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You may copy it, give it away or re-use it under the terms of +the Project Gutenberg License included with this eBook or online at +www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have +to check the laws of the country where you are located before using this ebook. + +Title: Römische Geschichte Book 1 + +Author: Theodor Mommsen + +Release Date: February, 2002 [Etext #3060] +[Most recently updated: January 15, 2020] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK RÖMISCHE GESCHICHTE *** + + + + + + + + + + + +</pre> + + +<h1>Römische Geschichte </h1> + +<h4>Erstes Buch<br/> +Bis zur Abschaffung des römischen Königtums +</h4> + +<h2>von Theodor Mommsen</h2> + +<hr /> + +<p> +The following e-text of Mommsen’s Roemische Geschichte contains some +(ancient) Greek quotations. The character set used for those quotations is a +modern Greek character set. Therefore, aspirations are not marked in Greek +words, nor is there any differentiation between the different accents of +ancient Greek and the subscript iotas are missing as well. +</p> + + +<h2>Contents</h2> + +<table summary="" style="margin-left: auto; margin-right: auto"> + +<tr> +<td> <a href="#pref01">Vorrede zu der zweiten Auflage</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#pref02">Vorrede zu der dritten bis neunten Auflage</a><br/><br/></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#part01"><b>Erstes Buch—Bis zur Abschaffung des römischen Königtums</b></a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap01">Kapitel I. Einleitung</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap02">Kapitel II. Die ältesten Einwanderungen in Italien</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap03">Kapitel III. Die Ansiedelungen der Latiner</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap04">Kapitel IV. Die Anfänge Roms</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap05">Kapitel V. Die ursprüngliche Verfassung Roms</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap06">Kapitel VI. Die Nichtbürger und die reformierte Verfassung</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap07">Kapitel VII. Roms Hegemonie in Latium</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap08">Kapitel VIII. Die umbrisch-sabellischen Stämme. +Anfänge der Samniten</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap09">Kapitel IX. Die Etrusker</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap10">Kapitel X. Die Hellenen in Italien. +Seeherrschaft der Tusker und Karthager</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap11">Kapitel XI. Recht und Gericht</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap12">Kapitel XII. Religion</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap13">Kapitel XIII. Ackerbau, Gewerbe und Verkehr</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap14">Kapitel XIV. Mass und Schrift</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap15">Kapitel XV. Die Kunst</a></td> +</tr> + +</table> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="pref01"></a>Vorrede zu der zweiten Auflage</h2> + +<p> +Die neue Auflage der ‘Roemischen Geschichte’ weicht von der +frueheren betraechtlich ab. Am meisten gilt dies von den beiden ersten +Buechern, welche die ersten fuenf Jahrhunderte des roemischen Staats umfassen. +Wo die pragmatische Geschichte beginnt, bestimmt und ordnet sie durch sich +selbst Inhalt und Form der Darstellung; fuer die fruehere Epoche sind die +Schwierigkeiten, welche die Grenzlosigkeit der Quellenforschung und die Zeit- +und Zusammenhanglosigkeit des Materials dem Historiker bereiten, von der Art, +dass er schwerlich andern und gewiss sich selber nicht genuegt. Obwohl der +Verfasser des vorliegenden Werkes mit diesen Schwierigkeiten der Forschung und +der Darstellung ernstlich gerungen hat, ehe er dasselbe dem Publikum vorlegte, +so blieb dennoch notwendig, hier noch viel zu tun und viel zu bessern. In diese +Auflage ist eine Reihe neu angestellter Untersuchungen, zum Beispiel ueber die +staatsrechtliche Stellung der Untertanen Roms, ueber die Entwicklung der +dichtenden und bildenden Kuenste, ihren Ergebnissen nach aufgenommen worden. +Ueberdies wurden eine Menge kleinerer Luecken ausgefuellt, die Darstellung +durchgaengig schaerfer und reichlicher gefasst, die ganze Anordnung klarer und +uebersichtlicher gestellt. Es sind ferner im dritten Buche die inneren +Verhaeltnisse der roemischen Gemeinde waehrend der Karthagischen Kriege nicht, +wie in der ersten Ausgabe, skizzenhaft, sondern mit der durch die Wichtigkeit +wie die Schwierigkeit des Gegenstandes gebotenen Ausfuehrlichkeit behandelt +worden. +</p> + +<p> +Der billig Urteilende und wohl am ersten der, welcher aehnliche Aufgaben zu +loesen unternommen hat, wird es sich zu erklaeren und also zu entschuldigen +wissen, dass es solcher Nachholungen bedurfte. Auf jeden Fall hat der Verfasser +es dankbar anzuerkennen, dass das oeffentliche Urteil nicht jene leicht +ersichtlichen Luecken und Unfertigkeiten des Buches betont, sondern vielmehr +wie den Beifall so auch den Widerspruch auf dasjenige gerichtet hat, darin es +abgeschlossen und fertig war. +</p> + +<p> +Im uebrigen hat der Verfasser das Buch aeusserlich bequemer einzurichten sich +bemueht. Die Varronische Zaehlung nach Jahren der Stadt ist im Texte +beibehalten; die Ziffern am Rande * bezeichnen das entsprechende Jahr vor +Christi Geburt. Bei den Jahresgleichungen ist durchgaengig das Jahr 1 der Stadt +dem Jahre 753 vor Christi Geburt und dem Olympiadenjahr 6, 4 gleichgesetzt +worden; obgleich, wenn die verschiedenen Jahresanfaenge des roemischen +Sonnenjahres mit dem 1. Maerz, des griechischen mit dem 1. Juli beruecksichtigt +werden, nach genauer Rechnung das Jahr 2 der Stadt den letzten zehn Monaten des +Jahres 753 und den zwei ersten des Jahres 752 v. Chr. sowie den vier letzten +Monaten von Ol. 6, 3 und den acht ersten von Ol. 6, 4 entsprechen wuerde. Das +roemische und griechische Geld ist durchgaengig in der Art reduziert worden, +dass Pfundas und Sesterz, Denar und attische Drachme als gleich genommen und +fuer alle Summen ueber 100 Denare der heutige Gold-, fuer alle Summen bis zu +100 Denaren der heutige Silberwert des entsprechenden Gewichtsquantums zugrunde +gelegt wurde, wobei das roemische Pfund (= 327,45 Gramm) Geld gleich 4000 +Sesterzen nach dem Verhaeltnis des Goldes zum Silber 1:15,5 zu 304½ Talern +preussisch, der Denar nach Silberwert zu 7 Groschen preussisch angesetzt wird. +Die dem ersten Bande beigefuegte Kiepertsche Karte wird die militaerische +Konsolidierung Italiens anschaulicher darstellen, als die Erzaehlung es vermag. +Die Inhaltsangaben am Rande werden dem Leser die Uebersicht erleichtern. Ein +alphabetisches Inhaltsverzeichnis wird dem dritten Bande beigegeben werden **, +da anderweitige Obliegenheiten es dem Verfasser unmoeglich machen, das Werk so +rasch, wie er es wuenschte, zu foerdern. +</p> + +<p> +——————- +</p> + +<p> +* Hier in Klammern im Text. +</p> + +<p> +** Karte und Register sind hier weggelassen. +</p> + +<p> +——————- +</p> + +<p> +Breslau, im November 1856 +</p> + +<p> +Die Aenderungen, welche der Verfasser in dem zweiten und dritten Bande dieses +Werkes bei der abermaligen Herausgabe zu machen veranlasst gewesen ist, sind +zum groesseren Teil hervorgegangen aus den neu aufgefundenen Fragmenten des +Licinianus, welche er durch die zuvorkommende Gefaelligkeit des Herausgebers, +Herrn Karl Pertz, bereits vor ihrem Erscheinen in den Aushaengebogen hat +einsehen duerfen und die zu unserer lueckenhaften Kunde der Epoche von der +Schlacht bei Pydna bis auf den Aufstand des Lepidus manche nicht unwichtige +Ergaenzung, freilich auch manches neue Raetsel hinzugefuegt haben. +</p> + +<p> +Breslau, im Mai 1857 +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="pref02"></a>Vorrede zu der dritten bis neunten Auflage<br/> +Einleitung</h2> + +<p> +Die dritte (vierte, fuenfte, sechste, siebente, achte und neunte) Auflage wird +man im ganzen von den vorhergehenden nicht betraechtlich abweichend finden. +Kein billiger und sachkundiger Beurteiler wird den Verfasser eines Werkes, wie +das vorliegende ist, verpflichtet erachten, fuer dessen neue Auflagen jede +inzwischen erschienene Spezialuntersuchung auszunutzen, das heisst zu +wiederholen. Was inzwischen aus fremden oder aus eigenen, seit dem Erscheinen +der zweiten Auflage angestellten Forschungen sich dem Verfasser als versehen +oder verfehlt ergeben hat, ist wie billig berichtet worden; zu einer +Umarbeitung groesserer Abschnitte hat sich keine Veranlassung dargeboten. Eine +Ausfuehrung ueber die Grundlagen der roemischen Chronologie im vierzehnten +Kapitel des dritten Buches ist spaeterhin in umfassender und dem Stoffe +angemessener Weise in einer besonderen Schrift (‘Die roemische +Chronologie bis auf Caesar’. Zweite Auflage. Berlin 1859) vorgelegt und +deshalb hier jetzt auf die kurze Darlegung der Ergebnisse von allgemein +geschichtlicher Wichtigkeit eingeschraenkt worden. Im uebrigen ist die +Einrichtung nicht veraendert. +</p> + +<p> +Berlin, am 1. Februar 1861; am 29. Dezember 1864; am 11. April 1868; am 4. +August 1874; am 21. Juli 1881; am 15. August 1887; am 1. Oktober 1902. +</p> + +<p class="center"> +Meinem Freunde<br/> +Moritz Haupt<br/> +In Berlin +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="part01"></a>Erstes Buch<br/> +Bis zur Abschaffung des römischen Königtums +</h2> + +<p class="letter"> +Τά παλαίστερα σαφώς μέν ευρείν διά χρόνου πλήθος αδύνατα ήν. Εκ δέ τεκμηρίων ων +επί μακρότατον σκοπούντί μοι πιστεύσαι ξυμβαίνει ου μεγάλα νομίζω γενέσθαι, +ούτε κατά τούς πολέμους οίτε ες τά άλλα. +</p> + +<p class="letter"> +Die aelteren Begebenheiten liessen sich wegen der Laenge der Zeit nicht genau +erforschen; aber aus Zeugnissen, die sich mir bei der Pruefung im grossen +Ganzen als verlaesslich erwiesen, glaube ich, dass sie nicht erheblich waren, +weder in bezug auf die Kriege noch sonst. +</p> + +<p class="right"> +Thukydides +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap01"></a>KAPITEL I.<br/> +Einleitung</h2> + +<p> +Rings um das mannigfaltig gegliederte Binnenmeer, das tief einschneidend in die +Erdfeste den groessten Busen des Ozeans bildet und, bald durch Inseln oder +vorspringende Landfesten verengt, bald wieder sich in betraechtlicher Breite +ausdehnend, die drei Teile der Alten Welt scheidet und verbindet, siedelten in +alten Zeiten Voelkerstaemme sich an, welche, ethnographisch und +sprachgeschichtlich betrachtet, verschiedenen Rassen angehoerig, historisch ein +Ganzes ausmachen. Dies historische Ganze ist es, was man nicht passend die +Geschichte der alten Welt zu nennen pflegt, die Kulturgeschichte der Anwohner +des Mittelmeers, die in ihren vier grossen Entwicklungsstadien an uns +vorueberfaehrt: die Geschichte des koptischen oder aegyptischen Stammes an dem +suedlichen Gestade, die der aramaeischen oder syrischen Nation, die die +Ostkueste einnimmt und tief in das innere Asien hinein bis an den Euphrat und +Tigris sich ausbreitet, und die Geschichte des Zwillingsvolkes der Hellenen und +der Italiker, welche die europaeischen Uferlandschaften des Mittelmeers zu +ihrem Erbteil empfingen. Wohl knuepft jede dieser Geschichten an ihren +Anfaengen an andere Gesichts- und Geschichtskreise an; aber jede auch schlaegt +bald ihren eigenen abgesonderten Gang ein. Die stammfremden oder auch +stammverwandten Nationen aber, die diesen grossen Kreis umwohnen, die Berber +und Neger Afrikas, die Araber, Perser und Inder Asiens, die Kelten und +Deutschen Europas, haben mit jenen Anwohnern des Mittelmeers wohl auch vielfach +sich beruehrt, aber eine eigentlich bestimmende Entwicklung doch weder ihnen +gegeben noch von ihnen empfangen; und soweit ueberhaupt Kulturkreise sich +abschliessen lassen, kann derjenige als eine Einheit gelten, dessen Hoehepunkt +die Namen Theben, Karthago, Athen und Rom bezeichnen. Es haben jene vier +Nationen, nachdem jede von ihnen auf eigener Bahn zu einer eigentuemlichen und +grossartigen Zivilisation gelangt war, in mannigfaltigster Wechselbeziehung +zueinander alle Elemente der Menschennatur scharf und reich durchgearbeitet und +entwickelt, bis auch dieser Kreis erfuellt war, bis neue Voelkerschaften, die +bis dahin das Gebiet der Mittelmeerstaaten nur wie die Wellen den Strand +umspuelt hatten, sich ueber beide Ufer ergossen und, indem sie die Suedkueste +geschichtlich trennten von der noerdlichen, den Schwerpunkt der Zivilisation +verlegten vom Mittelmeer an den Atlantischen Ozean. So scheidet sich die alte +Geschichte von der neuen nicht bloss zufaellig und chronologisch; was wir die +neue Geschichte nennen, ist in der Tat die Gestaltung eines neuen +Kulturkreises, der in mehreren seiner Entwicklungsepochen wohl anschliesst an +die untergehende oder untergegangene Zivilisation der Mittelmeerstaaten wie +diese an die aelteste indogermanische, aber auch wie diese bestimmt ist, eine +eigene Bahn zu durchmessen und Voelkerglueck und Voelkerleid im vollen Masse zu +erproben: die Epochen der Entwicklung, der Vollkraft und des Alters, die +beglueckende Muehe des Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen +Genuss erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch dereinst +das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten Befriedigung des erreichten +Zieles. Aber auch dieses Ziel wird nur ein vorlaeufiges sein; das grossartigste +Zivilisationssystem hat seine Peripherie und kann sie erfuellen, nimmer aber +das Geschlecht der Menschen, dem, so wie es am Ziele zu stehen scheint, die +alte Aufgabe auf weiterem Felde und in hoeherem Sinne neu gestellt wird. +</p> + +<p> +Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Akts jenes grossen +weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der mittleren unter den +drei Halbinseln, die vom noerdlichen Kontinent aus sich in das Mittelmeer +erstrecken. Sie wird gebildet durch die von den westlichen Alpen aus nach +Sueden sich verzweigenden Gebirge. Der Apennin streicht zunaechst in +suedoestlicher Richtung zwischen dem breiteren westlichen und dem schmalen +oestlichen Busen des Mittelmeers, an welchen letzteren hinantretend er seine +hoechste, kaum indes zu der Linie des ewigen Schnees hinansteigende Erhebung in +den Abruzzen erreicht. Von den Abruzzen aus setzt das Gebirge sich in +suedlicher Richtung fort, anfangs ungeteilt und von betraechtlicher Hoehe; nach +einer Einsattlung, die eine Huegellandschaft bildet, spaltet es sich in einen +flacheren suedoestlichen und einen steileren suedlichen Hoehenzug und schliesst +dort wie hier mit der Bildung zweier schmaler Halbinseln ab. Das noerdlich +zwischen Alpen und Apennin bis zu den Abruzzen hinab sich ausbreitende +Flachland gehoert geographisch und bis in sehr spaete Zeit auch historisch +nicht zu dem suedlichen Berg- und Huegelland, demjenigen Italien, dessen +Geschichte uns hier beschaeftigt. Erst im siebenten Jahrhundert Roms wurde das +Kuestenland von Sinigaglia bis Rimini, erst im achten das Potal Italien +einverleibt; die alte Nordgrenze Italiens sind also nicht die Alpen, sondern +der Apennin. Dieser steigt von keiner Seite in steiler Kette empor, sondern +breit durch das Land gelagert und vielfache, durch maessige Paesse verbundene +Taeler und Hochebenen einschliessend gewaehrt er selbst den Menschen eine wohl +geeignete Ansiedelungsstaette, und mehr noch gilt dies von dem oestlich, +suedlich und westlich an ihn sich anschliessenden Vor- und Kuestenland. Zwar an +der oestlichen Kueste dehnt sich, gegen Norden von dem Bergstock der Abruzzen +geschlossen und nur von dem steilen Ruecken des Garganus inselartig +unterbrochen, die apulische Ebene in einfoermiger Flaeche mit schwach +entwickelter Kuesten- und Strombildung aus. An der Suedkueste aber zwischen den +beiden Halbinseln, mit denen der Apennin endigt, lehnt sich an das innere +Huegelland eine ausgedehnte Niederung, die zwar an Haefen arm, aber wasserreich +und fruchtbar ist. Die Westkueste endlich, ein breites, von bedeutenden +Stroemen, namentlich dem Tiber, durchschnittenes, von den Fluten und den einst +zahlreichen Vulkanen in mannigfaltigster Tal- und Huegel-, Hafen- und +Inselbildung entwickeltes Gebiet, bildet in den Landschaften Etrurien, Latium +und Kampanien den Kern des italischen Landes, bis suedlich von Kampanien das +Vorland allmaehlich verschwindet und die Gebirgskette fast unmittelbar von dem +Tyrrhenischen Meere bespuelt wird. Ueberdies schliesst, wie an Griechenland der +Peloponnes, so an Italien die Insel Sizilien sich an, die schoenste und +groesste des Mittelmeers, deren gebirgiges und zum Teil oedes Innere ringsum, +vor allem im Osten und Sueden, mit einem breiten Saume des herrlichsten, +grossenteils vulkanischen Kuestenlandes umguertet ist; und wie geographisch die +sizilischen Gebirge die kaum durch den schmalen “Riss” (Ρήγιον) der +Meerenge unterbrochene Fortsetzung des Apennins sind, so ist auch geschichtlich +Sizilien in aelterer Zeit ebenso entschieden ein Teil Italiens wie der +Peloponnes von Griechenland, der Tummelplatz derselben Staemme und der +gemeinsame Sitz der gleichen hoeheren Gesittung. Die italische Halbinsel teilt +mit der griechischen die gemaessigte Temperatur und die gesunde Luft auf den +maessig hohen Bergen und im ganzen auch in den Taelern und Ebenen. In der +Kuestenentwicklung steht sie ihr nach; namentlich fehlt das Inselreiche Meer, +das die Hellenen zur seefahrenden Nation gemacht hat. Dagegen ist Italien dem +Nachbarn ueberlegen durch die reichen Flussebenen und die fruchtbaren und +kraeuterreichen Bergabhaenge, wie der Ackerbau und die Viehzucht ihrer bedarf. +Es ist wie Griechenland ein schoenes Land, das die Taetigkeit des Menschen +anstrengt und belohnt und dem unruhigen Streben die Bahnen in die Ferne, dem +ruhigen die Wege zu friedlichem Gewinn daheim in gleicher Weise eroeffnet. Aber +wenn die griechische Halbinsel nach Osten gewendet ist, so ist es die italische +nach Westen. Wie das epirotische und akarnanische Gestade fuer Hellas, so sind +die apulischen und messapischen Kuesten fuer Italien von untergeordneter +Bedeutung; und wenn dort diejenigen Landschaften, auf denen die geschichtliche +Entwicklung ruht, Attika und Makedonien, nach Osten schauen, so sehen Etrurien, +Latium und Kampanien nach Westen. So stehen die beiden so eng benachbarten und +fast verschwisterten Halbinseln gleichsam voneinander abgewendet; obwohl das +unbewaffnete Auge von Otranto aus die akrokeraunischen Berge erkennt, haben +Italiker und Hellenen sich doch frueher und enger auf jeder andern Strasse +beruehrt als auf der naechsten ueber das Adriatische Meer. Es war auch hier wie +so oft in den Bodenverhaeltnissen der geschichtliche Beruf der Voelker +vorgezeichnet: die beiden grossen Staemme, auf denen die Zivilisation der Alten +Welt erwuchs, warfen ihre Schatten wie ihren Samen der eine nach Osten, der +andere nach Westen. +</p> + +<p> +Es ist die Geschichte Italiens, die hier erzaehlt werden soll, nicht die +Geschichte der Stadt Rom. Wenn auch nach formalem Staatsrecht die Stadtgemeinde +von Rom es war, die die Herrschaft erst ueber Italien, dann ueber die Welt +gewann, so laesst sich doch dies im hoeheren geschichtlichen Sinne keineswegs +behaupten und erscheint das, was man die Bezwingung Italiens durch die Roemer +zu nennen gewohnt ist, vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesamten +Stammes der Italiker, von dem die Roemer wohl der gewaltigste, aber doch nur +ein Zweig sind. +</p> + +<p> +Die italische Geschichte zerfaellt in zwei Hauptabschnitte: in die innere +Geschichte Italiens bis zu seiner Vereinigung unter der Fuehrung des +latinischen Stammes und in die Geschichte der italischen Weltherrschaft. Wir +werden also darzustellen haben des italischen Volksstammes Ansiedelung auf der +Halbinsel; die Gefaehrdung seiner nationalen und politischen Existenz und seine +teilweise Unterjochung durch Voelker anderer Herkunft und aelterer +Zivilisation, durch Griechen und Etrusker; die Auflehnung der Italiker gegen +die Fremdlinge und deren Vernichtung oder Unterwerfung; endlich die Kaempfe der +beiden italischen Hauptstaemme, der Latiner und der Samniten, um die Hegemonie +auf der Halbinsel und den Sieg der Latiner am Ende des vierten Jahrhunderts vor +Christi Geburt oder des fuenften der Stadt Rom. Es wird dies den Inhalt der +beiden ersten Buecher bilden. Den zweiten Abschnitt eroeffnen die Punischen +Kriege; er umfasst die reissend schnelle Ausdehnung des Roemerreiches bis an +und ueber Italiens natuerliche Grenzen, den langen Status quo der roemischen +Kaiserzeit und das Zusammenstuerzen des gewaltigen Reiches. Dies wird im +dritten und den folgenden Buechern erzaehlt werden. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap02"></a>KAPITEL II.<br/> +Die ältesten Einwanderungen in Italien</h2> + +<p> +Keine Kunde, ja nicht einmal eine Sage erzaehlt von der ersten Einwanderung des +Menschengeschlechts in Italien; vielmehr war im Altertum der Glaube allgemein, +dass dort wie ueberall die erste Bevoelkerung dem Boden selbst entsprossen sei. +Indes die Entscheidung ueber den Ursprung der verschiedenen Rassen und deren +genetische Beziehungen zu den verschiedenen Klimaten bleibt billig dem +Naturforscher ueberlassen; geschichtlich ist es weder moeglich noch wichtig +festzustellen, ob die aelteste bezeugte Bevoelkerung eines Landes daselbst +autochthon oder selbst schon eingewandert ist. +</p> + +<p> +Wohl aber liegt es dem Geschichtsforscher ob, die sukzessive Voelkerschichtung +in dem einzelnen Lande darzulegen, um die Steigerung von der unvollkommenen zu +der vollkommneren Kultur und die Unterdrueckung der minder kulturfaehigen oder +auch nur minder entwickelten Staemme durch hoeher stehende Nationen soweit +moeglich rueckwaerts zu verfolgen. Italien indes ist auffallend arm an +Denkmaelern der primitiven Epoche und steht in dieser Beziehung in einem +bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Kulturgebieten. Den Ergebnissen der +deutschen Altertumsforschung zufolge muss in England, Frankreich, +Norddeutschland und Skandinavien, bevor indogermanische Staemme hier sich +ansaessig machten, ein Volk vielleicht tschudischer Rasse gewohnt oder vielmehr +gestreift haben, das von Jagd und Fischfang lebte, seine Geraete aus Stein, Ton +oder Knochen verfertigte und mit Tierzaehnen und Bernstein sich schmueckte, des +Ackerbaues aber und des Gebrauchs der Metalle unkundig war. In aehnlicher Weise +ging in Indien der indogermanischen eine minder kulturfaehige dunkelfarbige +Bevoelkerung vorauf. In Italien aber begegnen weder Truemmer einer verdraengten +Nation, wie im keltisch-germanischen Gebiet die Finnen und Lappen und die +schwarzen Staemme in den indischen Gebirgen sind, noch ist daselbst bis jetzt +die Verlassenschaft eines verschollenen Urvolkes nachgewiesen worden, wie sie +die eigentuemlich gearteten Gerippe, die Mahlzeit- und Grabstaetten der +sogenannten Steinepoche des deutschen Altertums zu offenbaren scheinen. Es ist +bisher nichts zum Vorschein gekommen, was zu der Annahme berechtigt, dass in +Italien die Existenz des Menschengeschlechts aelter sei als die Bebauung des +Ackers und das Schmelzen der Metalle; und wenn wirklich innerhalb der Grenzen +Italiens das Menschengeschlecht einmal auf der primitiven Kulturstufe gestanden +hat, die wir den Zustand der Wildheit zu nennen pflegen, so ist davon doch jede +Spur schlechterdings ausgeloescht. +</p> + +<p> +Die Elemente der aeltesten Geschichte sind die Voelkerindividuen, die Staemme. +Unter denen, die uns spaeterhin in Italien begegnen, ist von einzelnen, wie von +den Hellenen, die Einwanderung, von anderen, wie von den Brettiern und den +Bewohnern der sabinischen Landschaft, die Denationalisierung geschichtlich +bezeugt. Nach Ausscheidung beider Gattungen bleiben eine Anzahl Staemme uebrig, +deren Wanderungen nicht mehr mit dem Zeugnis der Geschichte, sondern hoechstens +auf aprioristischem Wege sich nachweisen lassen und deren Nationalitaet nicht +nachweislich eine durchgreifende Umgestaltung von aussen her erfahren hat; +diese sind es, deren nationale Individualitaet die Forschung zunaechst +festzustellen hat. Waeren wir dabei einzig angewiesen auf den wirren Wust der +Voelkernamen und der zerruetteten, angeblich geschichtlichen Ueberlieferung, +welche aus wenigen brauchbaren Notizen zivilisierter Reisender und einer Masse +meistens geringhaltiger Sagen, gewoehnlich ohne Sinn fuer Sage wie fuer +Geschichte zusammengesetzt und konventionell fixiert ist, so muesste man die +Aufgabe als eine hoffnungslose abweisen. Allein noch fliesst auch fuer uns eine +Quelle der Ueberlieferung, welche zwar auch nur Bruchstuecke, aber doch +authentische gewaehrt; es sind dies die einheimischen Sprachen der in Italien +seit unvordenklicher Zeit ansaessigen Staemme. Ihnen, die mit dem Volke selbst +geworden sind, war der Stempel des Werdens zu tief eingepraegt, um durch die +nachfolgende Kultur gaenzlich verwischt zu werden. Ist von den italischen +Sprachen auch nur eine vollstaendig bekannt, so sind doch von mehreren anderen +hinreichende Ueberreste erhalten, um der Geschichtsforschung fuer die +Stammverschiedenheit oder Stammverwandtschaft und deren Grade zwischen den +einzelnen Sprachen und Voelkern einen Anhalt zu gewaehren. +</p> + +<p> +So lehrt uns die Sprachforschung drei italische Urstaemme unterscheiden, den +iapygischen, den etruskischen und den italischen, wie wir ihn nennen wollen, +von welchen der letztere in zwei Hauptzweige sich spaltet: das latinische Idiom +und dasjenige, dem die Dialekte der Umbrer, Marser, Volsker und Samniten +angehoeren. +</p> + +<p> +Von dem iapygischen Stamm haben wir nur geringe Kunde. Im aeussersten Suedosten +Italiens, auf der messapischen oder kalabrischen Halbinsel, sind Inschriften in +einer eigentuemlichen verschollenen Sprache ^1 in ziemlicher Anzahl gefunden +worden, unzweifelhaft Truemmer des Idioms der Iapyger, welche auch die +Oberlieferung mit grosser Bestimmtheit von den latinischen und samnitischen +Staemmen unterscheidet; glaubwuerdige Angaben und zahlreiche Spuren fuehren +dahin, dass die gleiche Sprache und der gleiche Stamm urspruenglich auch in +Apulien heimisch war. Was wir von diesem Volke jetzt wissen, genuegt wohl, um +dasselbe von den uebrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber, um +positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache und diesem Volk in der +Geschichte des Menschengeschlechts zukommt. Die Inschriften sind nicht +entraetselt, und es ist kaum zu hoffen, dass dies dereinst gelingen wird. Dass +der Dialekt den indogermanischen beizuzaehlen ist, scheinen die Genetivformen +aihi und ihi entsprechend dem sanskritischen asya, dem griechischen οιο +anzudeuten. Andere Kennzeichen, zum Beispiel der Gebrauch der aspirierten +Konsonanten und das Vermeiden der Buchstaben m und t im Auslaut, zeigen diesen +iapygischen in wesentlicher Verschiedenheit von den italischen und in einer +gewissen Uebereinstimmung mit den griechischen Dialekten. Die Annahme einer +vorzugsweise engen Verwandtschaft der iapygischen Nation mit den Hellenen +findet weitere Unterstuetzung in den auf den Inschriften mehrfach +hervortretenden griechischen Goetternamen und in der auffallenden, von der +Sproedigkeit der uebrigen italischen Nationen scharf abstechenden Leichtigkeit, +mit der die Iapyger sich hellenisierten: Apulien, das noch in Timaeos’ +Zeit (400 Roms, [350]) als ein barbarisches Land geschildert wird, ist im +sechsten Jahrhundert der Stadt, ohne dass irgendeine unmittelbare Kolonisierung +von Griechenland aus dort stattgefunden haette, eine durchaus griechische +Landschaft geworden, und selbst bei dem rohen Stamm der Messapier zeigen sich +vielfache Ansaetze zu einer analogen Entwicklung. Bei dieser allgemeinen Stamm- +oder Wahlverwandtschaft der Iapyger mit den Hellenen, die aber doch keineswegs +so weit reicht, dass man die Iapygersprache als einen rohen Dialekt des +Hellenischen auffassen koennte, wird die Forschung vorlaeufig wenigstens stehen +bleiben muessen, bis ein schaerferes und besser gesichertes Ergebnis zu +erreichen steht ^2. Die Luecke ist indes nicht sehr empfindlich; denn nur +weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Beginn unserer Geschichte +schon im Untergehen begriffene Volksstamm. Der wenig widerstandsfaehige, leicht +in andere Nationalitaeten sich aufloesende Charakter der iapygischen Nation +passt wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische Lage wahrscheinlich +gemacht wird, dass dies die aeltesten Einwanderer oder die historischen +Autochthonen Italiens sind. Denn unzweifelhaft sind die aeltesten Wanderungen +der Voelker alle zu Lande erfolgt; zumal die nach Italien gerichteten, dessen +Kueste zur See nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und deshalb noch +in Homers Zeit den Hellenen voellig unbekannt war. Kamen aber die frueheren +Ansiedler ueber den Apennin, so kann, wie der Geolog aus der Schichtung der +Gebirge ihre Entstehung erschliesst, auch der Geschichtsforscher die Vermutung +wagen, dass die am weitesten nach Sueden geschobenen Staemme die aeltesten +Bewohner Italiens sein werden; und eben an dessen aeusserstem suedoestlichen +Saume begegnen wir der iapygischen Nation. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +^1 Ihren Klang moegen einige Grabschriften vergegenwaertigen, wie θeotoras +artahiaihi berenarrihino und dazihonas platorrihi bollihi. +</p> + +<p> +^2 Man hat, freilich auf ueberhaupt wenig und am wenigsten fuer eine Tatsache +von solcher Bedeutung zulaengliche sprachliche Vergleichungspunkte hin, eine +Verwandtschaft zwischen der iapygischen Sprache und der heutigen albanesischen +angenommen. Sollte diese Stammverwandtschaft sich bestaetigen und sollten +anderseits die Albanesen - ein ebenfalls indogermanischer und dem hellenischen +und italischen gleichstehender Stamm - wirklich ein Rest jener +hellenobarbarischen Nationalitaet sein, deren Spuren in ganz Griechenland und +namentlich in den noerdlichen Landschaften hervortreten, so wuerde diese +vorhellenische Nationalitaet damit als auch voritalisch nachgewiesen sein; +Einwanderung der Iapyger in Italien ueber das Adriatische Meer hin wuerde +daraus zunaechst noch nicht folgen. +</p> + +<p> +————————————————————————————————- +</p> + +<p> +Die Mitte der Halbinsel ist, soweit unsere zuverlaessige Ueberlieferung +zurueckreicht, bewohnt von zwei Voelkern oder vielmehr zwei Staemmen desselben +Volkes, dessen Stellung in dem indogermanischen Volksstamm sich mit groesserer +Sicherheit bestimmen laesst, als dies bei der iapygischen Nation der Fall war. +Wir duerfen dies Volk billig das italische heissen, da auf ihm die +geschichtliche Bedeutung der Halbinsel beruht; es teilt sich in die beiden +Staemme der Latiner einerseits, anderseits der Umbrer mit deren suedlichen +Auslaeufern, den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher Zeit von +den Samniten ausgesandten Voelkerschaften. Die sprachliche Analyse der diesen +Staemmen angehoerenden Idiome hat gezeigt, dass sie zusammen ein Glied sind in +der indogermanischen Sprachenkette, und dass die Epoche, in der sie eine +Einheit bildeten, eine verhaeltnismaessig spaete ist. Im Lautsystem erscheint +bei ihnen der eigentuemliche Spirant f, worin sie uebereinstimmen mit den +Etruskern, aber sich scharf scheiden von allen hellenischen und +hellenobarbarischen Staemmen, sowie vom Sanskrit selbst. Die Aspiraten dagegen, +die von den Griechen durchaus und die haerteren davon auch von den Etruskern +festgehalten werden, sind den Italikern urspruenglich fremd und werden bei +ihnen vertreten durch eines ihrer Elemente, sei es durch die Media, sei es +durch den Hauch allein f oder h. Die feineren Hauchlaute s, w, j, die die +Griechen soweit moeglich beseitigen, sind in den italischen Sprachen wenig +beschaedigt erhalten, ja hie und da noch weiter entwickelt worden. Das +Zurueckziehen des Akzents und die dadurch hervorgerufene Zerstoerung der +Endungen haben die Italiker zwar mit einigen griechischen Staemmen und mit den +Etruskern gemein, jedoch in staerkerem Grad als jene, in geringerem als diese +angewandt; die unmaessige Zerruettung der Endungen im Umbrischen ist sicher +nicht in dem urspruenglichen Sprachgeist begruendet, sondern spaetere +Verderbnis, welche sich in derselben Richtung wenngleich schwaecher auch in Rom +geltend gemacht hat. Kurze Vokale fallen in den italischen Sprachen deshalb im +Auslaut regelmaessig, lange haeufig ab; die schliessenden Konsonanten sind +dagegen im Lateinischen und mehr noch im Samnitischen mit Zaehigkeit +festgehalten worden, waehrend das Umbrische auch diese fallen laesst. Damit +haengt es zusammen, dass die Medialbildung in den italischen Sprachen nur +geringe Spuren zurueckgelassen hat und dafuer ein eigentuemliches, durch +Anfuegung von r gebildetes Passiv an die Stelle tritt; ferner dass der groesste +Teil der Tempora durch Zusammensetzungen mit den Wurzeln es und fu gebildet +wird, waehrend den Griechen neben dem Augment die reichere Ablautung den +Gebrauch der Hilfszeitwoerter grossenteils erspart. Waehrend die italischen +Sprachen wie der aeolische Dialekt auf den Dual verzichteten, haben sie den +Ablativ, der den Griechen verlorenging, durchgaengig, grossenteils auch den +Lokativ erhalten. Die strenge Logik der Italiker scheint Anstoss daran genommen +zu haben, den Begriff der Mehrheit in den der Zweiheit und der Vielheit zu +spalten, waehrend man die in den Beugungen sich ausdrueckenden Wortbeziehungen +mit grosser Schaerfe festhielt. Eigentuemlich italisch und selbst dem Sanskrit +fremd ist die in den Gerundien und Supinen vollstaendiger als sonst irgendwo +durchgefuehrte Substantivierung der Zeitwoerter. +</p> + +<p> +Diese aus einer reichen Fuelle analoger Erscheinungen ausgewaehlten Beispiele +genuegen, um die Individualitaet des italischen Sprachstammes jedem anderen +indogermanischen gegenueber darzutun und zeigen denselben zugleich sprachlich +wie geographisch als naechsten Stammverwandten der Griechen; der Grieche und +der Italiker sind Brueder, der Kelte, der Deutsche und der Slave ihnen Vettern. +Die wesentliche Einheit aller italischen wie aller griechischen Dialekte und +Staemme unter sich muss frueh und klar den beiden grossen Nationen selbst +aufgegangen sein; denn wir finden in der roemischen Sprache ein uraltes Wort +raetselhaften Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeichnet, +und ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Οπικός, die von allen, den +Griechen in aelterer Zeit bekannten latinischen und samnitischen Stmmen, nicht +aber von Iapygern oder Etruskern gebraucht wird. +</p> + +<p> +Innerhalb des italischen Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in +einen bestimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten. Allerdings +sind von diesen nur zwei, der umbrische und der samnitische oder oskische +Dialekt, einigermassen, und auch diese nur in aeusserst lueckenhafter und +schwankender Weise bekannt; von den uebrigen Dialekten sind die einen, wie der +volskische und der marsische, in zu geringen Truemmern auf uns gekommen, um sie +in ihrer Individualitaet zu erfassen oder auch nur die Mundarten selbst mit +Sicherheit und Genauigkeit zu klassifizieren, waehrend andere, wie der +sabinische, bis auf geringe, als dialektische Eigentuemlichkeiten im +provinzialen Latein erhaltene Spuren voellig untergegangen sind. Indes laesst +die Kombination der sprachlichen und der historischen Tatsachen daran keinen +Zweifel, dass diese saemtlichen Dialekte dem umbrisch-samnitischen Zweig des +grossen italischen Stammes angehoert haben, und dass dieser, obwohl dem +lateinischen Stamm weit naeher als dem griechischen verwandt, doch auch wieder +von ihm aufs bestimmteste sich unterscheidet. Im Fuerwort und sonst haeufig +sagte der Samnite und der Umbrer p, wo der Roemer q sprach - so pis fuer quis; +ganz wie sich auch sonst nahverwandte Sprachen scheiden, zum Beispiel dem +Keltischen in der Bretagne und Wales p, dem Gaelischen und Irischen k eigen +ist. In den Vokalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen und ueberhaupt +den noerdlichen Dialekten sehr zerstoert, dagegen in den suedlichen italischen +Dialekten sie wenig gelitten haben; womit verwandt ist, dass in der +Zusammensetzung der Roemer den sonst so streng bewahrten Grundvokal +abschwaecht, was nicht geschieht in der verwandten Sprachengruppe. Der Genetiv +der Woerter auf a ist in dieser wie bei den Griechen as, bei den Roemern in der +ausgebildeten Sprache ae; der der Woerter auf us im Samnitischen eis, im +Umbrischen es, bei den Roemern ei; der Lokativ tritt bei diesen im +Sprachbewusstsein mehr und mehr zurueck, waehrend er in den andern italischen +Dialekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus ist nur im +Lateinischen vorhanden. Der umbrisch-samnitische Infinitiv auf um ist den +Roemern fremd, waehrend das oskisch-umbrische, von der Wurzel es gebildete +Futur nach griechischer Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Roemern fast, +vielleicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des einfachen +Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo (ama-bo). In vielen dieser +Faelle, zum Beispiel in den Kasusformen, sind die Unterschiede indes nur +vorhanden fuer die beiderseits ausgebildeten Sprachen, waehrend die Anfaenge +zusammenfallen. Wenn also die italische Sprache neben der griechischen +selbstaendig steht, so verhaelt sich innerhalb jener die lateinische Mundart zu +der umbrisch-samnitischen etwa wie die ionische zur dorischen, waehrend sich +die Verschiedenheiten des Oskischen und des Umbrischen und der verwandten +Dialekte etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sizilien und in +Sparta. +</p> + +<p> +Jede dieser Spracherscheinungen ist Ergebnis und Zeugnis eines historischen +Ereignisses. Es laesst sich daraus mit vollkommener Sicherheit erschliessen, +dass aus dem gemeinschaftlichen Mutterschoss der Voelker und der Sprachen ein +Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der Italiker gemeinschaftlich +in sich schloss; dass aus diesem alsdann die Italiker sich abzweigten und diese +wieder in den westlichen und oestlichen Stamm, der oestliche noch spaeter in +Umbrer und Osker auseinander gingen. +</p> + +<p> +Wo und wann diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht +lehren, und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen, diesen Revolutionen +ahnend zu folgen, von denen die fruehesten unzweifelhaft lange vor derjenigen +Einwanderung stattfanden, welche die Stammvaeter der Italiker ueber die +Apenninen fuehrte. Dagegen kann die Vergleichung der Sprachen, richtig und +vorsichtig behandelt, von demjenigen Kulturgrade, auf dem das Volk sich befand, +als jene Trennungen eintraten, ein annaeherndes Bild und damit uns die Anfaenge +der Geschichte gewaehren, welche nichts ist als die Entwicklung der +Zivilisation. Denn es ist namentlich in der Bildungsepoche die Sprache das +treue Bild und Organ der erreichten Kulturstufe; die grossen technischen und +sittlichen Revolutionen sind darin wie in einem Archiv aufbewahrt, aus dessen +Akten die Zukunft nicht versaeumen wird, fuer jene Zeiten zu schoepfen, aus +welchen alle unmittelbare Ueberlieferung verstummt ist. +</p> + +<p> +Waehrend die jetzt getrennten indogermanischen Voelker einen gleichsprachigen +Stamm bildeten, erreichten sie einen gewissen Kulturgrad und einen diesem +angemessenen Wortschatz, den als gemeinsame Ausstattung in konventionell +festgestelltem Gebrauch alle Einzelvoelker uebernahmen, um auf der gegebenen +Grundlage selbstaendig weiter zu bauen. Wir finden in diesem Wortschatz nicht +bloss die einfachsten Bezeichnungen des Seins, der Taetigkeiten, der +Wahrnehmungen wie sum, do, pater, das heisst den urspruenglichen Widerhall des +Eindrucks, den die Aussenwelt auf die Brust des Menschen macht, sondern auch +eine Anzahl Kulturwoerter nicht bloss ihren Wurzeln nach, sondern in einer +gewohnheitsmaessig ausgepraegten Form, welche Gemeingut des indogermanischen +Stammes und weder aus gleichmaessiger Entfaltung noch aus spaeterer Entlehnung +erklaerbar sind. So besitzen wir Zeugnisse fuer die Entwicklung des +Hirtenlebens in jener fernen Epoche in den unabaenderlich fixierten Namen der +zahmen Tiere: sanskritisch gâus ist lateinisch bos, griechisch βούς; +sanskritisch avis ist lateinisch ovis, griechisch όις; sanskritisch açvas, +lateinisch equus, griechisch ίππος; sanskritisch hansas, lateinisch anser, +griechisch χήν; sanskritisch âtis, griechisch νήσσα, lateinisch anas; ebenso +sind pecus, sus, porcus, taurus, canis sanskritische Woerter. Also schon in +dieser fernsten Epoche hatte der Stamm, auf dem von den Tagen Homers bis auf +unsere Zeit die geistige Entwicklung der Menschheit beruht, den niedrigsten +Kulturgrad der Zivilisation, die Jaeger- und Fischerepoche, ueberschritten und +war zu einer wenigstens relativen Stetigkeit der Wohnsitze gelangt. Dagegen +fehlt es bis jetzt an sicheren Beweisen dafuer, dass schon damals der Acker +gebaut worden ist. Die Sprache spricht eher dagegen als dafuer. Unter den +lateinisch-griechischen Getreidenamen kehrt keiner wieder im Sanskrit mit +einziger Ausnahme von ζέα, das sprachlich dem sanskritischen yavas entspricht, +uebrigens im Indischen die Gerste, im Griechischen den Spelt bezeichnet. Es +muss nun freilich zugegeben werden, dass diese von der wesentlichen +Uebereinstimmung der Benennungen der Haustiere so scharf abstechende +Verschiedenheit in den Namen der Kulturpflanzen eine urspruengliche +Gemeinschaft des Ackerbaues noch nicht unbedingt ausschliesst; in primitiven +Verhaeltnissen ist die Uebersiedelung und Akklimatisierung der Pflanzen +schwieriger als die der Tiere, und der Reisbau der Inder, der Weizen- und +Speltbau der Griechen und Roemer, der Roggen- und Haferbau der Germanen und +Kelten koennten an sich wohl alle auf einen gemeinschaftlichen urspruenglichen +Feldbau zurueckgehen. Aber auf der andern Seite ist die den Griechen und Indern +gemeinschaftliche Benennung einer Halmfrucht doch hoechstens ein Beweis dafuer, +dass man vor der Scheidung der Staemme die in Mesopotamien wildwachsenden +Gersten- und Speltkoerner ^3 sammelte und ass, nicht aber dafuer, dass man +schon Getreide baute. Wenn sich hier nach keiner Seite hin eine Entscheidung +ergibt, so fuehrt dagegen etwas weiter die Beobachtung, dass eine Anzahl der +wichtigsten hier einschlagenden Kulturwoerter im Sanskrit zwar auch, aber +durchgaengig in allgemeinerer Bedeutung vorkommen: agras ist bei den Indern +ueberhaupt Flur, kûrnu ist das Zerriebene, aritram ist Ruder und Schiff, venas +das Anmutige ueberhaupt, namentlich der anmutende Trank. Die Woerter also sind +uralt; aber ihre bestimmte Beziehung auf die Ackerflur (ager), auf das zu +mahlende Getreide (granum, Korn), auf das Werkzeug, das den Boden furcht wie +das Schiff die Meeresflaeche (aratrum), auf den Saft der Weintraube (vinum) war +bei der aeltesten Teilung der Staemme noch nicht entwickelt; es kann daher auch +nicht wundernehmen, wenn die Beziehungen zum Teil sehr verschieden ausfielen +und zum Beispiel von dem sanskritischen kûrnu sowohl das zum Zerreiben +bestimmte Korn als auch die zerreibende Muehle, gotisch quairnus, litauisch +girnôs ihre Namen empfingen. Wir duerfen darnach als wahrscheinlich annehmen, +dass das indogermanische Urvolk den Ackerbau noch nicht kannte, und als gewiss, +dass, wenn es ihn kannte, er doch noch in der Volkswirtschaft eine durchaus +untergeordnete Rolle spielte; denn waere er damals schon gewesen, was er +spaeter den Griechen und Roemern war, so haette er tiefer der Sprache sich +eingepraegt, als es geschehen ist. +</p> + +<p> +Dagegen zeugen fuer den Haeuser- und Huettenbau der Indogermanen sanskritisch +dam(as), lateinisch domus, griechisch δόμος; sanskritisch vêças, lateinisch +vicus, griechisch οίκος; sanskritisch dvaras, lateinisch fores, griechisch +θύρα; ferner fuer den Bau von Ruderbooten die Namen des Nachens - sanskritisch +nâus, griechisch ναύς, lateinisch navis - und des Ruders - sanskritisch +aritram, griechisch ερετμός, lateinisch remus, tri-res-mis; fuer den Gebrauch +der Wagen und die Baendigung der Tiere zum Ziehen und Fahren sanskritisch +akshas (Achse und Karren), lateinisch axis, griechisch άξων, αμ-αξα; +sanskritisch iugam, lateinisch iugum, griechisch ζυγόν. Auch die Benennungen +des Kleides - sanskritisch vastra, lateinisch vestis, griechisch εςθής - und +des Naehens und Spinnens - sanskritisch siv, lateinisch suo; sanskritisch nah, +lateinisch neo, griechisch νήθω - sind in allen indogermanischen Sprachen die +gleichen. Von der hoeheren Kunst des Webens laesst dies dagegen nicht in +gleicher Weise sich sagen ^4. Dagegen ist wieder die Kunde von der Benutzung +des Feuers zur Speisenbereitung und des Salzes zur Wuerzung derselben uraltes +Erbgut der indogermanischen Nationen und das gleiche gilt sogar von der +Kenntnis der aeltesten zum Werkzeug und zum Zierat von dem Menschen verwandten +Metalle. Wenigstens vom Kupfer (aes) und Silber (argentum), vielleicht auch vom +Gold kehren die Namen wieder im Sanskrit, und diese Namen sind doch schwerlich +entstanden, bevor man gelernt hatte, die Erze zu scheiden und zu verwenden; wie +denn auch sanskritisch asis, lateinisch ensis auf den uralten Gebrauch +metallener Waffen hinleitet. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^3 Nordwestlich von Anah am rechten Euphratufer fanden sich zusammen Gerste, +Weizen und Spelt im wilden Zustande (Alphonse de Candolle, Géographie botanique +raisonnée. Paris 1855. Bd. 2, S. 934). Dasselbe, dass Gerste und Weizen in +Mesopotamien wild wachsen, sagt schon der babylonische Geschichtschreiber +Berosos (bei Georgios Synkellos p. 50 Bonn.). +</p> + +<p> +^4 Wenn das lateinische vieo, vimen, demselben Stamm angehoert wie unser weben +und die verwandten Woerter, so muss das Wort, noch als Griechen und Italiker +sich trennten, die allgemeine Bedeutung flechten gehabt haben, und kann diese +erst spaeter, wahrscheinlich in verschiedenen Gebieten unabhaengig voneinander, +in die des Webens uebergegangen sein. Auch der Leinbau, so alt er ist, reicht +nicht bis in diese Zeit zurueck, denn die Inder kennen die Flachspflanze wohl, +bedienen sich ihrer aber bis heute nur zur Bereitung des Leinoels. Der Hanf ist +den Italikern wohl noch spaeter bekannt geworden als der Flachs; wenigstens +sieht cannabis ganz aus wie ein spaetes Lehnwort. