschaften von Makedonien, Africa, Asia, Narbo und Kilikien +und die Vorstandschaft in dem stehenden Kommissionsgericht wegen +Erpressungen. Mit dem immer mehr sich ausdehnenden Wirkungskreise der +römischen Regierung trat überdies immer häufiger der Fall ein, daß die +Oberbeamten für außerordentliche militärische oder prozessualische +Kommissionen in Anspruch genommen wurden. Dennoch wurde die Zahl der +ordentlichen höchsten Jahrbeamten nicht vermehrt; und es kamen also auf +acht jährlich zu ernennende Beamte, von allem andern abgesehen, +mindestens zwölf jährlich zu besetzende Spezialkompetenzen. Natürlich +war es nicht Zufall, daß man dies Defizit nicht durch Kreierung neuer +Prätorenstellen ein für allemal deckte. Dem Buchstaben der Verfassung +gemäß sollten die sämtlichen höchsten Beamten Jahr für Jahr von der +Bürgerschaft ernannt werden; nach der neuen Ordnung oder vielmehr +Unordnung, derzufolge die entstehenden Lücken wesentlich durch +Fristerstreckung ausgefüllt wurden und den gesetzlich ein Jahr +fungierenden Beamten in der Regel vom Senat ein zweites Jahr zugelegt, +nach Befinden dasselbe aber auch verweigert ward, besetzte die +wichtigsten und lukrativsten Stellen im Staate nicht mehr die +Bürgerschaft, sondern aus einer durch die Bürgerschaftswahlen +gebildeten Konkurrentenliste der Senat. Üblich ward es dabei, da unter +diesen Stellen die überseeischen Kommandos als die einträglichsten vor +allem gesucht waren, denjenigen Beamten, die ihr Amt entweder rechtlich +oder doch tatsächlich an die Hauptstadt fesselte, also den beiden +Vorstehern der städtischen Gerichtsbarkeit und häufig auch den Konsuln, +nach Ablauf ihres Amtsjahrs ein überseeisches Kommando zu übertragen, +was mit dem Wesen der Prorogation sich vertrug, da die Amtsgewalt des +in Rom und des in der Provinz fungierenden Oberbeamten wohl anders +bezogen, aber nicht eigentlich staatsrechtlich eine qualitativ andere +war. + +Diese Verhältnisse fand Sulla vor und sie lagen seiner neuen Ordnung zu +Grunde. Der Grundgedanke derselben war die vollständige Scheidung der +politischen Gewalt, welche in den Bürger-, und der militärischen, +welche in den Nichtbürgerdistrikten regierte, und die durchgängige +Erstreckung der Dauer des höchsten Amtes von einem Jahr auf zwei, von +denen das erstere den bürgerlichen, das zweite den militärischen +Geschäften gewidmet ward. Räumlich waren die bürgerliche und die +militärische Gewalt allerdings längst schon durch die Verfassung +geschieden, und endete jene an dem Pomerium, wo diese begann; allein +immer noch hielt derselbe Mann die höchste politische und die höchste +militärische Macht in seiner Hand vereinigt. Künftig sollte der Konsul +und Prätor mit Rat und Bürgerschaft verhandeln, der Prokonsul und +Proprätor die Armee kommandieren, jenem aber jede militärische, diesem +jede politische Tätigkeit gesetzlich abgeschnitten sein. Dies führte +zunächst zu der politischen Trennung der norditalischen Landschaft von +dem eigentlichen Italien. Bisher hatten dieselben wohl in einem +nationalen Gegensatz gestanden, insofern Norditalien vorwiegend von +Ligurern und Kelten, Mittel- und Süditalien von Italikern bewohnt ward; +allein politisch und administrativ stand das gesamte festländische +Gebiet des römischen Staates von der Meerenge bis an die Alpen mit +Einschluß der illyrischen Besitzungen, Bürger-, latinische und +Nichtitalikergemeinden ohne Unterschied, im ordentlichen Laufe der +Dinge unter der Verwaltung der in Rom eben fungierenden höchsten +Beamten, wie denn ja auch die Kolonialgründungen sich durch dies ganze +Gebiet erstreckten. Nach Sullas Ordnung wurde das eigentliche Italien, +dessen Nordgrenze zugleich statt des Aesis der Rubico ward, als ein +jetzt ohne Ausnahme von römischen Bürgern bewohntes Gebiet, den +ordentlichen römischen Obrigkeiten untergeben und daß in diesem +Sprengel regelmäßig keine Truppen und kein Kommandant standen, einer +der Fundamentalsätze des römischen Staatsrechts; das Keltenland +diesseits der Alpen dagegen, in dem schon der beständig fortwährenden +Einfälle der Alpenvölker wegen ein Kommando nicht entbehrt werden +konnte, wurde nach dem Muster der älteren überseeischen Kommandos als +eigene Statthalterschaft konstituiert ^10. Indem nun endlich die Zahl +der jährlich zu ernennenden Prätoren von sechs auf acht erhöht ward, +stellte sich die neue Geschäftsordnung dahin, daß die jährlich zu +ernennenden zehn höchsten Beamten während ihres ersten Amtsjahrs als +Konsuln oder Prätoren den hauptstädtischen Geschäften - die beiden +Konsuln der Regierung und Verwaltung, zwei der Prätoren der +Zivilrechtspflege, die übrigen sechs der reorganisierten Kriminaljustiz +- sich widmeten, während ihres zweiten Amtsjahrs als Prokonsuln oder +Proprätoren das Kommando in einer der zehn Statthalterschaften: +Sizilien, Sardinien, beiden Spanien, Makedonien, Asia, Africa, Narbo, +Kilikien und dem italischen Keltenland übernahmen. Die schon erwähnte +Vermehrung der Quästorenzahl durch Sulla auf zwanzig gehört ebenfalls +in diesen Zusammenhang ^11. + +————————————————- + +^10 Für diese Annahme gibt es keinen anderen Beweis, als daß das +italische Keltenland eine Provinz in dem Sinne, wo das Wort einen +geschlossenen und von einem jährlich erneuerten Statthalter verwalteten +Sprengel bedeutet, in den älteren Zeiten ebenso entschieden nicht ist +wie allerdings in der caesarischen es eine ist (vgl. Licin. p. 39: Data +erat et Sullae provincia Gallia cisalpina). + +Nicht viel anders steht es mit der Vorschiebung der Grenze; wir wissen, +daß ehemals der Aesis, zu Caesars Zeit der Rubico, das Keltenland von +Italien schied, aber nicht, wann die Vorrückung stattfand. Man hat zwar +daraus, daß Marcus Terentius Varro Lucullus als Proprätor in dem +Distrikt zwischen Aesis und Rubico eine Grenzregulierung vornahm +(Orelli 570), geschlossen, daß derselbe wenigstens im Jahre nach +Lucullus’ Prätur 679 (75) noch Provinzialland gewesen sein müsse, da +auf italischem Boden der Proprätor nichts zu schaffen habe. Indes nur +innerhalb des Pomerium hört jedes prorogierte Imperium von selber auf; +in Italien dagegen ist auch nach Sullas Ordnung ein solches zwar nicht +regelmäßig vorhanden, aber doch zulässig, und ein außerordentliches ist +das von Lucullus bekleidete Amt doch auf jeden Fall gewesen. Wir können +aber auch nachweisen, wann und wie Lucullus ein solches in dieser +Gegend bekleidet hat. Gerade er war schon vor der Sullanischen +Reorganisation 672 (82) als kommandierender Offizier eben hier tätig +und wahrscheinlich, ebenwie Pompeius, von Sulla mit proprätorischer +Gewalt ausgestattet; in dieser Eigenschaft wird er 672 (82) oder 673 +(81) (vgl. App. 1, 95) die fragliche Grenze reguliert haben. Aus dieser +Inschrift folgt also für die rechtliche Stellung Norditaliens überhaupt +nichts und am wenigsten für die Zeit nach Sullas Diktatur. Dagegen ist +es ein bemerkenswerter Fingerzeig, daß Sulla das römische Pomerium +vorschob (Sen. dial. 10, 14; Dio Cass. 43, 50), was nach römischem +Staatsrecht nur dem gestattet war, der nicht etwa die Reichs-, sondern +die Stadt-, d. h. die italische Grenze vorgerückt hatte. + +^11 Da nach Sizilien zwei, in jede andere Provinz ein Quästor gingen, +überdies die zwei städtischen und die zwei den Konsuln bei der +Kriegsführung beigeordneten und die vier Flottenquästoren bestehen +blieben, so waren hierfür neunzehn Beamte jährlich erforderlich. Die +zwanzigste Quästorenkompetenz läßt sich nicht nachweisen. + +———————————————— + +Zunächst ward hiermit an die Stelle der bisherigen unordentlichen und +zu allen möglichen schlechten Manövern und Intrigen einladenden +Ämterverteilung eine klare und feste Regel gesetzt, dann aber auch den +Ausschreitungen der Beamtengewalt nach Möglichkeit vorgebeugt und der +Einfluß der obersten Regierungsbehörde wesentlich gesteigert. Nach der +bisherigen Ordnung ward in dem Reiche rechtlich nur unterschieden die +Stadt, welche der Mauerring umschloß, und die Landschaft außerhalb des +Pomerium; die neue Ordnung setzte an die Stelle der Stadt das neue, +fortan als ewig befriedet dem regelmäßigen Kommando entzogene Italien +^12 und ihm gegenüber das festländische und überseeische Gebiet, das +umgekehrt notwendig unter Militärkommandanten steht, die von jetzt an +sogenannten Provinzen. Nach der bisherigen Ordnung war derselbe Mann +sehr häufig zwei, oft auch mehr Jahre in demselben Amte verblieben; die +neue Ordnung beschränkte die hauptstädtischen Ämter wie die +Statthalterposten durchaus auf ein Jahr, und die spezielle Verfügung, +daß jeder Statthalter binnen dreißig Tagen, nachdem der Nachfolger in +seinem Sprengel eingetroffen sei, denselben unfehlbar zu verlassen +habe, zeigt sehr klar, namentlich wenn man damit noch das früher +erwähnte Verbot der unmittelbaren Wiederwahl des gewesenen Beamten zu +demselben oder einem anderen Volksamt zusammennimmt, was die Tendenz +dieser Einrichtungen war: es war die alterprobte Maxime, durch die +einst der Senat das Königtum sich dienstbar gemacht hatte, daß die +Beschränkung der Magistratur der Kompetenz nach der Demokratie, die der +Zeit nach der Oligarchie zugute komme. Nach der bisherigen Ordnung +hatte Gaius Marius zugleich als Haupt des Senats und als Oberfeldherr +des Staates amtiert; wenn er es nur seiner eigenen Ungeschicklichkeit +zuzuschreiben hatte, daß es ihm mißlang, mittels dieser doppelten +Amtsgewalt die Oligarchie zu stürzen, so schien nun dafür gesorgt, daß +nicht etwa ein klügerer Nachfolger denselben Hebel besser gebrauche. +Nach der bisherigen Ordnung hatte auch der vom Volke unmittelbar +ernannte Beamte eine militärische Stellung haben können; die +sullanische dagegen behielt diese ausschließlich denjenigen Beamten +vor, die der Senat durch Erstreckung der Amtsfrist in ihrer Amtsgewalt +bestätigte. Zwar war diese Amtsverlängerung jetzt stehend geworden; +dennoch wurde sie den Auspizien und dem Namen, überhaupt der +staatsrechtlichen Formulierung nach auch ferner als außerordentliche +Fristerstreckung behandelt. Es war dies nicht gleichgültig. Den Konsul +oder den Prätor konnte nur die Bürgerschaft seines Amtes entsetzen; den +Prokonsul und den Proprätor ernannte und entließ der Senat, so daß +durch diese Verfügung die gesamte Militärgewalt, auf die denn doch +zuletzt alles ankam, formell wenigstens vom Senat abhängig wurde. + +————————————————————————— + +^12 Die italische Eidgenossenschaft ist viel älter; aber sie ist ein +Staatenbund, nicht, wie das sullanische Italien, ein innerhalb des +Römischen Reiches einheitlich abgegrenztes Staatsgebiet. + +—————————————————————————- + +Daß endlich das höchste aller Ämter, die Zensur, nicht förmlich +aufgehoben, aber in derselben Art beseitigt ward wie ehemals die +Diktatur, ward schon bemerkt. Praktisch konnte man derselben allenfalls +entraten. Für die Ergänzung des Senats war anderweitig gesorgt. Seit +Italien tatsächlich steuerfrei war und das Heer wesentlich durch +Werbung gebildet ward, hatte das Verzeichnis der Steuer- und +Dienstpflichtigen in der Hauptsache seine Bedeutung verloren; und wenn +in der Ritterliste und dem Verzeichnis der Stimmberechtigten Unordnung +einriß, so mochte man dies nicht gerade ungern sehen. Es blieben also +nur die laufenden Finanzgeschäfte, welche die Konsuln schon bisher +verwaltet hatten, wenn, wie dies häufig vorkam, die Zensorenwahl +unterblieben war, und nun als einen Teil ihrer ordentlichen +Amtstätigkeit übernahmen. Gegen den wesentlichen Gewinn, daß der +Magistratur in den Zensoren ihre höchste Spitze entzogen ward, kam +nicht in Betracht und tat der Alleinherrschaft des höchsten +Regierungskollegiums durchaus keinen Eintrag, daß, um die Ambition der +jetzt so viel zahlreicheren Senatoren zu befriedigen, die Zahl der +Pontifices und die der Augurn von neun, die der Orakelbewahrer von zehn +auf je fünfzehn, die der Schmausherren von drei auf sieben vermehrt +ward. + +In dem Finanzwesen stand schon nach der bisherigen Verfassung die +entscheidende Stimme bei dem Senat; es handelte sich demnach hier um +die Wiederherstellung einer geordneten Verwaltung. Sulla hatte +anfänglich sich in nicht geringer Geldnot befunden; die aus Kleinasien +mitgebrachten Summen waren für den Sold des zahlreichen und stets +anschwellenden Heeres bald verausgabt. Noch nach dem Siege am +Collinischen Tor hatte der Senat, da die Staatskasse nach Praeneste +entführt worden war, sich zu Notschritten entschließen müssen. +Verschiedene Bauplätze in der Hauptstadt und einzelne Stücke der +kampanischen Domäne wurden feilgeboten, die Klientelkönige, die +befreiten und bundesgenössischen Gemeinden außerordentlicherweise in +Kontribution gesetzt, zum Teil ihnen ihr Grundbesitz und ihre Zölle +eingezogen, anderswo denselben für Geld neue Privilegien zugestanden. +Indes der bei der Übergabe von Praeneste vorgefundene Rest der +Staatskasse von beiläufig 4 Mill. Talern, die bald beginnenden +Versteigerungen und andere außerordentliche Hilfsquellen halfen der +augenblicklichen Verlegenheit ab. Für die Zukunft aber ward gesorgt +weniger durch die asiatische Abgabenreform, bei der vorzugsweise die +Steuerpflichtigen gewannen und die Staatskasse wohl nur nicht verlor, +als durch die Wiedereinziehung der kampanischen Domäne, wozu jetzt noch +Aenaria gefügt ward, und vor allem durch die Abschaffung der +Kornverteilungen, die seit Gaius Gracchus wie ein Krebs an den +römischen Finanzen gezehrt hatten. + +Dagegen ward das Gerichtswesen wesentlich umgestaltet, teils aus +politischen Rücksichten, teils um in die bisherige sehr unzulängliche +und unzusammenhängende Prozeßlegislation größere Einheit und +Brauchbarkeit zu bringen. Nach der bisherigen Ordnung gingen die +Prozesse zur Entscheidung teils an die Bürgerschaft, teils an +Geschworene. Die Gerichte, in denen die ganze Bürgerschaft auf +Provokation von dem Urteil des Magistrats hin entschied, lagen bis auf +Sulla in den Händen in erster Reihe der Volkstribune, in zweiter der +Ädilen, indem sämtliche Prozesse, durch die ein Beamter oder +Beauftragter der Gemeinde wegen seiner Geschäftsführung zur +Verantwortung gezogen ward, mochten sie auf Leib und Leben oder auf +Geldbußen gehen, von den Volkstribunen, alle übrigen Prozesse, in denen +schließlich das Volk entschied, von den kurulischen oder plebejischen +Ädilen in erster Instanz abgeurteilt, in zweiter geleitet wurden. Sulla +hat den tribunizischen Rechenschaftsprozeß wenn nicht geradezu +abgeschafft, so doch, ebenwie die legislatorische Initiative der +Tribune, von der vorgängigen Einwilligung des Senats abhängig gemacht +und vermutlich auch den ädilizischen Strafprozeß in ähnlicher Weise +beschränkt. Dagegen erweiterte er die Kompetenz der +Geschworenengerichte. Es gab damals ein doppeltes Verfahren vor +Geschworenen. Das ordentliche, welches anwendbar war in allen nach +unserer Auffassung zu einem Kriminal- oder Zivilprozeß sich eignenden +Fällen, mit Ausnahme der unmittelbar gegen den Staat gerichteten +Verbrechen, bestand darin, daß der eine der beiden hauptstädtischen +Gerichtsherren die Sache instruierte und ein von ihm ernannter +Geschworener auf Grund dieser Instruktion entschied. Der +außerordentliche Geschworenenprozeß trat ein in einzelnen wichtigen +Zivil- oder Kriminalfällen, wegen welcher durch besondere Gesetze +anstatt des Einzelgeschworenen ein eigener Geschworenenhof bestellt +worden war. Dieser Art waren teils die für einzelne Fälle +konstituierten Spezialgerichtsstellen; teils die stehenden +Kommissionalgerichtshöfe, wie sie für Erpressungen, für Giftmischerei +und Mord, vielleicht auch für Wahlbestechung und andere Verbrechen im +Laufe des siebenten Jahrhunderts niedergesetzt worden waren; teils +endlich die beiden Höfe der Zehnmänner für den Freiheits- und der +Hundertundfünf- oder kürzer der Hundertmänner für den Erbschaftsprozeß, +auch von dem bei allem Eigentumsstreit gebrauchten Lanzenschaft das +Schaftgericht (hasta) genannt. Der Zehnmännerhof (decemviri litibus +iudicandis) war eine uralte Institution zum Schutze der Plebejer gegen +ihre Herren. Zeit und Veranlassung der Entstehung des Schaftgerichts +liegen im Dunkeln, werden aber vermutlich ungefähr dieselben sein wie +bei den oben erwähnten wesentlich gleichartigen Kriminalkommissionen. +Über die Leitung dieser verschiedenen Gerichtshöfe war in den einzelnen +Gerichtsordnungen verschieden bestimmt; so standen dem +Erpressungsgericht ein Prätor, dem Mordgericht ein aus den gewesenen +Ädilen besonders ernannter Vorstand, dem Schaftgericht mehrere aus den +gewesenen Quästoren genommene Direktoren vor. Die Geschworenen wurden +wenigstens für das ordentliche wie für das außerordentliche Verfahren +in Gemäßheit der Gracchischen Ordnung aus den nichtsenatorischen +Männern von Ritterzensus genommen; die Auswahl stand im allgemeinen den +Magistraten zu, die die Gerichtsleitung hatten, jedoch in der Weise, +daß sie mit dem Antritt ihres Amts die Geschworenenliste ein für +allemal aufzustellen hatten und dann das einzelne Geschworenenkollegium +aus diesen nicht durch freie Auswahl des Magistrats, sondern durch +Losung und durch Rejektion der Parteien gebildet ward. Aus der +Volkswahl gingen nur die Zehnmänner für den Freiheitsprozeß hervor. + +Sullas Reformen waren hauptsächlich dreifacher Art. Einmal vermehrte er +die Zahl der Geschworenenhöfe sehr beträchtlich. Es gab späterhin +besondere Geschworenenkommissionen für Erpressung; für Mord mit +Einschluß von Brandstiftung und falschem Zeugnis; für Wahlbestechung; +ferner für Hochverrat und jede Entehrung des römischen Namens; für die +schwersten Betrugsfälle: Testaments- und Münzfälschung; für Ehebruch; +für die schwersten Ehrverletzungen, namentlich Realinjurien und Störung +des Hausfriedens; vielleicht auch für Unterschlagung öffentlicher +Gelder, für Zinswucher und andere Vergehen; und wenigstens die meisten +dieser Höfe sind von Sulla entweder vorgefunden oder ins Leben gerufen +und von ihm mit einer besonderen Kriminal- und Kriminalprozeßordnung +versehen worden. Übrigens blieb es der Regierung unbenommen, +vorkommendenfalls für einzelne Gruppen von Verbrechen Spezialhöfe zu +bestellen. Folgeweise wurden hierdurch die Volksgerichte im +wesentlichen abgeschafft, namentlich die Hochverratsprozesse an die +neue Hochverratskommission gewiesen, der ordentliche Geschworenenprozeß +bedeutend beschränkt, indem ihm die schwereren Fälschungen und Injurien +entzogen wurden. Was zweitens die Oberleitung der Gerichte anlangt, so +standen, wie schon erwähnt ward, jetzt für die Leitung der +verschiedenen Geschworenenhöfe sechs Prätoren zur Disposition, denen +noch für die am meisten in Anspruch genommene Kommission für Mordtaten +eine Anzahl anderer Dirigenten zugegeben wurden. In die +Geschworenenstellen traten drittens statt der gracchischen Ritter +wieder die Senatoren ein. + +Der politische Zweck dieser Verfügungen, der bisherigen Mitregierung +der Ritter ein Ende zu machen, liegt klar zu Tage; aber ebensowenig +läßt es sich verkennen, daß dieselben nicht bloß politische +Tendenzmaßregeln waren, sondern hier der erste Versuch gemacht wurde, +dem seit den ständischen Kämpfen immer mehr verwilderten römischen +Kriminalprozeß und Kriminalrecht wiederaufzuhelfen. Von dieser +Sullanischen Gesetzgebung datiert sich die dem älteren Recht unbekannte +Scheidung von Kriminal- und Zivilsachen in dem Sinn, den wir noch heute +damit verbinden: als Kriminalsache erscheint seitdem, was vor die von +dem Prätor geleitete Geschworenenbank gehört, als Zivilsache dasjenige +Verfahren, wo der oder die Geschworenen nicht unter prätorischem +Vorsitz funktionieren. Die Gesamtheit der Sullanischen +Quästionenordnungen läßt sich zugleich als das erste römische +Gesetzbuch nach den Zwölf Tafeln und als das erste überhaupt je +besonders erlassene Kriminalgesetzbuch bezeichnen. Aber auch im +einzelnen zeigt sich ein löblicher und liberaler Geist. So seltsam es +von dem Urheber der Proskriptionen klingen mag, so bleibt es darum +nichtsdestoweniger wahr, daß er die Todesstrafe für politische Vergehen +abgeschafft hat; denn da nach römischer, auch von Sulla unverändert +festgehaltener Sitte nur das Volk, nicht die Geschworenenkommission auf +Verlust des Lebens oder auf gefängliche Haft erkennen konnte, so kam +die Übertragung der Hochverratsprozesse von der Bürgerschaft auf eine +stehende Kommission hinaus auf die Abschaffung der Todesstrafe für +solche Vergehen, während andererseits in der Beschränkung der +verderblichen Spezialkommissionen für einzelne Hochverratsfälle, wie +deren eine die Varische im Bundesgenossenkrieg gewesen war; gleichfalls +ein Fortschritt zum Besseren lag. Die gesamte Reform ist von ungemeinem +und dauerndem Nutzen gewesen und ein bleibendes Denkmal des +praktischen, gemäßigten, staatsmännischen Geistes, der ihren Urheber +wohl würdig machte, gleich den alten Dezemvirn als souveräner +Vermittler mit der Rolle des Gesetzes zwischen die Parteien zu treten. + +Als einen Anhang zu diesen Kriminalgesetzen mag man die polizeilichen +Ordnungen betrachten, durch welche Sulla, das Gesetz an die Stelle des +Zensors setzend, gute Zucht und strenge Sitte wieder einschärfte und +durch Feststellung neuer Maximalsätze anstatt der alten längst +verschollenen den Luxus bei Mahlzeiten, Begräbnissen und sonst zu +beschränken versuchte. + +Endlich ist wenn nicht Sullas, doch das Werk der sullanischen Epoche +die Entwicklung eines selbständigen römischen Munizipalwesens. Dem +Altertum ist der Gedanke, die Gemeinde als ein untergeordnetes +politisches Ganze dem höheren Staatsganzen organisch einzufügen, +ursprünglich fremd; die Despotie des Ostens kennt städtische +Gemeinwesen im strengen Sinne des Worts nicht und in der ganzen +hellenisch-italischen Welt fällt Stadt und Staat notwendig zusammen. +Insofern gibt es in Griechenland wie in Italien von Haus aus ein +eigenes Munizipalwesen nicht. Vor allem die römische Politik hielt mit +der ihr eigenen zähen Konsequenz hieran fest; noch im sechsten +Jahrhundert wurden die abhängigen Gemeinden Italiens entweder, um ihnen +ihre munizipale Verfassung zu bewahren, als formell souveräne +Nichtbürgerstaaten konstituiert oder, wenn sie römisches Bürgerrecht +erhielten, zwar nicht gehindert, sich als Gesamtheit zu organisieren, +aber doch der eigentlich munizipalen Rechte beraubt, so daß in allen +Bürgerkolonien und Bürgermunizipien selbst die Rechtspflege und das +Bauwesen von den römischen Prätoren und Zensoren verwaltet ward. Das +Höchste, wozu man sich verstand, war durch einen von Rom aus ernannten +Stellvertreter (praefectus) des Gerichtsherrn wenigstens die +dringendsten Rechtssachen an Ort und Stelle erledigen zu lassen. Nicht +anders verfuhr man in den Provinzen, außer daß hier an die Stelle der +hauptstädtischen Behörden der Statthalter trat. In den freien, das +heißt formell souveränen Städten ward die Zivil- oder +Kriminaljurisdiktion von den Munizipalbeamten nach den Lokalstatuten +verwaltet; nur daß freilich, wo nicht ganz besondere Privilegien +entgegenstanden, jeder Römer sowohl als Beklagter wie als Kläger +verlangen konnte, seine Sache vor italischen Richtern nach italischem +Recht entschieden zu sehen. Für die gewöhnlichen Provinzialgemeinden +war der römische Statthalter die einzige regelmäßige Gerichtsbehörde, +der die Instruierung aller Prozesse oblag. Es war schon viel, wenn, wie +in Sizilien, in dem Fall, daß der Beklagte ein Siculer war, der +Statthalter durch das Provinzialstatut gehalten war, einen +einheimischen Geschworenen zu geben und nach Ortsgebrauch entscheiden +zu lassen; in den meisten Provinzen scheint auch dies vom Gutfinden des +instruierenden Beamten abgehangen zu haben. + +Im siebenten Jahrhundert ward diese unbedingte Zentralisation des +öffentlichen Lebens der römischen Gemeinde in dem einen Mittelpunkt Rom +wenigstens für Italien aufgegeben. Seit dies eine einzige städtische +Gemeinde war und das Stadtgebiet vom Arnus und Rubico bis hinab zur +sizilischen Meerenge reichte, mußte man wohl sich entschließen, +innerhalb dieser großen wiederum kleinere Stadtgemeinden zu bilden. So +ward Italien nach Vollbürgergemeinden organisiert, bei welcher +Gelegenheit man zugleich die durch ihren Umfang gefährlichen größeren +Gaue, soweit dies nicht schon früher geschehen war, in mehrere kleinere +Stadtbezirke aufgelöst haben mag. Die Stellung dieser neuen +Vollbürgergemeinden war ein Kompromiß zwischen derjenigen, die ihnen +bis dahin als Bundesstaaten zugekommen war, und derjenigen, die ihnen +als integrierenden Teilen der römischen Gemeinde nach älterem Recht +zugekommen sein würde. Zugrunde lag im ganzen die Verfassung der +bisherigen formell souveränen latinischen oder auch, insofern deren +Verfassung in den Grundzügen der römischen gleich ist, die der +römischen altpatrizisch-konsularischen Gemeinde; nur daß darauf +gehalten ward, für dieselben Institutionen in dem Munizipium andere und +geringere Namen zu verwenden als in der Hauptstadt, das heißt im Staat. +Eine Bürgerversammlung tritt an die Spitze mit der Befugnis, +Gemeindestatute zu erlassen und die Gemeindebeamten zu ernennen. Ein +Gemeinderat von hundert Mitgliedern übernimmt die Rolle des römischen +Senats. Das Gerichtswesen wird verwaltet von vier Gerichtsherren, zwei +ordentlichen Richtern, die den beiden Konsuln, zwei Marktrichtern, die +den kurulischen Ädilen entsprechen. Die Zensurgeschäfte, die wie in Rom +von fünf zu fünf Jahr sich erneuerten und allem Anschein nach +vorwiegend in der Leitung der Gemeindebauten bestanden, wurden von den +höchsten Gemeindebeamten, also den beiden ordentlichen Gerichtsherren, +mit übernommen, welche in diesem Fall den auszeichnenden Titel der +“Gerichtsherren mit zensorischer oder Fünfjahrgewalt” annahmen. Die +Gemeindekasse verwalteten zwei Quästoren. Für das Sakralwesen sorgten +zunächst die beiden der ältesten latinischen Verfassung allein +bekannten Kollegien priesterlicher Sachverständigen, die munizipalen +Pontifices und Augurn. + +Was das Verhältnis dieses sekundären politischen Organismus zu dem +primären des Staates anlangt, so standen im allgemeinen jenem wie +diesem die politischen Befugnisse vollständig zu und band also der +Gemeindebeschluß und das Imperium der Gemeindebeamten den +Gemeindebürger ebenso wie der Volksbeschluß und das konsularische +Imperium den Römer. Dies führte im ganzen zu einer konkurrierenden +Tätigkeit der Staats- und der Stadtbehörden: Es hatten beispielsweise +beide das Recht der Schatzung und Besteuerung, ohne daß bei den +etwaigen städtischen Schatzungen und Steuern die von Rom +ausgeschriebenen oder bei diesen jene berücksichtigt worden wären; es +durften öffentliche Bauten sowohl von den römischen Beamten in ganz +Italien als auch von den städtischen in ihrem Sprengel angeordnet +werden, und was dessen mehr ist. Im Kollisionsfall wich natürlich die +Gemeinde dem Staat und brach der Volksschluß den Stadtschluß. Eine +förmliche Kompetenzteilung fand wohl nur in der Rechtspflege statt, wo +das reine Konkurrenzsystem zu der größten Verwirrung geführt haben +würde; hier wurden im Kriminalprozeß vermutlich alle Kapitalsachen, im +Zivilverfahren die schwereren, und ein selbständiges Auftreten der +dirigierenden Beamten voraussetzenden Prozesse den hauptstädtischen +Behörden und Geschworenen vorbehalten und die italischen Stadtgerichte +auf die geringeren und minder verwickelten oder auch sehr dringenden +Rechtshändel beschränkt. + +Die Entstehung dieses italischen Gemeindewesens ist nicht überliefert. +Es ist wahrscheinlich, daß sie in ihren Anfängen zurückgeht auf +Ausnahmebestimmungen für die großen Bürgerkolonien, die am Ende des +sechsten Jahrhunderts gegründet wurden; wenigstens deuten einzelne, an +sich gleichgültige formelle Differenzen zwischen Bürgerkolonien und +Bürgermunizipien darauf hin, daß die neue, damals praktisch an die +Stelle der latinischen tretende Bürgerkolonie ursprünglich eine bessere +staatsrechtliche Stellung gehabt hat als das weit ältere +Bürgermunizipium, und diese Bevorzugung kann wohl nur bestanden haben +in einer der latinischen sich annähernden Gemeindeverfassung, wie sie +späterhin sämtlichen Bürgerkolonien wie Bürgermunizipien zukam. +Bestimmt nachweisen läßt sich die neue Ordnung zuerst für die +revolutionäre Kolonie Capua, und keinem Zweifel unterliegt es, daß sie +ihre volle Anwendung erst fand, als die sämtlichen bisher souveränen +Städte Italiens infolge des Bundesgenossenkriegs als Bürgergemeinden +organisiert werden mußten. Ob schon das Julische Gesetz, ob die +Zensoren von 668 (86), ob erst Sulla das einzelne geordnet hat, läßt +sich nicht entscheiden; die Übertragung der zensorischen Geschäfte auf +die Gerichtsherren scheint zwar nach Analogie der Sullanischen, die +Zensur beseitigenden Ordnung eingeführt zu sein, kann aber auch +ebensogut auf die älteste latinische Verfassung zurückgehen, die ja +auch die Zensur nicht kannte. Auf alle Fälle ist diese dem eigentlichen +Staat sich ein- und unterordnende Stadtverfassung eines der +merkwürdigsten und folgenreichsten Erzeugnisse der sullanischen Zeit +und des römischen Staatslebens überhaupt. Staat und Stadt +ineinanderzufügen hat allerdings das Altertum ebensowenig vermocht, als +es vermocht hat, das repräsentative Regiment und andere große +Grundgedanken unseres heutigen Staatslebens aus sich zu entwickeln; +aber es hat seine politische Entwicklung bis an diejenigen Grenzen +geführt, wo diese die gegebenen Maße überwächst und sprengt, und vor +allem ist dies in Rom geschehen, das in jeder Beziehung an der Scheide +und in der Verbindung der alten und der neuen geistigen Welt steht. In +der Sullanischen Verfassung sind einerseits die Urversammlung und der +städtische Charakter des Gemeinwesens Rom fast zur bedeutungslosen Form +zusammengeschwunden, andererseits die innerhalb des Staates stehende +Gemeinde schon in der italischen vollständig entwickelt; bis auf den +Namen, der freilich in solchen Dingen die Hälfte der Sache ist, hat +diese letzte Verfassung der freien Republik das Repräsentativsystem und +den auf den Gemeinden sich aufbauenden Staat durchgeführt. + +Das Gemeindewesen in den Provinzen ward hierdurch nicht geändert; die +Gemeindebehörden der unfreien Städte blieben vielmehr, von besonderen +Ausnahmen abgesehen, beschränkt auf Verwaltung und Polizei und auf +diejenige Jurisdiktion, welche die römischen Behörden vorzogen, nicht +selbst in die Hand zu nehmen. + +Dieses war die Verfassung, die Lucius Cornelius Sulla der Gemeinde Rom +gab. Senat und Ritterstand, Bürgerschaft und Proletariat, Italiker und +Provinzialen nahmen sie hin, wie sie vom Regenten ihnen diktiert ward, +wenn nicht ohne zu grollen, doch ohne sich aufzulehnen; nicht so die +Sullanischen Offiziere. Das römische Heer hatte seinen Charakter +gänzlich verändert. Es war allerdings durch die Marianische Reform +wieder schlagfertiger und militärisch brauchbarer geworden, als da es +vor den Mauern von Numantia nicht focht; aber es hatte zugleich sich +aus einer Bürgerwehr in eine Schar von Lanzknechten verwandelt, welche +dem Staat gar keine und dem Offizier nur dann Treue bewiesen, wenn er +verstand, sie persönlich an sich zu fesseln. Diese völlige Umgestaltung +des Armeegeistes hatte der Bürgerkrieg in gräßlicher Weise zur Evidenz +gebracht: sechs kommandierende Generale, Albinus, Cato, Rufus, Flaccus, +Cinna und Gaius Carbo, waren während desselben gefallen von der Hand +ihrer Soldaten; einzig Sulla hatte bisher es vermocht, der gefährlichen +Meute Herr zu bleiben, freilich nur, indem er allen ihren wilden +Begierden den Zügel schießen ließ wie noch nie vor ihm ein römischer +Feldherr. Wenn deshalb ihm der Verderb der alten Kriegszucht schuld +gegeben wird, so ist dies nicht gerade unrichtig, aber dennoch +ungerecht; er war eben der erste römische Beamte, der seiner +militärischen und politischen Aufgabe nur dadurch zu genügen imstande +war, daß er auftrat als Condottiere. Aber er hatte die Militärdiktatur +nicht übernommen, um den Staat der Soldateska untertänig zu machen, +sondern vielmehr, um alles im Staat, vor allem aber das Heer und die +Offiziere, unter die Gewalt der bürgerlichen Ordnung zurückzuzwingen. +Wie dies offenbar ward, erhob sich gegen ihn eine Opposition mit seinem +eigenen Stab. Mochte den übrigen Bürgern gegenüber die Oligarchie den +Tyrannen spielen; aber daß auch die Generale, die mit ihrem guten +Schwert die umgestürzten Senatorensessel wieder aufgerichtet hatten, +jetzt ebendiesem Senat unweigerlichen Gehorsam zu leisten aufgefordert +wurden, schien unerträglich. Eben die beiden Offiziere, denen Sulla das +meiste Vertrauen geschenkt hatte, widersetzten sich der neuen Ordnung +der Dinge. Als Gnaeus Pompeius, den Sulla mit der Eroberung von +Sizilien und Afrika beauftragt und zu seinem Tochtermanne erkoren +hatte, nach Vollzug seiner Aufgabe vom Senat den Befehl erhielt, sein +Heer zu entlassen, unterließ er es zu gehorsamen und wenig fehlte an +offenem Aufstand. Quintus Ofella, dessen festem Ausharren vor Praeneste +wesentlich der Erfolg des letzten und schwersten Feldzuges verdankt +ward, bewarb sich in ebenso offenem Widerspruch gegen die neu +erlassenen Ordnungen um das Konsulat, ohne die niederen Ämter bekleidet +zu haben. Mit Pompeius kam, wenn nicht eine herzliche Aussöhnung, doch +ein Vergleich zustande. Sulla, der seinen Mann genug kannte, um ihn +nicht zu fürchten, nahm die Impertinenz hin, die Pompeius ihm ins +Gesicht sagte, daß mehr Leute sich um die aufgehende Sonne kümmerten +als um die untergehende, und bewilligte dem eitlen Jüngling die leeren +Ehrenbezeigungen, an denen sein Herz hing. Wenn er hier sich läßlich +zeigte, so bewies er dagegen Ofella gegenüber, daß er nicht der Mann +war, sich von seinen Marschällen imponieren zu lassen: So wie dieser +verfassungswidrig als Bewerber vor das Volk trat, ließ ihn Sulla auf +öffentlichem Marktplatz niederstoßen und setzte sodann der versammelten +Bürgerschaft auseinander, daß die Tat auf seinen Befehl und warum sie +vollzogen sei. So verstummte zwar für jetzt diese bezeichnende +Opposition des Hauptquartiers gegen die neue Ordnung der Dinge; aber +sie blieb bestehen und gab den praktischen Kommentar zu Sullas Worten, +daß das, was er diesmal tue, nicht zum zweitenmal getan werden könne. + +Eines blieb noch übrig -vielleicht das schwerste von allem: die +Zurückführung der Ausnahmezustände in die neualten gesetzlichen Bahnen. +Sie ward dadurch erleichtert, daß Sulla dieses letzte Ziel nie aus den +Augen verloren hatte. Obwohl das Valerische Gesetz ihm absolute Gewalt +und jeder seiner Verordnungen Gesetzeskraft gegeben, hatte er dennoch +dieser exorbitanten Befugnis sich nur bei Maßregeln bedient, die von +vorübergehender Bedeutung waren und wo die Beteiligung Rat und +Bürgerschaft bloß nutzlos kompromittiert haben würde, namentlich bei +den Ächtungen. Regelmäßig hatte er schon selbst diejenigen Bestimmungen +beobachtet, die er für die Zukunft vorschrieb. Daß das Volk befragt +ward, lesen wir in dem Quästorengesetz, das zum Teil noch vorhanden +ist, und von anderen Gesetzen, zum Beispiel dem Aufwandgesetz und denen +über die Konfiskation der Feldmarken, ist es bezeugt. Ebenso ward bei +wichtigeren Administrativakten, zum Beispiel bei der Entsendung und +Zurückberufung der afrikanischen Armee und bei Erteilung von +städtischen Freibriefen, der Senat vorangestellt. In demselben Sinn +ließ Sulla schon für 673 (81) Konsuln wählen, wodurch wenigstens die +gehässige offizielle Datierung nach der Regentschaft vermieden ward; +doch blieb die Macht noch ausschließlich bei dem Regenten und ward die +Wahl auf sekundäre Persönlichkeiten geleitet. Aber im Jahre darauf (674 +80) setzte Sulla die ordentliche Verfassung wieder vollständig in +Wirksamkeit und verwaltete als Konsul in Gemeinschaft mit seinem +Waffengenossen Quintus Metellus den Staat, während er die Regentschaft +zwar noch beibehielt, aber vorläufig ruhen ließ. Er begriff es wohl, +wie gefährlich es eben für seine eigenen Institutionen war, die +Militärdiktatur