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Nicht minder reichen in diese Zeiten die Fundamentalgedanken zurueck, auf denen +die Entwicklung aller indogermanischen Staaten am letzten Ende beruht: die +Stellung von Mann und Weib zueinander, die Geschlechtsordnung, das Priestertum +des Hausvaters und die Abwesenheit eines eigenen Priesterstandes sowie +ueberhaupt einer jeden Kastensonderung, die Sklaverei als rechtliche +Institution, die Rechtstage der Gemeinde bei Neumond und Vollmond. Dagegen die +positive Ordnung des Gemeinwesens, die Entscheidung zwischen Koenigtum und +Gemeindeherrlichkeit, zwischen erblicher Bevorzugung der Koenigs- und +Adelsgeschlechter und unbedingter Rechtsgleichheit der Buerger gehoert ueberall +einer spaeteren Zeit an. Selbst die Elemente der Wissenschaft und der Religion +zeigen Spuren urspruenglicher Gemeinschaft. +</p> + +<p> +Die Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, ékaçatam, lateinisch +centum, griechisch ε-κατόν, gotisch hund); der Mond heisst in allen Sprachen +davon, dass man nach ihm die Zeit misst (mensis). Wie der Begriff der Gottheit +selbst (sanskritisch devas, lateinisch deus, griechisch θεός) gehoeren zum +gemeinen Gut der Voelker auch manche der aeltesten Religionsvorstellungen und +Naturbilder. Die Auffassung zum Beispiel des Himmels als des Vaters, der Erde +als der Mutter der Wesen, die Festzuege der Goetter, die in eigenen Wagen auf +sorgsam gebahnten Gleisen von einem Orte zum andern ziehen, die schattenhafte +Fortdauer der Seele nach dem Tode sind Grundgedanken der indischen wie der +griechischen und roemischen Goetterlehre. Selbst einzelne der Goetter vom +Ganges stimmen mit den am Ilissos und am Tiber verehrten bis auf die Namen +ueberein - so ist der Uranos der Griechen der Varunas, so der Zeus, Jovis +pater, Diespiter der Djâus pitâ der Veden. Auf manche raetselhafte Gestalt der +hellenischen Mythologie ist durch die neuesten Forschungen ueber die aeltere +indische Goetterlehre ein ungeahntes Licht gefallen. Die altersgrauen +geheimnisvollen Gestalten der Erinnyen sind nicht hellenisches Gedicht, sondern +schon mit den aeltesten Ansiedlern aus dem Osten eingewandert. Das goettliche +Windspiel Saramâ, das dem Herrn des Himmels die goldene Herde der Sterne und +Sonnenstrahlen behuetet und ihm die Himmelskuehe, die naehrenden Regenwolken +zum Melken zusammentreibt, das aber auch die frommen Toten treulich in die Welt +der Seligen geleitet, ist den Griechen zu dem Sohn der Saramâ, dem Saramêyas +oder Hermeias geworden, und die raetselhafte, ohne Zweifel auch mit der +roemischen Cacussage zusammenhaengende hellenische Erzaehlung von dem Raub der +Rinder des Helios erscheint nun als ein letzter unverstandener Nachklang jener +alten sinnvollen Naturphantasie. +</p> + +<p> +Wenn die Aufgabe, den Kulturgrad zu bestimmen, den die Indogermanen vor der +Scheidung der Staemme erreichten, mehr der allgemeinen Geschichte der alten +Welt angehoert, so ist es dagegen speziell Aufgabe der italischen Geschichte, +zu ermitteln, soweit es moeglich ist, auf welchem Stande die graecoitalische +Nation sich befand, als Hellenen und Italiker sich voneinander schieden. Es ist +dies keine ueberfluessige Arbeit; wir gewinnen damit den Anfangspunkt der +italischen Zivilisation, den Ausgangspunkt der nationalen Geschichte. +</p> + +<p> +Alle Spuren deuten dahin, dass, waehrend die Indogermanen wahrscheinlich ein +Hirtenleben fuehrten und nur etwa die wilde Halmfrucht kannten, die +Graecoitaliker ein korn-, vielleicht sogar schon ein weinbauendes Volk waren. +Dafuer zeugt nicht gerade die Gemeinschaft des Ackerbaues selbst, die im ganzen +noch keineswegs einen Schluss auf alle Voelkergemeinschaft rechtfertigt. Ein +geschichtlicher Zusammenhang des indogermanischen Ackerbaus mit dem der +chinesischen, aramaeischen und aegyptischen Staemme wird schwerlich in Abrede +gestellt werden koennen; und doch sind diese Staemme den Indogermanen entweder +stammfremd oder doch zu einer Zeit von ihnen getrennt worden, wo es sicher noch +keinen Feldbau gab. Vielmehr haben die hoeher stehenden Staemme vor alters wie +heutzutage die Kulturgeraete und Kulturpflanzen bestaendig getauscht; und wenn +die Annalen von China den chinesischen Ackerbau auf die unter einem bestimmten +Koenig in einem bestimmten Jahr stattgefundene Einfuehrung von fuenf +Getreidearten zurueckfuehren, so zeichnet diese Erzaehlung im allgemeinen +wenigstens die Verhaeltnisse der aeltesten Kulturepoche ohne Zweifel richtig. +Gemeinschaft des Ackerbaus wie Gemeinschaft des Alphabets, der Streitwagen, des +Purpurs und andern Geraets und Schmuckes gestattet weit oefter einen Schluss +auf alten Voelkerverkehr als auf urspruengliche Volkseinheit. Aber was die +Griechen und Italiker anlangt, so darf bei den verhaeltnismaessig wohlbekannten +Beziehungen dieser beiden Nationen zueinander die Annahme, dass der Ackerbau, +wie Schrift und Muenze, erst durch die Hellenen nach Italien gekommen sei, als +voellig unzulaessig bezeichnet werden. Anderseits zeugt fuer den engsten +Zusammenhang des beiderseitigen Feldbaus die Gemeinschaftlichkeit aller +aeltesten hierher gehoerigen Ausdruecke: ager αγρός, aro aratrum αρόω άροτρον, +ligo neben λαχαίνω, hortus χόρτος, hordeum κριθή, milium μελίνη, rapa ραφανίς, +malva μαλάχη, vinum οίνος, und ebenso das Zusammentreffen des griechischen und +italischen Ackerbaus in der Form des Pfluges, der auf altattischen und +roemischen Denkmaelern ganz gleich gebildet vorkommt, in der Wahl der aeltesten +Kornarten: Hirse, Gerste, Spelt, in dem Gebrauch, die Aehren mit der Sichel zu +schneiden und sie auf der glattgestampften Tenne durch das Vieh austreten zu +lassen, endlich in der Bereitungsart des Getreides: puls πόλτος, pinso πτίσσω, +mola μύλη, denn das Backen ist juengeren Ursprungs, und wird auch deshalb im +roemischen Ritual statt des Brotes stets der Teig oder Brei gebraucht. Dass +auch der Weinbau in Italien ueber die aelteste griechische Einwanderung +hinausgeht, dafuer spricht die Benennung “Weinland” (Οινοτρία), die +bis zu den aeltesten griechischen Anlaendern hinaufzureichen scheint. Danach +muss der Uebergang vom Hirtenleben zum Ackerbau oder, genauer gesprochen, die +Verbindung des Feldbaus mit der aelteren Weidewirtschaft stattgefunden haben, +nachdem die Inder aus dem Mutterschoss der Nationen ausgeschieden waren, aber +bevor die Hellenen und die Italiker ihre alte Gemeinsamkeit aufhoben. Uebrigens +scheinen, als der Ackerbau aufkam, die Hellenen und Italiker nicht bloss unter +sich, sondern auch noch mit anderen Gliedern der grossen Familie zu einem +Volksganzen verbunden gewesen zu sein; wenigstens ist es Tatsache, dass die +wichtigsten jener Kulturwoerter zwar den asiatischen Gliedern der +indogermanischen Voelkerfamilien fremd, aber den Roemern und Griechen mit den +keltischen sowohl als mit den deutschen, slawischen, lettischen Staemmen +gemeinsam sind ^5. Die Sonderung des gemeinsamen Erbgutes von dem +wohlerworbenen Eigen einer jeden Nation in Sitte und Sprache ist noch lange +nicht vollstaendig und in aller Mannigfaltigkeit der Gliederungen und +Abstufungen durchgefuehrt; die Durchforschung der Sprachen in dieser Beziehung +hat kaum begonnen, und auch die Geschichtschreibung entnimmt immer noch ihre +Darstellung der Urzeit vorwiegend, statt dem reichen Schacht der Sprachen, +vielmehr dem groesstenteils tauben Gestein der Ueberlieferung. Fuer jetzt muss +es darum hier genuegen, auf die Unterschiede hinzuweisen zwischen der Kultur +der indogermanischen Familie in ihrem aeltesten Beisammensein und zwischen der +Kultur derjenigen Epoche, wo die Graecoitaliker noch ungetrennt zusammenlebten; +die Unterscheidung der den asiatischen Gliedern dieser Familie fremden, den +europaeischen aber gemeinsamen Kulturresultate von denjenigen, welche die +einzelnen Gruppen dieser letzteren, wie die griechisch-italische, die +deutsch-slawische, jede fuer sich erlangten, kann, wenn ueberhaupt, doch auf +jeden Fall erst nach weiter vorgeschrittenen sprachlichen und sachlichen +Untersuchungen gemacht werden. Sicher aber ist der Ackerbau fuer die +graecoitalische, wie ja fuer alle anderen Nationen auch, der Keim und der Kern +des Volks- und Privatlebens geworden und als solcher im Volksbewusstsein +geblieben. Das Haus und der feste Herd, den der Ackerbauer sich gruendet +anstatt der leichten Huette und der unsteten Feuerstelle des Hirten, werden im +geistigen Gebiete dargestellt und idealisiert in der Goettin Vesta oder Εστία, +fast der einzigen, die nicht indogermanisch und doch beiden Nationen von Haus +aus gemein ist. Eine der aeltesten italischen Stammsagen legt dem Koenig +Italus, oder, wie die Italiker gesprochen haben muessen, Vitalus oder Vitulus, +die Ueberfuehrung des Volkes vom Hirtenleben zum Ackerbau bei und knuepft +sinnig die urspruengliche italische Gesetzgebung daran; nur eine andere Wendung +davon ist es, wenn die samnitische Stammsage zum Fuehrer der Urkolonien den +Ackerstier macht oder wenn die aeltesten latinischen Volksnamen das Volk +bezeichnen als Schnitter (Siculi, auch wohl Sicani) oder als Feldarbeiter +(Opsci). Es gehoert zum sagenwidrigen Charakter der sogenannten roemischen +Ursprungssage, dass darin ein staedtegruendendes Hirten- und Jaegervolk +auftritt: Sage und Glaube, Gesetze und Sitten knuepfen bei den Italikern wie +bei den Hellenen durchgaengig an den Ackerbau an ^6. +</p> + +<p> +————————————————————————————— +</p> + +<p> +^5 So finden sich aro aratrum wieder in dem altdeutschen aran (pfluegen, +mundartlich eren), erida, im slawischen orati, oradlo, im litauischen arti, +arimnas, im keltischen ar, aradar. So steht neben ligo unser Rechen, neben +hortus unser Garten, neben mola unsere Muehle, slawisch mlyn, litauisch +malunas, keltisch malirr. +</p> + +<p> +Allen diesen Tatsachen gegenueber wird man es nicht zugeben koennen, dass es +eine Zeit gegeben wo die Griechen in allen hellenischen Gauen nur von der +Viehzucht gelebt haben. Wenn nicht Grund-, sondern Viehbesitz in Hellas wie in +Italien der Ausgangs- und Mittelpunkt alles Privatvermoegens ist, so beruht +dies nicht darauf, dass der Ackerbau erst spaeter aufkam, sondern dass er +anfaenglich nach dem System der Feldgemeinschaft betrieben ward. Ueberdies +versteht es sich von selbst, dass eine reine Ackerbauwirtschaft vor Scheidung +der Staemme noch nirgends bestanden haben kann, sondern, je nach der Lokalitaet +mehr oder minder, die Viehzucht damit sich in ausgedehnterer Weise verband, als +dies spaeter der Fall war. +</p> + +<p> +^6 Nichts ist dafuer bezeichnender als die enge Verknuepfung, in welche die +aelteste Kulturepoche den Ackerbau mit der Ehe wie mit der Stadtgruendung +setzte. So sind die bei der Ehe zunaechst beteiligten Goetter in Italien die +Ceres und (oder?) Tellus (Plut. Rom. 22; Serv. Aen. 4, 166; A. Rossbach, +Untersuchungen ueber die roemische Ehe. Stuttgart 1853, S. 257, 301), in +Griechenland die Demeter (Plut. coniug. praec. Vorrede), wie denn auch in alten +griechischen Formeln die Gewinnung von Kindern selber “Ernte” +heisst (Anm. 8); ja die aelteste roemische Eheform, die Confarreatio, entnimmt +ihren Namen und ihr Ritual vom Kornbau. Die Verwendung des Pflugs bei der +Stadtgruendung ist bekannt. +</p> + +<p> +————————————————————————————- +</p> + +<p> +Wie der Ackerbau selbst beruhen auch die Bestimmungen der Flaechenmasse und die +Weise der Limitation bei beiden Voelkern auf gleicher Grundlage; wie denn das +Bauen des Bodens ohne eine wenn auch rohe Vermessung desselben nicht gedacht +werden kann. Der oskische und umbrische Vorsus von 100 Fuss ins Gevierte +entspricht genau dem griechischen Plethron. Auch das Prinzip der Limitation ist +dasselbe. Der Feldmesser orientiert sich nach einer der Himmelsgegenden und +zieht also zuerst zwei Linien von Norden nach Sueden und von Osten nach Westen, +in deren Schneidepunkt (templum, τέμενος von τέμνω) er steht, alsdann in +gewissen festen Abstaenden den Hauptschneidelinien parallele Linien, wodurch +eine Reihe rechtwinkeliger Grundstuecke entsteht, deren Ecken die Grenzpfaehle +(termini, in sizilischen Inschriften τέρμονες, gewoehnlich όροι) bezeichnen. +Diese Limitationsweise, die wohl auch etruskisch, aber schwerlich etruskischen +Ursprungs ist, finden wir bei den Roemern, Umbrern, Samniten, aber auch in sehr +alten Urkunden der tarentinischen Herakleoten, die sie wahrscheinlich +ebensowenig von den Italikern entlehnt haben als diese sie von den Tarentinern, +sondern es ist altes Gemeingut. Eigentuemlich roemisch und charakteristisch ist +erst die eigensinnige Ausbildung des quadratischen Prinzips, wonach man selbst, +wo Fluss und Meer eine natuerliche Grenze machten, diese nicht gelten liess, +sondern mit dem letzten vollen Quadrat das zum Eigen verteilte Land abschloss. +</p> + +<p> +Aber nicht bloss im Ackerbau, sondern auch auf den uebrigen Gebieten der +aeltesten menschlichen Taetigkeit ist die vorzugsweise enge Verwandtschaft der +Griechen und Italiker unverkennbar. Das griechische Haus, wie Homer es +schildert, ist wenig verschieden von demjenigen, das in Italien bestaendig +festgehalten ward; das wesentliche Stueck und urspruenglich der ganze innere +Wohnraum des lateinischen Hauses ist das Atrium, das heisst das schwarze Gemach +mit dem Hausaltar, dem Ehebett, dem Speisetisch und dem Herd, und nichts +anderes ist auch das homerische Megaron mit Hausaltar und Herd und +schwarzberusster Decke. Nicht dasselbe laesst sich von dem Schiffbau sagen. Der +Rudernachen ist altes indogermanisches Gemeingut; der Fortschritt zu +Segelschiffen aber gehoert der graecoitalischen Periode schwerlich an, da es +keine nicht allgemein indogermanische und doch von Haus aus den Griechen und +Italikern gemeinsame Seeausdruecke gibt. Dagegen wird wieder die uralte +italische Sitte der gemeinschaftlichen Mittagsmahlzeiten der Bauern, deren +Ursprung der Mythus an die Einfuehrung des Ackerbaues anknuepft, von +Aristoteles mit den kretischen Syssitien verglichen; und auch darin trafen die +aeltesten Roemer mit den Kretern und Lakonen zusammen, dass sie nicht, wie es +spaeter bei beiden Voelkern ueblich ward, auf der Bank liegend, sondern sitzend +die Speisen genossen. Das Feuerzuenden durch Reiben zweier verschiedenartiger +Hoelzer ist allen Voelkern gemein; aber gewiss nicht zufaellig treffen Griechen +und Italiker zusammen in den Bezeichnungen der beiden Zuendehoelzer, des +“Reibers” (τρύπανον, terebra) und der “Unterlage” +(στόρευς εσχάρα, tabula, wohl von tendere, τέταμαι). Ebenso ist die Kleidung +beider Voelker wesentlich identisch, denn die Tunika entspricht voellig dem +Chiton, und die Toga ist nichts als ein bauschigeres Himation; ja selbst in dem +so veraenderlichen Waffenwesen ist wenigstens das beiden Voelkern gemein, dass +die beiden Hauptangriffswaffen Wurfspeer und Bogen sind, was roemischerseits in +den aeltesten Wehrmannsnamen (pilumni - arquites) deutlich sich ausspricht ^7 +und der aeltesten nicht eigentlich auf den Nahkampf berechneten Fechtweise +angemessen ist. So geht bei den Griechen und Italikern in Sprache und Sitte +zurueck auf dieselben Elemente alles, was die materiellen Grundlagen der +menschlichen Existenz betrifft; die aeltesten Aufgaben, die die Erde an den +Menschen stellt, sind einstmals von beiden Voelkern, als sie noch eine Nation +ausmachten, gemeinschaftlich geloest worden. +</p> + +<p> +——————————————————- +</p> + +<p> +^7 Unter den beiderseits aeltesten Waffennamen werden kaum sicher verwandte +aufgezeigt werden koennen: lancea, obwohl ohne Zweifel mit λόγχη +zusammenhaengend, ist als roemisches Wort jung und vielleicht von den Deutschen +oder Spaniern entlehnt. +</p> + +<p> +——————————————————- +</p> + +<p> +Anders ist es in dem geistigen Gebiet. Die grosse Aufgabe des Menschen, mit +sich selbst, mit seinesgleichen und mit dem Ganzen in bewusster Harmonie zu +leben, laesst so viele Loesungen zu, als es Provinzen gibt in unsers Vaters +Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiellen, wo die +Charaktere der Individuen und der Voelker sich scheiden. In der +graecoitalischen Periode muessen die Anregungen noch gefehlt haben, welche +diesen innerlichen Gegensatz hervortreten machten; erst zwischen den Hellenen +und den Italikern hat jene tiefe geistige Verschiedenheit sich offenbart, deren +Nachwirkung noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat, +Religion und Kunst sind in Italien wie in Griechenland so eigentuemlich, so +durchaus national entwickelt worden, dass die gemeinschaftliche Grundlage, auf +der auch hier beide Voelker fussten, dort und hier ueberwuchert und unsern +Augen fast ganz entzogen ist. Jenes hellenische Wesen, das dem Einzelnen das +Ganze, der Gemeinde die Nation, dem Buerger die Gemeinde aufopferte, dessen +Lebensideal das schoene und gute Sein und nur zu oft der suesse Muessiggang +war, dessen politische Entwicklung in der Vertiefung des urspruenglichen +Partikularismus der einzelnen Gaue und spaeter sogar in der innerlichen +Aufloesung der Gemeindegewalt bestand, dessen religioese Anschauung erst die +Goetter zu Menschen machte und dann die Goetter leugnete, das die Glieder +entfesselte in dem Spiel der nackten Knaben und dem Gedanken in aller seiner +Herrlichkeit und in aller seiner Furchtbarkeit freie Bahn gab; und jenes +roemische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die Buerger in die +Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht der Goetter bannte, das nichts +forderte und nichts ehrte als die nuetzliche Tat und jeden Buerger zwang, jeden +Augenblick des kurzen Lebens mit rastloser Arbeit auszufuellen, das die keusche +Verhuellung des Koerpers schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem, wer anders +sein wollte als die Genossen, ein schlechter Buerger hiess, in dem der Staat +alles war und die Erweiterung des Staates der einzige nicht verpoente hohe +Gedanke - wer vermag diese scharfen Gegensaetze in Gedanken zurueckzufuehren +auf die urspruengliche Einheit, die sie beide umschloss und beide vorbereitete +und erzeugte? Es waere toerichte Vermessenheit, diesen Schleier lueften zu +wollen; nur mit wenigen Andeutungen soll es versucht werden, die Anfaenge der +italischen Nationalitaet und ihre Anknuepfung an eine aeltere Periode zu +bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht Worte zu leihen, aber +die Richtung zu weisen. +</p> + +<p> +Alles, was man das patriarchalische Element im Staate nennen kann, ruht in +Griechenland wie in Italien auf denselben Fundamenten. Vor allen Dingen gehoert +hierher die sittliche und ehrbare Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens ^8, +welche dem Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau schwer ahndet +und welche in der hohen Stellung der Mutter innerhalb des haeuslichen Kreises +die Ebenbuertigkeit beider Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. +Dagegen ist die schroffe und gegen die Persoenlichkeit ruecksichtslose +Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der vaeterlichen Gewalt den +Griechen fremd und italisches Eigen; die sittliche Untertaenigkeit hat erst in +Italien sich zur rechtlichen Knechtschaft umgestaltet. In derselben Weise wurde +die vollstaendige Rechtlosigkeit des Knechts, wie sie im Wesen der Sklaverei +lag, von den Roemern mit erbarmungsloser Strenge festgehalten und in allen +ihren Konsequenzen entwickelt; wogegen bei den Griechen frueh tatsaechliche und +rechtliche Milderungen stattfanden und zum Beispiel die Sklavenehe als ein +gesetzliches Verhaeltnis anerkannt ward. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^8 Selbst im einzelnen zeigt sich diese Uebereinstimmung, z. B. in der +Bezeichnung der rechten Ehe als der zur Gewinnung rechter Kinder +abgeschlossenen” (γάμος επί παίδων γνησίων αρότω - matrimonium liberorum +quaerendorum causa). +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Auf dem Hause beruht das Geschlecht, das heisst die Gemeinschaft der Nachkommen +desselben Stammvaters; und von dem Geschlecht ist bei den Griechen wie den +Italikern das staatliche Dasein ausgegangen. Aber wenn in der schwaecheren +politischen Entwicklung Griechenlands der Geschlechtsverband als korporative +Macht dem Staat gegenueber sich noch weit in die historische Zeit hinein +behauptet hat, erscheint der italische Staat sofort insofern fertig, als ihm +gegenueber die Geschlechter vollstaendig neutralisiert sind und er nicht die +Gemeinschaft der Geschlechter, sondern die Gemeinschaft der Buerger darstellt. +Dass dagegen umgekehrt das Individuum dem Geschlecht gegenueber in Griechenland +weit frueher und vollstaendiger zur innerlichen Freiheit und eigenartigen +Entwicklung gediehen ist als in Rom, spiegelt sich mit grosser Deutlichkeit in +der bei beiden Voelkern durchaus verschiedenartigen Entwicklung der +urspruenglich doch gleichartigen Eigennamen. In den aelteren griechischen tritt +der Geschlechtsname sehr haeufig adjektivisch zum Individualnamen hinzu, +waehrend umgekehrt noch die roemischen Gelehrten es wussten, dass ihre +Vorfahren urspruenglich nur einen, den spaeteren Vornamen fuehrten. Aber +waehrend in Griechenland der adjektivische Geschlechtsname frueh verschwindet, +wird er bei den Italikern, und zwar nicht bloss bei den Roemern, zum +Hauptnamen, so dass der eigentliche Individualname, das Praenomen, sich ihm +unterordnet. Ja es ist, als sollte die geringe und immer mehr +zusammenschwindende Zahl und die Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders +der roemischen Individualnamen, verglichen mit der ueppigen und poetischen +Fuelle der griechischen, uns wie im Bilde zeigen, wie dort die Nivellierung, +hier die freie Entwicklung der Persoenlichkeit im Wesen der Nation lag. +</p> + +<p> +Ein Zusammenleben in Familiengemeinden unter Stammhaeuptern, wie man es fuer +die graecoitalische Periode sich denken mag, mochte den spaeteren italischen +wie hellenischen Politien ungleich genug sehen, musste aber dennoch die +Anfaenge der beiderseitigen Rechtsbildung notwendig bereits enthalten. Die +“Gesetze des Koenigs Italus”, die noch in Aristoteles’ Zeiten +angewendet wurden, moegen diese beiden Nationen wesentlich gemeinsamen +Institutionen bezeichnen. Frieden und Rechtsfolge innerhalb der Gemeinde, +Kriegsstand und Kriegsrecht nach aussen, ein Regiment des Stammhauptes, ein Rat +der Alten, Versammlungen der waffenfaehigen Freien, eine gewisse Verfassung +muessen in denselben enthalten gewesen sein. Gericht (crimen, κρίνειν), Busse +(poena, ποινή), Wiedervergeltung (talio, ταλάω τλήναι) sind graecoitalische +Begriffe. Das strenge Schuldrecht, nach welchem der Schuldner fuer die +Rueckgabe des Empfangenen zunaechst mit seinem Leibe haftet, ist den Italikern +und zum Beispiel den tarentinischen Herakleoten gemeinsam. Die Grundgedanken +der roemischen Verfassung - Koenigtum, Senat und eine nur zur Bestaetigung oder +Verwerfung der von dem Koenig und dem Senat an sie gebrachten Antraege befugte +Volksversammlung - sind kaum irgendwo so scharf ausgesprochen wie in +Aristoteles’ Bericht ueber die aeltere Verfassung von Kreta. Die Keime zu +groesseren Staatenbuenden in der staatlichen Verbruederung oder gar der +Verschmelzung mehrerer bisher selbstaendiger Staemme (Symmachie, Synoikismos) +sind gleichfalls beiden Nationen gemein. Es ist auf diese Gemeinsamkeit der +Grundlagen hellenischer und italischer Politie um so mehr Gewicht zu legen, als +dieselbe sich nicht auch auf die uebrigen indogermanischen Staemme mit +erstreckt; wie denn zum Beispiel die deutsche Gemeindeordnung keineswegs wie +die der Griechen und Italiker von dem Wahlkoenigtum ausgeht. Wie verschieden +aber die auf dieser gleichen Basis in Italien und in Griechenland aufgebauten +Politien waren und wie vollstaendig der ganze Verlauf der politischen +Entwicklung jeder der beiden Nationen als Sondergut angehoert ^9, wird die +weitere Erzaehlung darzulegen haben. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +^9 Nur darf man natuerlich nicht vergessen, dass aehnliche Voraussetzungen +ueberall zu aehnlichen Institutionen fuehren. So ist nichts so sicher, als dass +die roemischen Plebejer erst innerhalb des roemischen Gemeinwesens erwuchsen, +und doch finden sie ueberall ihr Gegenbild, wo neben einer Buerger- eine +Insassenschaft sich entwickelt hat. Dass auch der Zufall hier sein neckendes +Spiel treibt, versteht sich von selbst. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +Nicht anders ist es in der Religion. Wohl liegt in Italien wie in Hellas dem +Volksglauben der gleiche Gemeinschatz symbolischer und allegorisierter +Naturanschauungen zugrunde; auf diesem ruht die allgemeine Analogie zwischen +der roemischen und der griechischen Goetter- und Geisterwelt, die in spaeteren +Entwicklungsstadien so wichtig werden sollte. Auch in zahlreichen +Einzelvorstellungen, in der schon erwaehnten Gestalt des Zeus-Diovis und der +Hestia-Vesta, in dem Begriff des heiligen Raumes (τέμενος, templum), in manchen +Opfern und Zeremonien, stimmten die beiderseitigen Kulte nicht bloss zufaellig +ueberein. Aber dennoch gestalteten sie sich in Hellas wie in Italien so +vollstaendig national und eigentuemlich, dass selbst von dem alten Erbgut nur +weniges in erkennbarer Weise und auch dieses meistenteils unverstanden oder +missverstanden bewahrt ward. Es konnte nicht anders sein; denn wie in den +Voelkern selbst die grossen Gegensaetze sich schieden, welche die +graecoitalische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammengehalten hatte, +so schied sich auch in ihrer Religion Begriff und Bild, die bis dahin nur ein +Ganzes in der Seele gewesen waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken +am Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdruecken, dass die Huendin der +Goetter die verscheuchten Kuehe der Herde zusammentreibe; der Grieche vergass +es, dass die Kuehe eigentlich die Wolken waren, und machte aus dem bloss fuer +einzelne Zwecke gestatteten Sohn der Goetterhuendin den zu allen Diensten +bereiten und geschickten Goetterboten. Wenn der Donner in den Bergen rollte, +sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen; wenn der blaue Himmel wieder +auflaechelte, blickte er in das glaenzende Auge der Tochter des Zeus, Athenaia; +und so maechtig lebten ihm die Gestalten, die er sich geschaffen, dass er bald +in ihnen nichts sah als vom Glanze der Naturkraft strahlende und getragene +Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schoenheit bildete und umbildete. +Wohl anders, aber nicht schwaecher offenbarte sich die innige Religiositaet des +italischen Stammes, der den Begriff festhielt und es nicht litt, dass die Form +ihn verdunkelte. Wie der Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel +aufschlaegt, so verhuellt der Roemer sein Haupt; denn jenes Gebet ist +Anschauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt er das Geistige und +Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen wie dem Baum, dem Staat wie der +Vorratskammer, ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist +zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet; dem Mann der +maennliche Genius, der Frau die weibliche Juno, der Grenze der Terminus, dem +Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Vertumnus, und also weiter jedem +nach seiner Art. Ja es wird in den Handlungen der einzelne Moment der +Taetigkeit vergeistigt; so wird beispielsweise in der Fuerbitte fuer den +Landmann angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens, Saeens, +Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Einfahrens, Rufspeicherns und des +Oeffnens der Scheuer; und in aehnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere +physische Ereignis mit heiligem Leben ausgestattet. Je groessere Kreise indes +die Abstraktion beschreibt, desto hoeher steigt der Gott und die Ehrfurcht der +Menschen; so sind Jupiter und Juno die Abstraktionen der Maennlichkeit und der +Weiblichkeit, Dea Dia oder Ceres die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, +Dea bona oder, bei den Samniten, Dea cupra die gute Gottheit. Wie den Griechen +alles konkret und koerperlich erschien, so konnte der Roemer nur abstrakte, +vollkommen durchsichtige Formeln brauchen; und warf der Grieche den alten +Sagenschatz der Urzeit deshalb zum groessten Teil weg, weil in deren Gestalten +der Begriff noch zu durchsichtig war, so konnte der Roemer ihn noch weniger +festhalten, weil ihm die heiligen Gedanken auch durch den leichtesten Schleier +der Allegorie sich zu trueben schienen. Nicht einmal von den aeltesten und +allgemeinsten Mythen, zum Beispiel der den Indern, Griechen und selbst den +Semiten gelaeufigen Erzaehlung von dem nach einer grossen Flut +uebriggebliebenen gemeinsamen Stammvater des gegenwaertigen +Menschengeschlechts, ist bei den Roemern eine Spur bewahrt worden. Ihre Goetter +konnten nicht sich vermaehlen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie +wandelten nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des +Nektars. Aber dass sie dennoch in ihrer Geistigkeit, die nur der platten +Auffassung platt erscheint, die Gemueter maechtig und vielleicht maechtiger +fassten als die nach dem Bilde des Menschen geschaffenen Goetter von Hellas, +davon wuerde, auch wenn die Geschichte schwiege, schon die roemische, dem Worte +wie dem Begriffe nach unhellenische Benennung des Glaubens, die +“Religio”, das heisst die Bindung, zeugen. Wie Indien und Iran aus +einem und demselben Erbschatz jenes die Formenfuelle seiner heiligen Epen, +dieses die Abstraktionen des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der +griechischen Mythologie die Person, in der roemischen der Begriff, dort die +Freiheit, hier die Notwendigkeit. +</p> + +<p> +Endlich gilt, was von dem Ernst des Lebens, auch von dessen Nachbild in Scherz +und Spiel, welche ja ueberall, und am meisten in der aeltesten Zeit des vollen +und einfachen Daseins, den Ernst nicht ausschliessen, sondern einhuellen. Die +einfachsten Elemente der Kunst sind in Latium und in Hellas durchaus dieselben: +der ehrbare Waffentanz, der “Sprung” (triumpus, θρίαμβος, +δι-θύραμβος); der Mummenschanz der “vollen Leute” (σάτυροι, +satura), die, in Schaf- und Bockfelle gehuellt, mit ihren Spaessen das Fest +beschliessen; endlich das Instrument der Floete, das den feierlichen wie den +lustigen Tanz mit angemessenen Weisen beherrscht und begleitet. Nirgends +vielleicht tritt so deutlich wie hier die vorzugsweise enge Verwandtschaft der +Hellenen und der Italiker zu Tage; und dennoch ist die Entwicklung der beiden +Nationen in keiner anderen Richtung so weit auseinandergegangen. Die +Jugendbildung blieb in Latium gebannt in die engen Schranken der haeuslichen +Erziehung; in Griechenland schuf der Drang nach mannigfaltiger und doch +harmonischer Bildung des menschlichen Geistes und Koerpers die von der Nation +und von den Einzelnen als ihr bestes Gut gepflegten Wissenschaften der +Gymnastik und der Paedeia. Latium steht in der Duerftigkeit seiner +kuenstlerischen Entwicklung fast auf der Stufe der kulturlosen Voelker; in +Hellas ist mit unglaublicher Raschheit aus den religioesen Vorstellungen der +Mythos und die Kulturfigur und aus diesen jene Wunderwelt der Poesie und der +Bildnerei erwachsen, derengleichen die Geschichte nicht wieder aufzuzeigen hat. +In Latium gibt es im oeffentlichen wie im Privatleben keine anderen Maechte als +Klugheit, Reichtum und Kraft; den Hellenen war es vorbehalten, die beseligende +Uebermacht der Schoenheit zu empfinden, in sinnlich idealer Schwaermerei dem +schoenen Knabenfreunde zu dienen und den verlorenen Mut in den Schlachtliedern +des goettlichen Saengers wiederzufinden. +</p> + +<p> +So stehen die beiden Nationen, in denen das Altertum sein Hoechstes erreicht +hat, ebenso verschieden wie ebenbuertig nebeneinander. Die Vorzuege der +Hellenen vor den Italikern sind von allgemeinerer Fasslichkeit und von hellerem +Nachglanz; aber das tiefe Gefuehl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung +und Aufopferungsfaehigkeit des Einzelnen, der ernste Glaube an die eigenen +Goetter ist der reiche Schatz der italischen Nation. Beide Voelker haben sich +einseitig entwickelt und darum beide vollkommen; nur engherzige Armseligkeit +wird den Athener schmaehen, weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand +wie die Fabier und Valerier, oder den Roemer, weil er nicht bilden lernte wie +Pheidias und dichten wie Aristophanes. Es war eben das Beste und Eigenste des +griechischen Volkes, was es ihm unmoeglich machte, von der nationalen Einheit +zur politischen fortzuschreiten, ohne doch die Politie zugleich mit der +Despotie zu vertauschen. Die ideale Welt der Schoenheit war den Hellenen alles +und ersetzte ihnen selbst bis zu einem gewissen Grade, was in der Realitaet +ihnen abging; wo immer in Hellas ein Ansatz zu nationaler Einigung hervortritt, +beruht dieser nicht auf den unmittelbar politischen Faktoren, sondern auf Spiel +und Kunst: nur die olympischen Wettkaempfe, nur die Homerischen Gesaenge, nur +die Euripideische Tragoedie hielten Hellas in sich zusammen. Entschlossen gab +dagegen der Italiker die Willkuer hin um der Freiheit willen und lernte dem +Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen verstaende. Mochte der +Einzelne bei dieser Untertaenigkeit verderben und der schoenste menschliche +Keim darueber verkuemmern; er gewann dafuer ein Vaterland und ein +Vaterlandsgefuehl, wie der Grieche es nie gekannt hat, und errang allein unter +allen Kulturvoelkern des Altertums bei einer auf Selbstregiment ruhenden +Verfassung die nationale Einheit, die ihm endlich ueber den zersplitterten +hellenischen Stamm und ueber den ganzen Erdkreis die Botmaessigkeit in die Hand +legte. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap03"></a>KAPITEL III.<br/> +Die Ansiedelungen der Latiner</h2> + +<p> +Die Heimat des indogermanischen Stammes ist der westliche Teil Mittelasiens; +von dort aus hat er sich teils in suedoestlicher Richtung ueber Indien, teils +in nordwestlicher ueber Europa ausgebreitet. Genauer den Ursitz der +Indogermanen zu bestimmen, ist schwierig; jedenfalls muss er im Binnenlande und +von der See entfernt gewesen sein, da keine Benennung des Meeres dem +asiatischen und dem europaeischen Zweige gemeinsam ist. Manche Spuren weisen +naeher in die Euphratlandschaften, so dass merkwuerdigerweise die Urheimat der +beiden wichtigsten Kulturstaemme, des indogermanischen und des aramaeischen, +raeumlich fast zusammenfaellt - eine Unterstuetzung fuer die Annahme einer +allerdings fast jenseits aller verfolgbaren Kultur- und Sprachentwicklung +liegenden Gemeinschaft auch dieser Voelker. Eine engere Lokalisierung ist +ebensowenig moeglich, als es moeglich ist, die einzelnen Staemme auf ihren +weiteren Wanderungen zu begleiten. Der europaeische mag noch nach dem +Ausscheiden der Inder laengere Zeit in Persien und Armenien verweilt haben; +denn allem Anschein nach ist hier die Wiege des Acker- und Weinbaus. Gerste, +Spelt und Weizen sind in Mesopotamien, der Weinstock suedlich vom Kaukasus und +vom Kaspischen Meer einheimisch; ebenda sind der Pflaumen- und der Nussbaum und +andere der leichter zu verpflanzenden Fruchtbaeume zu Hause. Bemerkenswert ist +es auch, dass den meisten europaeischen Staemmen, den Lateinern, Kelten, +Deutschen und Slawen der Name des Meeres gemeinsam ist; sie muessen also wohl +vor ihrer Scheidung die Kueste des Schwarzen oder auch des Kaspischen Meeres +erreicht haben. Auf welchem Wege von dort die Italiker an die Alpenkette +gelangt sind und wo namentlich sie, allein noch mit den Hellenen vereinigt, +gesiedelt haben moegen, laesst sich nur beantworten, wenn es entschieden ist, +auf welchem Wege, ob von Kleinasien oder vom Donaugebiet aus, die Hellenen nach +Griechenland gelangt sind. Dass die Italiker eben wie die Inder von Norden her +in ihre Halbinsel eingewandert sind, darf auf jeden Fall als ausgemacht gelten. +Der Zug des umbrisch-sabellischen Stammes auf dem mittleren Bergruecken +Italiens in der Richtung von Norden nach Sueden laesst sich noch deutlich +verfolgen; ja die letzten Phasen desselben gehoeren der vollkommen historischen +Zeit an. Weniger kenntlich ist der Weg, den die latinische Wanderung einschlug. +Vermutlich zog sie in aehnlicher Richtung an der Westkueste entlang, wohl lange +bevor die ersten sabellischen Staemme aufbrachen; der Strom ueberflutet die +Hoehen erst, wenn die Niederungen schon eingenommen sind, und nur, wenn die +latinischen Staemme schon vorher an der Kueste sassen, erklaert es sich, dass +die Sabeller sich mit den rauheren Gebirgen begnuegten und erst von diesen aus, +wo es anging, sich zwischen die latinischen Voelker draengten. +</p> + +<p> +Dass vom linken Ufer des Tiber bis an die volskischen Berge ein latinischer +Stamm wohnte, ist allbekannt; diese Berge selbst aber, welche bei der ersten +Einwanderung, als noch die Ebenen von Latium und Kampanien offenstanden, +verschmaeht worden zu sein scheinen, waren, wie die volskischen Inschriften +zeigen, von einem den Sabellern naeher als den Latinern verwandten Stamm +besetzt. Dagegen wohnten in Kampanien vor der griechischen und samnitischen +Einwanderung wahrscheinlich Latiner; denn die italischen Namen Novla oder Nola +(Neustadt), Campani Capua, Volturnus (von volvere wie Iuturna von iuvare), +Opsci (Arbeiter) sind nachweislich aelter als der samnitische Einfall und +beweisen, dass, als Kyme von den Griechen gegruendet ward, ein italischer und +wahrscheinlich latinischer Stamm, die Ausōner, Kampanien innehatten. Auch die +Urbewohner der spaeter von den Lucanern und Brettiern bewohnten Landschaften, +die eigentlichen Itali (Bewohner des Rinderlandes), werden von den besten +Beobachtern nicht zu dem iapygischen, sondern zu dem italischen Stamm gestellt; +es ist nichts im Wege, sie dem latinischen Stamm beizuzaehlen, obwohl die noch +vor dem Beginn der staatlichen Entwicklung Italiens erfolgte Hellenisierung +dieser Gegenden und deren spaetere Ueberflutung durch samnitische Schwaerme die +Spuren der aelteren Nationalitaet hier gaenzlich verwischt hat. Auch den +gleichfalls verschollenen Stamm der Siculer setzten sehr alte Sagen in +Beziehung zu Rom; so erzaehlt der aelteste italische Geschichtschreiber +Antiochos von Syrakus, dass zum Koenig Morges von Italia (d. h. der Brettischen +Halbinsel) ein Mann Namens Sikelos auf fluechtigem Fuss aus Rom gekommen sei; +und es scheinen diese Erzaehlungen zu beruhen auf der von den Berichterstattern +wahrgenommenen Stammesgleichheit der Siculer, deren es noch zu +Thukydides’ Zeit in Italien gab, und der Latiner. Die auffallende +Verwandtschaft einzelner Dialektwoerter des sizilischen Griechisch mit dem +Lateinischen erklaert sich zwar wohl nicht aus der alten Sprachgleichheit der +Siculer und Roemer, sondern vielmehr aus den alten Handelsverbindungen zwischen +Rom und den sizilischen Griechen; nach allen Spuren indes sind nicht bloss die +latinische, sondern wahrscheinlich auch die kampanische und lucanische +Landschaft, das eigentliche Italia zwischen den Buchten von Tarent und Laos und +die oestliche Haelfte von Sizilien, in uralter Zeit von verschiedenen Staemmen +der latinischen Nation bewohnt gewesen. +</p> + +<p> +Die Schicksale dieser Staemme waren sehr ungleich. Die in Sizilien, +Grossgriechenland und Kampanien angesiedelten kamen mit den Griechen in +Beruehrung in einer Epoche, wo sie deren Zivilisation Widerstand zu leisten +nicht vermochten, und wurden entweder voellig hellenisiert, wie namentlich in +Sizilien, oder doch so geschwaecht, dass sie der frischen Kraft der sabinischen +Staemme ohne sonderliche Gegenwehr unterlagen. So sind die Siculer, die Italer +und Morgeten, die Ausōner nicht dazu gekommen, eine taetige Rolle in der +Geschichte der Halbinsel zu spielen. +</p> + +<p> +Anders war es in Latium, wo griechische Kolonien nicht gegruendet worden sind +und es den Einwohnern nach harten Kaempfen gelang, sich gegen die Sabiner wie +gegen die noerdlichen Nachbarn zu behaupten. Werfen wir einen Blick auf die +Landschaft, die wie keine andere in die Geschicke der alten Welt einzugreifen +bestimmt war. +</p> + +<p> +Schon in uraeltester Zeit ist die Ebene von Latium der Schauplatz der +grossartigsten Naturkaempfe gewesen, in denen die langsam bildende Kraft des +Wassers und die Ausbrueche gewaltiger Vulkane Schicht ueber Schicht schoben +desjenigen Bodens, auf dem entschieden werden sollte, welchem Volk die +Herrschaft der Erde gehoere. Eingeschlossen im Osten von den Bergen der Sabiner +und Aequer, die dem Apennin angehoeren; im Sueden von dem bis zu 4000 Fuss +Hoehe ansteigenden volskischen Gebirg, welches von dem Hauptstock des Apennin +durch das alte Gebiet der Herniker, die Hochebene des Sacco (Trerus, Nebenfluss +des Liris), getrennt ist und von dieser aus sich westlich ziehend mit dem +Vorgebirg von Terracina abschliesst; im Westen von dem Meer, das an diesem +Gestade nur wenige und geringe Haefen bildet; im Norden in das weite +etruskische Huegelland sich verlaufend, breitet eine stattliche Ebene sich aus, +durchflossen von dem Tiberis, dem “Bergstrom”, der aus den +umbrischen, und dem Anio, der von den sabinischen Bergen herkommt. Inselartig +steigen in der Flaeche auf teils die steilen Kalkfelsen des Soracte im +Nordosten, des circeischen Vorgebirgs im Suedwesten, sowie die aehnliche, +obwohl niedrigere Hoehe des Ianiculum bei Rom; teils vulkanische Erhebungen, +deren erloschene Krater zu Seen geworden und zum Teil es noch sind: die +bedeutendste unter diesen ist das Albaner Gebirge, das nach allen Seiten frei +zwischen den Volskergebirgen und dem Tiberfluss aus der Ebene emporragt. +</p> + +<p> +Hier siedelte der Stamm sich an, den die Geschichte kennt unter dem Namen der +Latiner, oder, wie sie spaeter zur Unterscheidung von den ausserhalb dieses +Bereichs gegruendeten latinischen Gemeinden genannt werden, der “alten +Latiner” (prisci Latini). Allein das von ihnen besetzte Gebiet, die +Landschaft Latium, ist nur ein kleiner Teil jener mittelitalischen Ebene. Alles +Land noerdlich des Tiber ist den Latinern ein fremdes, ja sogar ein feindliches +Gebiet, mit dessen Bewohnern ein ewiges Buendnis, ein Landfriede nicht moeglich +war und die Waffenruhe stets auf beschraenkte Zeit abgeschlossen worden zu sein +scheint. Die Tibergrenze gegen Norden ist uralt, und weder die Geschichte noch +die bessere Sage hat eine Erinnerung davon bewahrt, wie und wann diese +folgenreiche Abgrenzung sich festgestellt hat. Die flachen und sumpfigen +Strecken suedlich vom Albaner Gebirge finden wir, wo unsere Geschichte beginnt, +in den Haenden umbrisch-sabellischer Staemme, der Rutuler und Volsker; schon +Ardea und Velitrae sind nicht mehr urspruenglich latinische Staedte. Nur der +mittlere Teil jenes Gebietes zwischen dem Tiber, den Vorbergen des Apennin, den +Albaner Bergen und dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deutschen Quadratmeilen, +wenig groesser als der jetzige Kanton Zuerich, ist das eigentliche Latium, die +“Ebene” ^1, wie sie von den Hoehen des Monte Cavo dem Auge sich +darstellt. Die Landschaft ist eben, aber nicht flach, mit Ausnahme des sandigen +und zum Teil vom Tiber aufgeschwemmten Meeresstrandes wird ueberall die Flaeche +unterbrochen durch maessig hohe, oft ziemlich steile Tuffhuegel und tiefe +Erdspalten, und diese stets wechselnden Steigungen und Senkungen des Bodens +bilden zwischen sich im Winter jene Lachen, deren Verdunsten in der +Sommerhitze, namentlich wegen der darin faulenden organischen Substanzen, die +boese fieberschwangere Luft entwickelt, welche in alter wie in neuer Zeit im +Sommer die Landschaft verpestet. Es ist ein Irrtum, dass diese Miasmen erst +durch den Verfall des Ackerbaues entstanden seien, wie ihn das Missregiment des +letzten Jahrhunderts der Republik und das der Paepste herbeigefuehrt haben; +ihre Ursache liegt vielmehr in dem mangelnden Gefaell des Wassers und wirkt +noch heute wie vor Jahrtausenden. Wahr ist es indes, dass bis auf einen +gewissen Grad die boese Luft sich bannen laesst durch die Intensitaet der +Bodenkultur; wovon die Ursache noch nicht vollstaendig ermittelt ist, zum Teil +aber darin liegen wird, dass die Bearbeitung der Oberflaeche das Austrocknen +der stehenden Waesser beschleunigt. Immer bleibt die Entstehung einer dichten +ackerbauenden Bevoelkerung in Gegenden, die jetzt keine gesunden Bewohner +gedeihen lassen und in denen der Reisende nicht gern die Nacht verweilt, wie +die latinische Ebene und die Niederungen von Sybaris und Metapont sind, eine +fuer uns befremdliche Tatsache. Man muss sich erinnern, dass auf einer +niedrigen Kulturstufe das Volk ueberhaupt einen schaerferen Blick hat fuer das, +was die Natur erheischt, und eine groessere Fuegsamkeit gegen ihre Gebote, +vielleicht auch physisch ein elastischeres Wesen, das dem Boden sich inniger +anschmiegt. In Sardinien wird unter ganz aehnlichen natuerlichen Verhaeltnissen +der Ackerbau noch heutzutage betrieben; die boese Luft ist wohl vorhanden, +allein der Bauer entzieht sich ihren Einfluessen durch Vorsicht in Kleidung, +Nahrung und Wahl der Tagesstunden. In der Tat schuetzt vor der Aria cattiva +nichts so sicher als das Tragen der Tiervliesse und das lodernde Feuer; woraus +sich erklaert, weshalb der roemische Landmann bestaendig in schwere Wollstoffe +gekleidet ging und das Feuer auf seinem Herd nicht erloeschen liess. Im +uebrigen musste die Landschaft einem einwandernden ackerbauenden Volke +einladend erscheinen; der Boden ist leicht mit Hacke und Karst zu bearbeiten +und auch ohne Duengung ertragsfaehig, ohne nach italienischem Massstab +auffallend ergiebig zu sein; der Weizen gibt durchschnittlich etwa das fuenfte +Korn ^2. An gutem Wasser ist kein Ueberfluss; um so hoeher und heiliger hielt +die Bevoelkerung jede frische Quelle. +</p> + +<p> +————————————————————————————— +</p> + +<p> +^1 Wie latus (Seite) und πλατύς (platt); es ist also das Plattland im Gegensatz +zu der sabinischen Berglandschaft, wie Campania die “Ebene” den +Gegensatz bildet zu Samnium. Lātus, ehemals stlātus gehoert nicht hierher. +</p> + +<p> +^2 Ein franzoesischer Statistiker, Dureau de la Malle (Economie politique des +Romains. Bd. 2, S. 226), vergleicht mit der roemischen Campagna die Limagne in +Auvergne, gleichfalls eine weite, sehr durchschnittene und ungleiche Ebene, mit +einer Bodenoberflaeche aus dekomponierter Lava und Asche den Resten +ausgebrannter Vulkane. Die Bevoelkerung, mindestens 2500 Menschen auf die +Quadratlieue, ist eine der staerksten, die in rein ackerbauenden Gegenden +vorkommt, das Eigentum ungemein zerstueckelt. Der Ackerbau wird fast ganz von +Menschenhand beschafft, mit Spaten, Karst oder Hacke; nur ausnahmsweise tritt +dafuer der leichte Pflug ein der mit zwei Kuehen bespannt ist und nicht selten +spannt an der Stelle der einen sich die Frau des Ackermanns ein. Das Gespann +dient zugleich um Milch zu gewinnen und das Land zu bestehen. Man erntet +zweimal im Jahre, Korn und Kraut; Brache kommt nicht vor. Der mittlere +Pachtzins fuer einen Arpent Ackerland ist 100 Franken jaehrlich. Wuerde +dasselbe Land statt dessen unter sechs oder sieben grosse Grundbesitzer +verteilt werden wuerden Verwalter- und Tageloehnerwirtschaft an die Stelle des +Bewirtschaftens durch kleine Grundeigentuemer treten, so wuerde in hundert +Jahren ohne Zweifel die Limagne oede, verlassen und elend sein wie heutzutage +die Campagna di Roma. +</p> + +<p> +——————————————————————————— +</p> + +<p> +Es ist kein Bericht darueber erhalten, wie die Ansiedlungen der Latiner in der +Landschaft, welche seitdem ihren Namen trug, erfolgt sind, und wir sind +darueber fast allein auf Rueckschluesse angewiesen. Einiges indes laesst sich +dennoch erkennen oder mit Wahrscheinlichkeit vermuten. +</p> + +<p> +Die roemische Mark zerfiel in aeltester Zeit in eine Anzahl +Geschlechterbezirke, welche spaeterhin benutzt wurden, um dar aus die aeltesten +“Landquartiere” (tribus rusticae) zu bilden. Von dem Claudischen +Quartier ist es ueberliefert, dass es aus der Ansiedlung der Claudischen +Geschlechtsgenossen am Anio erwuchs; und dasselbe geht ebenso sicher fuer die +uebrigen Distrikte der aeltesten Einteilung hervor aus ihren Namen. Diese sind +nicht, wie die der spaeter hinzugefuegten Distrikte, von Oertlichkeiten +entlehnt, sondern ohne Ausnahme von Geschlechternamen gebildet; und es sind die +Geschlechter, die den Quartieren der urspruenglichen roemischen Mark die Namen +gaben, soweit sie nicht gaenzlich verschollen sind (wie die Camilii, Galerii, +Lemonii, Pollii, Pupinii, Voltinii), durchaus die aeltesten roemischen +Patrizierfamilien, die Aemilii, Cornelii, Fabii, Horatii, Menenii, Papirii, +Romilii, Sergii, Voturii. Bemerkenswert ist es, dass unter all diesen +Geschlechtern kein einziges erscheint, das nachweislich erst spaeter nach Rom +uebergesiedelt waere. Aehnlich wie der roemische, wird jeder italische und ohne +Zweifel auch jeder hellenische Gau von Haus aus in eine Anzahl zugleich +oertlich und geschlechtlich vereinigter Genossenschaften zerfallen sein; es ist +diese Geschlechtsansiedlung das “Haus” (οικία) der Griechen, aus +dem, wie in Rom die Tribus, auch dort sehr haeufig die Komen oder Demen +hervorgegangen sind. Die entsprechenden italischen Benennungen +“Haus” (vicus) oder “Bezirk” (pagus von pangere) deuten +gleichfalls das Zusammensiedeln der Geschlechtsgenossen an und gehen im +Sprachgebrauch begreiflicherweise ueber in die Bedeutung Weiler oder Dorf. Wie +zu dem Hause ein Acker, so gehoert zu dem Geschlechtshaus oder Dorf eine +Geschlechtsmark, die aber, wie spaeter zu zeigen sein wird, bis in +verhaeltnismaessig spaete Zeit noch gleichsam als Hausmark, das heisst nach dem +System der Feldgemeinschaft bestellt wurde. Ob die Geschlechtshaeuser in Latium +selbst sich zu Geschlechtsdoerfern entwickelt haben oder ob die Latiner schon +als Geschlechtsgenossenschaften in Latium eingewandert sind, ist eine Frage, +auf die wir ebenso wenig eine Antwort haben, als wir zu bestimmen vermoegen, in +welcher Weise die Gesamtwirtschaft, welche durch eine derartige Ordnung +gefordert wird, sich in Latium gestaltet hat ^3, in wie weit das Geschlecht +neben der Abstammung noch auf aeusserlicher Ein- und Zusammenordnung nicht +blutsverwandter Individuen mit beruhen mag. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^3 In Slawonien, wo die patriarchalische Haushaltung bis auf den heutigen Tag +festgehalten wird, bleibt die ganze Familie, oft bis zu fuenfzig, ja hundert +Koepfen stark, unter den Befehlen des von der ganzen Familie auf Lebenszeit +gewaehlten Hausvaters (Goszpodár) in demselben Hause beisammen. Das Vermoegen +des Hauses, das hauptsaechlich in Vieh besteht, verwaltet der Hausvater; der +Ueberschuss wird nach Familienstaemmen verteilt. Privaterwerb durch Industrie +und Handel bleibt Sondereigentum. Austritte aus dem Hause, auch der Maenner, z. +B. durch Einheiraten in eine fremde Wirtschaft, kommen vor (Csaplovics, +Slawonien und Kroatien. Pest 1839. Bd. 1, S. 106, 179). Bei derartigen +Verhaeltnissen, die von den aeltesten roemischen sich nicht allzuweit entfernen +moegen, naehert das Haus sich der Gemeinde. +</p> + +<p> +————————————————————————- +</p> + +<p> +Von Haus aus aber galten diese Geschlechtsgenossenschaften nicht als +selbstaendige Einheiten, sondern als die integrierenden Teile einer politischen +Gemeinde (civitas, populus), welche zunaechst auftritt als ein zu gegenseitiger +Rechtsfolge und Rechtshilfe und zu Gemeinschaftlichkeit in Abwehr und Angriff +verpflichteter Inbegriff einer Anzahl stamm-, sprach- und sittengleicher +Geschlechtsdoerfer. An einem festen oertlichen Mittelpunkt konnte es diesem Gau +so wenig fehlen wie der Geschlechtsgenossenschaft; da indes die Geschlechts-, +das heisst die Gaugenossen in ihren Doerfern wohnten, so konnte der Mittelpunkt +des Gaues nicht eine eigentliche Zusammensiedlung, eine Stadt, sondern nur eine +gemeine Versammlungsstaette sein, welche die Dingstaette und die gemeinen +Heiligtuemer des Gaues in sich schloss, wo die Gaugenossen an jedem achten Tag +des Verkehrs wie des Vergnuegens wegen sich zusammenfanden und wo sie im +Kriegsfall sich und ihr Vieh vor dem einfallenden Feind sicherer bargen als in +den Weilern, die aber uebrigens regelmaessig nicht oder schwach bewohnt war. +Ganz aehnliche alte Zufluchtsstaetten sind noch heutzutage in dem Huegellande +der Ostschweiz auf mehreren Bergspitzen zu erkennen. Ein solcher Platz heisst +in Italien “Hoehe” (capitolium, wie άκρα, das Berghaupt) oder +“Wehr” (arx von arcere); er ist noch keine Stadt, aber die +Grundlage einer kuenftigen, indem die Haeuser an die Burg sich anschliessen und +spaeterhin sich umgeben mit dem “Ringe” (urbs mit urvus, curvus, +vielleicht auch mit orbis verwandt). Den aeusserlichen Unterschied zwischen +Burg und Stadt gibt die Anzahl der Tore, deren die Burg moeglichst wenige, die +Stadt moeglichst viele, jene in der Regel nur ein einziges, diese mindestens +drei hat. Auf diesen Befestigungen ruht die vorstaedtische Gauverfassung +Italiens, welche in denjenigen italischen Landschaften, die zum staedtischen +Zusammensiedeln erst spaet und zum Teil noch bis auf den heutigen Tag nicht +vollstaendig gelangt sind, wie im Marserland und in den kleinen Gauen der +Abruzzen, noch einigermassen sich erkennen laesst. Die Landschaft der +Aequiculer, die noch in der Kaiserzeit nicht in Staedten, sondern in +unzaehligen offenen Weilern wohnten, zeigt eine Menge altertuemlicher +Mauerringe, die als “veroedete Staedte” mit einzelnen Tempeln das +Staunen der roemischen wie der heutigen Archaeologen erregten, von denen jene +ihre “Urbewohner” (aborigines), diese ihre Pelasger hier +unterbringen zu koennen meinten. Gewiss richtiger wird man in diesen Anlagen +nicht ummauerte Staedte erkennen, sondern Zufluchtsstaetten der Markgenossen, +wie sie in aelterer Zeit ohne Zweifel in ganz Italien, wenngleich in weniger +kunstvoller Weise angelegt, bestanden. Dass in derselben Epoche, wo die zu +staedtischen Ansiedlungen uebergegangenen Staemme ihren Staedten steinerne +Ringmauern gaben, auch diejenigen Landschaften, die in offenen Weilern zu +wohnen fortfuhren, die Erdwaelle und Pfahlwerke ihrer Festungen durch +Steinbauten ersetzten, ist natuerlich; als dann in der Zeit des gesicherten +Landfriedens man solcher Festungen nicht mehr bedurfte, wurden diese +Zufluchtsstaetten verlassen und bald den spaeteren Generationen ein Raetsel. +</p> + +<p> +Jene Gaue also, die in einer Burg ihren Mittelpunkt fanden und eine gewisse +Anzahl Geschlechtsgenossenschaften in sich begriffen, sind als die +urspruenglichen staatlichen Einheiten der Ausgangspunkt der italischen +Geschichte. Indes wo und in welchem Umfang innerhalb Latiums dergleichen Gaue +sich bildeten, ist weder mit Bestimmtheit auszumachen noch von besonderem +historischen Interesse. Das isolierte Albaner Gebirge, das den Ansiedlern die +gesundeste Luft, die frischesten Quellen und die am meisten gesicherte Lage +darbot, diese natuerliche Burg Latiums, ist ohne Zweifel von den Ankoemmlingen +zuerst besetzt worden. Hier lag denn auch auf der schmalen Hochflaeche oberhalb +Palazzuola zwischen dem Albanischen See (Lago di Castello) und dem Albanischen +Berg (Monte Cavo) lang hingestreckt Alba, das durchaus als Ursitz des +latinischen Stammes und Mutterort Roms sowie aller uebrigen altlatinischen +Gemeinden galt; hier an den Abhaengen die uralten latinischen Ortschaften +Lanuvium, Aricia und Tusculum. Hier finden sich auch von jenen uralten +Bauwerken, welche die Anfaenge der Zivilisation zu bezeichnen pflegen und +gleichsam der Nachwelt zum Zeugnis dastehen davon, dass Pallas Athene in der +Tat, wenn sie erscheint, erwachsen in die Welt tritt: so die Abschroffung der +Felswand unterhalb Alba nach Palazzuola zu, welche den durch die steilen +Abhaenge des Monte Cavo nach Sueden zu von Natur unzugaenglichen Ort von Norden +her ebenso unnahbar macht und nur die beiden schmalen, leicht zu verteidigenden +Zugaenge von Osten und Westen her fuer den Verkehr frei laesst; und vor allem +der gewaltige, in die harte, sechstausend Fuss maechtige Lavawand mannshoch +gebrochene Stollen, durch welchen der in dem alten Krater des Albaner Gebirges +entstandene See bis auf seine jetzige Tiefe abgelassen und fuer den Ackerbau +auf dem Berge selbst ein bedeutender Raum gewonnen worden ist. +</p> + +<p> +Natuerliche Festen der latinischen Ebene sind auch die Spitzen der letzten +Auslaeufer der Sabinergebirge, wo aus solchen Gauburgen spaeter die +ansehnlichen Staedte Tibur und Praeneste hervorgingen. Auch Labici, Gabii und +Nomentum in der Ebene zwischen dem Albaner und Sabinergebirge und dem Tiber; +Rom am Tiber, Laurentum und Lavinium an der Kueste sind mehr oder minder alte +Mittelpunkte latinischer Kolonisation, um von zahlreichen andern, minder +namhaften und zum Teil fast verschollenen zu schweigen. Alle diese Gaue waren +in aeltester Zeit politisch souveraen und wurden ein jeder von seinem Fuersten +unter Mitwirkung des Rates der Alten und der Versammlung der Wehrmaenner +regiert. Aber dennoch ging nicht bloss das Gefuehl der Sprach- und +Stammgenossenschaft durch diesen ganzen Kreis, sondern es offenbarte sich +dasselbe auch in einer wichtigen religioesen und staatlichen Institution, in +dem ewigen Bunde der saemtlichen latinischen Gaue. Die Vorstandschaft stand +urspruenglich nach allgemeinem italischen wie hellenischen Gebrauch demjenigen +Gau zu, in dessen Grenzen die Bundesstaetten lagen; es war dies der Gau von +Alba, der ueberhaupt, wie gesagt; als der aelteste und vornehmste der +latinischen betrachtet ward. Der berechtigten Gemeinden waren anfaenglich +dreissig, wie denn diese Zahl als Summe der Teile eines Gemeinwesens in +Griechenland wie in Italien ungemein haeufig begegnet. Welche Ortschaften zu +den dreissig altlatinischen Gemeinden oder, wie sie in Beziehung auf die +Metropolrechte Albas auch wohl genannt werden, zu den dreissig albanischen +Kolonien urspruenglich gezaehlt worden sind, ist nicht ueberliefert und nicht +mehr auszumachen. Wie bei den aehnlichen Eidgenossenschaften zum Beispiel der +Boeoter und der Ionier die Pamboeotien und Panionien, war der Mittelpunkt +dieser Vereinigung das “latinische Fest” (feriae Latinae), an +welchem auf dem “Berg von Alba” (mons Albanus, Monte Cavo) an einem +alljaehrlich von dem Vorstand dafuer fest gesetzten Tage dem “latinischen +Gott” (Iuppiter Latiaris) von dem gesamten Stamm ein Stieropfer +dargebracht ward. Zu dem Opferschmaus hatte jede teilnehmende Gemeinde nach +festem Satz ein Gewisses an Vieh, Milch und Kaese zu liefern und dagegen von +dem Opferbraten ein Stueck zu empfangen. Diese Gebraeuche dauerten fort bis in +die spaete Zeit und sind wohlbekannt; ueber die wichtigeren rechtlichen +Wirkungen dieser Verbindung dagegen vermoegen wir fast nur Mutmassungen +aufzustellen. Seit aeltester Zeit schlossen sich an das religioese Fest auf dem +Berg von Alba auch Versammlungen der Vertreter der einzelnen Gemeinden auf der +benachbarten latinischen Dingstaette am Quell der Ferentina (bei Marino); und +ueberhaupt kann eine solche Eidgenossenschaft nicht gedacht werden ohne eine +gewisse Oberverwaltung des Bundes und eine fuer die ganze Landschaft gueltige +Rechtsordnung. Dass dem Bunde wegen Verletzung des Bundesrechts eine +Gerichtsbarkeit zustand und in diesem Fall selbst auf den Tod erkannt werden +konnte, ist ueberliefert und glaublich. Auch die spaetere Rechts- und eine +gewisse Ehegemeinschaft der latinischen Gemeinden darf wohl schon als +integrierender Teil des aeltesten Bundesrechts gedacht werden, so dass also der +Latiner mit der Latinerin rechte Kinder erzielen und in ganz Latium Grundbesitz +erwerben und Handel und Wandel treiben konnte. Der Bund mag ferner fuer die +Streitigkeiten der Gaue untereinander ein Schieds- und Bundesgericht angeordnet +haben; dagegen laesst sich eine eigentliche Beschraenkung des souveraenen +Rechts jeder Gemeinde ueber Krieg und Frieden durch den Bund nicht nachweisen. +Ebenso leidet es keinen Zweifel, dass mit der Bundesverfassung die Moeglichkeit +gegeben war, einen Bundeskrieg abwehrend und selbst angreifend zu fuehren, +wobei denn ein Bundesfeldherr, ein Herzog, natuerlich nicht fehlen konnte. Aber +wir haben keinen Grund anzunehmen, dass in diesem Fall jede Gemeinde rechtlich +gezwungen war, Heeresfolge zu leisten, oder dass es ihr umgekehrt verwehrt war, +auf eigene Hand einen Krieg selbst gegen ein Bundesmitglied zu beginnen. +Dagegen finden sich Spuren, dass waehrend der latinischen Feier, aehnlich wie +waehrend der hellenischen Bundesfeste, ein Gottesfriede in ganz Latium galt ^4 +und wahrscheinlich in dieser Zeit auch die verfehdeten Staemme einander +sicheres Geleit zugestanden. Noch weniger ist es moeglich, den Umfang der +Vorrechte des fuehrenden Gaues zu bestimmen; nur soviel laesst sich sagen, dass +keine Ursache vorhanden ist, in der albanischen Vorstandschaft eine wahre +politische Hegemonie ueber Latium zu erkennen und dass moeglicher-, ja +wahrscheinlicherweise dieselbe nicht mehr in Latium zu bedeuten hatte als die +elische Ehrenvorstandschaft in Griechenland ^5. Ueberhaupt war der Umfang wie +der Rechtsinhalt dieses latinischen Bundes vermutlich lose und wandelbar; doch +war und blieb er nicht ein zufaelliges Aggregat verschiedener, mehr oder minder +einander fremder Gemeinden, sondern der rechtliche und notwendige Ausdruck des +latinischen Stammes. Wenn der latinische Bund nicht zu allen Zeiten alle +latinische Gemeinden umfasst haben mag, so hat er doch zu keiner Zeit einer +nicht latinischen die Mitgliedschaft gewaehrt - sein Gegenbild in Griechenland +ist nicht die delphische Amphiktyonie, sondern die boeotische oder aetolische +Eidgenossenschaft. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^4 Das latinische Fest wird geradezu Waffenstillstand” (indutiae Macr. +Sat. 1, 16; εκεχερίαι Dion. Hal. 4, 49) genannt, und es war nicht erlaubt, +waehrend desselben einen Krieg zu beginnen (Macr. a.a.O.). +</p> + +<p> +^5 Die oft in alter und neuer Zeit aufgestellte Behauptung, dass Alba einstmals +in den Formen der Symmachie ueber Latium geherrscht habe, findet bei genauerer +Untersuchung nirgends ausreichende Unterstuetzung. Alle Geschichte geht nicht +von der Einigung, sondern von der Zersplitterung der Nation aus, und es ist +sehr wenig wahrscheinlich, dass das Problem, das Rom nach manchem +durchkaempften Jahrhundert endlich loeste, die Einigung Latiums, schon vorher +einmal durch Alba geloest worden sei. Auch ist es bemerkenswert, dass Rom +niemals als Erbin Albas eigentliche Herrschaftsansprueche gegen die latinischen +Gemeinden geltend gemacht, sondern mit einer Ehrenvorstandschaft sich begnuegt +hat, die freilich, als sie mit der materiellen Macht sich vereinigte, fuer die +hegemonischen Ansprueche Roms eine Handhabe gewaehrte. Von eigentlichen +Zeugnissen kann bei einer Frage, wie diese ist, ueberall kaum die Rede sein; +und am wenigsten reichen Stellen wie Fest. v. praetor p. 241 und Dion. Hal. 3, +10 aus, um Alba zum latinischen Athen zu stempeln. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Diese allgemeinen Umrisse muessen genuegen; ein jeder Versuch, die Linien +schaerfer zu ziehen, wuerde das Bild nur verfaelschen. Das mannigfache Spiel, +wie die aeltesten politischen Atome, die Gaue, sich in Latium gesucht und +geflohen haben moegen, ist ohne berichtfaehige Zeugen voruebergegangen, und es +muss genuegen, das Eine und Bleibende darin festzuhalten, dass sie in einem +gemeinschaftlichen Mittelpunkt zwar nicht ihre Einheitlichkeit aufgaben, aber +doch das Gefuehl der nationalen Zusammengehoerigkeit hegten und steigerten und +damit den Fortschritt vorbereiteten von dem kantonalen Partikularismus, mit dem +jede Volksgeschichte anhebt und anheben mass, zu der nationalen Einigung, mit +der jede Volksgeschichte endigt oder doch endigen sollte. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap04"></a>KAPITEL IV.<br/> +Die Anfänge Roms</h2> + +<p> +Etwa drei deutsche Meilen von der Muendung des Tiberflusses stromaufwaerts +erheben sich an beiden Ufern desselben maessige Huegel, hoehere auf dem +rechten, niedrigere auf dem linken; an den letzteren haftet seit mindestens +dritthalbtausend Jahren der Name der Roemer. Es laesst sich natuerlich nicht +angeben, wie und wann er aufgekommen ist; sicher ist nur, dass in der aeltesten +uns bekannten Namensform die Gaugenossen Ramner (Ramnes) heissen, nicht +Romaner; und diese der aelteren Sprachperiode gelaeufige, dem Lateinischen aber +in frueher Zeit abhanden gekommene ^1 Lautverschiebung ist ein redendes Zeugnis +fuer das unvordenkliche Alter des Namens. Eine sichere Ableitung laesst sich +nicht geben; moeglich ist es, dass die Ramner die Stromleute sind. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^1 Aehnlichen Lautwechsel zeigen beispielsweise folgende Bildungen saemtlich +aeltester Art: pars portio, Mars mors, farreum alt statt horreum, Fabii Fovii, +Valerius Volesus, vacuus vocivus. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Aber sie blieben nicht allein auf den Huegeln am Tiberufer. In der Gliederung +der aeltesten roemischen Buergerschaft hat sich eine Spur erhalten, dass +dieselbe hervorgegangen ist aus der Verschmelzung dreier wahrscheinlich ehemals +unabhaengiger Gaue, der Ramner, Titier und Lucerer, zu einem einheitlichen +Gemeinwesen, also aus einem Synoekismus wie derjenige war, woraus in Attika +Athen hervorging ^2. Wie uralt diese Drittelung der Gemeinde ist ^3, zeigt wohl +am deutlichsten, dass die Roemer namentlich in staatsrechtlicher Beziehung fuer +“teilen” und “Teil” regelmaessig sagen +“dritteln” (tribuere) und “Drittel” (tribus) und dieser +Ausdruck schon frueh, wie unser Quartier, die urspruengliche Zahlbedeutung +einbuesst. Noch nach der Vereinigung besass jede dieser drei ehemaligen +Gemeinden und jetzigen Abteilungen ein Drittel der gemeinschaftlichen Feldmark +und war in der Buergerwehr wie im Rate der Alten gleichmaessig vertreten; wie +denn auch im Sakralwesen die durch drei teilbare Mitgliederzahl fast aller +aeltesten Kollegien, der heiligen Jungfrauen, der Taenzer, der Ackerbrueder, +der Wolfsgilde, der Vogelschauer, wahrscheinlich auf diese Dreiteilung +zurueckgeht. Man hat mit diesen drei Elementen, in die die aelteste roemische +Buergerschaft zerfiel, den heillosesten Unfug getrieben; die unverstaendige +Meinung, dass die roemische Nation ein Mischvolk sei, knuepft hier an und +bemueht sich in verschiedenartiger Weise, die drei grossen italischen Rassen +als komponierende Elemente des aeltesten Rom darzustellen und das Volk, das wie +wenig andere seine Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und +volkstuemlich entwickelt hat, in ein wuestes Geroelle etruskischer und +sabinischer, hellenischer und leider sogar pelasgischer Truemmer zu verwandeln. +Nach Beseitigung der teils widersinnigen, teils grundlosen Hypothesen laesst +sich in wenige Worte zusammenfassen, was ueber die Nationalitaet der +komponierenden Elemente des aeltesten roemischen Gemeinwesens gesagt werden +kann. Dass die Ramner ein latinischer Stamm waren, kann nicht bezweifelt +werden, da sie dem neuen roemischen Gemeinwesen den Namen gaben, also auch die +Nationalitaet der vereinigten Gemeinde wesentlich bestimmt haben werden. Ueber +die Herkunft der Lucerer laesst sich nichts sagen, als dass nichts im Wege +steht, sie gleich den Ramnern dem latinischen Stamm zuzuweisen. Dagegen die +zweite dieser Gemeinden wird einstimmig aus der Sabina abgeleitet, und dies +kann wenigstens zurueckgehen auf eine in der titischen Bruederschaft bewahrte +Ueberlieferung, wonach dieses Priesterkollegium bei dem Eintritt der Titier in +die Gesamtgemeinde zur Bewahrung des sabinischen Sonderrituals gestiftet worden +waere. Es mag also in einer sehr fernen Zeit, als der latinische und der +sabellische Stamm sich noch in Sprache und Sitte bei weitem weniger scharf +gegenueber standen als spaeter der Roemer und der Samnite, eine sabellische +Gemeinde in einen latinischen Gauverband eingetreten sein - wahrscheinlich, da +die Titier in der aelteren und glaubwuerdigen Ueberlieferung ohne Ausnahme den +Platz vor den Ramnern behaupten, in der Art, dass die eindringenden Titier den +aelteren Ramnern den Synoekismus aufnoetigten. Eine Mischung verschiedener +Nationalitaeten hat hier also allerdings stattgefunden; aber schwerlich hat sie +viel tiefer eingegriffen als zum Beispiel die einige Jahrhunderte spaeter +erfolgte Uebersiedlung des sabinischen Attus Clauzus oder Appius Claudius und +seiner Genossen und Klienten nach Rom. So wenig wie diese Aufnahme der Claudier +unter die Roemer berechtigt die aeltere der Titier unter die Ramner, die +Gemeinde darum den Mischvoelkern beizuzaehlen. Mit Ausnahme vielleicht +einzelner, im Ritual fortgepflanzter nationaler Institutionen lassen auch +sabellische Elemente in Rom sich nirgends nachweisen, und namentlich gibt die +latinische Sprache fuer eine solche Annahme schlechterdings keinen Anhalt ^4. +Es waere in der Tat mehr als auffallend, wenn die Einfuegung einer einzelnen +Gemeinde von einem dem latinischen naechstverwandten Stamm die latinische +Nationalitaet auch nur in fuehlbarer Weise getruebt haette; wobei vor allem +nicht vergessen werden darf, dass in der Zeit, wo die Titier neben den Ramnern +sich ansaessig machten, die latinische Nationalitaet auf Latium ruhte und nicht +auf Rom. Das neue dreiteilige roemische Gemeinwesen war, trotz etwaiger +urspruenglich sabellischer Bestandteile, nichts als was die Gemeinde der Ramner +gewesen war, ein Teil der latinischen Nation. +</p> + +<p> +——————————————————————————————————— +</p> + +<p> +^2 Eine wirkliche Zusammensiedlung ist mit dem Synoekismus nicht notwendig +verbunden, sondern es wohnt jeder wie bisher auf dem Seinigen, aber fuer alle +gibt es fortan nur ein Rat- und Amthaus (Thuk. 2, 15; Hdt. 1, 170). +</p> + +<p> +^3 Man koennte sogar, im Hinblick auf die attische τριττύς, die umbrische +trifo, die Frage aufwerfen, ob nicht die Dreiteilung der Gemeinde eine +graecoitalische Grundform sei; in welchem Falle die Dreiteilung der roemischen +Gemeinde gar nicht auf die Verschmelzung mehrerer einstmals selbstaendigen +Staemme zurueckgefuehrt werden duerfte. Aber um eine gegen die Ueberlieferung +sich also auflehnende Annahme aufzustellen, muesste doch die Dreiteilung im +graecoitalischen Gebiet allgemeiner auftreten, als dies der Fall zu sein +scheint, und ueberall gleichmaessig als Grundschema erscheinen. Die Umbrer +koennen das Wort tribus moeglicherweise erst unter dem Einfluss der roemischen +Herrschaft sich angeeignet haben; im Oskischen ist es nicht mit Sicherheit +nachzuweisen. +</p> + +<p> +^4 Nachdem die aeltere Meinung, dass das Lateinische als eine Mischsprache aus +griechischen und nicht-griechischen Elementen zu betrachten sei, jetzt von +allen Seiten aufgegeben ist, wollen selbst besonnene Forscher (z. B. A. +Schwegler, Roemische Geschichte. Bd. 1, Tuebingen 1853, S. 184, 193) doch noch +in dem Lateinischen eine Mischung zweier nahverwandter italischer Dialekte +finden. Aber vergebens fragt man nach der sprachlichen oder geschichtlichen +Noetigung zu einer solchen Annahme. Wenn eine Sprache als Mittelglied zwischen +zwei anderen erscheint, so weiss jeder Sprachforscher, dass dies ebenso wohl +und haeufiger auf organischer Entwicklung beruht als auf aeusserlicher +Mischung. +</p> + +<p> +—————————————————————————- +</p> + +<p> +Lange bevor eine staedtische Ansiedlung am Tiber entstand, moegen jene Ramner, +Titier, Lucerer erst vereinzelt, spaeter vereinigt auf den roemischen Huegeln +ihre Burg gehabt und von den umliegenden Doerfern aus ihre Aecker bestellt +haben. Eine Ueberlieferung aus diesen uraeltesten Zeiten mag das +“Wolfsfest” sein, das das Geschlecht der Quinctier am palatinischen +Huegel beging: ein Bauern- und Hirtenfest, das wie kein anderes die schlichten +Spaesse patriarchalischer Einfalt bewahrt und merkwuerdig genug noch im +christlichen Rom sich unter allen heidnischen Festen am laengsten behauptet +hat. +</p> + +<p> +Aus diesen Ansiedlungen ging dann das spaetere Rom hervor. Von einer +eigentlichen Stadtgruendung, wie die Sage sie annimmt, kann natuerlich in +keinem Fall die Rede sein: Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden. Wohl aber +verdient es eine ernstliche Erwaegung, auf welchem Wege Rom so frueh zu einer +hervorragenden politischen Stellung innerhalb Latiums gelangt sein kann, +waehrend man nach den Bodenverhaeltnissen eher das Gegenteil erwarten sollte. +Die Staette, auf der Rom liegt, ist minder gesund und minder fruchtbar als die +der meisten alten Latinerstaedte. Der Weinstock und der Feigenbaum gedeihen in +Roms naechster Umgebung nicht wohl und es mangelt an ausgiebigen Quellen- denn +weder der sonst treffliche Born der Camenen vor dem Capenischen Tor noch der +spaeter im Tullianum gefasste Kapitolinische Brunnen sind wasserreich. Dazu +kommt das haeufige Austreten des Flusses, der bei sehr geringem Gefaell die in +der Regenzeit reichlich zustroemenden Bergwasser nicht schnell genug dem Meere +zuzufuehren vermag und daher die zwischen den Huegeln sich oeffnenden Taeler +und Niederungen ueberstaut und versumpft. Fuer den Ansiedler ist die +Oertlichkeit nichts weniger als lockend, und schon in alter Zeit ist es +ausgesprochen worden, dass auf diesen ungesunden und unfruchtbaren Fleck +innerhalb eines gesegneten Landstrichs sich nicht die erste naturgemaesse +Ansiedlung der einwandernden Bauern gelenkt haben koenne, sondern dass die Not +oder vielmehr irgendein besonderer Grund die Anlage dieser Stadt veranlasst +haben muesse. Schon die Legende hat diese Seltsamkeit empfunden; das +Geschichtchen von der Anlage Roms durch Ausgetretene von Alba unter Fuehrung +der albanischen Fuerstensoehne Romulus und Remus ist nichts als ein naiver +Versuch der aeltesten Quasihistorie, die seltsame Entstehung des Orts an so +unguenstiger Staette zu erklaeren und zugleich den Ursprung Roms an die +allgemeine Metropole Latiums anzuknuepfen. Von solchen Maerchen, die Geschichte +sein wollen und nichts sind als nicht gerade geistreiche Autoschediasmen, wird +die Geschichte vor allen Dingen sich frei zu machen haben; vielleicht ist es +ihr aber auch vergoennt, noch einen Schritt weiter zu tun und nach Erwaegung +der besonderen Lokalverhaeltnisse nicht ueber die Entstehung des Ortes, aber +ueber die Veranlassung seines raschen und auffallenden Gedeihens und seiner +Sonderstellung in Latium eine positive Vermutung aufzustellen. +</p> + +<p> +Betrachten wir vor allem die aeltesten Grenzen des roemischen Gebietes. Gegen +Osten liegen die Staedte Antemnae, Fidenae, Caenina, Gabii in naechster Naehe, +zum Teil keine deutsche Meile von dem Servianischen Mauerring entfernt, und +muss die Gaugrenze hart vor den Stadttoren gewesen sein. Gegen Sueden trifft +man in einem Abstand von drei deutschen Meilen auf die maechtigen Gemeinden +Tusculum und Alba und es scheint das roemische Stadtgebiet hier nicht weiter +gereicht zu haben als bis zum cluilischen Graben, eine deutsche Meile von Rom. +Ebenso war in suedwestlicher Richtung die Grenze zwischen Rom und Lavinium +bereits am sechsten Milienstein. Waehrend so landeinwaerts der roemische Gau +ueberall in die moeglichst engen Schranken zurueckgewiesen ist, erstreckt er +sich dagegen seit aeltester Zeit ungehindert an beiden Ufern des Tiber gegen +das Meer hin, ohne dass zwischen Rom und der Kueste irgendeine als alter +Gaumittelpunkt hervortretende Ortschaft, irgendeine Spur alter Gaugrenze +begegnete. Die Sage, die fuer alles einen Ursprung weiss, weiss freilich auch +zu berichten, dass die roemischen Besitzungen am rechten Tiberufer, die +“sieben Weiler” (septem pagi) und die wichtigen Salinen an der +Muendung durch Koenig Romulus den Veientern entrissen worden sind, und dass +Koenig Ancus am rechten Tiberufer den Brueckenkopf, den Janusberg (Ianiculum) +befestigt, am linken den roemischen Peiraeeus, die Hafenstadt an der +“Muendung” (Ostia) angelegt habe. Aber dafuer, dass die Besitzungen +am etruskischen Ufer vielmehr schon zu der aeltesten roemischen Mark gehoert +haben muessen, legt besseres Zeugnis ab der eben hier, am vierten Milienstein +der spaeteren Hafenstrasse, gelegene Hain der schaffenden Goettin (dea dia), +der uralte Hochsitz des roemischen Ackerbaufestes und der Ackerbruederschaft; +und in der Tat ist seit unvordenklicher Zeit das Geschlecht der Romilier, wohl +einst das vornehmste unter allen roemischen, eben hier angesessen, das +Ianiculum ein Teil der Stadt selbst, Ostia Buergerkolonie, das heisst Vorstadt +gewesen. Es kann das nicht Zufall sein. Der Tiber ist Latiums natuerliche +Handelsstrasse, seine Muendung an dem hafenarmen Strande der notwendige +Ankerplatz der Seefahrer. Der Tiber ist ferner seit uralter Zeit die Grenzwehr +des latinischen Stammes gegen die noerdlichen Nachbarn. Zum Entrepôt fuer den +latinischen Fluss- und Seehandel und zur maritimen Grenzfestung Latiums eignete +kein Platz sich besser als Rom, das die Vorteile einer festen Lage und der +unmittelbaren Nachbarschaft des Flusses vereinigte, das ueber beide Ufer des +Flusses bis zur Muendung gebot, das dem den Tiber oder den Anio herabkommenden +Flussschiffer ebenso bequem gelegen war wie bei der damaligen maessigen Groesse +der Fahrzeuge dem Seefahrer, und das gegen Seeraeuber groesseren Schutz +gewaehrte als die unmittelbar an der Kueste gelegenen Orte. Dass Rom wenn nicht +seine Entstehung, doch seine Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen +Verhaeltnissen verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die +von ganz anderem Gewicht sind als die Angaben historisierter Novelletten. Daher +ruehren die uralten Beziehungen zu Caere, das fuer Etrurien war, was fuer +Latium Rom und denn auch dessen naechster Nachbar und Handelsfreund wurde; +daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbruecke und des Brueckenbaues ueberhaupt +in dem roemischen Gemeinwesen; daher die Galeere als staedtisches Wappen. Daher +der uralte roemische Hafenzoll, dem von Haus aus nur unterlag, was zum +Feilbieten (promercale), nicht was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) +in dem Hafen von Ostia einging, und der also recht eigentlich eine Auflage auf +den Handel war. Daher, um vorzugreifen, das verhaeltnismaessig fruehe Vorkommen +des gemuenzten Geldes, der Handelsvertraege mit ueberseeischen Staaten in Rom. +In diesem Sinn mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, mehr eine +geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den latinischen eher die +juengste als die aelteste sein. Ohne Zweifel war die Landschaft schon +einigermassen bebaut und das Albanische Gebirge sowie manche andere Hoehe der +Campagna mit Burgen besetzt, als das latinische Grenzemporium am Tiber +entstand. Ob ein Beschluss der latinischen Eidgenossenschaft, ob der geniale +Blick eines verschollenen Stadtgruenders oder die natuerliche Entwicklung der +Verkehrsverhaeltnisse die Stadt Rom ins Leben gerufen hat, darueber ist uns +nicht einmal eine Mutmassung gestattet. Wohl aber knuepft sich an diese +Wahrnehmung ueber Roms Emporienstellung in Latium eine andere Beobachtung an. +Wo uns die Geschichte zu daemmern beginnt, steht Rom dem latinischen +Gemeindebund als einheitlich geschlossene Stadt gegenueber. Die latinische +Sitte, in offenen Doerfern zu wohnen und die gemeinschaftliche Burg nur zu +Festen und Versammlungen oder im Notfall zu benutzen, ist hoechst +wahrscheinlich im roemischen Gau weit frueher beschraenkt worden als irgendwo +sonst in Latium. Nicht als ob der Roemer seinen Bauernhof selbst zu bestellen +oder ihn als sein rechtes Heim zu betrachten aufgehoert haette; aber schon die +boese Luft der Campagna musste es mit sich bringen, dass er, soweit es anging, +auf den luftigeren und gesunderen Stadthuegeln seine Wohnung nahm; und neben +dem Bauer muss eine zahlreiche nicht ackerbauende Bevoelkerung von Fremden und +Einheimischen dort seit uralter Zeit ansaessig gewesen sein. Die dichte +Bevoelkerung des altroemischen Gebietes, das hoechstens zu 5½ Quadratmeilen zum +Teil sumpfigen und sandigen Bodens angeschlagen werden kann und schon nach der +aeltesten Stadtverfassung eine Buergerwehr von 3300 freien Maennern stellte, +also mindestens 10000 freie Einwohner zaehlte, erklaert sich auf diese Art +einigermassen. Aber noch mehr. Wer die Roemer und ihre Geschichte kennt, der +weiss es, dass das Eigentuemliche ihrer oeffentlichen und Privattaetigkeit auf +ihrem staedtischen und kaufmaennischen Wesen ruht, und dass ihr Gegensatz gegen +die uebrigen Latiner und ueberhaupt die Italiker vor allem der Gegensatz ist +des Buergers gegen den Bauer. Zwar ist Rom keine Kaufstadt wie Korinth oder +Karthago; denn Latium ist eine wesentlich ackerbauende Landschaft und Rom +zunaechst und vor allem eine latinische Stadt gewesen und geblieben. Aber was +Rom auszeichnet vor der Menge der uebrigen latinischen Staedte, muss allerdings +zurueckgefuehrt werden auf seine Handelsstellung und auf den dadurch bedingten +Geist seiner Buergerschaft. Wenn Rom das Emporium der latinischen Landschaften +war, so ist es begreiflich, dass hier neben und ueber der latinischen +Feldwirtschaft sich ein staedtisches Leben kraeftig und rasch entwickelte und +damit der Grund zu seiner Sonderstellung gelegt ward. Die Verfolgung dieser +merkantilen und strategischen Entwicklung der Stadt Rom ist bei weitem +wichtiger und ausfuehrbarer als das unfruchtbare Geschaeft, unbedeutende und +wenig verschiedene Gemeinden der Urzeit chemisch zu analysieren. Jene +staedtische Entwicklung koennen wir noch einigermassen erkennen in den +Ueberlieferungen ueber die allmaehlich entstandenen Umwallungen und +Verschanzungen Roms, deren Anlage mit der Entwicklung des roemischen +Gemeinwesens zu staedtischer Bedeutung notwendig Hand in Hand gegangen sein +muss. +</p> + +<p> +Die urspruengliche staedtische Anlage, aus welcher im Laufe der Jahrhunderte +Rom erwachsen ist, umfasste nach glaubwuerdigen Zeugnissen nur den Palatin, in +spaeterer Zeit auch das viereckige Rom (Roma quadrata) genannt von der +regelmaessig viereckigen Form des palatinischen Huegels. Die Tore und Mauern +dieses urspruenglichen Stadtringes blieben bis in die Kaiserzeit sichtbar; zwei +von jenen, die Porta Romana bei S. Giorgio in Velabro und die Porta Mugionis am +Titusbogen sind auch uns noch ihrer Lage nach bekannt, und den palatinischen +Mauerring beschreibt noch Tacitus nach eigener Anschauung wenigstens an den dem +Aventin und dem Caelius zugewendeten Seiten. Vielfache Spuren deuten darauf +hin, dass hier der Mittelpunkt und der Ursitz der staedtischen Ansiedlung war. +Auf dem Palatin befand sich das heilige Symbol derselben, die sogenannte +“Einrichtung” (mundus), darein die ersten Ansiedler von allem, +dessen das Haus bedarf, zur Genuege und dazu von der lieben heimischen Erde +eine Scholle getan hatten. Hier lag ferner das Gebaeude, in welchem die +saemtlichen Kurien jede an ihrem eigenen Herd zu gottesdienstlichen und anderen +Zwecken sich versammelten (curiae veteres). Hier war das Versammlungshaus der +“Springer” (curia saliorum), zugleich der Aufbewahrungsort der +heiligen Schilde des Mars, das Heiligtum der “Woelfe” (lupercal) +und die Wohnung des Jupiterpriesters. Auf und an diesem Huegel ward die +Gruendungssage der Stadt hauptsaechlich lokalisiert und wurde das strohgedeckte +Haus des Romulus, die Hirtenhuette seines Ziehvaters Faustulus, der heilige +Feigenbaum, daran der Kasten mit den Zwillingen angetrieben war, der aus dem +Speerschaft, welchen der Gruender der Stadt vom Aventin her ueber das Tal des +Circus weg in diesen Mauerring geschleudert hatte, aufgeschossene +Kornelkirschbaum und andere dergleichen Heiligtuemer mehr den Glaeubigen +gewiesen. Eigentliche Tempel kannte diese Zeit noch nicht, und daher hat solche +auch der Palatin nicht aus aelterer Zeit aufzuweisen. Die Gemeindestaetten aber +sind frueh anderswohin verlegt und deshalb verschollen; nur vermuten laesst +sich, dass der freie Platz um den Mundus, spaeter der Platz des Apollo genannt, +die aelteste Versammlungsstaette der Buergerschaft und des Senats, die ueber +dem Mundus selbst errichtete Buehne die aelteste Mahlstatt der roemischen +Gemeinde gewesen sein moegen. +</p> + +<p> +Dagegen hat sich in dem “Fest der sieben Berge” (septimontium) das +Andenken bewahrt an die erweiterte Ansiedlung, welche allmaehlich um den +Palatin sich gebildet hat, Vorstaedte, eine nach der andern erwachsen, eine +jede durch besondere, wenn auch schwaechere Umwallungen geschuetzt und an den +urspruenglichen Mauerring des Palatin, wie in den Marschen an den Hauptdeich +die Aussendeiche, angelehnt. Die “sieben Ringe” sind der Palatin +selbst; der Cermalus, der Abhang des Palatins gegen die zwischen diesem und dem +Kapitol nach dem Fluss zu sich ausbreitende Niederung (velabrum); die Velia, +der den Palatin mit dem Esquilin verbindende, spaeter durch die kaiserlichen +Bauten fast ganz verschwundene Huegelruecken; das Fagutal, der Oppius und der +Cispius, die drei Hoehen des Esquilin; endlich die Sucūsa oder Subūra, eine +ausserhalb des Erdwalls, der die Neustadt auf den Carinen schuetzte, unterhalb +S. Pietro in Vincoli in der Einsattlung zwischen dem Esquilin und dem Quirinal +angelegte Festung. In diesen offenbar allmaehlich erfolgten Anbauten liegt die +aelteste Geschichte des palatinischen Rom bis zu einem gewissen Grade deutlich +vor, zumal wenn man die spaeterhin auf Grund dieser aeltesten Gliederung +gebildete Servianische Bezirkseinteilung damit zusammenhaelt. +</p> + +<p> +Der Palatin war der Ursitz der roemischen Gemeinde, der aelteste und +urspruenglich einzige Mauerring; aber die staedtische Ansiedlung hat in Rom wie +ueberall nicht innerhalb, sondern unterhalb der Burg begonnen und die aeltesten +Ansiedlungen, von denen wir wissen, die, welche spaeterhin in der Servianischen +Stadteinteilung das erste und zweite Quartier bilden, liegen im Kreise um den +Palatin herum. So diejenige auf dem Abhang des Cermalus mit der Tuskergasse, +worin sich wohl eine Erinnerung bewahrt haben mag an den wohl schon in der +palatinischen Stadt lebhaften Handelsverkehr zwischen Caeriten und Roemern, und +die Niederlassung auf der Velia, die beide spaeter in der Servianischen Stadt +mit dem Burghuegel selbst ein Quartier gebildet haben. Ferner die Bestandteile +des spaeteren zweiten Quartiers: die Vorstadt auf dem Caelius, welche +vermutlich nur dessen aeusserste Spitze ueber dem Colosseum umfasst hat; die +auf den Carinen, derjenigen Hoehe, in welche der Esquilin gegen den Palatin aus +laeuft, endlich das Tal und das Vorwerk der Subura, von welcher das ganze +Quartier den Namen empfing. Beide Quartiere zusammen bilden die anfaengliche +Stadt, und der suburanische Bezirk derselben, der unterhalb der Burg etwa vom +Bogen des Konstantin bis nach S. Pietro in Vincoli und ueber das darunter +liegende Tal hin sich erstreckte, scheint ansehnlicher, vielleicht auch aelter +gewesen zu sein als die in der Servianischen Ordnung dem palatinischen Bezirk +einverleibten Siedlungen, da jener diesem in der Rangfolge der Quartiere +vorangeht. Eine merkwuerdige Erinnerung an den Gegensatz dieser beiden +Stadtteile hat einer der aeltesten heiligen Gebraeuche des nachherigen Rom +bewahrt, das auf dem Anger des Mars jaehrlich begangene Opfer des +Oktoberrosses: bis in spaete Zeit wurde bei diesem Feste um das Pferdehaupt +gestritten zwischen den Maennern der Subura und denen von der Heiligen Strasse +und je nachdem jene oder diese siegten, dasselbe entweder an den mamilischen +Turm (unbekannter Lage) in der Subura oder an dem Koenigshaus unter dem Palatin +angenagelt. Es waren die beiden Haelften der Altstadt, die hier in gleich +berechtigtem Wetteifer miteinander rangen. Damals waren also die Esquiliae - +welcher Name eigentlich gebraucht die Carinen ausschliesst - in der Tat, was +sie hiessen, der Aussenbau (ex-quiliae, wie inquilinus von colere) oder die +Vorstadt; sie wurden in der spaeteren Stadteinteilung das dritte Quartier und +es hat dieses stets neben dem suburanischen und dem palatinischen als minder +ansehnlich gegolten. Auch noch andere benachbarte Anhoehen, wie Kapitol und +Aventin, moegen von der Gemeinde der sieben Berge besetzt gewesen sein; vor +allem die “Pfahlbruecke” (pons sublicius) ueber den natuerlichen +Brueckenpfeiler der Tiberinsel wird - das Pontifikalkollegium allein buergt +dafuer hinreichend - schon damals bestanden und man auch den Brueckenkopf am +etruskischen Ufer, die Hoehe des Ianiculum nicht ausser acht gelassen haben; +aber die Gemeinde hatte beides doch keineswegs in ihren Befestigungsring +gezogen. Die Ordnung, die als Ritualsatz bis in die spaeteste Zeit festgehalten +worden ist, dass die Bruecke ohne Eisen lediglich aus Holz zusammenzufuegen +sei, geht in ihrem urspruenglichen praktischen Zweck offenbar darauf hinaus, +dass sie nur eine fliegende sein sollte und jederzeit leicht musste abgebrochen +oder abgebrannt werden koennen: man erkennt daraus, wie lange Zeit hindurch die +roemische Gemeinde den Flussuebergang nur unsicher und unterbrochen beherrscht +hat. +</p> + +<p> +Ein Verhaeltnis dieser allmaehlich erwachsenen staedtischen Ansiedlungen zu den +drei Gemeinden, in die die roemische staatsrechtlich seit unvordenklich frueher +Zeit zerfiel, ist nicht zu ersehen. Da die Ramner, Titier und Lucerer +urspruenglich selbstaendige Gemeinden gewesen zu sein scheinen, muessen sie +freilich auch urspruenglich jede fuer sich gesiedelt haben; aber auf den sieben +Huegeln selbst haben sie sicherlich nicht in getrennten Umwallungen gewohnt und +was der Art in alter oder neuer Zeit erfunden worden ist, wird der verstaendige +Forscher dahin stellen, wo das anmutige Maerchen von der Tarpeia und die +Schlacht am Palatin ihren Platz finden. Vielmehr werden schon die beiden +Quartiere der aeltesten Stadt, Subura und Palatin und ebenso das vorstaedtische +jedes in die drei Teile der Ramner, Titier und Lucerer zerfallen sein; womit es +zusammenhaengen kann, dass spaeterhin sowohl in dem suburanischen und +palatinischen wie in jedem der nachher hinzugefuegten Stadtteile es drei Paare +Argeerkapellen gab. Eine Geschichte hat die palatinische Siebenhuegelstadt +vielleicht gehabt; uns ist keine andere Ueberlieferung von derselben geblieben +als die des blossen Dagewesenseins. Aber wie die Blaetter des Waldes fuer den +neuen Lenz zuschicken, auch wenn sie ungesehen von Menschenaugen niederfallen, +also hat diese verschollene Stadt der sieben Berge dem geschichtlichen Rom die +Staette bereitet. +</p> + +<p> +Aber die palatinische Stadt ist nicht die einzige gewesen, die in dem +spaeterhin von den Servianischen Mauern eingeschlossenen Kreise vor alters +bestanden hat; vielmehr lag ihr in unmittelbarer Nachbarschaft gegenueber eine +zweite auf dem Quirinal. Die “alte Burg” (Capitolium vetus) mit +einem Heiligtum des Jupiter, der Juno und der Minerva und einem Tempel der +Goettin des Treuworts, in welchem Staatsvertraege oeffentlich aufgestellt +wurden, ist das deutliche Gegenbild des spaeteren Kapitols mit seinem Jupiter-, +Juno- und Minervatempel und mit dem ebenfalls gleichsam zum voelkerrechtlichen +Archiv bestimmten Tempel der roemischen Treue, und ein sicherer Beweis dafuer, +dass auch der Quirinal einstmals der Mittelpunkt eines selbstaendigen +Gemeinwesens gewesen ist. Dasselbe geht hervor aus dem zwiefachen Marskult auf +dem Palatin und dem Quirinal: denn Mars ist das Vorbild des Wehrmanns und der +aelteste Hauptgott der italischen Buergergemeinden. Damit haengt weiter +zusammen, dass dessen Dienerschaft, die beiden uralten Genossenschaften der +Springer (salii) und der Woelfe (luperci), in dem spaeteren Rom gedoppelt +vorhanden gewesen sind und neben der palatinischen auch eine Springerschaft vom +Quirinal bestanden hat, neben den Quinctischen Woelfen von Palatin eine +Fabische Wolfsgilde, die ihr Heiligtum hoechst wahrscheinlich auf dem Quirinal +gehabt hat ^5. Alle diese Anzeichen, schon an sich von grossem Gewicht, +gewinnen um so hoehere Bedeutung, wenn man sich erinnert, dass der genau +bekannte Umkreis der palatinischen Siebenhuegelstadt den Quirinal ausschloss +und dass spaeterhin in dem Servianischen Rom, waehrend die drei ersten Bezirke +der ehemaligen palatinischen Stadt entsprechen, aus dem Quirinal nebst dem +benachbarten Viminal das vierte Quartier gebildet wurde. So erklaert sich auch, +zu welchem Zweck ausserhalb der Stadtmauer das feste Vorwerk der Subura in dem +Talgrunde zwischen Esquilin und Quirinal angelegt ward - hier beruehrten sich +ja die beiderseitigen Marken und musste von den Palatinern, nachdem sie die +Niederung in Besitz genommen hatten, zum Schutz gegen die vom Quirinal eine +Burg aufgefuehrt werden. +</p> + +<p> +———————————————————————— +</p> + +<p> +^5 Dass die Quinctischen Luperker den Fabischen im Rang vorgingen, geht daraus +hervor, dass die Fabulisten dem Romulus die Quinctier, dem Remus die Fabier +beilegen (Ov. fast. 2, 373f.; Ps. Aur. Vict. orig. 22). Dass die Fabier zu den +Huegelroemern gehoerten, beweist ihr Geschlechtsopfer auf dem Quirinal (Liv. 5, +46, 52), mag dies nun mit den Luperkalien zusammenhaengen oder nicht. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Uebrigens heisst der Lupercus jenes Kollegiums auf Inschriften (Orelli 2253) +Lupercus Quinctialis vetus, und der hoechst wahrscheinlich mit dem Luperkalkult +zusammenhaengende Vorname Kaeso (siehe Roemische Forschungen, Bd. 1, S. 17) +findet sich ausschliesslich bei den Quinctiern und den Fabiern; die bei den +Schriftstellern gangbare Form Lupercus Quinctilius und Quinctilianus ist also +entstellt und das Kollegium nicht den verhaeltnismaessig jungen Quinctiliern, +sondern den weit aelteren Quinctiern eigen. Wenn dagegen die Quinctier (Liv. 1, +30) oder Quinctilier (Dion. Hal. 3, 29) unter den albanischen Geschlechtern +genannt werden, so duerfte hier die letztere Lesung vorzuziehen und das +Quinctische vielmehr als altroemisch zu betrachten sein. +</p> + +<p> +Endlich ist auch der Name nicht untergegangen, mit dem sich die Maenner vom +Quirinal von ihren palatinischen Nachbarn unterschieden. Wie die palatinische +Stadt sich die “der sieben Berge”, ihre Buerger “die von den +Bergen” montani) sich nennen, die Bezeichnung “Berg” wie an +den uebrigen ihr angehoerigen Hoehen, so vor allem an dem Palatin haftet, so +heisst die quirinalische Spitze, obwohl nicht niedriger, im Gegenteil etwas +hoeher als jene, und ebenso die dazu gehoerige viminalische im genauen +Sprachgebrauch nie anders als “Huegel” (collis); ja in den sakralen +Urkunden wird nicht selten der Quirinal als der “Huegel” ohne +weiteren Beisatz bezeichnet. Ebenso heisst das von dieser Hoehe ausfuehrende +Tor gewoehnlich das Huegeltor (porta collina), die daselbst ansaessige +Marspriesterschaft die vom Huegel (salii collini) im Gegensatz zu der vom +Palatium (salii Palatini), das aus diesem Bezirk gebildete vierte Servianische +das Huegelquartier (tribus collina) ^6. Den zunaechst wohl an der Gegend +haftenden Namen der “Roemer” moegen dabei die Huegelmaenner ebenso +wie die von den Bergen sich beigelegt und etwa Huegelroemer (Romani collini) +sich genannt haben. Dass in dem Gegensatz der beiden Nachbarstaedte zugleich +eine Stammverschiedenheit obgewaltet hat, ist moeglich, aber an Beweisen, +welche ausreichten, um eine auf latinischem Boden gegruendete Gemeinde fuer +stammfremd zu erklaeren, fehlt es auch fuer die quirinalische Gemeinde durchaus +^7. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +^6 Wenn spaeterhin fuer die Hoehe, wo die Huegelroemer ihren Sitz hatten, der +Name des Quirinushuegels gebraeuchlich gewesen ist, so darf darum doch +keineswegs der Name der Quiriten als urspruenglich der Buergerschaft auf dem +Quirinal vorbehalten angesehen werden. Denn einerseits fuehren, wie gezeigt +ist, alle aeltesten Spuren fuer diese auf den Namen Collini; andrerseits ist es +unbestreitbar gewiss, dass der Name der Quiriten von Haus aus wie nachher +lediglich den Vollbuerger bezeichnet und mit dem Gegensatz der montani und +collini durchaus nichts gemein hat (vgl. unten 5. Kap.). Die spaetere Benennung +des Quirinalis beruht darauf, dass zwar urspruenglich der Mars quirinus, der +speertragende Todesgott, sowohl auf dem Palatin wie auf dem Quirinal verehrt +wurde, wie denn noch die aeltesten, bei dem nachher so genannten Quirinustempel +gefundenen Inschriften diese Gottheit geradezu Mars heissen, spaeterhin aber +der Unterscheidung wegen der Gott der Bergroemer vorzugsweise Mars, der der +Huegelroemer vorzugsweise Quirinus genannt ward. Wenn der Quirinal auch wohl +collis agonalis, Opferhuegel, genannt wird, so wird er damit nur bezeichnet als +der sakrale Mittelpunkt der Huegelroemer. +</p> + +<p> +^7 Was man dafuer ausgibt (vgl. z. B. Schwegler, Roemische Geschichte. Bd. 1, +S. 480), geht im wesentlichen auf eine von Varro aufgestellte und von den +Spaeteren wie gewoehnlich einstimmig nachgesprochene etymologisch-historische +Hypothese, dass das lateinische quiris quirinus mit dem sabinischen Stadtnamen +Cures verwandt und demnach des Quirinalhuegel von Cures aus bevoelkert worden +sei. Auch wenn die sprachliche Verwandtschaft jener Waerter sicher staende, +duerfte daraus der geschichtliche Folgesatz nicht hergeleitet werden. Dass die +alten Heiligtuemer auf diesem Berge - wo es uebrigens auch einen +“latiarischen Huegel” gab - sabinisch sind, hat man wohl behauptet, +aber nicht erwiesen. Mars quirinus, Sol, Salus, Flora, Semo Sancus oder Deus +fidius sind wohl sabinische, aber auch latinische Gottheiten, gebildet offenbar +in der Epoche, wo Latiner und Sabiner noch ungeschieden beisammen waren. Wenn +an den heiligen Staetten des spaeterhin zuruecktretenden Quirinal ein Name wie +der des Semo Sancus vorzugsweise haftet (vgl. die davon benannte porta +sanqualis), der uebrigens auch auf der Tiberinsel begegnet, so wird jeder +unbefangene Forscher darin nur einen Beweis fuer das hohe Alter dieser Kulte, +nicht fuer ihre Entlehnung aus dem Nachbarland erblicken. Die Moeglichkeit, +dass alte Stammgegensaetze dennoch hier mitgewirkt, soll damit nicht geleugnet +werden; aber wenn dies der Fall war, so sind sie fuer uns verschollen und die +unseren Zeitgenossen gelaeufigen Betrachtungen ueber das sabinische Element im +Roemerrum nur geeignet, vor dergleichen aus dem Leeren in das Leere fuehrenden +Studien ernstlich zu warnen. +</p> + +<p> +———————————————————————————— +</p> + +<p> +So standen an der Staette des roemischen Gemeinwesens zu dieser Zeit noch die +Bergroemer vom Palatin und die Huegelroemer vom Quirinal als zwei gesonderte +und ohne Zweifel vielfach sich befehdende Gemeinwesen einander gegenueber, +einigermassen wie im heutigen Rom die Montigiani und die Trasteverini. Dass die +Gemeinde der sieben Berge schon frueh die quirinalische bei weitem ueberwog, +ist mit Sicherheit zu schliessen sowohl aus der groesseren Ausdehnung ihrer +Neu- und Vorstaedte als auch aus der Zuruecksetzung, die die ehemaligen +Huegelroemer in der spaeteren Servianischen Ordnung sich durchaus haben muessen +gefallen lassen. Aber auch innerhalb der palatinischen Stadt ist es schwerlich +zu einer rechten und vollstaendigen Verschmelzung der verschiedenen +Bestandteile der Ansiedlung gekommen. Wie Subura und Palatin miteinander +jaehrlich um das Pferdehaupt stritten, ist schon erzaehlt worden; aber auch die +einzelnen Berge, ja die einzelnen Kurien - es gab noch keinen +gemeinschaftlichen Stadtherd, sondern die verschiedenen Kurienherde standen, +obwohl in derselben Lokalitaet, doch noch nebeneinander - moegen sich mehr +gesondert als geeinigt gefuehlt haben und das ganze Rom eher ein Inbegriff +staedtischer Ansiedlungen als eine einheitliche Stadt gewesen sein. Manchen +Spuren zufolge waren auch die Haeuser der alten und maechtigen Familien +gleichsam festungsartig angelegt und der Verteidigung faehig, also auch wohl +beduerftig. Erst der grossartige Wallbau, der dem Koenig Servius Tullius +zugeschrieben wird, hat nicht bloss jene beiden Staedte vom Palatin und +Quirinal, sondern auch noch die nicht in ihren Ringen einbegriffenen Anhoehen +des Kapitol und des Aventin mit einem einzigen grossen Mauerring umzogen und +somit das neue Rom, das Rom der Weltgeschichte, geschaffen. Aber ehe dieses +gewaltige Werk angegriffen ward, war Roms Stellung zu der umliegenden +Landschaft ohne Zweifel gaenzlich umgewandelt. Wie die Periode, in der der +Ackersmann auf den sieben Huegeln von Rom nicht anders als auf den andern +latinischen den Pflug fuehrte, und nur die in gewoehnlichen Zeiten +leerstehenden Zufluchtsstaetten auf einzelnen Spitzen einen Anfang festerer +Ansiedlung darboten, der aeltesten handel- und tatenlosen Epoche des +latinischen Stammes entspricht, wie dann spaeter die aufbluehende Ansiedlung +auf dem Palatin und in den “sieben Ringen” zusammenfaellt mit der +Besetzung der Tibermuendungen durch die roemische Gemeinde und ueberhaupt mit +dem Fortschritt der Latiner zu regerem und freierem Verkehr, zu staedtischer +Gesittung vor allem in Rom und wohl auch zu festerer politischer Einigung in +den Einzelstaaten wie in der Eidgenossenschaft, so haengt die Gruendung einer +einheitlichen Grossstadt, der Servianische Wall, zusammen mit jener Epoche, in +der die Stadt Rom um die Herrschaft ueber die latinische Eidgenossenschaft zu +ringen und endlich sie zu erringen vermochte. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap05"></a>KAPITEL V.<br/> +Die ursprüngliche Verfassung Roms</h2> + +<p> +Vater und Mutter, Soehne und Toechter, Hof und Wohnung, Knechte und Geraet - +das sind die natuerlichen Elemente, aus denen ueberall, wo nicht durch die +Polygamie die Mutter als solche verschwindet, das Hauswesen besteht. Darin aber +gehen die Voelker hoeherer Kulturfaehigkeit auseinander, dass diese +natuerlichen Gegensaetze flacher oder tiefer, mehr sittlich oder mehr rechtlich +aufgefasst und durchgearbeitet werden. Keines kommt dem roemischen gleich an +schlichter, aber unerbittlicher Durchfuehrung der von der Natur selbst +vorgezeichneten Rechtsverhaeltnisse. +</p> + +<p> +Die Familie, das heisst der durch den Tod seines Vaters in eigene Gewalt +gelangte freie Mann mit der feierlich ihm von den Priestern zu Gemeinschaft des +Wassers und des Feuers durch das heilige Salzmehl (durch Confarreatio) +angetrauten Ehefrau, mit ihren Soehnen und Sohnessoehnen und deren rechten +Frauen und ihren unverheirateten Toechtern und Sohnestoechtern nebst allem, +einem von diesen zukommenden Hab und Gut ist eine Einheit, von der dagegen die +Kinder der Toechter ausgeschlossen sind, da sie entweder, wenn sie ehelich +sind, der Familie des Mannes angehoeren, oder, wenn ausser der Ehe erzeugt, in +gar keiner Familie stehen. Eigenes Haus und Kindersegen erscheinen dem +roemischen Buerger als das Ziel und der Kern des Lebens. Der Tod ist kein +Uebel, denn er ist notwendig; aber das Aussterben des Hauses oder gar des +Geschlechts ist ein Unheil, selbst fuer die Gemeinde, welche darum in +fruehester Zeit dem Kinderlosen einen Rechtsweg eroeffnete, durch Annahme +fremder Kinder anstatt eigener diesem Verhaengnis auszuweichen. Von vornherein +trug die roemische Familie die Bedingungen hoeherer Kultur in sich in der +sittlich geordneten Stellung der Familienglieder zueinander. Familienhaupt kann +nur der Mann sein; die Frau ist zwar im Erwerb von Gut und Geld nicht hinter +dem Manne zurueckgesetzt, sondern es nimmt die Tochter gleichen Erbteil mit dem +Bruder, die Mutter gleichen Erbteil mit den Kindern, aber immer und notwendig +gehoert die Frau dem Hause, nicht der Gemeinde an, und ist auch im Hause +notwendig hausuntertaenig, die Tochter dem Vater, das Weib dem Manne ^1, die +vaterlose unverheiratete Frau ihren naechsten maennlichen Verwandten; diese +sind es und nicht der Koenig, von denen erforderlichenfalls die Frau +verrechtfertigt wird. Aber innerhalb des Hauses ist die Frau nicht Dienerin, +sondern Herrin. Befreit von den nach roemischen Vorstellungen dem Gesinde +zukommenden Arbeiten des Getreidemahlens und des Kochens, widmet die roemische +Hausmutter sich wesentlich nur der Beaufsichtigung der Maegde und daneben der +Spindel, die fuer die Frau ist, was fuer den Mann der Pflug ^2. Ebenso wurde +die sittliche Verpflichtung der Eltern gegen die Kinder von der roemischen +Nation voll und tief empfunden, und es galt als arger Frevel, wenn der Vater +das Kind vernachlaessigte oder verdarb oder auch nur zum Nachteil desselben +sein Vermoegen vergeudete. Aber rechtlich wird die Familie unbedingt geleitet +und gelenkt durch den einen allmaechtigen Willen des Hausvaters (pater +familias). Ihm gegenueber ist alles rechtlos, was innerhalb des Hauses steht, +der Stier und der Sklave, aber nicht minder Weib und Kind. Wie die Jungfrau +durch die freie Wahl des Mannes zu seiner Ehefrau wird, so steht auch das Kind, +das sie ihm geboren, aufzuziehen oder nicht, in seinem freien Willen. Es ist +nicht Gleichgueltigkeit gegen die Familie, welche diese Satzung eingegeben hat, +vielmehr wohnte die Ueberzeugung, dass Hausbegruendung und Kinderzeugung +sittliche Notwendigkeit und Buergerpflicht sei, tief und ernst im Bewusstsein +des roemischen Volkes. Vielleicht das einzige Beispiel einer in Rom von +Gemeinde wegen gewaehrten Unterstuetzung ist die Bestimmung, dass dem Vater, +welchem Drillinge geboren werden, eine Beihilfe gegeben werden soll; und wie +man ueber die Aussetzung dachte, zeigt die Untersagung derselben hinsichtlich +aller Soehne - mit Ausnahme der Missgeburten - und wenigstens der ersten +Tochter. Aber wie gemeinschaedlich auch die Aussetzung erscheinen mochte, die +Untersagung derselben verwandelte sich bald aus der rechtlichen Ahndung in +religioese Verwuenschung; denn vor allen Dingen war der Vater in seinem Hause +durchaus unbeschraenkt Herr. Der Hausvater haelt die Seinigen nicht bloss in +strengster Zucht, sondern er hat auch das Recht und die Pflicht, ueber sie die +richterliche Gewalt auszuueben und sie nach Ermessen an Leib und Leben zu +strafen. Der erwachsene Sohn kann einen gesonderten Hausstand begruenden oder, +wie die Roemer dies ausdruecken, sein “eigenes Vieh” (peculium) vom +Vater angewiesen erhalten; aber rechtlich bleibt aller Erwerb der Seinigen, mag +er durch eigene Arbeit oder durch fremde Gabe, im vaeterlichen oder im eigenen +Haushalte gewonnen sein, Eigentum des Vaters, und es kann, so lange der Vater +lebt, die untertaenige Person niemals eigenes Vermoegen haben, daher auch nicht +anders als im Auftrag des Vaters veraeussern und nie vererben. In dieser +Beziehung stehen Weib und Kind voellig auf gleicher Linie mit dem Sklaven, dem +die Fuehrung einer eigenen Haushaltung auch nicht selten verstattet ward, und +der mit Auftrag des Herrn gleichfalls befugt war zu veraeussern. Ja, der Vater +kann wie den Sklaven so auch den Sohn einem Dritten zum Eigentum uebertragen; +ist der Kaeufer ein Fremder, so wird der Sohn sein Knecht; ist er ein Roemer, +so wird der Sohn, da er als Roemer nicht Knecht eines Roemers werden kann, +seinem Kaeufer wenigstens an Knechtes Statt. Die vaeterliche und eheherrliche +Gewalt unterlag insofern einer Rechtsbeschraenkung ausser der schon erwaehnten +des Aussetzungsrechts, als einige der aergsten Missbraeuche mit rechtlicher +Ahndung wie mit dem religioesen Bannfluch belegt wurden; so trafen diese den, +der seine Ehefrau oder den verheirateten Sohn verkauft; und durch die +Familiensitte ward es durchgesetzt, dass bei der Ausuebung der haeuslichen +Gerichtsbarkeit der Vater und mehr noch der Ehemann den Spruch ueber Kind und +Frau nicht faellte, ohne vorher die naechsten Blutsverwandten, sowohl die +seinigen wie die der Frau, zugezogen zu haben. Aber eine rechtliche Minderung +der Gewalt lag in der letzteren Einrichtung nicht; denn die bei dem Hausgericht +zugezogenen Blutsverwandten hatten nicht zu richten, sondern nur den richtenden +Hausvater zu beraten. Es ist die hausherrliche Macht aber nicht bloss +wesentlich unbeschraenkt und keinem auf der Erde verantwortlich, sondern auch, +so lange der Hausherr lebt, unabaenderlich und unzerstoerlich. Nach den +griechischen wie nach den deutschen Rechten ist der erwachsene, tatsaechlich +selbstaendige Sohn auch rechtlich von dem Vater frei; die Macht des roemischen +Hausvaters vermag bei dessen Lebzeiten nicht das Alter, nicht der Wahnsinn +desselben, ja nicht einmal sein eigener freier Wille aufzuheben, nur dass die +Person des Gewalthabers wechseln kann: denn allerdings kann das Kind im Wege +der Adoption in eines andern Vaters Gewalt kommen, die Tochter durch eine +rechte Ehe aus der Hand des Vaters uebergehen in die Hand des Mannes und, aus +ihrem Geschlecht und Gottesschutz in das Geschlecht und den Gottesschutz des +Mannes eintretend, ihm nun untertan werden, wie sie bisher es ihrem Vater war. +Nach roemischem Recht ist es dem Knechte leichter gemacht, sich von dem Herrn, +als dem Sohne, sich von dem Vater zu loesen; die Freilassung des ersteren ward +frueh und in einfachen Formen gestattet, die Freigebung des letzteren wurde +erst viel spaeter und auf weiten Umwegen moeglich gemacht. Ja, wenn der Herr +den Knecht und der Vater den Sohn verkauft und der Kaeufer beide freigibt, so +erlangt der Knecht die Freiheit, der Sohn aber faellt durch die Freilassung +vielmehr zurueck in die fruehere vaeterliche Gewalt. So ward durch die +unerbittliche Konsequenz, mit der die vaeterliche und eheherrliche Gewalt von +den Roemern aufgefasst wurde, dieselbe in wahres Eigentumsrecht umgewandelt. +Indes, bei aller Annaeherung der hausherrlichen Gewalt ueber Weib und Kind an +die Eigentumsgewalt ueber Sklaven und Vieh blieben dennoch die Glieder der +Familie von der Familienhabe nicht bloss tatsaechlich, sondern auch rechtlich +aufs schaerfste getrennt. Die hausherrliche Gewalt, auch abgesehen davon, dass +sie nur innerhalb des Hauses sich wirksam erzeigt, ist voruebergehender und +gewissermassen stellvertretender Art. Weib und Kind sind nicht bloss um des +Hausvaters willen da, wie das Eigentum nur fuer den Eigentuemer, wie in dem +absoluten Staat die Untertanen nur fuer den Koenig vorhanden sind; sie sind +wohl auch Gegenstand des Rechts, aber doch zugleich eigenberechtigt, nicht +Sachen, sondern Personen. Ihre Rechte ruhen nur der Ausuebung nach, weil die +Einheit des Hauses im Regiment einen einheitlichen Repraesentanten erfordert; +wenn aber der Hausherr stirbt, so treten die Soehne von selbst als Hausherren +ein und erlangen nun ihrerseits ueber die Frauen und Kinder und das Vermoegen +die bisher vom Vater ueber sie geuebten Rechte, wogegen durch den Tod des Herrn +die rechtliche Stellung des Knechtes in nichts sich aendert. +</p> + +<p> +—————————————————————————- +</p> + +<p> +^1 Es gilt dies nicht bloss von der alten religioesen Ehe (matrimonium +confarreatione), sondern auch die Zivilehe (matrimonium consensu) gab zwar +nicht an sich dem Manne Eigentumsgewalt ueber die Frau, aber es wurden doch die +Rechtsbegriffe der foermlichen Tradition (coemptio) und der Verjaehrung (usus) +ohne weiteres auf dieselbe angewandt und dadurch dem Ehemann der Weg geoeffnet, +Eigentumsgewalt ueber die Frau zu gewinnen. Bis er sie gewann, also namentlich +in der bis zur Vollendung der Verjaehrung verfliessenden Zeit, war das Weib, +ganz wie bei der spaeteren Ehe mit causae probatio bis zu dieser, nicht uxor, +sondern pro uxore; bis in die Zeit der ausgebildeten Rechtswissenschaft erhielt +sich dieser Satz, dass die nicht in der Gewalt des Mannes stehende Frau nicht +Ehefrau sei, sondern nur dafuer gelte (uxor tantummodo habetur. Cic. top. 3, +14). +</p> + +<p> +^2 Die folgende Grabschrift, obwohl einer viel spaeteren Zeit angehoerig, ist +nicht unwert, hier zu stehen. Es ist der Stein, der spricht. +</p> + +<p> +Kurz, Wandrer ist mein Spruch: halt’ an und lies ihn durch. +</p> + +<p> +Es deckt der schlechte Grabstein eine schoene Frau. +</p> + +<p> +Mit Namen nannten Claudia die Eltern sie; +</p> + +<p> +Mit eigner Liebe liebte sie den eignen Mann; +</p> + +<p> +Zwei Soehne gebar sie; einen liess auf Erden sie +</p> + +<p> +Zurueck, den andern barg sie in der Erde Schoss. +</p> + +<p> +Sie war von artiger Rede und von edlem Gang, +</p> + +<p> +Versah ihr Haus und spann. Ich bin zu Ende, geh. +</p> + +<p> +Vielleicht noch bezeichnender ist die Auffuehrung des Wollspinnens unter lauter +sittlichen Eigenschaften, die in roemischen Grabschriften nicht ganz selten +ist. Orelli 4639: optima et pulcherrima, lanifica pia pudica frugi casta +domiseda. Orelli 4860: modestia probitate pudicitia obsequio lanificzo +diligentia fide par similisque cetereis probeis feminis fuit. Grabschrift der +Turia 1, 30: domestica bona pudicitiae, obsequi, comitatis, facilitatis, +lanificiis [tuis adsiduitatis, religionis] sine superstitione, ornatus non +conspiciendi, cultus modici. +</p> + +<p> +—————————————————— +</p> + +<p> +Indes war die Einheit der Familie so maechtig, dass selbst der Tod des +Hausherrn sie nicht vollstaendig loeste. Die durch denselben selbstaendig +gewordenen Deszendenten betrachten dennoch in mancher Hinsicht sich noch als +eine Einheit, wovon bei der Erbfolge und in vielen anderen Beziehungen Gebrauch +gemacht wird, vor allen Dingen aber, um die Stellung der Witwe und der +unverheirateten Toechter zu ordnen. Da nach aelterer roemischer Ansicht das +Weib nicht faehig ist, weder ueber andere noch ueber sich die Gewalt zu haben, +so bleibt die Gewalt ueber sie oder, wie sie mit milderem Ausdruck heisst, die +Hut (tutela), bei dem Hause, dem sie angehoert, und wird statt des verstorbenen +Hausherrn jetzt ausgeuebt durch die Gesamtheit der naechsten maennlichen +Familienglieder, regelmaessig also ueber die Muetter durch die Soehne, ueber +die Schwestern durch die Brueder. In diesem Sinne dauerte die einmal +gegruendete Familie unveraendert fort, bis der Mannesstamm ihres Urhebers +ausstarb; nur musste freilich von Generation zu Generation faktisch das Band +sich lockern und zuletzt selbst die Moeglichkeit des Nachweises der +urspruenglichen Einheit verschwinden. Hierauf, und hierauf allein, beruht der +Unterschied der Familie und des Geschlechts, oder, nach roemischem Ausdruck, +der Agnaten und der Gentilen. Beide bezeichnen den Mannesstamm; die Familie +aber umfasst nur diejenigen Individuen, welche von Generation zu Generation +aufsteigend den Grad ihrer Abstammung von einem gemeinschaftlichen Stammherrn +dartun koennen, das Geschlecht dagegen auch diejenigen, welche bloss die +Abstammung selbst von einem gemeinschaftlichen Ahnherrn, aber nicht mehr +vollstaendig die Zwischenglieder, also nicht den Grad, nachzuweisen vermoegen. +Sehr klar spricht sich das in den roemischen Namen aus, wenn es heisst: +“Quintus, Sohn des Quintus, Enkel des Quintus und so weiter, der +Quintier”, so reicht die Familie so weit, als die Aszendenten individuell +bezeichnet werden, und wo sie endlich aufhoert, tritt ergaenzend ein das +Geschlecht, die Abstammung von dem gemeinschaftlichen Urahn, der auf alle seine +Nachkommen den Namen der Quintuskinder vererbt hat. +</p> + +<p> +Diesen streng geschlossenen, unter der Gewalt eines lebenden Herrn vereinigten +oder aus der Aufloesung solcher Haeuser hervorgegangenen Familien- und +Geschlechtseinheiten gehoerten ausserdem noch an zwar nicht die Gaeste, das +sind die Glieder anderer gleichartiger Kreise, welche voruebergehend in einem +fremden Hause verweilen, und ebensowenig die Sklaven, welche rechtlich nur als +Habe, nicht als Glieder des Hauses angesehen werden, aber wohl die Hoerigen +(clientes, von cluere), das heisst diejenigen Individuen, die, ohne freie +Buerger irgendeines Gemeinwesens zu sein, doch in einem solchen im Zustande +geschuetzter Freiheit sich befanden. Dahin gehoerten teils die landfluechtigen +Leute, die bei einem fremden Schutzherrn Aufnahme gefunden hatten, teils +diejenigen Knechte, denen gegenueber der Herr auf den Gebrauch seiner +Herrenrechte vorlaeufig verzichtet, ihnen die tatsaechliche Freiheit geschenkt +hatte. Es war dies Verhaeltnis in seiner Eigentuemlichkeit nicht ein streng +rechtliches wie das zu dem Gast; der Hoerige blieb ein unfreier Mann, fuer den +Treuwort und Herkommen die Unfreiheit milderte. Darum bilden die +“Hoerigen” (clientes) des Hauses in Verbindung mit den eigentlichen +Knechten die von dem Willen des “Buergers” (patronus, wie +patricius) abhaengige “Knechtschaft” (familia); darum ist nach +urspruenglichem Recht der Buerger befugt, das Vermoegen des Klienten teilweise +oder ganz wieder an sich zu ziehen, ihn vorkommenden Falls in die Sklaverei +zurueckzuversetzen, ja ihn am Leben zu strafen; und es sind nur tatsaechliche +Verschiedenheiten, wenn gegen den Klienten nicht so leicht wie gegen den +wirklichen Knecht die volle Schaerfe dieses hausherrlichen Rechtes +hervorgekehrt wird und wenn auf der andern Seite die sittliche Verpflichtung +des Herrn, fuer seine eigenen Leute zu sorgen und sie zu vertreten, bei dem +tatsaechlich freier gestellten Klienten groessere Bedeutung gewinnt als bei dem +Sklaven. Ganz besonders musste die faktische Freiheit des Klienten der +rechtlichen da sich naehern, wo das Verhaeltnis durch mehrere Generationen +hindurchgegangen war: wenn der Freilasser und der Freigelassene selber +gestorben waren, konnte das Herrenrecht ueber die Nachkommen des Freigelassenen +von den Rechtsnachfolgern des Freilassers nicht ohne schreiende Impietaet in +Anspruch genommen werden. Also bildete schon in dem Hause selbst sich ein Kreis +abhaengig freier Leute, die von den Knechten sich ebenso unterschieden wie von +den gleichberechtigten Geschlechtsgenossen. +</p> + +<p> +Auf diesem roemischen Hause beruht der roemische Staat sowohl den Elementen als +der Form nach. Die Volksgemeinde entstand aus der wie immer erfolgten +Zusammenfuegung jener alten Geschlechtsgenossenschaften der Romilier, +Voltinier, Fabier und so ferner, das roemische Gebiet aus den vereinigten +Marken dieser Geschlechter; roemischer Buerger war, wer einem jener +Geschlechter angehoerte. Jede innerhalb des Kreises in den ueblichen Formen +abgeschlossene Ehe galt als echte roemische und begruendete fuer die Kinder das +Buergerrecht; wer in unrechter oder ausser der Ehe erzeugt war, war aus dem +Gemeindeverband ausgeschlossen. Deshalb nannten die roemischen Buerger sich die +“Vaterkinder” (patricii), insofern nur sie rechtlich einen Vater +hatten. Die Geschlechter wurden mit allen in ihnen zusammengeschobenen Familien +dem Staat, wie sie bestanden, einverleibt. Die haeuslichen und +Geschlechterkreise blieben innerhalb des Staates bestehen; allein dem Staate +gegenueber galt die Stellung in denselben nicht, so dass der Haussohn im Hause +unter, aber in politischen Pflichten und Rechten neben dem Vater stand. Die +Stellung der Schutzbefohlenen aenderte sich natuerlich dahin, dass die +Freigelassenen und die Klienten eines jeden Schutzherrn um seinetwillen in der +ganzen Gemeinde geduldet wurden; zwar blieben sie zunaechst angewiesen auf den +Schutz derjenigen Familie, der sie angehoerten, aber es lag doch auch in der +Sache, dass von dem Gottesdienst und den Festlichkeiten der Gemeinde die +Schutzbefohlenen der Gemeindeglieder nicht gaenzlich ausgeschlossen werden +konnten, wenn auch die eigentlichen buergerlichen Rechte wie die eigentlichen +buergerlichen Lasten selbstverstaendlich dieselben nicht trafen. Um so mehr +galt dies von den Schutzbefohlenen der Gesamtschaft. So bestand der Staat wie +das Haus aus den eigenen und den zugewandten Leuten, den Buergern und den +Insassen. +</p> + +<p> +Wie die Elemente des Staates die auf der Familie ruhenden Geschlechter sind, so +ist auch die Form der Staatsgemeinschaft im einzelnen wie im ganzen der Familie +nachgebildet. Dem Hause gibt die Natur selbst den Vater, mit dem dasselbe +entsteht und vergeht. In der Volksgemeinde aber, die unvergaenglich bestehen +soll, findet sich kein natuerlicher Herr, wenigstens in der roemischen nicht, +die aus freien und gleichen Bauern bestand und keines Adels von Gottes Gnaden +sich zu ruehmen vermochte. Darum wird einer aus ihrer Mitte ihr Leiter (rex) +und Herr im Hause der roemischen Gemeinde, wie denn auch in spaeterer Zeit in +oder neben seiner Wohnung der ewig flammende Herd und die wohlversperrte +Vorratskammer der Gemeinde, die roemische Vesta und die roemischen Penaten zu +finden sind - sie alle die sichtbare Einheit des obersten Hauses darstellend, +das ganz Rom einschloss. Das Koenigsamt beginnt, wenn das Amt erledigt und der +Nachfolger bezeichnet ist, sofort und von Rechts wegen; aber vollen Gehorsam +ist die Gemeinde dem Koenig erst schuldig, wenn er die Versammlung der +waffenfaehigen Freien zusammenberufen und sie foermlich in Pflicht genommen +hat. Alsdann hat er ganz die Macht in der Gemeinde, die im Hause dem Hausvater +zukommt, und herrscht wie dieser auf Lebenszeit. Er verkehrt mit den Goettern +der Gemeinde, die er befragt und befriedigt (auspicia publica), und ernennt +alle Priester und Priesterinnen. Die Vertraege, die er abschliesst im Namen der +Gemeinde mit Fremden, sind verpflichtend fuer das ganze Volk, obwohl sonst kein +Gemeindeglied durch einen Vertrag mit dem Nichtmitglied der Gemeinschaft +gebunden wird. Sein Gebot (imperium) ist allmaechtig im Frieden wie im Kriege, +weshalb die Boten (lictores, von licere laden) mit Beilen und Ruten ihm +ueberall voranschreiten, wo er in amtlicher Funktion auftritt. Er allein hat +das Recht, oeffentlich zu den Buergern zu reden, und er ist es, der die +Schluessel zu dem Gemeindeschatz fuehrt. Ihm steht wie dem Vater das +Zuechtigungsrecht und die Gerichtsbarkeit zu. Er erkennt Ordnungsstrafen, +namentlich Stockschlaege wegen Versehen im Kriegsdienst. Er sitzt zu Gericht in +allen privaten und kriminellen Rechtshaendeln und entscheidet unbedingt ueber +Leben und Tod wie ueber die Freiheit, so dass er dem Buerger den Mitbuerger an +Knechtes Statt zusprechen oder auch den Verkauf desselben in die wirkliche +Sklaverei, also ins Ausland anordnen kann; der Berufung an das Volk um +Begnadigung nach gefaelltem Bluturteil stattzugeben, ist er berechtigt, jedoch +nicht verpflichtet. Er bietet das Volk zum Kriege auf und er befehligt das +Heer; nicht minder aber muss er bei Feuerlaerm persoenlich auf der Brandstelle +erscheinen. Wie der Hausherr im Hause nicht der Maechtigste ist, sondern der +allein Maechtige, so ist auch der Koenig nicht der erste, sondern der einzige +Machthaber im Staate; er mag aus den der heiligen oder der Gemeindesatzungen +besonders kundigen Maennern Sachverstaendigenvereine bilden und deren Rat +einfordern; er mag, um sich die Uebung der Gewalt zu erleichtern, einzelne +Befugnisse andern uebertragen, die Mitteilungen an die Buergerschaft, den +Befehl im Kriege, die Entscheidung der minder wichtigen Prozesse, die +Aufspuerung der Verbrechen; er mag namentlich, wenn er den Stadtbezirk zu +verlassen genoetigt ist, einen Stadtvogt (praefectus urbi) mit der vollen +Gewalt eines Stellvertreters daselbst zuruecklassen; aber jede Amtsgewalt neben +der koeniglichen ist aus dieser abgeleitet und jeder Beamte nur durch den +Koenig und so lange dieser will im Amt. Alle Beamten der aeltesten Zeit, der +ausserordentliche Stadtvogt sowohl wie die Abteilungsfuehrer (tribuni, von +tribus Teil) des Fussvolks (milites) und der Reiterei (celeres), sind nichts +als Beauftragte des Koenigs und keineswegs Magistrate im spaeteren Sinn. Eine +aeussere rechtliche Schranke hat die Koenigsgewalt nicht und kann sie nicht +haben; fuer den Herrn der Gemeinde gibt es so wenig einen Richter innerhalb der +Gemeinde wie fuer den Hausherrn innerhalb des Hauses. Nur der Tod beendigt +seine Macht. Die Wahl des neuen Koenigs steht bei dem Rat der Alten, auf den im +Fall der Vakanz das “Zwischenkoenigtum” (interregnum) uebergeht. +Eine formelle Mitwirkung bei der Koenigswahl kommt der Buergerschaft erst nach +der Ernennung zu; rechtlich ruht das Koenigtum auf dem dauernden Kollegium der +Vaeter (patres), das durch den interimistischen Traeger der Gewalt den neuen +Koenig auf Lebenszeit einsetzt. Also wird “der hohe Goettersegen, unter +dem die beruehmte Roma gegruendet ist”, von dem ersten koeniglichen +Empfaenger in stetiger Folge auf die Nachfolger uebertragen und die Einheit des +Staats trotz des Personenwechsels der Machthaber unveraenderlich bewahrt. Diese +Einheit des roemischen Volkes, die im religioesen Gebiet der roemische Diovis +darstellt, repraesentiert rechtlich der Fuerst, und darum ist auch seine Tracht +die des hoechsten Gottes; der Wagen selbst in der Stadt, wo sonst jedermann zu +Fuss geht, der Elfenbeinstab mit dem Adler, die rote Gesichtsschminke, der +goldene Eichenkranz kommen dem roemischen Gott wie dem roemischen Koenig in +gleicher Weise zu. Aber man wuerde sehr irren, darum aus der roemischen +Verfassung eine Theokratie zu machen; nie sind den Italienern die Begriffe Gott +und Koenig in aegyptischer und orientalischer Weise ineinander verschwommen. +Nicht der Gott des Volkes ist der Koenig, sondern viel eher der Eigentuemer des +Staats. Darum weiss man auch nichts von besonderer goettlicher Begnadigung +eines Geschlechts oder von irgendeinem geheimnisvollen Zauber, danach der +Koenig von anderem Stoff waere als andere Menschen; die edle Abkunft, die +Verwandtschaft mit frueheren Regenten ist eine Empfehlung, aber keine +Bedingung; vielmehr kann rechtlich jeder zu seinen Jahren gekommene und an +Geist und Leib gesunde roemische Mann zum Koenigtum gelangen ^3. Der Koenig ist +also eben nur ein gewoehnlicher Buerger, den Verdienst oder Glueck, vor allem +aber die Notwendigkeit, dass einer Herr sein muesse in jedem Hause, zum Herrn +gesetzt haben ueber seinesgleichen, den Bauer ueber Bauern, den Krieger ueber +Krieger. Wie der Sohn dem Vater unbedingt gehorcht und doch sich nicht geringer +achtet als den Vater, so unterwirft sich der Buerger dem Gebieter, ohne ihn +gerade fuer seinen Besseren zu halten. Darin liegt die sittliche und faktische +Begrenzung der Koenigsgewalt. Der Koenig konnte zwar, auch ohne gerade das +Landrecht zu brechen, viel Unbilliges tun; er konnte den Mitstreitern ihren +Anteil an der Beute schmaelern, er konnte uebermaessige Fronden auflegen oder +sonst durch Auflagen unbillig eingreifen in das Eigentum des Buergers; aber +wenn er es tat, so vergass er, dass seine Machtfuelle nicht von Gott kam, +sondern unter Gottes Zustimmung von dem Volke, das er vertrat, und wer +schuetzte ihn, wenn dieses wieder des Eides vergass, den es ihm geschworen? Die +rechtliche Beschraenkung aber der Koenigsgewalt lag darin, dass er das Gesetz +nur zu ueben, nicht zu aendern befugt war, jede Abweichung vom Gesetze vielmehr +entweder von der Volksversammlung und dem Rat der Alten zuvor gutgeheissen sein +musste oder ein nichtiger und tyrannischer Akt war, dem rechtliche Folgen nicht +entsprangen. So ist sittlich und rechtlich die roemische Koenigsgewalt im +tiefsten Grunde verschieden von der heutigen Souveraenitaet und ueberhaupt im +modernen Leben so wenig vom roemischen Hause wie vom roemischen Staat ein +entsprechendes Abbild vorhanden. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^3 Dass Lahmheit vom hoechsten Amte ausschloss, sagt Dionys. Dass das roemische +Buergertum Bedingung wie des Konsuls so auch des Koenigtums war, versteht sich +so sehr von selbst, dass es kaum der Muehe wert ist, die Fabeleien ueber den +Buerger von Cures noch ausdruecklich abzuweisen. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Die Einteilung der Buergerschaft ruht auf der Pflegschaft, der curia (wohl mit +curare = coerare, κοίρανος verwandt); zehn Pflegschaften bilden die Gemeinde; +jede Pflegschaft stellt hundert Mann zum Fussheer (daher mil-es, wie equ-es, +der Tausendgaenger), zehn Reiter und zehn Ratmaenner. Bei kombinierten +Gemeinden erscheint eine jede derselben natuerlich als Teil (tribus) der ganzen +Gemeinde (tota umbrisch und oskisch) und vervielfaeltigt sich die Grundzahl mit +der Zahl der Teile. Diese Einteilung bezog sich zwar zunaechst auf den +Personalbestand der Buergerschaft, ward aber ebenso auch angewandt auf die +Feldmark, soweit diese ueberhaupt aufgeteilt war. Dass es nicht bloss Teil-, +sondern auch Kurienmarken gab, kann um so weniger bezweifelt werden, als unter +den wenigen ueberlieferten roemischen Kuriennamen neben anscheinend +gentilizischen, wie zum Beispiel Faucia, auch sicher oertliche, zum Beispiel +Veliensis, vorkommen; eine jede derselben umfasste in dieser aeltesten Zeit der +Feldgemeinschaft eine Anzahl der Geschlechtsmarken, von denen schon die Rede +war. +</p> + +<p> +In ihrer einfachsten Gestalt ^4 begegnet diese Verfassung in dem Schema der +spaeterhin unter roemischem Einfluss entstandenen latinischen oder +Buergergemeinden; durchgaengig zaehlten dieselben hundert Ratmaenner +(centumviri). Aber auch in der aeltesten Tradition ueber das dreiteilige Rom, +welche demselben dreissig Kurien, dreihundert Reiter, dreihundert Senatoren; +dreitausend Fusssoldaten beilegt, treten durchgaengig dieselben Normalzahlen +hervor. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +^4 Selbst in Rom, wo die einfache Zehnkurienverfassung sonst frueh verschwunden +ist, findet sich noch eine praktische Anwendung derselben, und merkwuerdig +genug eben bei demjenigen Formalakt, den wir auch sonst Grund haben, unter +allen deren unsere Rechtsueberlieferung gedenkt fuer den aeltesten zuhalten, +bei der Confarreatio. Es scheint kaum zweifelhaft, dass deren zehn Zeugen +dasselbe in der Zehnkurien-, was die dreissig Liktoren in der +Dreissigkurienverfassung sind. +</p> + +<p> +—————————————————————- +</p> + +<p> +Nichts ist gewisser, als dass dieses aelteste Verfassungsschema nicht in Rom +entstanden, sondern uraltes, allen Latinern gemeinsames Recht ist, vielleicht +sogar ueber die Trennung der Staemme zurueckreicht. Die in solchen Dingen sehr +glaubwuerdige roemische Verfassungstradition, die fuer alle uebrigen +Einteilungen der Buergerschaft eine Geschichte hat, laesst einzig die +Kurieneinteilung entstehen mit der Entstehung der Stadt; und damit im vollsten +Einklang erscheint die Kurienverfassung nicht bloss in Rom, sondern tritt in +dem neuerlich aufgefundenen Schema der latinischen Gemeindeordnungen auf als +wesentlicher Teil des latinischen Stadtrechts ueberhaupt. +</p> + +<p> +Der Kern dieses Schemas war und blieb die Gliederung in Kurien. Die +“Teile” koennen schon deshalb kein wesentliches Moment gewesen +sein, weil ihr Vorkommen ueberhaupt wie nicht minder ihre Zahl zufaellig ist; +wo es deren gab, kam ihnen sicher keine andere Bedeutung zu, als dass das +Andenken an eine Epoche, wo diese Teile selber Ganze gewesen waren, sich in +ihnen bewahrte ^5. Es ist nirgends ueberliefert, dass der einzelne Teil einen +Sondervorstand und Sonderzusammenkuenfte gehabt habe; und die grosse +Wahrscheinlichkeit spricht dafuer, dass im Interesse der Einheit des +Gemeinwesens den Teilen, aus denen es zusammengeschmolzen war, dergleichen in +der Tat nie verstattet worden sind. Selbst im Heere zaehlte das Fussvolk zwar +soviel Anfuehrerpaare, als es Teile gab; aber es befehligte nicht jedes dieser +Kriegstribunenpaare das Kontingent einer Tribus, sondern sowohl jeder einzelne +Kriegstribun wie alle zusammen geboten ueber das gesamte Fussheer. Die +Geschlechter sind unter die einzelnen Kurien verteilt, die Grenzen derselben +wie die des Hauses durch die Natur gegeben. Darauf, dass die gesetzgebende +Gewalt modifizierend in diese Kreise eingegriffen hat, das grosse Geschlecht in +Zweige gespalten und es als doppeltes gezaehlt oder mehrere schwache +zusammengeschlagen, fuehrt in der roemischen Ueberlieferung schlechterdings +keine Spur; auf jeden Fall ist dies nur in so beschraenkter Weise geschehen, +dass der verwandtschaftliche Grundcharakter des Geschlechtes dadurch nicht +veraendert worden ist. Es wird darum weder die Zahl der Geschlechter, noch viel +weniger die der Haeuser gedacht werden duerfen als rechtlich fixiert; wenn die +Kurie hundert Mann zu Fuss und zehn Reiter zu stellen hatte, so ist es weder +ueberliefert noch glaublich, dass man aus jedem Geschlecht einen Reiter und aus +jedem Hause einen Fussgaenger genommen hat. Das einzig funktionierende Glied in +dem aeltesten Verfassungsorganismus ist die Kurie, deren es zehn, oder wo +mehrere Teile waren, je zehn auf jeden Teil gab. Eine solche Pflegschaft war +eine wirkliche korporative Einheit, deren Mitglieder wenigstens zu gemeinsamen +Festen sich versammelten, die auch jede unter einem besonderen Pfleger (curio) +standen und einen eigenen Priester (flamen curialis) hatten; ohne Zweifel wurde +auch nach Kurien ausgehoben und geschaetzt, und im Ding trat die Buergerschaft +nach Kurien zusammen und stimmte nach Kurien ab. Indes kann diese Ordnung nicht +zunaechst der Abstimmung wegen eingefuehrt sein, da man sonst sicherlich die +Zahl der Abteilungen ungerade gemacht haben wuerde. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +^5 Es liegt dies schon im Namen. Der “Teil” ist, wie der Jurist +weiss, nichts als ein ehemaliges oder auch ein kuenftiges Ganze, also in der +Gegenwart ohne alle Realitaet. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +So schroff der Buerger dem Nichtbuerger gegenueberstand, so vollkommen war +innerhalb der Buergerschaft die Rechtsgleichheit. Vielleicht gibt es kein Volk, +das in unerbittlich strenger Durchfuehrung des einen wie des andern Satzes es +den Roemern jemals gleichgetan hat. Die Schaerfe des Gegensatzes zwischen +Buergern und Nichtbuergern bei den Roemern tritt vielleicht nirgends mit +solcher Deutlichkeit hervor wie in der Behandlung der uralten Institution des +Ehrenbuergerrechts, welches urspruenglich bestimmt war, diesen Gegensatz zu +vermitteln. Wenn ein Fremder durch Gemeindebeschluss in den Kreis der Buerger +hineingenommen ward, so konnte er zwar sein bisheriges Buergerrecht aufgeben, +wo er dann voellig in die neue Gemeinschaft uebertrat, aber auch jenes mit dem +ihm neu gewaehrten verbinden. So war es aelteste Sitte und so ist es in Hellas +immer geblieben, wo auch spaeterhin nicht selten derselbe Mann in mehreren +Gemeinden gleichzeitig verbuergert war. Allein das lebendiger entwickelte +Gemeindegefuehl Latiums duldete es nicht, dass man zweien Gemeinden zugleich +als Buerger angehoeren koenne, und liess fuer den Fall, wo der neugewaehlte +Buerger nicht die Absicht hatte, sein bisheriges Gemeinderecht aufzugeben, dem +nominellen Ehrenbuergerrecht nur die Bedeutung der gastrechtlichen Freundschaft +und Schutzverpflichtung, wie sie auch Auslaendern gegenueber von jeher +vorgekommen war. +</p> + +<p> +Aber mit dieser strengen Einhaltung der Schranken gegen aussen ging Hand in +Hand, dass aus dem Kreise der roemischen Buergergemeinde jede +Rechtsverschiedenheit der Glieder unbedingt ferngehalten wurde. Dass die +innerhalb des Hauses bestehenden Unterschiede, welche freilich nicht beseitigt +werden konnten, innerhalb der Gemeinde wenigstens ignoriert wurden, wurde +bereits erwaehnt; derselbe, der als Sohn dem Vater zu eigen untergeben war, +konnte also als Buerger in den Fall kommen ihm als Herr zu gebieten. +Standesvorzuege aber gab es nicht; dass die Titier den Ramnern, beide den +Lucerern in der Reihe vorangingen, tat ihrer rechtlichen Gleichstellung keinen +Eintrag. Die Buergerreiterei, welche in dieser Zeit zum Einzelgefecht vor der +Linie zu Pferd oder auch zu Fuss verwandt ward und mehr eine Eliten- oder +Reservetruppe als eine Spezialwaffe war, also durchaus die wohlhabendste, +bestgeruestete und bestgeuebte Mannschaft in sich schloss, war natuerlich +angesehener als das Buergerfussvolk; aber auch dieser Gegensatz war rein +tatsaechlicher Art und der Eintritt in die Reiterei ohne Zweifel jedem +Patrizier gestattet. Es war einzig und allein die verfassungsmaessige +Gliederung der Buergerschaft, welche rechtliche Unterschiede hervorrief; im +uebrigen war die rechtliche Gleichheit aller Gemeindeglieder selbst in der +aeusserlichen Erscheinung durchgefuehrt. Die Tracht zeichnete wohl den +Vorsteher der Gemeinde vor den Gliedern derselben, den erwachsenen +dienstpflichtigen Mann vor dem noch nicht heerbannfaehigen Knaben aus; +uebrigens aber durfte der Reiche und Vornehme wie der Arme und Niedriggeborene +oeffentlich nur erscheinen in dem gleichen einfachen Umwurf (toga) von weissem +Wollenstoff. Diese vollkommene Rechtsgleichheit der Buerger ist ohne Zweifel +urspruenglich begruendet in der indogermanischen Gemeindeverfassung, aber in +dieser Schaerfe der Auffassung und Durchfuehrung doch eine der bezeichnendsten +und der folgenreichsten Eigentuemlichkeiten der latinischen Nation; und wohl +mag man dabei sich erinnern, dass in Italien keine den latinischen Einwanderern +botmaessig gewordene Rasse aelterer Ansiedlung und geringerer Kulturfaehigkeit +begegnet und damit die hauptsaechliche Gelegenheit mangelte, woran das indische +Kastenwesen, der spartanische und thessalische und wohl ueberhaupt der +hellenische Adel und vermutlich auch die deutsche Staendescheidung angeknuepft +hat. +</p> + +<p> +Dass der Staatshaushalt auf der Buergerschaft ruht, versteht sich von selbst. +Die wichtigste Buergerleistung war der Heerdienst; denn nur die Buergerschaft +hatte das Recht und die Pflicht die Waffen zu tragen. Die Buerger sind zugleich +die “Kriegerschaft” (populus, verwandt mit populari verheeren); in +den alten Litaneien ist es die “speerbewehrte Kriegsmannschaft” +(pilumnus poplus), auf die der Segen des Mars herabgefleht wird und selbst die +Benennung, mit welcher der Koenig sie anredet, der Quiriten ^6, wird als +Bezeichnung des Wehrmanns gefasst. In welcher Art das Angriffsheer, die +“Lese” (legio) gebildet ward, ist schon gesagt worden; in der +dreiteiligen roemischen Gemeinde bestand sie aus drei Hundertschaften +(centuriae) der Reiter (celeres, die Schnellen oder flexuntes, die Schwenker) +unter den drei Abteilungsfuehrern der Reiter (tribuni celerum) ^7 und drei +Tausendschaften der Fussgaenger (milites) unter den drei Abteilungsfuehrern des +Fussvolks (tribuni militum); letzteres war vermutlich von Haus aus der Kern des +Gemeindeaufgebots. Dazu moegen etwa noch eine Anzahl ausser Reihe und Glied +fechtende Leichtbewaffnete, besonders Bogenschuetzen gekommen sein ^8. Der +Feldherr war regelmaessig der Koenig selbst. Ausser dem Kriegsdienst konnten +noch andere persoenliche Lasten den Buerger treffen, wie die Pflicht zur +Uebernahme der koeniglichen Auftraege im Kriege wie im Frieden (I, 78) und die +Fronden zur Bestellung der Aecker oder zur Anlage oeffentlicher Bauten; wie +schwer namentlich der Bau der Stadtmauer auf der Gemeinde lastete, zeigt, dass +der Name der “Fronden” (moenia) den Ringwaellen verblieb. Eine +regelmaessige direkte Besteuerung dagegen kam ebensowenig vor wie direkte +regelmaessige Staatsausgaben. Zur Bestreitung der Gemeindelasten bedurfte es +derselben nicht, da der Staat fuer Heerfolge, Fronde und ueberhaupt +oeffentliche Dienste keine Entschaedigung gewaehrte, sondern, soweit eine +solche ueberhaupt vorkam, sie dem Dienenden entweder von dem Bezirk geleistet +ward, den zunaechst die Auflage traf, oder auch von dem, der selber nicht +dienen konnte oder wollte. Die fuer den oeffentlichen Gottesdienst noetigen +Opfertiere wurden durch eine Prozesssteuer beschafft, indem, wer im +ordentlichen Prozess unterlag, eine nach dem Werte des Streitgegenstandes +abgemessene Viehbusse (sacramentum) an den Staat erlegte. Von stehenden +Geschenken der Gemeindebuerger an den Koenig wird nichts berichtet. Dagegen +flossen dem Koenig die Hafenzoelle zu (I, 62), sowie die Einnahme von den +Domaenen, namentlich der Weidezins (scriptura) von dem auf die Gemeinweide +aufgetriebenen Vieh und die Fruchtquote (vectigalia), die die Nutzniesser der +Staatsaecker an Zinses Statt abzugeben hatten. Hierzu kam der Ertrag der +Viehbussen und Konfiskationen und der Kriegsgewinn. In Notfaellen endlich wurde +eine Umlage (tributum) ausgeschrieben, welche indes als gezwungene Anleihe +betrachtet und in besseren Zeitlaeuften zurueckgezahlt ward; ob dieselbe die +Buerger ueberhaupt traf, oder nur die Ansaessigen, laesst sich nicht +entscheiden, doch ist die letztere Annahme wahrscheinlicher. Der Koenig leitete +die Finanzen; mit dem koeniglichen Privatvermoegen indes, das, nach den Angaben +ueber den ausgedehnten Grundbesitz des letzten roemischen Koenigsgeschlechts +der Tarquinier zu schliessen, regelmaessig bedeutend gewesen sein muss, fiel +das Staatsvermoegen nicht zusammen und namentlich der durch die Waffen +gewonnene Acker scheint stets als Staatseigentum gegolten zu haben. Ob und wie +weit der Koenig in der Verwaltung des oeffentlichen Vermoegens durch Herkommen +beschraenkt war, ist nicht mehr auszumachen; nur zeigt die spaetere +Entwicklung, dass die Buergerschaft hierbei nie gefragt worden sein kann, +wogegen es Sitte sein mochte, die Auflage des Tributum und die Verteilung des +im Kriege gewonnenen Ackerlandes mit dem Senat zu beraten. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +^6 Quĭris quirītis oder quirinus wird von den Alten gedeutet als der +Lanzentraeger, von quĭris oder cŭris = Lanze und ire, und faellt ihnen insofern +zusammen mit samnis, samnitis und săbinus, das auch bei den Alten von σαύνιον, +Speer, hergeleitet wird. Mag diese Etymologie, die sich anschliesst an +arquites, milites, pedites, equites, velites, die mit dem Bogen, die im +Tausend, die zu Fuss, die zu Pferde, die ohne Ruestung im blossen Oberwurf +gehen, auch unrichtig sein, sie ist mit der roemischen Auffassung des +Buergerbegriffs verwachsen. Ebenso werden die Juno quiritis, der (Mars) +quirinus, der Janus quirinus als speerschwingende Gottheiten gedacht; und von +Menschen gebraucht ist quiris der Wehrmann, das ist der Vollbuerger. Damit +stimmt der Sprachgebrauch ueberein. Wo die Oertlichkeit bezeichnet werden soll, +wird nie von Quiriten gesprochen, sondern stets von Rom und Roemern (urbs Roma, +populus, civis, ager Romanus), weil die Benennung quiris so wenig eine lokale +Bedeutung hat wie civis oder miles. Eben darum koennen auch diese Bezeichnungen +nicht miteinander verbunden werden: man sagt nicht civis quiris, weil beides, +wenngleich von verschiedenen Standpunkten aus, denselben Rechtsbegriff +bezeichnet. Dagegen lautet die feierliche Ankuendigung der Buergerleiche +darauf, dass “dieser Wehrmann mit Tode abgegangen” (ollus quiris +leto datus), und ebenso redet der Koenig die versammelte Gemeinde mit diesem +Namen an und spricht, wenn er zu Gericht sitzt, nach dem Rechte der wehrhaften +Freien (ex iure quiritium, ganz gleich dem juengeren ex iure civili). Populus +Romanus, quirites ( populus Romanus quiritium ist nicht genuegend beglaubigt) +heisst also “die Gemeinde und die einzelnen Buerger” und werden +darum in einer alten Formel (Liv. 1, 31) dem populus Romanus die prisci Latini, +den quirites die homines prisci Latini entgegengesetzt (Becker, Handbuch, Bd. +2, S. 20f.). Diesen Tatsachen gegenueber kann nur sprachliche und sachliche +Unkende noch festhalten an der Vorstellung, als habe der roemischen Gemeinde +einst eine gleichartige quiritische gegenuebergestanden und nach deren +Inkorporierung der Name der neu aufgenommenen Gemeinde den der aufnehmenden im +sakralen und rechtlichen Sprachgebrauch verdraengt. Vgl. 1, 68 A. +</p> + +<p> +^7 Unter den acht sakralen Institutionen des Numa fuehrt Dionysios (2, 64) nach +den Kurionen und den Flamines als dritte auf die Fuehrer der Reiter (οι +ηγεμόνες τών Κελερίων). Nach dem praenestinischen Kalender wird am 19. Maerz +ein Fest auf dem Comitium begangen [adstantibus pon]tificibus et trib(unis) +celer(um). Valerius Antias (bei Dion. Hal. 1, 13 vgl. 3, 41) gibt der aeltesten +roemischen Reiterei einen Fuehrer Celer und drei Centurionen, wogegen in der +Schrift ‘De viris illustribus’ 1 Celer selbst centurio genannt +wird. Ferner soll Brutus bei Vertreibung der Koenige tribunus celerum gewesen +sein (Liv. 1, 59), nach Dionysios (4, 71) sogar kraft dieses Amtes die +Verbannung der Tarquinier beantragt haben. Endlich identifizieren Pomponius +(dig. 1, 2, 2, 15; 19) und aehnlich, zum Teil wohl aus ihm schoepfend, Lydus +(mag. 1, 14; 37) den tribunus celerum mit dem Celer des Antias, dem magister +equitum des republikanischen Diktators, dem Praefectus Praetorio der +Kaiserzeit. +</p> + +<p> +Von diesen Angaben, den einzigen, die ueber die tribuni celerum vorhanden sind, +ruehrt die letzte nicht bloss von spaeten und gaenzlich unzuverlaessigen +Gewaehrsmaennern her, sondern widerspricht auch der Bedeutung des Namens, +welcher nur “Teilfuehrer der Reiter” heissen kann; vor allen Dingen +aber kann der immer nur ausserordentlich und spaeterhin gar nicht mehr ernannte +Reiterfuehrer der republikanischen Zeit unmoeglich identisch gewesen sein mit +der fuer das Jahrfest des 19. Maerz erforderlichen, also stehenden Magistratur. +Sieht man, wie man notwendig muss, ab von der Nachricht des Pomponius, die +offenbar lediglich hervorgegangen ist aus der mit immer steigender Unwissenheit +historisierten Brutusanekdote, so ergibt sich einfach, dass die tribuni celerum +den tribuni militum in Zahl und Wesen durchaus entsprechen und die +Abteilungsfuehrer der Reiter gewesen sind, also voellig verschieden von dem +Reiterfeldherrn. +</p> + +<p> +^8 Darauf deuten die offenbar uralten Wortbildungen velites und arquites und +die spaetere Organisation der Legion. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +Indes nicht bloss leistend und dienend erscheint die roemische Buergerschaft, +sondern auch beteiligt an dem oeffentlichen Regimente. Es traten hierzu die +Gemeindeglieder alle, mit Ausnahme der Weiber und der noch nicht waffenfaehigen +Kinder, also, wie die Anrede lautet, die “Lanzenmaenner” (quirites) +auf der Dingstaette zusammen, wenn der Koenig sie berief, um ihnen eine +Mitteilung zu machen (conventio, contio) oder auch sie foermlich auf die dritte +Woche (in trinum noundinum) zusammentreten hiess (comitia), um sie nach Kurien +zu befragen. Ordnungsmaessig setzte derselbe zweimal im Jahr, zum 24. Maerz und +zum 24. Mai, dergleichen foermliche Gemeindeversammlungen an und ausserdem, so +oft es ihm erforderlich schien; immer aber lud er die Buerger nicht zum Reden, +sondern zum Hoeren, nicht zum Fragen, sondern zum Antworten. Niemand spricht in +der Versammlung als der Koenig oder wem er das Wort zu gestatten fuer gut +findet; die Rede der Buergerschaft ist einfache Antwort auf die Frage des +Koenigs, ohne Eroerterung, ohne Begruendung, ohne Bedingung, ohne Fragteilung. +Nichtsdestoweniger ist die roemische Buergergemeinde eben wie die deutsche und +vermutlich die aelteste indogermanische ueberhaupt die eigentliche und letzte +Traegerin der Idee des souveraenen Staats; allein diese Souveraenitaet ruht im +ordentlichen Lauf der Dinge oder aeussert sich doch hier nur darin, dass die +Buergerschaft sich zum Gehorsam gegen den Vorsteher freiwillig verpflichtet. Zu +diesem Ende richtet der Koenig, nachdem er sein Amt angetreten hat, an die +versammelten Kurien die Frage, ob sie ihm treu und botmaessig sein und ihn +selbst wie seine Boten (lictores) in hergebrachter Weise anerkennen wollen; +eine Frage, die ohne Zweifel ebensowenig verneint werden durfte, als die ihr +ganz aehnliche Huldigung in der Erbmonarchie verweigert werden darf. Es war +durchaus folgerichtig, dass die Buergerschaft, eben als der Souveraen, +ordentlicher Weise an dem Gang der oeffentlichen Geschaefte sich nicht +beteiligte. Solange die oeffentliche Taetigkeit sich beschraenkt auf die +Ausuebung der bestehenden Rechtsordnungen, kann und darf die eigentlich +souveraene Staatsgewalt nicht eingreifen: es regieren die Gesetze, nicht der +Gesetzgeber. Aber anders ist es, wo eine Aenderung der bestehenden +Rechtsordnung oder auch nur eine Abweichung von derselben in einem einzelnen +Fall notwendig wird; und hier tritt denn auch in der roemischen Verfassung ohne +Ausnahme die Buergerschaft handelnd auf, so dass ein solcher Akt der +souveraenen Staatsgewalt vollzogen wird durch das Zusammenwirken der +Buergerschaft und des Koenigs oder Zwischenkoenigs. Wie das Rechtsverhaeltnis +zwischen Regent und Regierten selbst durch muendliche Frage und Antwort +kontraktmaessig sanktioniert wird, so wird auch jeder Oberherrlichkeitsakt der +Gemeinde zustande gebracht durch eine Anfrage (rogatio), welche der Koenig an +die Buerger gerichtet und welcher die Mehrzahl der Kurien zugestimmt hat; in +welchem Fall die Zustimmung ohne Zweifel auch verweigert werden durfte. Darum +ist den Roemern das Gesetz nicht zunaechst, wie wir es fassen, der von dem +Souveraen an die saemtlichen Gemeindeglieder gerichtete Befehl, sondern +zunaechst der zwischen den konstitutiven Gewalten des Staates durch Rede und +Gegenrede abgeschlossene Vertrag ^9. Einer solchen Gesetzvertragung bedurfte es +rechtlich in allen Faellen, die der ordentlichen Rechtskonsequenz +zuwiderliefen. Im gewoehnlichen Rechtslauf kann jeder unbeschraenkt sein +Eigentum weggeben an wen er will, allein nur in der Art, dass er dasselbe +sofort aufgibt; dass das Eigentum vorlaeufig dem Eigentuemer bleibe und bei +seinem Tode auf einen andern uebergehe, ist rechtlich unmoeglich - es sei denn, +dass ihm die Gemeinde solches gestatte; was hier nicht bloss die auf dem Markt +versammelte, sondern auch die zum Kampf sich ordnende Buergerschaft bewilligen +konnte. Dies ist der Ursprung der Testamente. Im gewoehnlichen Rechtslauf kann +der freie Mann das unveraeusserliche Gut der Freiheit nicht verlieren noch +weggeben, darum auch, wer keinem Hausherrn untertan ist, sich nicht einem +andern an Sohnes Statt unterwerfen - es sei denn, dass ihm die Gemeinde solches +gestatte. Dies ist die Adrogation. Im gewoehnlichen Rechtslauf kann das +Buergerrecht nur gewonnen werden durch die Geburt und nicht verloren werden - +es sei denn, dass die Gemeinde das Patriziat verleihe oder dessen Aufgeben +gestatte, was beides unzweifelhaft urspruenglich ohne Kurienbeschluss nicht in +gueltiger Weise geschehen konnte. Im gewoehnlichen Rechtslauf trifft den +todeswuerdigen Verbrecher, nachdem der Koenig oder sein Stellvertreter nach +Urteil und Recht den Spruch getan, unerbittlich die Todesstrafe, da der Koenig +nur richten, nicht begnadigen kann - es sei denn, dass der zum Tode verurteilte +Buerger die Gnade der Gemeinde anrufe und der Richter ihm die Betretung des +Gnadenwegs freigebe. Dies ist der Anfang der Provokation, die darum auch +vorzugsweise nicht dem leugnenden Verbrecher gestattet wird, der ueberwiesen +ist, sondern dem gestaendigen, der Milderungsgruende geltend macht. Im +gewoehnlichen Rechtslauf darf der mit einem Nachbarstaat geschlossene ewige +Vertrag nicht gebrochen werden - es sei denn, dass wegen zugefuegter Unbill die +Buergerschaft sich desselben entbunden erachtet. Daher musste sie notwendig +befragt werden, wenn ein Angriffskrieg beabsichtigt wird, nicht aber bei dem +Verteidigungskrieg, wo der andere Staat den Vertrag bricht, noch auch beim +Abschluss des Friedens; doch richtete sich jene Frage, wie es scheint, nicht an +die gewoehnliche Versammlung der Buerger, sondern an das Heer. So wird endlich +ueberhaupt, wenn der Koenig eine Neuerung beabsichtigt, eine Aenderung des +bestehenden gemeinen Rechtes, es notwendig, die Buerger zu befragen; und +insofern ist das Recht der Gesetzgebung von alters her nicht ein Recht des +Koenigs, sondern ein Recht des Koenigs und der Gemeinde. In diesen und in allen +aehnlichen Faellen konnte der Koenig ohne Mitwirkung der Gemeinde nicht mit +rechtlicher Wirkung handeln; der vom Koenig allein zum Patrizier erklaerte Mann +blieb nach wie vor Nichtbuerger, und es konnte der nichtige Akt nur etwa +faktische Folgen erzeugen. Insofern war also die Gemeindeversammlung, wie +beschraenkt und gebunden sie auch auftrat, doch von alters her ein +konstitutives Element des roemischen Gemeinwesens und stand dem Rechte nach +mehr ueber als neben dem Koenig. +</p> + +<p> +———————————————————————————— +</p> + +<p> +^9 Lēx, die Bindung (verwandt mit lēgare, zu etwas verbinden) bezeichnet +bekanntlich ueberhaupt den Vertrag, jedoch mit der Nebenbedeutung eines +Vertrages, dessen Bedingungen der Proponent diktiert und der andere Teil +einfach annimmt oder ablehnt; wie dies z. B. bei oeffentlichen Lizitationen der +Fall zu sein pflegt. Bei der lex publica populi Romani ist der Proponent der +Koenig, der Akzeptant das Volk; die beschraenkte Mitwirkung des letzteren ist +also auch sprachlich praegnant bezeichnet. +</p> + +<p> +———————————————————————————— +</p> + +<p> +Aber neben dem Koenig und neben der Buergerversammlung erscheint in der +aeltesten Gemeindeverfassung noch eine dritte Grundgewalt, nicht zum Handeln +bestimmt wie jener noch zum Beschliessen wie diese, und dennoch neben beide und +innerhalb ihres Rechtskreises ueber beide gesetzt. Dies ist der Rat der Alten +oder der senatus. Unzweifelhaft ist derselbe hervorgegangen aus der +Geschlechtsverfassung: die alte Ueberlieferung, dass in dem urspruenglichen Rom +die saemtlichen Hausvaeter den Senat gebildet haetten, ist staatsrechtlich +insofern richtig, als jedes der nicht erst nachher zugewanderten Geschlechter +des spaeteren Rom seinen Ursprung zurueckfuehrte auf einen jener Hausvaeter der +aeltesten Stadt als auf seinen Stammvater und Patriarchen. Wenn, wie dies +wahrscheinlich ist, es in Rom oder doch in Latium einmal eine Zeit gegeben hat, +wo wie der Staat selbst, so auch jedes seiner letzten Bestandteile, das heisst +jedes Geschlecht gleichsam monarchisch organisiert war und unter einem, sei es +durch Wahl der Geschlechtsgenossen oder des Vorgaengers, sei es durch Erbfolge +bestimmten Aeltesten stand, so ist in derselben Epoche auch der Senat nichts +gewesen als die Gesamtheit dieser Gechlechtsaeltesten und demnach eine vom +Koenig wie von der Buergerversammlung unabhaengige Institution, gegenueber der +letzteren, unmittelbar durch die Gesamtheit der Buerger gebildeten +gewissermassen eine repraesentative Versammlung von Volksvertretern. Allerdings +ist jene gleichsam staatliche Selbstaendigkeit der Geschlechter bei dem +latinischen Stamm in unvordenklich frueher Zeit ueberwunden und der erste und +vielleicht schwerste Schritt, um aus der Geschlechtsordnung die Gemeinde zu +entwickeln, die Beseitigung der Geschlechtsaeltesten, moeglicherweise in Latium +lange vor der Gruendung Roms getan worden; wie wir das roemische Geschlecht +kennen, ist es durchaus ohne ein sichtbares Haupt und zur Vertretung des +gemeinsamen Patriarchen, von dem alle Geschlechtsmaenner abstammen oder +abzustammen behaupten, von den lebenden Geschlechtsgenossen kein einzelner +vorzugsweise berufen, so dass selbst Erbschaft und Vormundschaft, wenn sie dem +Geschlecht ansterben, von den Geschlechtsgenossen insgesamt geltend gemacht +werden. Aber nichtsdestoweniger sind von dem urspruenglichen Wesen des Rates +der Aeltesten auch auf den roemischen Senat noch viele und wichtige +Rechtsfolgen uebergegangen; um es mit einem Worte zu sagen, die Stellung des +Senats, wonach er etwas anderes und mehr ist als ein blosser Staatsrat, als die +Versammlung einer Anzahl vertrauter Maenner, deren Ratschlaege der Koenig +einzuholen zweckmaessig findet, beruht lediglich darauf, dass er einst eine +Versammlung gewesen war gleich jener, die Homer schildert, der um den Koenig im +Kreise herum zu Rate sitzenden Fuersten und Herren des Volkes. Solange der +Senat durch die Gesamtheit der Geschlechtshaeupter gebildet ward, kann die Zahl +der Mitglieder eine feste nicht gewesen sein, da die der Geschlechter es auch +nicht war; aber in fruehester, vielleicht schon in vorroemischer Zeit ist die +Zahl der Mitglieder des Rats der Aeltesten fuer die Gemeinde ohne Ruecksicht +auf die Zahl der zur Zeit vorhandenen Geschlechter auf hundert festgestellt +worden, sodass von der Verschmelzung der drei Urgemeinden die Vermehrung der +Senatssitze auf die seitdem feststehende Normalzahl von dreihundert die +staatsrechtlich notwendige Folge war. Auf Lebenszeit ferner sind die Ratsherren +zu allen Zeiten berufen worden; und wenn in spaeterer Zeit dies +lebenslaengliche Verbleiben mehr tatsaechlich als von Rechts wegen eintrat und +die von Zeit zu Zeit stattfindenden Revisionen der Senatsliste eine Gelegenheit +darboten, den unwuerdigen oder auch nur missliebigen Ratsherrn zu beseitigen, +so hat diese Einrichtung sich nachweislich erst im Laufe der Zeit entwickelt. +Die Wahl der Senatoren hat allerdings, seit es Geschlechtshaeupter nicht mehr +gab, bei dem Koenig gestanden; wohl aber mag bei dieser Wahl in aelterer Zeit, +solange noch die Individualitaet der Geschlechter im Volke lebendig war, als +Regel, wenn ein Senator starb, der Koenig einen anderen erfahrenen und +bejahrten Mann derselben Geschlechtsgenossenschaft an seine Stelle berufen +haben. Vermutlich ist erst mit der steigenden Verschmelzung und inneren +Einigung der Volksgemeinde hiervon abgegangen worden und die Auswahl der +Ratsherren ganz in das freie Ermessen des Koenigs uebergegangen, so dass nur +das noch als Missbrauch erschien, wenn er erledigte Stellen unbesetzt liess. +</p> + +<p> +Die Befugnis dieses Rates der Aeltesten beruht auf der Anschauung, dass die +Herrschaft ueber die aus den Geschlechtern gebildete Gemeinde von Rechts wegen +den saemtlichen Geschlechtsaeltesten zusteht, wenn sie auch, nach der schon in +dem Hause so scharf sich auspraegenden monarchischen Grundanschauung der +Roemer, zur Zeit immer nur von einem dieser Aeltesten, das ist von dem Koenig, +ausgeuebt werden kann. Ein jedes Mitglied des Senats ist also als solches, +nicht der Ausuebung, aber der Befugnis nach, ebenfalls Koenig der Gemeinde; +weshalb auch seine Abzeichen zwar geringer als die koeniglichen, aber denselben +gleichartig sind: er traegt den roten Schuh gleich dem Koenig, nur dass der des +Koenigs hoeher und ansehnlicher ist als der des Senators. Hierauf beruht es +ferner, dass, wie bereits erwaehnt ward, die koenigliche Gewalt in der +roemischen Gemeinde ueberhaupt nicht erledigt werden kann. Stirbt der Koenig, +so treten ohne weiteres die Aeltesten an seine Stelle und ueben die Befugnisse +der koeniglichen Gewalt. Jedoch nach dem unwandelbaren Grundsatz, dass nur +einer zur Zeit Herr sein kann, herrscht auch jetzt immer nur einer von ihnen +und es unterscheidet sich ein solcher “Zwischenkoenig” (interrex) +von dem auf Lebenszeit ernannten zwar in der Dauer, nicht aber in der Fuelle +der Gewalt. Die Dauer des Zwischenkoenigtums ist fuer die einzelnen Inhaber +festgesetzt auf hoechstens fuenf Tage; es geht dasselbe demnach unter den +Senatoren in der Art um, dass, bis das Koenigtum auf die Dauer wieder besetzt +ist, der zeitige Inhaber bei Ablauf jener Frist gemaess der durch das Los +festgesetzten Reihenfolge es dem Nachfolger ebenfalls auf fuenf Tage uebergibt. +Ein Treuwort wird dem Zwischenkoenig begreiflicherweise von der Gemeinde nicht +geleistet. Im uebrigen aber ist der Zwischenkoenig berechtigt und verpflichtet, +nicht bloss alle dem Koenig sonst zustehenden Amtshandlungen vorzunehmen, +sondern selbst einen Koenig auf Lebenszeit zu ernennen - nur dem erstbestellten +von ihnen fehlt ausnahmsweise das letztere Recht, vermutlich weil dieser +angesehen wird als mangelhaft eingesetzt, da er nicht von seinem Vorgaenger +ernannt ist. Also ist diese Aeltestenversammlung am letzten Ende die Traegerin +der Herrschermacht (imperium) und des Gottesschutzes (auspicia) des roemischen +Gemeinwesens und in ihr die Buergschaft gegeben fuer die ununterbrochene Dauer +desselben und seiner monarchischen, nicht aber erblich monarchischen Ordnung. +Wenn also dieser Senat spaeter den Griechen eine Versammlung von Koenigen zu +sein duenkte, so ist das nur in der Ordnung: urspruenglich ist er in der Tat +eine solche gewesen. +</p> + +<p> +Aber nicht bloss insofern der Begriff des ewigen Koenigtums in dieser +Versammlung seinen lebendigen Ausdruck fand, ist sie ein wesentliches Glied der +roemischen Gemeindeverfassung. Zwar hat der Rat der Aeltesten sich nicht in die +Amtstaetigkeit des Koenigs einzumischen. Seine Stellvertreter freilich hat +dieser, falls er nicht imstande war, selbst das Heer zu fuehren oder den +Rechtsstreit zu entscheiden, wohl von jeher aus dem Senat genommen - weshalb +auch spaeter noch die hoechsten Befehlshaberstellen regelmaessig nur an +Senatoren vergeben und ebenso als Geschworene vorzugsweise Senatoren verwendet +werden. Aber weder bei der Heerleitung noch bei der Rechtsprechung ist der +Senat in seiner Gesamtheit je zugezogen worden; weshalb es auch in dem +spaeteren Rom nie ein militaerisches Befehlsrecht und keine Gerichtsbarkeit des +Senats gegeben hat. Aber wohl galt der Rat der Alten als der berufene Wahrer +der bestehenden Verfassung, selbst gegenueber dem Koenig und der Buergerschaft. +Es lag deshalb ihm ob, jeden auf Antrag des Koenigs von dieser gefassten +Beschluss zu pruefen und, wenn derselbe die bestehenden Rechte zu verletzen +schien, demselben die Bestaetigung zu versagen; oder, was dasselbe ist, in +allen Faellen, wo verfassungsmaessig ein Gemeindebeschluss erforderlich war, +also bei jeder Verfassungsaenderung, bei der Aufnahme neuer Buerger, bei der +Erklaerung eines Angriffskrieges, kam dem Rat der Alten ein Veto zu. Allerdings +darf man dies wohl nicht so auffassen, als habe die Gesetzgebung der +Buergerschaft und dem Rat gemeinschaftlich zugestanden, etwa wie den beiden +Haeusern in dem heutigen konstitutionellen Staat: der Senat war nicht sowohl +Gesetzgeber als Gesetzwaechter und konnte den Beschluss nur dann kassieren, +wenn die Gemeinde ihre Befugnisse ueberschritten, also bestehende +Verpflichtungen gegen die Goetter oder gegen auswaertige Staaten oder auch +organische Einrichtungen der Gemeinde durch ihren Beschluss verletzt zu haben +schien. Immer aber bleibt es vom groessten Gewichte, dass zum Beispiel, wenn +der roemische Koenig die Kriegserklaerung beantragt und die Buergerschaft +dieselbe zum Beschluss erhoben hatte, auch die Suehne, welche die auswaertige +Gemeinde zu erlegen verpflichtet schien, von derselben umsonst gefordert worden +war, der roemische Sendbote die Goetter zu Zeugen der Unbill anrief, und mit +den Worten schloss: “darueber aber wollen wir Alten Rat pflegen daheim, +wie wir zu unsrem Rechte kommen”; erst wenn der Rat der Alten sich +einverstanden erklaert hatte, war der nun von der Buergerschaft beschlossene, +vom Senat gebilligte Krieg foermlich erklaert. Gewiss war es weder die Absicht +noch die Folge dieser Satzung, ein stetiges Eingreifen des Senats in die +Beschluesse der Buergerschaft hervorzurufen und durch solche Bevormundung die +Buergerschaft ihrer souveraenen Gewalt zu entkleiden; aber wie im Fall der +Vakanz des hoechsten Amtes der Senat die Dauer der Gemeindeverfassung +verbuergte, finden wir auch hier ihn als den Hort der gesetzlichen Ordnung +gegenueber selbst der hoechsten Gewalt, der Gemeinde. +</p> + +<p> +Hieran wahrscheinlich knuepft endlich auch die allem Anschein nach uralte +Uebung an, dass der Koenig die an die Volksgemeinde zu bringenden Antraege +vorher dem Rat der Alten vorlegte und dessen saemtliche Mitglieder eines nach +dem anderen darueber ihr Gutachten abgeben liess. Da dem Senat das Recht +zustand, den gefassten Beschluss zu kassieren, so lag es dem Koenig nahe, sich +vorher die Ueberzeugung zu verschaffen, dass Widerspruch hier nicht zu +befuerchten sei; wie denn ueberhaupt einerseits die roemische Sitte es mit sich +brachte, in wichtigen Faellen sich nicht zu entscheiden, ohne anderer Maenner +Rat vernommen zu haben, anderseits der Senat seiner ganzen Zusammensetzung nach +dazu berufen war, dem Herrscher der Gemeinde als Staatsrat zur Seite zu stehen. +Aus diesem Raterteilen ist, weit mehr als aus der bisher bezeichneten +Kompetenz, die spaetere Machtfuelle des Senats hervorgegangen; die Anfaenge +indes sind unscheinbar und gehen eigentlich auf in die Befugnis der Senatoren, +dann zu antworten, wenn sie gefragt werden. Es mag ueblich gewesen sein, bei +Angelegenheiten von Wichtigkeit, die weder richterliche noch feldherrliche +waren, also zum Beispiel, abgesehen von den an die Volksversammlung zu +bringender Antraegen, auch bei der Auflage von Fronden und Steuern, bei der +Einberufung der Buerger zum Wehrdienst und bei Verfuegungen ueber das eroberte +Gebiet, den Senat vorher zu fragen; aber wenn auch ueblich, rechtlich notwendig +war eine solche vorherige Befragung nicht. Der Koenig beruft den Rat, wenn es +ihm beliebt und legt die Fragen ihm vor; ungefragt darf kein Ratsherr seine +Meinung sagen, noch weniger der Rat sich ungeladen versammeln, abgesehen von +dem einen Fall, wo er in der Vakanz zusammentritt, um die Reihenfolge der +Zwischenkoenige festzustellen. Dass es ferner dem Koenig zusteht, neben den +Senatoren und gleichzeitig mit ihnen auch andere Maenner seines Vertrauens zu +berufen und zu befragen, ist in hohem Grade wahrscheinlich. Der Ratschlag +sodann ist kein Befehl; der Koenig kann es unterlassen, ihm zu folgen, ohne +dass dem Senat ein anderes Mittel zustaende, seiner Ansicht praktische Geltung +zu schaffen als jenes frueher erwaehnte keineswegs allgemein anwendbare +Kassationsrecht. “Ich habe euch gewaehlt, nicht dass ihr mich leitet, +sondern um euch zu gebieten”: diese Worte, die ein spaeterer +Schriftsteller dem Koenig Romulus in den Mund legt, bezeichnen nach dieser +Seite hin die Stellung des Senats gewiss im wesentlichen richtig. +</p> + +<p> +Fassen wir die Ergebnisse zusammen. Es war die roemische Buergergemeinde, an +welcher der Begriff der Souveraenitaet haftete; aber allein zu handeln war sie +nie, mitzuhandeln nur dann befugt, wenn von der bestehenden Ordnung abgegangen +werden sollte. Neben ihr stand die Versammlung der lebenslaenglich bestellten +Gemeindeaeltesten, gleichsam ein Beamtenkollegium mit koeniglicher Gewalt, +berufen im Fall der Erledigung des Koenigsamtes, dasselbe bis zur definitiven +Wiederbesetzung durch ihre Mitglieder zu verwalten, und befugt, den +rechtswidrigen Beschluss der Gemeinde umzustossen. Die koenigliche Gewalt +selber war, wie Sallust sagt, zugleich unbeschraenkt und durch die Gesetze +gebunden (imperium legitimum); unbeschraenkt, insofern des Koenigs Gebot, +gerecht oder nicht, zunaechst unbedingt vollzogen werden musste, gebunden, +insofern ein dem Herkommen zuwiderlaufendes und nicht von dem wahren Souveraen, +dem Volke, gutgeheissenes Gebot auf die Dauer keine rechtlichen Folgen +erzeugte. Also war die aelteste roemische Verfassung gewissermassen die +umgekehrte konstitutionelle Monarchie. Wie in dieser der Koenig als Inhaber und +Traeger der Machtfuelle des Staates gilt und darum zum Beispiel die Gnadenakte +lediglich von ihm ausgehen, den Vertretern des Volkes aber und den ihnen +verantwortlichen Beamten die Staatsverwaltung zukommt, so war die roemische +Volksgemeinde ungefaehr, was in England der Koenig ist und das +Begnadigungsrecht, wie in England ein Reservatrecht der Krone, so in Rom ein +Reservatrecht der Volksgemeinde, waehrend alles Regiment bei dem Vorsteher der +Gemeinde stand. +</p> + +<p> +Fragen wir endlich nach dem Verhaeltnis des Staates selbst zu dessen einzelnen +Gliedern, so finden wir den roemischen Staat gleich weit entfernt von der +Lockerheit des blossen Schutzverbandes und von der modernen Idee einer +unbedingten Staatsallmacht. Die Gemeinde verfuegte wohl ueber die Person des +Buergers durch Auflegung von Gemeindelasten und Bestrafung der Vergehen und +Verbrechen; aber ein Spezialgesetz, das einen einzelnen Mann wegen nicht +allgemein verpoenter Handlungen mit Strafe belegte oder bedrohte, ist, selbst +wenn in den Formen nicht gefehlt war, doch den Roemern stets als Willkuer und +Unrecht erschienen. Bei weitem beschraenkter noch war die Gemeinde hinsichtlich +der Eigentums- und, was damit mehr zusammenfiel als zusammenhing, der +Familienrechte; in Rom wurde nicht, wie in dem lykurgischen Polizeistaat, das +Haus geradezu vernichtet und die Gemeinde auf dessen Kosten gross gemacht. Es +ist einer der unleugbarsten wie einer der merkwuerdigsten Saetze der aeltesten +roemischen Verfassung, dass der Staat den Buerger wohl fesseln und hinrichten, +aber nicht ihm seinen Sohn oder seinen Acker wegnehmen oder auch nur ihn mit +bleibender Wirkung besteuern durfte. In diesen und aehnlichen Dingen war selbst +die Gemeinde dem Buerger gegenueber beschraenkt, und diese Rechtsschranke +bestand nicht bloss im Begriff, sondern fand ihren Ausdruck und ihre praktische +Anwendung in dem verfassungsmaessigen Veto des Senats, der gewiss befugt und +verpflichtet war, jeden einem solchen Grundrecht zuwiderlaufenden +Gemeindebeschluss zu vernichten. Keine Gemeinde war innerhalb ihres Kreises so +wie die roemische allmaechtig; aber in keiner Gemeinde auch lebte der +unstraeflich sich fuehrende Buerger in gleich unbedingter Rechtssicherheit +gegenueber seinen Mitbuergern wie gegenueber dem Staat selbst. +</p> + +<p> +So regierte sich die roemische Gemeinde, ein freies Volk, das zu gehorchen +verstand, in klarer Absagung von allem mystischen Priesterschwindel, in +unbedingter Gleichheit vor dem Gesetz und unter sich, in scharfer Auspraegung +der eigenen Nationalitaet, waehrend zugleich - es wird dies nachher dargestellt +werden - dem Verkehr mit dem Auslande so grossherzig wie verstaendig die Tore +weit aufgetan wurden. Diese Verfassung ist weder gemacht noch erborgt, sondern +erwachsen in und mit dem roemischen Volke. Es versteht sich, dass sie auf der +aelteren italischen, graecoitalischen und indogermanischen Verfassung beruht; +aber es liegt doch eine unuebersehbar lange Kette staatlicher +Entwicklungsphasen zwischen den Verfassungen, wie die Homerischen Gedichte oder +Tacitus’ Bericht ueber Deutschland sie schildern, und der aeltesten +Ordnung der roemischen Gemeinde. In dem Zuruf des hellenischen, in dem +Schildschlagen des deutschen Umstandes lag wohl auch eine Aeusserung der +souveraenen Gewalt der Gemeinde; aber es war weit von da bis zu der geordneten +Kompetenz und der geregelten Erklaerung der latinischen Kurienversammlung. Es +mag ferner sein, dass, wie das roemische Koenigtum den Purpurmantel und den +Elfenbeinstab sicher den Griechen - nicht den Etruskern - entlehnt hat, so auch +die zwoelf Liktoren und andere Aeusserlichkeiten mehr vom Ausland +heruebergenommen worden sind. Aber wie entschieden die Entwicklung des +roemischen Staatsrechts nach Rom oder doch nach Latium gehoert, und wie wenig +und wie unbedeutend das Geborgte darin ist, beweist die durchgaengige +Bezeichnung aller seiner Begriffe mit Woertern latinischer Praegung. +</p> + +<p> +Diese Verfassung ist es, die die Grundgedanken des roemischen Staats fuer alle +Zeiten tatsaechlich festgestellt hat; denn trotz der wandelnden Formen steht es +fest, solange es eine roemische Gemeinde gibt, dass der Beamte unbedingt +befiehlt, dass der Rat der Alten die hoechste Autoritaet im Staate ist und dass +jede Ausnahmebestimmung der Sanktionierung des Souveraens bedarf, das heisst +der Volksgemeinde. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap06"></a>KAPITEL VI.<br/> +Die Nichtbürger und die reformierte Verfassung</h2> + +<p> +Die Geschichte einer jeden Nation, der italischen aber vor allen, ist ein +grosser Synoekismus: schon das aelteste Rom, von dem wir Kunde haben, ist ein +dreieiniges, und erst mit der voelligen Erstarrung des Roemerrums endigen die +aehnlichen Inkorporationen. Abgesehen von jenem aeltesten Verschmelzungsprozess +der Ramner, Titier und Lucerer, von dem fast nur die nackte Tatsache bekannt +ist, ist der frueheste derartige Inkorporationsakt derjenige, durch den die +Huegelbuergerschaft aufging in dem palatinischen Rom. Die Ordnung der beiden +Gemeinden wird, als sie verschmolzen werden sollten, im wesentlichen +gleichartig und die durch die Vereinigung gestellte Aufgabe in der Art gedacht +werden duerfen, dass man zu waehlen hatte zwischen dem Festhalten der +Doppelinstitution oder, unter Aufhebung der einen, der Beziehung der +uebrigbleibenden auf die ganze vereinigte Gemeinde. Hinsichtlich der +Heiligtuemer und Priesterschaften hielt man im ganzen den ersten Weg ein. Die +roemische Gemeinde besass fortan zwei Springer- und zwei Wolfsgilden und wie +einen zwiefachen Mars, so auch einen zwiefachen Marspriester, von denen sich +spaeterhin der palatinische den Priester des Mars, der collinische den des +Quirinus zu nennen pflegte. Es ist glaublich, wenngleich nicht mehr +nachzuweisen, dass die gesamten altlatinischen Priesterschaften Roms, der +Augurn, Pontifices, Vestalen, Fetialen in gleichartiger Weise aus den +kombinierten Priesterkollegien der beiden Gemeinden vom Palatin und vom +Quirinal hervorgegangen sind. Ferner trat in der oertlichen Einteilung zu den +drei Quartieren der palatinischen Stadt, Subura, Palatin und Vorstadt, die +Huegelstadt auf dem Quirinal als viertes hinzu. Wenn dagegen bei dem +urspruenglichen Synoekismus die beitretende Gemeinde auch nach der Vereinigung +wenigstens als Teil der neuen Buergerschaft gegolten und somit gewissermassen +politisch fortbestanden hatte, so ist dies weder in Beziehung auf die +Huegelroemer noch ueberhaupt bei einem der spaeteren Annexionsprozesse wieder +vorgekommen. Auch nach der Vereinigung zerfiel die roemische Gemeinde in die +bisherigen drei Teile zu je zehn Pflegschaften, und die Huegelroemer, moegen +sie nun ihrerseits mehrteilig gewesen sein oder nicht, muessen in die +bestehenden Teile und Pflegschaften eingeordnet worden sein. Wahrscheinlich ist +dies in der Art geschehen, dass jeder Teil und jede Pflegschaft eine Quote der +Neubuerger zugewiesen erhielt, in diesen Abteilungen aber die Neu- mit den +Altbuergern nicht vollstaendig verschmolzen; vielmehr treten fortan jene Teile +doppelgliedrig auf und scheiden sich die Titier, ebenso die Ramner und die +Lucerer in sich wieder in erste und zweite (priores, posteriores). Eben damit +haengt wahrscheinlich die in den organischen Institutionen der Gemeinde +ueberall hervortretende paarweise Anordnung zusammen. So werden die drei Paare +der heiligen Jungfrauen ausdruecklich als die Vertreterinnen der drei Teile +erster und zweiter Ordnung bezeichnet; auch das in jeder Gasse verehrte +Larenpaar ist vermutlich aehnlich aufzufassen. Vor allem erscheint diese +Anordnung im Heerwesen: nach der Vereinigung stellt jeder Halbteil der +dreiteiligen Gemeinde hundert Berittene, und es steigt dadurch die roemische +Buergerreiterei auf sechs Hundertschaften, die Zahl der Reiterfuehrer +wahrscheinlich auch von drei auf sechs. Von einer entsprechenden Vermehrung des +Fussvolks ist nichts ueberliefert; wohl aber wird man den nachherigen Gebrauch, +dass die Legionen regelmaessig je zwei und zwei einberufen wurden, hierauf +zurueckfuehren duerfen, und wahrscheinlich ruehrt von dieser Verdoppelung des +Aufgebotes ebenfalls her, dass nicht, wie wohl urspruenglich, drei, sondern +sechs Abteilungsfuehrer die Legion befehligen. Eine entsprechende Vermehrung +der Senatsstellen hat entschieden nicht stattgefunden, sondern die uralte Zahl +von dreihundert Ratsherren ist bis in das siebente Jahrhundert hinein die +normale geblieben; womit sich sehr wohl vertraegt, dass eine Anzahl der +angesehensten Maenner der neu hinzutretenden Gemeinde in den Senat der +palatinischen Stadt aufgenommen sein mag. Ebenso verfuhr man mit den +Magistraturen: auch der vereinigten Gemeinde stand nur ein Koenig vor, und von +seinen hauptsaechlichsten Stellvertretern, namentlich dem Stadtvorsteher, gilt +dasselbe. Man sieht, dass die sakralen Institutionen der Huegelstadt +fortbestanden und in militaerischer Hinsicht man nicht unterliess, der +verdoppelten Buergerschaft die doppelte Mannszahl abzufordern, im uebrigen aber +die Einordnung der quirinalischen Stadt in die palatinische eine wahre +Unterordnung der ersteren gewesen ist. Wenn wir mit Recht angenommen haben, +dass der Gegensatz zwischen den palatinischen Alt- und den quirinalischen +Neubuergern zusammenfiel mit dem zwischen den ersten und zweiten Titiern, +Ramnern und Lucerern, so sind die Geschlechter der Quirinalstadt die +“zweiten” oder die “minderen” gewesen. Indes war der +Unterschied sicherlich mehr ein Ehren- als ein Rechtsvorzug. Bei den +Abstimmungen im Rat wurden die aus den alten Geschlechtern genommenen +Ratsherren vor denen der “minderen” gefragt. In gleicher Weise +steht das collinische Quartier im Range zurueck selbst hinter dem +vorstaedtischen der palatinischen Stadt, der Priester des quirinalischen Mars +hinter dem des palatinischen, die quirinalischen Springer und Woelfe hinter +denen vom Palatin. Sonach bezeichnet der Synoekismus, durch den die +palatinische Gemeinde die quirinalische in sich aufnahm, eine Mittelstufe +zwischen dem aeltesten, durch den die Titier, Ramner und Lucerer miteinander +verwuchsen, und allen spaeteren: einen eigenen Teil zwar durfte die zutretende +Gemeinde in dem neuen Ganzen nicht mehr bilden, wohl aber noch wenigstens einen +Teil in jedem Teile, und ihre sakralen Institutionen liess man nicht bloss +bestehen, was auch nachher noch, zum Beispiel nach der Einnahme von Alba, +geschah, sondern erhob sie zu Institutionen der vereinigten Gemeinde, was +spaeterhin in dieser Weise nicht wieder vorkam. +</p> + +<p> +Diese Verschmelzung zweier im wesentlichen gleichartiger Gemeinwesen war mehr +eine quantitative Steigerung als eine innerliche Umgestaltung der bestehenden +Gemeinde. Von einem zweiten Inkorporationsprozess, der weit allmaehlicher +durchgefuehrt ward und weit tiefere Folgen gehabt hat, reichen die ersten +Anfaenge gleichfalls bis in diese Epoche zurueck: es ist dies die Verschmelzung +der Buergerschaft und der Insassen. Von jeher standen in der roemischen +Gemeinde neben der Buergerschaft die Schutzleute, die “Hoerigen” +(clientes), wie man sie nannte, als die Zugewandten der einzelnen +Buergerhaeuser, oder die “Menge” (plebes, von pleo, plenus), wie +sie negativ hiessen mit Hinblick auf die mangelnden politischen Rechte ^1. Die +Elemente zu dieser Mittelstufe zwischen Freien und Unfreien waren, wie gezeigt +ward, bereits in dem roemischen Hause vorhanden; aber in der Gemeinde musste +diese Klasse aus einem zwiefachen Grunde tatsaechlich und rechtlich zu +groesserer Bedeutung erwachsen. Einmal konnte die Gemeinde selbst wie Knechte, +so auch halbfreie Hoerige besitzen; besonders mochte nach Ueberwindung einer +Stadt und Aufloesung ihres Gemeinwesens es oft der siegenden Gemeinde +zweckmaessig erscheinen, die Masse der Buergerschaft nicht foermlich als +Sklaven zu verkaufen, sondern ihnen den faktischen Fortbesitz der Freiheit zu +gestatten, so dass sie gleichsam als Freigelassene der Gemeinde, sei es zu den +Geschlechtern, sei es zu dem Koenig in Klientelverhaeltnis traten. Zweitens +aber war durch die Gemeinde und deren Macht ueber die einzelnen Buerger die +Moeglichkeit gegeben, auch deren Klienten gegen missbraeuchliche Handhabung des +rechtlich fortbestehenden Herrenrechts zu schuetzen. Bereits in unvordenklich +frueher Zeit ist in das roemische Landrecht der Grundsatz eingefuehrt worden, +von dem die gesamte Rechtsstellung der Insassenschaft ihren Ausgang genommen +hat: dass, wenn der Herr bei Gelegenheit eines oeffentlichen Rechtsakts - +Testament, Prozess, Schatzung - sein Herrenrecht ausdruecklich oder +stillschweigend aufgegeben habe, weder er selbst noch seine Rechtsnachfolger +diesen Verzicht gegen die Person des Freigelassenen selbst oder gar seiner +Deszendenten jemals wieder sollten willkuerlich rueckgaengig machen koennen. +Die Hoerigen und ihre Nachkommen besassen nun zwar weder Buerger- noch +Gastrecht; denn zu jenem bedurfte es foermlicher Erteilung von seiten der +Gemeinde, dieser aber setzte das Buergerrecht des Gastes in einer mit der +roemischen in Vertrag stehenden Gemeinde voraus. Was ihnen zuteil ward, war ein +gesetzlich geschuetzter Freiheitsbesitz bei rechtlich fortdauernder Unfreiheit; +und darum scheinen laengere Zeit hindurch ihre vermoegensrechtlichen +Beziehungen gleich denen der Sklaven als Rechtsverhaeltnisse des Patrons +gegolten und dieser prozessualisch sie notwendig vertreten zu haben, womit denn +auch zusammenhaengen wird, dass der Patron im Notfall Beisteuern von ihnen +einheben und sie vor sich zu krimineller Verantwortung ziehen konnte. Aber +allmaehlich entwuchs die Insassenschaft diesen Fesseln; sie fingen an, in +eigenem Namen zu erwerben und zu veraeussern und ohne die formelle Vermittlung +ihres Patrons von den roemischen Buergergerichten Recht anzusprechen und zu +erhalten. In Ehe und Erbrecht ward die Rechtsgleichheit mit den Buergern zwar +weit eher den Auslaendern gestattet als diesen keiner Gemeinde angehoerigen, +eigentlich unfreien Leuten; aber es konnte denselben doch nicht wohl gewehrt +werden, in ihrem eigenen Kreise Ehen einzugehen und die daran sich knuepfenden +Rechtsverhaeltnisse der eheherrlichen und vaeterlichen Gewalt, der Agnation und +des Geschlechts, der Erbschaft und der Vormundschaft, nach Art der +buergerrechtlichen zu gestalten. +</p> + +<p> +—————————————————————————— +</p> + +<p> +^1 Habuit plebem in clientelas principum descriptam (Cic. rep. 2, 2). +</p> + +<p> +—————————————————————————— +</p> + +<p> +Teilweise zu aehnlichen Folgen fuehrte die Ausuebung des Gastrechts, insofern +auf Grund desselben Auslaender sich auf die Dauer in Rom niederliessen und dort +eine Haeuslichkeit begruendeten. In dieser Hinsicht muessen seit uralter Zeit +die liberalsten Grundsaetze in Rom bestanden haben. Das roemische Recht weiss +weder von Erbgutsqualitaet noch von Geschlossenheit der Liegenschaften und +gestattet einesteils jedem dispositionsfaehigen Mann bei seinen Lebzeiten +vollkommen unbeschraenkte Verfuegung ueber sein Vermoegen, anderseits, soviel +wir wissen, jedem, der ueberhaupt zum Verkehr mit roemischen Buergern befugt +war, selbst dem Fremden und dem Klienten, das unbeschraenkte Recht bewegliches +und, seitdem Immobilien ueberhaupt im Privateigentum stehen konnten, in +gewissen Schranken auch unbewegliches Gut in Rom zu erwerben. Es ist eben Rom +eine Handelsstadt gewesen, die, wie sie den Anfang ihrer Bedeutung dem +internationalen Verkehr verdankte, so auch das Niederlassungsrecht mit +grossartiger Freisinnigkeit jedem Kinde ungleicher Ehe, jedem freigelassenen +Knecht, jedem nach Rom unter Aufgebung seines Heimatrechts uebersiedelnden +Fremden gewaehrt hat. +</p> + +<p> +Anfaenglich waren also die Buerger in der Tat die Schutzherren, die +Nichtbuerger die Geschuetzten; allein wie in allen Gemeinden, die die +Ansiedlung freigeben und das Buergerrecht schliessen, ward es auch in Rom bald +schwer und wurde immer schwerer, dieses rechtliche Verhaeltnis mit dem +faktischen Zustand in Harmonie zu erhalten. Das Aufbluehen des Verkehrs, die +durch das latinische Buendnis allen Latinern gewaehrleistete volle +privatrechtliche Gleichstellung mit Einschluss selbst der Erwerbung von +Grundbesitz, die mit dem Wohlstand steigende Haeufigkeit der Freilassungen +mussten schon im Frieden die Zahl der Insassen unverhaeltnismaessig vermehren. +Es kam dazu der groessere Teil der Bevoelkerung der mit den Waffen bezwungenen +und Rom inkorporierten Nachbarstaedte, welcher, mochte er nun nach Rom +uebersiedeln oder in seiner alten, zum Dorf herabgesetzten Heimat verbleiben, +in der Regel wohl sein eigenes Buergerrecht mit roemischem Metoekenrecht +vertauschte. Dazu lastete der Krieg ausschliesslich auf den Altbuergern und +lichtete bestaendig die Reihen der patrizischen Nachkommenschaft, waehrend die +Insassen an dem Erfolg der Siege Anteil hatten, ohne mit ihrem Blute dafuer zu +bezahlen. +</p> + +<p> +Unter solchen Verhaeltnissen ist es nur befremdlich, dass das roemische +Patriziat nicht noch viel schneller zusammenschwand, als es in der Tat der Fall +war. Dass er noch laengere Zeit eine zahlreiche Gemeinde blieb, davon ist der +Grund schwerlich zu suchen in der Verleihung des roemischen Buergerrechts an +einzelne ansehnliche auswaertige Geschlechter, die nach dem Austritt aus ihrer +Heimat oder nach der Ueberwindung ihrer Stadt das roemische Buergerrecht +empfingen - denn diese Verleihungen scheinen von Anfang an sparsam erfolgt und +immer seltener geworden zu sein, je mehr das roemische Buergerrecht im Preise +stieg. Von groesserer Bedeutung war vermutlich die Einfuehrung der Zivilehe, +wonach das von patrizischen, als Eheleute wenn auch ohne Konfarreation +zusammenlebenden Eltern erzeugte Kind volles Buergerrecht erwarb, so gut wie +das in konfarreierter Ehe erzeugte; es ist wenigstens wahrscheinlich, dass die +schon vor den Zwoelf Tafeln in Rom bestehende, aber doch gewiss nicht +urspruengliche Zivilehe eben eingefuehrt ward, um das Zusammenschwinden des +Patriziats zu hemmen ^2. Auch die Massregeln, durch welche bereits in aeltester +Zeit auf die Erhaltung einer zahlreichen Nachkommenschaft in den einzelnen +Haeusern hingewirkt ward, gehoeren in diesen Zusammenhang. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +^2 Die Bestimmungen der Zwoelf Tafeln ueber den Usus zeigen deutlich, dass +dieselben die Zivilehe bereits vorfanden. Ebenso klar geht das hohe Alter der +Zivilehe daraus hervor, dass auch sie so gut wie die religioese Ehe die +eheherrliche Gewalt notwendig in sich schloss und von der religioesen Ehe +hinsichtlich der Gewalterwerbung nur darin abwich, dass die religioese Ehe +selbst als eigentuemliche und rechtlich notwendige Erwerbsform der Frau galt, +wogegen zu der Zivilehe eine der anderweitigen allgemeinen Formen des +Eigentumserwerbs, Uebergabe von seiten der Berechtigten oder auch Verjaehrung, +hinzutreten musste, um eine gueltige eheherrliche Gewalt zu begruenden. +</p> + +<p> +——————————————————————————— +</p> + +<p> +Nichtsdestoweniger war notwendigerweise die Zahl der Insassen in bestaendigem +und keiner Minderung unterliegendem Wachsen begriffen, waehrend die der Buerger +sich im besten Fall nicht vermindern mochte; und infolgedessen erhielten die +Insassen unmerklich eine andere und freiere Stellung. Die Nichtbuerger waren +nicht mehr bloss entlassene Knechte und schutzbeduerftige Fremde; es gehoerten +dazu die ehemaligen Buergerschaften der im Krieg unterlegenen latinischen +Gemeinden und vor allen Dingen die latinischen Ansiedler, die nicht durch Gunst +des Koenigs oder eines anderen Buergers, sondern nach Bundesrecht in Rom +lebten. Vermoegensrechtlich unbeschraenkt gewannen sie Geld und Gut in der +neuen Heimat und vererbten gleich dem Buerger ihren Hof auf Kinder und +Kindeskinder. Auch die drueckende Abhaengigkeit von den einzelnen +Buergerhaeusern lockerte sich allmaehlich. Stand der befreite Knecht, der +eingewanderte Fremde noch ganz isoliert im Staate, so galt dies schon nicht +mehr von seinen Kindern, noch weniger von den Enkeln, und die Beziehungen zu +dem Patron traten damit von selbst immer mehr zurueck. War in aelterer Zeit der +Klient ausschliesslich fuer den Rechtsschutz angewiesen auf die Vermittlung des +Patrons, so musste, je mehr der Staat sich konsolidierte und folgeweise die +Bedeutung der Geschlechtsvereine und der Haeuser sank, desto haeufiger auch +ohne Vermittlung des Patrons vom Koenig dem einzelnen Klienten Rechtsfolge und +Abhilfe der Unbill gewaehrt werden. Eine grosse Zahl der Nichtbuerger, +namentlich die Mitglieder der aufgeloesten latinischen Gemeinden, standen +ueberhaupt, wie schon gesagt ward, wahrscheinlich von Haus aus nicht in der +Klientel der koeniglichen und der sonstigen grossen Geschlechter und gehorchten +dem Koenig ungefaehr in gleicher Art wie die Buerger. Dem Koenig, dessen +Herrschaft ueber die Buerger denn doch am Ende abhing von dem guten Willen der +Gehorchenden, musste es willkommen sein, in diesen wesentlich von ihm +abhaengigen Schutzleuten sich eine ihm naeher verpflichtete Genossenschaft zu +bilden. +</p> + +<p> +So erwuchs neben der Buergerschaft eine zweite roemische Gemeinde; aus den +Klienten ging die Plebs hervor. Dieser Namenwechsel ist charakteristisch; +rechtlich ist kein Unterschied zwischen dem Klienten und dem Plebejer, dem +Hoerigen und dem Manne aus dem Volk, faktisch aber ein sehr bedeutender, indem +jene Bezeichnung das Schutzverhaeltnis zu einem der politisch berechtigten +Gemeindeglieder, diese bloss den Mangel der politischen Rechte hervorhebt. Wie +das Gefuehl der besonderen Abhaengigkeit zuruecktrat, draengte das der +politischen Zuruecksetzung den freien Insassen sich auf; und nur die ueber +allen gleichmaessig waltende Herrschaft des Koenigs verhinderte das Ausbrechen +des politischen Kampfes zwischen der berechtigten und der rechtlosen Gemeinde. +</p> + +<p> +Der erste Schritt zur Verschmelzung der beiden Volksteile geschah indes +schwerlich auf dem Wege der Revolution, den jener Gegensatz vorzuzeichnen +schien. Die Verfassungsreform, die ihren Namen traegt vom Koenig Servius +Tullius, liegt zwar ihrem geschichtlichen Ursprung nach in demselben Dunkel, +wie alle Ereignisse einer Epoche, von der wir, was wir wissen, nicht durch +historische Ueberlieferung, sondern nur durch Rueckschluesse aus den spaeteren +Institutionen wissen; aber ihr Wesen zeugt dafuer, dass nicht die Plebejer sie +gefordert haben koennen, denen die neue Verfassung nur Pflichten, nicht Rechte +gab. Sie muss vielmehr entweder der Weisheit eines der roemischen Koenige ihren +Ursprung verdanken oder auch dem Draengen der Buergerschaft auf Befreiung von +der ausschliesslichen Belastung und auf Zuziehung der Nichtbuerger teils zu der +Besteuerung, das heisst zu der Verpflichtung, dem Staat im Notfall +vorzuschiessen (dem Tributum), und zu den Fronden, teils zu dem Aufgebot. +Beides wird in der Servianischen Verfassung zusammengefasst, ist aber +schwerlich gleichzeitig erfolgt. Ausgegangen ist die Heranziehung der +Nichtbuerger vermutlich von den oekonomischen Lasten: es wurden diese frueh +auch auf die “Begueterten” (locupletes) oder die “stetigen +Leute” (adsidui) erstreckt, und nur die gaenzlich Vermoegenslosen, die +“Kinderzeuger” (proletarii, capite censi) blieben davon frei. +Weiter folgte die politisch wichtigere Heranziehung der Nichtbuerger zu der +Wehrpflicht. Diese wurde fortan, statt auf die Buergerschaft als solche, gelegt +auf die Grundbesitzer, die tribules, mochten sie Buerger oder bloss Insassen +sein; die Heeresfolge wurde aus einer persoenlichen zu einer Reallast. Im +einzelnen war die Ordnung folgende. Pflichtig zum Dienst war jeder ansaessige +Mann vom achtzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr mit Einschluss der +Hauskinder ansaessiger Vaeter, ohne Unterschied der Geburt; so dass selbst der +entlassene Knecht zu dienen hatte, wenn er ausnahmsweise zu Grundbesitz gelangt +war. Auch die grundbesitzenden Latiner - anderen Auslaendern war der Erwerb +roemischen Bodens nicht gestattet - wurden zum Dienst herangezogen, sofern sie, +was ohne Zweifel bei den meisten derselben der Fall war, auf roemischem Gebiet +ihren Wohnsitz genommen hatten. Nach der Groesse der Grundstuecke wurde die +kriegstuechtige Mannschaft eingeteilt in die Volldienstpflichtigen oder die +Vollhufener, welche in vollstaendiger Ruestung erscheinen mussten und insofern +vorzugsweise das Kriegsheer (classis) bildeten, waehrend von den vier folgenden +Reihen der kleineren Grundbesitzer, den Besitzern von Dreivierteln, Haelften, +Vierteln und Achteln einer ganzen Bauernstelle, zwar auch die Erfuellung der +Dienstpflicht, nicht aber die volle Armierung verlangt ward, und sie also +unterhalb des Vollsatzes (infra classem) standen. Nach der damaligen Verteilung +des Bodens waren fast die Haelfte der Bauernstellen Vollhufen, waehrend die +Dreiviertel-, Halb- und Viertelhufener jede knapp, die Achtelhufener reichlich +ein Achtel der Ansaessigen ausmachten; weshalb festgesetzt ward, dass fuer das +Fussvolk auf achtzig Vollhufener je zwanzig der drei folgenden und +achtundzwanzig der letzten Reihe ausgehoben werden sollten. Aehnlich verfuhr +man bei der Reiterei: die Zahl der Abteilungen wurde in dieser verdreifacht, +und nur darin wich man hier ab, dass die bereits bestehenden sechs Abteilungen +mit den alten Namen (Tities, Ramnes, Luceres primi und secundi) den Patriziern +blieben, waehrend die zwoelf neuen hauptsaechlich aus den Nichtbuergern +gebildet wurden. Der Grund dieser Abweichung ist wohl darin zu suchen, dass man +damals die Fusstruppen fuer jeden Feldzug neu formierte und nach der Heimkehr +entliess, dagegen die Reiter mit ihren Rossen aus militaerischen Ruecksichten +auch im Frieden zusammengehalten wurden und regelmaessige Uebungen hielten, die +als Festlichkeiten der roemischen Ritterschaft bis in die spaeteste Zeit +fortbestanden ^3. So liess man denn auch bei dieser Reform den einmal +bestehenden Schwadronen ihre hergebrachten Namen. Um auch die Reiterei jedem +Buerger zugaenglich zu machen, wurden die unverheirateten Frauen und die +unmuendigen Waisen, soweit sie Grundbesitz hatten, angehalten, anstatt des +eigenen Dienstes einzelnen Reitern die Pferde - jeder Reiter hatte deren zwei - +zu stellen und zu fuettern. Im ganzen kam auf neun Fusssoldaten ein Reiter; +doch wurden beim effektiven Dienst die Reiter mehr geschont. +</p> + +<p> +—————————————————————————— +</p> + +<p> +^3 Aus demselben Grund wurde bei der Steigerung des Aufgebots nach dem Eintritt +der Huegelroemer die Ritterschaft verdoppelt, bei der Fussmannschaft aber statt +der einfachen Lese eine Doppellegion einberufen. +</p> + +<p> +——————————————————————————- +</p> + +<p> +Die nicht ansaessigen Leute (adcensi, neben dem Verzeichnis der Wehrpflichtigen +stehende Leute) hatten zum Heere die Werk- und Spielleute zu stellen sowie eine +Anzahl Ersatzmaenner, die unbewaffnet (velati) mit dem Heer zogen und, wenn im +Felde Luecken entstanden, mit den Waffen der Kranken und Gefallenen +ausgeruestet in die Reihe eingestellt wurden. +</p> + +<p> +Zum Behuf der Aushebung des Fussvolks wurde die Stadt eingeteilt in vier +“Teile” (tribus) wodurch die alte Dreiteilung wenigstens in ihrer +lokalen Bedeutung beseitigt ward: den palatinischen, der die Anhoehe gleiches +Namens nebst der Velia in sich schloss; den der Subura, dem die Strasse dieses +Namens, die Carinen und der Caelius angehoerten; den esquilinischen; und den +collinischen, den der Quirinal und Viminal, die “Huegel” im +Gegensatz der “Berge” des Kapitol und Palatin, bildeten. Von der +Bildung dieser Distrikte ist bereits frueher die Rede gewesen und gezeigt, in +welcher Weise dieselben aus der alten palatinischen und quirinalischen +Doppelstadt hervorgegangen sind. In welcher Weise es herbeigefuehrt worden ist, +dass jeder ansaessige Buerger einem dieser Stadtteile angehoerte, laesst sich +nicht sagen; aber es war dies der Fall, und dass die vier Distrikte ungefaehr +gleiche Mannzahl hatten, ergibt sich aus ihrer gleichmaessigen Anziehung bei +der Aushebung. Ueberhaupt hat diese Einteilung, die zunaechst auf den Boden +allein und nur folgeweise auf die Besitzer sich bezog, einen ganz aeusserlichen +Charakter und namentlich ist ihr niemals eine religioese Bedeutung zugekommen; +denn dass in jedem Stadtdistrikt eine gewisse Zahl der raetselhaften +Argeerkapellen sich befanden, macht dieselben ebensowenig zu sakralen Bezirken, +als es die Gassen dadurch wurden, dass in jeder ein Larenaltar errichtet ward. +</p> + +<p> +Jeder dieser vier Aushebungsdistrikte hatte annaehernd den vierten Teil wie der +ganzen Mannschaft, so jeder einzelnen militaerischen Abteilung zu stellen, +sodass jede Legion und jede Zenturie gleich viel Konskribierte aus jedem Bezirk +zaehlte, um alle Gegensaetze gentilizischer und lokaler Natur in dem einen und +gemeinsamen Gemeindeaufgebot aufzuheben und vor allem durch den maechtigen +Hebel des nivellierenden Soldatengeistes Insassen und Buerger zu einem Volke zu +verschmelzen. +</p> + +<p> +Militaerisch wurde die waffenfaehige Mannschaft geschieden in ein erstes und +zweites Aufgebot, von denen jene, die “Juengeren”, vom laufenden +achtzehnten bis zum vollendeten sechsundvierzigsten Jahre, vorwiegend zum +Felddienst verwandt wurden, waehrend die “Aelteren” die Mauern +daheim schirmten. Die militaerische Einheit ward in der Infanterie die jetzt +verdoppelte Legion, eine vollstaendig nach alter dorischer Art gereihte und +geruestete Phalanx von sechstausend Mann, die sechs Glieder hoch eine Front von +tausend Schwergeruesteten bildete; wozu dann noch 2400 +“Ungeruestete” (velites, s. 1, 84, A.) kamen. Die vier ersten +Glieder der Phalanx, die classis, bildeten die vollgeruesteten Hopliten der +Vollhufener, im fuenften und sechsten standen die minder geruesteten Bauern der +zweiten und dritten Abteilung; die beiden letzten traten als letzte Glieder zu +der Phalanx hinzu oder kaempften daneben als Leichtbewaffnete. Fuer die leichte +Ausfuellung zufaelliger Luecken, die der Phalanx so verderblich sind, war +gesorgt. Es standen also in derselben 84 Zenturien oder 8400 Mann, davon 6000 +Hopliten, 4000 der ersten, je 1000 der beiden folgenden Abteilungen, ferner +2400 Leichte, davon 1000 der vierten, 1200 der fuenften Abteilung; ungefaehr +stellte jeder Aushebungsbezirk zu der Phalanx 2100, zu jeder Zenturie 25 Mann. +Diese Phalanx war das zum Ausruecken bestimmte Heer, waehrend die gleiche +Truppenmacht auf die fuer die Stadtverteidigung zurueckbleibenden Aelteren +gerechnet wurde; wodurch also der Normalbestand des Fussvolks auf 16800 Mann +kam, 80 Zenturien der ersten, je 20 der drei folgenden, 28 der letzten +Abteilung; ungerechnet die beiden Zenturien Ersatzmannschaft sowie die der +Werk- und die der Spielleute. Zu allen diesen kam die Reiterei, welche aus 1800 +Pferden bestand; dem ausrueckenden Heer ward indes oft nur der dritte Teil der +Gesamtzahl beigegeben. Der Normalbestand des roemischen Heeres ersten und +zweiten Aufgebots stieg sonach auf nahe an 20000 Mann; welche Zahl dem +Effektivbestand der roemischen Waffenfaehigen, wie er war zur Zeit der +Einfuehrung dieser neuen Organisation, unzweifelhaft im allgemeinen entsprochen +haben wird. Bei steigender Bevoelkerung wurde nicht die Zahl der Zenturien +vermehrt, sondern man verstaerkte durch zugegebene Leute die einzelnen +Abteilungen, ohne doch die Grundzahl ganz fallen zu lassen; wie denn die +roemischen der Zahl nach geschlossenen Korporationen ueberhaupt haeufig durch +Aufnahme ueberzaehliger Mitglieder die ihnen gesetzte Schranke umgingen. +</p> + +<p> +Mit dieser neuen Heeresordnung Hand in Hand ging die sorgfaeltigere +Beaufsichtigung des Grundbesitzes von seiten des Staats. Es wurde entweder +jetzt eingefuehrt oder doch sorgfaeltiger bestimmt, dass ein Erdbuch angelegt +werde, in welchem die einzelnen Grundbesitzer ihre Aecker mit dem Zubehoer, den +Gerechtigkeiten, den Knechten, den Zug- und Lasttieren verzeichnen lassen +sollten. Jede Veraeusserung, die nicht offenkundig und vor Zeugen geschah, +wurde fuer nichtig erklaert und eine Revision des Grundbesitzregisters, das +zugleich Aushebungsrolle war, in jedem vierten Jahre vorgeschrieben. So sind +aus der servianischen Kriegsordnung die Manzipation und der Zensus +hervorgegangen. +</p> + +<p> +Augenscheinlich ist diese ganze Institution von Haus aus militaerischer Natur. +In dem ganzen weitlaeufigen Schema begegnet auch nicht ein einziger Zug, der +auf eine andere als die rein kriegerische Bestimmung der Zenturien hinwiese; +und dies allein muss fuer jeden, der in solchen Dingen zu denken gewohnt ist, +genuegen, um ihre Verwendung zu politischen Zwecken fuer spaetere Neuerung zu +erklaeren. Wenn, wie wahrscheinlich, in aeltester Zeit, wer das sechzigste Jahr +ueberschritten hat, von den Zenturien ausgeschlossen ist, so hat dies keinen +Sinn, sofern dieselben von Anfang an bestimmt waren, gleich und neben den +Kurien die Buergergemeinde zu repraesentieren. Indes wenn auch die +Zenturienordnung lediglich eingefuehrt ward, um die Schlagfertigkeit der +Buergschaft durch die Beziehung der Insassen zu steigern, und insofern nichts +verkehrter ist, als die Servianische Ordnung fuer die Einfuehrung der +Timokratie in Rom auszugeben, so wirkte doch folgeweise die neue +Wehrpflichtigkeit der Einwohnerschaft auch auf ihre politische Stellung +wesentlich zurueck. Wer Soldat werden muss, muss auch Offizier werden koennen, +solange der Staat nicht faul ist; ohne Frage konnten in Rom jetzt auch Plebejer +zu Centurionen und Kriegstribunen ernannt werden. Wenn ferner auch der +bisherigen in den Kurien vertretenen Buergerschaft durch die +Zenturieninstitution der Sonderbesitz der politischen Rechte nicht geschmaelert +werden sollte, so mussten doch unvermeidlich diejenigen Rechte, welche die +bisherige Buergerschaft nicht als Kurienversammlung, sondern als +Buergeraufgebot geuebt hatte, uebergehen auf die neuen Buerger- und +Insassenzenturien. Die Zenturien also sind es fortan, die der Koenig vor dem +Beginn eines Angriffskrieges um ihre Einwilligung zu befragen hat. Es ist +wichtig der spaeteren Entwicklung wegen, diese ersten Ansaetze zu einer +Beteiligung der Zenturien an den oeffentlichen Angelegenheiten zu bezeichnen; +allein zunaechst trat der Erwerb dieser Rechte durch die Zenturien mehr +folgeweise ein, als dass er geradezu beabsichtigt worden waere, und nach wie +vor der Servianischen Reform galt die Kurienversammlung als die eigentliche +Buergergemeinde, deren Huldigung das ganze Volk dem Koenig verpflichtete. Neben +diesen neuen grundsaessigen Vollbuergern standen die angesessenen Auslaender +aus dem verbuendeten Latium als teilnehmend an den oeffentlichen Lasten, der +Steuer und den Fronden (daher municipes); waehrend die ausser den Tribus +stehenden, nicht ansaessigen und des Wehr- und Stimmrechts entbehrenden Buerger +nur als steuerpflichtig (aerarii) in Betracht kommen. +</p> + +<p> +Hatte man somit bisher nur zwei Klassen der Gemeindeglieder: Buerger und +Schutzverwandte unterschieden, so stellten jetzt sich diese drei politischen +Klassen fest, die viele Jahrhunderte hindurch das roemische Staatsrecht +beherrscht haben. +</p> + +<p> +Wann und wie diese neue militaerische Organisation der roemischen Gemeinde ins +Leben trat, darueber sind nur Vermutungen moeglich. Sie setzt die vier +Quartiere voraus, das heisst, die Servianische Mauer musste gezogen sein, bevor +die Reform stattfand. Aber auch das Stadtgebiet musste schon seine +urspruengliche Grenze betraechtlich ueberschritten haben, wenn es 8000 volle +ebensoviel Teilhufener oder Hufenersoehne stellen konnte. Wir kennen zwar den +Flaechenraum der vollen roemischen Bauernstelle nicht, allein es wird nicht +moeglich sein, sie unter 20 Morgen anzusetzen ^4; rechnen wir als Minimum 10000 +Vollhufen, so wuerden diese einen Flaechenraum von 9 deutschen Quadratmeilen +Ackerland voraussetzen, wonach, wenn man Weide, Haeuserraum und nicht +kulturfaehigen Boden noch so maessig in Ansatz bringt, das Gebiet zu der Zeit, +wo diese Reform durchgefuehrt ward, mindestens eine Ausdehnung von 20 +Quadratmeilen, wahrscheinlich aber eine noch betraechtlichere, gehabt haben +muss. Folgt man der Ueberlieferung, so muesste man gar eine Zahl von 84000 +ansaessigen und waffenfaehigen Buergern annehmen; denn so viel soll Servius bei +dem ersten Zensus gezaehlt haben. Indes dass diese Zahl fabelhaft ist, zeigt +ein Blick auf die Karte; auch ist sie nicht wahrhaft ueberliefert, sondern +vermutungsweise berechnet, indem die 16800 Waffenfaehigen des Normalstandes der +Infanterie nach einem durchschnittlichen die Familie zu fuenf Koepfen +ansetzenden Ueberschlag eine Zahl von 84000 Buergern zu ergeben schienen und +diese Zahl mit der der Waffenfaehigen verwechselt ward. Aber auch nach jenen +maessigeren Saetzen ist bei einem Gebiet von etwa 16000 Hufen mit einer +Bevoelkerung von nahe an 20000 Waffenfaehigen und mindestens der dreifachen +Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grundsaessigen Leuten und Knechten +notwendig anzunehmen, dass nicht bloss die Gegend zwischen Tiber und Anio +gewonnen, sondern auch die albanische Mark erobert war, bevor die Servianische +Verfassung festgestellt wurde; womit denn auch die Sage uebereinstimmt. Wie das +Verhaeltnis der Patrizier und Plebejer im Heere sich der Zahl nach +urspruenglich gestellt hat, ist nicht zu ermitteln. +</p> + +<p> +————————————————————————————— +</p> + +<p> +^4 Schon um 480 erschienen Landlose von sieben Morgen (Val. Max. 3, 3, 5; +Colum. 1 praef. 14, 1, 3, 11; Plin. nat. 18,3,18; vierzehn Morgen: Ps. Aur. +Vict. 33; Plut. apophth. reg. et imp. p. 235 Duebner, wonach Plut. Crass. 2 zu +berichtigen ist) den Empfaengern klein. +</p> + +<p> +Die Vergleichung der deutschen Verhaeltnisse ergibt dasselbe. Jugerum und +Morgen, beide urspruenglich mehr Arbeits- als Flaechenmasse, koennen angesehen +werden als urspruenglich identisch. Wenn die deutsche Hufe regelmaessig aus 30, +nicht selten auch aus 20 oder 40 Morgen bestand, und die Hofstaette haeufig, +wenigstens bei den Angelsachsen, ein Zehntel der Hufe betrug, so wird bei +Beruecksichtigung der klimatischen Verschiedenheit und des roemischen Heredium +von zwei Morgen die Annahme einer roemischen Hufe von 20 Morgen den +Verhaeltnissen angemessen erscheinen. Freilich bleibt es zu bedauern, dass die +Ueberlieferung uns eben hier im Stich laesst. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +Im allgemeinen aber ist es einleuchtend einerseits, dass diese Servianische +Institution nicht hervorgegangen ist aus dem Staendekampf, sondern dass sie den +Stempel eines reformierenden Gesetzgebers an sich traegt gleich der Verfassung +des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos, anderseits, dass sie entstanden ist +unter griechischem Einfluss. Einzelne Analogien koennen truegen, wie zum +Beispiel die schon von den Alten hervorgehobene, dass auch in Korinth die +Ritterpferde auf die Witwen und Waisen angewiesen wurden; aber die Entlehnung +der Ruestung wie der Gliederstellung von dem griechischen Hoplitensystem ist +sicher kein zufaelliges Zusammentreffen. Erwaegen wir nun, dass eben im zweiten +Jahrhundert der Stadt die griechischen Staaten in Unteritalien von der reinen +Geschlechterverfassung fortschritten zu einer modifizierten, die das +Schwergewicht in die Haende der Besitzenden legte ^5, so werden wir hierin den +Anstoss erkennen, der in Rom die Servianische Reform hervorrief, eine im +wesentlichen auf demselben Grundgedanken beruhende und nur durch die streng +monarchische Form des roemischen Staats in etwas abweichende Bahnen gelenkte +Verfassungsaenderung. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +^5 Auch die Analogie zwischen der sogenannten Servianischen Verfassung und der +Behandlung der attischen Metoeken verdient hervorgehoben zu werden. Athen hat +eben wie Rom verhaeltnismaessig frueh den Insassen die Tore geoeffnet und dann +auch dieselben zu den Lasten des Staates mit herangezogen. Je weniger hier ein +unmittelbarer Zusammenhang angenommen werden kann, desto bestimmter zeigt es +sich, wie dieselben Ursachen - staedtische Zentralisierung und staedtische +Entwicklung - ueberall und notwendig die gleichen Folgen herbeifuehren. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap07"></a>KAPITEL VII.<br/> +Roms Hegemonie in Latium</h2> + +<p> +An Fehden unter sich und mit den Nachbarn wird es der tapfere und +leidenschaftliche Stamm der Italiker niemals haben fehlen lassen; mit dem +Aufbluehen des Landes und der steigenden Kultur muss die Fehde allmaehlich in +den Krieg, der Raub in die Eroberung uebergegangen sein und politische Maechte +angefangen haben, sich zu gestalten. Indes von jenen fruehesten Raufhaendeln +und Beutezuegen, in denen der Charakter der Voelker sich bildet und sich +aeusserst wie in den Spielen und Fahrten des Knaben der Sinn des Mannes, hat +kein italischer Homer uns ein Abbild aufbewahrt; und ebensowenig gestattet uns +die geschichtliche Ueberlieferung, die aeussere Entwicklung der +Machtverhaeltnisse der einzelnen latinischen Gaue auch nur mit annaehernder +Genauigkeit zu erkennen. Hoechstens von Rom laesst die Ausdehnung seiner Macht +und seines Gebietes sich einigermassen verfolgen. Die nachweislich aeltesten +Grenzen der vereinigten roemischen Gemeinde sind bereits angegeben worden; sie +waren landeinwaerts durchschnittlich nur etwa eine deutsche Meile von dem +Hauptort des Gaus entfernt und erstreckten sich einzig gegen die Kueste zu bis +an die etwas ueber drei deutsche Meilen von Rom entfernte Tibermuendung +(Ostia). “Groessere und kleinere Voelkerschaften”, sagt Strabon in +der Schilderung des aeltesten Rom, “umschlossen die neue Stadt, von denen +einige in unabhaengigen Ortschaften wohnten und keinem Stammverband botmaessig +waren”. Auf Kosten zunaechst dieser stammverwandten Nachbarn scheinen die +aeltesten Erweiterungen des roemischen Gebietes erfolgt zu sein. +</p> + +<p> +Die am oberen Tiber und zwischen Tiber und Anio gelegenen latinischen Gemeinden +Antemnae, Crustumerium, Ficulnea, Medullia, Caenina, Corniculum, Cameria, +Collatia drueckten am naechsten und empfindlichsten auf Rom und scheinen schon +in fruehester Zeit durch die Waffen der Roemer ihre Selbstaendigkeit +eingebuesst zu haben. Als selbstaendige Gemeinde erscheint in diesem Bezirk +spaeter nur Nomentum, das vielleicht durch Buendnis mit Rom seine Freiheit +rettete; um den Besitz von Fidenae, dem Brueckenkopf der Etrusker am linken +Ufer des Tiber, kaempften Latiner und Etrusker, das heisst Roemer und Veienter +mit wechselndem Erfolg. Gegen Gabii, das die Ebene zwischen dem Anio und den +Albaner Bergen innehatte, stand der Kampf lange Zeit im Gleichgewicht; bis in +die spaete Zeit hinab galt das gabinische Gewand als gleichbedeutend mit dem +Kriegskleid und der gabinische Boden als Prototyp des feindlichen Landes ^1. +Durch diese Eroberungen mochte das roemische Gebiet sich auf etwa 9 +Quadratmeilen erweitert haben. Aber lebendiger als diese verschollenen Kaempfe +ist, wenn auch in sagenhaftem Gewande, der Folgezeit eine andere uralte +Waffentat der Roemer im Andenken geblieben: Alba, die alte heilige Metropole +Latiums, ward von roemischen Scharen erobert und zerstoert. Wie der +Zusammenstoss entstand und wie er entschieden ward, ist nicht ueberliefert; der +Kampf der drei roemischen gegen die drei albanischen Drillingsbrueder ist +nichts als eine personifizierte Bezeichnung des Kampfes zweier maechtiger und +eng verwandter Gaue, von denen wenigstens der roemische ein dreieiniger war. +Wir wissen eben nichts weiter als die nackte Tatsache der Unterwerfung und +Zerstoerung Albas durch Rom ^2. +</p> + +<p> +—————————————————————————— +</p> + +<p> +^1 Ebenso charakteristisch sind die Verwuenschungsformeln fuer Gabii und +Fidenae (Macr. Sat. 3, 9), waehrend doch eine wirkliche geschichtliche +Verfluchung des Stadtbodens, wie sie bei Veii, Karthago, Fregellae in der Tat +stattgefunden hat, fuer diese Staedte nirgends nachweisbar und hoechst +unwahrscheinlich ist. Vermutlich waren alte Bannfluchformulare auf diese beiden +verhassten Staedte gestellt und wurden von spaeteren Antiquaren fuer +geschichtliche Urkunden gehalten. +</p> + +<p> +^2 Aber zu bezweifeln, dass die Zerstoerung Albas in der Tat von Rom +ausgegangen sei wie es neulich von achtbarer Seite geschehen ist, scheint kein +Grund vorhanden. Es ist wohl richtig, dass der Bericht ueber Albas Zerstoerung +in seinen Einzelheiten eine Kette von Unwahrscheinlichkeiten und +Unmoeglichkeiten ist; aber das gilt eben von jeder in Sagen eingesponnenen +historischen Tatsache. Auf die Frage, wie sich das uebrige Latium zu dem Kampfe +zwischen Alba und Rom verhielt, haben wir freilich keine Antwort; aber die +Frage selbst ist falsch gestellt, denn es ist unerwiesen, dass die latinische +Bundesverfassung einen Sonderkrieg zweier latinischer Gemeinden schlechterdings +untersagte. Noch weniger widerspricht die Aufnahme einer Anzahl albischer +Familien in den roemischen Buergerverband der Zerstoerung Albas durch die +Roemer; warum soll es nicht in Alba eben wie in Capua eine roemische Partei +gegeben haben? Entscheidend duerfte aber der Umstand sein, dass Rom in +religioeser wie in politischer Hinsicht als Rechtsnachfolgerin von Alba +auftritt; welcher Anspruch nicht auf die Uebersiedelung einzelner Geschlechter, +sondern nur auf die Eroberung der Stadt sich gruenden konnte und gegruendet +ward. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +Dass in der gleichen Zeit, wo Rom sich am Anio und auf dem Albaner Gebirge +festsetzte, auch Praeneste, welches spaeterhin als Herrin von acht benachbarten +Ortschaften erscheint, ferner Tibur und andere latinische Gemeinden in gleicher +Weise ihr Gebiet erweitert und ihre spaetere verhaeltnismaessig ansehnliche +Macht begruendet haben moegen, laesst sich vollends nur vermuten. +</p> + +<p> +Mehr als die Kriegsgeschichten vermissen wir genaue Berichte ueber den +rechtlichen Charakter und die rechtlichen Folgen dieser aeltesten latinischen +Eroberungen. Im ganzen ist es nicht zu bezweifeln, dass sie nach demselben +Inkorporationssystem behandelt wurden, woraus die dreiteilige roemische +Gemeinde hervorgegangen war; nur dass die durch die Waffen zum Eintritt +gezwungenen Gaue nicht einmal, wie jene aeltesten drei, als Quartiere der neuen +vereinigten Gemeinde eine gewisse relative Selbstaendigkeit bewahrten, sondern +voellig und spurlos in dem Ganzen verschwanden (I, 99). Soweit die Macht des +latinischen Gaues reichte, duldete er in aeltester Zeit keinen politischen +Mittelpunkt ausser dem eigenen Hauptort, und noch weniger legte er +selbstaendige Ansiedlungen an, wie die Phoeniker und die Griechen es taten und +damit in ihren Kolonien vorlaeufig Klienten und kuenftige Rivalen der +Mutterstadt erschufen. Am merkwuerdigsten in dieser Hinsicht ist die +Behandlung, die Ostia durch Rom erfuhr: Die faktische Entstehung einer Stadt an +dieser Stelle konnte und wollte man nicht hindern, gestattete aber dem Orte +keine politische Selbstaendigkeit und gab darum den dort Angesiedelten kein +Ortsbuerger-, sondern liess ihnen bloss, wenn sie es bereits besassen, das +allgemeine roemische Buergerrecht ^3. Nach diesem Grundsatz bestimmte sich auch +das Schicksal der schwaecheren Gaue, die durch Waffengewalt oder auch durch +freiwillige Unterwerfung einem staerkeren untertaenig wurden. Die Festung des +Gaues wurde geschleift, seine Mark zu der Mark der Ueberwinder geschlagen, den +Gaugenossen selbst wie ihren Goettern in dem Hauptort des siegenden Gaues eine +neue Heimat gegruendet. Eine foermliche Uebersiedelung der Besiegten in die +neue Hauptstadt, wie sie bei den Staedtegruendungen im Orient Regel ist, wird +man hierunter freilich nicht unbedingt zu verstehen haben. Die Staedte Latiums +konnten in dieser Zeit wenig mehr sein als die Festungen und Wochenmaerkte der +Bauern; im ganzen genuegte die Verlegung des Markt- und Dingverkehrs an den +neuen Hauptort. Dass selbst die Tempel oft am alten Platze blieben, laesst sich +an dem Beispiel von Alba und Caenina dartun, welchen Staedten noch nach der +Zerstoerung eine Art religioeser Scheinexistenz geblieben sein muss. Selbst wo +die Festigkeit des geschleiften Ortes eine wirkliche Verpflanzung der Insassen +erforderlich machte, wird man mit Ruecksicht auf die Ackerbestellung dieselben +haeufig in offenen Weilern ihrer alten Mark angesiedelt haben. Dass indes nicht +selten auch die ueberwundenen alle oder zum Teil genoetigt wurden, sich in +ihrem neuen Hauptort niederzulassen, beweist besser als alle einzelnen +Erzaehlungen aus der Sagenzeit Latiums der Satz des roemischen Staatsrechts, +dass nur, wer die Grenzen des Gebietes erweitert habe, die Stadtmauer (das +Pomerium) vorzuschieben befugt sei. Natuerlich wurde den ueberwundenen, +uebergesiedelt oder nicht, in der Regel das Schutzverwandtenrecht aufgezwungen +^4; einzelne Geschlechter wurden aber auch wohl mit dem Buergerrecht, das +heisst dem Patriziat, beschenkt. Noch in der Kaiserzeit kannte man die nach dem +Fall ihrer Heimat in die roemische Buergerschaft eingereihten albischen +Geschlechter, darunter die Iulier, Servilier, Quinctilier, Cloelier, Geganier, +Curiatier, Metilier; das Andenken ihrer Herkunft bewahrten ihre albischen +Familienheiligtuemer, unter denen das Geschlechterheiligtum der Iulier in +Bovillae sich in der Kaiserzeit wieder zu grossem Ansehen erhob. +</p> + +<p> +———————————————————————— +</p> + +<p> +^3 Hieraus entwickelte sich der staatsrechtliche Begriff der See- oder +Buergerkolonie (colonia civium Romanorum), das heisst einer faktisch +gesonderten, aber rechtlich unselbstaendigen und willenlosen Gemeinde, die in +der Hauptstadt aufgeht wie im Vermoegen des Vaters das Peculium des Sohnes und +als stehende Besatzung vom Dienst in der Legion befreit ist. +</p> + +<p> +^4 Darauf geht ohne Zweifel die Bestimmung der Zwoelf Tafeln: Nex[i +mancipiique] forti sanatique idem ius esto, d. h. es soll im privatrechtlichen +Verkehr dem Guten und dem Gebesserten gleiches Recht zustehen. An die +latinischen Bundesgenossen kann hier nicht gedacht sein, da deren rechtliche +Stellung durch die Bundesvertraege bestimmt wird und das Zwoelftafelgesetz +ueberhaupt nur vom Landrecht handelt; sondern die sanates sind die Latini +prisci cives Romani, das heisst die von den Roemern in das Plebejat genoetigten +Gemeinden Latiums. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +Diese Zentralisierung mehrerer kleiner Gemeinden in einer groesseren war +natuerlich nichts weniger als eine spezifisch roemische Idee. Nicht bloss die +Entwicklung Latiums und der sabellischen Staemme bewegt sich um die Gegensaetze +der nationalen Zentralisation und der kantonalen Selbstaendigkeit, sondern es +gilt das gleiche auch von der Entwicklung der Hellenen. Es war dieselbe +Verschmelzung vieler Gaue zu einem Staat, aus der in Latium Rom und in Attika +Athen hervorging; und eben dieselbe Fusion war es, welche der weise Thales dem +bedraengten Bunde der ionischen Staedte als den einzigen Weg zur Rettung ihrer +Nationalitaet bezeichnete. Wohl aber ist es Rom gewesen, das diesen +Einheitsgedanken folgerichtiger, ernstlicher und gluecklicher festhielt als +irgendein anderer italischer Gau; und eben wie Athens hervorragende Stellung in +Hellas die Folge seiner fruehen Zentralisierung ist, so hat auch Rom seine +Groesse lediglich demselben hier noch weit energischer durchgefuehrten System +zu danken. +</p> + +<p> +Wenn also die Eroberungen Roms in Latium im wesentlichen als gleichartige, +unmittelbare Gebiets- und Gemeindeerweiterungen betrachtet werden duerfen, so +kommt doch derjenigen von Alba noch eine besondere Bedeutung zu. Es sind nicht +bloss die problematische Groesse und der etwaige Reichtum der Stadt, welche die +Sage bestimmt haben, die Entnahme Albas in so besonderer Weise hervorzuheben. +Alba galt als die Metropole der latinischen Eidgenossenschaft und hatte die +Vorstandschaft unter den dreissig berechtigten Gemeinden. Die Zerstoerung Albas +hob natuerlich den Bund selbst so wenig auf wie die Zerstoerung Thebens die +boeotische Genossenschaft ^5; vielmehr nahm, dem streng privatrechtlichen +Charakter des latinischen Kriegsrechts vollkommen entsprechend, Rom jetzt als +Rechtsnachfolgerin von Alba dessen Bundesvorstandschaft in Anspruch. Ob und +welche Krisen der Anerkennung dieses Anspruchs vorhergingen oder nachfolgten, +vermoegen wir nicht anzugeben; im ganzen scheint man die roemische Hegemonie +ueber Latium bald und durchgaengig anerkannt zu haben, wenn auch einzelne +Gemeinden, wie zum Beispiel Labici und vor allem Gabii, zeitweilig sich ihr +entzogen haben moegen. Schon damals mochte Rom als seegewaltig der Landschaft, +als Stadt den Dorfschaften, als Einheitsstaat der Eidgenossenschaft +gegenueberstehen, schon damals nur mit und durch Rom die Latiner ihre Kuesten +gegen Karthager, Hellenen und Etrusker schirmen und ihre Landgrenze gegen die +unruhigen Nachbarn sabellischen Stammes behaupten und erweitern koennen. Ob der +materielle Zuwachs, den Rom durch die Ueberwaeltigung von Alba erhielt, +groesser war als die durch die Einnahme von Antemnae oder Collatia erlangte +Machtvermehrung, laesst sich nicht ausmachen; es ist sehr moeglich, dass Rom +nicht erst durch die Eroberung Albas die maechtigste latinische Gemeinde ward, +sondern schon lange vorher es war; aber was dadurch gewonnen ward, war die +Vorstandschaft bei dem latinischen Feste und damit die Grundlage der kuenftigen +Hegemonie der roemischen Gemeinde ueber die gesamte latinische +Eidgenossenschaft. Es ist wichtig, diese entscheidenden Verhaeltnisse so +bestimmt wie moeglich zu bezeichnen. +</p> + +<p> +—————————————————————————— +</p> + +<p> +^5 Es scheint sogar aus einem Teile der albischen Mark die Gemeinde Bovillae +gebildet und diese an Albas Platz unter die autonomen latinischen Staedte +eingetreten zu sein. Ihren albischen Ursprung bezeugt der Iulierkult und der +Name Albani Longani Bovillenses (Orelli-Henzen 119, 2252, 6019); ihre Autonomie +Dionysios (5, 61) und Cicero (Planc. 9, 23). +</p> + +<p> +———————————————————————————————- +</p> + +<p> +Die Form der roemischen Hegemonie ueber Latium war im ganzen die eines gleichen +Buendnisses zwischen der roemischen Gemeinde einer- und der latinischen +Eidgenossenschaft anderseits, wodurch ein ewiger Landfriede in der ganzen Mark +und ein ewiges Buendnis fuer den Angriff wie fuer die Verteidigung festgestellt +ward. “Friede soll sein zwischen den Roemern und allen Gemeinden der +Latiner, solange Himmel und Erde bestehen; sie sollen nicht Krieg fuehren +untereinander noch Feinde ins Land rufen noch Feinden den Durchzug gestatten; +dem Angegriffenen soll Hilfe geleistet werden mit gesamter Hand und +gleichmaessig verteilt werden, was gewonnen ist im gemeinschaftlichen +Krieg.” Die verbriefte Rechtsgleichheit im Handel und Wandel, im +Kreditverkehr wie im Erbrecht, verflocht die Interessen der schon durch die +gleiche Sprache und Sitte verbundenen Gemeinden noch durch die tausendfachen +Beziehungen des Geschaeftsverkehrs, und es ward damit etwas aehnliches erreicht +wie in unserer Zeit durch die Beseitigung der Zollschranken. Allerdings blieb +jeder Gemeinde formell ihr eigenes Recht; bis auf den Bundesgenossenkrieg war +das latinische Recht mit dem roemischen nicht notwendig identisch, und wir +finden zum Beispiel, dass die Klagbarkeit der Verloebnisse, die in Rom frueh +abgeschafft ward, in den latinischen Gemeinden bestehen blieb. Allein die +einfache und rein volkstuemliche Entwicklung des latinischen Rechtes und das +Bestreben, die Rechtsgleichheit moeglichst festzuhalten, fuehrten denn doch +dahin, dass das Privatrecht in Inhalt und Form wesentlich dasselbe war in ganz +Latium. Am schaerfsten tritt diese Rechtsgleichheit hervor in den Bestimmungen +ueber den Verlust und den Wiedergewinn der Freiheit des einzelnen Buergers. +Nach einem alten ehrwuerdigen Rechtssatz des latinischen Stammes konnte kein +Buerger in dem Staat, wo er frei gewesen war, Knecht werden oder innerhalb +dessen das Buergerrecht einbuessen; sollte er zur Strafe die Freiheit und, was +dasselbe war, das Buergerrecht verlieren, so musste er ausgeschieden werden aus +dem Staat und bei Fremden in die Knechtschaft eintreten. Diesen Rechtssatz +erstreckte man auf das gesamte Bundesgebiet; kein Glied eines der Bundesstaaten +sollte als Knecht leben koennen innerhalb der gesamten Eidgenossenschaft. +Anwendungen davon sind die in die Zwoelf Tafeln aufgenommene Bestimmung, dass +der zahlungsunfaehige Schuldner, wenn der Glaeubiger ihn verkaufen wolle, +verkauft werden muesse jenseits der Tibergrenze, das heisst ausserhalb des +Bundesgebietes, und die Klausel des zweiten Vertrags zwischen Rom und Karthago, +dass der von den Karthagern gefangene roemische Bundesgenosse frei sein solle, +so wie er einen roemischen Hafen betrete. Wenngleich allgemeine Ehegemeinschaft +innerhalb des Bundes wahrscheinlich nicht bestand, so sind dennoch Zwischenehen +zwischen den verschiedenen Gemeinden, wie dies schon frueher bemerkt worden +ist, haeufig vorgekommen. Die politischen Rechte konnte zunaechst jeder Latiner +nur da ausueben, wo er eingebuergert war; dagegen lag es im Wesen der +privatrechtlichen Gleichheit, dass jeder Latiner an jedem latinischen Orte sich +niederlassen konnte, oder, nach heutiger Terminologie, es bestand neben den +besonderen Buergerrechten der einzelnen Gemeinden ein allgemeines +eidgenoessisches Niederlassungsrecht; und seitdem der Plebejer in Rom als +Buerger anerkannt war, wandelte sich dieses Recht Rom gegenueber um in volle +Freizuegigkeit. Dass dies wesentlich zum Vorteil der Hauptstadt ausschlug, die +allein in Latium staedtischen Verkehr, staedtischen Erwerb, staedtische +Genuesse darzubieten hatte, und dass die Zahl der Insassen in Rom sich reissend +schnell vermehrte, seit die latinische Landschaft im ewigen Frieden mit Rom +lebte, ist begreiflich. +</p> + +<p> +In Verfassung und Verwaltung blieb nicht bloss die einzelne Gemeinde +selbstaendig und souveraen, soweit nicht die Bundespflichten eingriffen, +sondern, was mehr bedeutet, es blieb dem Bunde der dreissig Gemeinden als +solchem Rom gegenueber die Autonomie. Wenn versichert wird, dass Albas Stellung +zu den Bundesgemeinden eine ueberlegenere gewesen sei als die Roms, und dass +die letzteren durch Albas Sturz die Autonomie erlangt haetten, so ist dies +insofern wohl moeglich, als Alba wesentlich Bundesglied war, Rom von Haus aus +mehr als Sonderstaat dem Bunde gegenueber als innerhalb desselben stand; aber +es mag, eben wie die Rheinbundstaaten formell souveraen waren, waehrend die +deutschen Reichsstaaten einen Herrn hatten, der Sache nach vielmehr Albas +Vorstandschaft gleich der des deutschen Kaisers ein Ehrenrecht, Roms +Protektorat von Haus aus wie das napoleonische eine Oberherrlichkeit gewesen +sein. In der Tat scheint Alba im Bundesrat den Vorsitz gefuehrt zu haben, +waehrend Rom die latinischen Abgeordneten selbstaendig, unter Leitung, wie es +scheint, eines aus ihrer Mitte gewaehlten Vorsitzenden, ihre Beratungen +abhalten liess und sich begnuegte mit der Ehrenvorstandschaft bei dem +Bundesopferfest fuer Rom und Latium und mit der Errichtung eines zweiten +Bundesheiligtums in Rom, des Dianatempels auf dem Aventin, so dass von nun an +teils auf roemischem Boden fuer Rom und Latium, teils auf latinischem fuer +Latium und Rom geopfert ward. Nicht minder im Interesse des Bundes war es, dass +die Roemer in dem Vertrag mit Latium sich verpflichteten, mit keiner +latinischen Gemeinde ein Sonderbuendnis einzugehen - eine Bestimmung, aus der +die ohne Zweifel wohlbegruendete Besorgnis der Eidgenossenschaft gegenueber der +maechtigen leitenden Gemeinde sehr klar heraussieht. Am deutlichsten zeigt sich +die Stellung Roms nicht innerhalb, sondern neben Latium in dem Kriegswesen. Die +Bundesstreitmacht ward, wie die spaetere Weise des Aufgebots unwidersprechlich +zeigt, gebildet aus zwei gleich starken Massen, einer roemischen und einer +latinischen. Das Oberkommando stand ein fuer allemal bei den roemischen +Feldherren; Jahr fuer Jahr hatte der latinische Zuzug vor den Toren Roms sich +einzufinden und begruesste hier den erwaehlten Befehlshaber durch Zuruf als +seinen Feldherrn, nachdem die vom latinischen Bundesrat dazu beauftragten +Roemer sich aus der Beobachtung des Voegelflugs der Zufriedenheit der Goetter +mit der getroffenen Wahl versichert hatten. Was im Bundeskrieg an Land und Gut +gewonnen war, wurde nach dem Ermessen der Roemer unter die Bundesglieder +verteilt. Dass dem Ausland gegenueber die roemisch-latinische Foederation nur +durch Rom vertreten worden ist, laesst sich nicht mit Sicherheit behaupten. Der +Bundesvertrag untersagte weder Rom noch Latium, auf eigene Hand einen +Angriffskrieg zu beginnen; und wenn, sei es nach Bundesschluss, sei es infolge +eines feindlichen Ueberfalls, ein Bundeskrieg gefuehrt ward, so mag bei der +Fuehrung wie bei der Beendigung desselben auch der latinische Bundesrat +rechtlich beteiligt gewesen sein. Tatsaechlich freilich wird Rom damals schon +die Hegemonie besessen haben, wie denn, wo immer ein einheitlicher Staat und +ein Staatenbund in eine dauernde Verbindung zueinander treten, das Uebergewicht +auf die Seite von jenem zu fallen pflegt. +</p> + +<p> +Wie nach Albas Fall Rom, jetzt sowohl die Herrin eines verhaeltnismaessig +bedeutenden Gebietes als auch vermutlich die fuehrende Macht innerhalb der +latinischen Eidgenossenschaft, sein unmittelbares und mittelbares Gebiet weiter +ausgedehnt hat, koennen wir nicht mehr verfolgen. Mit den Etruskern, zunaechst +den Veientern, hoerten die Fehden namentlich um den Besitz von Fidenae nicht +auf; es scheint aber nicht, dass es den Roemern gelang, diesen auf dem +latinischen Ufer des Flusses nur eine starke Meile von Rom gelegenen +etruskischen Vorposten dauernd in ihre Gewalt zu bringen und die Veienter aus +dieser gefaehrlichen Offensivbasis zu verdraengen. Dagegen behaupten sie sich, +wie es scheint, unangefochten im Besitz des Ianiculum und der beiden Ufer der +Tibermuendung. Den Sabinern und Aequern gegenueber erscheint Rom in einer mehr +ueberlegenen Stellung; von der spaeterhin so engen Verbindung mit den +entfernteren Hernikern werden wenigstens die Anfaenge schon in der Koenigszeit +bestanden und die vereinigten Latiner und Herniker ihre oestlichen Nachbarn von +zwei Seiten umfasst und niedergehalten haben. Der bestaendige Kriegsschauplatz +aber war die Suedgrenze, das Gebiet der Rutuler und mehr noch das der Volsker. +Nach dieser Richtung hat die latinische Landschaft sich am fruehesten +erweitert, und hier begegnen wir zuerst den von Rom und Latium in dem +feindlichen Lande begruendeten und als autonome Glieder der latinischen +Eidgenossenschaft konstituierten Gemeinden, den sogenannten latinischen +Kolonien, von denen die aeltesten noch in die Koenigszeit hineinzureichen +scheinen. Wie weit indes das roemische Machtgebiet um das Ende der Koenigszeit +sich erstreckte, laesst sich in keiner Weise bestimmen. Von Fehden mit den +benachbarten latinischen und volskischen Gemeinden ist in den roemischen +Jahrbuechern der Koenigszeit genug und nur zuviel die Rede; aber kaum duerften +wenige einzelne Meldungen, wie etwa die der Einnahme von Suessa in der +pomptinischen Ebene, einen geschichtlichen Kern enthalten. Dass die Koenigszeit +nicht bloss die staatlichen Grundlagen Roms gelegt, sondern auch nach aussen +hin Roms Macht begruendet hat, laesst sich nicht bezweifeln; die Stellung der +Stadt Rom mehr gegenueber als in dem latinischen Staatenbund ist bereits im +Beginn der Republik entschieden gegeben und laesst erkennen, dass in Rom schon +in der Koenigszeit eine energische Machtentfaltung nach aussen hin +stattgefunden haben muss. Gewiss sind grosse Taten, ungemeine Erfolge hier +verschollen; aber der Glanz derselben ruht auf der Koenigszeit Roms, vor allem +auf dem koeniglichen Hause der Tarquinier, wie ein fernes Abendrot, in dem die +Umrisse verschwimmen. +</p> + +<p> +So war der latinische Stamm im Zuge, sich unter der Fuehrung Roms zu einigen +und zugleich sein Gebiet nach Osten und Sueden hin zu erweitern; Rom selbst +aber war durch die Gunst der Geschicke und die Kraft der Buerger aus einer +regsamen Handels- und Landstadt der maechtige Mittelpunkt einer bluehenden +Landschaft geworden. Die Umgestaltung der roemischen Kriegsverfassung und die +darin im Keim enthaltene politische Reform, welche uns unter dem Namen der +Servianischen Verfassung bekannt ist, steht im engsten Zusammenhang mit dieser +innerlichen Umwandlung des roemischen Gemeindewesens. Aber auch aeusserlich +musste mit den reicher stroemenden Mitteln, mit den steigenden Anforderungen, +mit dem erweiterten politischen Horizont der Charakter der Stadt sich aendern. +Die Verschmelzung der quirinalischen Nebengemeinde mit der palatinischen muss +bereits vollzogen gewesen sein, als die sogenannte Servianische Reform +stattfand; seit in dieser die Buergerwehr sich in festen und einheitlichen +Formen zusammengenommen hatte, konnte die Buergerschaft nicht dabei beharren, +die einzelnen Huegel, wie sie nacheinander mit Gebaeuden sich gefuellt hatten, +zu verschanzen und etwa noch zur Beherrschung des Tiberlaufes die Flussinsel +und die Hoehe am entgegengesetzten Ufer besetzt zu halten. Die Hauptstadt von +Latium verlangte ein anderes und abgeschlossenes Verteidigungssystem: man +schritt zu dem Bau der Servianischen Mauer. Der neue, zusammenhaengende +Stadtwall begann am Fluss unterhalb des Aventin und umschloss diesen Huegel, an +dem neuerdings (1855) an zwei Stellen, teils am westlichen Abhang gegen den +Fluss zu, teils an dem entgegengesetzten oestlichen, die kolossalen Ueberreste +dieser uralten Befestigungen zum Vorschein gekommen sind, Mauerstuecke von der +Hoehe derjenigen von Alatri und Ferentino, aus maechtigen, viereckig behauenen +Tuffbloecken unregelmaessig geschichtet, die wiedererstandenen Zeugen einer +gewaltigen Epoche, deren Bauten in diesen Felswaenden unvergaenglich dastehen +und deren geistige Taten unvergaenglicher als diese in Ewigkeit fortwirken +werden. Weiter umfasste der Mauerring den Caelius und den ganzen Raum des +Esquilin, Viminal und Quirinal, wo ein ebenfalls erst vor kurzem (1862) wieder +in groesseren Resten zu Tage gekommener Bau, nach aussen von Peperinbloecken +aufgesetzt und durch einen vorgezogenen Graben geschuetzt, nach innen in einen +maechtigen, gegen die Stadt zu abgeboeschten und noch heute imponierenden +Erddamm auslaufend, den Mangel der natuerlichen Verteidigungsmittel ersetzte, +lief von da zum Kapitol, dessen steile Senkung gegen das Marsfeld zu einen Teil +des Stadtwalls ausmachte, und stiess oberhalb der Tiberinsel zum zweitenmal an +den Fluss. Die Tiberinsel nebst der Pfahlbruecke und das Ianiculum gehoerten +nicht zur eigentlichen Stadt, wohl aber war die letztere Hoehe ein befestigtes +Vorwerk. Wenn ferner bisher der Palatin die Burg gewesen war, so wurde dieser +Huegel jetzt dem freien staedtischen Anbau ueberlassen und dagegen auf dem nach +allen Seiten hin freistehenden und bei seinem maessigen Umfang leicht zu +verteidigenden tarpeischen Huegel die neue “Burg” (arx, capitolium) +^6 angelegt mit dem Burgbrunnen, dem sorgfaeltig gefassten +“Quellhaus” (tullianum), der Schatzkammer (aerarium), dem +Gefaengnis und dem aeltesten Versammlungsplatz der Buergerschaft (area +Capitolina), auf dem auch spaeter immer noch die regelmaessigen Abkuendigungen +der Mondzeiten stattgefunden haben. Privatwohnungen dauernder Art sind dagegen +in frueherer Zeit nicht auf dem Burghuegel geduldet worden ^7; und der Raum +zwischen den beiden Spitzen des Huegels, das Heiligtum des argen Gottes +(Ve-diovis) oder, wie die spaetere hellenisierende Epoche es nannte, das Asyl +war mit Wald bedeckt und vermutlich bestimmt, die Bauern mit ihren Herden +aufzunehmen, wenn Ueberschwemmung oder Krieg sie von der Ebene vertrieb. Das +Kapitol war dem Namen wie der Sache nach die Akropole Roms, ein selbstaendiges, +auch noch nach dem Fall der Stadt verteidigungsfaehiges Kastell, dessen Tor +wahrscheinlich nach dem spaeteren Markt zu gelegen hat ^8. In aehnlicher Weise, +wenn auch schwaecher, scheint der Aventin befestigt und der festen Ansiedelung +entzogen worden zu sein. Es haengt damit zusammen, dass fuer eigentlich +staedtische Zwecke, zum Beispiel fuer die Verteilung des zugeleiteten Wassers, +die roemische Stadtbewohnerschaft sich teilte in die eigentlichen Stadtbewohner +(montani) und in die innerhalb der allgemeinen Ringmauer gelegenen, aber doch +nicht zu der eigentlichen Stadt gerechneten Bezirke (pagani Aventinenses, +Ianiculenses, collegia Capitolinorum et Mercurialium) ^9. Der von der neuen +Stadtmauer umschlossene Raum umfasste also ausser der bisherigen palatinischen +und quirinalischen Stadt noch die beiden Bundesfestungen des Kapitol und des +Aventin, ferner das Ianiculum ^10; der Palatin als die eigentliche und aelteste +Stadt ward von den uebrigen Anhoehen, an denen die Mauer entlang gefuehrt war, +wie im Kranz umschlossen und von den beiden Kastellen in die Mitte genommen. +Aber das Werk war nicht vollstaendig, solange der mit schwerer Muehe vor dem +auswaertigen Feinde geschirmte Boden nicht auch dem Wasser abgewonnen war, +welches das Tal zwischen dem Palatin und dem Kapitol dauernd fuellte, sodass +hier vielleicht sogar eine Faehre bestand, und das Tal zwischen dem Kapitol und +der Velia sowie das zwischen Palatin und Aventin versumpfte. Die heute noch +stehenden, aus prachtvollen Quadern zusammengefuegten unterirdischen +Abzugsgraeben, welche die Spaeteren als ein Wunderwerk des koeniglichen Rom +anstaunten, duerften eher der folgenden Epoche angehoeren, da Travertin dabei +verwendet ist und vielfach von Neubauten daran in der republikanischen Zeit +erzaehlt wird; allein die Anlage selbst gehoert ohne Zweifel in die +Koenigszeit, wenngleich vermutlich in eine spaetere Epoche als die Anlage des +Mauerrings und der kapitolinischen Burg. Durch sie wurden an den entsumpften +oder trockengelegten Stellen oeffentliche Plaetze gewonnen, wie die neue +Grossstadt sie bedurfte. Der Versammlungsplatz der Gemeinde, bis dahin der +kapitolinische Platz auf der Burg selbst, ward verlegt auf die Flaeche, die von +der Burg gegen die Stadt sich senkte (comitium), und dehnte von dort zwischen +dem Palatin und den Carinen in der Richtung nach der Velia hin sich aus. An der +der Burg zugekehrten Seite der Dingstaette erhielten auf der nach Art eines +Altanes ueber die Dingstaette sich erhebenden Burgmauer die Ratsmitglieder und +die Gaeste der Stadt bei Festlichkeiten und Volksversammlungen den Ehrenplatz; +und auf dem Versammlungsplatz selbst wurde das Rathaus errichtet, das spaeter +den Namen der hostilischen Kurie fuehrte. Die Estrade fuer den Richterstuhl +(tribunal) und die Buehne, von wo aus zur Buergerschaft gesprochen ward (die +spaeteren rostra), wurden ebenfalls auf der Dingstaette selbst errichtet. Ihre +Verlaengerung gegen die Velia ward der neue Markt (forum Romanum). Am Ende +desselben, unter dem Palatin, erhob sich das Gemeindehaus, das die Amtswohnung +des Koenigs (regia) und den gemeinsamen Herd der Stadt, die Rotunde des +Vestatempels, einschloss; nicht weit davon, an der Suedseite des Marktes, ward +ein dazu gehoeriges zweites Rundgebaeude errichtet, die Kammer der Gemeinde +oder der Tempel der Penaten, der heute noch steht als Vorhalle der Kirche Santi +Cosma e Damiano. Es ist bezeichnend fuer die neu und in ganz anderer Art, als +die Ansiedelung der “sieben Berge” es gewesen war, geeinigte Stadt, +dass neben und ueber die dreissig Kurienherde, mit deren Vereinigung in einem +Gebaeude das palatinische Rom sich begnuegt hatte, in dem Servianischen dieser +allgemeine und einheitliche Stadtherd trat ^11. Laengs der beiden Langseiten +des Marktes reihten sich die Fleischbuden und andere Kauflaeden. In dem Tal +zwischen Aventin und Palatin ward fuer die Rennspiele der “Ring” +abgesteckt; das ward der Circus. Unmittelbar am Flusse ward der Rindermarkt +angelegt und bald entstand hier eines der am dichtesten bevoelkerten Quartiere. +Auf allen Spitzen erhoben sich Tempel und Heiligtuemer, vor allem auf dem +Aventin das Bundesheiligtum der Diana und auf der Hoehe der Burg der weithin +sichtbare Tempel des Vater Diovis, der seinem Volk all diese Herrlichkeit +gewaehrt hatte und nun, wie die Roemer ueber die umliegenden Nationen, so mit +ihnen ueber die unterworfenen Goetter der Besiegten triumphierte. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +^6 Beide Namen, obwohl spaeter auch als Lokalnamen und zwar capitolium von der +nach dem Fluss, arx von der nach dem Quirinal zu liegenden Spitze des +Burghuegels gebraucht, sind urspruenglich, genau den griechischen άκρα und +κορυφή entsprechend, appellativ, wie denn jede latinische Stadt ihr capitolium +ebenfalls hat. Der Lokalname des roemischen Burghuegels ist mons Tarpeius. +</p> + +<p> +^7 Die Bestimmung, ne quis patricius in arce aut capitolio habitaret, +untersagte wohl nur die Umwandlung des Bodens in Privateigentum, nicht die +Anlegung der Wohnhaeuser. Vgl. W. A. Becker Topographie der Stadt Rom (Becker, +Handbuch, 1). Leipzig 1843, S. 386. +</p> + +<p> +^8 Denn von hier fuehrte der Hauptweg, die “Heilige Strasse”, auf +die Burg hinauf und in der Wendung, die diese bei dem Severusbogen nach links +macht, ist noch deutlich die Einbiegung auf das Tor zu erkennen. Dieses selbst +wird in den grossen Bauten, die spaeter am Clivus stattfanden, untergegangen +sein. Das sogenannte Tor an der steilsten Stelle des kapitolinischen Berges, +das unter dem Namen des janualischen oder saturnischen oder auch des offenen +vorkommt und in Kriegszeiten stets offenstehen musste, hatte augenscheinlich +nur religioese Bedeutung und ist nie ein wirkliches Tor gewesen. +</p> + +<p> +^9 Es kommen vier solcher Gilden vor: 1. die Capitolini (Cic. ad Q. fr. 2, 5, +2) mit eigenen magistri (Henzen 6010, 6011) und jaehrlichen Spielen (Liv. 5, +50); vgl. zu CIL I, 805; 2. die Mercuriales (Liv. 2, 27; Cic. a.a.O.; Preller, +Roemische Mythologie. Berlin 1858. Bd. 1, S. 597) ebenfalls mit magistri +(Henzen 6010), die Gilde aus dem Circustal, wo der Mercurtempel sich befand; 3. +die pagani Aventinenses ebenfalls mit magistri (Henzen 6010); 4. die pagani +pagi Ianiculensis ebenfalls mit magistri (CIL I, 801, 802). Es ist gewiss nicht +zufaellig, dass diese vier Gilden, die einzigen derartigen, die in Rom +vorkommen, eben den von den vier oertlichen Tribus aus-, aber von der +Servianischen Mauer eingeschlossenen beiden Huegeln, dem Kapitol und dem +Aventin, und dem zu derselben Befestigung gehoerigen Ianiculum angehoeren; und +damit steht weiter im Zusammenhang, dass als Bezeichnung der gesamten +staedtischen Eingesessenen Roms montani paganive gebraucht wird - vgl. ausser +der bekannten Stelle Cic. dom. 28; 74 besonders das Gesetz ueber die +staedtischen Wasserleitungen bei Festus unter sifus p. 340: [mon]tani paganive +si[fis aquam dividunto]. Die montani, eigentlich die Bewohner der palatinischen +drei Bezirke, scheinen hier a potiori fuer die ganze eigentliche +Stadtbuergerschaft der vier Quartiere gesetzt zu sein; die pagani sind sicher +die ausserhalb der Tribus stehenden Genossenschaften von Aventin und Ianiculum +und die analogen Kollegien vom Kapitol und dem Circustal. +</p> + +<p> +^10 Die “Siebenhuegelstadt” im eigentlichen und religioesen Sinn +ist und bleibt das engere palatinische Altrom. Allerdings hat auch das +Servianische Rom sich wenigstens schon in der ciceronischen Zeit (vgl. z. B. +Cic. Att. 6, 5, 2; Plut. q. Rom. 69) als Siebenhuegelstadt betrachtet, +wahrscheinlich weil das auch in der Kaiserzeit eifrig gefeierte Fest des +Septimontium anfing, als allgemeines Stadtfest zu gelten; aber schwerlich ist +man je darueber zu fester Einigung gelangt, welche von den durch den +Servianischen Mauerring umfassten Anhoehen zu den sieben zaehlen. Die uns +gelaeufigen sieben Berge Palatinus, Aventinus, Caelius, Esquilinus, Viminalis, +Quirinalis, Capitolinus zaehlt kein alter Schriftsteller auf. Sie sind +zusammengestellt aus der traditionellen Erzaehlung von der allmaehlichen +Entstehung der Stadt (Jordan, Topographie der Stadt Rom im Altertum. Bd. 2. +Berlin 1885, S. 206f.), aber das Ianiculum ist dabei nur uebergangen, weil +sonst acht herauskommen wuerden. Die aelteste Quelle, welche die sieben Berge +(montes) Roms aufzaehlt, die Stadtbeschreibung aus der Zeit Konstantins des +Grossen, nennt als solche Palatin, Aventin, Caelius, Esquilin, Tarpeius, +Vaticanus und Ianiculum - wo also der Quirinal und Viminal, offenbar als +colles, fehlen und dafuer zwei “montes” vom rechten Tiberufer, +darunter sogar der ausserhalb der Servianischen Mauer liegende Vaticanus mit +hineingezogen sind. Andere, noch spaetere Listen geben Servius (Aen. 6, 783), +die Berner Scholien zu Vergils Georgiken (2, 535) und Lydus (mens. p. 118 +Bekker). +</p> + +<p> +^11 Sowohl die Lage der beiden Tempel als das ausdrueckliche Zeugnis des +Dionysios (2, 25), dass der Vestatempel ausserhalb der Roma quadrata lag, +bezeugen es, dass diese Anlagen nicht mit der palatinischen, sondern mit der +zweiten (Servianischen) Stadtgruendung im Zusammenhang stehen; und wenn den +Spaeteren dieses Koenigshaus mit dem Vestatempel als Anlage Numas gilt, so ist +die Ursache dieser Annahme zu offenbar, um darauf Gewicht zu legen. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +Die Namen der Maenner, auf deren Geheiss diese staedtischen Grossbauten sich +erhoben, sind nicht viel weniger verschollen, als die der Fuehrer in den +aeltesten roemischen Schlachten und Siegen. Die Sage freilich knuepft die +verschiedenen Werke an verschiedene Koenige an, das Rathaus an Tullus +Hostilius, das Ianiculum und die Holzbruecke an Ancus Marcius, die grosse +Kloake, den Circus, den Jupitertempel, an Tarquinius den Aelteren, den +Dianatempel und den Mauerring an Servius Tullius. Manche dieser Angaben moegen +richtig sein, und es scheint nicht zufaellig, dass der Bau des neuen Mauerrings +mit der neuen Heeresordnung, die ja auf die stetige Verteidigung der +Stadtwaelle wesentliche Ruecksicht nahm, auch der Zeit und dem Urheber nach +zusammengestellt wird. Im ganzen aber wird man sich begnuegen muessen, aus +dieser Ueberlieferung zu entnehmen, was schon an sich einleuchtet, dass diese +zweite Schoepfung Roms mit der Anbahnung der Hegemonie ueber Latium und mit der +Umschaffung des Buergerheeres im engsten Zusammenhange stand; und dass sie zwar +aus einem und demselben grossen Gedanken hervorgegangen, uebrigens aber weder +eines Mannes noch eines Menschenalters Werk ist. Dass auch in diese +Umgestaltung des roemischen Gemeindewesens die hellenische Anregung maechtig +eingegriffen hat, ist ebenso unzweifelhaft, als es unmoeglich ist, die Art und +den Grad dieser Einwirkung darzutun. Es wurde schon bemerkt, dass die +Servianische Militaerverfassung wesentlich hellenischer Art ist, und dass die +Circusspiele nach hellenischem Muster geordnet wurden, wird spaeter gezeigt +werden. Auch das neue Koenigshaus mit dem Stadtherd ist vollstaendig ein +griechisches Prytaneion und der runde, nach Osten schauende und nicht einmal +von den Auguren eingeweihte Vestatempel in keinem Stueck nach italischem, +sondern durchaus nach hellenischem Ritus erbaut. Es scheint danach durchaus +nicht unglaublich, was die Ueberlieferung meldet, dass der roemisch-latinischen +Eidgenossenschaft die ionische in Kleinasien gewissermassen als Muster diente +und darum auch das neue Bundesheiligtum auf dem Aventin dem ephesischen +Artemision nachgebildet ward. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap08"></a>KAPITEL VIII.<br/> +Die umbrisch-sabellischen Stämme.<br/> +Anfänge der Samniten</h2> + +<p> +Spaeter als die der Latiner scheint die Wanderung der umbrischen Staemme +begonnen zu haben, die gleich der latinischen sich suedwaerts bewegte, jedoch +mehr in der Mitte der Halbinsel und gegen die oestliche Kueste zu sich hielt. +Es ist peinlich, davon zu reden, denn die Kunde davon kommt zu uns wie der +Klang der Glocken aus der im Meer versunkenen Stadt. Das Volk der Umbrer dehnt +noch Herodotos bis an die Alpen aus, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass +sie in aeltester Zeit ganz Norditalien innehatten, bis wo im Osten die +illyrischen Staemme begannen, im Westen die Ligurer, von deren Kaempfen mit den +Umbrern es Sagen gibt, und auf deren Ausdehnung in aeltester Zeit gegen Sueden +zu einzelne Namen, zum Beispiel der der Insel Ilva (Elba), verglichen mit den +ligurischen Ilvates, vielleicht einen Schluss gestatten. Dieser Epoche der +umbrischen Groesse moegen die offenbar italischen Namen der aeltesten +Ansiedlungen im Potal, Atria (Schwarzstadt) und Spina (Dornstadt), sowie die +zahlreichen umbrischen Spuren in Suedetrurien (Fluss Umbro, Camars alter Name +von Clusium, Castrum Amerinum) ihren Ursprung verdanken. Ganz besonders +begegnen dergleichen Anzeichen einer der etruskischen voraufgegangenen +italischen Bevoelkerung in dem suedlichen Strich Etruriens zwischen dem +Ciminischen Wald (unterhalb Viterbo) und dem Tiber. In Falerii, der Grenzstadt +Etruriens gegen Umbrien und das Sabinerland, ward nach Strabons Zeugnis eine +andere Sprache geredet als die etruskische, und neuerdings sind daselbst +derartige Inschriften zum Vorschein gekommen, deren Alphabet und Sprache zwar +auch mit dem Etruskischen Beruehrungspunkte hat, aber doch im allgemeinen dem +Latinischen analog ist ^1. Auch der Lokalkult zeigt sabellische Spuren; in +denselben Kreis gehoeren die uralten, auch sakralen Beziehungen zwischen Caere +und Rom. Wahrscheinlich haben die Etrusker diese suedlichen Striche bedeutend +spaeter als die Landschaft nordwaerts vom Ciminischen Wald den Umbrern +entrissen und hat sogar noch nach der tuskischen Eroberung umbrische +Bevoelkerung sich hier gehalten. Die spaeter nach der roemischen Eroberung im +Vergleich mit dem zaehen Festhalten etruskischer Sprache und Sitte im +noerdlichen Etrurien so auffallend schnell erfolgende Latinisierung der +suedlichen Landschaft findet vermutlich eben hierin ihren letzten Grund. Dass +von Norden und Westen her die Umbrer nach harten Kaempfen zurueckgedraengt +wurden in das enge Bergland zwischen den beiden Armen des Apennin, das sie +spaeter innehaben, bezeichnet schon ihre geographische Lage ebenso deutlich, +wie heutzutage die der Bewohner Graubuendens und die der Basken ihre aehnlichen +Schicksale andeutet; auch die Sage weiss zu berichten, dass die Tusker den +Umbrern dreihundert Staedte entrissen haben, und, was mehr ist, in den +Nationalgebeten der umbrischen Iguviner, die wir noch besitzen, werden nebst +anderen Staemmen vor allem die Tusker als Landesfeinde verwuenscht. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +^1 In dem Alphabet ist besonders bemerkenswert, das r von der lateinischen (R), +nicht von der etruskischen Form (D) und das z ( ); es kann nur aus dem +primitiven lateinischen abgeleitet sein und wird dies sehr getreu darstellen. +Die Sprache steht ebenfalls dem aeltesten Latein nah; Marci Acarcelini he cupa, +das ist Marcius Acarcelinius heic cubat; Menerva A. Cotena La. f. …. zenatuo +sentem …. dedet cuando … cuncaptum, das ist Minervae A(ulus?) Cotena La(rtis) +f(ilius) . . de senatus sententia dedit quando (wohl = olim) conceptum. +Zugleich mit diesen und aehnlichen haben sich einige andere Inschriften +gefunden von abweichender und unzweifelhaft etruskischer Sprache und Schrift. +</p> + +<p> +———————————————————- +</p> + +<p> +Vermutlich infolge dieses von Norden her auf sie geuebten Druckes dringen die +Umbrer vor gegen Sueden, im allgemeinen sich haltend auf dem Gebirgszug, da sie +die Ebenen schon von den latinischen Staemmen besetzt fanden, jedoch ohne +Zweifel das Gebiet ihrer Stammverwandten oft betretend und beschraenkend und +mit ihnen sich um so leichter vermischend, als der Gegensatz in Sprache und +Weise damals noch bei weitem nicht so scharf ausgepraegt sein konnten, wie wir +spaeter ihn finden. In diesen Kreis gehoert, was die Sage zu erzaehlen weiss +von dem Eindringen der Reatiner und Sabiner in Latium und ihren Kaempfen mit +den Roemern; aehnliche Erscheinungen moegen sich laengs der ganzen Westkueste +wiederholt haben. Im ganzen behaupten die Sabiner sich in den Bergen, so in der +von ihnen seitdem benannten Landschaft neben Latium und ebenso in dem +Volskerland, vermutlich, weil die latinische Bevoelkerung hier fehlte oder doch +minder dicht war; waehrend anderseits die wohlbevoelkerten Ebenen besser +Widerstand zu leisten vermochten, ohne indes das Eindringen einzelner +Genossenschaften, wie der Titier und spaeter der Claudier in Rom, ganz abwehren +zu koennen oder zu wollen. So mischten sich hier die Staemme hueben und +drueben, woraus sich auch erklaert, weshalb die Volsker mit den Latinern in +zahlreichen Beziehungen stehen und nachher dieser Strich sowie die Sabina so +frueh und so schnell sich latinisieren konnten. +</p> + +<p> +Der Hauptstock des umbrischen Stammes aber warf sich aus der Sabina oestlich in +die Gebirge der Abruzzen und das suedlich an diese sich anschliessende +Huegelland: sie besetzten auch hier wie an der Westkueste die bergigen Striche, +deren duenne Bevoelkerung den Einwanderern wich oder sich unterwarf, waehrend +dagegen in dem ebenen apulischen Kuestenland die alte einheimische Bevoelkerung +der Iapyger, zwar unter steten Fehden, namentlich an der Nordgrenze um Luceria +und Arpi, doch im ganzen sich behauptete. Wann diese Wanderungen stattfanden, +laesst sich natuerlich nicht bestimmen; vermutlich aber doch um die Zeit, wo in +Rom die Koenige herrschten. Die Sage erzaehlt, dass die Sabiner, gedraengt von +den Umbrern, einen Lenz gelobten, das heisst schwuren, die in dem Kriegsjahre +geborenen Soehne und Toechter, nachdem sie erwachsen waeren, preiszugeben und +ueber die Landesgrenze zu schaffen, damit die Goetter sie nach ihrem Gefallen +verderben oder auswaerts ihnen neue Sitze bescheren moechten. Den einen Schwarm +fuehrte der Stier des Mars: das wurden die Safiner oder Samniten, die zuerst +sich festsetzten auf den Bergen am Sagrusfluss und in spaeterer Zeit von da aus +die schoene Ebene oestlich vom Matesegebirg an den Quellen des Tifernus +besetzten und im alten wie im neuen Gebiet ihre Dingstaette, dort bei Agnone, +hier bei Bojano gelegen, von dem Stier, der sie leitete, Bovianum nannten. +Einen zweiten Haufen fuehrte der Specht des Mars: das wurden die Picenter, das +Spechtvolk, das die heutige anconitanische Mark gewann; einen dritten der Wolf +(hirpus) in die Gegend von Benevent: das wurden die Hirpiner. In aehnlicher +Weise zweigten von dem gemeinschaftlichen Stamm sich die uebrigen kleinen +Voelkerschaften ab: die Praetuttier bei Teramo, die Vestiner am Gran Sasso, die +Marruciner bei Chieti, die Frentaner an der apulischen Grenze, die Paeligner am +Majellagebirg, die Marser endlich am Fuciner See, diese mit den Volskern und +den Latinern sich beruehrend. In ihnen allen blieb das Gefuehl der +Verwandtschaft und der Herkunft aus dem Sabinerlande lebendig, wie es denn in +jenen Sagen deutlich sich ausspricht. Waehrend die Umbrer im ungleichen Kampf +erlagen und die westlichen Auslaeufer des gleichen Stammes mit der latinischen +oder hellenischen Bevoelkerung verschmolzen, gediehen die sabellischen Staemme +in der Abgeschlossenheit des fernen Gebirgslandes, gleich entrueckt dem Anstoss +der Etrusker, der Latiner und der Griechen. Staedtisches Leben entwickelte bei +ihnen sich nicht oder nur in geringem Grad; von dem Grossverkehr schloss ihre +geographische Lage sie beinahe voellig aus und dem Beduerfnis der Verteidigung +genuegten die Bergspitzen und die Schutzburgen, waehrend die Bauern wohnen +blieben in den offenen Weilern oder auch, wo Quell und Wald oder Wiese einem +jeden gefiel. So blieb denn auch die Verfassung, wie sie war; aehnlich wie bei +den aehnlich gelegenen Arkadern in Hellas kam es hier nicht zur Inkorporation +der Gemeinden, und es bildeten hoechstens mehr oder minder lockere +Eidgenossenschaften sich aus. Vor allem in den Abruzzen scheint die scharfe +Sonderung der Bergtaeler eine strenge Abgeschlossenheit der einzelnen Kantone +hervorgerufen zu haben, sowohl unter sich wie gegen das Ausland; woher es +kommt, dass diese Bergkantone in geringem Zusammenhang unter sich und in +voelliger Isolierung gegen das uebrige Italien verharrt und trotz der +Tapferkeit ihrer Bewohner weniger als irgendein anderer Teil der italischen +Nation in die Entwicklung der Geschichte der Halbinsel eingegriffen haben. +Dagegen ist das Volk der Samniten in dem oestlichen Stamm der Italiker ebenso +entschieden der Hoehepunkt der politischen Entwicklung wie in dem westlichen +das latinische. Seit frueherer Zeit, vielleicht von der ersten Einwanderung an, +umschloss ein vergleichungsweise festes politisches Band die samnitische Nation +und gab ihr die Kraft, spaeter mit Rom um den ersten Platz in Italien in +ebenbuertigem Kampf zu ringen. Wann und wie das Band geknuepft ward, wissen wir +ebensowenig als wir die Bundesverfassung kennen; das aber ist klar, dass in +Samnium keine einzelne Gemeinde ueberwog und noch weniger ein staedtischer +Mittelpunkt den samnitischen Stamm zusammenhielt wie Rom den latinischen, +sondern dass die Kraft des Landes in den einzelnen Bauernschaften, die Gewalt +in der aus ihren Vertretern gebildeten Versammlung lag; sie war es, die +erforderlichenfalls den Bundesfeldherrn ernannte. Damit haengt es zusammen, +dass die Politik dieser Eidgenossenschaft nicht wie die roemische aggressiv +ist, sondern sich beschraenkt auf die Verteidigung der Grenzen; nur im +Einheitsstaat ist die Kraft so konzentriert, die Leidenschaft so maechtig, dass +die Erweiterung des Gebiets planmaessig verfolgt wird. Darum ist denn auch die +ganze Geschichte der beiden Voelker vorgezeichnet in ihrem diametral +auseinandergehenden Kolonisationssystem. Was die Roemer gewannen, erwarb der +Staat; was die Samniten besetzten, das eroberten freiwillige Scharen, die auf +Landraub ausgingen und von der Heimat im Glueck wie im Unglueck preisgegeben +waren. Doch gehoeren die Eroberungen, welche die Samniten an den Kuesten des +Tyrrhenischen und des Ionischen Meeres machten, erst einer spaeteren Periode +an; waehrend die Koenige in Rom herrschten, scheinen sie selbst erst die Sitze +sich gewonnen zu haben, in denen wir spaeter sie finden. Als ein einzelnes +Ereignis aus dem Kreise der durch diese samnitische Ansiedelung veranlassten +Voelkerbewegungen ist der Ueberfall von Kyme durch Tyrrhener vom oberen Meer, +Umbrer und Daunier im Jahre der Stadt 230 (524) zu erwaehnen; es moegen sich, +wenn man den allerdings sehr romantisch gefaerbten Nachrichten trauen darf, +hier, wie das bei solchen Zuegen zu geschehen pflegt, die Draengenden und die +Gedraengten zu einem Heer vereinigt haben, die Etrusker mit ihren umbrischen +Feinden, mit diesen die von den umbrischen Ansiedlern suedwaerts gedraengten +Iapyger. Indes das Unternehmen scheiterte; fuer diesmal gelang es noch der +ueberlegenen hellenischen Kriegskunst und der Tapferkeit des Tyrannen +Aristodemos, den Sturm der Barbaren von der schoenen Seestadt abzuschlagen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap09"></a>KAPITEL IX.<br/> +Die Etrusker</h2> + +<p> +Im schaerfsten Gegensatz zu den latinischen und den sabellischen Italikern wie +zu den Griechen steht das Volk der Etrusker oder, wie sie sich selber nannten, +der Rasen ^1. Schon der Koerperbau unterschied die beiden Nationen; statt des +schlanken Ebenmasses der Griechen und Italiker zeigen die Bildwerke der +Etrusker nur kurze staemmige Figuren mit grossem Kopf und dicken Armen. Was wir +wissen von den Sitten und Gebraeuchen dieser Nation, laesst gleichfalls auf +eine tiefe und urspruengliche Verschiedenheit von den griechisch-italischen +Staemmen schliessen, so namentlich die Religion, die bei den Tuskern einen +trueben phantastischen Charakter traegt und im geheimnisvollen Zahlenspiel und +wuesten und grausamen Anschauungen und Gebraeuchen sich gefaellt, gleich weit +entfernt von dem klaren Rationalismus der Roemer und dem menschlich heiteren +hellenischen Bilderdienst. Was hierdurch angedeutet wird, das bestaetigt das +wichtigste Dokument der Nationalitaet, die Sprache, deren auf uns gekommene +Reste, so zahlreich sie sind, und so manchen Anhalt sie fuer die Entzifferung +darbieten, dennoch so vollkommen isoliert stehen, dass es bis jetzt nicht +einmal gelungen ist, den Platz des Etruskischen in der Klassifizierung der +Sprachen mit Sicherheit zu bestimmen, geschweige denn die Ueberreste zu deuten. +Deutlich unterscheiden wir zwei Sprachperioden. In der aelteren ist die +Vokalisierung vollstaendig durchgefuehrt und das Zusammenstossen zweier +Konsonanten fast ohne Ausnahme vermieden ^2. Durch Abwerfen der vokalischen +konsonantischen Endungen und durch Abschwaechen oder Ausstossen der Vokale ward +dies weiche und klangvolle Idiom allmaehlich in eine unertraeglich harte und +rauhe Sprache verwandelt ^3; so machte man zum Beispiel ramθa aus ramuθaf, +Tarchnaf aus Tarquinius, Menrva aus Minerva, Menle, Pultuke, Elchsentre aus +Menelaos, Polydeukes, Alexandros. Wie dumpf und rauh die Aussprache war, zeigt +am deutlichsten, dass o und u, b und p, c und g, d und t den Etruskern schon in +sehr frueher Zeit zusammenfielen. Zugleich wurde wie im Lateinischen und in den +rauheren griechischen Dialekten der Akzent durchaus auf die Anfangssilbe +zurueckgezogen. Aehnlich wurden die aspirierten Konsonanten behandelt; waehrend +die Italiker sie wegwarfen mit Ausnahme des aspirierten b oder des f, und die +Griechen umgekehrt mit Ausnahme dieses Lautes die uebrigen θ φ χ beibehielten, +liessen die Etrusker den weichsten und lieblichsten, das φ gaenzlich, ausser in +Lehnwoertern fallen und bedienten sich dagegen der uebrigen drei in ungemeiner +Ausdehnung, selbst wo sie nicht hingehoerten, wie zum Beispiel Thetis ihnen +Thethis, Telephus Thelaphe, Odysseus Utuze oder Uthuze heisst. Von den wenigen +Endungen und Woertern, deren Bedeutung ermittelt ist, entfernen die meisten +sich weit von allen griechisch-italischen Analogien; so die Zahlwoerter alle; +so die Endung al zur Bezeichnung der Abstammung, haeufig als Metronymikon, wie +zum Beispiel Canial auf einer zwiesprachigen Inschrift von Chiusi uebersetzt +wird durch Cainnia natus; die Endung sa bei Frauennamen zur Bezeichnung des +Geschlechts, in das sie eingeheiratet haben, so dass zum Beispiel die Gattin +eines Licinius Lecnesa heisst. So ist cela oder clan mit dem Kasus clensi Sohn; +seχ Tochter; ril Jahr; der Gott Hermes wird Turms, Aphrodite Turan, Hephaestos +Sethlans, Bakchos Fufluns. Neben diesen fremdartigen Formen und Lauten finden +sich allerdings einzelne Analogien zwischen dem Etruskischen und den italischen +Sprachen. Die Eigennamen sind im wesentlichen nach dem allgemeinen italischen +Schema gebildet: die haeufige gentilizische Endung enas oder ena ^4 kehrt +wieder in der auch in italischen, besonders sabellischen Geschlechtsnamen +haeufigen Endung enus, wie denn die etruskischen Namen Maecenas und Spurinna +den roemischen Maecius und Spurius genau entsprechen. Eine Reihe von +Goetternamen, die auf etruskischen Denkmaelern oder bei Schriftstellern als +etruskische vorkommen, sind dem Stamme und zum Teil auch der Endung nach so +durchaus lateinisch gebildet, dass, wenn diese Namen wirklich von Haus aus +etruskisch sind, die beiden Sprachen eng verwandt gewesen sein muessen: so Usil +(Sonne und Morgenroete, verwandt mit ausum, aurum, aurora, sol), Minerva +(menervare), Lasa (lascivus), Neptunus, Voltumna. Indes da diese Analogien erst +aus den spaeteren politischen und religioesen Beziehungen zwischen Etruskern +und Latinern und den dadurch veranlassten Ausgleichungen und Entlehnungen +herruehren koennen, so stossen sie noch nicht das Ergebnis um, zu dem die +uebrigen Wahrnehmungen hinfuehren, dass die tuskische Sprache von den +saemtlichen griechisch-italischen Idiomen mindestens so weit abstand wie die +Sprache der Kelten und der Slaven. So wenigstens klang sie den Roemern; +“tuskisch und gallisch” sind Barbarensprachen, “oskisch und +volskisch” Bauernmundarten. Wenn aber die Etrusker dem +griechisch-italischen Sprachstamm fernstanden, so ist es bis jetzt ebensowenig +gelungen, sie einem andern bekannten Stamme anzuschliessen. Auf die +Stammesverwandtschaft mit dem etruskischen sind die verschiedenartigsten +Idiome, bald mit der einfachen, bald mit der peinlichen Frage, aber alle ohne +Ausnahme vergeblich befragt worden; selbst mit dem baskischen, an das den +geographischen Verhaeltnissen nach noch am ersten gedacht werden koennte, haben +entscheidende Analogien sich nicht herausgestellt. Ebensowenig deuten die +geringen Reste, die von der liturgischen Sprache in Orts- und Personennamen auf +uns gekommen sind, auf Zusammenhang mit den Tuskern. Nicht einmal die +verschollene Nation, die auf den Inseln des tuskischen Meeres, namentlich auf +Sardinien, jene raetselhaften Grabtuerme, Nurhagen genannt, zu Tausenden +aufgefuehrt hat, kann fueglich mit der etruskischen in Verbindung gebracht +werden, da im etruskischen Gebiet kein einziges gleichartiges Gebaeude +vorkommt. Hoechstens deuten einzelne, wie es scheint, ziemlich zuverlaessige +Spuren darauf hin, dass die Etrusker im allgemeinen den Indogermanen +beizuzaehlen sind. So ist namentlich mi im Anfang vieler aelterer Inschriften +sicher εμί, ειμί und findet die Genetivform konsonantischer Staemme veneruf, +rafuvuf im Altlateinischen genau sich wieder, entsprechend der alten +sanskritischen Endung as. Ebenso haengt der Name des etruskischen Zeus Tina +oder Tinia wohl mit dem sanskritischen dina = Tag zusammen wie Ζάν mit dem +gleichbedeutenden diwan. Aber selbst dies zugegeben erscheint das etruskische +Volk darum kaum weniger isoliert. “Die Etrusker”, sagt schon +Dionysios, “stehen keinem Volke gleich an Sprache und Sitte”; und +weiter haben auch wir nichts zu sagen. +</p> + +<p> +———————————————————- +</p> + +<p> +^1 Ras-ennae mit der 1, 131 erwaehnten gentilizischen Endung. +</p> + +<p> +^2 Dahin gehoeren z. B. Inschriften caeritischer Tongefaesse wie: minice +θumamimaθumaramlisiaeipurenaieθeeraisieepanamineθunastavhelefu oder: mi ramuθas +kaiufinaia. +</p> + +<p> +^3 Wie die Sprache jetzt klingen mochte, davon kann einen Begriff geben zum +Beispiel der Anfang der grossen Perusiner Inschrift: eulat tanna larezu amevaχr +lautn velθinase stlaafunas sleleθcaru. +</p> + +<p> +^4 So Maecenas, Porsena, Vivenna, Caecina, Spurinna. Der Vokal in der +vorletzten Silbe ist urspruenglich lang, wird aber infolge der Zurueckziehung +des Akzents auf die Anfangssilbe haeufig verkuerzt und sogar ausgestossen. So +finden wir neben Porsēna, auch Porsĕna, neben Caecina Ceicne. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +Ebensowenig laesst sich bestimmen, von wo die Etrusker nach Italien +eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel verloren, da diese Wanderung auf +jeden Fall der Kinderzeit des Volkes angehoert und dessen geschichtliche +Entwicklung in Italien beginnt und endet. Indes ist kaum eine Frage eifriger +verhandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz der Archaeologen, +vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wissbar noch wissenswert ist, +“nach der Mutter der Hekabe”, wie Kaiser Tiberius meinte. Da die +aeltesten und bedeutendsten etruskischen Staedte tief im Binnenlande liegen, ja +unmittelbar am Meer keine einzige namhafte etruskische Stadt begegnet ausser +Populonia, von dem wir aber eben sicher wissen, dass es zu den alten Zwoelf +Staedten nicht gehoert hat; da ferner in geschichtlicher Zeit die Etrusker von +Norden nach Sueden sich bewegen, so sind sie wahrscheinlich zu Lande nach der +Halbinsel gekommen; wie denn auch die niedere Kulturstufe, auf der wir sie +zuerst finden, mit einer Einwanderung ueber das Meer sich schlecht vertragen +wuerde. Eine Meerenge ueberschritten schon in fruehester Zeit die Voelker +gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen Westkueste setzt ganz +andere Bedingungen voraus. Danach muss die aeltere Heimat der Etrusker west- +oder nordwaerts von Italien gesucht werden. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, +dass die Etrusker ueber die raetischen Alpen nach Italien gekommen sind, da die +aeltesten in Graubuenden und Tirol nachweisbaren Ansiedler, die Raeter, bis in +die historische Zeit etruskisch redeten und auch ihr Name auf den der Rasen +anklingt; sie koennen freilich Truemmer der etruskischen Ansiedlungen am Po, +aber wenigstens ebenso gut auch ein in den aelteren Sitzen zurueckgebliebener +Teil des Volks sein. +</p> + +<p> +Mit dieser einfachen und naturgemaessen Auffassung aber tritt in grellen +Widerspruch die Erzaehlung, dass die Etrusker aus Asien ausgewanderte Lyder +seien. Sie ist sehr alt: schon bei Herodot findet sie sich und kehrt dann in +zahllosen Wandlungen und Steigerungen bei den Spaeteren wieder, wenngleich +einzelne verstaendige Forscher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdruecklich +dagegen erklaerten und darauf hinwiesen, dass in Religion, Gesetz, Sitte und +Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die mindeste Aehnlichkeit sich +zeige. Es ist moeglich, dass ein vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm +nach Etrurien gelangt ist und an dessen Abenteuer diese Maerchen anknuepfen; +wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzaehlung auf einem blossen Quiproquo. +Die italischen Etrusker oder die Turs-ennae - denn diese Form scheint die +urspruengliche und der griechischen Τυρ-σηνοί, Τυρρηνοί, der umbrischen +Turs-ci, den beiden roemischen Tusci Etrusci zu Grunde zu liegen - begegneten +sich in dem Namen ungefaehr mit dem lydischen Volke der Τορρηβοί oder auch wohl +Τυρρ-ηνοί, so genannt von der Stadt Τύρρα; und diese offenbar zufaellige +Namensvetterschaft scheint in der Tat die einzige Grundlage jener durch ihr +hohes Alter reicht besser gewordenen Hypothese und des ganzen babylonischen +Turmes darauf aufgefuehrter Geschichtsklitterungen zu sein. Indem man mit dem +lydischen Piratenwesen den alten etruskischen Seeverkehr verknuepfte und +endlich noch - zuerst nachweislich tut es Thukydides - die torrhebischen +Seeraeuber mit Recht oder Unrecht zusammenwarf mit dem auf allen Meeren +pluendernden und hausenden Flibustiervolk der Pelasger, entstand eine der +heillosesten Verwirrungen geschichtlicher Ueberlieferung. Die Tyrrhener +bezeichnen bald die lydischen Torrheber - so in den aeltesten Quellen, wie in +den Homerischen Hymnen; bald als Tyrrhener-Pelasger oder auch bloss Tyrrhener +die pelasgische Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne dass die +letzteren mit den Pelasgern oder den Torrhebern je sich nachhaltig beruehrt +oder gar die Abstammung mit ihnen gemein haetten. +</p> + +<p> +Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestimmen, was die nachweislich +aeltesten Sitze der Etrusker waren und wie sie von dort aus sich weiter +bewegten. Dass sie vor der grossen keltischen Invasion in der Landschaft +noerdlich vom Padus sassen, oestlich an der Etsch grenzend mit den Venetern +illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit den Ligurern, ist vielfach +beglaubigt; vornehmlich zeugt dafuer der schon erwaehnte rauhe etruskische +Dialekt, den noch in Livius’ Zeit die Bewohner der raetischen Alpen +redeten, sowie das bis in spaete Zeit tuskisch gebliebene Mantua. Suedlich vom +Padus und an den Muendungen dieses Flusses mischten sich Etrusker und Umbrer, +jener als der herrschende Stamm, dieser als der aeltere, der die alten +Kaufstaedte Atria und Spina gegruendet hatte, waehrend Felsina (Bologna) und +Ravenna tuskische Anlagen scheinen. Es hat lange gewaehrt, ehe die Kelten den +Padus ueberschritten; womit es zusammenhaengt, dass auf dem rechten Ufer +desselben das etruskische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen +hat als auf dem frueh aufgegebenen linken. Doch sind ueberhaupt die +Landschaften noerdlich vom Apennin zu rasch von einer Nation an die andere +gelangt, als dass eine dauerhafte Volksentwicklung sich hier haette gestalten +koennen. +</p> + +<p> +Weit wichtiger fuer die Geschichte wurde die grosse Ansiedelung der Tusker in +dem Lande, das heute noch ihren Namen traegt. Moegen auch Ligurer oder Umbrer +hier einstmals gewohnt haben, so sind doch ihre Spuren durch die etruskische +Okkupation und Zivilisation so gut wie vollstaendig ausgetilgt worden. In +diesem Gebiet, das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und oestlich vom +Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalitaet ihre bleibende +Staette gefunden und mit grosser Zaehigkeit bis in die Kaiserzeit hinein sich +behauptet. Die Nordgrenze des eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; +das Gebiet von da nordwaerts bis zur Muendung der Macra und dem Apennin war +streitiges Grenzland, bald ligurisch, bald etruskisch, und groessere +Ansiedlungen gediehen deshalb daselbst nicht. Die Suedgrenze bildete anfangs +wahrscheinlich der Ciminische Wald, eine Huegelkette suedlich von Viterbo, +spaeterhin der Tiberstrom; es ward schon oben angedeutet, dass das Gebiet +zwischen dem Ciminischen Gebirg und dem Tiber mit den Staedten Sutrium, Nepete, +Falerii, Veii, Caere erst geraume Zeit spaeter als die noerdlicheren Distrikte, +moeglicherweise erst im zweiten Jahrhundert Roms, von den Etruskern eingenommen +zu sein scheint und dass die urspruengliche italische Bevoelkerung sich hier, +namentlich in Falerii, wenn auch in abhaengigem Verhaeltnis behauptet haben +muss. +</p> + +<p> +Seitdem der Tiberstrom die Markscheide Etruriens gegen Umbrien und Latium +bildete, mag hier im ganzen ein friedliches Verhaeltnis eingetreten sein und +eine wesentliche Grenzverschiebung nicht stattgefunden haben, am wenigsten +gegen die Latiner. So lebendig in den Roemern das Gefuehl lebte, dass der +Etrusker ihnen fremd, der Latiner ihr Landsmann war, so scheinen sie doch vom +rechten Ufer her weit weniger Ueberfall und Gefahr befuerchtet zu haben als zum +Beispiel von den Stammesverwandten in Gabii und Alba; natuerlich, denn dort +schuetzte nicht bloss die Naturgrenze des breiten Stromes, sondern auch der +fuer Roms merkantile und politische Entwicklung folgenreiche Umstand, dass +keine der maechtigeren etruskischen Staedte unmittelbar am Fluss lag wie am +latinischen Ufer Rom. Dem Tiber am naechsten waren die Veienter, und sie waren +es auch, mit denen Rom und Latium am haeufigsten in ernste Konflikte gerieten, +namentlich um den Besitz von Fidenae, welches den Veientern auf dem linken +Tiberufer, aehnlich wie auf dem rechten den Roemern das Ianiculum, als eine Art +Brueckenkopf diente und bald in den Haenden der Latiner, bald in denen der +Etrusker sich befand. Dagegen mit dem etwas entfernteren Caere war das +Verhaeltnis im ganzen weit friedlicher und freundlicher, als es sonst unter +Nachbarn in solchen Zeiten vorzukommen pflegt. Es gibt wohl schwankende und in +die graueste Fernzeit gerueckte Sagen von Kaempfen zwischen Latium und Caere, +wie denn der caeritische Koenig Mezentius ueber die Latiner grosse Siege +erfochten und denselben einen Weinzins auferlegt haben soll; aber viel +bestimmter als der einstmalige Fehdestand erhellt aus der Tradition ein +vorzugsweise enges Verhaeltnis zwischen den beiden uralten Mittelpunkten des +Handels- und Seeverkehrs in Latium und in Etrurien. Sichere Spuren von einem +Vordringen der Etrusker ueber den Tiber hinaus auf dem Landweg mangeln +ueberhaupt. Zwar werden in dem grossen Barbarenheer, das Aristodemos im Jahre +230 (524) der Stadt unter den Mauern von Kyme vernichtet, die Etrusker in +erster Reihe genannt; indes selbst wenn man diese Nachricht als bis ins +einzelne glaubwuerdig betrachtet, folgt daraus nur, dass die Etrusker an einem +grossen Pluenderzuge teilnahmen. Weit wichtiger ist es, dass suedwaerts vom +Tiber keine auf dem Landweg gegruendete etruskische Ansiedlung nachweisbar ist +und dass namentlich von einer ernstlichen Bedraengung der latinischen Nation +durch die Etrusker gar nichts wahrgenommen wird. Der Besitz des Ianiculum und +der beiden Ufer der Tibermuendung blieb den Roemern, soviel wir sehen, +unangefochten. Was die Uebersiedlungen etruskischer Gemeinschaften nach Rom +anlangt, so findet sich ein vereinzelter, aus tuskischen Annalen gezogener +Bericht, dass eine tuskische Schar, welche Caelius Vivenna von Volsinii und +nach dessen Untergang der treue Genosse desselben, Mastarna, angefuehrt habe, +von dem letzteren nach Rom gefuehrt worden sei. Es mag dies zuverlaessig sein, +wenngleich die Herleitung des Namens des caelischen Berges von diesem Caelius +offenbar eine Philologenerfindung ist und nun gar der Zusatz, dass dieser +Mastarna in Rom Koenig geworden sei unter dem Namen Servius Tullius, gewiss +nichts ist als eine unwahrscheinliche Vermutung solcher Archaeologen, die mit +dem Sagenparallelismus sich abgaben. Auf etruskische Ansiedlungen in Rom deutet +weiter das “Tuskerquartier” unter dem Palatin. +</p> + +<p> +Auch das kann schwerlich bezweifelt werden, dass das letzte Koenigsgeschlecht, +das ueber die Roemer geherrscht hat, das der Tarquinier, aus Etrurien +entsprossen ist, sei es nun aus Tarquinii, wie die Sage will, sei es aus Caere, +wo das Familiengrab der Tarchnas vor kurzem aufgefunden worden ist; auch der in +die Sage verflochtene Frauenname Tanaquil oder Tanchvil ist unlateinisch, +dagegen in Etrurien gemein. Allein die ueberlieferte Erzaehlung, wonach +Tarquinius der Sohn eines aus Korinth nach Tarquinii uebergesiedelten Griechen +war und in Rom als Metoeke einwanderte, ist weder Geschichte noch Sage und die +geschichtliche Kette der Ereignisse offenbar hier nicht bloss verwirrt, sondern +voellig zerrissen. Wenn aus dieser Ueberlieferung ueberhaupt etwas mehr +entnommen werden kann als die nackte und im Grunde gleichgueltige Tatsache, +dass zuletzt ein Geschlecht tuskischer Abkunft das koenigliche Szepter in Rom +gefuehrt hat, so kann darin nur liegen, dass diese Herrschaft eines Mannes +tuskischer Herkunft ueber Rom weder als eine Herrschaft der Tusker oder einer +tuskischen Gemeinde ueber Rom, noch umgekehrt als die Herrschaft Roms ueber +Suedetrurien gefasst werden darf. In der Tat ist weder fuer die eine noch fuer +die andere Annahme irgendein ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der +Tarquinier spielt in Latium, nicht in Etrurien, und soweit wir sehen, hat +waehrend der ganzen Koenigszeit Etrurien auf Rom weder in der Sprache noch in +Gebraeuchen einen wesentlichen Einfluss geuebt oder gar die ebenmaessige +Entwicklung des roemischen Staats oder des latinischen Bundes unterbrochen. +</p> + +<p> +Die Ursache dieser relativen Passivitaet Etruriens gegen das latinische +Nachbarland ist wahrscheinlich teils zu suchen in den Kaempfen der Etrusker mit +den Kelten am Padus, den diese vermutlich erst nach der Vertreibung der Koenige +in Rom ueberschritten, teils in der Richtung der etruskischen Nation auf +Seefahrt und Meer- und Kuestenherrschaft, womit zum Beispiel die kampanischen +Ansiedelungen entschieden zusammenhaengen und wovon im folgenden Kapitel weiter +die Rede sein wird. +</p> + +<p> +Die tuskische Verfassung beruht gleich der griechischen und latinischen auf der +zur Stadt sich entwickelnden Gemeinde. Die fruehe Richtung der Nation aber auf +Schiffahrt, Handel und Industrie scheint rascher, als es sonst in Italien der +Fall gewesen ist, hier eigentlich staedtische Gemeinwesen ins Leben gerufen zu +haben; zuerst von allen italischen Staedten wird in den griechischen Berichten +Caere genannt. Dagegen finden wir die Etrusker im ganzen minder kriegstuechtig +und kriegslustig als die Roemer und Sabeller; die unitalische Sitte, mit +Soeldnern zu fechten, begegnet hier sehr frueh. Die aelteste Verfassung der +Gemeinden muss in den allgemeinen Grundzuegen Aehnlichkeit mit der roemischen +gehabt haben; Koenige oder Lucumonen herrschten, die aehnliche Insignien, also +wohl auch aehnliche Machtfuelle besassen wie die roemischen; Vornehme und +Geringe standen sich schroff gegenueber; fuer die Aehnlichkeit der +Geschlechterordnung buergt die Analogie des Namensystems, nur dass bei den +Etruskern die Abstammung von muetterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als +im roemischen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen zu sein. +Sie umschloss nicht die gesamte Nation, sondern es waren die noerdlichen und +die kampanischen Etrusker zu eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie +die Gemeinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Buende bestand aus zwoelf +Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich fuer den Goetterdienst, und ein +Bundeshaupt oder vielmehr einen Oberpriester anerkannten, aber doch im +wesentlichen gleichberechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Teil wenigstens +so maechtig, dass weder eine Hegemonie sich bilden noch die Zentralgewalt zur +Konsolidierung gelangen konnte. Im eigentlichen Etrurien war die Metropole +Volsinii; von den uebrigen Zwoelfstaedten desselben kennen wir durch sichere +Ueberlieferung nur Perusia, Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist indes +ebenso selten, dass die Etrusker wirklich gemeinschaftlich handeln, als das +Umgekehrte selten ist bei der latinischen Eidgenossenschaft; die Kriege fuehrt +regelmaessig eine einzelne Gemeinde, die von ihren Nachbarn wen sie kann ins +Interesse zieht, und wenn ausnahmsweise der Bundeskrieg beschlossen wird, so +schliessen sich dennoch sehr haeufig einzelne Staedte aus - es scheint den +etruskischen Konfoederationen mehr noch als den aehnlichen italischen +Stammbuenden von Haus aus an einer festen und gebietenden Oberleitung gefehlt +zu haben. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap10"></a>KAPITEL X.<br/> +Die Hellenen in Italien.