zu verewigen. Da die neuen Zustände sich haltbar zu +erweisen schienen, und von den neuen Einrichtungen zwar manches, +namentlich in der Kolonisierung, noch zurück, aber doch das meiste und +wichtigste vollendet war, so ließ er den Wahlen für 675 (79) freien +Lauf, lehnte die Wiederwahl zum Konsulat als mit seinen eigenen +Verordnungen unvereinbar ab und legte, bald nachdem die neuen Konsuln +Publius Servilius und Appius Claudius ihr Amt angetreten hatten, im +Anfang des Jahres 675 (79) die Regentschaft nieder. Es ergriff selbst +starre Herzen, als der Mann, der bis dahin mit dem Leben und dem +Eigentum von Millionen nach Willkür geschaltet hatte, auf dessen Wink +so viele Häupter gefallen waren, dem in jeder Gasse Roms, in jeder +Stadt Italiens Todfeinde wohnten und der ohne einen ebenbürtigen +Verbündeten, ja genau genommen ohne den Rückhalt einer festen Partei +sein tausend Interessen und Meinungen verletzendes Werk der +Reorganisation des Staates zu Ende geführt hatte, als dieser Mann auf +den Marktplatz der Hauptstadt trat, sich seiner Machtfülle freiwillig +begab, seine bewaffneten Begleiter verabschiedete, seine Gerichtsdiener +entließ und die dichtgedrängte Bürgerschaft aufforderte zu reden, wenn +einer von ihm Rechenschaft begehre. Alles schwieg; Sulla stieg herab +von der Rednerbühne und zu Fuß, nur von den Seinigen begleitet, ging er +mitten durch ebenjenen Pöbel, der ihm vor acht Jahren das Haus +geschleift hatte, zurück nach seiner Wohnung. + +Die Nachwelt hat weder Sulla selbst noch sein Reorganisationswerk +richtig zu würdigen verstanden, wie sie denn unbillig zu sein pflegt +gegen die Persönlichkeiten, die dem Strom der Zeiten sich +entgegenstemmen. In der Tat ist Sulla eine von den wunderbarsten, man +darf vielleicht sagen eine einzige Erscheinung in der Geschichte. +Physisch und psychisch ein Sanguiniker, blauäugig, blond, von +auffallend weißer, aber bei jeder leidenschaftlichen Bewegung sich +rötender Gesichtsfarbe, übrigens ein schöner, feurig blickender Mann, +schien er nicht eben bestimmt, dem Staat mehr zu sein als seine Ahnen, +die seit seines Großvaters Großvater Publius Cornelius Rufinus (Konsul +464, 477 290, 277), einem der angesehensten Feldherrn und zugleich dem +prunkliebendsten Mann der pyrrhischen Zeit, in Stellungen zweiten +Ranges verharrt hatten. Er begehrte vom Leben nichts als heiteren +Genuß. Aufgewachsen in dem Raffinement des gebildeten Luxus, wie er in +jener Zeit auch in den minder reichen senatorischen Familien Roms +einheimisch war, bemächtigte er rasch und bebend sich der ganzen Fülle +sinnlich geistiger Genüsse, welche die Verbindung hellenischer Feinheit +und römischen Reichtums zu gewähren vermochten. Im adligen Salon und +unter dem Lagerzelt war er gleich willkommen als angenehmer +Gesellschafter und guter Kamerad; vornehme und geringe Bekannte fanden +in ihm den teilnehmenden Freund und den bereitwilligen Helfer in der +Not, der sein Geld weit lieber seinem bedrängten Genossen als seinem +reichen Gläubiger gönnte. Leidenschaftlich huldigte er dem Becher, noch +leidenschaftlicher den Frauen; selbst in seinen späteren Jahren war er +nicht mehr Regent, wenn er nach vollbrachtem Tagesgeschäft sich zur +Tafel setzte. Ein Zug der Ironie, man könnte vielleicht sagen der +Bouffonnerie, geht durch seine ganze Natur. Noch als Regent befahl er, +während er die Versteigerung der Güter der Geächteten leitete, für ein +ihm überreichtes schlechtes Lobgedicht dem Verfasser eine Verehrung aus +der Beute zu verabreichen unter der Bedingung, daß er gelobe, ihn +niemals wieder zu besingen. Als er vor der Bürgerschaft Ofenas +Hinrichtung rechtfertigte, geschah es, indem er den Leuten die Fabel +erzählte von dem Ackersmann und den Läusen. Seine Gesellen wählte er +gern unter den Schauspielern und liebte es, nicht bloß mit Quintus +Roscius, dem römischen Talma, sondern auch mit viel geringeren +Bühnenleuten beim Weine zu sitzen; wie er denn auch selbst nicht +schlecht sang und sogar zur Aufführung in seinem Zirkel selber Possen +schrieb. Doch ging in diesen lustigen Bacchanalien ihm weder die +körperliche noch die geistige Spannkraft verloren; noch in der +ländlichen Muße seiner letzten Jahre lag er eifrig der Jagd ob, und daß +er aus dem eroberten Athen die Aristotelischen Schriften nach Rom +brachte, beweist doch wohl für sein Interesse auch an ernsterer +Lektüre. Das spezifische Römertum stieß ihn eher ab. Von der plumpen +Morgue, die die römischen Großen gegenüber den Griechen zu entwickeln +liebten, und von der Feierlichkeit beschränkter großer Männer hatte +Sulla nichts, vielmehr ließ er gern sich gehen, erschien wohl zum +Skandal mancher seiner Landsleute in griechischen Städten in +griechischer Tracht oder veranlaßte seine adligen Gesellen, bei den +Spielen selber die Rennwagen zu lenken. Noch weniger war ihm von den +halb patriotischen, halb egoistischen Hoffnungen geblieben, die in +Ländern freier Verfassung jede jugendliche Kapazität auf den +politischen Tummelplatz locken und die auch er wie jeder andere einmal +empfunden haben mag; in einem Leben, wie das seine war, schwankend +zwischen leidenschaftlichem Taumel und mehr als nüchternem Erwachen, +verzetteln sich rasch die Illusionen. Wünschen und Streben mochte ihm +eine Torheit erscheinen in einer Welt, die doch unbedingt vom Zufall +regiert ward und wo, wenn überhaupt auf etwas, man ja doch auf nichts +spannen konnte als auf diesen Zufall. Dem allgemeinen Zug der Zeit, +zugleich dem Unglauben und dem Aberglauben, sich zu ergeben folgte auch +er. Seine wunderliche Gläubigkeit ist nicht der plebejische +Köhlerglaube des Marius, der von dem Pfaffen für Geld sich wahrsagen +und seine Handlungen durch ihn bestimmen läßt; noch weniger der +finstere Verhängnisglaube des Fanatikers, sondern jener Glaube an das +Absurde, wie er bei jedem von dem Vertrauen auf eine zusammenhängende +Ordnung der Dinge durch und durch zurückgekommenen Menschen notwendig +sich einstellt, der Aberglaube des glücklichen Spielers, der sich vom +Schicksal privilegiert erachtet, jedesmal und überall die rechte Nummer +zu werfen. In praktischen Fragen verstand Sulla sehr wohl, mit den +Anforderungen der Religion ironisch sich abzufinden. Als er die +Schatzkammern der griechischen Tempel leerte, äußerte er, daß es +demjenigen nimmermehr fehlen könne, dem die Götter selbst die Kasse +füllten. Als die delphischen Priester ihm berichteten, daß sie sich +scheuten, die verlangten Schätze zu senden, da die Zither des Gottes +hell geklungen, als man sie berührt, ließ er ihnen zurücksagen, daß man +sie nun um so mehr schicken möge, denn offenbar stimme der Gott seinem +Vorhaben zu. Aber darum wiegte er nicht weniger gern sich in dem +Gedanken, der auserwählte Liebling der Götter zu sein, ganz besonders +jener, der er bis in seine späten Jahre vor allen den Preis gab, der +Aphrodite. In seinen Unterhaltungen wie in seiner Selbstbiographie +rühmte er sich vielfach des Verkehrs, den in Träumen und Anzeichen die +Unsterblichen mit ihm gepflogen. Er hatte wie wenig andere ein Recht, +auf seine Taten stolz zu sein; er war es nicht, wohl aber stolz auf +sein einzig treues Glück. Er pflegte wohl zu sagen, daß jedes +improvisierte Beginnen ihm besser ausgeschlagen sei als das planmäßig +angelegte, und eine seiner wunderlichsten Marotten, die Zahl der in den +Schlachten auf seiner Seite gefallenen Leute regelmäßig als null +anzugeben, ist doch auch nichts als die Kinderei eines Glückskindes. Es +war nur der Ausdruck der ihm natürlichen Stimmung, als er, auf dem +Gipfel seiner Laufbahn angelangt und alle seine Zeitgenossen in +schwindelnder Tiefe unter sich sehend, die Bezeichnung des Glücklichen, +Sulla Felix, als förmlichen Beinamen annahm und auch seinen Kindern +entsprechende Benennungen beilegte. + +Nichts lag Sulla ferner als der planmäßige Ehrgeiz. Er war zu gescheit, +um gleich den Dutzendaristokraten seiner Zeit die Verzeichnung seines +Namens in die konsularischen Register als das Ziel seines Lebens zu +betrachten; zu gleichgültig und zu wenig Ideolog, um sich mit der +Reform des morschen Staatsgebäudes freiwillig befassen zu mögen. Er +blieb, wo Geburt und Bildung ihn hinwiesen, in dem Kreis der vornehmen +Gesellschaft und machte wie üblich die Ämterlaufbahn durch; Ursache +sich anzustrengen hatte er nicht und überließ dies den politischen +Arbeitsbienen, an denen es ja nicht fehlte. So führte ihn im Jahre 647 +(107) bei der Verlosung der Quästorenstellen der Zufall nach Afrika in +das Hauptquartier des Gaius Marius. Der unversuchte hauptstädtische +Elegant ward von dem rauben bäurischen Feldherrn und seinem erprobten +Stab nicht zum besten empfangen. Durch diese Aufnahme gereizt, machte +Sulla, furchtlos und anstellig wie er war, im Fluge das Waffenhandwerk +sich zu eigen und entwickelte auf dem verwegenen Zug nach Mauretanien +zuerst jene eigentümliche Verbindung von Keckheit und Verschmitztheit, +wegen deren seine Zeitgenossen von ihm sagten, daß er halb Löwe, halb +Fuchs und der Fuchs in ihm gefährlicher sei als der Löwe. Dem jungen, +hochgeborenen, brillanten Offizier, der anerkanntermaßen der +eigentliche Beendiger des lästigen Numidischen Krieges war, öffnete +jetzt sich die glänzendste Laufbahn; er nahm auch teil am Kimbrischen +Krieg und offenbarte in der Leitung des schwierigen +Verpflegungsgeschäftes sein ungemeines Organisationstalent; +nichtsdestoweniger zogen ihn auch jetzt die Freuden des +hauptstädtischen Lebens weit mehr an als Krieg oder gar Politik. In der +Prätur, welches Amt er, nachdem er sich einmal vergeblich beworben +hatte, im Jahre 661 (93) übernahm, fügte es sich abermals, daß ihm in +seiner Provinz, der unbedeutendsten von allen, der erste Sieg über +König Mithradates und der erste Vertrag mit den mächtigen Arsakiden +sowie deren erste Demütigung gelang. Der Bürgerkrieg folgte. Sulla war +es wesentlich, der den ersten Akt desselben, die italische Insurrektion +zu Roms Gunsten entschied und dabei mit dem Degen das Konsulat sich +gewann; er war es ferner, der als Konsul den Sulpicischen Aufstand mit +energischer Raschheit zu Boden schlug. Das Glück schien sich ein +Geschäft daraus zu machen, den alten Helden Marius durch diesen +jüngeren Offizier zu verdunkeln. Die Gefangennehmung Jugurthas, die +Besiegung Mithradats, die beide Marius vergeblich erstrebt hatte, +wurden in untergeordneten Stellungen von Sulla vollführt; im +Bundesgenossenkrieg, in dem Marius seinen Feldherrnruhm einbüßte und +abgesetzt ward, gründete Sulla seinen militärischen Ruf und stieg empor +zum Konsulat; die Revolution von 666 (88), die zugleich und vor allem +ein persönlicher Konflikt zwischen den beiden Generalen war, endigte +mit Marius’ Ächtung und Flucht. Fast ohne es zu wollen war Sulla der +berühmteste Feldherr seiner Zeit, der Hort der Oligarchie geworden. Es +folgten neue und furchtbarere Krisen, der Mithradatische Krieg, die +Cinnanische Revolution: Sullas Stern blieb immer im Steigen. Wie der +Kapitän, der das brennende Schiff nicht löscht, sondern fortfährt, auf +den Feind zu feuern, harrte Sulla, während die Revolution in Italien +tobte, in Asien unerschüttert aus, bis der Landesfeind gezwungen war. +Mit diesem fertig, zerschmetterte er die Anarchie und rettete die +Hauptstadt vor der Brandfackel der verzweifelnden Samniten und +Revolutionäre. Der Moment der Heimkehr war für Sulla ein +überwältigender in Freude und in Schmerz; er selbst erzählt in seinen +Memoiren, daß er die erste Nacht in Rom kein Auge habe zutun können, +und wohl mag man es glauben. Aber immer noch war seine Aufgabe nicht zu +Ende, sein Stern in weiterem Steigen. Absoluter Selbstherrscher wie nur +je ein König und doch durchaus verharrend auf dem Boden des formellen +Rechts, zügelte er die ultrareaktionäre Partei, vernichtete die seit +vierzig Jahren die Oligarchie einengende Gracchische Verfassung und +zwang zuerst die der Oligarchie Konkurrenz machenden Mächte der +Kapitalisten und des hauptstädtischen Proletariats, endlich den im +Schoße seines eigenen Stabes erwachsenen Übermut des Säbels wieder +unter das neu befestigte Gesetz. Selbständiger als je stellte er die +Oligarchie hin, legte die Beamtenmacht als dienendes Werkzeug in ihre +Hände, verlieh ihr die Gesetzgebung, die Gerichte, die militärische und +finanzielle Obergewalt und gab ihr eine Art Leibwache in den befreiten +Sklaven, eine Art Heer in den angesiedelten Militärkolonisten. Endlich, +als das Werk vollendet war, trat der Schöpfer zurück von seiner +Schöpfung; freiwillig ward der absolute Selbstherrscher wieder +einfacher Senator. In dieser ganzen langen militärischen und +politischen Bahn hat Sulla nie eine Schlacht verloren, nie einen +Schritt zurücktun müssen und ungeirrt von Feinden und Freunden sein +Werk geführt bis an das selbstgesteckte Ziel. Wohl hatte er Ursache, +seinen Stern zu preisen. Die launenhafte Göttin des Glücks schien hier +einmal die Laune der Beständigkeit angewandelt und sie darin sich +gefallen zu haben, auf ihren Liebling an Erfolgen und Ehren zu häufen, +was er begehrte und nicht begehrte. Aber die Geschichte wird gerechter +gegen ihn sein müssen, als er es gegen sich selber war, und ihn in eine +höhere Reihe stellen als in die der bloßen Favoriten der Fortuna. + +Nicht als wäre die Sullanische Verfassung ein Werk politischer +Genialität, wie zum Beispiel die Gracchische und die Caesarische. Es +begegnet in ihr, wie dies ja schon das Wesen der Restauration mit sich +bringt, auch nicht ein staatsmännisch neuer Gedanke; alle ihre +wesentlichsten Momente: der Eintritt in den Senat durch Bekleidung der +Quästur, die Aufhebung des zensorischen Rechts, den Senator aus dem +Senate zu stoßen, die legislatorische Initiative des Senats, die +Verwandlung des tribunizischen Amtes in ein Werkzeug des Senats zur +Fesselung des Imperiums, die Erstreckung der Dauer des Oberamts auf +zwei Jahre, der Übergang des Kommandos von dem Volksmagistrat auf den +senatorischen Prokonsul oder Proprätor, selbst die neue Kriminal- und +Munizipalordnung sind nicht von Sulla geschaffene, sondern früher schon +aus dem oligarchischen Regiment entwickelte und durch ihn nur +regulierte und fixierte Institutionen. Ja selbst die seiner +Restauration anhaftenden Greuel, die Ächtungen und Konfiskationen, sind +sie, verglichen mit den Taten der Nasica, Popillius, Opimius, Caepio +und so weiter, etwas anderes als die rechtliche Formulierung der +hergebrachten oligarchischen Weise, sich der Gegner zu entledigen? Über +die römische Oligarchie dieser Zeit nun gibt es kein Urteil als +unerbittliche und rücksichtslose Verdammung; und wie alles andere, was +ihr anhängt, ist davon auch die Sullanische Verfassung vollständig +mitbetroffen. Das von der Genialität des Bösen bestochene Lob +versündigt sich an dem heiligen Geist der Geschichte; aber daran wird +man doch erinnern dürfen, daß weit weniger Sulla die Sullanische +Restauration zu verantworten hat als die seit Jahrhunderten als Clique +regierende und mit jedem Jahr mehr der greisenhaften Entnervung und +Verbissenheit verfallende römische Aristokratie insgesamt, und daß +alles, was darin schal, und alles, was darin verrucht ist, am letzten +Ende auf diese zurückfällt. Sulla hat den Staat reorganisiert, aber +nicht wie der Hausherr, der sein zerrüttetes Gewese und Gesinde nach +eigener Einsicht in Ordnung bringt, sondern wie der zeitweilige +Geschäftsführer, der seiner Anweisung getreu nachkommt; es ist flach +und falsch, in diesem Falle die schließliche und wesentliche +Verantwortung von dem Geschäftsherrn ab auf den Verwalter zu wälzen. +Man schlägt Sullas Bedeutung viel zu hoch an oder findet vielmehr mit +jenen schauderhaften, nie wiedergutzumachenden und nie +wiedergutgemachten Proskriptionen, Expropriationen und Restaurationen +viel zu leicht sich ab, wenn man sie als das Werk eines zufällig an die +Spitze des Staats geratenen Wüterichs ansieht. Adelstaten waren dies +und Restaurationsterrorismus, Sulla aber nicht mehr dabei als, mit dem +Dichter zu reden, das hinter dem bewußten Gedanken unbewußt +herwandelnde Richtbeil. Diese Rolle hat Sulla mit wunderbarer, ja +dämonischer Vollkommenheit durchgeführt; innerhalb der Grenzen aber, +die sie ihm gezogen, hat er nicht bloß großartig, sondern selbst +nützlich gewirkt. Nie wieder hat eine tief gesunkene und stetig tiefer +sinkende Aristokratie, wie die römische damals war, einen Vormund +gefunden, der so wie Sulla willig und fähig war, ohne jede Rücksicht +auf eigenen Machtgewinn für sie den Degen des Feldherrn und den Griffel +des Gesetzgebers zu führen. Es ist freilich ein Unterschied, ob ein +Offizier aus Bürgersinn das Szepter verschmäht oder aus Blasiertheit es +wegwirft; aber in der völligen Abwesenheit des politischen Egoismus - +freilich auch nur in diesem einen - verdient Sulla neben Washington +genannt zu werden. Aber nicht bloß die Aristokratie, das gesamte Land +ward ihm mehr schuldig, als die Nachwelt gern sich eingestand. Sulla +hat die italische Revolution, insoweit sie beruhte auf der +Zurücksetzung einzelner minder berechtigter gegen andere besser +berechtigte Distrikte, endgültig geschlossen und ist, indem er sich und +seine Partei zwang, die Gleichberechtigung aller Italiker vor dem +Gesetz anzuerkennen, der wahre und letzte Urheber der vollen +staatlichen Einheit Italiens geworden - ein Gewinn, der mit endloser +Not und Strömen von Blut dennoch nicht zu teuer erkauft war. Aber Sulla +hat noch mehr getan. Seit länger als einem halben Jahrhundert war Roms +Macht im Sinken und die Anarchie daselbst in Permanenz; denn das +Regiment des Senats mit der Gracchischen Verfassung war Anarchie und +gar das Regiment Cinnas und Carbos noch weit ärgere Meisterlosigkeit, +deren grauenvolles Bild sich am deutlichsten in jenem ebenso verwirrten +wie naturwidrigen Bündnis mit den Samniten widerspiegelt, der +unklarste, unerträglichste, heilloseste aller denkbaren politischen +Zustände, in der Tat der Anfang des Endes. Es ist nicht zu viel gesagt, +wenn man behauptet, daß das lange unterhöhlte römische Gemeinwesen +notwendig hätte zusammenstürzen müssen, wenn nicht durch die +Intervention in Asien und in Italien Sulla die Existenz desselben +gerettet hätte. Freilich hat Sullas Verfassung so wenig Bestand gehabt +wie die Cromwells, und es war nicht schwer zu sehen, daß sein Bau kein +solider war; aber es ist eine arge Gedankenlosigkeit, darüber zu +übersehen, daß ohne Sulla höchstwahrscheinlich der Bauplatz selbst von +den Fluten wäre fortgerissen worden; und auch jener Tadel trifft +zunächst nicht Sulla. Der Staatsmann baut nur, was er in dem ihm +angewiesenen Kreise bauen kann. Was ein konservativ Gesinnter tun +konnte, um die alte Verfassung zu retten, das hat Sulla getan; und +geahnt hat er es selbst, daß er wohl eine Festung, aber keine Besatzung +zu schaffen vermöge und die grenzenlose Nichtigkeit der Oligarchen +jeden Versuch, die Oligarchie zu retten, vergeblich machen werde. Seine +Verfassung glich einem in das brandende Meer hineingeworfenen Notdamm; +es ist kein Vorwurf für den Baumeister, wenn ein Jahrzehnt später die +Wellen den naturwidrigen und von den Geschützten selbst nicht +verteidigten Bau verschlangen. Der Staatsmann wird nicht der Hinweisung +auf höchst löbliche Einzelformen, zum Beispiel des asiatischen +Steuerwesens und der Kriminaljustiz, bedürfen, um Sullas ephemere +Restauration nicht geringschätzig abzufertigen, sondern wird darin eine +richtig entworfene und unter unsäglichen Schwierigkeiten im großen und +ganzen konsequent durchgeführte Reorganisation des römischen +Gemeinwesens bewundern und den Retter Roms, den Vollender der +italischen Einheit unter, aber doch auch neben Cromwell stellen. + +Freilich ist es nicht bloß der Staatsmann, der im Totengericht Stimme +hat, und das empörte menschliche Gefühl wird mit Recht sich nie mit dem +versöhnen, was Sulla getan oder das andere taten, gelitten hat. Sulla +hat seine Gewaltherrschaft nicht bloß mit rücksichtsloser Gewaltsamkeit +begründet, sondern dabei auch die Dinge mit einer gewissen zynischen +Offenheit beim rechten Namen genannt, durch die er es unwiederbringlich +verdorben hat mit der großen Masse der Schwachherzigen, die mehr vor +dem Namen als vor der Sache sich entsetzen, durch die er aber +allerdings auch dem sittlichen Urteil wegen der Kühle und Klarheit +seines Frevels noch empörender erscheint als der leidenschaftliche +Verbrecher. Ächtungen, Belohnungen der Henker, Güterkonfiskationen, +kurzer Prozeß gegen unbotmäßige Offiziere waren hundertmal vorgekommen, +und die stumpfe politische Sittlichkeit der antiken Zivilisation hatte +für diese Dinge nur lauen Tadel; aber das freilich war unerhört, daß +die Namen der vogelfreien Männer öffentlich angeschlagen und die Köpfe +öffentlich ausgestellt wurden, daß den Banditen eine feste Summe +ausgesetzt und dieselbe in die öffentlichen Kassenbücher ordnungsmäßig +eingetragen ward, daß das eingezogene Gut gleich der feindlichen Beute +auf offenem Markt unter den Hammer kam, daß der Feldherr den +widerspenstigen Offizier geradezu niederhauen ließ und vor allem Volk +sich zu der Tat bekannte. Diese öffentliche Verhöhnung der Humanität +ist auch ein politischer Fehler; er hat nicht wenig dazu beigetragen, +spätere revolutionäre Krisen im voraus zu vergiften, und noch jetzt +ruht deswegen verdientermaßen ein finsterer Schatten auf dem Andenken +des Urhebers der Proskriptionen. + +Mit Recht darf man ferner tadeln, daß Sulla, während er in allen +wichtigen Dingen rücksichtslos durchgriff, doch in untergeordneten, +namentlich in Personenfragen sehr häufig seinem sanguinischen +Temperament nachgab und nach Neigung oder Abneigung verfuhr. Er hat, wo +er wirklich einmal Haß empfand, wie gegen die Marier, ihm zügellos auch +gegen Unschuldige den Lauf gelassen und von sich selbst gerühmt, daß +niemand besser als er Freunden und Feinden vergolten habe ^13. Er +verschmähte es nicht, bei Gelegenheit seiner Machtstellung, ein +kolossales Vermögen zu sammeln. Der erste absolute Monarch des +römischen Staats, bewährte er den Kernspruch des Absolutismus, daß den +Fürsten die Gesetze nicht binden, sogleich an den von ihm selbst +erlassenen Ehebruchs- und Verschwendungsgesetzen. Verderblicher aber +als diese Nachsicht gegen sich selbst ward dem Staat sein läßliches +Verfahren gegen seine Partei und seinen Kreis. Schon seine schlaffe +Soldatenzucht, obwohl sie zum Teil durch politische Notwendigkeit +geboten war, läßt sich hierher rechnen; viel schädlicher aber noch war +die Nachsicht gegen seinen politischen Anhang. Es ist kaum glaublich, +was er gelegentlich hinnahm; so zum Beispiel ward dem Lucius Murena für +die durch die schlimmste Verkehrtheit und Unbotmäßigkeit erlittenen +Niederlagen nicht bloß die Strafe erlassen, sondern auch der Triumph +zugestanden; so wurde Gnaeus Pompeius, der sich noch schwerer vergangen +hatte, von Sulla noch verschwenderischer geehrt. Die Ausdehnung und die +ärgsten Frevel der Ächtungen und Konfiskationen sind wahrscheinlich +weniger aus Sullas eigenem Wollen, als aus diesem freilich in seiner +Stellung kaum verzeihlicheren Indifferentismus hervorgegangen. Daß +Sulla bei seinem innerlich energischen und doch dabei gleichgültigen +Wesen sehr verschieden, bald unglaublich nachsichtig, bald unerbittlich +streng auftrat, ist begreiflich. Die tausendmal wiederholte Rede, daß +er vor seiner Regentschaft ein guter milder Mann, als Regent ein +blutdürstiger Wüterich gewesen sei, richtet sich selbst; wenn er als +Regent das Gegenteil der früheren Gelindigkeit zeigte, so wird man +vielmehr sagen müssen, daß er mit demselben nachlässigen Gleichmut +strafte, mit dem er verzieh. Diese halb ironische Leichtfertigkeit geht +überhaupt durch sein ganzes politisches Tun. Es ist immer, als sei dem +Sieger, eben wie es ihm gefiel, sein Verdienst um den Sieg Glück zu +schelten, auch der Sieg selber nichts wert; als habe er eine halbe +Empfindung von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit des eigenen Werkes; +als ziehe er nach Verwalterart das Ausbessern dem Einreißen und Umbauen +vor und lasse sich am Ende auch mit einer leidlichen Übertünchung der +Schäden genügen. + +——————————————————————————- + +^13 Euripides, Medeia, 807: + +Es soll mich keiner achten schwächlich und gering, + +Gutmütig nicht; ich bin gemacht aus anderm Stoff, + +Den Feinden schrecklich und den Freunden liebevoll. + +——————————————————————————- + +Wie er nun aber war, dieser Don Juan der Politik war ein Mann aus einem +Gusse. Sein ganzes Leben zeugt von dem innerlichen Gleichgewicht seines +Wesens; in den verschiedensten Lagen blieb Sulla unverändert derselbe. +Es war derselbe Sinn, der nach den glänzenden Erfolgen in Afrika ihn +wieder den hauptstädtischen Müßiggang suchen und der nach dem +Vollbesitz der absoluten Macht ihn Ruhe und Erholung finden ließ in +seiner cumanischen Villa. In seinem Munde war es keine Phrase, daß ihm +die öffentlichen Geschäfte eine Last seien, die er abwarf, so wie er +durfte und konnte. Auch nach der Resignation blieb er völlig sich +gleich, ohne Unmut und ohne Affektation, froh, der öffentlichen +Geschäfte entledigt zu sein und dennoch hie und da eingreifend, wo die +Gelegenheit sich bot. Jagd und Fischfang und die Abfassung seiner +Memoiren füllten seine müßigen Stunden; dazwischen ordnete er auf +Bitten der unter sich uneinigen Bürger die inneren Verhältnisse der +benachbarten Kolonie Puteoli ebenso sicher und rasch wie früher die +Verhältnisse der Hauptstadt. Seine letzte Tätigkeit auf dem +Krankenlager bezog sich auf die Beitreibung eines Zuschusses zu dem +Wiederaufbau des Kapitolinischen Tempels, den vollendet zu sehen ihm +nicht mehr vergönnt war. Wenig über ein Jahr nach seinem Rücktritt, im +sechzigsten Lebensjahr, frisch an Körper und Geist, ward er vom Tode +ereilt; nach kurzem Krankenlager - noch zwei Tage vor seinem Tode +schrieb er an seiner Selbstbiographie - raffte ein Blutsturz ^14 ihn +hinweg (676 78). Sein getreues Glück verließ ihn auch im Tode nicht. Er +konnte nicht wünschen, noch einmal in den widerwärtigen Strudel der +Parteikämpfe hineingezogen zu werden und seine alten Krieger noch +einmal gegen eine neue Revolution führen zu müssen; und nach dem Stande +der Dinge bei seinem Tode in Spanien und in Italien hätte bei längerem +Leben ihm dies kaum erspart bleiben können. Schon jetzt, da von seiner +feierlichen Bestattung in der Hauptstadt die Rede war, wurden +zahlreiche Stimmen, die bei seinen Lebzeiten geschwiegen hatten, dort +gegen die letzte Ehre laut, die man dem Tyrannen zu erweisen gedachte. +Aber noch war die Erinnerung zu frisch und die Furcht vor seinen alten +Soldaten zu lebendig; es wurde beschlossen, die Leiche nach der +Hauptstadt bringen zu lassen und dort die Exequien zu begehen. Nie hat +Italien eine großartigere Trauerfeier gesehen. Überall wo der königlich +geschmückte Tote hindurchgetragen ward, ihm vorauf seine wohlbekannten +Feldzeichen und Rutenbündel, da schlossen die Einwohner und vor allem +seine alten Lanzknechte an das Trauergefolge sich an; es schien, als +wollte die gesamte Truppe um den Mann, der sie im Leben so oft und nie +anders als zum Siege geführt hatte, noch einmal im Tode sich +vereinigen. So gelangte der endlose Leichenzug in die Hauptstadt, wo +die Gerichte feierten und alle Geschäfte ruhten und zweitausend goldene +Kränze, als letzte Ehrengabe der treuen Legionen, der Städte und der +näheren Freunde, des Toten harrten. Sulla hatte, dem +Geschlechtsgebrauch der Cornelier gemäß, seinen Körper unverbrannt +beizusetzen verordnet; aber andere waren besser als er dessen +eingedenkt, was vergangene Tage gebracht hatten und künftige Tage +bringen mochten - auf Befehl des Senats ward die Leiche des Mannes, der +die Gebeine des Marius aus ihrer Ruhe im Grabe aufgestört hatte, den +Flammen übergeben. Geleitet von allen Beamten und dem gesamten Senat, +den Priestern und Priesterinnen in ihrer Amtstracht und der ritterlich +gerüsteten adligen Knabenschar gelangte der Zug auf den großen +Marktplatz; auf diesem von seinen Taten und fast noch von dem Klange +seiner gefürchteten Worte erfüllten Platz ward dem Toten die +Leichenrede gehalten und von dort die Bahre auf den Schultern der +Senatoren nach dem Marsfeld getragen, wo der Scheiterhaufen errichtet +war. Während er in Flammen loderte, hielten die Ritter und die Soldaten +den Ehrenlauf um die Leiche; die Asche des Regenten aber ward auf dem +Marsfeld neben den Gräbern der alten Könige beigesetzt, und ein Jahr +hindurch haben die römischen Frauen um ihn getrauert. + +—————————————————————————- + +^14 Nicht die Phthiriasis, wie ein anderer Bericht sagt; aus dem +einfachen Grunde, daß eine solche Krankheit nur in der Phantasie +existiert. + + + + +KAPITEL XI. +Das Gemeinwesen und seine Ökonomie + + +Ein neunzigjähriger Zeitraum, vierzig Jahr tiefen Friedens, fünfzig +einer fast permanenten Revolution liegen hinter uns. Es ist diese +Epoche die ruhmloseste, die die römische Geschichte kennt. Zwar wurden +in westlicher und östlicher Richtung die Alpen überschritten und +gelangten die römischen Waffen auf der spanischen Halbinsel bis zum +Atlantischen Ozean, auf der makedonisch-griechischen bis zur Donau; +aber es waren so wohlfeile wie unfruchtbare Lorbeeren. Der Kreis der +“auswärtigen Völkerschaften in der Willkür, Botmäßigkeit, Herrschaft +oder Freundschaft der römischen Bürgerschaft” ^1 ward nicht wesentlich +erweitert; man begnügte sich, den Erwerb einer besseren Zeit zu +realisieren und die in loseren Formen der Abhängigkeit an Rom +geknüpften Gemeinden mehr und mehr in die volle Untertänigkeit zu +bringen. Hinter dem glänzenden Vorhang der Provinzialreunionen verbarg +sich ein sehr fühlbares Sinken der römischen Macht. Während die gesamte +antike Zivilisation immer bestimmter in dem römischen Staat +zusammengefaßt, immer altgemeingültiger in demselben formuliert ward, +fingen zugleich jenseits der Alpen und jenseits des Euphrat die von ihr +ausgeschlossenen Nationen an, aus der Verteidigung zum Angriff +überzugehen. Auf den Schlachtfeldern von Aquae Sextiae und Vercellae, +von Chäroneia und Orchomenos wurden die ersten Schläge desjenigen +Gewitters vernommen, das über die italisch-griechische Welt zu bringen +die germanischen Stämme und die asiatischen Horden bestimmt waren und +dessen letztes dumpfes Rollen fast noch bis in unsere Gegenwart +hineinreicht. Aber auch in der inneren Entwicklung trägt diese Epoche +denselben Charakter. Die alte Ordnung stürzt unwiederbringlich +zusammen. Das römische Gemeinwesen war angelegt als eine Stadtgemeinde, +welche durch ihre freie Bürgerschaft sich selber die Herren und die +Gesetze gab, welche von diesen wohlberatenen Herren innerhalb dieser +gesetzlichen Schranken mit königlicher Freiheit geleitet ward, um +welche teils die italische Eidgenossenschaft als ein Inbegriff freier, +der römischen wesentlich gleichartiger und stammverwandter +Stadtgemeinden, teils die außeritalische Bundesgenossenschaft als ein +Inbegriff griechischer Freistädte und barbarischer Völker und +Herrschaften, beide von der Gemeinde Rom mehr bevormundet als +beherrscht, in zweifachem Kreise sich schlossen. Es war das letzte +Ergebnis der Revolution - und beide Parteien, die nominell konservative +wie die demokratische Partei, hatten dazu mitgewirkt und trafen darin +zusammen -, daß von diesem ehrwürdigen Bau, der am Anfang der +gegenwärtigen Epoche zwar rissig und schwankend, aber doch noch +aufrecht gestanden, am Schluß derselben kein Stein mehr auf dem andern +geblieben war. Der souveräne Machthaber war jetzt entweder ein +einzelner Mann oder die geschlossene Oligarchie bald der Vornehmen, +bald der Reichen. Die Bürgerschaft hatte jeden rechtlichen Anteil am +Regiment verloren. Die Beamten waren unselbständige Werkzeuge in der +Hand des jedesmaligen Machthabers. Die Stadtgemeinde Rom hatte durch +ihre widernatürliche Erweiterung sich selber zersprengt. Die italische +Eidgenossenschaft war aufgegangen in die Stadtgemeinde. Die +außeritalische Bundesgenossenschaft war im vollen Zug sich in eine +Untertanenschaft zu verwandeln. Die gesamte organische Gliederung des +römischen Gemeinwesens war zugrunde gegangen und nichts übrig +geblieben, als eine rohe Masse mehr oder minder disparater Elemente. +Der Zustand drohte in volle Anarchie und in innere und äußere Auflösung +des Staats überzugehen. Die politische Bewegung lenkte durchaus nach +dem Ziele der Despotie; nur darüber noch ward gestritten, ob der +geschlossene Kreis der vornehmen Familien oder der Kapitalistensenat +oder ein Monarch Despot sein solle. Die politische Bewegung ging +durchaus die zum Despotismus führenden Wege: der Grundgedanke des +freien Gemeinwesens, daß die ringenden Mächte gegenseitig sich auf +mittelbaren Zwang beschränken, war allen Parteien gleichmäßig abhanden +gekommen, und hüben und drüben fingen zuerst die Knüttel, bald auch die +Schwerter an, um die Herrschaft zu fechten. Die Revolution, insofern zu +Ende, als die alte Verfassung von beiden Seiten als definitiv beseitigt +anerkannt und Ziel und Weg der neuen politischen Entwicklung deutlich +festgestellt war, hatte doch für diese Reorganisation des Staates +selbst bis jetzt nur provisorische Lösungen gefunden; weder die +Gracchische noch die Sullanische Konstituierung der Gemeinde trugen +einen abschließenden Charakter. Das aber war das Bitterste dieser +bitteren Zeit, daß dem klarsehenden Patrioten selbst das Hoffen und das +Streben sich versagten. Die Sonne der Freiheit mit all ihrer +unendlichen Segensfülle ging unaufhaltsam unter, und die Dämmerung +senkte sich über die eben noch so glänzende Welt. Es war keine +zufällige Katastrophe, der Vaterlandsliebe und Genie hätten wehren +können; es waren uralte soziale Schäden, im letzten Kern der Ruin des +Mittelstandes durch das Sklavenproletariat, an denen das römische +Gemeinwesen zugrunde ging. Auch der einsichtigste Staatsmann war in der +Lage des Arztes, dem es gleich peinlich ist, die Agonie zu verlängern +und zu verkürzen. Ohne Zweifel war Rom um so besser beraten, je rascher +und durchgreifender ein Despot alle Reste der alten freiheitlichen +Verfassung beseitigte und für das bescheidene Maß menschlichen +Gedeihens, wofür in dem Absolutismus Raum ist, die neuen Formen und +Formeln fand; der innere Vorzug, der der Monarchie unter den gegebenen +Verhältnissen gegenüber jeder Oligarchie zukam, lag wesentlich +ebendarin, daß ein solcher energisch nivellierender und energisch +aufbauender Despotismus von einer kollegialischen Behörde nimmermehr +geübt werden konnte. Allein diese kühlen Erwägungen machen keine +Geschichte; nicht der Verstand, nur die Leidenschaft baut für die +Zukunft. Man mußte eben erwarten, wie lange das Gemeinwesen fortfahren +werde, nicht leben und nicht sterben zu können, und ob es schließlich +an einer mächtigen Natur seinen Meister und, soweit dies möglich war, +seinen Neuschöpfer finden oder in Elend und Schwäche zusammenstürzen +werde. + +———————————————————————————————————— + +^1 Exterae nationes in arbitratu dicione potestate amicitiave populi +Romani (Lex repetund. v. 1), die offizielle Bezeichnung der +nichtitalischen Untertanen und Klienten im Gegensatz der italischen +“Eidgenossen und Stammverwandten” (socii nominisve Latini). + +———————————————————————————————————- + +Es bleibt noch übrig, die ökonomische und soziale Seite dieses Verlaufs +hervorzuheben, insoweit dies nicht bereits früher geschehen ist. + +Der Staatshaushalt ruhte seit dem Anfang dieser Epoche wesentlich auf +den Einkünften aus den Provinzen. In Italien ward die Grundsteuer, die +hier stets nur neben den ordentlichen Domanial- und anderen Gefällen +als außerordentliche Abgabe vorgekommen war, seit der Schlacht von +Pydna nicht wieder erhoben, so daß die unbedingte Grundsteuerfreiheit +anfing, als ein verfassungsmäßiges Vorrecht des römischen +Grundbesitzers betrachtet zu werden. Die Regalien des Staats, wie das +Salzmonopol und das Münzrecht, wurden, wenn überhaupt je, so wenigstens +jetzt nicht als Einnahmequellen behandelt. Auch die neue +Erbschaftssteuer ließ man wieder schwinden oder schaffte sie vielleicht +geradezu ab. Demnach zog die römische Staatskasse aus Italien +einschließlich des diesseitigen Galliens nichts als teils den +Domänenertrag, namentlich von dem kampanischen Gebiet und den +Goldgruben im Lande der Kelten, teils die Abgabe von den Freilassungen +und den nicht zu eigenem Verbrauch des Einführenden in das römische +Stadtgebiet zur See eingehenden Waren, welche beide wesentlich als +Luxussteuern betrachtet werden können und allerdings durch die +Ausdehnung des römischen Stadt- und zugleich Zollgebiets auf ganz +Italien, wahrscheinlich mit Einschluß des diesseitigen Galliens, +ansehnlich gesteigert werden mußten. + +In den Provinzen nahm der römische Staat zunächst als Privateigentum in +Anspruch teils in den nach Kriegsrecht vernichteten Staaten die gesamte +Mark, teils in denjenigen Staaten, wo die römische Regierung an die +Stelle der ehemaligen Herrscher getreten war, den von diesen +innegehaltenen Grundbesitz, kraft welches Rechts die Feldmarken von +Leontinoi, Karthago, Korinth, das Domanialgut der Könige von +Makedonien, Pergamon und Kyrene, die Gruben in Spanien und Makedonien +als römische Domänen galten und, ähnlich wie das Gebiet von Capua, von +den römischen Zensoren an Privatunternehmer gegen Abgabe einer +Ertragsquote oder einer bestimmten Geldsumme verpachtet wurden. Daß +Gaius Gracchus noch weiter ging, das gesamte Provinzialland als Domäne +ansprach und zunächst für die Provinz Asia diesen Satz insofern +praktisch durchführte, als er den Bodenzehnten, die Hut- und +Hafengelder daselbst rechtlich motivierte durch das Eigentumsrecht des +römischen Staats an Acker, Wiese und Küste der Provinz, mochten diese +nun früher dem König oder Privaten gehört haben, ward bereits früher +ausgeführt. + +Nutzbare Staatsregalien scheint es in dieser Zeit auch den Provinzen +gegenüber noch nicht gegeben zu haben; die Untersagung des Wein- und +Ölbaues im Transalpinischen Gallien kam der Staatskasse als solcher +nicht zugute. Dagegen wurden direkte und indirekte Steuern in großem +Umfang erhoben. Die als vollständig souverän anerkannten +Klientelstaaten, also zum Beispiel die Königreiche Numidien und +Kappadokien, die Bundesstädte (civitates foederatae) Rhodos, Messana, +Tauromenion, Massalia, Gades waren rechtlich steuerfrei und durch ihren +Vertrag nur verpflichtet, die römische Republik in Kriegszeiten teils +durch regelmäßige Stellung einer festen Anzahl von Schiffen oder +Mannschaften auf ihre Kosten, teils, wie natürlich, im Notfall durch +außerordentliche Hilfsleistung jeder Art zu unterstützen. Das übrige +Provinzialgebiet dagegen, selbst mit Einschluß der Freistädte, unterlag +durchgängig der Besteuerung, und nur die mit römischem Bürgerrecht +beliehenen Städte, wie Narbo, und die speziell mit der Steuerfreiheit +beschenkten Gemeinden (civitates immunes), wie Kentoripa in Sizilien, +waren hiervon ausgenommen. Die direkten Abgaben bestanden teils, wie in +Sizilien und Sardinien, in einem Anrecht auf den Zehnten 2 der Garben +und sonstigen Feldfrüchte wie der Trauben und Oliven, oder, wenn das +Land zur Weide lag, einem entsprechenden Hutgeld; teils, wie in +Makedonien, Achaia, Kyrene, dem größten Teil von Africa, beiden +Spanien, nach Sulla auch in Asia, in einer von jeder einzelnen Gemeinde +jährlich nach Rom zu entrichtenden festen Geldsumme (stipendium, +tributum), welche zum Beispiel für ganz Makedonien 600000 (183000 +Taler), für die kleine Insel Gyaros bei Andros 150 Denare (46 Taler) +betrug und allem Anschein nach im ganzen niedrig und geringer war als +die vor der römischen Herrschaft entrichtete Abgabe. Jene Bodenzehnten +und Hutgelder verdang der Staat gegen Lieferung fester Quantitäten Korn +oder fester Geldsummen an Privatunternehmer; dieser Geldabgaben wegen +hielt er sich an die einzelnen Gemeinden und überließ es diesen, den +Betrag nach den von der römischen Regierung im allgemeinen +festgestellten Prinzipien auf die Steuerpflichtigen zu repartieren und +von diesen einzuziehen 3. Die indirekten Abgaben bestanden, abgesehen +von den untergeordneten Chaussee-, Brücken- und Kanalgeldern, +wesentlich in den Zöllen. Die Zölle des Altertums waren, wo nicht +ausschließlich doch sehr vorwiegend Hafen-, seltener Landgrenzzölle auf +die zur Feilbietung bestimmten ein- und ausgehenden Waren und wurden +von jeder Gemeinde in ihren Häfen und ihrem Gebiet nach Ermessen +erhoben. Die Römer erkannten dies auch insofern im allgemeinen an, als +sich ihr ursprüngliches Zollgebiet nicht weiter erstreckte als der +römische Bürgerbezirk, und die Reichsgrenze keineswegs Zollgrenze, ein +allgemeiner Reichszoll also unbekannt war; nur auf dem Wege des +Staatsvertrages ward in den Klientelgemeinden für den römischen Staat +wohl durchaus Zollfreiheit, für den römischen Bürger vielfach +wenigstens Zollbegünstigung ausbedungen. Aber in denjenigen Bezirken, +die nicht zum Bündnis mit Rom zugelassen waren, sondern in eigentlicher +Untertänigkeit standen, auch nicht die Immunität erworben hatten, +fielen die Zölle doch selbstverständlich an den eigentlichen Souverän, +das heißt an die römische Gemeinde; und infolgedessen wurden einzelne +größere Gebiete innerhalb des Reiches als besondere römische +Zolldistrikte konstituiert, in welchen die einzelnen verbündeten oder +mit Immunität beliehenen Gemeinden als vom römischen Zoll befreit +enklaviert wurden. So bildete Sizilien schon seit der karthagischen +Zeit einen geschlossenen Zollbezirk, an dessen Grenze von allen aus- +und eingehenden Waren eine Abgabe von fünf Prozent vom Wert erhoben +ward; so ward an den Grenzen von Asia infolge des Sempronischen +Gesetzes eine ähnliche Abgabe von zweieinhalb Prozent erhoben; so ward +in ähnlicher Weise die Provinz Narbo, ausschließlich der Feldmark der +römischen Kolonie, als römischer Zollbezirk organisiert. Bei dieser +Einrichtung mag außer den fiskalischen Zwecken auch die löbliche +Absicht mitgewirkt haben, der aus den mannigfaltigen Kommunalzöllen +unvermeidlich entstehenden Verwirrung durch gleichmäßige +Grenzzollregulierung zu steuern. Zur Erhebung wurden die Zölle gleich +den Zehnten ohne Ausnahme an Mittelsmänner verdungen. + +————————————————————————————————- + +2 Dieser Steuerzehnte, den der Staat von dem Privatgrundeigentum +erhebt, ist wohl zu unterscheiden von dem Eigentümerzehnten, den er auf +das Dominalland legt. Jener ward in Sizilien verpachtet und stand ein +für allemal fest; diesen, insonderheit den des Leontinischen Ackers, +verpachteten die Zensoren in Rom und regulierten die zu entrichtende +Ertragsquote und die sonstigen Bedingungen nach Ermessen (Cic. Verr. 3, +6, 13; 5, 21, 53; leg. 1, 2, 4; 2, 18, 48). Vgl. mein Römisches +Staatsrecht, Bd. 3, S. 730. + +3 Das Verfahren war, wie es scheint, folgendes. Die römische Regierung +bestimmte zunächst die Gattung und die Höhe der Abgabe: so zum Beispiel +ward in Asien auch nach der Sullanisch-Caesarischen Ordnung die zehnte +Garbe erhoben (App. civ. 5 4); so steuerten nach Caesars Verordnung die +Juden jedes andere Jahr ein Viertel der Aussaat (Ios. ant. Iud. 4, 10, +6; vgl. 2, 5); so ward in Kilikien und Syrien später 5 vom Hundert des +Vermögens (App. Syr. 50) und auch in Africa eine, wie es scheint, +ähnliche Abgabe entrichtet, wobei übrigens das Vermögen nach gewissen +Präsumtionen, z. B. nach der Größe des Bodenbesitzes, der Zahl der +Türöffnungen, der Kopfzahl der Kinder und Sklaven abgeschätzt worden zu +sein scheint (exactio capitum atque ostiorum, Cic. ad fam. 3, 8, 5, von +Kilikien; φόρος επί τή γή καί τοίς σώμασιν, App. Pun. 135, für Africa). +Nach dieser Norm wurde von den Gemeindebehörden unter Oberaufsicht des +römischen Statthalters (Cic. ad Q. fr. 1, 1, 8; SC. de Asclep. 22, 23) +festgestellt, wer steuerpflichtig und was von jedem einzelnen +Steuerpflichtigen zu leisten sei (imperata επικεφάλια Cic. Att. 5, I6); +wer dies nicht rechtzeitig entrichtete, dessen Steuerschuld ward +ebenwie in Rom verkauft, d. h. einem Unternehmer mit einem Zuschlag zur +Einziehung übertragen (venditio tributorum Cic. ad fam. 3, 8, 5; ωνάς +omnium venditas, ders. Att. 5, 16). Der Ertrag dieser Steuern floß den +Hauptgemeinden zu, wie zum Beispiel die Juden ihr Korn nach Sidon zu +senden hatten, und aus deren Kassen wurde sodann der festgesetzte +Geldbetrag nach Rom abgeführt. Auch diese Steuern also wurden mittelbar +erhoben, und der Vermittler behielt je nach den Umständen, entweder +einen Teil des Ertrags der Steuer für sich oder setzte aus eigenem +Vermögen zu; der Unterschied dieser Erhebung von der anderen durch +Publikanen lag lediglich darin, daß dort die Gemeindebehörde der +Kontribuablen, hier römische Privatunternehmer den Vermittler machten. + +———————————————————————————- + +Hierauf waren die ordentlichen Lasten der römischen Steuerpflichtigen +beschränkt, wobei übrigens nicht übersehen werden darf, daß die +Erhebungskosten höchst beträchtlich waren und die Kontribuablen +unverhältnismäßig mehr zahlten, als die römische Regierung empfing. +Denn wenn das System der Steuereinziehung durch Mittelsmänner, +namentlich durch Generalpächter, schon an sich von allen das +verschwenderischste ist, so ward in Rom noch durch die geringe Teilung +der Pachtungen und die ungeheure Assoziation des Kapitals die wirksame +Konkurrenz aufs äußerste erschwert. + +Zu diesen ordentlichen Belastungen aber kommen noch erstlich die +Requisitionen hinzu. Die Kosten der Militärverwaltung trug von Rechts +wegen die römische Gemeinde. Sie versah die Kommandanten jeder Provinz +mit den Transportmitteln und allen sonstigen Bedürfnissen; sie +besoldete und versorgte die römischen Soldaten in der Provinz. Nur Dach +und Fach, Holz, Heu und ähnliche Gegenstände hatten die +Provinzialgemeinden den Beamten und Soldaten unentgeltlich zu gewähren; +ja die freien Städte waren sogar auch von der Wintereinquartierung - +feste Standlager kannte man noch nicht - regelmäßig befreit. Wenn der +Statthalter also Getreide, Schiffe, Sklaven zu deren Bemannung, +Leinwand, Leder, Geld oder anderes bedurfte, so stand es ihm zwar im +Kriege unbedingt und nicht viel anders auch in Friedenszeiten frei, +solche Lieferungen nach Ermessen und Bedürfnis von den +Untertanengemeinden oder den souveränen Klientelstaaten einzufordern, +allein dieselben wurden, gleich der römischen Grundsteuer, rechtlich +als Käufe oder Vorschüsse behandelt und der Wert von der römischen +Staatskasse sogleich oder später ersetzt. Aber dennoch wurden, wenn +nicht in der staatsrechtlichen Theorie, so doch praktisch, diese +Requisitionen eine der drückendsten Belastungen der Provinzialen; um so +mehr, als die Entschädigungsziffer regelmäßig von der Regierung oder +gar dem Statthalter einseitig festgesetzt ward. Es begegnen wohl +einzelne gesetzliche Beschränkungen dieses gefährlichen +Requisitionsrechts der römischen Oberbeamten - so die schon erwähnte +Vorschrift, daß in Spanien dem Landmann durch Getreiderequisitionen +nicht mehr als die zwanzigste Garbe entzogen und auch hierfür der Preis +nicht einseitig ausgemacht werden dürfte; die Bestimmung eines +Maximalquantums des von dem Statthalter für seine und seines Gefolges +Bedürfnisse zu requirierenden Getreides; die vorgängige Anordnung einer +festbestimmten und hochgegriffenen Vergütung für das Getreide, das +wenigstens in Sizilien häufig für die Bedürfnisse der Hauptstadt +eingefordert ward. Allein durch dergleichen Festsetzungen wurde der +Druck jener Requisitionen auf die Ökonomie der Gemeinden und der +einzelnen in den Provinzen wohl hier und da gelindert, aber keineswegs +beseitigt. In außerordentlichen Krisen steigerte dieser Druck sich +unvermeidlich und oft ins Grenzenlose, wie denn auch alsdann die +Lieferungen nicht selten in der Form der Strafausschreibung oder in der +der erzwungenen freiwilligen Beiträge erfolgten, die Vergütung also +ganz wegfiel. So zwang Sulla im Jahre 670/71 (84/83) die +kleinasiatischen Provinzialen, die allerdings sich aufs schwerste gegen +Rom vergangen hatten, jedem bei ihnen einquartierten Gemeinen +vierzigfachen (für den Tag 16 Denare = 3 2/3 Taler), jedem Centurio +fünfundsiebzigfachen Sold zu gewähren, außerdem Kleidung und Tisch +nebst dem Recht, nach Belieben Gäste einzuladen; so schrieb derselbe +Sulla bald nachher eine allgemeine Umlage auf die Klientel- und +Untertanengemeinden aus, von deren Erstattung natürlich keine Rede war. + +Ferner sind die Gemeindelasten nicht aus den Augen zu lassen. Sie +müssen verhältnismäßig sehr ansehnlich gewesen sein 4, da die +Verwaltungskosten, die Instandhaltung der öffentlichen Gebäude, +überhaupt alle Zivilausgaben von den städtischen Budgets getragen +wurden und die römische Regierung lediglich das Militärwesen aus ihrer +Kasse zu bestreiten übernahm. Sogar von diesem Militärbudget aber +wurden noch beträchtliche Posten auf die Gemeinden abgewälzt - so die +Anlage- und Unterhaltungskosten der nichtitalischen Militärstraßen, die +der Flotten in den nichtitalischen Meeren, ja selbst zu einem großen +Teil die Ausgaben für das Heerwesen, insofern die Wehrmannschaft der +Klientelstaaten wie die der Untertanen auf Kosten ihrer Gemeinden +innerhalb ihrer Provinz regelmäßig zum Dienst herangezogen wurden und +auch außerhalb derselben Thraker in Afrika, Afrikaner in Italien und so +weiter an jedem beliebigen Ort immer häufiger anfingen, mitverwendet zu +werden. Wenn nur die Provinzen, nicht aber Italien direkte Abgaben an +die Regierung entrichtete, so war dies wo nicht politisch, doch +finanziell billig, solange als Italien die Lasten und Kosten des +Militärwesens allein trug; seit dies aber aufgegeben ward, waren die +Provinzialen auch finanziell entschieden überlastet. + +————————————————————————- + +4 Beispielsweise entrichtete in Judäa die Stadt Joppe 26075 römische +Scheffel Korn, die übrigen Juden die zehnte Garbe an den Volksfürsten; +wozu dann noch der Tempelschoß und die für die Römer bestimmte +sidonische Abgabe kamen. Auch in Sizilien ward neben dem römischen +Zehnten eine sehr ansehnliche Gemeindeschatzung vom Vermögen erhoben. + +————————————————————————- + +Endlich ist das große Kapitel des Unrechts nicht zu vergessen, durch +das die römischen Beamten und Steuerpächter in der mannigfaltigsten +Weise die Steuerlast der Provinzen steigerten. Man mochte jedes +Geschenk, das der Statthalter nahm, gesetzlich als erpreßtes Gut +behandeln, und selbst das Recht zu kaufen ihm durch Gesetz beschränken, +seine öffentliche Tätigkeit bot ihm, wenn er unrecht tun wollte, +dennoch der Handhaben mehr als genug. Die Einquartierung der Truppen; +die freie Wohnung der Beamten und des Schwarmes von Adjutanten +senatorischen oder Ritterranges, von Schreibern, Gerichtsdienern, +Herolden, Ärzten und Pfaffen; das den Staatsboten zukommende Recht +unentgeltlicher Beförderung; die Approbierung und der Transport der +schuldigen Naturallieferungen; vor allem die Zwangsverkäufe und die +Requisitionen gaben allen Beamten Gelegenheit, aus den Provinzen +fürstliche Vermögen heimzubringen; und das Stehlen ward immer +allgemeiner, je mehr die Kontrolle der Regierung sich als null erwies +und die der Kapitalistengerichte sogar als gefährlich allein für den +ehrlichen Beamten. Die durch die Häufigkeit der Klagen über +Beamtenerpressung in den Provinzen veranlaßte Einrichtung einer +stehenden Kommission für dergleichen Fälle im Jahre 605 (149) und die +rasch sich folgenden und die Strafe stets steigernden +Erpressungsgesetze zeigen, wie die Flutmesser den Wasserstand, die +immer wachsende Höhe des Übels. + +Unter all diesen Verhältnissen konnte selbst eine der Anlage nach +mäßige Besteuerung effektiv äußerst drückend werden, und daß sie dies +war, ist außer Zweifel, wenngleich der ökonomische Druck, den die +italischen Kaufleute und Bankiers auf die Provinzen übten, noch weit +schwerer auf denselben gelastet haben mag als die Besteuerung mit allen +daran hängenden Mißbräuchen. + +Fassen wir zusammen, so war die Einnahme, welche Rom aus den Provinzen +zog, nicht eigentlich eine Besteuerung der Untertanen in dem Sinn, den +wir jetzt damit verbinden, sondern vielmehr überwiegend eine den +attischen Tributen vergleichbare Hebung, womit der führende Staat die +Kosten des von demselben übernommenen Kriegswesens bestritt. Daraus +erklärt sich auch die auffallende Geringfügigkeit des Roh- wie des +Reinertrags. Es findet sich eine Angabe, wonach die römische Einnahme, +vermutlich mit Ausschluß der italischen Einkünfte und des von den +Zehntpächtern in Natur nach Italien abgelieferten Getreides, bis zum +Jahr 691 (63) nicht mehr betrug als 200 Mill. Sesterzen (15 Mill. +Taler); also nur zwei Drittel der Summe, die der König von Ägypten +jährlich aus seinem Lande zog. Nur auf den ersten Blick kann das +Verhältnis befremden. Die Ptolemäer beuteten das Niltal aus wie große +Plantagenbesitzer und zogen ungeheure Summen aus dem von ihnen +monopolisierten Handelsverkehr mit dem Orient; das römische Ärar war +nicht viel mehr als die Bundeskriegskasse der unter Roms Schutz +geeinigten Gemeinden. Der Reinertrag war wahrscheinlich verhältnismäßig +noch geringer. Einen ansehnlichen Überschuß lieferten wohl nur +Sizilien, wo das karthagische Besteuerungssystem galt, und vor allem +Asia, seit Gaius Gracchus, um seine Getreideverteilung möglich zu +machen, daselbst die Bodenkonfiskation und die allgemeine +Domanialbesteuerung durchgesetzt hatte; nach vielfältigen Zeugnissen +ruhten die römischen Staatsfinanzen wesentlich auf den Abgaben von +Asia. Die Versicherung klingt ganz glaublich, daß die übrigen Provinzen +durchschnittlich ungefähr so viel kosteten als sie einbrachten; ja +diejenigen, welche eine bedeutende Besatzung erforderten, wie beide +Spanien, das Jenseitige Gallien, Makedonien, mögen oft mehr gekostet +als getragen haben. Im ganzen blieb dem römischen Ärar allerdings in +gewöhnlichen Zeiten ein Überschuß, welcher es möglich machte, die +Staats- und Stadtbauten reichlich zu bestreiten und einen Notpfennig +aufzusammeln; aber auch die für diese Beträge vorkommenden Ziffern, +zusammengehalten mit dem weiten Gebiet der römischen Herrschaft, +sprechen für die Geringfügigkeit des Reinertrags der römischen Steuern. +In gewissem Sinne hat also der alte, ebenso ehrenwerte wie verständige +Grundsatz: die politische Hegemonie nicht als nutzbares Recht zu +behandeln, ebenwie die römisch-italische so auch noch die provinziale +Finanzverfassung beherrscht. Was die römische Gemeinde von ihren +überseeischen Untertanen erhob, ward der Regel nach auch für die +militärische Sicherung der überseeischen Besitzungen wieder verausgabt; +und wenn diese römischen Hebungen dadurch die Pflichtigen schwerer +trafen als die ältere Besteuerung, daß sie großenteils im Ausland +verausgabt wurden, so schloß dagegen die Ersetzung der vielen kleinen +Herren und Heere durch eine einzige Herrschaft und eine zentralisierte +Militärverwaltung eine sehr ansehnliche ökonomische Ersparnis ein. Aber +freilich erscheint dieser Grundsatz einer besseren Vorzeit in der +Provinzialorganisation doch von vornherein innerlich zerstört und +durchlöchert durch die zahlreichen Ausnahmen, die man davon sich +gestattete. Der hieronisch-karthagische Bodenzehnte in Sizilien ging +weit hinaus über den Betrag eines jährlichen Kriegsbeitrags. Mit Recht +ferner sagt Scipio Aemilianus bei Cicero, daß es der römischen +Bürgerschaft übel anstehe, zugleich den Gebieter und den Zöllner der +Nationen zu machen. Die Aneignung der Hafenzölle war mit dem Grundsatz +der uneigennützigen Hegemonie nicht vereinbar, und die Höhe der +Zollsätze sowie die vexatorische Erhebungsweise nicht geeignet, das +Gefühl des hier zugefügten Unrechts zu beschwichtigen. Es gehört wohl +schon dieser Zeit an, daß der Name des Zöllners den östlichen +Völkerschaften gleichbedeutend mit dem des Frevlers und des Räubers +ward; keine Belastung hat so wie diese dazu beigetragen, den römischen +Namen besonders im Osten widerwärtig und gehässig zu machen. Als dann +aber Gaius Gracchus und diejenige Partei an das Regiment kam, die sich +in Rom die populäre nannte, ward die politische Herrschaft unumwunden +für ein Recht erklärt, das jedem der Teilhaber Anspruch gab auf eine +Anzahl Scheffel Korn, ward die Hegemonie geradezu in Bodeneigentum +verwandelt, das vollständige Exploitierungssystem nicht bloß +eingeführt, sondern mit unverschämter Offenherzigkeit rechtlich +motiviert und proklamiert. Sicher war es auch kein Zufall, daß dabei +eben die beiden am wenigsten kriegerischen Provinzen Sizilien und Asia +das härteste Los traf. + +Einen ungefähren Messer des römischen Finanzstandes dieser Zeit +gewähren in Ermangelung bestimmter Angaben noch am ersten die +öffentlichen Bauten. In den ersten Dezennien dieser Epoche wurden +dieselben in größtem Umfange betrieben, und vor allem die +Chausseeanlagen sind zu keiner Zeit so energisch gefördert worden. In +Italien schloß sich an die große, vermutlich schon ältere Südchaussee, +die als Verlängerung der Appischen von Rom über Capua, Beneventum, +Venusia nach den Häfen von Tarent und Brundisium lief, eine +Seitenstraße an von Capua bis zur sizilischen Meerenge, ein Werk des +Publius Popillius, Konsul 622 (132). An der Ostküste, wo bisher nur die +Strecke von Fanum nach Ariminum als Teil der Flaminischen Straße +chaussiert gewesen war, wurde die Küstenstraße südwärts bis nach +Brundisium, nordwärts über Hatria am Po bis nach Aquileia verlängert +und wenigstens das Stück von Ariminum bis Hatria von dem ebengenannten +Popillius in dem gleichen Jahr angelegt. Auch die beiden großen +etrurischen Chausseen, die Küsten- oder Aurelische Straße von Rom nach +Pisa und Luna, an der unter anderem im Jahre 631 (123) gebaut ward, und +die über Sutrium und Clusium nach Arretium und Florentia geführte +Cassische, die nicht vor 583 (171) gebaut zu sein scheint, dürften als +römische Staatschausseen erst dieser Zeit angehören. Um Rom selbst +bedurfte es neuer Anlagen nicht; doch wurde die Mulvische Brücke (Ponte +Molle), auf der die Flaminische Straße unweit Rom den Tiber +überschritt, im Jahre 645 (109) von Stein hergestellt. Endlich in +Norditalien, das bis dahin keine andere als die bei Placentia endigende +Flaminisch-Ämilische Kunststraße gehabt hatte, wurde im Jahre 606 (148) +die große Postumische Straße gebaut, die von Genua über Dertona, wo +wahrscheinlich gleichzeitig eine Kolonie gegründet ward, weiter über +Placentia, wo sie die Flaminisch-Ämilische Straße aufnahm, Cremona und +Verona nach Aquileia führte und also das Tyrrhenische und das +Adriatische Meer miteinander verband; wozu noch die im Jahre 645 (109) +durch Marcus Aemilius Scaurus hergestellte Verbindung zwischen Luna und +Genua hinzukam, welche die Postumische Straße unmittelbar mit Rom +verknüpfte. In einer anderen Weise war Gaius Gracchus für das italische +Wegewesen tätig. Er sicherte die Instandhaltung der großen Landstraßen, +indem er bei der Ackerverteilung längs derselben Grundstücke anwies, +auf denen die Verpflichtung der Wegebesserung als dingliche Last +haftete; auf ihn ferner oder doch auf die Ackerverteilungskommission +scheint, wie die Sitte, die Feldgrenze durch ordentliche Marksteine zu +bezeichnen, so auch die der Errichtung von Meilensteinen zurückzugehen; +er sorgte endlich für gute Vizinalwege, um auch hierdurch den Ackerbau +zu fördern. Aber weit folgenreicher noch war die ohne Zweifel eben in +dieser Epoche beginnende Anlage von Reichschausseen in den Provinzen: +die Domitische Straße stellte nach langen Vorbereitungen den Landweg +von Italien nach Spanien sicher und hing mit der Gründung von Aquae +Sextiae und Narbo eng zusammen; die Gabinische und die Egnatische +führten von den Hauptplätzen an der Ostküste des Adriatischen Meeres, +jene von Salona, diese von Apollonia und Dyrrhachion, in das Binnenland +hinein; das unmittelbar nach der Einrichtung der asiatischen Provinz im +Jahre 625 (129) von Manius Aquillius angelegte Straßennetz führte von +der Hauptstadt Ephesus nach verschiedenen Richtungen bis an die +Reichsgrenze - alles Anlagen, über deren Entstehung in der +trümmerhaften Überlieferung dieser Epoche keine Angabe zu finden ist, +die aber nichtsdestoweniger mit der Konsolidierung der römischen +Herrschaft in Gallien, Dalmatien, Makedonien und Kleinasien +unzweifelhaft in Zusammenhang standen und für die Zentralisierung des +Staats und die Zivilisierung der unterworfenen barbarischen Distrikte +von der größten Bedeutung geworden sind. + +Wie für die Straßen war man wenigstens in Italien auch für die großen +Entsumpfungsarbeiten tätig. So ward im Jahre 594 (160) die +Trockenlegung der Pomptinischen Sümpfe, die Lebensfrage für +Mittelitalien, mit großem Kraftaufwand und wenigstens vorübergehendem +Erfolg angegriffen; so im Jahre 645 (109) in Verbindung mit den +norditalischen Chausseebauten zugleich die Entsumpfung der Niederungen +zwischen Parma und Placentia bewerkstelligt. Endlich tat die Regierung +viel für die zur Gesundheit und Annehmlichkeit der Hauptstadt ebenso +unentbehrlichen wie kostspieligen römischen Wasserleitungen. Nicht bloß +wurden die beiden seit den Jahren 442 (312) und 492 (262) bereits +bestehenden, die Appische und die Anioleitung, im Jahre 610 (144) von +Grund aus repariert, sondern auch zwei neue Leitungen angelegt: im +Jahre 610 (144) die Marcische, die an Güte und Fülle des Wassers auch +später unübertroffen blieb, und neunzehn Jahre nachher die sogenannte +Laue. Welche Operationen die römische Staatskasse, ohne vom +Kreditsystem Gebrauch zu machen, mittels reiner Barzahlung auszuführen +vermochte, zeigt nichts deutlicher als die Art, wie die Marcische +Leitung zustande kam: die dazu erforderliche Summe von 180 Mill. +Sesterzen (in Gold 13½ Mill. Taler) ward innerhalb dreier Jahre +disponibel gemacht und verwandt. Es läßt dies schließen auf eine sehr +ansehnliche Reserve des Staatsschatzes, die denn auch schon im Anfang +dieser Periode nahe an 6 Mill. Taler betrug und ohne Zweifel beständig +im Steigen war. + +Alle diese Tatsachen zusammengenommen, lassen allerdings auf einen im +allgemeinen günstigen Stand der römischen Finanzen dieser Zeit +schließen. Nur darf auch in finanzieller Hinsicht nicht übersehen +werden, daß die Regierung während der ersten zwei Drittel dieses +Zeitabschnitts zwar glänzende und großartige Bauten ausführte, aber +dafür andere wenigstens ebenso notwendige Ausgaben zu machen unterließ. +Wie ungenügend sie für das Militärwesen sorgte, ist bereits +hervorgehoben worden: in den Grenzlandschaften, ja im Potal plünderten +die Barbaren, im Innern hausten selbst in Kleinasien, Sizilien, Italien +die Räuberbanden. Die Flotte gar ward völlig vernachlässigt; römische +Kriegsschiffe gab es kaum mehr und die Kriegsschiffe, die man durch die +Untertanenstädte bauen und erhalten ließ, reichten nicht aus, so daß +man nicht bloß schlechterdings keinen Seekrieg zu führen, sondern nicht +einmal den Piraten das Handwerk zu legen imstande war. In Rom selbst +unterblieben eine Menge der notwendigsten Verbesserungen und namentlich +die Flußbauten wurden seltsam vernachlässigt. Immer noch besaß die +Hauptstadt keine andere Brücke über den Tiber als den uralten hölzernen +Steg, der über die Tiberinsel nach dem Ianiculum führte; immer noch +ließ man den Tiber jährlich die Straßen unter Wasser setzen und Häuser, +ja nicht selten ganze Quartiere niederwerfen, ohne etwas für die +Uferbefestigung zu tun; immer mehr ließ man, wie gewaltig auch der +überseeische Handel sich entwickelte, die an sich schon schlechte Reede +von Ostia versanden. Eine Regierung, die unter den günstigsten +Verhältnissen und in einer Epoche vierzigjährigen Friedens nach außen +und innen solche Pflichten versäumt, kann leicht Steuern schwinden +lassen und dennoch einen jährlichen Überschuß der Einnahme über die +Ausgabe und einen ansehnlichen Sparschatz erzielen; aber eine derartige +Finanzverwaltung verdient keineswegs Lob wegen ihrer nur scheinbar +glänzenden Ergebnisse, sondern vielmehr dieselben Vorwürfe der +Schlaffheit, des Mangels an einheitlicher Leitung, der verkehrten +Volksschmeichelei, die auf jedem andern politischen Gebiet gegen das +senatorische Regiment dieser Epoche erhoben werden mußten. + +Weit schlimmer gestalteten sich natürlich die finanziellen +Verhältnisse, als die Stürme der Revolution hereinbrachen. Die neue +und, auch bloß finanziell betrachtet, höchst drückende Belastung, die +dem Staat aus der durch Gaius Gracchus ihm auferlegten Verpflichtung +erwuchs, den hauptstädtischen Bürgern das Getreide zu Schleuderpreisen +zu verabfolgen, ward allerdings durch die in der Provinz Asia neu +eröffneten Einnahmequellen zunächst wieder ausgeglichen. +Nichtsdestoweniger scheinen die öffentlichen Bauten seitdem fast +gänzlich ins Stocken gekommen zu sein. So zahlreich die +erweislichermaßen von der Schlacht bei Pydna bis auf Gaius Gracchus +angelegten öffentlichen Werke sind, so werden dagegen aus der Zeit nach +632 (122) kaum andere genannt als die Brücken-, Straßen und +Entsumpfungsanlagen, die Marcus Aemilius Scaurus als Zensor 645 (109) +anordnete. Es muß dahingestellt bleiben, ob dies die Folge der +Kornverteilungen ist oder, wie vielleicht wahrscheinlicher, die Folge +des gesteigerten Sparschatzsystems, wie es sich schickt für ein immer +mehr zur Oligarchie erstarrendes Regiment, und wie es angedeutet ist in +der Angabe, daß der römische Reservefonds seinen höchsten Stand im +Jahre 663 (91) erreichte. Der fürchterliche Insurrektions- und +Revolutionssturm in Verbindung mit dem fünfjährigen Ausbleiben der +kleinasiatischen Gefälle war die erste nach dem Hannibalischen Krieg +wieder den römischen Finanzen zugemutete ernste Probe; sie haben +dieselbe nicht bestanden. Nichts vielleicht zeichnet so klar den +Unterschied der Zeiten, als daß im Hannibalischen Krieg erst im zehnten +Kriegsjahre, als die Bürgerschaft den Steuern fast erlag, der +Sparschatz angegriffen, dagegen der Bundesgenossenkrieg gleich von Haus +aus auf den Kassenbestand fundiert ward und, als schon nach zwei +Feldzügen derselbe bis auf den letzten Pfennig ausgegeben war, man +lieber die öffentlichen Plätze in der Hauptstadt versteigerte und die +Tempelschätze angriff, als eine Steuer auf die Bürger ausschrieb. Indes +der Sturm, so arg er war, ging vorüber; Sulla stellte, freilich unter +ungeheuren, namentlich den Untertanen und den italischen Revolutionären +aufgebürdeten ökonomischen Opfern, die Ordnung in den Finanzen wieder +her und sicherte, indem er die Getreidespenden aufhob, die asiatischen +Abgaben aber, wenn auch gemindert, doch beibehielt, dem Gemeinwesen +wenigstens in dem Sinn einen befriedigenden ökonomischen Zustand, als +die ordentlichen Ausgaben weit unter den ordentlichen Einnahmen +blieben. + +In der Privatökonomie dieser Zeit tritt kaum ein neues Moment hervor; +die früher dargelegten Vorzüge und Nachteile der sozialen Verhältnisse +Italiens werden nicht verändert, sondern nur weiter und schärfer +entwickelt. In der Bodenwirtschaft sahen wir bereits früher die +steigende römische Kapitalmacht den mittleren und kleinen Grundbesitz +in Italien sowohl wie in den Provinzen allmählich verzehren, wie die +Sonne die Regentropfen aufsaugt. Die Regierung sah nicht bloß zu ohne +zu wehren, sondern förderte noch die schädliche Bodenteilung durch +einzelne Maßregeln, vor allem durch das zu Gunsten der großen +italischen Grundbesitzer und Kaufleute ausgesprochene Verbot der +transalpinischen Wein- und Ölproduktion 5. Zwar wirkten sowohl die +Opposition als die auf die Reformideen eingehende Fraktion der +Konservativen energisch dem übel entgegen: indem die beiden Gracchen +die Aufteilung fast des gesamten Domaniallandes durchsetzten, gaben sie +dem Staat 80000 neue italische Bauern; indem Sulla 120000 Kolonisten in +Italien ansiedelte, ergänzte er wenigstens einen Teil der von der +Revolution und von ihm selbst in die Reihen der italischen Bauernschaft +gerissenen Lücken; allein dem durch stetigen Abfluß sich leerenden +Gefäß ist nicht durch Einschöpfen auch beträchtlicher Massen, sondern +nur durch Herstellung eines stetigen Zuflusses zu helfen, welche +vielfach versucht ward, aber nicht gelang. In den Provinzen nun gar +geschah nicht das Geringste, um den dortigen Bauernstand vor dem +Auskaufen durch die römischen Spekulanten zu retten: die Provinzialen +waren ja bloß Menschen und keine Partei. Die Folge war, daß mehr und +mehr auch die außeritalische Bodenrente nach Rom floß. Übrigens war die +Plantagenwirtschaft, die um die Mitte dieser Epoche selbst in einzelnen +Landschaften Italiens, zum Beispiel in Etrurien, bereits durchaus +überwog, bei dem Zusammenwirken eines energischen und rationellen +Betriebs und reichlicher Geldmittel in ihrer Art zu hoher Blüte +gelangt. Die italische Weinproduktion vor allem, die teils die +Eröffnung gezwungener Märkte in einem Teil der Provinzen, teils das zum +Beispiel in dem Aufwandgesetz von 593 (161) ausgesprochene Verbot der +ausländischen Weine in Italien auch künstlich förderten, erzielte sehr +bedeutende Erfolge; der Amineer und der Falerner fingen an, neben dem +Thasier und Chier genannt zu werden, und der “Opimische Wein” vom Jahre +633 (121), der römische Elfer, blieb im Andenken, lange nachdem der +letzte Krug geleert war. + +—————————————————————- + +5 3, 170. Damit mag auch die Bemerkung des nach Cato und vor Varro +lebenden römischen Landwirts Saserna (bei Colum. 1, 1, 5) +zusammenhängen, daß der Wein- und Ölbau sich beständig weiter nach +Norden ziehe. Auch der Senatsbeschluß wegen Übersetzung der Magonischen +Bücher gehört hierher. + +——————————————————————- + +Von Gewerben und Fabrikation ist nichts zu sagen, als daß die italische +Nation in dieser Hinsicht in einer an Barbarei grenzenden Passivität +verharrte. Man zerstörte wohl die korinthischen Fabriken, die +Depositare so mancher wertvollen gewerblichen Tradition, aber nicht um +selbst ähnliche Fabriken zu gründen, sondern um zu Schwindelpreisen +zusammenzukaufen, was die griechischen Häuser an korinthischen Ton- +oder Kupfergefäßen und ähnlichen “alten Arbeiten” bewahrten. Was von +Gewerken noch einigermaßen gedieh, wie zum Beispiel die mit dem +Bauwesen zusammenhängenden, trug für das Gemeinwesen deshalb kaum einen +Nutzen, weil auch hier bei jeder größeren Unternehmung die +Sklavenwirtschaft sich ins Mittel legte; wie denn zum Beispiel die +Anlage der Marcischen Wasserleitung in der Art erfolgte, daß die +Regierung mit 3000 Meistern zugleich Bau- und Lieferungsverträge +abschloß, von denen dann jeder mit seiner Sklavenschar die übernommene +Arbeit beschaffte. + +Die glänzendste oder vielmehr die allein glänzende Seite der römischen +Privatwirtschaft ist der Geldverkehr und der Handel. An der Spitze +stehen die Domanial- und die Steuerpachtungen, durch die ein großer, +vielleicht der größte Teil der römischen Staatseinnahmen in die Taschen +der römischen Kapitalisten floß. Der Geldverkehr ferner war im ganzen +Umfang des römischen Staats von den Römern monopolisiert; jeder in +Gallien umgesetzte Pfennig, heißt es in einer bald nach dem Ende dieser +Periode herausgegebenen Schrift, geht durch die Bücher der römischen +Kaufleute, und so war es ohne Zweifel überall. Wie das Zusammenwirken +der rohen ökonomischen Zustände und der rücksichtslosen Ausnutzung der +politischen Übermacht zu Gunsten der Privatinteressen eines jeden +vermögenden Römers eine wucherliche Zinswirtschaft allgemein machte, +zeigt zum Beispiel die Behandlung der von Sulla der Provinz Asia 670 +(84) auferlegten Kriegssteuer, die die römischen Kapitalisten +vorschossen; sie schwoll mit gezahlten und nichtgezahlten Zinsen binnen +vierzehn Jahren auf das Sechsfache ihres ursprünglichen Betrags an. Die +Gemeinden mußten ihre öffentlichen Gebäude, ihre Kunstwerke und +Kleinodien, die Eltern ihre erwachsenen Kinder verkaufen, um dem +römischen Gläubiger gerecht zu werden; es war nichts Seltenes, daß der +Schuldner nicht bloß der moralischen Tortur unterworfen, sondern +geradezu auf die Marterbank gelegt ward. Hierzu kam endlich der +Großhandel. Italiens Ausfuhr und Einfuhr waren sehr beträchtlich. Jene +bestand vornehmlich in Wein und Öl, womit Italien neben Griechenland +fast ausschließlich - die Weinproduktion in der massaliotischen und +turdetanischen Landschaft kann damals nur gering gewesen sein - das +gesamte Mittelmeergebiet versorgte; italischer Wein ging in bedeutenden +Quantitäten nach den Balearischen Inseln und Keltiberien, nach Africa, +das nur Acker- und Weideland war, nach Narbo und in das innere Gallien. +Bedeutender noch war die Einfuhr nach Italien, wo damals aller Luxus +sich konzentrierte und die meisten Luxusartikel, Speisen, Getränke, +Stoffe, Schmuck, Bücher, Hausgerät, Kunstwerke, über See eingeführt +wurden. Vor allem aber der Sklavenhandel nahm infolge der stets +steigenden Nachfrage der römischen Kaufleute einen Aufschwung, +dessengleichen man im Mittelmeergebiet noch nicht gekannt hatte und der +mit dem Aufblühen der Piraterie im engsten Zusammenhang steht; alle +Länder und alle Nationen wurden dafür in Kontribution gesetzt, die +Hauptfangplätze aber waren Syrien und das innere Kleinasien. In Italien +konzentrierte die überseeische Einfuhr sich vorzugsweise in den beiden +großen Emporien am Tyrrhenischen Meer, Ostia und Puteoli. Nach Ostia, +dessen Reede wenig taugte, das aber, als der nächste Hafen an Rom, für +weniger werthafte Waren der geeignetste Stapelplatz war, zog sich die +für die Hauptstadt bestimmte Korneinfuhr, dagegen der Luxushandel mit +dem Osten überwiegend nach Puteoli, das durch seinen guten Hafen für +Schiffe mit wertvoller Ladung sich empfahl und in der mehr und mehr mit +Landhäusern sich füllenden Gegend von Baiae den Kaufleuten einen dem +hauptstädtischen wenig nachstehenden Markt in nächster Nähe darbot. +Lange Zeit ward dieser letztere Verkehr durch Korinth und nach dessen +Vernichtung durch Delos vermittelt, wie denn in diesem Sinne Puteoli +bei Lucilius das italische “Klein-Delos” heißt; nach der Katastrophe +aber, die Delos im Mithradatischen Kriege betraf, und von der es sich +nicht wieder erholt hat, knüpften die Puteolaner direkte +Handelsverbindungen mit Syrien und Alexandreia an und entwickelte damit +ihre Stadt immer entschiedener sich zu dem ersten überseeischen +Handelsplatz Italiens. Aber nicht bloß der Gewinn, der bei der +italischen Aus- und Einfuhr gemacht ward, fiel wesentlich den Italikern +zu; auch in Narbo konkurrierten sie im keltischen Handel mit den +Massalioten, und überhaupt leidet es keinen Zweifel, daß die überall +fluktuierend oder ansässig anzutreffende römische Kaufmannschaft den +besten Teil aller Spekulationen für sich nahm. + +Fassen wir diese Erscheinungen zusammen, so erkennen wir als den +hervorstechenden Zug der Privatwirtschaft dieser Epoche die der +politischen ebenbürtig zur Seite gehende finanzielle Oligarchie der +römischen Kapitalisten. In ihren Händen vereinigt sich die Bodenrente +fast des ganzen Italiens und der besten Stücke des Provinzialgebiets, +die wucherliche Rente des von ihnen monopolisierten Kapitals, der +Handelsgewinn aus dem gesamten Reiche, endlich in Form der Pachtnutzung +ein sehr beträchtlicher Teil der römischen Staatseinkünfte. Die immer +zunehmende Anhäufung der Kapitalien zeigt sich in dem Steigen des +Durchschnittsatzes des Reichtums: 3 Mill. Sesterzen (228000 Taler) war +jetzt ein mäßiges senatorisches, 2 Mill. (152000 Taler) ein anständiges +Rittervermögen; das Vermögen des reichsten Mannes der Gracchischen +Zeit, des Publius Crassus, Konsul 623 131), ward auf 100 Mill. +Sesterzen (7½Mill. Taler) geschätzt. Es ist kein Wunder, wenn dieser +Kapitalistenstand die äußere Politik vorwiegend bestimmt, wenn er aus +Handelsrivalität Karthago und Korinth zerstört, wie einst die Etrusker +Alalia, die Syrakusier Caere zerstörten, wenn er dem Senat zum Trotz +die Gründung von Narbo aufrecht erhält. Es ist ebenfalls kein Wunder, +wenn diese Kapitalistenoligarchie in der inneren Politik der +Adelsoligarchie eine ernstliche und oft siegreiche Konkurrenz macht. Es +ist aber auch kein Wunder, wenn ruinierte reiche Leute sich an die +Spitze empörter Sklavenhaufen stellen und das Publikum sehr unsanft +daran erinnert, daß aus dem eleganten Bordell der Übergang zu der +Räuberhöhle leicht gefunden ist. Es ist kein Wunder, wenn jeder +finanzielle Babelturm mit seiner nicht rein ökonomischen, sondern der +politischen Übermacht Roms entlehnten Grundlage bei jeder ernsten +politischen Krise ungefähr in derselben Art schwankt wie unser sehr +ähnlicher Staatspapierbau. Die ungeheure Finanzkrise, die im Verfolg +der italisch-asiatischen Bewegungen 664f. (90) über den römischen +Kapitalistenstand hereinbrach, die Bankrotte des Staates und der +Privaten, die allgemeine Entwertung der Grundstücke und der +Gesellschaftsparten können wir im einzelnen nicht mehr verfolgen; wohl +aber lassen im allgemeinen keinen Zweifel an ihrer Art und ihrer +Bedeutung ihre Resultate: die Ermordung des Gerichtsherrn durch einen +Gläubigerhaufen, der Versuch, alle nicht von Schulden freien Senatoren +aus dem Senat zu stoßen, die Erneuerung des Zinsmaximum durch Sulla, +die Kassation von 75 Prozent aller Forderungen durch die revolutionäre +Partei. Die Folge dieser Wirtschaft war natürlich in den Provinzen +allgemeine Verarmung und Entvölkerung, wogegen die parasitische +Bevölkerung reisender oder auf Zeit ansässiger Italiker überall im +Steigen war. In Kleinasien sollen an einem Tage 80000 Menschen +italischer Abkunft umgekommen sein. Wie zahlreich dieselben auf Delos +waren, beweisen die noch auf der Insel vorhandenen Denksteine und die +Angabe, daß hier 20000 Fremde, meistens italische Kaufleute, auf +Mithradates’ Befehl getötet wurden. In Afrika waren der Italiker so +viele, daß sogar die numidische Stadt Cirta hauptsächlich durch sie +gegen Jugurtha verteidigt werden konnte. Auch Gallien, heißt es, war +angefüllt mit römischen Kaufleuten; nur für Spanien finden sich, +vielleicht nicht zufällig, dergleichen Angaben nicht. In Italien selbst +ist dagegen der Stand der freien Bevölkerung in dieser Epoche ohne +Zweifel im ganzen zurückgegangen. Allerdings haben die Bürgerkriege +hierzu wesentlich mitgewirkt, welche nach allgemeingehaltenen und +freilich wenig zuverlässigen Angaben 100000 bis 150000 Köpfe von der +römischen Bürgerschaft, 300000 von der italischen Bevölkerung überhaupt +weggerafft haben sollen; aber schlimmer wirkten der ökonomische Ruin +des Mittelstandes und die maßlose Ausdehnung der kaufmännischen +Emigration, die einen großen Teil der italischen Jugend während ihrer +kräftigsten Jahre im Ausland zu verweilen veranlaßte. Einen Ersatz sehr +zweifelhaften Wertes gewährte dafür die freie parasitische +hellenisch-orientalische Bevölkerung, die als königliche oder +Gemeindediplomaten, als Ärzte, Schulmeister, Pfaffen, Bediente, +Schmarotzer und in den tausendfachen Ämtern der Industrieritter- und +Gaunerschaft in der Hauptstadt, als Händler und Schiffer namentlich in +Ostia, Puteoli und Brundisium verweilten. Noch bedenklicher war das +unverhältnismäßige Steigen der Sklavenmenge auf der Halbinsel. Die +italische Bürgerschaft zählte nach der Schätzung des Jahres 684 (70) +910000 waffenfähige Männer, wobei, um den Betrag der freien Bevölkerung +auf der Halbinsel zu erhalten, die in der Schätzung zufällig +übergangenen, die Latiner in der Landschaft zwischen den Alpen und dem +Po und die in Italien domizilierten Ausländer, hinzu-, die auswärts +domizilierten römischen Bürger dagegen abzurechnen sind. Es wird +demnach kaum möglich sein, die freie Bevölkerung der Halbinsel höher +als auf 6 bis 7 Mill. Köpfe anzusetzen. Wenn die damalige +Gesamtbevölkerung derselben der gegenwärtigen gleichkam, so hätte man +danach eine Sklavenmasse von 13 bis 14 Mill. Köpfen anzunehmen. Es +bedarf indes solcher trüglichen Berechnungen nicht, um die gefährliche +Spannung dieser Verhältnisse anschaulich zu machen; laut genug reden +die partiellen Sklaveninsurrektionen und der seit dem Beginn der +Revolutionen am Schlusse eines jeden Aufstandes erschallende Aufruf an +die Sklaven, die Waffen gegen ihre Herren zu ergreifen und die Freiheit +sich zu erfechten. Wenn man sich England vorstellt mit seinen Lords, +seinen Squires und vor allem seiner City, aber die Freeholders und +Pächter in Proletarier, die Arbeiter und Matrosen in Sklaven +verwandelt, so wird man ein ungefähres Bild der damaligen Bevölkerung +der italischen Halbinsel gewinnen. + +Wie im klaren Spiegel liegen die ökonomischen Verhältnisse dieser +Epoche noch heute uns vor in dem römischen Münzwesen. Die Behandlung +desselben zeigt durchaus den einsichtigen Kaufmann. Seit langer Zeit +standen Gold und Silber als allgemeine Zahlmittel nebeneinander, so daß +zwar zum Zweck allgemeiner Kassebilanzen ein festes Wertverhältnis +zwischen beiden Metallen gesetzlich normiert war, aber doch regelmäßig +es nicht freistand, ein Metall für das andere zu geben, sondern je nach +dem Inhalt der Verschreibung in Gold oder Silber zu zahlen war. Auf +diesem Wege wurden die großen Übelstände vermieden, die sonst an die +Aufstellung eines doppelten Wertmetalls unvermeidlich sich knüpfen; die +starken Goldkrisen - wie denn zum Beispiel um 600 (150) infolge der +Entdeckung der tauriskischen Goldlager das Gold gegen Silber auf einmal +in Italien um 33 2/3 Prozent abschlug - wirkten wenigstens nicht direkt +auf die Silbermünze und den Kleinverkehr ein. Es lag in der Natur der +Sache, daß, je mehr der überseeische Verkehr sich ausdehnte, desto +entschiedener das Gold aus der zweiten in die erste Stelle eintrat, was +denn auch die Angaben über die Staatskassenbestände und die +Staatskassengeschäfte bestätigen; aber die Regierung ließ sich dadurch +nicht bewegen, das Gold auch in die Münze einzuführen. Die in der Not +des Hannibalischen Krieges versuchte hatte man längst wieder fallen +lassen; die wenigen Goldstücke, die Sulla als Regent schlug, sind kaum +mehr gewesen als Gelegenheitsmünze für seine Triumphalgeschenke. Nach +wie vor zirkulierte als wirkliche Münze ausschließlich das Silber; das +Gold ward, mochte es nun, wie gewöhnlich, in Barren umlaufen oder +ausländisches oder allenfalls auch inländisches Gepräge tragen, +lediglich nach dem Gewicht genommen. Dennoch standen Gold und Silber +als Verkehrsmittel gleich, und die betrügliche Legierung des Goldes +wurde gleich der Prägung falscher Silbermünzen rechtlich als +Münzvergehen betrachtet. Man erreichte hierdurch den unermeßlichen +Vorteil, bei dem wichtigsten Zahlmittel selbst die Möglichkeit der +Münzdefraude und Münzveruntreuung abzuschneiden. übrigens war die +Münzprägung ebenso reichlich wie musterhaft. Nachdem im Hannibalischen +Kriege das Silberstück von 1/72 auf 1/84 Pfund reduziert worden war, +ist dasselbe mehr als drei Jahrhunderte hindurch vollkommen gleich +schwer und gleich fein geblieben; eine Legierung fand nicht statt. Die +Kupfermünze wurde um den Anfang dieser Periode völlig zur Scheidemünze +und hörte auf, wie früher, im Großverkehr gebraucht zu werden; aus +diesem Grunde wurde etwa seit dem Anfang des siebenten Jahrhunderts der +As nicht mehr geschlagen und die Kupferprägung beschränkt auf die im +Silber nicht füglich herzustellenden Kleinwerte von einem Semis (fast 3 +Pfennig) und darunter. Die Münzsorten waren nach einem einfachen +Prinzip geordnet und in der damals kleinsten Münze gewöhnlicher +Prägung, dem Quadrans (1½ Pfennig), hinabgeführt bis an die Grenze der +fühlbaren Werte. Es war ein Münzsystem, das an prinzipieller +Verständigkeit der Grundlagen wie an eisern strenger Durchführung +derselben im Altertum einzig dasteht und auch in der neueren Zeit nur +selten erreicht worden ist. Doch hat auch dies seinen wunden Fleck. +Nach einer im ganzen Altertum gemeinen, in ihrer höchsten Entwicklung +in Karthago auftretenden Sitte gab auch die römische Regierung mit den +guten silbernen Denaren zugleich kupferne, mit Silber plattierte aus, +welche gleich jenen genommen werden mußten und nichts waren als ein +unserem Papiergeld analoges Zeichengeld mit Zwangskurs und Fundierung +auf die Staatskasse, insofern auch diese nicht befugt war, die +plattierten Stücke zurückzuweisen. Eine offizielle Falschmünzerei war +dies so wenig wie unsere Papiergeldfabrikation, da man die Sache ganz +offen betrieb: Marcus Drusus beantragte 663 (91), um die Mittel für +seine Kornspenden zu gewinnen, die Emission von einem plattierten auf +je sieben silberne, neu aus der Münze hervorgehende Denare; allein +nichtsdestoweniger bot diese Maßregel nicht bloß der privaten +Falschmünzerei eine bedenkliche Handhabe, sondern sie ließ auch das +Publikum absichtlich darüber im ungewissen, ob es Silber- oder +Zeichengeld empfange und in welchem Gesamtbetrag das letztere in Umlauf +sei. In der bedrängten Zeit des Bürgerkrieges und der großen +finanziellen Krise scheint man der Planierung sich so über die Gebühr +bedient zu haben, daß zu der Finanzkrise eine Münzkrise sich gesellte +und die Masse der falschen und faktisch entwerteten Stücke den Verkehr +höchst unsicher machte. Deshalb wurde während des Cinnanischen +Regiments von den Prätoren und Tribunen, zunächst von Marcus Marius +Gratidianus, die Einlösung des sämtlichen Zeichengeldes durch +Silbergeld verfügt und zu dem Ende ein Probierbüro eingerichtet. +Inwieweit die Aufrufung durchgeführt ward, ist nicht überliefert; die +Zeichengeldprägung selbst blieb bestehen. + +Was die Provinzen anlangt, so ward in Gemäßheit der grundsätzlichen +Beseitigung der Goldmünze die Goldprägung nirgends, auch in den +Klientelstaaten nicht gestattet; so daß die Goldprägung in dieser Zeit +nur vorkommt, wo Rom gar nichts zu sagen hatte, namentlich bei den +Kelten nordwärts von den Cevennen und bei den gegen Rom sich +auflehnenden Staaten, wie denn die Italiker sowohl wie auch Mithradates +Eupator Goldmünzen schlugen. Auch die Silberprägung zeigt die Regierung +sich bestrebt, mehr und mehr in ihre Hand zu bringen, vornehmlich im +Westen. In Afrika und Sardinien mag die karthagische Gold- und +Silbermünze auch nach dem Sturz des karthagischen Staats im Umlauf +geblieben sein; aber geschlagen wurde daselbst in Edelmetallen weder +auf karthagischen noch auf römischen Fuß, und sicher hat sehr bald nach +der Besitzergreifung der Römer auch in dem Verkehr beider Landschaften +der von Italien eingeführte Denar das Übergewicht erhalten. In Spanien +und Sizilien, die früher an Rom gekommen sind und überhaupt eine +mildere Behandlung erfuhren, ist zwar unter römischer Herrschaft in +Silber geprägt, ja in dem ersteren Lande die Silberprägung erst durch +die Römer und auf römischen Fuß ins Leben gerufen worden; aber es sind +gute Gründe vorhanden für die Annahme, daß auch in diesen beiden +Landschaften wenigstens seit dem Anfang des siebenten Jahrhunderts die +provinziale und städtische Prägung sich auf die kupferne Scheidemünze +hat beschränken müssen. Nur im Narbonesischen Gallien konnte der +altverbündeten und ansehnlichen Freistadt Massalia das Recht der +Silberprägung nicht entzogen werden; und dasselbe gilt vermutlich von +den illyrischen Griechenstädten Apollonia und Dyrrhachion. Indes +beschränkte man doch diesen Gemeinden indirekt ihr Münzrecht dadurch, +daß der Dreivierteldenar, der nach Anordnung der römischen Regierung +dort wie hier geprägt ward und der unter dem Namen des Victoriatus in +das römische Münzsystem aufgenommen worden war, um die Mitte des 7. +Jahrhunderts in diesem beseitigt ward; wovon die Folge sein mußte, daß +das massaliotische und illyrische Courant aus Oberitalien verdrängt +wurde und außer seinem einheimischen Gebiete nur noch etwa in den +Alpen- und Donaulandschaften gangbar blieb. So weit war man also +bereits in dieser Epoche, daß in der gesamten Westhälfte des römischen +Staates der Denarfuß ausschließlich herrschte: denn Italien, Sizilien - +von dem es für den Anfang der nächsten Epoche ausdrücklich bezeugt ist, +daß daselbst kein anderes Silbergeld umlief als der Denar -, Sardinien, +Afrika brauchten ausschließlich römisches Silbergeld, und das in +Spanien noch umlaufende Provinzialsilber sowie die Silbermünze der +Massalioten und Illyriker war wenigstens auf Denarfuß geschlagen. +Anders war es im Osten. Hier, wo die Zahl der seit alter Zeit münzenden +Staaten und die Masse der umlaufenden Landesmünze sehr ansehnlich war, +drang der Denar nicht in größerem Umfang ein, wenn er auch vielleicht +gesetzlich gangbar erklärt ward: vielmehr blieb hier entweder der +bisherige Münzfuß, wie zum Beispiel Makedonien noch als Provinz, wenn +auch teilweise mit Hinzufügung der Namen von römischen Beamten zu dem +der Landschaft, seine attischen Tetradrachmen geschlagen und gewiß +wesentlich kein anderes Geld gebracht hat; oder es wurde unter +römischer Autorität ein den Verhältnissen entsprechender eigentümlicher +Münzfuß neu eingeführt, wie denn bei der Einrichtung der Provinz Asia +derselben ein neuer Stater, der sogenannte Cistophorus, von der +römischen Regierung geordnet und dieser seitdem von den +Bezirkshauptstädten daselbst unter römischer Oberaufsicht geschlagen +ward. Diese wesentliche Verschiedenheit des okzidentalischen und des +orientalischen Münzwesens ist von der größten geschichtlichen Bedeutung +geworden: die Romanisierung der unterworfenen Länder hat in der Annahme +der römischen Münze einen ihrer wichtigsten Hebel gefunden, und es ist +kein Zufall, daß dasjenige, was wir in dieser Epoche als Gebiet des +Denars bezeichnet haben, späterhin zu der lateinischen, dagegen das +Gebiet der Drachme späterhin zu der griechischen Reichshälfte geworden +ist. Noch heutigentags stellt jenes Gebiet im wesentlichen den +Inbegriff der romanischen Kultur dar, während dieses dagegen aus der +europäischen Zivilisation sich ausgeschieden hat. + +Wie bei solchen ökonomischen Zuständen die sozialen Verhältnisse sich +gestalten mußten, ist im allgemeinen leicht zu ermessen, die Steigerung +aber des Raffinements, der Preise, des Ekels und der Leere im +besonderen zu verfolgen weder erfreulich noch lehrreich. Verschwendung +und sinnlicher Genuß war die Losung überall, bei den Parvenus so gut +wie bei den Liciniern und Metellern; nicht der feine Luxus gedieh, der +die Blüte der Zivilisation ist, sondern derjenige, der in der +verkommenden hellenischen Zivilisation Kleinasiens und Alexandreias +sich entwickelt hatte, der alles Schöne und Bedeutende zur Dekoration +entadelte und auf den Genuß studierte mit einer mühseligen Pedanterie, +einer zopfigen Tüftelei, die ihn dem sinnlich wie dem geistig frischen +Menschen gleich ekelhaft macht. Was die Volksfeste anlangt, so wurde, +es scheint um die Mitte dieses Jahrhunderts, durch einen von Gnaeus +Aufidius beantragten Bürgerschluß die in der catonischen Zeit +untersagte Einfuhr überseeischer Bestien förmlich wieder gestattet, +wodurch denn die Tierhetzen in schwunghaften Betrieb kamen und ein +Hauptstück der Bürgerfeste wurden. Um 651 (103) erschienen in der +römischen Arena zuerst mehrere Löwen, 655 (99) die ersten Elefanten; +661 (93) ließ Sulla als Prätor schon hundert Löwen auftreten. Dasselbe +gilt von den Fechterspielen. Wenn die Altvordern die Bilder großer +Schlachten öffentlich ausgestellt hatten, so fingen die Enkel an, +dasselbe von ihren Gladiatorenspielen zu tun und mit solchen Haupt- und +Staatsaktionen der Zeit sich selber vor den Nachkommen zu verspotten. +Welche Summen dafür und für die Begräbnisfeierlichkeiten überhaupt +aufgingen, kann man aus dem Testament des Marcus Aemilius Lepidus +(Konsul 567, 579 187, 175; † 592 152) abnehmen; derselbe befahl seinen +Kindern, da die wahrhafte letzte Ehre nicht in leerem Gepränge, sondern +in der Erinnerung an die eigenen und der Ahnen Verdienste bestehe, auf +seine Bestattung nicht mehr als 1 Mill. Asse (76000 Taler) zu +verwenden. Auch der Bau- und Gartenluxus war im Steigen; das +prachtvolle und namentlich wegen der alten Bäume des Gartens berühmte +Stadthaus des Redners Crassus († 663 91) ward mit den Bäumen auf 6 +Mill. Sesterzen (457000 Taler), ohne diese auf die Hälfte geschätzt, +während der Wert eines gewöhnlichen Wohnhauses in Rom etwa auf 60000 +Sesterzen (4600 Taler) angeschlagen werden kann 6. Wie rasch die Preise +der Luxusgrundstücke stiegen, zeigt das Beispiel der Misenischen Villa, +die Cornelia, die Mutter der Gracchen, für 75000 Sesterzen (5700 +Taler), Lucius Lucullus, Konsul 680 (74) um den dreiunddreißigfachen +Preis erstand. Die Villenbauten und das raffinierte Land- und Badeleben +machten Baiae und überhaupt die Umgegend des Golfs von Neapel zum +Eldorado des vornehmen Müßiggangs. Die Hasardspiele, bei denen es +keineswegs mehr, wie bei dem italischen Knöchelspiel, um Nüsse ging, +wurden gemein und schon 639 (115) ein zensorisches Edikt dagegen +erlassen. Gazestoffe, die die Formen mehr zeigten als verhüllten, und +seidene Kleider fingen an, bei Frauen und selbst bei Männern die alten +wollenen Röcke zu verdrängen. Gegen die rasende Verschwendung, die mit +ausländischen Parfümerien getrieben ward, stemmten sich vergeblich die +Aufwandgesetze. Aber der eigentliche Glanz- und Brennpunkt dieses +vornehmen Lebens war die Tafel. Man bezahlte Schwindelpreise - bis +100000 Sesterzen (7600 Taler) - für einen ausgesuchten Koch; man baute +mit Rücksicht darauf und versah namentlich die Landhäuser an der Küste +mit eigenen Salzwasserteichen, um Seefische und Austern jederzeit +frisch auf die Tafel liefern zu können; man nannte es schon ein elendes +Diner, wenn das Geflügel ganz und nicht bloß die erlesenen Stücke den +Gästen vorgelegt wurden und wenn diesen zugemutet ward, von den +einzelnen Gerichten zu essen und nicht bloß zu kosten; man bezog für +schweres Geld ausländische Delikatessen und griechischen Wein, der bei +jeder anständigen Mahlzeit wenigstens einmal herumgereicht werden +mußte. Vor allem bei der Tafel glänzte die Schar der Luxussklaven, die +Kapelle, das Ballett, das elegante Mobiliar, die goldstrotzenden oder +gemäldeartig gestickten Teppiche, die Purpurdecken, das antike +Bronzegerät, das reiche Silbergeschirr. Hiergegen zunächst richteten +sich die Luxusgesetze, die häufiger (593, 639, 665, 673 161, 115, 89, +82) und ausführlicher als je ergingen: eine Menge Delikatessen und +Weine wurden darin gänzlich untersagt, für andere nach Gewicht und +Preis ein Maximum festgesetzt, ebenso die Quantität des silbernen +Tafelgeschirrs gesetzlich beschränkt, endlich allgemeine Maximalbeträge +der Kosten der gewöhnlichen und der Festtagsmahlzeit vorgeschrieben, +zum Beispiel 593 (161) von 10 und 100 (17½ Groschen und 5½ Taler), 673 +(81) von 30 und 300 Sesterzen (1 Taler, 22 Groschen und 17 Taler). Zur +Steuer der Wahrheit muß leider hinzugefügt werden, daß von allen +vornehmen Römern nicht mehr als drei, und zwar keineswegs die +Gesetzgeber selber, diese staatlichen Gesetze befolgt haben sollen; +auch diesen dreien aber beschnitt nicht das Gesetz des Staates den +Küchenzettel, sondern das der Stoa. Es lohnt der Mühe, einen Augenblick +noch bei dem trotz all dieser Gesetze steigenden Luxus im Silbergerät +zu verweilen. Im sechsten Jahrhundert war silbernes Tafelgeschirr mit +Ausnahme des althergebrachten silbernen Salzfasses eine Ausnahme; die +karthagischen Gesandtschaften spotteten darüber, daß sie in jedem +Hause, wo man sie eingeladen, dasselbe silberne Tafelgerät +wiedergefunden hätten. Noch Scipio Aemilianus besaß nicht mehr als 32 +Pfund (800 Taler) an verarbeitetem Silber; sein Neffe Quintus Fabius +(Konsul 633 121) brachte es zuerst auf 1000 (25 000 Taler), Marcus +Drusus (Volkstribun 633 121) schon auf 10000 Pfund (250000 Taler); in +Sullas Zeit zählte man in der Hauptstadt bereits gegen 150 +hundertpfündige silberne Prachtschüsseln, von denen manche ihren +Besitzer auf die Proskriptionsliste brachte. Um die hierfür +verschwendeten Summen zu ermessen, muß man sich erinnern, daß auch die +Arbeit schon mit ungeheuren Preisen bezahlt ward, wie denn für +ausgezeichnetes Silbergerät Gaius Gracchus den fünfzehn-, Lucius +Crassus (Konsul 659 95) den achtzehnfachen Metallwert bezahlte, der +letztere für ein Becherpaar eines namhaften Silberarbeiters 100 000 +Sesterzen (7600 Taler) gab. So war es verhältnismäßig überall. + +Wie es um Ehe und Kinderzeugung stand, zeigen schon die Gracchischen +Ackergesetze, die zuerst darauf eine Prämie setzten. Die Scheidung, +einst in Rom fast unerhört, war jetzt ein alltägliches Ereignis; wenn +bei der ältesten römischen Ehe der Mann die Frau gekauft hatte, so +hätte man den jetzigen vornehmen Römern vorschlagen mögen, um zu der +Sache auch den Namen zu haben, eine Ehemiete einzuführen. Selbst ein +Mann .wie Metellus Macedonicus, der durch seine ehrenwerte Häuslichkeit +und seine zahlreiche Kinderschar die Bewunderung seiner Zeitgenossen +war, schärfte als Zensor 623 (131) den Bürgern die Pflicht, im +Ehestande zu leben, in der Art ein, daß er denselben bezeichnete als +eine drückende, aber von den Patrioten pflichtmäßig zu übernehmende +öffentliche Last. 7 + +———————————————————- + +6 In dem Hause, das Sulla als junger Mann bewohnte, zahlte er für das +Erdgeschoß 3000, der Mieter des obern Stockes 2000 Sesterzen Miete +(Plut. Sull. 1), was zu 2/3 des gewöhnlichen Kapitalzinses +kapitalisiert, ungefähr den obigen Betrag ergibt. Dies war eine +wohlfeile Wohnung. Wenn ein hauptstädtischer Mietzins von 6000 +Sesterzen (460 Taler) für das Jahr 629 (125) ein hoher genannt wird +(Vell. 1, 10), so müssen dabei besondere Umstände obgewaltet haben. + +7 “Wenn wir könnten, ihr Bürger”, hieß es in seiner Rede, würden wir +freilich alle von dieser Last uns befreien. Da aber die Natur es so +eingerichtet hat, daß weder mit den Frauen sich bequem, noch ohne die +Frauen überhaupt sich leben läßt, so ziemt es sich auf dauernde +Wohlfahrt mehr zu sehen als auf kurzes Wohlleben.” + +——————————————————— + +Allerdings gab es Ausnahmen. Die landstädtischen Kreise, namentlich die +der größeren Gutsbesitzer, hatten die alte ehrenwerte latinische +Nationalsitte treuer bewahrt. In der Hauptstadt aber war die catonische +Opposition zur Phrase geworden; die moderne Richtung herrschte souverän +und, wenn auch einzelne fest und fein organisierte Naturen, wie Scipio +Aemilianus, römische Sitte mit attischer Bildung zu vereinigen wußten, +war doch bei der großen Menge der Hellenismus gleichbedeutend mit +geistiger und sittlicher Verderbnis. Den Rückschlag dieser sozialen +Übelstände auf die politischen Verhältnisse darf man niemals aus den +Augen verlieren, wenn man die römische Revolution verstehen will. Es +war nicht gleichgültig, daß von den beiden vornehmen Männern, die im +Jahre 662 (92) als oberste Sittenmeister der Gemeinde fungierten, der +eine dem andern öffentlich vorrückte, daß er einer Muräne, dem Stolz +seines Fischteichs, bei ihrem Tode Tränen nachgeweint habe, und dieser +wieder jenem, daß er drei Frauen begraben und um keine eine Träne +geweint habe. Es war nicht gleichgültig, daß im Jahre 593 (161) auf +offenem Markt ein Redner folgende Schilderung eines senatorischen +Zivilgeschworenen zum besten geben konnte, den der angesetzte Termin in +dem Kreise seiner Zechbrüder findet. “Sie spielen Hasard, fein +parfümiert, die Mätressen um sie herum. Wie der Nachmittag herankommt, +lassen sie den Bedienten kommen und heißen ihn auf der Dingstätte sich +umhören, was auf dem Markt vorgefallen sei, wer für und wer gegen den +neuen Gesetzvorschlag gesprochen, welche Distrikte dafür, welche +dagegen gestimmt hätten. Endlich gehen sie selbst auf den +Gerichtsplatz, eben früh genug, um sich den Prozeß nicht selbst auf den +Hals zu ziehen. Unterwegs ist in keinem Winkelgäßchen eine Gelegenheit, +die sie nicht benutzen, denn sie haben sich den Leib voll Wein +geschlagen. Verdrossen kommen sie auf die Dingstätte und geben den +Parteien das Wort. Die, die es angeht, tragen ihre Sache vor. Der +Geschworene heißt die Zeugen auftreten; er selbst geht beiseite. Wie er +zurückkommt, erklärt er alles gehört zu haben und fordert die Urkunden. +Ersieht hinein in die Schriften; kaum hält er vor Wein die Augen auf. +Wie er sich dann zurückzieht, das Urteil auszufüllen, läßt er zu seinen +Zechbrüdern sich vernehmen: ‘Was gehen mich die langweiligen Leute an? +Warum gehen wir nicht lieber einen Becher Süßen mit griechischem Wein +trinken und essen dazu einen fetten Krammetsvogel und einen guten +Fisch, einen veritablen Hecht von der Tiberinsel?’” Die den Redner +hörten, lachten; aber war es nicht auch sehr ernsthaft, daß dergleichen +Dinge belacht wurden? + + + + +KAPITEL XII. +Nationalität, Religion, Erziehung + + +In dem großen Kampfe der Nationalitäten innerhalb des weiten Umfangs +des Römischen Reiches erscheinen die sekundären Nationen in dieser Zeit +im Zurückweichen oder im Verschwinden. Die bedeutendste unter allen, +die phönikische, empfing durch die Zerstörung Karthagos die Todeswunde, +an der sie sich langsam verblutet hat. Die Landschaften Italiens, die +ihre alte Sprache und Sitte bis dahin noch gewahrt hatten, Etrurien und +Samnium, wurden nicht bloß von den schwersten Schlägen der Sullanischen +Reaktion getroffen, sondern die politische Nivellierung Italiens +nötigte ihnen auch im öffentlichen Verkehr die lateinische Sprache und +Weise auf und drückte die alten Landessprachen herab zu rasch +verkümmernden Volksdialekten. Nirgendmehr erscheint im ganzen Umfange +des römischen Staates eine Nationalität als befugt, mit der römischen +und der griechischen auch nur zu ringen. Dagegen ist extensiv wie +intensiv die latinische Nationalität im entschiedensten Aufschwung. Wie +seit dem Bundesgenossenkrieg jedes italische Grundstück jedem Italiker +zu vollem römischen Eigen zustehen, jeder italische Tempelgott römische +Gabe empfangen kann, wie in ganz Italien mit Ausnahme der +transpadanischen Landschaft seitdem das römische Recht mit Beseitigung +aller anderen Stadt- und Landrechte ausschließlich gilt: so ist damals +die römische Sprache auch die allgemeine Geschäfts- und bald +gleichfalls die allgemeine Sprache des gebildeten Verkehrs auf der +ganzen Halbinsel von den Alpen bis zur Meerenge geworden. Aber sie +beschränkte sich schon nicht mehr auf diese natürlichen Grenzen. Die in +Italien zusammenströmende Kapitalmasse, der Reichtum seiner Produkte, +die Intelligenz seiner Landwirte, die Gewandtheit seiner Kaufleute fand +keinen hinreichenden Spielraum auf der Halbinsel; hierdurch und durch +den öffentlichen Dienst wurden die Italiker massenweise in die +Provinzen geführt. Ihre privilegierte Stellung daselbst privilegierte +auch die römische Sprache und das römische Recht, selbst wo nicht bloß +Römer miteinander verkehrten; überall standen die Italiker zusammen als +festgeschlossene und organisierte Massen, die Soldaten in ihren +Legionen, die Kaufleute jeder größeren Stadt als eigene Korporationen, +die in dem einzelnen provinzialen Gerichtssprengel domizilierten oder +verweilenden römischen Bürger als “Kreise” (conventus civium Romanorum) +mit ihrer eigenen Geschworenenliste und gewissermaßen mit +Gemeindeverfassung; und wenn auch diese provinzialen Römer regelmäßig +früher oder später nach Italien zurückgingen, so bildete sich dennoch +allmählich aus ihnen der Stamm einer festen, teils römischen, teils an +die römische sich anlehnenden Mischbevölkerung der Provinzen. Daß in +Spanien, wo das römische Heer zuerst stehend ward, auch zuerst eigene +Provinzialstädte italischer Verfassung, Carteia 583 (171), Valentia 616 +(133), später Palma und Pollentia organisiert worden sind, ward bereits +erwähnt. Wenn das Binnenland noch wenig zivilisiert war, das Gebiet der +Vaccäer zum Beispiel noch lange nach dieser Zeit unter den rauhesten +und widerwärtigsten Aufenthaltsorten für den gebildeten Italiker +genannt wird, so bezeugen dagegen Schriftsteller und Inschriftsteine, +daß schon um die Mitte des siebenten Jahrhunderts um Neukarthago und +sonst an der Küste die lateinische Sprache in gemeinem Gebrauch war. In +bewußter Weise entwickelte zuerst Gaius Gracchus den Gedanken, die +Provinzen des römischen Staats durch die italische Emigration zu +kolonisieren, das heißt zu romanisieren, und legte Hand an die +Ausführung desselben; und obgleich die konservative Opposition gegen +den kühnen Entwurf sich auflehnte, die gemachten Anfänge größtenteils +zerstörte und die Fortführung hemmte, so blieb doch die Kolonie Narbo +erhalten, schon an sich eine bedeutende Erweiterung des lateinischen +Sprachgebiets und noch bei weitem wichtiger als der Merkstein eines +großen Gedankens, der Grundstein eines gewaltigen künftigen Baues. Der +antike Gallizismus, ja das heutige Franzosentum sind von dort +ausgegangen und in ihrem letzten Grunde Schöpfungen des Gaius Gracchus. +Aber die latinische Nationalität erfüllte nicht bloß die italischen +Grenzen und fing an sie zu überschreiten, sondern sie gelangte auch in +sich zu tieferer geistiger Begründung. Wir finden sie im Zuge, eine +klassische Literatur, einen eigenen höheren Unterricht sich zu +schaffen; und wenn man im Vergleich mit den hellenischen Klassikern und +der hellenischen Bildung sich versucht fühlen kann, die schwächliche +italische Treibhausproduktion gering zu achten, so kam es doch für die +geschichtliche Entwicklung zunächst weit weniger darauf an, wie die +lateinische klassische Literatur und die lateinische Bildung, als +darauf, daß sie neben der griechischen stand; und herabgekommen wie die +gleichzeitigen Hellenen auch literarisch waren, durfte man wohl das +Wort des Dichters auch hier anwenden, daß der lebendige Tagelöhner mehr +ist als der tote Achill. + +Wie rasch und ungestüm aber die lateinische Sprache und Nationalität +vorwärts dringt, sie erkennt zugleich die hellenische an als durchaus +gleich, ja früher und besser berechtigt und tritt mit dieser überall in +das engste Bündnis oder durchdringt sich mit ihr zu gemeinschaftlicher +Entwicklung. Die italische Revolution, die sonst alle nichtlatinischen +Nationalitäten auf der Halbinsel nivellierte, rührte nicht an die +Griechenstädte Tarent, Rhegion, Neapolis, Lokri. Ebenso blieb Massalia, +obwohl jetzt umschlossen von römischem Gebiet, fortwährend eine +griechische Stadt und eben als solche fest verbunden mit Rom. Mit der +vollständigen Latinisierung Italiens ging die steigende Hellenisierung +Hand in Hand. In den höheren Schichten der italischen Gesellschaft +wurde die griechische Bildung zum integrierenden Bestandteil der +eigenen. Der Konsul des Jahres 623 (131), der Oberpontifex Publius +Crassus, erregte des Staunen selbst der geborenen Griechen, da er als +Statthalter von Asia seine gerichtlichen Entscheidungen, wie der Fall +es erforderte, bald in gewöhnlichem Griechisch abgab, bald in einem der +vier zu Schriftsprachen gewordenen Dialekte. Und wenn die italische +Literatur und Kunst längst unverwandt nach Osten blickten, so begann +jetzt auch die hellenische das Antlitz nach Westen zu wenden. Nicht +bloß die griechischen Städte in Italien blieben fortwährend zu regem +geistigen Verkehr mit Griechenland, Kleinasien, Ägypten und gönnten den +dort gefeierten griechischen Poeten und Schauspielern auch bei sich den +gleichen Verdienst und die gleichen Ehren; auch in Rom kamen, nach dem +von dem Zerstörer Korinths bei seinem Triumph 608 (146) gegebenen +Beispiel, die gymnastischen und musischen Spiele der Griechen: +Wettkämpfe im Ringen sowie im Musizieren, Spielen, Rezitieren und +Deklamieren in Aufnahme ^1. Die griechischen Literaten schlugen schon +ihre Fäden bis in die vornehme römische Gesellschaft, vor allem in den +Scipionischen Kreis, dessen hervorragende griechische Mitglieder, der +Geschichtschreiber Polybios, der Philosoph Panätios, bereits mehr der +römischen als der griechischen Entwicklungsgeschichte angehören. Aber +auch in anderen, minderhochstehenden Zirkeln begegnen ähnliche +Beziehungen. Wir gedenken eines anderen Zeitgenossen Scipios, des +Philosophen Kleitomachos, weil in seinem Leben zugleich die gewaltige +Völkermischung dieser Zeit sinnlich vor das Auge tritt: ein geborener +Karthager, sodann in Athen Zuhörer des Karneades und später dessen +Nachfolger in seiner Professur, verkehrte er von Athen aus mit den +gebildetsten Männern Italiens, dem Historiker Aulus Albinus und dem +Dichter Lucilius, und widmete teils dem römischen Konsul, der die +Belagerung Karthagos eröffnete, Lucius Censorinus, ein +wissenschaftliches Werk, teils seinen als Sklaven nach Italien +geführten Mitbürgern eine philosophische Trostschrift. Hatten namhafte +griechische Literaten bisher wohl vorübergehend als Gesandte, Verbannte +oder sonstwie ihren Aufenthalt in Rom genommen, so fingen sie jetzt +schon an, dort sich niederzulassen; wie zum Beispiel der schon genannte +Panätios in Scipios Hause lebte, und der Hexametermacher Archias von +Antiocheia im Jahre 652 (102) sich in Rom niederließ und von der +Improvisierkunst und von Heldengedichten auf römische Konsulare sich +anständig ernährte. Sogar Gaius Marius, der schwerlich von seinem +Carmen eine Zeile verstand und überhaupt zum Mäzen möglichst übel sich +schickte, konnte nicht umhin, den Verskünstler zu patronisieren. +Während also das geistige und literarische Leben wenn nicht die +reineren, doch die vornehmeren Elemente der beiden Nationen miteinander +in Verbindung brachte, flossen andererseits durch das massenhafte +Eindringen der kleinasiatischen und syrischen Sklavenscharen und durch +die kaufmännische Einwanderung aus dem griechischen und +halbgriechischen Osten die rohesten und stark mit orientalischen und +überhaupt barbarischen Bestandteilen versetzten Schichten des +Hellenismus zusammen mit dem italischen Proletariat und gaben auch +diesem eine hellenische Färbung. Die Bemerkung Ciceros, daß neue +Sprache und neue Weise zuerst in den Seestädten aufkommt, dürfte +zunächst auf das halbhellenische Wesen in Ostia, Puteoli und Brundisium +sich beziehen, wo mit der fremden Ware auch die fremde Sitte zuerst +Eingang und von da aus weiteren Vertrieb fand. + +—————————————————————————- + +^1 Daß vor 608 (146) keine “griechischen Spiele” in Rom gegeben seien +(Tac. ann. 14, 21), ist nicht genau; schon 568 (186) traten griechische +“Künstler” (τεχνίται) und Athleten (Liv. 39, 22), 587 (167) griechische +Flötenspieler, Tragöden und Faustkämpfer auf (Polyb. 30, 13). + +————————————————————————— + +Das unmittelbare Resultat dieser vollständigen Revolution in den +Nationalitätsverhältnissen war allerdings nichts weniger als +erfreulich. Italien wimmelte von Griechen, Syrern, Phönikern, Juden, +Ägyptern, die Provinzen von Römern; die scharf ausgeprägten +Volkstümlichkeiten rieben sich überall aneinander und verschliffen sich +zusehends; es schien nichts übrigbleiben zu sollen als der allgemeine +Charakter der Vernutzung. Was das lateinische Wesen an Ausdehnung +gewann, verlor es an Frische; vor allem in Rom selbst, wo der +Mittelstand am frühesten und vollständigsten verschwand und nichts +übrig blieb als die großen Herren und die Bettler, beide in gleichem +Maße Kosmopoliten. Cicero versichert, daß um 660 (190) die allgemeine +Bildung in den launischen Städten höher gestanden habe als in Rom; dies +bestätigt die Literatur dieser Zeit, deren erfreulichste, gesundeste +und eigentümlichste Erzeugnisse, wie die nationale Komödie und die +Lucilische Satire, mit größerem Recht latinisch heißen als römisch. Daß +der italische Hellenismus der unteren Schichten in der Tat nichts war +als ein zugleich mit allen Auswüchsen der Kultur und mit oberflächlich +übertünchter Barbarei behafteter widerwärtiger Kosmopolitismus, +versteht sich von selbst; aber auch für die bessere Gesellschaft blieb +der feine Sinn des Scipionischen Kreises nicht auf die Dauer maßgebend. +Je mehr die Masse der Gesellschaft anfing, sich für das griechische +Wesen zu interessieren, desto entschiedener griff sie statt zu der +klassischen Literatur vielmehr zu den modernsten und frivolsten +Erzeugnissen des griechischen Geistes; statt im hellenischen Sinn das +römische Wesen zu gestalten, begnügte man sich mit Entlehnung +desjenigen Zeitvertreibs, der den eigenen Geist möglichst wenig in +Tätigkeit setzte. In diesem Sinn äußerte der arpinatische Gutsbesitzer +Marcus Cicero, der Vater des Redners, daß der Römer, wie der syrische +Sklave, immer um so weniger tauge, je mehr er griechisch verstehe. + +Diese nationale Dekomposition ist unerquicklich wie die ganze Zeit, +aber auch wie diese bedeutsam und folgenreich. Der Völkerkreis, den wir +die alte Welt zu nennen gewohnt sind, schreitet fort von der +äußerlichen Einigung unter der Machtgewalt Roms zu der inneren unter +der Herrschaft der modernen, wesentlich auf hellenischen Elementen +ruhenden Bildung. Über den Trümmern der Völkerschaften zweiten Ranges +vollzieht sich zwischen den beiden herrschenden Nationen +stillschweigend der große geschichtliche Kompromiß; die griechische und +die lateinische Nationalität schließen miteinander Frieden. Auf dem +Gebiete der Bildung verzichten die Griechen, auf dem politischen die +Römer auf ihre exklusive Sprachherrschaft; im Unterricht wird dem +Latein eine freilich beschränkte und unvollständige Gleichstellung mit +dem Griechischen eingeräumt; andererseits gestattet zuerst Sulla den +fremden Gesandten, vor dem römischen Senat ohne Dolmetscher griechisch +zu reden. Die Zeit kündigt sich an, wo das römische Gemeinwesen in +einen zwiesprachigen Staat übergehen und der rechte Erbe des Thrones +und der Gedanken Alexanders des Großen im Westen aufstehen wird, +zugleich ein Römer und ein Grieche. + +Was schon der Überblick der nationalen Verhältnisse also zeigt, die +Unterdrückung der sekundären und die gegenseitige Durchdringung der +beiden primären Nationalitäten, das ist im Gebiete der Religion, der +Volkserziehung, der Literatur und der Kunst noch im einzelnen genauer +darzulegen. + +Die römische Religion war mit dem römischen Gemeinwesen und dem +römischen Haushalt so innig verwachsen, so gar nichts anderes als die +fromme Widerspiegelung der römischen Bürgerwelt, daß die politische und +soziale Revolution notwendigerweise auch das Religionsgebäude über den +Haufen warf. Der alte italische Volksglaube stürzt zusammen; über +seinen Trümmern erheben sich, wie über den Trümmern des politischen +Gemeinwesens Oligarchie und Tyrannis, so auf der einen Seite der +Unglaube, die Staatsreligion, der Hellenismus, auf der anderen der +Aberglaube, das Sektenwesen, die Religion der Orientalen. Allerdings +gehen die Anfänge von beiden, wie ja auch die Anfänge der +politisch-sozialen Revolution, bereits in die vorige Epoche zurück. +Schon damals rüttelte die hellenische Bildung der höheren Kreise im +stillen an dem Glauben der Väter; schon Ennius bürgerte die +Allegorisierung und Historisierung der hellenischen Religion in Italien +ein; schon der Senat, der Hannibal bezwang, mußte die Übersiedlung des +kleinasiatischen Kybelekults nach Rom gutheißen und gegen anderen noch +schlimmeren Aberglauben, namentlich das bakchische Muckertum, aufs +ernstlichste einschreiten. Indes wie überhaupt in der vorhergehenden +Periode die Revolution mehr in den Gemütern sich vorbereitete als +äußerlich sich vollzog, so ist auch die religiöse Umwälzung im +wesentlichen dort erst das Werk der gracchischen und sullanischen Zeit. + +Versuchen wir zunächst die an den Hellenismus sich anlehnende Richtung +zu verfolgen. Die hellenische Nation, weit früher als die italische +erblüht und abgeblüht, hatte längst die Epoche des Glaubens durchmessen +und seitdem sich ausschließlich bewegt auf dem Gebiet der Spekulation +und Reflexion; seit langem gab es dort keine Religion mehr, sondern nur +noch Philosophie. Aber auch die philosophische Tätigkeit des +hellenischen Geistes hatte, als sie auf Rom zu wirken begann, die +Epoche der produktiven Spekulation bereits weit hinter sich und war in +dem Stadium angekommen, wo nicht bloß keine wahrhaft neuen Systeme mehr +entstehen, sondern wo auch die Fassungskraft für die vollkommensten der +älteren zu schwinden beginnt und man auf die schulmäßige und bald +scholastische Überlieferung der unvollkommneren Philosopheme der +Vorfahren sich beschränkt; in dem Stadium also, wo die Philosophie, +statt den Geist zu vertiefen und zu befreien, vielmehr ihn verflacht +und ihn in die schlimmsten aller Fesseln, die selbstgeschmiedeten, +schlägt. Der Zaubertrank der Spekulation, immer gefährlich, ist, +verdünnt und abgestanden, sicheres Gift. So schal und verwässert +reichten die gleichzeitigen Griechen ihn den Römern, und diese +verstanden weder ihn zurückzuweisen noch von den lebenden Schulmeistern +auf die toten Meister zurückzugehen. Platon und Aristoteles, um von den +vorsokratischen Weisen zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluß auf +die römische Bildung geblieben, wenngleich die erlauchten Namen gern +genannt, ihre faßlicheren Schriften auch wohl gelesen und übersetzt +wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie nichts als +schlechter Lehrer schlechtere Schüler. Außer der +historisch-rationalistischen Auffassung der Religion, welche die Mythen +auflöste in Lebensbeschreibungen verschiedener in grauer Vorzeit +lebender Wohltäter des Menschengeschlechtes, aus denen der Aberglaube +Götter gemacht habe, oder dem sogenannten Euhemerismus, sind +hauptsächlich drei Philosophenschulen für Italien von Bedeutung +geworden: die beiden dogmatischen des Epikuros († 484 270) und des +Zenon († 491 263) und die skeptische des Arkesilas († 513 241) und +Karneades (541-625 231-129) oder mit den Schulnamen der Epikureismus, +die Stoa und die Neuere Akademie. Die letzte dieser Richtungen, welche +von der Unmöglichkeit des überzeugten Wissens ausging und an dessen +Stelle nur ein für das praktische Bedürfnis ausreichendes vorläufiges +Meinen als möglich zugab, bewegte sich hauptsächlich polemisch, indem +sie jeden Satz des positiven Glaubens wie des philosophischen +Dogmatismus in den Schlingen ihrer Dilemmen fing. Sie steht insofern +ungefähr auf einer Linie mit der älteren Sophistik, nur daß +begreiflicherweise die Sophisten mehr gegen den Volksglauben, Karneades +und die Seinen mehr gegen ihre philosophischen Kollegen ankämpften. +Dagegen trafen Epikuros und Zenon überein sowohl in dem Ziel einer +rationellen Erklärung des Wesens der Dinge als auch in der +physiologischen, von dem Begriff der Materie ausgehenden Methode. +Auseinander gingen sie, insofern Epikuros, der Atomenlehre Demokrits +folgend, das Urwesen als starre Materie faßt und diese nur durch +mechanische Verschiedenheiten in die Mannigfaltigkeit der Dinge +überführt, Zenon dagegen, sich anlehnend an den Ephesier Herakleitos, +schon in den Urstoff eine dynamische Gegensätzlichkeit und eine auf- +und niederwogende Bewegung hineinlegt; woraus denn die weiteren +Unterschiede sich ableiten: daß im epikureischen System die Götter +gleichsam nicht vorhanden und höchstens der Traum der Träume sind, die +stoischen Götter die ewig rege Seele der Welt und als Geist, als Sonne, +als Gott mächtig über den Körper, die Erde, die Natur; daß Epikuros +nicht, wohl aber Zenon eine Weltregierung und eine persönliche +Unsterblichkeit der Seele anerkennt; daß das Ziel des menschlichen +Strebens nach Epikuros ist das unbedingte, weder von körperlichem +Begehren noch von geistigem Streiten aufgeregte Gleichgewicht, dagegen +nach Zenon die durch das stetige Gegeneinanderstreben des Geistes und +Körpers immer gesteigerte und zu dem Einklang mit der ewig streitenden +und ewig friedlichen Natur aufstrebende menschliche Tätigkeit. In einem +Punkte aber stimmten der Religion gegenüber alle diese Schulen +zusammen: daß der Glaube als solcher nichts sei und notwendig ersetzt +werden müsse durch die Reflexion, mochte diese übrigens mit Bewußtsein +darauf verzichten, zu einem Resultat zu gelangen, wie die Akademie, +oder die Vorstellungen des Volksglaubens verwerfen, wie die Schule +Epikurs, oder dieselben teils motiviert festhalten, teils modifizieren, +wie die Stoiker taten. + +Es war danach nur folgerichtig, daß die erste Berührung der +hellenischen Philosophie mit der römischen, ebenso glaubensfesten als +antispekulativen Nation durchaus feindlicher Art war. Die römische +Religion hatte vollkommen recht, von diesen philosophischen Systemen +sowohl die Befehdung wie die Begründung sich zu verbitten, die beide +ihr eigentliches Wesen aufhoben. Der römische Staat, der in der +Religion instinktmäßig sich selber angegriffen fühlte, verhielt sich +billig gegen die Philosophen wie die Festung gegen die Eclaireurs der +anrückenden Belagerungsarmee und wies schon 593 (161) mit den Rhetoren +auch die griechischen Philosophen aus Rom aus. In der Tat war auch +gleich das erste größere Debüt der Philosophie in Rom eine förmliche +Kriegserklärung gegen Glaube und Sitte. Es ward veranlaßt durch die +Okkupation von Oropos durch die Athener, mit deren Rechtfertigung vor +dem Senat diese drei der angesehensten Professoren der Philosophie, +darunter den Meister der modernen Sophistik, Karneades, beauftragten +(599 155). Die Wahl war insofern zweckmäßig, als der ganz schandbare +Handel jeder Rechtfertigung im gewöhnlichen Verstand spottete; dagegen +paßte es vollkommen für den Fall, wenn Karneades durch Rede und +Gegenrede bewies, daß sich gerade ebenso viele und ebenso +nachdrückliche Gründe zum Lobe der Ungerechtigkeit vorbringen ließen +wie zum Lobe der Gerechtigkeit, und wenn er in bester logischer Form +dartat, daß man mit gleichem Recht von den Athenern verlangen könne, +Oropos herauszugeben und von den Römern, sich wieder zu beschränken auf +ihre alten Strohhütten am Palatin. Die der griechischen Sprache +mächtige Jugend ward durch den Skandal wie durch den raschen und +emphatischen Vortrag des gefeierten Mannes scharenweise herbeigezogen; +aber diesmal wenigstens konnte man Cato nicht unrecht geben, wenn er +nicht bloß die dialektischen Gedankenreihen der Philosophen unhöflich +genug mit den langweiligen Psalmodien der Klageweiber verglich, sondern +auch im Senat darauf drang, einen Menschen auszuweisen, der die Kunst +verstand, Recht zu Unrecht und Unrecht zu Recht zu machen, und dessen +Verteidigung in der Tat nichts war als ein schamloses und fast +höhnisches Eingeständnis des Unrechts. Indes dergleichen Ausweisungen +reichten nicht weit, um so weniger, da es doch der römischen Jugend +nicht verwehrt werden konnte, in Rhodos oder Athen philosophische +Vorträge zu hören. Man gewöhnte sich, die Philosophie zuerst wenigstens +als notwendiges Übel zu dulden, bald auch für die in ihrer Naivität +nicht mehr haltbare römische Religion in der fremden Weisheitslehre +eine Stütze zu suchen, die als Glauben zwar sie ruinierte, aber dafür +doch dem gebildeten Mann gestattete, die Namen und Formen des +Volksglaubens anständigerweise einigermaßen festzuhalten. Indes diese +Stütze konnte weder der Euhemerismus sein noch das System des Karneades +oder des Epikuros. Die Mythenhistorisierung trat dem Volksglauben allzu +schroff entgegen, indem sie die Götter geradezu für Menschen erklärte; +Karneades zog gar ihre Existenz in Zweifel, und Epikuros sprach ihnen +wenigstens jeden Einfluß auf die Geschicke der Menschen ab. Zwischen +diesen Systemen und der römischen Religion war ein Bündnis unmöglich; +sie waren und blieben verfemt. Noch in Ciceros Schriften wird es für +Bürgerpflicht erklärt, dem Euhemerismus Widerstand zu leisten, der dem +Gottesdienst zu nahe trete; und von den in seinen Gesprächen +auftretenden Akademikern und Epikureern muß jener sich entschuldigen, +daß er als Philosoph zwar ein Jünger des Karneades, aber als Bürger und +Pontifex ein rechtgläubiger Bekenner des Kapitolinischen Jupiter sei, +der Epikureer sogar schließlich sich gefangen geben und sich bekehren. +Keines dieser drei Systeme ward eigentlich populär. Die platte +Begreiflichkeit des Euhemerismus hat wohl eine gewisse Anziehungskraft +auf die Römer geübt, namentlich auf die konventionelle Geschichte Roms +nur zu tief eingewirkt mit ihrer zugleich kindischen und +altersschwachen Historisierung der Fabel; auf die römische Religion +aber blieb er deshalb ohne wesentlichen Einfluß, weil diese von Haus +aus nur allegorisierte, nicht fabulierte und es dort nicht wie in +Hellas möglich war, Biographien Zeus des ersten, zweiten und dritten zu +schreiben. Die moderne Sophistik konnte nur gedeihen, wo, wie in Athen, +die geistreiche Maulfertigkeit zu Hause war und überdies die langen +Reihen gekommener und gegangener philosophischer Systeme hohe +Schuttlagen geistiger Brandstätten aufgeschichtet hatten. Gegen den +Epikurischen Quietismus endlich lehnte alles sich auf, was in dem +römischen, so durchaus auf Tätigkeit gerichteten Wesen tüchtig und brav +war. Dennoch fand er mehr sein Publikum als der Euhemerismus und die +Sophistik, und es ist wahrscheinlich dies die Ursache, weshalb die +Polizei fortgefahren hat, ihm am längsten und ernstlichsten den Krieg +zu machen. Indes dieser römische Epikureismus war nicht so sehr ein +philosophisches System als eine Art philosophischen Dominos, unter dem +- sehr gegen die Absicht seines streng sittlichen Urhebers - der +gedankenlose Sinnesgenuß für die gute Gesellschaft sich maskierte; wie +denn einer der frühesten Bekenner dieser Sekte, Titus Albucius, in +Lucilius’ Gedichten figuriert als der Prototyp des übel +hellenisierenden Römers. + +Gar anders stand und wirkte in Italien die stoische Philosophie. Im +geraden Gegensatz gegen jene Richtungen schloß sie an die +Landesreligion so eng sich an, wie das Wissen sich dem Glauben zu +akkommodieren überhaupt nur vermag. An dem Volksglauben mit seinen +Göttern und Orakeln hielt der Stoiker insofern grundsätzlich fest, als +er darin eine instinktive Erkenntnis sah, auf welche die +wissenschaftliche Rücksicht zu nehmen, ja in zweifelhaften Fällen sich +ihr unterzuordnen verpflichtet sei. Er glaubte mehr anders als das Volk +als eigentlich anderes: der wesentlich wahre und höchste Gott zwar war +ihm die Weltseele, aber auch jede Manifestation des Urgottes war +wiederum Gott, die Gestirne vor allem, aber auch die Erde, der +Weinstock, die Seele des hohen Sterblichen, den das Volk als Heros +ehrte, ja überhaupt jeder abgeschiedene Geist eines gewordenen +Menschen. Diese Philosophie paßte in der Tat besser nach Rom als in die +eigene Heimat. Der Tadel des frommen Gläubigen, daß der Gott des +Stoikers weder Geschlecht noch Alter noch Körperlichkeit habe und aus +einer Person in einen Begriff verwandelt sei, hatte in Griechenland +einen Sinn, nicht aber in Rom. Die grobe Allegorisierung und sittliche +Purifizierung, wie sie der stoischen Götterlehre eigen war, verdarb den +besten Kern der hellenischen Mythologie; aber die auch in ihrer naiven +Zeit dürftige plastische Kraft der Römer hatte nicht mehr erzeugt als +eine leichte, ohne sonderlichen Schaden abzustreifende Umhüllung der +ursprünglichen Anschauung oder des ursprünglichen Begriffes, woraus die +Gottheit hervorgegangen war. Pallas Athene mochte zürnen, wenn sie sich +plötzlich in den Begriff des Gedächtnisses verwandelt fand; Minerva war +auch bisher eben nicht viel mehr gewesen. Die supranaturalische +stoische und die allegorische römische Theologie fielen in ihrem +Ergebnis im ganzen zusammen. Selbst aber wenn der Philosoph einzelne +Sätze der Priesterlehre als zweifelhaft oder als falsch bezeichnen +mußte, wie denn zum Beispiel die Stoiker, die Vergötterungslehre +verwerfend, in Hercules, Kastor, Pollux nichts als die Geister +ausgezeichneter Menschen sahen, und ebenso das Götterbild nicht als +Repräsentanten der Gottheit gelten lassen konnten, so war es wenigstens +nicht die Art der Anhänger Zenons, gegen diese Irrlehren anzukämpfen +und die falschen Götter zu stürzen; vielmehr bewiesen sie überall der +Landesreligion Rücksicht und Ehrfurcht, auch in ihren Schwächen. Auch +die Richtung der Stoa auf eine kasuistische Moral und auf die +rationelle Behandlung der Fachwissenschaften war ganz im Sinne der +Römer, zumal der Römer dieser Zeit, welche nicht mehr wie die Väter in +unbefangener Weise Zucht und gute Sitte übten, sondern deren naive +Sittlichkeit auflösten in einen Katechismus erlaubter und unerlaubter +Handlungen; deren Grammatik und Jurisprudenz überdies dringend eine +methodische Behandlung erheischten, ohne jedoch die Fähigkeit zu +besitzen, diese aus sich selber zu entwickeln. So inkorporierte diese +Philosophie als ein zwar dem Ausland entlehntes, aber auf italischem +Boden akklimatisiertes Gewächs sich durchaus dem römischen +Volkshaushalt, und wir begegnen ihren Spuren auf den +verschiedenartigsten Gebieten. Ihre Anfänge reichen ohne Zweifel weiter +zurück; aber zur vollen Geltung in den höheren Schichten der römischen +Gesellschaft gelangte die Stoa zuerst durch den Kreis, der sich um +Scipio Aemilianus gruppierte. Panätios von Rhodos, der Lehrmeister +Scipios und aller ihm nahestehender Männer in der stoischen Philosophie +und beständig in seinem Gefolge, sogar auf Reisen sein gewöhnlicher +Begleiter, verstand es, das System geistreichen Männern nahe zu +bringen, dessen spekulative Seite zurücktreten zu lassen und die Dürre +der Terminologie, die Flachheit des Moralkatechismus einigermaßen zu +mildern, namentlich auch durch Herbeiziehung der älteren Philosophen, +unter denen Scipio selbst den Xenophonteischen Sokrates vorzugsweise +liebte. Seitdem bekannten zur Stoa sich die namhaftesten Staatsmänner +und Gelehrten, unter anderen die Begründer der wissenschaftlichen +Philologie und der wissenschaftlichen Jurisprudenz, Stilo und Quintus +Scaevola. Der schulmäßige Schematismus, der in diesen +Fachwissenschaften seitdem wenigstens äußerlich herrscht und namentlich +anknüpft an eine wunderliche, scharadenhaft geistlose +Etymologisiermethode, stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist +die aus der Verschmelzung der stoischen Philosophie und der römischen +Religion hervorgehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion. Das +spekulative Element, von Haus aus in dem Zenonischen System wenig +energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt, als dasselbe in Rom +Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhundert hindurch die griechischen +Schulmeister sich beflissen hatten, diese Philosophie in die +Knabenköpfe hinein und damit den Geist aus ihr hinauszutreiben, trat +völlig zurück in Rom, wo niemand spekulierte als der Wechsler; es war +wenig mehr die Rede von der idealen Entwicklung des in der Seele des +Menschen waltenden Gottes oder göttlichen Weltgesetzes. Die stoischen +Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht einträgliche +Auszeichnung, ihr System zur halboffiziellen römischen +Staatsphilosophie erhoben zu sehen, und erwiesen sich überhaupt +geschmeidiger, als man es nach ihren rigorosen Prinzipien hätte +erwarten sollen. Ihre Lehre von den Göttern und vom Staat zeigte bald +eine seltsame Familienähnlichkeit mit den realen Institutionen ihrer +Brotherren; statt über den kosmopolitischen Philosophenstaat stellten +sie Betrachtungen an über die weise Ordnung des römischen +Beamtenwesens; und wenn die feineren Stoiker, wie Panätios, die +göttliche Offenbarung durch Wunder und Zeichen als denkbar, aber +ungewiß dahingestellt, die Sterndeuterei nun gar entschieden verworfen +hatten, so verfochten schon seine nächsten Nachfolger jene +Offenbarungslehre, das heißt die römische Auguraldisziplin, so steif +und fest wie jeden anderen Schulsatz und machten sogar der Astrologie +höchst unphilosophische Zugeständnisse. Das Hauptstück des Systems ward +immer mehr die kasuistische Pflichtenlehre. Sie kam dem hohlen +Tugendstolz entgegen, bei welchem die Römer dieser Zeit in der vielfach +demütigenden Berührung mit den Griechen Entschädigung suchten, und +formulierte den angemessenen Dogmatismus der Sittlichkeit, der, wie +jede wohlerzogene Moral, mit herzerstarrender Rigorosität im ganzen die +höflichste Nachsicht im einzelnen verbindet 2. Ihre praktischen +Resultate werden kaum viel höher anzuschlagen sein als daß, wie gesagt, +in zwei oder drei vornehmen Häusern der Stoa zuliebe schlecht gegessen +ward. + +—————————————————————- + +2 Ein ergötzliches Exempel kann man bei Cicero (off. 3, 12. 13) +nachlesen. + +—————————————————————- + +Dieser neuen Staatsphilosophie eng verwandt oder eigentlich ihre andere +Seite ist die neue Staatsreligion, deren wesentliches Kennzeichen das +bewußte Festhalten der als irrationell erkannten Sätze des +Volksglaubens aus äußeren Zweckmäßigkeitsgründen ist. Schon einer der +hervorragendsten Männer des Scipionischen Kreises, der Grieche +Polybios, spricht es unverhohlen aus, daß das wunderliche und +schwerfällige römische Religionszeremoniell einzig der Menge wegen +erfunden sei, die, da die Vernunft nichts über sie vermöge, mit Zeichen +und Wundern beherrscht werden müsse, während verständige Leute +allerdings der Religion nicht bedürften. Ohne Zweifel teilten Polybios’ +römische Freunde im wesentlichen diese Gesinnung, wenn sie auch nicht +in so kruder und so platter Weise Wissenschaft und Religion sich +entgegensetzten. Weder Laelius noch Scipio Aemilianus können in der +Auguraldisziplin, an die auch Polybios zunächst denkt, etwas anderes +gesehen haben als eine politische Institution; doch war der +Nationalsinn in ihnen zu mächtig und das Anstandsgefühl zu fein, als +daß sie mit solchen bedenklichen Erörterungen öffentlich hätten +auftreten mögen. Aber schon in der folgenden Generation trug der +Oberpontifex Quintus Scaevola (Konsul 659 95; 3, 221; 336) wenigstens +in seiner mündlichen Rechtsunterweisung unbedenklich die Sätze vor, daß +es eine zweifache Religion gebe, eine verstandesmäßige philosophische +und eine nichtverstandesmäßige traditionelle, daß jene sich nicht eigne +zur Staatsreligion, da sie mancherlei enthalte, was dem Volk zu wissen +unnütz oder sogar schädlich sei, daß demnach die überlieferte +Staatsreligion bleiben müsse, wie sie sei. Nur eine weitere Entwicklung +desselben Grundgedankens ist die Varronische Theologie, in der die +römische Religion durchaus behandelt wird als ein Staatsinstitut. Der +Staat, wird hier gelehrt, sei älter als die Götter des Staats, wie der +Maler älter als das Gemälde; wenn es sich darum handelte, die Götter +neu zu machen, würde man allerdings wohltun, sie zweckdienlicher und +den Teilen der Weltseele prinzipmäßig entsprechender zu machen und zu +benennen, auch die nur irrige Vorstellungen erweckenden Götterbilder 3 +und das verkehrte Opferwesen zu beseitigen; allein da diese +Einrichtungen einmal beständen, so müsse jeder gute Bürger sie kennen +und befolgen und dazu tun, daß der “gemeine Mann” die Götter vielmehr +höher achten als geringschätzen lerne. Daß der gemeine Mann, zu dessen +Besten die Herren ihren Verstand gefangen gaben, diesen Glauben jetzt +verschmähte und sein Heil anderswo suchte, versteht sich von selbst und +wird weiterhin sich zeigen. So war denn die römische Hochkirche fertig, +eine scheinheilige Priester- und Levitenschaft und eine glaubenslose +Gemeinde. Je unverhohlener man die Landesreligion für eine politische +Institution erklärte, desto entschiedener betrachteten die politischen +Parteien das Gebiet der Staatskirche als Tummelplatz für Angriff und +Verteidigung; was namentlich in immer steigendem Maße der Fall war mit +der Auguralwissenschaft und mit den Wahlen zu den Priesterkollegien. +Die alte und natürliche Übung, die Bürgerversammlung zu entlassen, wenn +ein Gewitter heraufzog, hatte unter den Händen der römischen Augurn +sich zu einem weitläufigen System verschiedener Himmelszeichen und +daran sich knüpfender Verhaltungsregeln entwickelt; in den ersten +Dezennien dieser Epoche ward sogar durch das Älische und das Fufische +Gesetz geradezu verordnet, daß jede Volksversammlung auseinanderzugehen +genötigt sei, wenn es einem höheren Beamten einfalle, nach +Gewitterzeichen am Himmel zu schauen; und die römische Oligarchie war +stolz auf den schlauen Gedanken, fortan durch eine einzige fromme Lüge +jedem Volksbeschluß den Stempel der Nichtigkeit aufdrücken zu können. +Umgekehrt lehnte die römische Opposition sich auf gegen die alte Übung, +daß die vier höchsten Priesterkollegien bei entstehenden Vakanzen sich +selber ergänzten, und forderte die Erstreckung der Volkswahl auch auf +die Stellen selbst, wie sie für die Vorstandschaften dieser Kollegien +schon früher eingeführt war. Es widersprach dies allerdings dem Geiste +dieser Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht, darüber sich +zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden waren und +zum Beispiel der Regierung mit religiösen Kassationsgründen politischer +Akte auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angelegenheit ward ein +Zankapfel der Parteien. Den ersten Sturm im Jahre 609 (145) schlug der +Senat ab, wobei namentlich der Scipionische Kreis für die Verwerfung +des Antrags den Ausschlag gab. Aber im Jahre 650 (104) ging sodann der +Vorschlag durch mit der früher schon bei der Wahl der Vorstände +gemachten Beschränkungen zum Besten bedenklicher Gewissen, daß nicht +die ganze Bürgerschaft, sondern nur der kleinere Teil der Bezirke zu +wählen habe. Dagegen stellte Sulla das Kooptationsrecht in vollem +Umfang wieder her. Mit dieser Fürsorge der Konservativen für die reine +Landesreligion vertrug es natürlich sich aufs beste, daß eben in den +vornehmsten Kreisen mit derselben offen Spott getrieben ward. Die +praktische Seite des römischen Priestertums war die priesterliche +Küche; die Augural- und Pontifikalschmäuse waren gleichsam die +offiziellen Silberblicke eines römischen Feinschmeckerlebens und manche +derselben machten Epoche in der Geschichte der Gastronomie, wie zum +Beispiel die Antrittsmahlzeit des Augurs Quintus Hortensius die +Pfauenbraten aufgebracht hat. Sehr brauchbar ward auch die Religion +befunden, um den Skandal pikanter zu machen. Es war ein +Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren, zur Nachtzeit auf den +Straßen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln. Gewöhnliche +Liebeshändel waren längst gemein und Verhältnisse mit Ehefrauen fingen +an es zu werden; aber ein Verhältnis zu einer Vestalin war so pikant +wie in der Welt des Decamerone die Nonnenliebschaft und das +Klosterabenteuer. Bekannt ist der arge Handel des Jahres 640 (114), in +welchem drei Vestalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren +Liebhaber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst vor +dem Pontifikalkollegium und, da dies die Sache zu vertuschen suchte, +vor einem durch eigenen Volksschluß eingesetzten außerordentlichen +Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen und sämtlich zum Tode +verurteilt wurden. Solchen Skandal nun konnten freilich gesetzte Leute +nicht billigen; aber dagegen war nichts einzuwenden, daß man die +positive Religion im vertrauten Kreise albern fand: die Augurn konnten, +wenn einer den andern fungieren sah, sich einander ins Gesicht lachen, +unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die bescheidene +Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb, wenn man die krasse +Unverschämtheit der römischen Priester und Leviten damit vergleicht. +Ganz unbefangen ward die offizielle Religion behandelt als ein hohles, +nur für die politischen Maschinisten noch brauchbares Gerüste; in +dieser Eigenschaft konnte es mit seinen zahllosen Winkeln und +Falltüren, wie es fiel, jeder Partei dienen und hat einer jeden +gedient. Zumeist sah allerdings die Oligarchie ihr Palladium in der +Staatsreligion, vornehmlich in der Auguraldisziplin; aber auch die +Gegenpartei machte keine prinzipielle Opposition gegen ein Institut, +das nur noch ein Scheinleben hatte, sondern betrachtete dasselbe im +ganzen als eine Schanze, die aus dem Besitz des Feindes in den eigenen +übergehen könne. + +—————————————————————————————- + +3 Auch in Varros Satire ‘Die Aboriginer’ wurde in spöttischer Weise +dargestellt, wie die Urmenschen sich nicht hätten genügen lassen mit +dem Gott, den nur der Gedanke erkennt, sondern sich gesehnt hätten nach +Götterpuppen und Götterbilderchen. + +—————————————————————————————- + +Im scharfen Gegensatz gegen dies eben geschilderte Religionsgespenst +stehen die verschiedenen fremden Kulte, welche diese Epoche hegte und +pflegte und denen wenigstens eine sehr entschiedene Lebenskraft nicht +abgesprochen werden kann. Sie begegnen überall, bei den vornehmen Damen +und Herren wie in den Sklavenkreisen, bei dem General wie bei dem +Lanzknecht, in Italien wie in den Provinzen. Es ist unglaublich, wie +hoch hinauf dieser Aberglaube bereits reicht. Als im Kimbrischen Krieg +eine syrische Prophetin Martha sich erbot, die Wege und Mittel zur +Überwindung der Deutschen dem Senat an die Hand zu geben, wies dieser +zwar sie mit Verachtung zurück; aber die römischen Damen und namentlich +Marius’ eigene Gemahlin expedierten sie dennoch nach dem Hauptquartier, +wo der Gemahl sie bereitwillig aufnahm und mit sich herumführte, bis +die Teutonen geschlagen waren. Die Führer der verschiedensten Parteien +im Bürgerkrieg, Marias, Octavius, Sulla, trafen zusammen in dem Glauben +an Zeichen und Orakel. Selbst der Senat maßte während desselben in den +Wirren des Jahres 667 (87) sich dazu verstehen, den Faseleien einer +verrückten Prophetin gemäß Anordnungen zu treffen. Für das Erstarren +der römisch-hellenischen Religion, wie für das im Steigen begriffene +Bedürfnis der Menge nach stärkeren religiösen Stimulantien ist es +bezeichnend, daß der Aberglaube nicht mehr, wie in den +Bakchenmysterien, anknüpft an die nationale Religion; selbst die +etruskische Mystik ist bereits überflügelt; durchaus in erster Linie +erscheinen die in den heißen Landschaften des Orients gezeitigten +Kulte. Sehr viel hat dazu beigetragen das massenhafte Eindringen +kleinasiatischer und syrischer Elemente in die Bevölkerung, teils durch +die Sklaveneinfuhr, teils durch den gesteigerten Verkehr Italiens mit +dem Osten. Die Macht dieser fremdländischen Religion tritt sehr scharf +hervor in den Aufständen der sizilischen, größtenteils aus Syrien +herstammenden Sklaven. Eunus spie Feuer, Athenion las in den Sternen; +die von den Sklaven in diesen Kriegen geschleuderten Bleikugeln tragen +großenteils Götternamen, neben Zeus und Artetuis besonders den der +geheimnisvollen von Kreta nach Sizilien gewanderten und daselbst eifrig +verehrten Mütter. Ähnlich wirkte der Handelsverkehr, namentlich seitdem +die Waren von Berytos und Alexandreia direkt nach den italischen Häfen +gingen: Ostia und Puteoli wurden die großen Stapelplätze wie für die +syrischen Salben und die ägyptische Leinwand so auch für den Glauben +des Ostens. Überall ist mit der Völker- auch die Religionsmengung +beständig im Steigen. Von allen erlaubten Kulten war der populärste der +der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eunuchenzölibat, mit +den Schmäusen, der Musik, den Bettelprozessionen und dem ganzen +sinnlichen Gepränge der Menge imponierte; die Hauskollekten wurden +bereits als eine ökonomische Last empfunden. In der gefährlichsten Zeit +des Kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Battakes von Pessinus +in eigener Person in Rom, um die Interessen des dortigen, angeblich +entweihten Tempels seiner Göttin zu vertreten, redete im besonderen +Auftrag der Göttermutter zum römischen Volk und tat auch verschiedene +Wunder. Die verständigen Leute ärgerten sich, aber die Weiber und die +große Menge ließen es sich nicht nehmen, dem Propheten beim Abzug in +hellen Haufen das Geleit zu geben. Gelübde, nach dem Osten zu +wallfahrten, waren bereits nichts Seltenes mehr, wie denn selbst Marius +also seine Pilgerfahrt nach Pessinus unternahm; ja es gaben schon +(zuerst 653 101) römische Bürger sich zu dem Eunuchenpriestertum her. +Aber weit populärer noch waren natürlich die unerlaubten und +Geheimkulte. Schon zu Catos Zeit hatte der chaldäische +Horoskopensteller angefangen, dem etruskischen Eingeweide-, dem +marsischen Vogelschauer Konkurrenz zu machen; bald war die +Sternguckerei und Sterndeuterei in Italien ebenso zu Hause wie in ihrem +traumseligen Heimatland. Schon 615 (139) wies der römische +Fremdenprätor die sämtlichen “Chaldäer” an, binnen zehn Tagen Rom und +Italien zu räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, +welche zu ihrem Sabbat italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso +hatte Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen +Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später (657 +97) sah man sogar sich genötigt, die Menschenopfer zu verbieten. Der +wilde Kult der kappadokischen Ma oder, wie die Römer sie nannten, der +Bellona, welcher bei den festlichen Aufzügen die Priester das eigene +Blut zum Opfer verspritzten, und die düstere ägyptische Götterverehrung +beginnen sich zu melden; schon Sulla erschien jene Kappadokierin im +Traume, und von den späteren römischen Isis- und Osirisgemeinden +führten die ältesten ihre Entstehung bis in die sullanische Zeit +zurück. Man war irre geworden, nicht bloß an dem alten Glauben, sondern +auch an sich selbst; die entsetzlichsten Krisen einer fünfzigjährigen +Revolution, das instinktmäßige Gefühl, daß der Bürgerkrieg noch +keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle Spannung, die trübe +Beklommenheit der Menge. Unruhig erklomm der irrende Gedanke jede Höhe +und versenkte sich in jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in +die drohenden Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe +gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden +wähnte. Der ungeheuerliche Mystizismus fand in der allgemeinen +politischen, ökonomischen, sittlichen, religiösen Zerfahrenheit den ihm +genehmen Boden und gedieh mit erschreckender Schnelle: es war, als +wären Riesenbäume über Nacht aus der Erde gewachsen, niemand wußte +woher und wozu, und ebendieses wunderbar rasche Emporkommen wirkte neue +Wunder und ergriff epidemisch alle nicht ganz befestigten Gemüter. + +In ähnlicher Weise wie auf dem religiösen Gebiet vollendete sich die in +der vorigen Epoche begonnene Revolution auf dem der Erziehung und +Bildung. Wie der Grundgedanke des römischen Wesens, die bürgerliche +Gleichheit, bereits im Laufe des sechsten Jahrhunderts auch auf diesem +Gebiet ins Schwanken gekommen war, ist früher dargestellt worden. Schon +zu Pictors und Catos Zeit war die griechische Bildung in Rom weit +verbreitet und gab es eine eigene römische Bildung; allein man war doch +mit beiden nicht über die Anfänge hinausgelangt. Was man unter +römisch-griechischer Musterbildung in dieser Zeit ungefähr verstand, +zeigt Catos ‘Encyklopädie’; es ist wenig mehr als die Formulierung des +alten römischen Hausvatertums und wahrlich, mit der damaligen +hellenischen Bildung verglichen, dürftig genug. Auf wie niedriger Stufe +noch im Anfang des siebenten Jahrhunderts der Jugendunterricht in Rom +durchgängig stand, läßt aus den Äußerungen bei Polybios sich abnehmen, +welcher in dieser einen Hinsicht gegenüber der verständigen privaten +und öffentlichen Fürsorge seiner Landsleute die sträfliche +Gleichgültigkeit der Römer tadelnd hervorhebt - in den dieser +Gleichgültigkeit zu Grunde liegenden tieferen Gedanken der bürgerlichen +Gleichheit hat kein Hellene, auch Polybios nicht sich zu finden +vermocht. + +Jetzt ward dies anders. Wie zu dem naiven Volksglauben der aufgeklärte +stoische Supranaturalismus hinzutrat, so formulierte auch in der +Erziehung neben dem einfachen Volksunterricht sich eine besondere +Bildung, eine exklusive Humanitas und vertilgte die letzten Überreste +der alten geselligen Gleichheit. Es wird nicht überflüssig sein, auf +die Gestaltung des neuen Jugendunterrichts, sowohl des griechischen wie +des höheren lateinischen, einen Blick zu werfen. + +Es ist eine wundersame Fügung, daß derselbe Mann, der politisch die +hellenische Nation definitiv überwand, Lucius Aemilius Paullus, +zugleich zuerst oder als einer der ersten die hellenische Zivilisation +vollständig anerkannte als das, was sie seitdem unwidersprochen +geblieben ist, die Zivilisation der antiken Welt. Er selber zwar war +ein Greis, bevor es ihm gestattet wurde, die Homerischen Lieder im +Sinn, hinzutreten vor den Zeus des Pheidias; aber sein Herz war jung +genug, um den vollen Sonnenglanz hellenischer Schönheit und die +unbezwingliche Sehnsucht nach den goldenen Äpfeln der Hesperiden in +seiner Seele heimzubringen; Dichter und Künstler hatten an dem fremden +Mann einen ernsteren und innigeren Gläubigen gefunden, als irgendeiner +war von den klugen Leuten des damaligen Griechenland. Er machte kein +Epigramm auf Homeros oder Pheidias, aber er ließ seine Kinder einführen +in die Reiche des Geistes. Ohne die nationale Erziehung zu +vernachlässigen, soweit es eine solche gab, sorgte er wie die Griechen +für die physische Entwicklung seiner Knaben, zwar nicht durch die nach +römischen Begriffen unzulässigen Turnübungen, aber durch Unterweisung +in der bei den Griechen fast kunstmäßig entwickelten Jagd, und +steigerte den griechischen Unterricht in der Art, daß nicht mehr bloß +die Sprache um des Sprechens willen gelernt und geübt, sondern nach +griechischer Art der Gesamtstoff allgemeiner höherer Bildung an die +Sprache geknüpft und aus ihr entwickelt ward - also vor allem die +Kenntnis der griechischen Literatur mit der zu deren Verständnis +nötigen mythologischen und historischen Kunde, sodann Rhetorik und +Philosophie. Die Bibliothek des Königs Perseus war das einzige Stück, +das Paullus aus der makedonischen Kriegsbeute für sich nahm, um sie +seinen Söhnen zu schenken. Sogar griechische Maler und Bildner befanden +sich in seinem Gefolge und vollendeten die musische Bildung seiner +Kinder. Daß die Zeit vorüber war, wo man auf diesem Gebiet sich dem +Hellenismus gegenüber bloß ablehnend verhalten konnte, hatte schon Cato +empfunden; die Besseren mochten jetzt ahnen, daß der edle Kern +römischer Art durch den ganzen Hellenismus weniger gefährdet werde als +durch dessen Verstümmelung und Mißbildung: die Masse der höheren +Gesellschaft Roms und Italiens machte die neue Weise mit. An +griechischen Schulmeistern war seit langem in Rom kein Mangel; jetzt +strömten sie scharenweise, und nicht bloß als Sprach-, sondern als +Lehrer der Literatur und Bildung überhaupt, nach dem neu eröffneten +ergiebigen Absatzmarkt ihrer Weisheit. Griechische Hofmeister und +Lehrer der Philosophie, die freilich, auch wenn sie nicht Sklaven +waren, regelmäßig wie Bediente 4 gehalten wurden, wurden jetzt stehend +in den Palästen Roms; man raffinierte darauf, und es findet sich, daß +für einen griechischen Literatursklaven ersten Ranges 200000 Sesterzen +(15200 Taler) gezahlt worden sind. Schon 593 (161) bestanden in der +Hauptstadt eine Anzahl besonderer Lehranstalten für griechische +Deklamationsübung. Schon begegnen einzelne ausgezeichnete Namen unter +diesen römischen Lehrern: des Philosophen Panätios ward bereits +gedacht; der angesehene Grammatiker Krates von Mallos in Kilikien, +Aristarchs Zeitgenosse und ebenbürtiger Rival, fand um 585 (169) in Rom +ein Publikum für die Vorlesung und sprachliche und sachliche +Erläuterung der Homerischen Gedichte. Zwar stieß diese neue Weise des +Jugendunterrichts, revolutionär und antinational wie sie war, zum Teil +auf den Widerstand der Regierung; allein der Ausweisungsbefehl, den die +Behörden 593 (161) gegen Rhetoren und Philosophen schleuderten, blieb, +zumal bei dem steten Wechsel der römischen Oberbeamten, wie alle +ähnlichen Befehle ohne nennenswerten Erfolg, und nach des alten Cato +Tode ward in seinem Sinne wohl noch öfters geklagt, aber nicht mehr +gehandelt. Der höhere Unterricht im Griechischen und in den +griechischen Bildungswissenschaften blieb fortan anerkannt als ein +wesentlicher Teil der italischen Bildung. + +——————————————————————————— + +4 Cicero sagt, daß er seinen gelehrten Sklaven Dionysios +rücksichtsvoller behandelt habe als Scipio den Panätios; und in +gleichem Sinne hieß es bei Lucilius: + +Nützlicher ist mir mein Gaul, mein Reitknecht, Mantel und Zeltdach + +Als der Philosoph. + +———————————————————————————- + +Aber ihm zur Seite entwickelte sich ein höherer lateinischer +Unterricht. Es ist in der vorigen Epoche dargestellt worden, wie der +lateinische Elementarunterricht sich innerlich gesteigert hatte; wie an +die Stelle der Zwölf Tafeln gleichsam als verbesserte Fibel die +lateinische Odyssee getreten war und nun der römische Knabe an dieser +Übersetzung, wie der griechische an dem Original, die Kunde und den +Vortrag der Muttersprache ausbildete; wie namhafte griechische Sprach- +und Literaturlehrer, Andronicus, Ennius und andere mehr, die doch +wahrscheinlich schon nicht eigentlich Kinder, sondern heranreifende +Knaben und Jünglinge lehrten, es nicht verschmähten, neben der +griechischen auch in der Muttersprache zu unterrichten. Es waren das +die Anfänge eines höheren lateinischen Unterrichts, aber doch noch ein +solcher nicht. Der Sprachunterricht kann den elementaren Kreis nicht +überschreiten, solange es an einer Literatur mangelt. Erst als es nicht +bloß lateinische Schulbücher, sondern eine lateinische Literatur gab +und diese in den Werken der Klassiker des sechsten Jahrhunderts in +einer gewissen Abgeschlossenheit vorlag, traten die Muttersprache und +die einheimische Literatur wahrhaft ein in den Kreis der höheren +Bildungselemente; und die Emanzipation von den griechischen +Sprachmeistern ließ nun auch nicht lange auf sich warten. Angeregt +durch die Homerischen Vorlesungen des Krates begannen gebildete Römer +die rezitativen Werke auch ihrer Literatur, Naevius’ ‘Punischen Krieg’, +Ennius’ ‘Chronik’, späterhin auch Lucilius’ Gedichte zuerst einem +erlesenen Kreis, dann öffentlich an fest bestimmten Tagen und unter +großem Zulauf vorzutragen, auch wohl nach dem Vorgang der homerischen +Grammatiker sie kritisch zu bearbeiten. Diese literarischen Vorträge, +die gebildete Dilettanten (litterati) unentgeltlich hielten, waren zwar +kein förmlicher Jugendunterricht, aber doch ein wesentliches Mittel, +die Jugend in das Verständnis und den Vortrag der klassischen +lateinischen Literatur einzuführen. + +Ähnlich ging es mit der Bildung der lateinischen Rede. Die vornehme +römische Jugend, die schon in frühem Alter mit Lob- und gerichtlichen +Reden öffentlich aufzutreten angehalten ward, wird es an Redeübungen +nie haben fehlen lassen; indes erst in dieser Epoche und infolge der +neuen exklusiven Bildung entstand eine eigentliche Redekunst. Als der +erste römische Sachwalter, der Sprache und Stoff kunstmäßig behandelte, +wird Marcus Lepidus Porcina (Konsul 617 137) genannt; die beiden +berühmten Advokaten der marianischen Zeit, der männliche und lebhafte +Marcus Antonius (611-667143-87) und der feine, gehaltene Redner Lucius +Crassus (614-663 140-91), waren schon vollständig Kunstredner. Die +Übungen der Jugend im Sprechen stiegen natürlich an Umfang und +Bedeutung, aber blieben doch, eben wie die lateinischen +Literaturübungen, wesentlich darauf beschränkt, daß der Anfänger an den +Meister der Kunst persönlich sich anschloß und durch sein Beispiel und +seine Lehre sich ausbildete. + +Förmliche Unterweisung sowohl in lateinischer Literatur als in +lateinischer Redekunst gab zuerst um 650 (100) Lucius Aelius +Praeconinus von Lanuvium, der “Griffelmann” (Stilo) genannt, ein +angesehener, streng konservativ gesinnter römischer Ritter, der mit +einem auserlesenen Kreise jüngerer Männer - darunter Varro und Cicero - +den Plautus und ähnliches las, auch wohl Entwürfe zu Reden mit den +Verfassern durchging oder dergleichen seinen Freunden an die Hand gab. +Dies war ein Unterricht; aber ein gewerbmäßiger Schulmeister war Stilo +nicht, sondern er lehrte Literatur und Redekunst, wie in Rom die +Rechtswissenschaft gelehrt ward, als ein älterer Freund der +aufstrebenden jungen Leute, nicht als ein gedungener, jedem zu Gebote +stehender Mann. Aber um seine Zeit begann auch der schulmäßige höhere +Unterricht im Lateinischen, getrennt sowohl von dem elementaren +lateinischen als von dem griechischen Unterricht, und von bezahlten +Lehrmeistern, in der Regel freigelassenen Sklaven, in besonderen +Anstalten erteilt. Daß Geist und Methode durchaus den griechischen +Literatur- und Sprachübungen abgeborgt wurden, versteht sich von +selbst; und auch die Schüler bestanden wie bei diesen aus Jünglingen, +nicht aus Knaben. Bald schied sich dieser lateinische Unterricht, wie +der griechische, in einen zwiefachen Kursus, indem erstlich die +lateinische Literatur wissenschaftlich vorgetragen, sodann zu Lob-, +Staats- und Gerichtsreden kunstmäßige Anleitung gegeben ward. Die erste +römische Literaturschule eröffnete um Stilos Zeit Marcus Saevius +Nicanor Postumus, die erste besondere Schule für lateinische Rhetorik +um 660 (90) Lucius Plotius Gallus; doch ward in der Regel auch in den +lateinischen Literaturschulen Anleitung zur Redekunst gegeben. Dieser +neue lateinische Schulunterricht war von der tiefgreifendsten +Bedeutung. Die Anleitung zur Kunde lateinischer Literatur und +lateinischer Rede, wie sie früher von hochgestellten Kennern und +Meistern erteilt worden war, hatte den Griechen gegenüber eine gewisse +Selbständigkeit sich bewahrt. Die Kenner der Sprache und die Meister +der Rede standen wohl unter dem Einfluß des Hellenismus, aber nicht +unbedingt unter dem der griechischen Schulgrammatik und Schulrhetorik; +namentlich die letztere wurde entschieden perhorresziert. Der Stolz wie +der gesunde Menschenverstand der Römer empörte sich gegen die +griechische Behauptung, daß die Fähigkeit, über Dinge, die der Redner +verstand und empfand, verständig und anregend in der Muttersprache zu +seinesgleichen zu reden, in der Schule nach Schulregeln gelernt werden +könne. Dem tüchtigen praktischen Advokaten mußte das gänzlich dem Leben +entfremdete Treiben der griechischen Rhetoren für den Anfänger +schlimmer als gar keine Vorbereitung erscheinen; dem durchgebildeten +und durch das Leben gereiften Manne dünkte die griechische Rhetorik +schal und widerlich; dem ernstlich konservativ gesinnten entging die +Wahlverwandtschaft nicht zwischen der gewerbmäßig entwickelten +Redekunst und dem demagogischen Handwerk. So hatte denn namentlich der +Scipionische Kreis den Rhetoren die bitterste Feindschaft geschworen, +und wenn die griechischen Deklamationen bei bezahlten Meistern, +zunächst wohl als Übungen im Griechischsprechen, geduldet wurden, so +war doch die griechische Rhetorik damit weder in die lateinische Rede +noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In den neuen +lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen Jungen zu Männern +und Staatsrednern dadurch gebildet, daß sie paarweise den bei der +Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte desselben gefundenen Odysseus +der Ermordung seines Waffengefährten anklagten und dagegen ihn +verteidigten; daß sie den Orestes wegen Muttermordes belangten oder in +Schutz nahmen; daß sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit +einem guten Rat darüber aushalfen, ob er besser tue, der Vorladung nach +Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die Flucht zu +ergreifen. Es ist begreiflich, daß gegen diese widerwärtigen und +verderblichen Wortmühlen noch einmal die catonische Opposition sich +regte. Die Zensoren des Jahres 662 (92) erließen eine Warnung an Lehrer +und Eltern, die jungen Menschen nicht den ganzen Tag mit Übungen +hinbringen zu lassen, von denen die Vorfahren nichts gewußt hätten; und +der Mann, von dem diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste +Gerichtsredner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach +die Kassandra vergebens; lateinische Deklamierübungen über die +gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Bestandteil +des römischen Jugendunterrichts und taten das Ihrige, um schon die +Knaben zu advokatischen und politischen Schauspielern zu erziehen und +jede ernste und wahre Beredsamkeit im Keime zu ersticken. + +Als Gesamtergebnis aber dieser modernen römischen Erziehung entwickelte +sich der neue Begriff der sogenannten “Menschlichkeit”, der Humanität, +welche bestand teils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten +musischen Bildung der Hellenen, teils in einer dieser nachgebildeten +oder nachgestümperten privilegierten lateinischen. Diese neue Humanität +sagte, wie schon der Name andeutet, sich los von dem spezifisch +römischen Wesen, ja trat dagegen in Opposition und vereinigte in sich, +ebenwie unsere eng verwandte “allgemeine Bildung”, einen national +kosmopolitischen und sozial exklusiven Charakter. Auch hier war die +Revolution, die die Stände schied und die Völker verschmolz. + + + + +KAPITEL XIII. +Literatur und Kunst + + +Das sechste Jahrhundert ist, politisch wie literarisch, eine frische +und große Zeit. Zwar begegnet auf dem schriftstellerischen Gebiet so +wenig wie auf dem politischen ein Mann ersten Ranges; Naevius, Ennius, +Plautus, Cato, begabte und lebendige Schriftsteller von scharf +ausgeprägter Individualität, sind nicht im höchsten Sinn schöpferische +Talente; aber nichtsdestoweniger fühlt man dem Schwung, der Rührigkeit, +der Keckheit ihrer dramatischen, epischen, historischen Versuche es an, +daß sie ruhen auf den Riesenkämpfen der Punischen Kriege. Es ist vieles +nur künstlich verpflanzt, in Zeichnung und Farbe vielfach gefehlt, +Kunstform und Sprache unrein behandelt, Griechisches und Nationales +barock ineinandergefügt; die ganze Leistung verleugnet den Stempel des +schulmäßigen Urspungs nicht und ist unselbständig und unvollkommen; +aber dennoch lebt in den Dichtern und Schriftstellern dieser Zeit, wo +nicht die volle Kraft, das hohe Ziel zu erreichen, doch der Mut und die +Hoffnung, mit den Griechen zu wetteifern. Anders ist es in dieser +Epoche. Die Morgennebel sanken; was man im frischen Gefühl der im +Kriege gestählten Volkskraft begonnen hatte, mit jugendlichem Mangel an +Einsicht in die Schwierigkeit des Beginnens und in das Maß des eigenen +Talents, aber auch mit jugendlicher Lust und Liebe zum Werke, das +vermochte man nicht weiterzuführen, als teils die dumpfe Schwüle der +heraufziehenden revolutionären Gewitter die Luft zu erfüllen begann, +teils den Einsichtigeren allmählich die Augen aufgingen über die +unvergleichliche Herrlichkeit der griechischen Poesie und Kunst und +über die sehr bescheidene künstlerische Begabung der eigenen Nation. +Die Literatur des sechsten Jahrhunderts war hervorgegangen aus der +Einwirkung der griechischen Kunst auf halb gebildete, aber angeregte +und empfängliche Gemüter. Die gesteigerte hellenische Bildung des +siebenten rief eine literarische Reaktion hervor, welche die in jenen +naiven Nachdichtungsversuchen doch auch enthaltenen Blütenkeime mit dem +Winterfrost der Reflexion verdarb und Kraut und Unkraut der älteren +Richtung miteinander ausreutete. Diese Reaktion ging zunächst und +hauptsächlich hervor aus dem Kreise, der um Scipio Aemilianus sich +schloß und dessen hervorragendste Glieder unter der römischen vornehmen +Welt außer Scipio dessen älterer Freund und Berater Gaius Laelius +(Konsul 614 140) und Scipios jüngere Genossen, Lucius Furius Philus +(Konsul 618 136) und Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von +Korinth, unter den römischen und griechischen Literaten der Komiker +Terentius, der Satirenschreiber Lucilius, der Geschichtschreiber +Polybios, der Philosoph Panätios waren. Wem die Ilias, wem Xenophon und +Menandros geläufig waren, dem konnte der römische Homer nicht +imponieren und noch weniger die schlechten Übersetzungen Euripideischer +Tragödien, wie Ennius sie geliefert hatte und Pacuvius sie zu liefern +fortfuhr. Mochten der Kritik gegen die vaterländische Chronik +patriotische Rücksichten Schranken stecken, so richtete doch Lucilius +sehr spitzige Pfeile gegen “die traurigen Figuren aus den geschraubten +Expositionen des Pacuvius”; und ähnliche strenge, aber nicht ungerechte +Kritiken des Ennius, Plautus, Pacuvius, all dieser Dichter, “die einen +Freibrief zu haben scheinen, schwülstig zu reden und unlogisch zu +schließen”, begegnen bei dem feinen Verfasser der am Schlusse dieser +Periode geschriebenen, dem Herennius gewidmeten Rhetorik. Man zuckte +die Achseln über die Interpolationen, mit denen der derbe römische +Volkswitz die eleganten Komödien des Philemon und des Diphilos +staffiert hatte. Halb lächelnd, halb neidisch wandte man sich ab von +den unzulänglichen Versuchen einer dumpfen Zeit, die diesem Kreise +erscheinen mochten etwa wie dem gereiften Manne die Gedichtblätter aus +seiner Jugend; auf die Verpflanzung des Wunderbaumes verzichtend, ließ +man in Poesie und Prosa die höheren Kunstgattungen wesentlich fallen +und beschränkte sich hier darauf, der Meisterwerke des Auslandes sich +einsichtig zu erfreuen. Die Produktivität dieser Epoche bewegt sich +vorwiegend auf den untergeordneten Gebieten, der leichteren Komödie, +der poetischen Miszelle, der politischen Broschüre, den +Fachwissenschaften. Das literarische Stichwort wird die Korrektheit, im +Kunststil und vor allem in der Sprache, welche, wie ein engerer Kreis +von Gebildeten aus dem gesamten Volke sich aussondert, sich ihrerseits +ebenfalls zersetzt in das klassische Latein der höheren Gesellschaft +und das vulgäre des gemeinen Mannes. “Reine Sprache” verheißen die +Terenzischen Prologe; Sprachfehlerpolemik ist ein Hauptelement der +Lucilischen Satire; und ebendamit hängt es zusammen, daß die +griechische Schriftstellerei der Römer jetzt entschieden zurücktritt. +Insofern ist ein Fortschritt zum Besseren allerdings vorhanden; es +begegnen in dieser Epoche weit seltener unzulängliche, weit häufiger in +ihrer Art vollendete und durchaus erfreuliche Leistungen als vorher +oder nachher; in sprachlicher Hinsicht nennt schon Cicero die Zeit des +Laelius und des Scipio die goldene des reinen unverfälschten Latein. +Desgleichen steigt die literarische Tätigkeit in der öffentlichen +Meinung allmählich vom Handwerk zur Kunst empor. Noch im Anfang dieser +Periode galt, wenn auch nicht die Veröffentlichung rezitativer Poesien, +doch jedenfalls die Anfertigung von Theaterstücken als nicht schicklich +für den vornehmen Römer: Pacuvius und Terentius lebten von ihren +Stücken; das Dramenschreiben war lediglich ein Handwerk und keines mit +goldenem Boden. Um die Zeit Sullas hatten die Verhältnisse sich völlig +verwandelt. Schon die Schauspielerhonorare dieser Zeit beweisen, daß +auch der beliebte dramatische Dichter damals auf eine Bezahlung +Anspruch machen durfte, deren Höhe den Makel entfernte. Damit wurde die +Bühnendichtung zur freien Kunst erhoben; und so finden wir denn auch +Männer aus den höchsten adligen Kreisen, zum Beispiel Lucius Caesar +(Ädil 664 90, † 667 87) für die römische Bühne tätig und stolz darauf, +in der römischen “Dichtergilde” neben dem ahnenlosen Accius zu sitzen. +Die Kunst gewinnt an Teilnahme und an Ehre; aber der Schwung ist hin im +Leben wie in der Literatur. Die nachtwandlerische Sicherheit, die den +Dichter zum Dichter macht, und die vor allem bei Plautus sehr +entschieden hervortritt, kehrt bei keinem der späteren wieder - die +Epigonen der Hannibalskämpfer sind korrekt, aber matt. + +Betrachten wir zuerst die römische Bühnenliteratur und die Bühne +selbst. Im Trauerspiel treten jetzt zuerst Spezialitäten auf; die +Tragödiendichter dieser Epoche kultivierten nicht, wie die der vorigen, +nebenbei das Lustspiel und das Epos. Die Wertschätzung dieses +Kunstzweiges in den schreibenden und lesenden Kreisen war offenbar im +Steigen, schwerlich aber die tragische Dichtung selbst. Der nationalen +Tragödie (praetexta), der Schöpfung des Naevius, begegnen wir nur noch +bei dem gleich zu erwähnenden Pacuvius, einem Spätling der Ennianischen +Epoche. Unter den wahrscheinlich zahlreichen Nachdichtern griechischer +Tragödie erwerben nur zwei sich einen bedeutenden Namen. Marcus +Pacuvius aus Brundisium (535 - ca. 625 219 bis 129), der in seinen +früheren Jahren im Rom vom Malen, erst im höheren Alter vom +Trauerspieldichten lebte, gehört seinen Jahren wie seiner Art nach mehr +dem sechsten als dem siebenten Jahrhundert an, obwohl seine poetische +Tätigkeit in dieses fällt. Er dichtete im ganzen in der Weise seines +Landsmanns, Oheims und Meisters Ennius. Sorgsamer feilend und nach +höherem Schwunge strebend als sein Vorgänger, galt er günstigen +Kunstkritikern später als Muster der Kunstpoesie und des reichen Stils; +in den auf uns gekommenen Bruchstücken fehlt es indes nicht an Belegen, +die Ciceros sprachlichen und Lucilius’ ästhetischen Tadel des Dichters +rechtfertigen; seine Sprache erscheint holpriger als die seines +Vorgängers, seine Dichtweise schwülstig und tüftelnd ^1. Es finden sich +Spuren, daß er wie Ennius mehr auf Philosophie als auf Religion gab; +aber er bevorzugte doch nicht wie dieser die der neologischen Richtung +zusagenden sinnliche Leidenschaft oder moderne Aufklärung predigenden +Dramen und schöpfte ohne Unterschied bei Sophokles und bei Euripides - +von jener entschiedenen und beinahe genialen Tendenzpoesie des Ennius +kann in dem jüngeren Dichter keine Ader gewesen sein. + +————————————————————————- + +^1 So hieß es im ‘Paulus’, einem Originalstück, wahrscheinlich in der +Beschreibung des Passes von Pythion (2, 296): + +Qua vix caprigeno géneri gradilis gréssio est. + +Wo kaum + +Dem bockgeschlechtigen Geschlecht gangbar der Gang. + +Und in einem andern Stück wird den Zuhörern angesonnen, folgende +Beschreibung zu verstehen: + +Vierfüßig, langsamwandelnd, ackerheimisch, rauh, + +Niedrig, kurzköpfig, schlangenhalsig, starr zu schaun, + +Und, ausgeweidet, leblos mit lebendigem Ton. + +Worauf dieselben natürlich erwidern: + +Mit dichtverzäuntem Worte schilderst du uns ab, + +Was ratend schwerlich auch der kluge Mann durchschaut; + +Wenn du nicht offen redest, wir verstehn dich nicht. + +Es erfolgt nun das Geständnis, daß die Schildkröte gemeint ist. +übrigens fehlten solche Rätselreden auch bei den attischen +Trauerspieldichtern nicht, die deshalb von der Mittleren Komödie oft +und derb mitgenommen wurden. + +——————————————————————————— + +Lesbarere und gewandtere Nachbildungen der griechischen Tragödie +lieferte des Pacuvius jüngerer Zeitgenosse Lucius Accius, eines +Freigelassenen Sohn von Pisaurum (584 - nach 651 170-108), außer +Pacuvius der einzige namhafte tragische Dichter des siebenten +Jahrhunderts. Ohne Zweifel war er, ein auch literarhistorisch und +grammatisch tätiger Schriftsteller, bemüht, statt der kruden Weise +seiner Vorgänger größere Reinheit in Sprache und Stil in die +lateinische Tragödie einzuführen; doch ward auch seine Ungleichheit und +Inkorrektheit von den Männern der strengen Observanz, wie Lucilius, +nachdrücklich getadelt. + +Weit größere Tätigkeit und weit bedeutendere Erfolge begegnen auf dem +Gebiete des Lustspiels. Gleich am Anfang dieser Periode erfolgte gegen +die gangbare und volksmäßige Lustspieldichtung eine bemerkenswerte +Reaktion. Ihr Vertreter Terentius (558-595 196-159) ist eine der +geschichtlich interessantesten Erscheinungen in der römischen +Literatur. Geboren im phönikischen Afrika, in früher Jugend als Sklave +nach Rom gebracht und dort in die griechische Bildung der Zeit +eingeführt, schien er von Haus aus dazu berufen, der neuattischen +Komödie ihren kosmopolitischen Charakter zurückzugeben, den sie in der +Zustutzung für das römische Publikum unter Naevius, Plautus und ihrer +Genossen derben Händen einigermaßen eingebüßt hatte. Schon in der Wahl +und der Verwendung der Musterstücke zeigt sich der Gegensatz zwischen +ihm und demjenigen seiner Vorgänger, den wir jetzt allein mit ihm +vergleichen können. Plautus wählt seine Stücke aus dem ganzen Kreise +der neueren attischen Komödie und verschmäht die keckeren und +populäreren Lustspieldichter, wie zum Beispiel den Philemon, durchaus +nicht; Terenz hält sich fast ausschließlich an Menandros, den +zierlichsten, feinsten und züchtigsten unter allen Poeten der neueren +Komödie. Die Weise, mehrere griechische Stücke zu einem lateinischen +zusammenzuarbeiten, wird von Terenz zwar beibehalten, da sie nach Lage +der Sache für den römischen Bearbeiter nun einmal unvermeidlich war, +aber mit unvergleichlich mehr Geschicklichkeit und Sorgsamkeit +gehandhabt. Der Plautinische Dialog entfernte sich ohne Zweifel sehr +häufig von seinen Mustern; Terenz rühmt sich des wörtlichen Anschlusses +seiner Nachbildungen an die Originale, wobei freilich nicht an eine +wörtliche Übersetzung in unserm Sinn gedacht werden darf. Die nicht +selten rohe, aber immer drastische Auftragung römischer Lokaltöne auf +den griechischen Grund, wie Plautus sie liebte, wird vollständig und +absichtlich verbannt, nicht eine Anspielung erinnert an Rom, nicht ein +Sprichwort, kaum eine Reminiszenz 2; selbst die lateinischen Titel +werden durch griechische ersetzt. Derselbe Unterschied zeigt sich in +der künstlerischen Behandlung. Vor allen Dingen erhalten die +Schauspieler die ihnen gebührenden Masken zurück und wird für eine +sorgfältigere Inszenierung Sorge getragen, so daß nicht mehr wie bei +Plautus alles, was dahin und nicht dahin gehört, auf der Straße +vorzugehen braucht. Plautus schürzt und löst den Knoten leichtsinnig +und lose, aber seine Fabel ist drollig und oft frappant; Terenz, weit +minder drastisch, trägt überall, nicht selten auf Kosten der Spannung, +der Wahrscheinlichkeit Rechnung und polemisiert nachdrücklich gegen die +allerdings zum Teil platten und abgeschmackten stehenden Notbehelfe +seiner Vorgänger, zum Beispiel gegen die allegorischen Träume 3. +Plautus malt seine Charaktere mit breiten Strichen, oft schablonenhaft, +immer für die Wirkung aus der Ferne und im ganzen und groben; Terenz +behandelt die psychologische Entwicklung mit einer sorgfältigen und oft +vortrefflichen Miniaturmalerei, wie zum Beispiel in den ‘Brüdern’ die +beiden Alten, der bequeme städtische Lebemann und der vielgeplackte, +durchaus nicht parfümierte Gutsherr, einen meisterhaften Kontrast +bilden. In den Motiven wie in der Sprache steht Plautus in der Kneipe, +Terenz im guten bürgerlichen Haushalt. Die rüpelhafte Plautinische +Wirtschaft, die sehr ungenierten, aber allerliebsten Dirnchen mit den +obligaten Wirten dazu, die säbelrasselnden Landsknechte, die ganz +besonders launig gemalte Bedientenwelt, deren Himmel der Keller, deren +Fatum die Peitsche ist, sind bei Terenz verschwunden oder doch zum +Besseren gewandt. Bei Plautus befindet man sich, im ganzen genommen, +unter angehendem oder ausgebildetem Gesindel, bei Terenz dagegen +regelmäßig unter lauter edlen Menschen; wird ja einmal ein Mädchenwirt +ausgeplündert oder ein junger Mensch ins Bordell geführt, so geschieht +es in moralischer Absicht, etwa aus brüderlicher Liebe oder um den +Knaben vom Besuch schlichter Häuser abzuschrecken. In den Plautinischen +Stücken herrscht die Philisteropposition der Kneipe gegen das Haus: +überall werden die Frauen heruntergemacht zur Ergötzung aller +zeitweilig emanzipierten und einer liebenswürdigen Begrüßung daheim +nicht völlig versicherten Eheleute. In den Terenzischen Komödien +herrscht nicht eine sittlichere, aber wohl eine schicklichere +Auffassung der Frauennatur und des ehelichen Lebens. Regelmäßig +schließen sie mit einer tugendhaften Hochzeit oder womöglich mit zweien +- ebenwie von Menandros gerühmt wird, daß er jede Verführung durch eine +Hochzeit wiedergutgemacht habe. Die Lobreden auf das ehelose Leben, die +bei Menandros so häufig sind, werden von seinem römischen Bearbeiter +nur mit charakteristischer Schüchternheit wiederholt 4, dagegen der +Verliebte in seiner Pein, der zärtliche Ehemann am Kindbett, die +liebevolle Schwester auf dem Sterbelager im ‘Verschnittenen’ und im +‘Mädchen von Andros’ gar anmutig geschildert; ja in der +‘Schwiegermutter’ erscheint sogar am Schluß als rettender Engel ein +tugendhaftes Freudenmädchen, ebenfalls eine echt Menandrische Figur, +die das römische Publikum freilich wie billig auspfiff. Bei Plautus +sind die Väter durchaus nur dazu da, um von den Söhnen gefoppt und +geprellt zu werden; bei Terenz wird im ‘Selbstquäler’ der verlorene +Sohn durch väterliche Weisheit gebessert und, wie er überhaupt voll +trefflicher Pädagogik ist, geht in dem vorzüglichsten seiner Stücke, +den ‘Brüdern’, die Pointe darauf hinaus, zwischen der allzu liberalen +Onkel- und der allzu rigorosen Vatererziehung die rechte Mitte zu +finden. Plautus schreibt für den großen Haufen und führt gottlose und +spöttische Reden im Munde, soweit die Bühnenzensur es irgend gestattet; +Terenz bezeichnet vielmehr als seinen Zweck, den Guten zu gefallen und, +wie Menandros, niemand zu verletzen. Plautus liebt den raschen, oft +lärmenden Dialog, und es gehört zu seinen Stücken das lebhafte +Körperspiel der Schauspieler; Terenz beschränkte sich auf “ruhiges +Gespräch”. Plautus’ Sprache fließt über von burlesken Wendungen und +Wortwitzen, von Alliterationen, von komischen Neubildungen, +aristophanischen Wörterverklitterungen, spaßhaft entlehnten +griechischen Schlagwörtern. Dergleichen Capricci kennt Terenz nicht: +sein Dialog bewegt sich im reinsten Ebenmaß, und die Pointen sind +zierliche epigrammatische und sentenziöse Wendungen. Kein Lustspiel des +Terenz ist dem Plautinischen gegenüber, weder in poetischer noch in +sittlicher Hinsicht, ein Fortschritt zu nennen. Von Originalität kann +bei beiden nicht, aber wo möglich noch weniger bei Terenz, die Rede +sein; und das zweifelhafte Lob korrekterer Kopierung wird wenigstens +aufgewogen dadurch, daß der jüngere Dichter wohl die Vergnüglichkeit, +aber nicht Lustigkeit Menanders wiederzugeben verstand, so daß die dem +Menander nachgedichteten Lustspiels des Plautus, wie der ‘Stichus’, die +Kästchenkomödie, ‘Die beiden Backchis’, wahrscheinlich weit mehr von +dem sprudelnden Zauber des Originals bewahren als die Komödien des +“halbierten Menander”. Ebensowenig wie in dem Übergang vom Rohen zum +Matten der Ästhetiker, kann der Sittenrichter in dem Übergang von der +Plautinischen Zote und Indifferenz zu der Terenzischen +Akkommodierungsmoral einen Fortschritt erkennen. Aber ein sprachlicher +Fortschritt fand allerdings statt. Die elegante Sprache war der Stolz +des Dichters, und ihrem unnachahmlichen Reiz vor allem verdankte er es, +daß die feinsten Kunstrichter der Folgezeit, wie Cicero, Caesar, +Quintilian, unter allen römischen Dichtern der republikanischen Zeit +ihm den Preis zuerkannten. Insofern ist es auch wohl gerechtfertigt, in +der römischen Literatur, deren wesentlicher Kern ja nicht die +Entwicklung der lateinischen Poesie, sondern die der lateinischen +Sprache ist, von den Terenzischen Lustspielen als der ersten +künstlerisch reinen Nachbildung hellenischer Kunstwerke eine neue Ära +zu datieren. Im entschiedensten literarischen Krieg brach die moderne +Komödie sich Bahn. Die Plautinische Dichtweise hatte in dem römischen +Bürgerstand Wurzel gefaßt; die Terenzischen Lustspiele stießen auf den +lebhaftesten Widerstand bei dem Publikum, das ihre “matte Sprache”, +ihren “schwachen Stil” unleidlich fand. Der, wie es scheint, ziemlich +empfindliche Dichter antwortete in den eigentlich keineswegs hierzu +bestimmten Prologen mit Antikritiken voll defensiver und offensiver +Polemik und provozierte von der Menge, die aus seiner ‘Schwiegermutter’ +zweimal weggelaufen war, um einer Fechter- und Seiltänzerbande +zuzusehen, auf die gebildeten Kreise der vornehmen Welt. Er erklärte, +nur nach dem Beifall der “Guten” zu streben, wobei freilich die +Andeutung nicht fehlt, daß es durchaus nicht anständig sei, Kunstwerke +zu mißachten, die den Beifall der “Wenigen” erhalten hätten. Er ließ +die Rede sich gefallen oder begünstigte sie sogar, daß vornehme Leute +ihn bei seinem Dichten mit Rat und sogar mit der Tat unterstützten 5. +In der Tat drang er durch; selbst in der Literatur herrschte die +Oligarchie und verdrängte die kunstmäßige Komödie der Exklusiven das +volkstümliche Lustspiel: wir finden, daß um 620 (134) die Plautinischen +Stücke vom Repertoire verschwanden. Es ist dies um so bezeichnender, +als nach dem frühen Tode des Terenz durchaus kein hervorstechendes +Talent weiter auf diesem Gebiet tätig war; über die Komödien des +Turpilius († 651 hochbejahrt 103) und andere ganz oder fast ganz +verschollene Lückenbüßer urteilte schon am Ende dieser Periode ein +Kenner, daß die neuen Komödien noch viel schlechter seien als die +schlechten neuen Pfennige. + +Daß wahrscheinlich bereits im Laufe des sechsten Jahrhunderts zu der +griechisch-römischen Komödie (palliata) die nationale (togata) +hinzugetreten war als Abbild zwar nicht des spezifischen +hauptstädtischen, aber doch des Tuns und Treibens im latinischen Land, +ist früher gezeigt worden. Natürlich bemächtigte die Terenzische Schule +rasch sich auch dieser Gattung; es war ganz in ihrem Sinn, die +griechische Komödie einerseits in getreuer Übersetzung, andererseits in +rein römischer Nachdichtung in Italien einzubürgern. Der Hauptvertreter +dieser Richtung ist Lucius Afranius (blüht um 660 90). Die Bruchstücke, +die uns von ihm vorliegen, geben keinen bestimmten Eindruck, aber sie +widersprechen auch nicht dem, was die römischen Kunstkritiker über ihn +bemerken. Seine zahlreichen Nationallustspiele waren der Anlage nach +durchaus dem griechischen Intrigenstück nachgebildet, nur daß sie, wie +bei der Nachdichtung natürlich ist, einfacher und kürzer ausfielen. +Auch im einzelnen borgte er, was ihm gefiel, teils von Menandros, teils +aus der älteren Nationalliteratur. Von den latinischen Lokaltönen aber, +die bei dem Schöpfer dieser Kunstgattung, Titinius, so bestimmt +hervortreten, begegnet bei Afranius nicht viel 6; seine Sujets halten +sich sehr allgemein und mögen wohl durchgängig Nachbildungen bestimmter +griechischer Komödien nur mit verändertem Kostüm sein. Ein feiner +Eklektizismus und eine gewandte Kunstdichtung - literarische +Anspielungen kommen nicht selten vor - sind ihm eigen wie dem Terenz; +auch die sittliche Tendenz, die seine Stücke dem Schauspiel näherte, +die polizeimäßige Haltung, die reine Sprache hat er mit diesem gemein. +Als Geistesverwandten des Menandros und des Terenz charakterisieren ihn +hinreichend das Urteil der Späteren, daß er die Toga trage wie +Menandros sie als Italiker getragen haben würde, und seine eigene +Äußerung, daß ihm Terenz über alle andern Dichter gehe. + +—————————————————————- + +2 Vielleicht die einzige Ausnahme ist im ‘Mädchen von Andros’ (4, 5) +die Antwort auf die Frage, wie es gehe: + +Nun, + +Wie wir können, heißt’s ja, da, wie wir möchten, es nicht geht, + +mit Anspielung auf die freilich auch einem griechischen Sprichwort +nachgebildete Zeile des Caecilius: + +Geht’s nicht so, wie du magst, so lebe wie du kannst. + +Das Lustspiel ist das älteste der Terenzischen und ward auf Empfehlung +des Caecilius von dem Theatervorstand zur Aufführung gebracht. Der +leise Dank ist bezeichnend. + +3 Ein Seitenstück zu der von Hunden gehetzten, weinend einen jungen +Menschen um Hilfe anrufenden Hindin, die Terenz (Phorm. prol. 4) +verspottet, wird man in der wenig geistreichen Plautinischen Allegorie +von der Ziege und dem Affen (Merc. 2, 1) erkennen dürfen. Schließlich +gehen auch dergleichen Auswüchse auf die Euripideische Rhetorik zurück +(z. B. Eur. Hek. 90). + +4 Micio in den ‘Brüdern’ (I, 1) preist sein Lebenslos und namentlich +auch, daß er nie eine Frau gehabt, “was jene (die Griechen) für ein +Glück halten”. + +5 Im Prolog des ‘Selbstquälers’ läßt er von seinen Rezensenten sich +vorwerfen: + +Er habe verlegt sich plötzlich auf die Poesie, + +Der Freunde Geist vertrauend, nicht aus eignem Drang; + +und in dem späteren (594 160) zu den ‘Brüdern’ heißt es: + +Denn wenn Mißgünstige sagen, daß vornehme Herrn + +Beim Werk ihm helfen und mitschreiben an jedem Stück, + +So rechnet dies, was herber Tadel jenen scheint, + +Der Dichter zum Ruhm sich: daß den Männern er gefällt, + +Die euch und allem Volke wohlgefällig sind, + +Die in Kriegsläuften seinerzeit mit Rat und Tat + +Hilfreich erprobt ihr all’ und ohne Übermut. + +Schon in der ciceronischen Zeit war es allgemeine Annahme, daß hier +Laelius und Scipio Aemilianus gemeint seien; man bezeichnete die Szenen +die von denselben herrühren sollten; man erzählte von den Fahrten des +armen Dichters mit seinen vornehmen Gönnern auf ihre Güter bei Rom und +fand es unverzeihlich, daß dieselben für die Verbesserung seiner +ökonomischen Lage gar nichts getan hätten. Allein die sagenbildende +Kraft ist bekanntlich nirgends mächtiger als in der +Literaturgeschichte. Es leuchtet ein, und schon besonnene römische +Kritiker haben es erkannt, daß diese Zeilen unmöglich auf den damals +25jährigen Scipio und auf seinen nicht viel älteren Freund Laelius +gehen können. Verständiger wenigstens dachten andere an die vornehmen +Poeten Quintus Labeo (Konsul 571 183) und Marcus Popillius (Konsul 581 +173) und den gelehrten Kunstfreund und Mathematiker Lucius Sulpicius +Gallus (Konsul 588 166); doch ist auch dies offenbar nur Vermutung. Daß +Terenz dem Scipionischen Hause nahe stand, ist übrigens nicht zu +bezweifeln; es ist bezeichnend, daß die erste Aufführung der ‘Brüder’ +und die zweite der ‘Schwiegermutter’ stattfand bei den +Begräbnisfeierlichkeiten des Lucius Paullus, die dessen Söhne Scipio +und Fabius ausrichteten. + +6 Dabei haben vermutlich auch äußerliche Umstände mitgewirkt. Nachdem +infolge des Bundesgenossenkrieges alle italischen Gemeinden das +römische Bürgerrecht erlangt hatten, war es nicht mehr erlaubt, die +Szene eines Lustspiels in eine solche zu verlegen, und mußte der +Dichter sich entweder allgemein halten oder untergegangene oder +ausländische Orte auswählen. Gewiß hat auch dieser Umstand, der selbst +bei der Aufführung der älteren Lustspiele in Betracht kam, auf das +Nationallustspiel ungünstig eingewirkt. + +—————————————————————- + +Neu trat in dieser Epoche in das Gebiet der lateinischen Literatur die +Posse ein. Sie selbst war uralt; lange bevor Rom stand, mögen Latiums +lustige Gesellen bei festlichen Gelegenheiten in den ein für allemal +feststehenden Charaktermasken improvisiert haben. Einen festen lokalen +Hintergrund erhielten diese Späße an dem lateinischen Schildburg, wozu +man die im Hannibalischen Kriege zerstörte und damit der Komik +preisgegebene ehemals oskische Stadt Atella ausersah; seitdem ward für +diese Aufführungen der Name der “Oskischen Spiele” oder “Spiele von +Atella” üblich 7. Aber mit der Bühne 8 und mit der Literatur hatten +diese Scherze nichts zu tun; sie wurden von Dilettanten wo und wie es +ihnen beliebte aufgeführt, und die Texte nicht geschrieben oder doch +nicht veröffentlicht. Erst in dieser Periode überwies man das +Atellanenstück an eigentliche Schauspieler 9 und verwandte es, ähnlich +wie das griechische Satyrdrama, als Nachspiel namentlich nach den +Tragödien; wo es denn nicht fern lag, auch die schriftstellerische +Tätigkeit hierauf zu erstrecken. Ob die römische Kunstposse ganz +selbständig sich entwickelte oder etwa die in mancher Hinsicht +verwandte unteritalische zu ihr den Anstoß gegeben hat ^10, läßt sich +nicht mehr entscheiden; daß die einzelnen Stücke durchgängig +Originalarbeiten gewesen sind, ist gewiß. Als Begründer dieser neuen +Literaturgattung trat in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts +^11 Lucius Pomponius aus der latinischen Kolonie Bonoma auf, neben +dessen Stücken bald auch die eines andern Dichters, Novius, sich +beliebt machten. Soweit die nicht zahlreichen Trümmer und die Berichte +der alten Literatoren uns hier ein Urteil gestatten, waren es kurze, +regelmäßig wohl einaktige Possen, deren Reiz weniger auf der tollen und +locker geknüpften Fabel beruhte als auf der drastischen Abkonterfeiung +einzelner Stände und Situationen. Gern wurden Festtage und öffentliche +Akte komisch geschildert: ‘Die Hochzeit’, ‘Der erste März’, ‘Pantalon +Wahlkandidat’; ebenso fremde Nationalitäten: die transalpinischen +Gallier, die Syrer; vor allem häufig erschienen auf den Brettern die +einzelnen Gewerbe: der Küster, der Wahrsager, der Vogelschauer, der +Arzt, der Zöllner, der Maler, Fischer, Bäcker gingen über die Bühne; +die Ausrufer hatten viel zu leiden und mehr noch die Walker, die in der +römischen Narrenwelt die Rolle unserer Schneider gespielt zu haben +scheinen. Wenn also dem mannigfaltigen städtischen Leben sein Recht +geschah, so ward auch der Bauer mit seinen Leiden und Freuden nach +allen Seiten dargestellt - von der Fülle dieses ländlichen Repertoires +geben eine Ahnung die zahlreichen derartigen Titel, wie zum Beispiel +‘Die Kuh’, ‘Der Esel’, ‘Das Zicklein’, ‘Die Sau’, ‘Das Schwein’, ‘Das +kranke Schwein, ‘Der Bauer, ‘Der Landmann, ‘Pantalon Landmann, ‘Der +Rinderknecht, ‘Die Winzer, ‘Der Feigensammler’, ‘Das Holzmachen’, ‘Das +Behacken, ‘Der Hühnerhof’. Immer noch waren es in diesen Stücken die +stehenden Figuren des dummen und des pfiffigen Dieners, des guten +Alten, des weisen Mannes, die das Publikum ergötzten; namentlich der +erste durfte nicht fehlen, der Pulcinell dieser Posse, der gefräßige, +unflätige ausstaffiert häßliche und dabei ewig verliebte Maccus, immer +im Begriff, über seine eigenen Füße zu fallen, von allen mit Hohn und +mit Prügeln bedacht und endlich am Schluß der regelmäßige Sündenbock - +die Titel ‘Pulcinell Soldat, ‘Pulcinell Wirt’, ‘Jungfer Pulcinell’, +‘Pulcinell in der Verbannung, ‘Die beiden Pulcinelle’ mögen dem +gutgelaunten Leser eine Ahnung davon geben, wie mannigfaltig es auf der +römischen Mummenschanz herging. Obwohl diese Possen, wenigstens seit +sie geschrieben wurden, den allgemeinen Gesetzen der Literatur sich +fügten und in den Versmaßen zum Beispiel der griechischen Bühne sich +anschlossen, so hielten sie doch sich natürlicherweise bei weitem +latinischer und volkstümlicher als selbst das nationale Lustspiel; in +die griechische Welt begab sich die Posse nur in der Form der +travestierten Tragödie ^12 und auch dies Genre scheint erst von Novius +und überhaupt nicht sehr häufig kultiviert worden zu sein. Die Posse +dieses Dichters wagte sich auch schon, wo nicht bis in den Olymp, doch +wenigstens bis zu dem menschlichsten der Götter, dem Hercules; er +schrieb einen ‘Hercules Auctionator’. Daß der Ton nicht der feinste +war, versteht sich; sehr unzweideutige Zweideutigkeiten, grobkörnige +Bauernzoten, Kinder schreckende und gelegentlich fressende Gespenster +gehörten hier einmal mit dazu, und persönliche Anzüglichkeiten, sogar +mit Nennung der Namen, schlüpften nicht selten durch. Aber es fehlte +auch nicht an lebendiger Schilderung, an grotesken Einfällen, +schlagenden Späßen, kernigen Sprüchen, und die Harlekinade gewann sich +rasch eine nicht unansehnliche Stellung im Bühnenleben der Hauptstadt +und selbst in der Literatur. + +—————————————————— + +7 Es knüpfen sich an diesen Namen seit alter Zeit eine Reihe von +Irrtümern. Das arge Versehen griechischer Berichterstatter, daß diese +Possen in Rom in oskischer Sprache gespielt worden seien, wird mit +Recht jetzt allgemein verworfen; allein es stellt bei genauerer +Betrachtung sich nicht minder als unmöglich heraus diese, in der Mitte +des latinischen Stadt- und Landlebens stehenden Stücke überhaupt auf +das national oskische Wesen zu beziehen. Die Benennung des +“Atellanischen Spiels” erklärt sich auf eine andere Weise. Die +latinische Posse mit ihren festen Rollen und stehenden Späßen bedurfte +einer bleibenden Szenerie; die Narrenwelt sucht überall sich ein +Schildburg. Natürlich konnte bei der römischen Bühnenpolizei keine der +römischen oder auch nur mit Rom verbündeten latinischen Gemeinden dazu +genommen werden, obwohl die togatae in diese zu verlegen gestattet war. +Atella aber, das mit Capua zugleich im Jahre 543 (211) rechtlich +vernichtet ward, tatsächlich aber als ein von römischen Bauern +bewohntes Dorf fortbestand, eignete sich dazu in jeder Beziehung. Zur +Gewißheit wird diese Vermutung durch die Wahrnehmung, daß einzelne +dieser Possen auch in anderen überhaupt oder doch rechtlich nicht mehr +existierenden Gemeinden des lateinisch redenden Gebiets spielen: so des +Pomponius Campani, vielleicht auch seine Adelphi und seine Quinquatria +in Capua, des Novius milites Pometinenses in Suessa Pometia, während +keine bestehende Gemeinde ähnlich gemißhandelt wird. Die wirkliche +Heimat dieser Stücke ist also Latium, ihr poetischer Schauplatz die +latinisierte Oskerlandschaft; mit der oskischen Nation haben sie nichts +zu tun. Daß ein Stück des Naevius († nach 550 200) in Ermangelung +eigentlicher Schauspieler von “Atellanenspielern” aufgeführt ward und +deshalb personata hieß (Festus u. d. W.), beweist hiergegen in keinem +Fall; die Benennung “Atellanenspieler” wird hier proleptisch stehen, +und man könnte sogar danach vermuten, daß sie früher “Maskenspieler” +(personati) hießen. + +Ganz in gleicher Weise erklären sich endlich auch die “Lieder von +Fescennium”, die gleichfalls zu der parodischen Poesie der Römer +gehören und in der südetruskischen Ortschaft Fescennium lokalisiert +wurden, ohne darum mehr zu der etruskischen Poesie gerechnet werden zu +dürfen als die Atellanen zur oskischen. Daß Fescennium in historischer +Zeit nicht Stadt, sondern Dorf war, läßt sich allerdings nicht +unmittelbar beweisen, ist aber nach der Art, wie die Schriftsteller des +Ortes gedenken und nach dem Schweigen der Inschriften im höchsten Grade +wahrscheinlich. + +8 Die enge und ursprüngliche Verbindung, in die namentlich Livius die +Atellanenposse mit der Satura und dem aus dieser sich entwickelnden +Schauspiel bringt, ist schlechterdings nicht haltbar. Zwischen dem +Histrio und dem Atellanenspieler war der Unterschied ungefähr ebenso +groß wie heutzutage zwischen dem, der auf die Bühne und dem, der auf +den Maskenball geht; auch zwischen dem Schauspiel, das bis auf Terenz +keine Masken kannte, und der Atellane, die wesentlich auf der +Charaktermaske beruhte, besteht ein ursprünglicher, in keiner Weise +auszugleichender Unterschied. Das Schauspiel ging aus von dem +Flötenstücke, das anfangs ohne alle Rezitation bloß auf Gesang und Tanz +sich beschränkte, sodann einen Text (satura), endlich durch Andronicus +ein der griechischen Schaubühne entlehntes Libretto erhielt, worin die +alten Flötenlieder ungefähr die Stelle des griechischen Chors +einnahmen. Mit der Dilettantenposse berührt sich dieser +Entwicklungsgang in den früheren Stadien nirgends. + +9 In der Kaiserzeit ward die Atellane durch Schauspieler von Profession +dargestellt (Friedländer in Beckers Handbuch, Bd. 6, S. 549). Die Zeit, +wo diese anfingen, sich mit ihr zu befassen, ist nicht überliefert, +kann aber kaum eine andere gewesen sein als diejenige, in welcher die +Atellane unter die regelmäßigen Bühnenspiele eintrat, das heißt die +vorciceronische Epoche, (Cic. ad fam. 9, 16). Damit ist nicht im +Widerspruch, daß noch zu Livius’ (7, 2) Zeit die Atellanenspieler im +Gegensatz der übrigen Schauspieler ihre Ehrenrechte behielten; denn +damit, daß Schauspieler von Profession gegen Bezahlung die Atellane +mitaufzuführen anfingen, ist noch gar nicht gesagt, daß dieselbe nicht +mehr, zum Beispiel in den Landstädten, von unbezahlten Dilettanten +aufgeführt ward und das Privilegium also fortwährend anwendbar blieb. + +^10 Es verdient Beachtung, daß die griechische Posse nicht bloß +vorzugsweise in Unteritalien zu Hause ist, sondern auch manche ihrer +Stücke (zum Beispiel unter denen des Sopatros ‘Das Linsengericht, +‘Bakchis’ Freier, ‘Des Mystakos Lohnlakai, ‘Die Gelehrtem, ‘Der +Physiolog’) lebhaft an die Atellanen erinnern. Auch muß diese +Possendichtung bis in die Zeit hinabgereicht haben, wo die Griechen in +und um Neapel eine Enklave in dem lateinisch redenden Kampanien +bildeten; denn einer dieser Possenschreiber, Blaesus von Capreae, führt +schon einen römischen Namen und schrieb eine Posse ‘Saturnus’. + +^11 Nach Eusebius blühte Pomponius um 664 (90); Velleius nennt ihn +Zeitgenossen des Lucius Crassus (614-663 140-91) und Marcus Antonius +(611-667 143-87). Die erste Ansetzung dürfte um ein Menschenalter zu +spät sein; die um 650 100 abgekommene Rechnung nach Victoriaten kommt +in seinen ‘Malern’ noch vor, und um das Ende dieser Periode begegnen +auch schon die Mimen, welche die Atellanen von der Bühne verdrängten. + +^12 Lustig genug mochte sie auch hier sein. So hieß es in Novius’ +‘Phönissen’: + +Auf! waffne dich! mit der Binsenkeule schlag ich dich tot! + +ganz wie Menanders ‘falscher Herakles’ auftritt. + +——————————————————————— + +Was endlich die Entwicklung des Bühnenwesens anlangt, so sind wir nicht +imstande, im einzelnen darzulegen, was im ganzen klar erhellt, daß das +allgemeine Interesse an den Bühnenspielen beständig im Steigen war und +dieselben immer häufiger und immer prachtvoller wurden. Nicht bloß ward +jetzt wohl kaum ein ordentliches oder außerordentliches Volksfest ohne +Bühnenspiele begangen, auch in den Landstädten und Privathäusern wurden +Vorstellungen gemieteter Schauspielertruppen gewöhnlich. Zwar +entbehrte, während wahrscheinlich manche Munizipalstadt schon in dieser +Zeit ein steinernes Theater besaß, die Hauptstadt eines solchen noch +immer; den schon verdungenen Theaterbau hatte der Senat im Jahre 599 +(185) auf Veranlassung des Publius Scipio Nasica wieder inhibiert. Es +war das ganz im Geiste der scheinheiligen Politik dieser Zeit, daß man +aus Respekt vor den Sitten der Väter die Erbauung eines stehenden +Theaters verhinderte, aber nichtsdestoweniger die Theaterspiele reißend +zunehmen und Jahr aus Jahr ein ungeheure Summen verschwenden ließ, um +Brettergerüste für dieselben aufzuschlagen und zu dekorieren. Die +Bühneneinrichtungen hoben sich zusehends. Die verbesserte Inszenierung +und die Wiedereinführung der Masken um die Zeit des Terenz hängt wohl +ohne Zweifel damit zusammen, daß die Einrichtung und Instandhaltung der +Bühne und des Bühnenapparats im Jahre 580 (74) auf die Staatskasse +übernommen ward ^13. Epochemachend in der Theatergeschichte wurden die +Spiele, welche Lucius Mummius nach der Einnahme von Korinth gab (609 +145). Wahrscheinlich wurde damals zuerst ein nach griechischer Art +akustisch gebautes und mit Sitzplätzen versehenes Theater aufgeschlagen +und überhaupt auf die Spiele mehr Sorgfalt verwandt ^14. Nun ist auch +von Erteilung eines Siegespreises, also von Konkurrenz mehrerer Stücke, +von lebhafter Parteinahme des Publikums für und gegen die +Hauptschauspieler, von Clique und Claque mehrfach die Rede. +Dekorationen und Maschinerie wurden verbessert: kunstmäßig gemalte +Kulissen und hörbare Theaterdonner kamen unter der Ädilität des Gaius +Claudius Pulcher 655 (99) auf ^15, zwanzig Jahre später (675 79) unter +der Ädilität der Brüder Lucius und Marcus Lucullus, die Verwandlung der +Dekorationen durch Umdrehung der Kulissen. Dem Ende dieser Epoche +gehört der größte römische Schauspieler an, der Freigelassene Quintus +Roscius († um 692 62 hoch bejahrt), durch mehrere Generationen hindurch +der Schmuck und Stolz der römischen Bühne ^16, Sullas Freund und gern +gesehener Tischgenosse, auf den noch später zurückzukommen sein wird. + +———————————————————————- + +^13 Bisher hatte der Spielgeber die Bühne und den szenischen Apparat +aus der ihm überwiesenen Pauschsumme oder auf eigene Kosten instand +setzen müssen und wird wohl nicht oft hierauf viel Geld gewendet worden +sein. Im Jahre 580 (174) aber gaben die Zensoren die Einrichtung der +Bühne für die Spiele der Ädilen und Prätoren besonders in Verding (Liv. +41, 27); daß der Bühnenapparat jetzt nicht mehr bloß für einmal +angeschafft ward, wird zu einer merklichen Verbesserung desselben +geführt haben. + +^14 Die Berücksichtigung der akustischen Vorrichtungen der Griechen +folgt wohl aus Vitr. 5, 5, B. Über die Sitzplätze hat F. W. Ritschl, +Parerga zu Plautus und Terentius. Leipzig 1845. Bd. 1, S. 227, XX) +gesprochen; doch dürften (nach Plaut. Capt. prol. 11) nur diejenigen, +welche nicht capite censi waren, Anspruch auf einen solchen gehabt +haben. Wahrscheinlich gehen übrigens zunächst auf diese epochemachenden +Theaterspiele des Mummius (Tac. arm. 14, 21) die Worte des Horaz, daß +“das gefangene Griechenland den Sieger gefangen nahm”. + +^15 Die Kulissen des Pulcher müssen ordentlich gemalt gewesen sein, da +die Vögel versucht haben sollen, sich auf die Ziegel derselben zu +setzen (Plin nat. 35, 4 23; Val. Max. 2, 4, 6). Bis dahin hatte die +Donnermaschinerie darin bestanden, daß Nägel und Steine in einem +kupfernen Kessel geschüttelt wurden; erst Pulcher stellte einen +besseren Donner durch gerollte Steine her - das nannte man seitdem +“Claudischen Donner” (Festus v. Claudiana p. 57). + +^16 Unter den wenigen, aus dieser Epoche erhaltenen kleineren Gedichten +findet + +sich folgendes Epigramm auf diesen gefeierten Schauspieler: + + Constiteram, exorientem Auroram forte salutans, + + Cum subito a laeva Roscius exoritur. + + Pace mihi liceat, caelestes, dicere vestra: + + Mortalis visust pulchrior esse deo. + + Jüngsthin stand ich, die Sonne verehrend eben im Aufgehn: + + Da zur Linken mir, schau! plötzlich geht Roscius auf. + + Zürnet, ihr Himmlischen, nicht, wenn was ich gedacht ich gestehe: + + Schöner fürwahr als der Gott deuchte der Sterbliche mir. + +Der Verfasser dieses griechisch gehaltenen und von griechischem +Kunstenthusiasmus eingegebenen Epigramms ist kein geringerer Mann als +der Besieger der Kimbrer, Quintus Lutatius Catulus, Konsul 652 (102). + +————————————————————— + +In der rezitativen Poesie fällt vor allem die Nichtigkeit des Epos auf, +das im sechsten Jahrhundert unter der zum Lesen bestimmten Literatur +entschieden den ersten Platz eingenommen hatte, im siebenten zwar +zahlreiche Vertreter fand, aber nicht einen einzigen von auch nur +vorübergehendem Erfolg. Aus der gegenwärtigen Epoche ist kaum etwas zu +nennen als eine Anzahl roher Versuche, den Homer zu übersetzen und +einige Fortsetzungen der Ennianischen Jahrbücher, wie des Hostius +‘Histrischer Krieg’ und des Aulus Furius (um 650 100) ‘Jahrbücher +(vielleicht) des Gallischen Krieges’, die allem Anschein nach +unmittelbar da fortfuhren, wo Ennius in der Beschreibung des +Histrischen Krieges von 576 (178) und 577 (177) aufgehört hatte. Auch +in der didaktischen und elegischen Poesie erscheint nirgends ein +hervorragender Name. Die einzigen Erfolge, welche die rezitative +Dichtkunst dieser Epoche aufzuweisen hat, gehören dem Gebiete der +sogenannten Satura an, derjenigen Kunstgattung, die gleich dem Briefe +oder der Broschüre jede Form zuläßt und jeden Inhalt aufnimmt, darum +auch aller eigentlichen Gattungskriterien ermangelnd, durchaus nach der +Individualität eines jeden Dichters sich individualisiert und nicht +bloß auf der Grenze von Poesie und Prosa, sondern schon mehr als zur +Hälfte außerhalb der eigentlichen Literatur steht. Die launigen +poetischen Episteln, die einer der jüngeren Männer des Scipionischen +Kreises, Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, aus +dem Lager von Korinth an seine Freunde daheim gesandt hatte, wurden +noch ein Jahrhundert später gern gelesen; und es mögen dergleichen +nicht zur Veröffentlichung bestimmte poetische Scherze aus dem reichen +geselligen und geistigen Leben der besseren Zirkel Roms damals +zahlreich hervorgegangen sein. Ihr Vertreter in der Literatur ist Gaius +Lucilius (606-651 148-103), einer angesehenen Familie der latinischen +Kolonie Suessa entsprossen und gleichfalls ein Glied des Scipionischen +Kreises. Auch seine Gedichte sind gleichsam offene Briefe an das +Publikum, ihr Inhalt, wie ein geistreicher Nachfahre anmutig sagt, das +ganze Leben des gebildeten unabhängigen Mannes, der den Vorgängen auf +der politischen Schaubühne vom Parkett und gelegentlich von den +Kulissen aus zusieht, der mit den Besten seiner Zeit verkehrt als mit +seinesgleichen, der Literatur und Wissenschaft mit Anteil und Einsicht +verfolgt, ohne doch selbst für einen Dichter oder Gelehrten gelten zu +wollen, und der endlich für alles, was im Guten und Bösen ihm begegnet, +für politische Erfahrungen und Erwartungen, für Sprachbemerkungen und +Kunsturteile, für eigene Erlebnisse, Besuche, Diners, Reisen wie für +vernommene Anekdoten sein Taschenbuch zum Vertrauten nimmt. Kaustisch, +kapriziös, durchaus individuell hat die Lucilische Poesie doch eine +scharf ausgeprägte oppositionelle und insofern auch lehrhafte Tendenz, +literarisch sowohl wie moralisch und politisch; auch in ihr ist etwas +von der Auflehnung der Landschaft gegen die Hauptstadt, herrscht das +Selbstgefühl des rein redenden und ehrenhaft lebenden Suessaners im +Gegensatz gegen das große Babel der Sprachmengerei und +Sittenverderbnis. Die Richtung des Scipionischen Kreises auf +literarische, namentlich sprachliche Korrektheit findet kritisch ihren +vollendetsten und geistreichsten Vertreter in Lucilius. Er widmete +gleich sein erstes Buch dem Begründer der römischen Philologie, Lucius +Stilo, und bezeichnete als das Publikum, für das er schrieb, nicht die +gebildeten Kreise reiner und mustergültiger Rede, sondern die +Tarentiner, die Brettier, die Siculer, das heißt die Halbgriechen +Italiens, deren Lateinisch allerdings eines Korrektivs wohl bedürfen +mochte. Ganze Bücher seiner Gedichte beschäftigen sich mit der +Feststellung der lateinischen Orthographie und Prosodie, mit der +Bekämpfung pränestinischer, sabinischer, etruskischer Provinzialismen, +mit der Ausmerzung gangbarer Solözismen, woneben der Dichter aber +keineswegs vergißt, den geistlos schematischen Isokrateischen Wort- und +Phrasenpurismus zu verhöhnen ^17 und selbst dem Freunde Scipio die +exklusive Feinheit seiner Rede in recht ernsthaften Scherzen +vorzurücken ^18. Aber weit ernstlicher noch als das reine einfache +Latein predigt der Dichter reine Sitte im Privat- und im öffentlichen +Leben. Seine Stellung begünstigte ihn hierbei in eigener Art. Obwohl +durch Herkunft, Vermögen und Bildung den vornehmen Römern seiner Zeit +gleichstehend und Besitzer eines ansehnlichen Hauses in der Hauptstadt, +war er doch nicht römischer Bürger, sondern latinischer; selbst sein +Verhältnis zu Scipio, unter dem er in seiner ersten Jugend den +Numantinischen Krieg mitgemacht hatte und in dessen Hause er häufig +verkehrte, mag damit zusammenhängen, daß Scipio in vielfachen +Beziehungen zu den Latinern stand und in den politischen Fehden der +Zeit ihr Patron war. Die öffentliche Laufbahn war ihm hierdurch +verschlossen und die Spekulantenkarriere verschmähte er - er mochte +nicht, wie er einmal sagt, “aufhören, Lucilius zu sein, um asiatischer +Steuerpächter zu werden”. So stand er in der schwülen Zeit der +Gracchischen Reformen und des sich vorbereitenden +Bundesgenossenkrieges, verkehrend in den Palästen und Villen der +römischen Großen und doch nicht gerade ihr Klient, zugleich mitten in +den Wogen des politischen Koterien- und Parteikampfes und doch nicht +unmittelbar an jenem und diesem beteiligt; ähnlich wie Béranger, an den +gar vieles in Lucilius’ politischer und poetischer Stellung erinnert. +Von diesem Standpunkt aus sprach er mit unverwüstlichem gesunden +Menschenverstand, mit unversiegbarer guter Laune und ewig sprudelndem +Witz hinein in das öffentliche Leben. + +Jetzt aber am Fest- und Werkeltag + +Den ganzen lieben langen Tag + +Auf dem Markte von früh bis Spat + +Drängen die Bürger und die sich vom Rat + +Und weichen und wanken nicht von der Statt. + +Ein Handwerk einzig und allein + +Betreiben alle insgemein, + +Den andern zu prellen mit Verstand, + +Im Lügen zu haben die Vorderhand + +Und zu werden im Schmeicheln und Heucheln gewandt. + +All’ untereinandern belauern sie sich, + +Als läge jeder mit jedem im Krieg ^19. + +—————————————————————————————- + +^17 Quam lepide λέξεις, compostae ut tesserulae omnes + +Arte pavimento atque emblemate vermiculato! + +Ei, die niedliche Phrasenfabrik! + +Gefügt so zierlich Stück für Stück, + +Wie die Stifte im bunten Mosaik. + +^18 Der Dichter rät ihm: + +Quo facetior videare et scire plus quam ceteri, + +Daß du gebildeter als die andern heißest und ein feinerer Mann, + +- nicht pertaesum, sondern pertisum zu sagen. + +^19 Nunc vero a mane ad noctem, festo atque profesto + +Toto itidem pariterque die populusque patresque + +Iactare endo foro se omnes, decedere nusquam. + +Uni se atque eidem studio omnes dedere et arti: + +Verba dare ut acute possint, pugnare dolose, + +Blanditia certare, bonun simulare virum se, + +Insidias facere ut si hostes sint omnibus omnes. + +—————————————————————————————— + +Die Erläuterungen zu diesem unerschöpflichen Text griffen schonungslos, +ohne die Freunde, ja ohne den Dichter selbst zu vergessen, die +Übelstände der Zeit an, das Koteriewesen, den endlosen spanischen +Kriegsdienst und was dessen mehr war; gleich die Eröffnung seiner +Satiren war eine große Debatte des olympischen Göttersenats über die +Frage, ob Rom es noch ferner verdiene, des Schutzes der Himmlischen +sich zu erfreuen. Körperschaften, Stände, Individuen wurden überall +einzeln mit Namen genannt; die der römischen Bühne verschlossene Poesie +der politischen Polemik ist das rechte Element und der Lebenshauch der +Lucilischen Gedichte, die mit einer selbst in den auf uns gekommenen +Trümmern noch entzückenden Macht des schlagendsten und bilderreichsten +Witzes “gleichwie mit gezogenem Schwerte” auf den Feind eindringen und +ihn zermalmen. Hier, in dem sittlichen Übergewicht und dem stolzen +Freiheitsgefühl des Dichters von Suessa, liegt der Grund, weshalb der +feine Venusianer, der in der alexandrinischen Zeit der römischen Poesie +die Lucilische Satire wiederaufnahm, trotz aller Überlegenheit im +Formgeschick mit richtiger Bescheidenheit dem älteren Poeten weicht als +“seinem Besseren”. Die Sprache ist die des griechisch und lateinisch +durchgebildeten Mannes, der durchaus sich gehen läßt; ein Poet wie +Lucilius, der angeblich vor Tisch zweihundert und nach Tisch wieder +zweihundert Hexameter machte, ist viel zu eilig, um knapp zu sein; +unnützige Weitläufigkeit, schluderige Wiederholung derselben Wendung, +arge Nachlässigkeiten begegnen. häufig; das erste Wort, lateinisch oder +griechisch, ist immer das beste. Ähnlich sind die Maße, namentlich der +sehr vorherrschende Hexameter behandelt; wenn man die Worte umstellt, +sagt sein geistreicher Nachahmer, so würde kein Mensch merken, daß er +etwas anderes vor sich habe als einfache Prosa; der Wirkung nach lassen +sie sich nur mit unseren Knüttelversen vergleichen 20. Die Terenzischen +und die Lucilischen Gedichte stehen auf demselben Bildungsniveau und +verhalten sich wie die sorgsam gepflegte und gefeilte literarische +Arbeit zu dem mit fliegender Feder geschriebenen Brief. Aber die +unvergleichlich höhere geistige Begabung und freiere Lebensanschauung, +die der Ritter von Suessa vor dem afrikanischen Sklaven voraus hatte, +machten seinen Erfolg ebenso rasch und glänzend, wie der des Terenz +mühsam und zweifelhaft gewesen war; Lucilius war sofort der Liebling +der Nation und auch er konnte wie Béranger von seinen Gedichten sagen, +“daß sie allein unter allen vom Volke gelesen würden”. Die ungemeine +Popularität der Lucilischen Gedichte ist auch geschichtlich ein +bemerkenswertes Ereignis; man sieht daraus, daß die Literatur schon +eine Macht war, und ohne Zweifel würden wir die Spuren derselben, wenn +eine eingehende Geschichte dieser Zeit sich erhalten hätte, darin +mehrfach antreffen. Die Folgezeit hat das Urteil der Zeitgenossen nur +bestätigt; die antialexandrinisch gesinnten römischen Kunstrichter +sprachen dem Lucilius den ersten Rang unter allen lateinischen Dichtern +zu. Soweit die Satire überhaupt als eigene Kunstform angesehen werden +kann, hat Lucilius sie erschaffen und in ihr die einzige Kunstgattung, +welche den Römern eigentümlich und von ihnen auf die Nachwelt vererbt +worden ist. + +————————————————————- + +20 Folgendes längere Bruchstück ist charakteristisch für die +stilistische und metrische Behandlung, deren Lotterigkeit sich in +deutschen Hexametern unmöglich wiedergeben läßt: + +Virtus, Albine, est pretium persolvere verum + +Queis in versamur, queis vivimu’ rebu potesse; + +Virtus est homini scire id quod quaeque habeat res; + +Virtus scire homini rectum, utile quid sit, honestum, + +Quae bona, guae mala item, quid inutile, turpe, inhonestum; + +Virtus quaerendae rei finem scire modumque; + +Virtus divitiis pretium persolvere posse; + +Virtus id dare quod re ipsa debetur honori, + +Hostem esse atque inimicum hominum morumque malorum. + +Contra defensorem hominum morumque bonorum, + +Hos magni facere, his bene velle, his vivere amicum; + +Commoda praeterea patriae sibi prima putare, + +Deinde parentum, tertia iam postremaque nostra. + +Tugend ist zahlen den rechten Preis + +Zu können nach ihrer Art und Weis + +Für jede Sach’ in unserm Kreis; + +Tugend, zu wissen, was jedes Ding + +Mit sich für den Menschen bring’; + +Tugend, zu wissen, was nützlich und recht, + +Was gut und übel, unnütz und schlecht; + +Tugend, wenn man dem Erwerb und Fleiß + +Zu setzen die rechte Grenze weiß + +Und dem Reichtum den rechten Preis; + +Tugend, dem Rang zu geben sein Recht, + +Feind zu sein Menschen und Sitten schlecht, + +Freund Menschen und Sitten gut und recht; + +Vor solchen zu hegen Achtung und Scheu, + +Zu ihnen zu halten in Lieb’ und Treu; + +Immer zu sehen am ersten Teil + +Auf des Vaterlandes Heil, + +Sodann auf das, was den Eltern frommt, + +Und drittens der eigene Vorteil kommt. + +—————————————————————————— + +Von der an den Alexandrinismus anknüpfenden Poesie ist in Rom in dieser +Epoche noch nichts zu nennen als kleinere, nach alexandrinischen +Epigrammen übersetzte oder ihnen nachgebildete Gedichte, welche nicht +ihrer selbst wegen, aber wohl als der erste Vorbote der jüngeren +Literaturepoche Roms Erwähnung verdienen. Abgesehen von einigen wenig +bekannten und auch der Zeit nach nicht mit Sicherheit zu bestimmenden +Dichtern gehören hierher Quintus Catulus (Konsul 622 102) und Lucius +Manlius, ein angesehener Senator, der im Jahre 657 (97) schrieb. Der +letztere scheint manche der bei den Griechen landläufigen +geographischen Märchen, zum Beispiel die delische Latonasage, die +Fabeln von der Europa und von dem Wundervogel Phönix zuerst bei den +Römern in Umlauf gebracht zu haben; wie es denn auch ihm vorbehalten +war, auf seinen Reisen in Dodona jenen merkwürdigen Dreifuß zu +entdecken und abzuschreiben, worauf das den Pelasgern vor ihrer +Wanderung in das Land der Sikeler und Aboriginer erteilte Orakel zu +lesen war - ein Fund, den die römischen Geschichtsbücher nicht +versäumten, andächtig zu registrieren. + +Die Geschichtschreibung dieser Epoche ist vor allen Dingen bezeichnet +durch einen Schriftsteller, der zwar weder durch Geburt noch nach +seinem geistigen und literarischen Standpunkt der italischen +Entwicklung angehört, der aber zuerst oder vielmehr allein die +Weltstellung Roms zur schriftstellerischen Geltung und Darstellung +gebracht hat und dem alle späteren Geschlechter und auch wir das Beste +verdanken, was wir von der römischen Entwicklung wissen. Polybios (ca. +546 - ca. 627 208-127) von Megalopolis im Peloponnes, des achäischen +Staatsmannes Lykortas Sohn, machte, wie es scheint, schon 565 (189) den +Zug der Römer gegen die kleinasiatischen Kelten mit und ward später, +vielfach namentlich während des Dritten Makedonischen Krieges, von +seinen Landsleuten in militärischen und diplomatischen Geschäften +verwendet. Nach der durch diesen Krieg in Hellas herbeigeführten Krise +wurde er mit den anderen achäischen Geiseln nach Italien abgeführt, wo +er siebzehn Jahre (587-604 167-150) in der Konfinierung lebte und durch +die Söhne des Paullus in die vornehmen hauptstädtischen Kreise +eingeführt ward. Die Rücksendung der achäischen Geiseln führte ihn in +die Heimat zurück, wo er fortan den stehenden Vermittler zwischen +seiner Eidgenossenschaft und den Römern machte. Bei der Zerstörung von +Karthago und von Korinth (608 146) war er gegenwärtig. Er schien vom +Schicksal gleichsam dazu erzogen, Roms geschichtliche Stellung +deutlicher zu erfassen, als die damaligen Römer selbst es vermochten. +Auf dem Platze, wo er stand, ein griechischer Staatsmann und ein +römischer Gefangener, seiner hellenischen Bildung wegen geschätzt und +gelegentlich beneidet von Scipio Aemilianus und überhaupt den ersten +Männern Roms, sah er die Ströme, die so lange getrennt geflossen waren, +zusammenrinnen in dasselbe Bett und die Geschichte der +Mittelmeerstaaten zusammengehen in die Hegemonie der römischen Macht +und der griechischen Bildung. So ward Polybios der erste namhafte +Hellene, der mit ernster Überzeugung auf die Weltanschauung des +Scipionischen Kreises einging und die Überlegenheit des Hellenismus auf +dem geistigen, des Römertums auf dem politischen Gebiet als Tatsachen +anerkannte, über die die Geschichte in letzter Instanz gesprochen hatte +und denen man beiderseits sich zu unterwerfen berechtigt und +verpflichtet war. In diesem Sinne handelte er als praktischer +Staatsmann und schrieb er seine Geschichte. Mochte er in der Jugend dem +ehrenwerten, aber unhaltbaren achäischen Lokalpatriotismus gehuldigt +haben, so vertrat er in seinen späteren Jahren, in deutlicher Einsicht +der unvermeidlichen Notwendigkeit, in seiner Gemeinde die Politik des +engsten Anschlusses an Rom. Es war das eine höchst verständige und ohne +Zweifel wohlgemeinte, aber nichts weniger als hochherzige und stolze +Politik. Auch von der Eitelkeit und Kleinlichkeit des derzeitigen +hellenischen Staatsmannstums hat Polybios nicht vermocht, sich +persönlich völlig frei zu machen. Kaum aus der Konfinierung entlassen, +stellte er an den Senat den Antrag, daß er den Entlassenen, jedem in +seiner Heimat, den ehemaligen Rang noch förmlich verbriefen möge, +worauf Cato treffend bemerkte, ihm komme das vor, als wenn Odysseus +noch einmal in die Höhle des Polyphemos zurückkehre, um sich von dem +Riesen Hut und Gürtel auszubitten. Sein Verhältnis zu den römischen +Großen hat er oft zum Besten seiner Landsleute benutzt, aber die Art, +wie er der hohen Protektion sich unterwirft und sich berühmt, nähert +sich doch einigermaßen dem Oberkammerdienertum. Durchaus denselben +Geist, den seine praktische, atmet auch seine literarische Tätigkeit. +Es war die Aufgabe seines Lebens, die Geschichte der Einigung der +Mittelmeerstaaten unter der Hegemonie Roms zu schreiben. Vom ersten +Punischen Krieg bis zur Zerstörung von Karthago und Korinth faßt sein +Werk die Schicksale der sämtlichen Kulturstaaten, das heißt +Griechenlands, Makedoniens, Kleinasiens, Syriens, Ägyptens, Karthagos +und Italiens zusammen und stellt deren Eintreten in die römische +Schutzherrschaft im ursächlichen Zusammenhang dar; insofern bezeichnet +er es als sein Ziel, die Zweck- und Vernunftmäßigkeit der römischen +Hegemonie zu erweisen. In der Anlage wie in der Ausführung steht diese +Geschichtschreibung in scharfem und bewußtem Gegensatz gegen die +gleichzeitige römische wie gegen die gleichzeitige griechische +Historiographie. In Rom stand man noch vollständig auf dem +Chronikenstandpunkt; hier gab es wohl einen bedeutungsvollen +geschichtlichen Stoff, aber die sogenannte Geschichtschreibung +beschränkte sich - mit Ausnahme der sehr achtbaren, aber rein +individuellen und doch auch nicht über die Anfänge der Forschung wie +der Darstellung hinausgelangten Schriften Catos - teils auf +Ammenmärchen, teils auf Notizenbündel. Die Griechen hatten eine +Geschichtsforschung und eine Geschichtschreibung allerdings gehabt; +aber der zerfahrenen Diadochenzeit waren die Begriffe von Nation und +Staat so vollständig abhanden gekommen, daß es keinem der zahllosen +Historiker gelang, der Spur der großen attischen Meister im Geiste und +in der Wahrheit zu folgen und den weltgeschichtlichen Stoff der +Zeitgeschichte weltgeschichtlich zu behandeln. Ihre Geschichtschreibung +war entweder rein äußerliche Aufzeichnung, oder es durchdrang sie der +Phrasen- und Lügenkram der attischen Rhetorik, und nur zu oft die +Feilheit und die Gemeinheit, die Speichelleckerei und die Erbitterung +der Zeit. Bei den Römern wie bei den Griechen gab es nichts als Stadt- +oder Stammgeschichten. Zuerst Polybios, ein Peloponnesier, wie man mit +Recht erinnert hat, und geistig den Attikern wenigstens ebensofern +stehend wie den Römern, überschritt diese kümmerlichen Schranken, +behandelte den römischen Stoff mit hellenisch gereifter Kritik und gab +zwar nicht eine universale, aber doch eine von den Lokalstaaten +losgelöste und den im Werden begriffenen römisch-griechischen Staat +erfassende Geschichte. Vielleicht niemals hat ein Geschichtschreiber so +vollständig wie Polybios alle Vorzüge eines Quellenschriftstellers in +sich vereinigt. Der Umfang seiner Aufgabe ist ihm vollkommen deutlich +und jeden Augenblick gegenwärtig; und durchaus haftet der Blick auf dem +wirklich geschichtlichen Hergang. Die Sage, die Anekdote, die Masse der +wertlosen Chroniknotizen wird beiseite geworfen; die Schilderung der +Länder und Völker, die Darstellung der staatlichen und merkantilen +Verhältnisse, all die so unendlich wichtigen Tatsachen, die dem +Annalisten entschlüpfen, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Jahr +aufnageln lassen, werden eingesetzt in ihr lange verkümmertes Recht. In +der Herbeischaffung des historischen Materials zeigt Polybios eine +Umsicht und Ausdauer, wie sie im Altertum vielleicht nicht +wiedererscheinen; er benutzt die Urkunden, berücksichtigt umfassend die +Literatur der verschiedenen Nationen, macht von seiner günstigen +Stellung zum Einziehen der Nachrichten von Mithandelnden und +Augenzeugen den ausgedehntesten Gebrauch, bereist endlich planmäßig das +ganze Gebiet der Mittelmeerstaaten und einen Teil der Küste des +Atlantischen Ozeans 21. Die Wahrhaftigkeit ist ihm Natur; in allen +großen Dingen hat er kein Interesse für diesen oder gegen jenen Staat, +für diesen oder gegen jenen Mann, sondern einzig und allein für den +wesentlichen Zusammenhang der Ereignisse, den im richtigen Verhältnis +der Ursachen und Wirkungen darzulegen ihm nicht bloß die erste, sondern +die einzige Aufgabe des Geschichtschreibers scheint. Die Erzählung +endlich ist musterhaft vollständig, einfach und klar. Aber alle diese +ungemeinen Vorzüge machen noch keineswegs einen Geschichtschreiber +ersten Ranges. Polybios faßt seine literarische Aufgabe, wie er seine +praktische faßte, mit großartigem Verstand, aber auch nur mit dem +Verstande. Die Geschichte, der Kampf der Notwendigkeit und der +Freiheit, ist ein sittliches Problem; Polybios behandelt sie, als wäre +sie ein mechanisches. Nur das Ganze gilt für ihn, in der Natur wie im +Staat; das besondere Ereignis, der individuelle Mensch, wie wunderbar +sie auch erscheinen mögen, sind doch eigentlich nichts als einzelne +Momente, geringe Räder in dem höchst künstlichen Mechanismus, den man +den Staat nennt. Insofern war Polybios allerdings wie kein anderer +geschaffen zur Darstellung der Geschichte des römischen Volkes, welches +in der Tat das einzige Problem gelöst hat, sich zu beispielloser +innerer und äußerer Größe zu erheben ohne auch nur einen im höchsten +Sinne genialen Staatsmann, und das auf seinen einfachen Grundlagen mit +wunderbarer fast mathematischer Folgerichtigkeit sich entwickelt. Aber +das Moment der sittlichen Freiheit waltet in jeder Volksgeschichte und +wurde auch in der römischen von Polybios nicht ungestraft verkannt. +Polybios’ Behandlung aller Fragen, in denen Recht, Ehre, Religion zur +Sprache kommen, ist nicht bloß platt, sondern auch gründlich falsch. +Dasselbe gilt überall, wo eine genetische Konstruktion erfordert wird; +die rein mechanischen Erklärungsversuche, die Polybios an deren Stelle +setzt, sind mitunter geradezu zum Verzweifeln, wie es denn kaum eine +törichtere politische Spekulation gibt, als die vortreffliche +Verfassung Roms aus einer verständigen Mischung monarchischer, +aristokratischer und demokratischer Elemente her- und aus der +Vortrefflichkeit der Verfassung die Erfolge Roms abzuleiten. Die +Auffassung der Verhältnisse ist überall bis zum Erschrecken nüchtern +und phantasielos, die geringschätzige und superkluge Art, die +religiösen Dinge zu behandeln, geradezu widerwärtig. Die Darstellung, +in bewußter Opposition gegen die übliche, künstlerisch stilisierte +griechische Historiographie gehalten, ist wohl richtig und deutlich, +aber dünn und matt, öfter als billig in polemische Exkurse oder in +memoirenhafte, nicht selten recht selbstgefällige Schilderung der +eigenen Erlebnisse sich verlaufend. Ein oppositioneller Zug geht durch +die ganze Arbeit; der Verfasser bestimmte seine Schrift zunächst für +die Römer und fand doch auch hier nur einen sehr kleinen Kreis, der ihn +verstand; er fühlte es, daß er den Römern ein Fremder, seinen +Landsleuten ein Abtrünniger blieb und daß er mit seiner großartigen +Auffassung der Verhältnisse mehr der Zukunft als der Gegenwart +angehörte. Darum blieb er nicht frei von einer gewissen Verstimmtheit +und persönlichen Bitterkeit, die in seiner Polemik gegen die flüchtigen +oder gar feilen griechischen und die unkritischen römischen Historiker +öfters zänkisch und kleinlich auftritt und aus dem Geschichtschreiber- +in den Rezensententon fällt. Polybios ist kein liebenswürdiger +Schriftsteller; aber wie die Wahrheit und Wahrhaftigkeit mehr ist als +alle Zier und Zierlichkeit, so ist vielleicht kein Schriftsteller des +Altertums zu nennen, dem wir so viele ernstliche Belehrung verdanken +wie ihm. Seine Bücher sind wie die Sonne auf diesem Gebiet; wo sie +anfangen, da heben sich die Nebelschleier, die noch die Samnitischen +und den Pyrrhischen Krieg bedecken, und wo sie endigen, beginnt eine +neue, womöglich noch lästigere Dämmerung. + +————————————————————— + +21 Dergleichen gelehrte Reisen waren übrigens bei den Griechen dieser +Zeit nichts Seltenes. So fragt bei Plautus (Men. 248 vgl. 235) jemand, +der das ganze Mittelländische Meer durchschifft hat: + +Warum geh’ ich nicht + +nach Hause, da ich doch keine Geschichte schreiben will? + +———————————————————— + +In einem seltsamen Gegensatz zu dieser großartigen Auffassung und +Behandlung der römischen Geschichte durch einen Ausländer steht die +gleichzeitige einheimische Geschichtsliteratur. Im Anfang dieser +Periode begegnen noch einige griechisch geschriebene Chroniken, wie die +schon erwähnte des Aulus Postumius (Konsul 603 151), voll übler +Pragmatik, und die des Gaius Acilius (schloß in hohem Alter um 612 +142); doch gewann unter dem Einfluß teils des catonischen Patriotismus, +teils der feineren Bildung des Scipionischen Kreises die lateinische +Sprache auf diesem Gebiet so entschieden die Vorhand, daß nicht bloß +unter den jüngeren Geschichtswerken kaum ein oder das andere griechisch +geschriebene vorkommt 22, sondern auch die älteren griechischen +Chroniken ins Lateinische übersetzt und wahrscheinlich vorwiegend in +diesen Übersetzungen gelesen wurden. Leider ist nur an den lateinisch +geschriebenen Chroniken dieser Epoche außer dem Gebrauch der +Muttersprache kaum weiter etwas zu loben. Sie waren zahlreich und +ausführlich genug - genannt werden zum Beispiel die des Lucius Cassius +Hemina (um 608 146), des Lucius Calpurnius Piso (Konsul 621 188), des +Gaius Sempronius Tuditanus (Konsul 625 129), des Gaius Fannius (Konsul +632 122). Dazu kommt die Redaktion der offiziellen Stadtchronik in +achtzig Büchern, welche Publius Mucius Scaevola (Konsul 621 133), ein +auch als Jurist angesehener Mann, als Oberpontifex veranstaltete und +veröffentlichte und damit dem Stadtbuch insofern seinen Abschluß gab, +als die Pontifikalaufzeichnungen seitdem, wenn nicht gerade aufhörten, +doch wenigstens bei der steigenden Betriebsamkeit der Privatchronisten +nicht weiter literarisch in Betracht kamen. Alle diese Jahrbücher, +mochten sie nun als Privat- oder als offizielle Werke sich ankündigen, +waren wesentlich gleichartige Zusammenarbeitungen des vorhandenen +geschichtlichen und quasigeschichtlichen Materials; und der Quellen- +wie der formelle Wert sank ohne Zweifel in demselben Maße, wie ihre +Ausführlichkeit stieg. Allerdings gibt es in der Chronik nirgends +Wahrheit ohne Dichtung, und es wäre sehr töricht, mit Naevius und +Pictor zu rechten, daß sie es nicht anders gemacht als Hekatäos und +Saxo Grammaticus; aber die späteren Versuche, aus solchen Nebelwolken +Häuser zu bauen, stellen auch die geprüfteste Geduld auf eine harte +Probe. Keine Lücke der Überlieferung klafft so tief, daß diese glatte +und platte Lüge sie nicht mit spielender Leichtigkeit überkleisterte. +Ohne Anstoß werden die Sonnenfinsternisse, Zensuszahlen, +Geschlechtsregister, Triumphe vom laufenden Jahre bis auf Anno eins +rückwärts geführt; es steht geschrieben zu lesen, in welchem Jahr, +Monat und Tag König Romulus gen Himmel gefahren ist und wie König +Servius Tullius zuerst am 25. November 183 (571) und wieder am 25. Mai +187 (567) über die Etrusker triumphiert hat. Damit steht es denn im +besten Einklang, daß man in den römischen Docks den Gläubigen das +Fahrzeug wies, auf welchem Aeneas von Ilion nach Latium gefahren war, +ja sogar ebendieselbe Sau, welche Aeneas als Wegweiser gedient hatte, +wohl eingepökelt im römischen Vestatempel konservierte. Mit dem Lügemut +eines Dichters verbinden diese vornehmen Chronikschreiber die +langweiligste Kanzlistengenauigkeit und behandeln durchaus ihren großen +Stoff mit derjenigen Plattheit, die aus dem Austreiben zugleich aller +poetischen und aller historischen Elemente notwendig resultiert. Wenn +wir zum Beispiel bei Piso lesen, daß Romulus sich gehütet habe, dann zu +pokulieren, wenn er den andern Tag eine Sitzung gehabt; daß die Tarpeia +die Burg den Sabinern aus Vaterlandsliebe verraten habe, um die Feinde +ihrer Schilde zu berauben: so kann das Urteil verständiger Zeitgenossen +über diese ganze Schreiberei nicht befremden, “daß das nicht heiße +Geschichte schreiben, sondern den Kindern Geschichten erzählen”. Weit +vorzüglicher waren einzelne Werke über die Geschichte der jüngsten +Vergangenheit und der Gegenwart, namentlich die Geschichte des +Hannibalischen Krieges von Lucius Coelius Antipater (um 633 121) und +des wenig jüngeren Publius Sempronius Asellio Geschichte seiner Zeit. +Hier fand sich wenigstens schätzbares Material und ernster +Wahrheitssinn, bei Antipater auch eine lebendige, wenngleich stark +manierierte Darstellung; doch reichte, nach allen Zeugnissen und +Bruchstücken zu schließen, keines dieser Bücher weder in markiger Form +noch in Originalität an die “Ursprungsgeschichten” Catos, der leider +auf dem historischen Gebiet so wenig wie auf dem politischen Schule +gemacht hat. Stark vertreten sind auch, wenigsten der Masse nach, die +untergeordneten, mehr individuellen und ephemeren Gattungen der +historischen Literatur, die Memorien, die Briefe, die Reden. Schon +zeichneten die ersten Staatsmänner Roms selbst ihre Erlebnisse auf: so +Marcus Scaurus (Konsul 639 115), Publius Rufus (Konsul 649 105), +Quintus Catulus (Konsul 652 102), selbst der Regent Sulla; doch scheint +keine dieser Produktionen anders als durch ihren stofflichen Gehalt für +die Literatur von Bedeutung gewesen zu sein. Die Briefsammlung der +Cornelia, der Mutter der Gracchen, ist bemerkenswert teils durch die +musterhaft reine Sprache und den hohen Sinn der Schreiberin, teils als +die erste in Rom publizierte Korrespondenz und zugleich die erste +literarische Produktion einer römischen Frau. Die Redeschriftstellerei +bewahrte in dieser Periode den von Cato ihr aufgedrückten Stempel; +Advokatenplädoyers wurden noch nicht als literarische Produktion +angesehen, und was von Reden veröffentlicht ward, waren politische +Pamphlete. Während der revolutionären Bewegung nahm diese +Broschürenliteratur an Umfang und Bedeutung zu, und unter der Masse +ephemerer Produkte fanden sich auch einzelne, die, wie Demosthenes’ +Philippiken und Couriers fliegende Blätter, durch die bedeutende +Stellung ihrer Verfasser und durch ihr eigenes Schwergewicht einen +bleibenden Platz in der Literatur sich erwarben. So die Staatsreden des +Gaius Laelius und des Scipio Aemilianus, Musterstücke des trefflichsten +Latein wie des edelsten Vaterlandsgefühls; so die sprudelnden Reden des +Gaius Titius, von deren drastischen Lokal- und Zeitbildern - die +Schilderung des senatorischen Geschworenen ward früher mitgeteilt - das +nationale Lustspiel manches entlehnt hat; so vor allem die zahlreichen +Reden des Gaius Gracchus, deren flammende Worte den leidenschaftlichen +Ernst, die baldige Haltung und das tragische Verhängnis dieser hohen +Natur im treuen Spiegelbild bewahrten. + +———————————————————————- + +22 Die einzige wirkliche Ausnahme, soweit wir wissen, ist die +griechische Geschichte des Gnaeus Aufidius, der in Ciceros (Tusc. 5, +38, 112) Knabenzeit, also um 660 (90) blühte. Die griechischen Memoiren +des Publius Rutilius Rufus (Konsul 649 105) sind kaum als Ausnahme +anzusehen, da ihr Verfasser sie im Exil zu Smyrna schrieb. + +———————————————————————- + +In der wissenschaftlichen Literatur begegnet in der juristischen +Gutachtensammlung des Marcus Brutus, die um das Jahr 600 (150) +veröffentlicht ward, ein bemerkenswerter Versuch, die bei den Griechen +übliche dialogische Behandlung fachwissenschaftlicher Stoffe nach Rom +zu verpflanzen und durch eine nach Personen, Zeit und Ort bestimmte +Szenerie des Gesprächs der Abhandlung eine künstlerische, halb +dramatische Form zu geben. Indes die späteren Gelehrten, schon der +Philolog Stilo und der Jurist Scaevola, ließen sowohl in den +allgemeinen Bildungs- wie in den spezielleren Fachwissenschaften diese +mehr poetische als praktische Methode fallen. Der steigende Wert der +Wissenschaft als solcher und das in Rom überwiegende stoffliche +Interesse an derselben spiegelt sich deutlich in diesem raschen +Abwerfen der Fessel künstlerischer Form. Im einzelnen ist von den +allgemein humanen Wissenschaften, der Grammatik oder vielmehr der +Philologie, der Rhetorik und der Philosophie, insofern schon gesprochen +worden, als dieselben jetzt wesentliche Bestandteile der gewöhnlichen +römischen Bildung wurden und dadurch jetzt zuerst von den eigentlichen +Fachwissenschaften anfingen sich abzusondern. Auf dem literarischen +Gebiet blüht die lateinische Philologie fröhlich auf, im engen Anschluß +an die längst sicher gegründete philologische Behandlung der +griechischen Literatur. Es ward bereits erwähnt, daß um den Anfang +dieses Jahrhunderts auch die lateinischen Epiker ihre Diaskeuasten und +Textrevisoren fanden; ebenso ward hervorgehoben, daß nicht bloß der +Scipionische Kreis überhaupt vor allem andern auf Korrektheit drang, +sondern auch einzelne der namhaftesten Poeten, zum Beispiel Accius und +Lucilius, sich mit Regulierung der Orthographie und der Grammatik +beschäftigten. Gleichzeitig begegnen einzelne Versuche, von der +historischen Seite her die Realphilologie zu entwickeln; freilich +werden die Abhandlungen der unbeholfenen Annalisten dieser Zeit, wie +die des Hemina ‘über die Zensoren’, des Tuditanus ‘über die Beamten’ +schwerlich besser geraten sein als ihre Chroniken. Interessanter sind +die Bücher über die Ämter von dem Freunde des Gaius Gracchus, Marcus +Iunius, als der erste Versuch, die Altertumsforschung für politische +Zwecke nutzbar zu machen 23, und die metrisch abgefaßten Didaskalien +des Tragikers Accius, ein Anlauf zu einer Literargeschichte des +lateinischen Dramas. Indes jene Anfänge einer wissenschaftlichen +Behandlung der Muttersprache tragen noch ein sehr dilettantisches +Gepräge und erinnern lebhaft an unsere Orthographieliteratur der +Bodmer-Klopstockischen Zeit; auch die antiquarischen Untersuchungen +dieser Epoche wird man ohne Unbilligkeit auf einen bescheidenen Platz +verweisen dürfen. Derjenige Römer, der die lateinische Sprach- und +Altertumsforschung im Sinne der alexandrinischen Meister +wissenschaftlich begründete, war Lucius Aelius Stilo um 650 (100). Er +zuerst ging zurück auf die ältesten Sprachdenkmäler und kommentierte +die Saliarischen Litaneien und das römische Stadtrecht. Er wandte der +Komödie des sechsten Jahrhunderts seine besondere Aufmerksamkeit zu und +stellte zuerst ein Verzeichnis der nach seiner Ansicht echten +Plautinischen Stücke auf. Er suchte nach griechischer Art die Anfänge +einer jeden einzelnen Erscheinung des römischen Lebens und Verkehrs +geschichtlich zu bestimmen und für jede den “Erfinder” zu ermitteln, +und zog zugleich die gesamte annalistische Überlieferung in den Kreis +seiner Forschung. Von dem Erfolg, der ihm bei seinen Zeitgenossen ward, +zeugen die Widmungen des bedeutendsten dichterischen und des +bedeutendsten Geschichtswerkes seiner Zeit, der Satiren des Lucilius +und der Geschichtsbücher des Antipater; und auch für die Zukunft hat +dieser erste römische Philolog die Studien seiner Nation bestimmt, +indem er seine zugleich sprachliche und sachliche Forschung auf seinen +Schüler Varro vererbte. + +——————————————————————————- + +23 Die Behauptung zum Beispiel, daß die Quästoren in der Königszeit von +der Bürgerschaft, nicht vom König ernannt seien, ist ebenso sicher +falsch als sie den Parteicharakter an der Stirn trägt. + +———————————————————————————- + +Mehr untergeordneter Art war begreiflicherweise die literarische +Tätigkeit auf dem Gebiet der lateinischen Rhetorik; es gab hier nichts +zu tun als Hand- und Übungsbücher nach dem Muster der griechischen +Kompendien des Hermagoras und anderer zu schreiben, woran es denn +freilich die Schulmeister, teils um des Bedürfnisses, teils um der +Eitelkeit und des Geldes willen, nicht fehlen ließen. Von einem +unbekannten Verfasser, der nach der damaligen Weise zugleich +lateinische Literatur und lateinische Rhetorik lehrte und über beide +schrieb, ist uns ein solches, unter Sullas Diktatur abgefaßtes Handbuch +der Redekunst erhalten; eine nicht bloß durch die knappe, klare und +sichere Behandlung des Stoffes, sondern vor allem durch die +verhältnismäßige Selbständigkeit den griechischen Mustern gegenüber +bemerkenswerte Lehrschrift. Obwohl in der Methode gänzlich abhängig von +den Griechen, weist der Römer doch bestimmt und sogar schroff alles das +ab, “was die Griechen an nutzlosem Kram zusammengetragen haben, einzig +damit die Wissenschaft schwerer zu lernen erscheine”. Der bitterste +Tadel trifft die haarspaltende Dialektik, diese “geschwätzige +Wissenschaft der Redeunkunst”, deren vollendeter Meister, vor lauter +Angst, sich zweideutig auszudrücken, zuletzt nicht mehr seinen eigenen +Namen auszusprechen wagt. Die griechische Schulterminologie wird +durchgängig und absichtlich vermieden. Sehr ernstlich warnt der +Verfasser vor der Viellehrerei und schärft die goldene Regel ein, daß +der Schüler von dem Lehrer vor allem dazu anzuleiten sei, sich selbst +zu helfen; ebenso ernstlich erkennt er es an, daß die Schule Neben-, +das Leben die Hauptsache ist, und gibt in seinen durchaus selbständig +gewählten Beispielen den Widerhall derjenigen Sachwalterreden, die +während der letzten Dezennien in der römischen Advokatenwelt Aufsehen +gemacht hatten. Es verdient Aufmerksamkeit, daß die Opposition gegen +die Auswüchse des Hellenismus, die früher gegen das Aufkommen einer +eigenen lateinischen Redekunst sich gerichtet hatte, nach deren +Aufkommen in dieser selbst sich fortsetzt und damit der römischen +Beredsamkeit im Vergleich mit der gleichzeitigen griechischen +theoretisch und praktisch eine höhere Würde und eine größere +Brauchbarkeit sichert. + +Die Philosophie endlich ist in der Literatur noch nicht vertreten, da +weder sich aus innerem Bedürfnis eine nationalrömische Philosophie +entwickelte noch äußere Umstände eine lateinische philosophische +Schriftstellerei hervorriefen. Mit Sicherheit als dieser Zeit angehörig +sind nicht einmal lateinische Übersetzungen populärer philosophischer +Kompendien nachzuweisen; wer Philosophie trieb, las und disputierte +griechisch. + +In den Fachwissenschaften ist die Tätigkeit gering. So gut man auch in +Rom verstand zu ackern und zu rechnen, so fand doch die physikalische +und mathematische Forschung dort keinen Boden. Die Folgen der +vernachlässigten Theorie zeigen sich praktisch in dem niedrigen Stande +der Arzneikunde und einesteils der militärischen Wissenschaften. Unter +allen Fachwissenschaften blüht nur die Jurisprudenz. Wir können ihre +innerliche Entwicklung nicht chronologisch genau verfolgen; im ganzen +trat das Sakralrecht mehr und mehr zurück und stand am Ende dieser +Periode ungefähr wie heutzutage das kanonische; die feinere und tiefere +Rechtsauffassung dagegen, welche an die Stelle der äußerlichen +Kennzeichen die innerlich wirksamen Momente setzt, zum Beispiel die +Entwicklung der Begriffe der böswilligen und der fahrlässigen +Verschuldung, des vorläufig schutzberechtigten Besitzes, war zur Zeit +der Zwölf Tafeln noch nicht, wohl aber in der ciceronischen Zeit +vorhanden und mag der gegenwärtigen Epoche ihre wesentliche Ausbildung +verdanken. Die Rückwirkung der politischen Verhältnisse auf die +Rechtsentwicklung ist schon mehrfach angedeutet worden; sie war nicht +immer vorteilhaft. Durch die Einrichtung des Erbschaftsgerichtshofs der +Hundertmänner zum Beispiel trat auch in dem Vermögensrecht ein +Geschworenenkollegium auf, das gleich den Kriminalbehörden, statt das +Gesetz einfach anzuwenden, sich über dasselbe stellte und mit der +sogenannten Billigkeit die rechtlichen Institutionen untergrub; wovon +unter anderm eine Folge die unvernünftige Satzung war, daß es jedem, +den ein Verwandter im Testament übergangen hat, freisteht, auf +Kassierung des Testaments vor dem Gerichtshof anzutragen, und das +Gericht nach Ermessen entscheidet. Bestimmter läßt die Entwicklung der +juristischen Literatur sich erkennen. Sie hatte bisher auf +Formulariensammlungen und Worterklärungen zu den Gesetzen sich +beschränkt; in dieser Periode bildete sich zunächst eine +Gutachtenliteratur, die ungefähr unseren heutigen +Präjudikatensammlungen entspricht. Die Gutachten, die längst nicht mehr +bloß von Mitgliedern des Pontifikalkollegiums, sondern von jedem, der +Befrager fand, zu Hause oder auf offenem Markt erteilt wurden, und an +die schon rationelle und polemische Erörterungen und die der +Rechtswissenschaft eigentümlichen stehenden Kontroversen sich +anknüpften, fingen um den Anfang des siebenten Jahrhunderts an, +aufgezeichnet und in Sammlungen bekannt gemacht zu werden; es geschah +dies zuerst von dem jüngeren Cato († um 600 150) und von Marcus Brutus +(etwa gleichzeitig), und schon diese Sammlungen waren, wie es scheint, +nach Materien geordnet 24. Bald schritt man fort zu einer eigentlich +systematischen Darstellung des Landrechts. Ihr Begründer war der +Oberpontifex Quintus Mucius Scaevola (Konsul 659, † 672 95, 82), in +dessen Familie die Rechtswissenschaft wie das höchste Priestertum +erblich war. Seine achtzehn Bücher ‘vom Landrecht, welche das positive +juristische Material: die gesetzlichen Bestimmungen, die Präjudikate +und die Autoritäten teils aus den älteren Sammlungen, teils aus der +mündlichen Überlieferung in möglichster Vollständigkeit zusammenfaßten, +sind der Ausgangspunkt und das Muster der ausführlichen römischen +Rechtssysteme geworden; ebenso wurde seine resümierende Schrift +‘Definitionen’ (όρος) die Grundlage der juristischen Kompendien und +namentlich der Regelbücher. Obwohl diese Rechtsentwicklung natürlich im +wesentlichen von dem Hellenismus unabhängig vor sich ging, so hat doch +die Bekanntschaft mit dem philosophisch-praktischen Schematismus der +Griechen im allgemeinen unzweifelhaft auch zu der mehr systematischen +Behandlung der Rechtswissenschaft den Anstoß gegeben, wie denn der +griechische Einfluß bei der zuletzt genannten Schrift schon im Titel +hervortritt. Daß in einzelnen mehr äußerlichen Dingen die römische +Jurisprudenz durch die Stoa bestimmt ward, ward schon bemerkt. + +———————————————————————- + +24 Catos Buch führte wohl den Titel ‘De iuris disciplina’ (Gell. 13, +20), das des Brutus den ‘De iure civili’ (Cic. Cluent. 51, 141; De +orat. 2, 55, 223); daß es wesentlich Gutachtensammlungen waren, zeigt +Cicero (De orat. 2, 33, 142). + +———————————————————————- + +Die Kunst weist noch weniger erfreuliche Erscheinungen auf. In der +Architektur, Skulptur und Malerei breitete zwar das dilettantische +Wohlgefallen immer allgemeiner sich aus, aber die eigene Übung ging +eher rück- als vorwärts. Immer gewöhnlicher ward es bei dem Aufenthalt +in griechischen Gegenden, die Kunstwerke sich zu betrachten, wofür +namentlich die Winterquartiere der Sullanischen Armee in Kleinasien +670/71 (84/83) epochemachend wurden. Die Kunstkennerschaft entwickelte +sich auch in Italien. Mit silbernem und bronzenem Gerät hatte man +angefangen; um den Anfang dieser Epoche begann man nicht bloß +griechische Bildsäulen, sondern auch griechische Gemälde zu schätzen. +Das erste im Rom öffentlich aufgestellte Bild war der Bakchos des +Aristeides, den Lucius Mummius aus der Versteigerung der korinthischen +Beute zurücknahm, weil König Attalos bis zu 6000 Denaren (1827 Taler) +darauf bot. Die Bauten wurden glänzender, und namentlich kam der +überseeische, besonders der hymettische Marmor (Cipollin) dabei in +Gebrauch - die italischen Marmorbrüche waren noch nicht in Betrieb. Der +prachtvolle, noch in der Kaiserzeit bewunderte Säulengang, den der +Besieger Makedoniens, Quintus Metellus (Konsul 611 143), auf dem +Marsfelde anlegte, schloß den ersten Marmortempel ein, den die +Hauptstadt sah; bald folgten ähnliche Anlagen auf dem Kapitol durch +Scipio Nasica (Konsul 616 138), nahe dem Rennplatz durch Gnaeus +Octavius (Konsul 626 128). Das erste mit Marmorsäulen geschmückte +Privathaus war das des Redners Lucius Crassus († 663 91) auf dem +Palatin. Aber wo man plündern und kaufen konnte, statt selber zu +schaffen, da geschah es; es ist ein schlimmes Armutszeugnis für die +römische Architektur, daß sie schon anfing, die Säulen der alten +griechischen Tempel zu verwenden, wie zum Beispiel das römische Kapitol +durch Sulla mit denen des Zeustempels in Athen geschmückt ward. Was +dennoch in Rom gearbeitet ward, ging aus den Händen von Fremden hervor; +die wenigen römischen Künstler dieser Zeit, die namentlich erwähnt +werden, sind ohne Ausnahme eingewanderte italische oder überseeische +Griechen: so der Architekt Hermodoros aus dem kyprischen Salamis, der +unter anderm die römischen Docks wiederherstellte und für Quintus +Metellus (Konsul 611 143) den Tempel des Jupiter Stator in der von +diesem angelegten Halle, für Decimus Brutus (Konsul 616 138) den +Marstempel im Flaminischen Circus baute; der Bildhauer Pasiteles (um +665 89) aus Großgriechenland, der für römische Tempel Götterbilder aus +Elfenbein lieferte; der Maler und Philosoph Metrodoros von Athen, der +verschrieben ward, um die Bilder für den Triumph des Lucius Paullus +(587 168) zu malen. Es ist bezeichnend, daß die Münzen dieser Epoche im +Vergleich mit denen der vorigen zwar eine größere Mannigfaltigkeit der +Typen, aber im Stempelschnitt eher einen Rück- als einen Fortschritt +zeigen. + +Endlich Musik und Tanz siedelten in gleicher Weise von Hellas über nach +Rom, einzig, um daselbst zur Erhöhung des dekorativen Luxus verwandt zu +werden. Solche fremdländischen Künste waren allerdings nicht neu in +Rom; der Staat hatte seit alter Zeit bei seinen Festen etruskische +Flötenbläser und Tänzer auftreten lassen und die Freigelassenen und die +niedrigste Klasse des römischen Volkes auch bisher schon mit diesem +Gewerbe sich abgegeben. Aber neu war es, daß griechische Tänze und +musikalische Aufführungen die stehende Begleitung einer vornehmen Tafel +wurden; neu war eine Tanzschule, wie Scipio Aemilianus in einer seiner +Reden sie voll Unwillen schildert, in der über fünfhundert Knaben und +Mädchen, die Hefe des Volkes und Kinder von Männern in Amt und Würden +durcheinander, von einem Ballettmeister Anweisung erhielten, zu wenig +ehrbaren Kastagnettentänzen, zu entsprechenden Gesängen und zum +Gebrauch der verrufenen griechischen Saiteninstrumente. Neu war es auch +- nicht so sehr, daß ein Konsular und Oberpontifex, wie Publius +Scaevola (Konsul 621 133), auf dem Spielplatz ebenso bebend die Bälle +fing, wie er daheim die verwickeltsten Rechtsfragen löste, als daß +vornehme junge Römer bei den Festspielen Sullas vor allem Volke ihre +Jockeykünste produzierten. Die Regierung versuchte wohl einmal, diesem +Treiben Einhalt zu tun; wie denn zum Beispiel im Jahre 639 (115) alle +musikalischen Instrumente mit Ausnahme der in Latium einheimischen +einfachen Flöte von den Zensoren untersagt wurden. Aber Rom war kein +Sparta; das schlaffe Regiment signalisierte mehr die Übelstände durch +solche Verbote, als daß es durch scharfe und folgerichtige Anwendung +ihnen abzuhelfen auch nur versucht hätte. + +Werfen wir schließlich einen Blick zurück auf das Gesamtbild, das die +Literatur und die Kunst Italiens von dem Tode des Ennius bis auf den +Anfang der ciceronischen Zeit vor uns entfaltet, so begegnen wir auch +hier in Vergleich mit der vorhergehenden Epoche dem entschiedensten +Sinken der Produktivität. Die höheren Gattungen der Literatur sind +abgestorben oder im Verkümmern, so das Epos, das Trauerspiel, die +Geschichte. Was gedeiht, sind die untergeordneten Arten, die +Übersetzung und die Nachbildung des Intrigenstücks, die Posse, die +poetische und prosaische Broschüre; in diesem letzten, von der vollen +Windsbraut der Revolution durchrasten Gebiet der Literatur begegnen wir +den beiden größten literarischen Talenten dieser Epoche, dem Gaius +Gracchus und dem Gaius Lucilius, die beide über eine Menge mehr oder +minder mittelmäßiger Schriftsteller emporragen, wie in einer ähnlichen +Epoche der französischen Literatur über eine Unzahl anspruchsvoller +Nullitäten Courier und Béranger. Ebenso ist in den bildenden und +zeichnenden Künsten die immer schwache Produktivität jetzt völlig null. +Dagegen gedeiht der rezeptive Kunst- und Literaturgenuß; wie die +Epigonen dieser Zeit auf dem politischen Gebiet die ihren Vätern +angefallenen Erbschaften einziehen und ausnutzen, so finden wir sie +auch hier als fleißige Schauspielbesucher, als Literaturfreunde, als +Kunstkenner und mehr noch als Sammler. Die achtungswerteste Seite +dieser Tätigkeit ist die gelehrte Forschung, die vor allem in der +Rechtswissenschaft und in der Sprach- und Sachphilologie eigene +geistige Anstrengung offenbart. Mit der Begründung dieser +Wissenschaften, welche recht eigentlich in die gegenwärtige Epoche +fällt, und zugleich mit den ersten geringen Anfängen der Nachdichtung +der alexandrinischen Treibhauspoesie kündigt bereits die Epoche des +römischen Alexandrinismus sich an. Alles, was diese Epoche geschaffen +hat, ist glatter, fehlerfreier, systematischer als die Schöpfungen des +sechsten Jahrhunderts; nicht ganz mit Unrecht sahen die Literaten und +Literaturfreunde dieser Zeit auf ihre Vorgänger wie auf stümperhafte +Anfänger herab. Aber wenn sie die Mangelhaftigkeit jener +Anfängerarbeiten belächelten oder beschalten, so mochten doch auch eben +die geistreichsten von ihnen sich es gestehen, daß die Jugendzeit der +Nation vorüber war, und vielleicht diesen oder jenen doch wieder im +stillen Grunde des Herzens die Sehnsucht beschleichen, den lieblichen +Irrtum der Jugend abermals zu irren. + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Römische Geschichte Book 4 by Theodor Mommsen + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK RÖMISCHE GESCHICHTE *** + +***** This file should be named 3063-0.txt or 3063-0.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/3/0/6/3063/ + +Updated editions will replace the previous one--the old editions will +be renamed. + +Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright +law means that no one owns a United States copyright in these works, +so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United +States without permission and without paying copyright +royalties. 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