<br/> +Seeherrschaft der Tusker und Karthager</h2> + +<p> +Nicht auf einmal wird es hell in der Voelkergeschichte des Altertums; und auch +hier beginnt der Tag im Osten. Waehrend die italische Halbinsel noch in tiefes +Werdegrauen eingehuellt liegt, ist in den Landschaften am oestlichen Becken des +Mittelmeers bereits eine nach allen Seiten hin reich entwickelte Kultur ans +Licht getreten; und das Geschick der meisten Voelker, in den ersten Stadien der +Entwicklung an einem ebenbuertigen Bruder zunaechst den Meister und Herrn zu +finden, ist in hervorragendem Masse auch den Voelkern Italiens zuteil geworden. +Indes lag es in den geographischen Verhaeltnissen der Halbinsel, dass eine +solche Einwirkung nicht zu Lande stattfinden konnte. Von der Benutzung des +schwierigen Landwegs zwischen Italien und Griechenland in aeltester Zeit findet +sich nirgends eine Spur. In das transalpinische Land freilich mochten von +Italien aus schon in unvordenklich ferner Zeit Handelsstrassen fuehren: die +aelteste Bernsteinstrasse erreichte von der Ostsee aus das Mittelmeer an der +Pomuendung - weshalb in der griechischen Sage das Delta des Po als Heimat des +Bernsteins erscheint -, und an diese Strasse schloss sich eine andere quer +durch die Halbinsel ueber den Apennin nach Pisa fuehrende an; aber Elemente der +Zivilisation konnten von dort her den Italikern nicht zukommen. Es sind die +seefahrenden Nationen des Ostens, die nach Italien gebracht haben, was +ueberhaupt in frueher Zeit von auslaendischer Kultur dorthin gelangt ist. +</p> + +<p> +Das aelteste Kulturvolk am Mittelmeergestade, die Aegypter, fuhren noch nicht +ueber Meer und haben daher auch auf Italien nicht eingewirkt. Ebensowenig aber +kann dies von den Phoenikern behauptet werden. Allerdings waren sie es, die von +ihrer engen Heimat am aeusseren Ostrand des Mittelmeers aus zuerst unter allen +bekannten Staemmen auf schwimmenden Haeusern in dasselbe, anfangs des Fisch- +und Muschelfangs, bald auch des Handels wegen, sich hinauswagten, die zuerst +den Seeverkehr eroeffneten und in unglaublich frueher Zeit das Mittelmeer bis +zu seinem aeussersten westlichen Ende befuhren. Fast an allen Gestaden +desselben erscheinen vor den hellenischen phoenikische Seestationen: wie in +Hellas selbst, auf Kreta und Kypros, in Aegypten, Libyen und Spanien, so auch +im italischen Westmeer. Um ganz Sizilien herum, erzaehlt Thukydides, hatten, +ehe die Griechen dorthin kamen, oder wenigstens, ehe sie dort in groesserer +Anzahl sich festsetzten, die Phoeniker auf den Landspitzen und Inselchen ihre +Faktoreien gegruendet, des Handels wegen mit den Eingeborenen, nicht um Land zu +gewinnen. Allein anders verhaelt es sich mit dem italischen Festland. Von +phoenikischen Niederlassungen daselbst ist bis jetzt nur eine einzige mit +einiger Sicherheit nachgewiesen worden, eine punische Faktorei bei Caere, deren +Andenken sich bewahrt hat teils in der Benennung der kleinen Ortschaft an der +caeritischen Kueste Punicum, teils in dem zweiten Namen der Stadt Caere selbst, +Agylla, welcher nicht, wie man fabelt, von den Pelasgern herruehrt, sondern +phoenikisch ist und die “Rundstadt” bezeichnet, wie eben vom Ufer +aus gesehen Caere sich darstellt. Dass diese Station und was von aehnlichen +Gruendungen es an den Kuesten Italiens noch sonst gegeben haben mag, auf jeden +Fall weder bedeutend noch von langem Bestande gewesen ist, beweist ihr fast +spurloses Verschwinden; aber es liegt auch nicht der mindeste Grund vor, sie +fuer aelter zu halten als die gleichartigen hellenischen Ansiedlungen an +denselben Gestaden. Ein unveraechtliches Anzeichen davon, dass wenigstens +Latium die kanaanitischen Maenner erst durch Vermittlung der Hellenen +kennengelernt hat, ist ihre latinische, der griechischen entlehnte Benennung +der Poener. Vielmehr fuehren alle aeltesten Beziehungen der Italiker zu der +Zivilisation des Ostens entschieden nach Griechenland; und es laesst sich das +Entstehen der phoenikischen Faktorei bei Caere, ohne auf die vorhellenische +Periode zurueckzugehen, sehr wohl aus den spaeteren wohlbekannten Beziehungen +des caeritischen Handelsstaats zu Karthago erklaeren. In der Tat lag, wenn man +sich erinnert, dass die aelteste Schiffahrt wesentlich Kuestenfahrt war und +blieb, den Phoenikern kaum eine Landschaft am Mittelmeer so fern wie der +italische Kontinent. Sie konnten ihn nur entweder von der griechischen +Westkueste oder von Sizilien aus erreichen; und es ist sehr glaublich, dass die +hellenische Seefahrt frueh genug aufbluehte, um den Phoenikern in der Befahrung +der Adriatischen wie der Tyrrhenischen See zuvorzukommen. Urspruenglichen +unmittelbaren Einfluss der Phoeniker auf die Italiker anzunehmen, ist deshalb +kein Grund vorhanden; auf die spaeteren Beziehungen der phoenikischen +Seeherrschaft im westlichen Mittelmeer zu den italischen Anwohnern der +Tyrrhenischen See wird die Darstellung zurueckkommen. +</p> + +<p> +Allem Anschein nach sind es also die hellenischen Schiffer gewesen, die zuerst +unter den Anwohnern des oestlichen Beckens des Mittelmeers die italischen +Kuesten befuhren. Von den wichtigen Fragen indes, aus welcher Gegend und zu +welcher Zeit die griechischen Seefahrer dorthin gelangt sind, laesst nur die +erstere sich mit einiger Sicherheit und Vollstaendigkeit beantworten. Es war +das aeolische und ionische Gestade Kleinasiens, wo zuerst der hellenische +Seeverkehr sich grossartig entfaltete und von wo aus den Griechen wie das +Innere des Schwarzen Meeres so auch die italischen Kuesten sich erschlossen. +Der Namen des Ionischen Meeres, welcher den Gewaessern zwischen Epirus und +Sizilien geblieben ist, und der der Ionischen Bucht, mit welchem Namen die +Griechen frueher das Adriatische Meer bezeichneten, haben das Andenken an die +einstmalige Entdeckung der Sued- und Ostkueste Italiens durch ionische +Seefahrer bewahrt. Die aelteste griechische Ansiedlung in Italien, Kyme, ist +dem Namen wie der Sage nach eine Gruendung der gleichnamigen Stadt an der +anatolischen Kueste. Nach glaubwuerdiger hellenischer Ueberlieferung waren es +die kleinasiatischen Phokaeer, die zuerst von den Hellenen die entferntere +Westsee befuhren. Bald folgten auf den von den Kleinasiaten gefundenen Wegen +andere Griechen nach: Ionier von Naxos und von Chalkis auf Euboea, Achaeer, +Lokrer, Rhodier, Korinther, Megarer, Messener, Spartaner. Wie nach der +Entdeckung Amerikas die zivilisierten Nationen Europas wetteiferten, dorthin zu +fahren und dort sich niederzulassen; wie die Solidaritaet der europaeischen +Zivilisation den neuen Ansiedlern inmitten der Barbaren deutlicher zum +Bewusstsein kam als in ihrer alten Heimat, so war auch die Schiffahrt nach dem +Westen und die Ansiedelung im Westland kein Sondergut einer einzelnen +Landschaft oder eines einzelnen Stammes der Griechen, sondern Gemeingut der +hellenischen Nation; und wie sich zu Nordamerikas Schoepfung englische und +franzoesische, hollaendische und deutsche Ansiedlungen gemischt und +durchdrungen haben, so ist auch das griechische Sizilien und +“Grossgriechenland” aus den verschiedenartigsten hellenischen +Stammschaften oft ununterscheidbar zusammengeschmolzen. Doch lassen sich, +ausser einigen mehr vereinzelt stehenden Ansiedlungen, wie die der Lokrer mit +ihren Pflanzstaedten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende dieser +Periode gegruendete Niederlassung der Phokaeer Hyele (Velia, Elea) sind, im +ganzen drei Hauptgruppen unterscheiden: die unter dem Namen der chalkidischen +Staedte zusammengefasste urspruenglich ionische, zu der in Italien Kyme mit den +uebrigen griechischen Niederlassungen am Vesuv und Rhegion, in Sizilien Zankle +(spaeter Messana), Naxos, Katane, Leontini, Himera zaehlen; die achaeische, +wozu Sybaris und die Mehrzahl der grossgriechischen Staedte sich rechneten, und +die dorische, welcher Syrakus, Gela, Akragas, ueberhaupt die Mehrzahl der +sizilischen Kolonien, dagegen in Italien nur Taras (Tarentum) und dessen +Pflanzstadt Herakleia angehoeren. Im ganzen ueberwiegt in der Einwanderung die +aeltere hellenische Schicht der Ionier und der vor der dorischen Einwanderung +im Peloponnes ansaessigen Staemme; von den Dorern haben sich vorzugsweise nur +die Gemeinden gemischter Bevoelkerung, wie Korinth und Megara, die rein +dorischen Landschaften dagegen nur in untergeordnetem Grade beteiligt; +natuerlich, denn die Ionier waren ein altes Handels- und Schiffervolk, die +dorischen Staemme aber sind erst verhaeltnismaessig spaet von ihren +binnenlaendischen Bergen in die Kuestenlandschaften hinabgestiegen und zu allen +Zeiten dem Seeverkehr ferner geblieben. Sehr bestimmt treten die verschiedenen +Einwanderergruppen auseinander, besonders in ihrem Muenzfuss. Die phokaeischen +Ansiedler praegen nach dem in Asien herrschenden babylonischen Fuss. Die +chalkidischen Staedte folgen in aeltester Zeit dem aeginaeischen, das heisst +dem urspruenglich im ganzen europaeischen Griechenland vorherrschenden und zwar +zunaechst derjenigen Modifikation desselben, die wir dort auf Euboea +wiederfinden. Die achaeischen Gemeinden muenzen auf korinthische, die dorischen +endlich auf diejenige Waehrung, die Solon im Jahre 160 Roms (594) in Attika +eingefuehrt hatte, nur dass Taras und Herakleia sich in wesentlichen Stuecken +vielmehr nach der Waehrung ihrer achaeischen Nachbarn richten als nach der der +sizilischen Dorer. +</p> + +<p> +Die Zeitbestimmung der frueheren Fahrten und Ansiedlungen wird wohl fuer immer +in tiefes Dunkel eingehuellt bleiben. Zwar eine gewisse Folge darin tritt auch +fuer uns noch unverkennbar hervor. In der aeltesten Urkunde der Griechen, +welche, wie der aelteste Verkehr mit dem Westen, den kleinasiatischen Ioniern +eignet, in den Homerischen Gesaengen reicht der Horizont noch kaum ueber das +oestliche Becken des Mittelmeers hinaus. Vom Sturm in die westliche See +verschlagene Schiffer mochten von der Existenz eines Westlandes und etwa noch +von dessen Meeresstrudeln und feuerspeienden Inselbergen die Kunde nach +Kleinasien heimgebracht haben; allein zu der Zeit der Homerischen Dichtung +mangelte selbst in derjenigen griechischen Landschaft, welche am fruehesten mit +dem Westland in Verkehr trat, noch jede zuverlaessige Kunde von Sizilien und +Italien; und die Maerchenerzaehler und Dichter des Ostens konnten, wie +seinerzeit die okzidentalischen den fabelhaften Orient, ungestoert die leeren +Raeume des Westens mit ihren luftigen Gestalten erfuellen. Bestimmter treten +schon in den Hesiodischen Gedichten die Umrisse Italiens und Siziliens hervor; +sie kennen aus beiden einheimische Namen von Voelkerschaften, Bergen und +Staedten; doch ist ihnen Italien noch eine Inselgruppe. Dagegen in der gesamten +nachhesiodischen Literatur erscheint Sizilien und selbst das gesamte Gestade +Italiens als den Hellenen wenigstens im allgemeinen bekannt. Ebenso laesst die +Reihenfolge der griechischen Ansiedlungen mit einiger Sicherheit sich +bestimmen. Als die aelteste namhafte Ansiedlung im Westland galt offenbar schon +dem Thukydides Kyme; und gewiss hat er nicht geirrt. Allerdings lag dem +griechischen Schiffer mancher Landungsplatz naeher; allein vor den Stuermen wie +vor den Barbaren war keiner so geschuetzt wie die Insel Ischia, auf der die +Stadt urspruenglich lag; und dass solche Ruecksichten vor allem bei dieser +Ansiedlung leiteten, zeigt selbst die Stelle noch, die man spaeter auf dem +Festland dazu ausersah, die steile, aber geschuetzte Felsklippe, die noch heute +den ehrwuerdigen Namen der anatolischen Mutterstadt traegt. Nirgends in Italien +sind denn auch die Oertlichkeiten der kleinasiatischen Maerchen mit solcher +Festigkeit und Lebendigkeit lokalisiert wie in der kymaeischen Landschaft, wo +die fruehesten Westfahrer, jener Sagen von den Wundern des Westens voll, zuerst +das Fabelland betraten und die Spuren der Maerchenwelt, in der sie zu wandeln +meinten, in den Sirenenfelsen und dem zur Unterwelt fuehrenden Aornossee +zurueckliessen. Wenn ferner in Kyme zuerst die Griechen Nachbarn der Italiker +wurden, so erklaert es sich sehr einfach, weshalb der Name desjenigen +italischen Stammes, der zunaechst um Kyme angesessen war, der Name der Opiker, +von ihnen noch lange Jahrhunderte nachher fuer saemtliche Italiker gebraucht +ward. Es ist ferner glaublich ueberliefert, dass die massenhafte hellenische +Einwanderung in Unteritalien und Sizilien von der Niederlassung auf Kyme durch +einen betraechtlichen Zwischenraum getrennt war und dass bei jener Einwanderung +wieder die Ionier von Chalkis und von Naxos vorangingen und Naxos auf Sizilien +die aelteste aller durch eigentliche Kolonisierung in Italien und Sizilien +gegruendeten Griechenstaedte ist, worauf dann die achaeischen und dorischen +Kolonisationen erst spaeter erfolgt sind. +</p> + +<p> +Allein es scheint voellig unmoeglich, fuer diese Reihe von Tatsachen auch nur +annaehernd sichere Jahreszahlen festzustellen. Die Gruendung der achaeischen +Stadt Sybaris im Jahre 33 (721) und die der dorischen Stadt Taras im Jahre 46 +Roms (708) moegen die aeltesten Daten der italischen Geschichte sein, deren +wenigstens ungefaehre Richtigkeit als ausgemacht angesehen werden kann. Um +wieviel aber die Ausfuehrung der aelteren ionischen Kolonien jenseits dieser +Epoche zurueckliege, ist ebenso ungewiss wie das Zeitalter der Entstehung der +Hesiodischen und gar der Homerischen Gedichte. Wenn Herodot das Zeitalter +Homers richtig bestimmt hat, so war Italien den Griechen ein Jahrhundert vor +der Gruendung Roms (850) noch unbekannt; indes jene Ansetzung ist wie alle +anderen der Lebenszeit Homers kein Zeugnis, sondern ein Schluss, und wer die +Geschichte der italischen Alphabete sowie die merkwuerdige Tatsache erwaegt, +dass den Italikern das Griechenvolk bekannt ward, bevor der hellenische +Stammname aufgekommen war, und die Italiker ihre Bezeichnung der Hellenen von +dem in Hellas frueh verschollenen Stamm der Grai oder Graeci entlehnten ^1, +wird geneigt sein, den fruehesten Verkehr der Italiker mit den Griechen um ein +bedeutendes hoeher hinaufzuruecken. +</p> + +<p> +—————————————————————- +</p> + +<p> +^1 Ob der Name der Graeker urspruenglich aus dem epirotischen Binnenland und +der Gegend von Dodone haftet oder vielmehr den frueher vielleicht bis an das +Westmeer reichenden Aetolern eigen war, mag dahingestellt bleiben; er muss in +ferner Zeit einem hervorragenden Stamm oder Komplex von Staemmen des +eigentlichen Griechenlands eigen gewesen und von diesen auf die gesamte Nation +uebergegangen sein. In den Hesiodischen Eoeen erscheint er als aelterer +Gesamtname der Nation, jedoch mit offenbarer Absichtlichkeit beiseite geschoben +und dem hellenischen untergeordnet, welcher letztere bei Homer noch nicht, wohl +aber, ausser bei Hesiod, schon bei Archilochos um das Jahr 50 Roms (704) +auftritt und recht wohl noch bedeutend frueher aufgekommen sein kann (M. L. +Duncker, Geschichte des Altertums. Berlin 1852-57. Bd. 3, S. 18, 556). Also +bereits vor dieser Zeit waren die Italiker mit den Griechen soweit bekannt, +dass jener in Hellas frueh verschollene Name bei ihnen als Gesamtname der +griechischen Nation blieb, auch als diese selbst andere Wege ging. Es ist dabei +nur in der Ordnung, dass den Auslaendern die Zusammengehoerigkeit der +hellenischen Staemme frueher und deutlicher zum Bewusstsein gekommen ist als +diesen selbst, und daher die Gesamtbenennung hier schaerfer sich fixierte als +dort, nicht minder, dass dieselbe nicht gerade den wohlbekannten +naechstwohnenden Hellenen entnommen ward. Wie man es damit vereinigen will, +dass noch ein Jahrhundert vor der Gruendung Roms Italien den kleinasiatischen +Griechen voellig unbekannt war, ist schwer abzusehen. Von dem Alphabet wird +unten die Rede sein; es ergibt dessen Geschichte vollkommen die gleichen +Resultate. Man wird es vielleicht verwegen nennen, auf solche Beobachtungen hin +die Herodotische Angabe ueber das Zeitalter Homers zu verwerfen; aber ist es +etwa keine Kuehnheit, in Fragen dieser Art der Ueberlieferung zu folgen? +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +Die Geschichte der italischen und sizilischen Griechen ist zwar kein Teil der +italischen; die hellenischen Kolonisten des Westens blieben stets im engsten +Zusammenhang mit der Heimat und hatten teil an den Nationalfesten und Rechten +der Hellenen. Doch ist es auch fuer Italien wichtig, den verschiedenen +Charakter der griechischen Ansiedlungen daselbst zu bezeichnen und wenigstens +gewisse Grundzuege hervorzuheben, durch die der verschiedenartige Einfluss der +griechischen Kolonisierung auf Italien wesentlich bedingt worden ist. +</p> + +<p> +Unter allen griechischen Ansiedlungen die intensivste und in sich am meisten +geschlossene war diejenige, aus der der Achaeische Staedtebund hervorging, +welchen die Staedte Siris, Pandosia, Metabus oder Metapontion, Sybaris mit +seinen Pflanzstaedten Poseidonia und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina und +Pyxus bildeten. Diese Kolonisten gehoerten, im grossen und ganzen genommen, +einem griechischen Stamm an, der an seinem eigentuemlichen, dem dorischen +naechst verwandten Dialekt sowie nicht minder, anstatt des sonst allgemein in +Gebrauch gekommenen juengeren Alphabets, lange Zeit an der altnationalen +hellenischen Schreibweise festhielt, und der seine besondere Nationalitaet den +Barbaren wie den andern Griechen gegenueber in einer festen buendischen +Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer laesst sich anwenden, +was Polybios von der achaeischen Symmachie im Peloponnes sagt: “nicht +allein in eidgenoessischer und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, +sondern sie bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Masse und +Muenzen sowie derselben Vorsteher, Ratmaenner und Richter”. +</p> + +<p> +Dieser Achaeische Staedtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die Staedte +waren ohne Haefen - nur Kroton hatte eine leidliche Reede - und ohne +Eigenhandel; der Sybarite ruehmte sich, zu ergrauen zwischen den Bruecken +seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. +Dagegen besassen die Griechen hier nicht bloss die Kuestensaeume, sondern +herrschten von Meer zu Meer in dem “Wein-” und +“Rinderland” (Οινοτρία, Ιταλία) oder der “grossen +Hellas”; die eingeborene ackerbauende Bevoelkerung musste in Klientel +oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen. Sybaris - seiner +Zeit die groesste Stadt Italiens - gebot ueber vier barbarische Staemme und +fuenfundzwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer Laos und Poseidonia +gruenden; die ueberschwenglich fruchtbaren Niederungen des Krathis und Bradanos +warfen den Sybariten und Metapontinern ueberreichen Ertrag ab - vielleicht ist +hier zuerst Getreide zur Ausfuhr gebaut worden. Von der hohen Bluete, zu +welcher diese Staaten in unglaublich kurzer Zeit gediehen, zeugen am +lebendigsten die einzigen auf uns gekommenen Kunstwerke dieser italischen +Achaeer: ihre Muenzen von strenger, altertuemlich schoener Arbeit - ueberhaupt +die fruehesten Denkmaeler von Kunst und Schrift in Italien, deren Praegung +erweislich im Jahre 174 der Stadt (580) bereits begonnen hatte. Diese Muenzen +zeigen, dass die Achaeer des Westens nicht bloss teilnahmen an der eben um +diese Zeit im Mutterlande herrlich sich entwickelnden Bildnerkunst, sondern in +der Technik demselben wohl gar ueberlegen waren; denn statt der dicken, oft nur +einseitig gepraegten und regelmaessig schriftlosen Silberstuecke, welche um +diese Zeit in dem eigentlichen Griechenland wie bei den italischen Dorern +ueblich waren, schlugen die italischen Achaeer mit grosser und selbstaendiger +Geschicklichkeit aus zwei gleichartigen, teils erhaben teils vertieft +geschnittenen Stempeln grosse duenne, stets mit Aufschrift versehene +Silbermuenzen, deren sorgfaeltig vor der Falschmuenzerei jener Zeit - +Plattierung geringen Metalls mit duennen Silberblaettern - sich schuetzende +Praegweise den wohlgeordneten Kulturstaat verraet. +</p> + +<p> +Dennoch trug diese schnelle Bluete keine Frucht. In der muehelosen, weder durch +kraeftige Gegenwehr der Eingeborenen noch durch eigene schwere Arbeit auf die +Probe gestellten Existenz versagte sogar den Griechen frueh die Spannkraft des +Koerpers und des Geistes. Keiner der glaenzenden Namen der griechischen Kunst +und Literatur verherrlicht die italischen Achaeer, waehrend Sizilien deren +unzaehlige, auch in Italien das chalkidische Rhegion den Ibykos, das dorische +Tarent den Archytas nennen kann; bei diesem Volk, wo stets sich am Herde der +Spiess drehte, gedieh nichts von Haus aus als der Faustkampf. Tyrannen liess +die strenge Aristokratie nicht aufkommen, die in den einzelnen Gemeinden frueh +ans Ruder gekommen war und im Notfall an der Bundesgewalt einen sicheren +Rueckhalt fand: wohl aber drohte die Verwandlung der Herrschaft der Besten in +eine Herrschaft der Wenigen, vor allem, wenn die bevorrechteten Geschlechter in +den verschiedenen Gemeinden sich untereinander verbuendeten und gegenseitig +sich aushalfen. Solche Tendenzen beherrschten die durch den Namen des +Pythagoras bezeichnete solidarische Verbindung der “Freunde”, sie +gebot, die herrschende Klasse “gleich den Goettern zu verehren”, +die dienende “gleich den Tieren zu unterwerfen”, und rief durch +solche Theorie und Praxis eine furchtbare Reaktion hervor, welche mit der +Vernichtung der pythagoreischen “Freunde” und mit der Erneuerung +der alten Bundesverfassung endigte. Allein rasende Parteifehden, +Massenerhebungen der Sklaven, soziale Missstaende aller Art, praktische +Anwendung unpraktischer Staatsphilosophie, kurz alle Uebel der entsittlichten +Zivilisation hoerten nicht auf, in den achaeischen Gemeinden zu wueten, bis +ihre politische Macht darueber zusammenbrach. +</p> + +<p> +Es ist danach nicht zu verwundern, dass fuer die Zivilisation Italiens die +daselbst angesiedelten Achaeer minder einflussreich gewesen sind als die +uebrigen griechischen Niederlassungen. ueber die politischen Grenzen hinaus +ihren Einfluss zu erstrecken, lag diesen Ackerbauern ferner als den +Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets verknechteten sie die Eingeborenen und +zertraten die Keime einer nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch +vollstaendige Hellenisierung eine neue Bahn zu eroeffnen. So ist in Sybaris und +Metapont, in Kroton und Poseidonia das griechische Wesen, das sonst allen +politischen Missgeschicken zum Trotz sich lebenskraeftig zu behaupten wusste, +schneller, spur- und ruhmloser verschwunden als in irgendeinem anderen Gebiet, +und die zwiesprachigen Mischvoelker, die spaeterhin aus den Truemmern der +eingeborenen Italiker und der Achaeer und den juengeren Einwanderern +sabellischer Herkunft hervorgingen, sind zu rechtem Gedeihen ebensowenig +gelangt. Indes, diese Katastrophe gehoert der Zeit nach in die folgende +Periode. +</p> + +<p> +Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren die Niederlassungen der +uebrigen Griechen. Auch sie verschmaehten den Ackerbau und Landgewinn +keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer +Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phoenikischer Art an einer +befestigten Faktorei genuegen zu lassen. Aber wohl waren alle diese Staedte +zunaechst und vor allem des Handels wegen begruendet und darum denn auch, ganz +abweichend von den achaeischen, durchgaengig an den besten Haefen und +Landungsplaetzen angelegt. Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche dieser +Gruendungen waren mannigfach verschieden; dennoch bestand zwischen ihnen eine +gewisse Gemeinschaft - so in dem allen jenen Staedten gemeinsamen Gebrauch +gewisser moderner Formen des Alphabets ^2 und selbst in dem Dorismus der +Sprache, der auch in diejenigen Staedte frueh eindrang, die, wie zum Beispiel +Kyme ^3, von Haus aus den weichen ionischen Dialekt sprachen. Fuer die +Entwicklung Italiens sind diese Niederlassungen in sehr verschiedenem Grade +wichtig geworden; es genuegt hier, derjenigen zu gedenken, welche entscheidend +in die Schicksale der Staemme Italiens eingegriffen haben, des dorischen Tarent +und des ionischen Kyme. +</p> + +<p> +————————————————————————- +</p> + +<p> +^2 So sind die drei altorientalischen Formen des i, l und r, fuer die als +leicht zu verwechseln mit den Formen des s, g und p schon frueh die Zeichen +vorgeschlagen worden sind, in den achaeischen Kolonien entweder ausschliesslich +oder doch sehr vorwiegend in Gebrauch geblieben, waehrend die uebrigen Griechen +Italiens und Siziliens ohne Unterschied des Stammes sich ausschliesslich oder +doch sehr vorwiegend der juengeren Formen bedient haben. +</p> + +<p> +^3 So zum Beispiel heisst es auf einem kymaeischen Tongefaess Ταταίες εμί +λέυqθος. Fόσ δ'άν με κλέφσει θύφλος έσται. +</p> + +<p> +————————————————- +</p> + +<p> +Den Tarentinern ist unter allen hellenischen Ansiedlungen in Italien die +glaenzendste Rolle zugefallen. Der vortreffliche Hafen, der einzige gute an der +ganzen Suedkueste, machte ihre Stadt zum natuerlichen Entrepôt fuer den +sueditalienischen Handel, ja sogar fuer einen Teil des Verkehrs auf dem +Adriatischen Meer. Der reiche Fischfang in dem Meerbusen, die Erzeugung und +Verarbeitung der vortrefflichen Schafwolle sowie deren Faerbung mit dem Saft +der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wetteifern konnte - +beide Industrien hierher eingebuergert aus dem kleinasiatischen Miletos -, +beschaeftigten Tausende von Haenden und fuegten zu dem Zwischen- noch den +Ausfuhrhandel hinzu. Die in groesserer Menge als irgendwo sonst im griechischen +Italien und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen Muenzen sind noch +heute redende Beweise des ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. +Schon in dieser Epoche, wo Tarent noch mit Sybaris um den ersten Rang unter den +unteritalischen Griechenstaedten rang, muessen seine ausgedehnten +Handelsverbindungen sich angeknuepft haben; indes auf eine wesentliche +Erweiterung ihres Gebietes nach Art der achaeischen Staedte scheinen die +Tarentiner nie mit dauerndem Erfolg ausgegangen zu sein. +</p> + +<p> +Wenn also die oestlichste der griechischen Ansiedlungen in Italien rasch und +glaenzend sich emporhob, so gediehen die noerdlichsten derselben am Vesuv zu +bescheidnerer Bluete. Hier waren von der fruchtbaren Insel Aenaria (Ischia) aus +die Kymaeer auf das Festland hinuebergegangen und hatten auf einem Huegel hart +am Meere eine zweite Heimat erbaut, von wo aus der Hafenplatz Dikaearchia +(spaeter Puteoli), und weiter die “Neustadt” Neapolis gegruendet +wurden. Sie lebten, wie ueberhaupt die chalkidischen Staedte in Italien und +Sizilien, nach den Gesetzen, welche Charondas von Katane (um 100 650) +festgestellt hatte, in einer demokratischen, jedoch durch hohen Zensus +gemaessigten Verfassung, welche die Macht in die Haende eines aus den Reichsten +erlesenen Rates von Mitgliedern legte - eine Verfassung, die sich bewaehrte und +im ganzen von diesen Staedten Usurpatoren wie Poebeltyrannei fern hielt. Wir +wissen wenig von den aeusseren Verhaeltnissen dieser kampanischen Griechen. Sie +blieben, sei es aus Zwang oder aus freier Wahl, mehr noch als die Tarentiner +beschraenkt auf einen engen Bezirk; indem sie von diesem aus nicht erobernd und +unterdrueckend gegen die Eingeborenen auftraten, sondern friedlich mit ihnen +handelten und verkehrten, erschufen sie sich selbst eine gedeihliche Existenz +und nahmen zugleich den ersten Platz unter den Missionaren der griechischen +Zivilisation in Italien ein. +</p> + +<p> +Wenn zu beiden Seiten der rheginischen Meerenge teils auf dem Festlande die +ganze suedliche und die Westkueste bis zum Vesuv, teils die groessere oestliche +Haelfte der sizilischen Insel griechisches Land war, so gestalteten dagegen auf +der italischen Westkueste nordwaerts vom Vesuv und auf der ganzen Ostkueste die +Verhaeltnisse sich wesentlich anders. An dem dem Adriatischen Meer zugewandten +italischen Gestade entstanden griechische Ansiedlungen nirgends; womit die +verhaeltnismaessig geringere Anzahl und untergeordnete Bedeutung der +griechischen Pflanzstaedte auf dem gegenueberliegenden illyrischen Ufer und den +zahlreichen demselben vorliegenden Inseln augenscheinlich zusammenhaengt. Zwar +wurden auf dem Griechenland naechsten Teil dieser Kueste zwei ansehnliche +Kaufstaedte, Epidamnos oder Dyrrhachion (jetzt Durazzo; 127 587) und Apollonia +(bei Avlona; um 167 627) noch waehrend der roemischen Koenigsherrschaft +gegruendet; aber weiter noerdlich ist, mit Ausnahme etwa der nicht bedeutenden +Niederlassung auf Schwarzkerkyra (Curzola; um 174? 580) keine alte griechische +Ansiedlung nachzuweisen. Es ist noch nicht hinreichend aufgeklaert, warum die +griechische Kolonisierung so duerftig gerade nach dieser Seite hin auftrat, +wohin doch die Natur selbst die Hellenen zu weisen schien und wohin in der Tat +seit aeltester Zeit von Korinth und mehr noch von der nicht lange nach Rom (um +44 710) gegruendeten Ansiedlung auf Kerkyra (Korfu) aus ein Handelszug bestand, +dessen Entrepôts auf der italischen Kueste die Staedte an der Pomuendung, Spina +und Atria, waren. Die Stuerme der Adriatischen See, die Unwirtlichkeit +wenigstens der illyrischen Kuesten, die Wildheit der Eingeborenen reichen +offenbar allein nicht aus, um diese Tatsache zu erklaeren. Aber fuer Italien +ist es von den wichtigsten Folgen gewesen, dass die von Osten kommenden +Elemente der Zivilisation nicht zunaechst auf seine oestlichen Landschaften +einwirkten, sondern erst aus den westlichen in diese gelangten. Selbst in den +Handelsverkehr teilte sich mit Korinth und Kerkyra die oestlichste Kaufstadt +Grossgriechenlands, das dorische Tarent, das durch den Besitz von Hydrus +(Otranto) den Eingang in das Adriatische Meer auf der italischen Seite +beherrschte. Da ausser den Haefen an der Pomuendung an der ganzen Ostkueste +nennenswerte Emporien in jener Zeit nicht bestanden - Ankons Aufbluehen faellt +in weit spaetere Zeit und noch spaeter das Emporkommen von Brundisium -, ist es +wohl begreiflich, dass die Schiffer von Epidamnos und Apollonia haeufig in +Tarent loeschten. Auch auf dem Landwege verkehrten die Tarentiner vielfach mit +Apulien; auf sie geht zurueck, was sich von griechischer Zivilisation im +Suedosten Italiens vorfindet. Indes fallen in diese Zeit davon nur die ersten +Anfaenge; der Hellenismus Apuliens entwickelte sich erst in einer spaeteren +Epoche. +</p> + +<p> +Dass dagegen die Westkueste Italiens auch noerdlich vom Vesuv in aeltester Zeit +von den Hellenen befahren worden ist und auf den Inseln und Landspitzen +hellenische Faktoreien bestanden, laesst sich nicht bezweifeln. Wohl das +aelteste Zeugnis dieser Fahrten ist die Lokalisierung der Odysseussage an den +Kuesten des Tyrrhenischen Meeres ^4. Wenn man in den Liparischen Inseln die des +Aeolos wiederfand, wenn man am Lacinischen Vorgebirge die Insel der Kalypso, am +Misenischen die der Sirenen, am Circeischen die der Kirke wies, wenn man das +ragende Grab des Elpenor in dem steilen Vorgebirge von Tarracina erkannte, wenn +bei Caieta und Formiae die Laestrygonen hausen, wenn die beiden Soehne des +Odysseus und der Kirke, Agrios, das heisst der Wilde, und Latinos, im +“innersten Winkel der heiligen Inseln” die Tyrrhener beherrschen +oder in einer juengeren Fassung Latinus der Sohn des Odysseus und der Kirke, +Auson der Sohn des Odysseus und der Kalypso heisst, so sind das alte +Schiffmaerchen der ionischen Seefahrer, welche der lieben Heimat auf der +Tyrrhenischen See gedachten, und dieselbe herrliche Lebendigkeit der +Empfindung, wie sie in dem ionischen Gedicht von den Fahrten des Odysseus +waltet, spricht auch noch aus der frischen Lokalisierung derselben Sage bei +Kyme selbst und in dem ganzen Fahrbezirk der kymaeischen Schiffer. +</p> + +<p> +—————————————————————- +</p> + +<p> +^4 Die aeltesten griechischen Schriften, in denen uns diese tyrrhenische +Odysseussage erscheint, sind die Hesiodische ‘Theogonie’ in einem +ihrer juengeren Abschnitte und sodann die Schriftsteller aus der Zeit kurz vor +Alexander, Ephoros, aus dem der sogenannte Skymnos geflossen ist, und der +sogenannte Skylax. Die erste dieser Quellen gehoert einer Zeit an, wo Italien +den Griechen noch als Inselgruppe galt, und ist also sicher sehr alt; und es +kann danach die Entstehung dieser Sagen im ganzen mit Sicherheit in die +roemische Koenigszeit gesetzt werden. +</p> + +<p> +—————————————————————- +</p> + +<p> +Andere Spuren dieser aeltesten Fahrten sind die griechischen Namen der Insel +Aethalia (Ilva, Elba), die naechst Aenaria zu den am fruehesten von Griechen +besetzten Plaetzen zu gehoeren scheint, und vielleicht auch des Hafenplatzes +Telamon in Etrurien; ferner die beiden Ortschaften an der caeritischen Kueste +Pyrgi (bei S. Severa) und Alsion (bei Palo), wo nicht bloss die Namen +unverkennbar auf griechischen Ursprung deuten, sondern auch die eigentuemliche, +von den caeritischen und ueberhaupt den etruskischen Stadtmauern sich +wesentlich unterscheidende Architektur der Mauern von Pyrgi. Aethalia, +“die Feuerinsel”, mit ihren reichen Kupfer- und besonders +Eisengruben mag in diesem Verkehr die erste Rolle gespielt und hier die +Altsiedlung der Fremden wie ihr Verkehr mit den Eingeborenen seinen Mittelpunkt +gehabt haben; um so mehr als das Schmelzen der Erze auf der kleinen und nicht +waldreichen Insel ohne Verkehr mit dem Festland nicht geschehen konnte. Auch +die Silbergruben von Populonia auf der Elba gegenueberliegenden Landspitze +waren vielleicht schon den Griechen bekannt und von ihnen in Betrieb genommen. +</p> + +<p> +Wenn die Fremden, wie in jenen Zeiten immer, neben dem Handel auch dem See- und +Landraub obliegend, ohne Zweifel es nicht versaeumten, wo die Gelegenheit sich +bot, die Eingeborenen zu brandschatzen und sie als Sklaven fortzufuehren, so +uebten auch die Eingeborenen ihrerseits das Vergeltungsrecht aus; und dass die +Latiner und Tyrrhener dies mit groesserer Energie und besserem Glueck getan +haben als ihre sueditalischen Nachbarn, zeigen nicht bloss jene Sagen an, +sondern vor allem der Erfolg. In diesen Gegenden gelang es den Italikern, sich +der Fremdlinge zu erwehren und nicht bloss Herren ihrer eigenen Kaufstaedte und +Kaufhaefen zu bleiben oder doch bald wieder zu werden, sondern auch Herren +ihrer eigenen See. Dieselbe hellenische Invasion, welche die sueditalischen +Staemme erdrueckte und denationalisierte, hat die Voelker Mittelitaliens, +freilich sehr wider den Willen der Lehrmeister, zur Seefahrt und zur +Staedtegruendung angeleitet. Hier zuerst muss der Italiker das Floss und den +Nachen mit der phoenikischen und griechischen Rudergaleere vertauscht haben. +Hier zuerst begegnen grosse Kaufstaedte, vor allem Caere im suedlichen Etrurien +und Rom am Tiber, die, nach den italischen Namen wie nach der Lage in einiger +Entfernung vom Meere zu schliessen, eben wie die ganz gleichartigen +Handelsstaedte an der Pomuendung, Spina und Atria, und weiter suedlich +Ariminum, sicher keine griechischen, sondern italische Gruendungen sind. Den +geschichtlichen Verlauf dieser aeltesten Reaktion der italischen Nationalitaet +gegen fremden Eingriff darzulegen sind wir begreiflicherweise nicht imstande; +wohl aber laesst es noch sich erkennen, was fuer die weitere Entwicklung +Italiens von der groessten Bedeutung ist, dass diese Reaktion in Latium und im +suedlichen Etrurien einen andern Gang genommen hat als in der eigentlichen +tuskischen und den sich daran anschliessenden Landschaften. +</p> + +<p> +Schon die Sage setzt in bezeichnender Weise dem “wilden Tyrrhener” +den Latiner entgegen und dem unwirtlichen Strande der Volsker das friedliche +Gestade an der Tibermuendung. Aber nicht das kann hiermit gemeint sein, dass +man die griechische Kolonisierung in einigen Landschaften Mittelitaliens +geduldet, in andern nicht zugelassen haette. Nordwaerts vom Vesuv hat +ueberhaupt in geschichtlicher Zeit nirgends eine unabhaengige griechische +Gemeinde bestanden, und wenn Pyrgi dies einmal gewesen ist, so muss es doch +schon vor dem Beginn unserer Ueberlieferung in die Haende der Italiker, das +heisst der Caeriten zurueckgekehrt sein. Aber wohl ward in Suedetrurien, in +Latium und ebenso an der Ostkueste der friedliche Verkehr mit den fremden +Kaufleuten geschuetzt und gefoerdert, was anderswo nicht geschah. Vor allem +merkwuerdig ist die Stellung von Caere. “Die Caeriten”, sagt +Strabon, “galten viel bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und +Gerechtigkeit, und weil sie, so maechtig sie waren, des Raubes sich +enthielten.” Nicht der Seeraub ist gemeint, den der caeritische Kaufmann +wie jeder andere sich gestattet haben wird; sondern Caere war eine Art von +Freihafen fuer die Phoeniker wie fuer die Griechen. Wir haben der phoenikischen +Station - spaeter Punicum genannt - und der beiden von Pyrgi und Alsion bereits +gedacht; diese Haefen waren es, die zu berauben die Caeriten sich enthielten, +und ohne Zweifel war es eben dies, wodurch Caere, das nur eine schlechte Reede +besitzt und keine Gruben in der Naehe hat, so frueh zu hoher Bluete gelangt ist +und fuer den aeltesten griechischen Handel noch groessere Bedeutung gewonnen +hat als die von der Natur zu Emporien bestimmten Staedte der Italiker an den +Muendungen des Tiber und des Po. Die hier genannten Staedte sind es, welche in +uraltem religioesen Verkehr mit Griechenland erscheinen. Der erste unter allen +Barbaren, der den olympischen Zeus beschenkte, war der tuskische Koenig +Arimnos, vielleicht ein Herr von Ariminum. Spina und Caere hatten in dem Tempel +des delphischen Apollon wie andere mit dem Heiligtum in regelmaessigem Verkehr +stehende Gemeinden ihre eigenen Schatzhaeuser; und mit der aeltesten +caeritischen und roemischen Ueberlieferung ist das delphische Heiligtum sowohl +wie das kymaeische Orakel verflochten. Diese Staedte, wo die Italiker friedlich +schalteten und mit dem fremden Kaufmann freundlich verkehrten, wurden vor allen +reich und maechtig und wie fuer die hellenischen Waren so auch fuer die Keime +der hellenischen Zivilisation die rechten Stapelplaetze. +</p> + +<p> +Anders gestalteten sich die Verhaeltnisse bei den “wilden +Tyrrhenern”. Dieselben Ursachen, die in der latinischen und in den +vielleicht mehr unter etruskischer Suprematie stehenden als eigentlich +etruskischen Landschaften am rechten Tiberufer und am unteren Po zur +Emanzipierung der Eingeborenen von der fremden Seegewalt gefuehrt hatten, +entwickelten in dem eigentlichen Etrurien, sei es aus anderen Ursachen, sei es +infolge des verschiedenartigen, zu Gewalttat und Pluenderung hinneigenden +Nationalcharakters, den Seeraub und die eigene Seemacht. Man begnuegte sich +hier nicht, die Griechen aus Aethalia und Populonia zu verdraengen; auch der +einzelne Kaufmann ward, wie es scheint, hier nicht geduldet, und bald +durchstreiften sogar etruskische Kaper weithin die See und machten den Namen +der Tyrrhener zum Schrecken der Griechen - nicht ohne Ursache galt diesen der +Enterhaken als eine etruskische Erfindung und nannten die Griechen das +italische Westmeer das Meer der Tusker. Wie rasch und ungestuem diese wilden +Korsaren, namentlich im Tyrrhenischen Meere, um sich griffen, zeigt am +deutlichsten ihre Festsetzung an der latinischen und kampanischen Kueste. Zwar +behaupteten im eigentlichen Latium sich die Latiner und am Vesuv sich die +Griechen; aber zwischen und neben ihnen geboten die Etrusker in Antium wie in +Surrentum. Die Volsker traten in die Klientel der Etrusker ein; aus ihren +Waldungen bezogen diese die Kiele ihrer Galeeren, und wenn dem Seeraub der +Antiaten erst die roemische Okkupation ein Ende gemacht hat, so begreift man es +wohl, warum den griechischen Schiffern das Gestade der suedlichen Volsker das +laestrygonische hiess. Die hohe Landspitze von Sorrent, mit dem noch steileren, +aber hafenlosen Felsen von Capri eine rechte, inmitten der Buchten von Neapel +und Salern in die Tyrrhenische See hinausschauende Korsarenwarte, wurde frueh +von den Etruskern in Besitz genommen. Sie sollen sogar in Kampanien einen +eigenen Zwoelfstaedtebund gegruendet haben und etruskisch redende Gemeinden +haben hier noch in vollkommen historischer Zeit im Binnenlande bestanden; +wahrscheinlich sind diese Ansiedlungen mittelbar ebenfalls aus der +Seeherrschaft der Etrusker im kampanischen Meer und aus ihrer Rivalitaet mit +den Kymaeern am Vesuv hervorgegangen. Indes beschraenkten die Etrusker sich +keineswegs auf Raub und Pluenderung. Von ihrem friedlichen Verkehr mit +griechischen Staedten zeugen namentlich die Gold- und Silbermuenzen, die +wenigstens vom Jahre 200 der Stadt (550) an die etruskischen Staedte, besonders +Populonia, nach griechischem Muster und auf griechischen Fuss geschlagen haben; +dass dieselben nicht den grossgriechischen, sondern vielmehr attischen, ja +kleinasiatischen Stempeln nachgepraegt wurden, ist uebrigens wohl auch ein +Fingerzeig fuer die feindliche Stellung der Etrusker zu den italischen +Griechen. In der Tat befanden sie sich fuer den Handel in der guenstigsten +Stellung und in einer weit vorteilhafteren als die Bewohner von Latium. Von +Meer zu Meer wohnend geboten sie am westlichen ueber den grossen italischen +Freihafen, am oestlichen ueber die Pomuendung und das Venedig jener Zeit, +ferner ueber die Landstrasse, die seit alter Zeit von Pisa am Tyrrhenischen +nach Spina am Adriatischen Meere fuehrte, dazu in Sueditalien ueber die reichen +Ebenen von Capua und Nola. Sie besassen die wichtigsten italischen +Ausfuhrartikel, das Eisen von Aethalia, das volaterranische und kampanische +Kupfer, das Silber von Populonia, ja den von der Ostsee ihnen zugefuehrten +Bernstein. Unter dem Schutze ihrer Piraterie, gleichsam einer rohen +Navigationsakte, musste ihr eigener Handel emporkommen; und es kann ebensowenig +befremden, dass in Sybaris der etruskische und milesische Kaufmann +konkurrierten, als dass aus jener Verbindung von Kaperei und Grosshandel der +mass- und sinnlose Luxus entsprang, in welchem Etruriens Kraft frueh sich +selber verzehrt hat. +</p> + +<p> +Wenn also in Italien die Etrusker und, obgleich in minderem Grade, die Latiner +den Hellenen abwehrend und zum Teil feindlich gegenueberstanden, so griff +dieser Gegensatz gewissermassen mit Notwendigkeit in diejenige Rivalitaet ein, +die damals Handel und Schiffahrt auf dem Mittellaendischen Meere vor allem +beherrschte: in die Rivalitaet der Phoeniker und der Hellenen. Es ist nicht +dieses Orts, im einzelnen darzulegen, wie waehrend der roemischen Koenigszeit +diese beiden grossen Nationen an allen Gestaden des Mittelmeeres, in +Griechenland und Kleinasien selbst, auf Kreta und Kypros, an der afrikanischen, +spanischen und keltischen Kueste miteinander um die Oberherrschaft rangen; +unmittelbar auf italischem Boden wurden diese Kaempfe nicht gekaempft, aber die +Folgen derselben doch auch in Italien tief und nachhaltig empfunden. Die +frische Energie und die universellere Begabung des juengeren Nebenbuhlers war +anfangs ueberall im Vorteil; die Hellenen entledigten sich nicht bloss der +phoenikischen Faktoreien in ihrer europaeischen und asiatischen Heimat, sondern +verdraengten die Phoeniker auch von Kreta und Kypros, fassten Fuss in Aegypten +und Kyrene und bemaechtigten sich Unteritaliens und der groesseren oestlichen +Haelfte der sizilischen Insel. Ueberall erlagen die kleinen phoenikischen +Handelsplaetze der energischeren griechischen Kolonisation. Schon ward auch im +westlichen Sizilien Selinus (126 628) und Akragas (174 580) gegruendet, schon +von den kuehnen kleinasiatischen Phokaeern die entferntere Westsee befahren, an +dem keltischen Gestade Massalia erbaut (um 150 600) und die spanische Kueste +erkundet. Aber ploetzlich, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts, stockt der +Fortschritt der hellenischen Kolonisation: und es ist kein Zweifel, dass die +Ursache dieses Stockens der Aufschwung war, den gleichzeitig, offenbar infolge +der von den Hellenen dem gesamten phoenikischen Stamme drohenden Gefahr, die +maechtigste ihrer Staedte in Libyen, Karthago nahm. War die Nation, die den +Seeverkehr auf dem Mittellaendischen Meere eroeffnet hatte, durch den juengeren +Rivalen auch bereits verdraengt aus der Alleinherrschaft ueber die Westsee, dem +Besitze beider Verbindungsstrassen zwischen dem oestlichen und dem westlichen +Becken des Mittelmeeres und dem Monopol der Handelsvermittlung zwischen Orient +und Okzident, so konnte doch wenigstens die Herrschaft der Meere westlich von +Sardinien und Sizilien noch fuer die Orientalen gerettet werden; und an deren +Behauptung setzte Karthago die ganze, dem aramaeischen Stamme eigentuemliche +zaehe und umsichtige Energie. Die phoenikische Kolonisierung wie der Widerstand +der Phoeniker nahmen einen voellig anderen Charakter an. Die aelteren +phoenikischen Ansiedlungen, wie die sizilischen, welche Thukydides schildert, +waren kaufmaennische Faktoreien; Karthago unterwarf sich ausgedehnte +Landschaften mit zahlreichen Untertanen und maechtigen Festungen. Hatten bisher +die phoenikischen Niederlassungen vereinzelt den Griechen gegenuebergestanden, +so zentralisierte jetzt die maechtige libysche Stadt in ihrem Bereiche die +ganze Wehrkraft ihrer Stammverwandten mit einer Straffheit, der die griechische +Geschichte nichts Aehnliches an die Seite zu stellen vermag. Vielleicht das +wichtigste Moment aber dieser Reaktion fuer die Folgezeit ist die enge +Beziehung, in welche die schwaecheren Phoeniker, um der Hellenen sich zu +erwehren, zu den Eingeborenen Siziliens und Italiens traten. Als Knidier und +Rhodier um das Jahr 175 (579) im Mittelpunkt der phoenikischen Ansiedlungen auf +Sizilien bei Lilybaeon sich festzusetzen versuchten, wurden sie durch die +Eingeborenen - Elymer von Segeste - und Phoeniker wieder von dort vertrieben. +Als die Phokaeer um 217 (537) sich in Alalia (Aleria) auf Korsika Caere +gegenueber niederliessen, erschien, um sie von dort zu vertreiben, die +vereinigte Flotte der Etrusker und der Karthager, hundertundzwanzig Segel +stark; und obwohl in dieser Seeschlacht - einer der aeltesten, die die +Geschichte kennt - die nur halb so starke Flotte der Phokaeer sich den Sieg +zuschrieb, so erreichten doch die Karthager und Etrusker, was sie durch den +Angriff bezweckt hatten: die Phokaeer gaben Korsika auf und liessen lieber an +der weniger ausgesetzten lukanischen Kueste in Hyele (Velia) sich nieder. Ein +Traktat zwischen Etrurien und Karthago stellte nicht bloss die Regeln ueber +Wareneinfuhr und Rechtsfolge fest, sondern schloss auch ein Waffenbuendnis +(συμμαχία) ein, von dessen ernstlicher Bedeutung eben jene Schlacht von Alalia +zeugt. Charakteristisch ist es fuer die Stellung der Caeriten, dass sie die +phokaeischen Gefangenen auf dem Markt von Caere steinigten und alsdann, um den +Frevel zu suehnen, den delphischen Apoll beschickten. +</p> + +<p> +Latium hat dieser Fehde gegen die Hellenen sich nicht angeschlossen; vielmehr +finden sich in sehr alter Zeit freundliche Beziehungen der Roemer zu den +Phokaeern in Hyele wie in Massalia, und die Ardeaten sollen sogar +gemeinschaftlich mit den Zakynthiern eine Pflanzstadt in Spanien, das spaetere +Saguntum gegruendet haben. Doch haben die Latiner noch viel weniger sich auf +die Seite der Hellenen gestellt; dafuer buergen sowohl die engen Beziehungen +zwischen Rom und Caere als auch die Spuren alten Verkehrs zwischen den Latinern +und den Karthagern. Der Stamm der Kanaaniten ist den Roemern durch Vermittlung +der Hellenen bekannt geworden, da sie, wie wir sahen, ihn stets mit dem +griechischen Namen genannt haben; aber dass sie weder den Namen der Stadt +Karthago ^5 noch den Volksnamen der Afrer ^6 von den Griechen entlehnt haben, +dass tyrische Waren bei den aelteren Roemern mit dem ebenfalls die griechische +Vermittlung ausschliessenden Namen der sarranischen bezeichnet werden ^7, +beweist ebenso wie die spaeteren Vertraege den alten und unmittelbaren +Handelsverkehr zwischen Latium und Karthago. +</p> + +<p> +———————————————————————— +</p> + +<p> +^5 Phoenikisch Karthada, griechisch Karchedon, roemisch Cartago. +</p> + +<p> +^6 Der Name Afri, schon Ennius und Cato gelaeufig - man vergleiche Scipio +Africanus -, ist gewiss ungriechisch, hoechst wahrscheinlich stammverwandt mit +dem der Hebraeer. +</p> + +<p> +^7 Sarranisch heissen den Roemern seit alter Zeit der tyrische Purpur und die +tyrische Floete, und auch als Beiname ist Sarranus wenigstens seit dem +Hannibalischen Krieg in Gebrauch. Der bei Ennius und Plautus vorkommende +Stadtname Sarra ist wohl aus Sarranus, nicht unmittelbar aus dem einheimischen +Namen Sor gebildet. Die griechische Form Tyrus, Tyrius moechte bei den Roemern +nicht vor Afranius (bei Festus p. 355 M.) vorkommen. Vgl. F. K. Movers, Die +Phoenicier. Bonn/Berlin 1840-56. Bd. 2, 1, S. 174. +</p> + +<p> +—————————————————————— +</p> + +<p> +Der vereinigten Macht der Italiker und Phoeniker gelang es in der Tat, die +westliche Haelfte des Mittelmeeres im wesentlichen zu behaupten. Der +nordwestliche Teil von Sizilien mit den wichtigen Haefen Soloeis und Panormos +an der Nordkueste, Motye an der Afrika zugewandten Spitze blieb im +unmittelbaren oder mittelbaren Besitz der Karthager. Um die Zeit des Kyros und +Kroesos, eben als der weise Bias die Ionier zu bestimmen suchte, insgesamt aus +Kleinasien auswandernd in Sardinien sich niederzulassen (um 200 554), kam ihnen +dort der karthagische Feldherr Malchus zuvor und bezwang einen bedeutenden Teil +der wichtigen Insel mit Waffengewalt; ein halbes Jahrhundert spaeter erscheint +das ganze Gestade Sardiniens in unbestrittenem Besitz der karthagischen +Gemeinde. Korsika dagegen mit den Staedten Alalia und Nikaea fiel den Etruskern +zu und die Eingeborenen zinsten an diese von den Produkten ihrer armen Insel, +dem Pech, Wachs und Honig. Im Adriatischen Meer ferner sowie in den Gewaessern +westlich von Sizilien und Sardinien herrschten die verbuendeten Etrusker und +Karthager. Zwar gaben die Griechen den Kampf nicht auf. Jene von Lilybaeon +vertriebenen Rhodier und Knidier setzten auf den Inseln zwischen Sizilien und +Italien sich fest und gruendeten hier die Stadt Lipara (175 579). Massalia +gedieh trotz seiner Isolierung und monopolisierte bald den Handel von Nizza bis +nach den Pyrenaeen. An den Pyrenaeen selbst ward von Lipara aus die Pflanzstadt +Rhoda (jetzt Rosas) angelegt und auch in Saguntum sollen Zakynthier sich +angesiedelt, ja selbst in Tingis (Tanger) in Mauretanien griechische Dynasten +geherrscht haben. Aber mit dem Vorruecken war es denn doch fuer die Hellenen +vorbei; nach Akragas’ Gruendung sind ihnen bedeutende +Gebietserweiterungen am Adriatischen wie am westlichen Meer nicht mehr +gelungen, und die spanischen Gewaesser wie der Atlantische Ozean blieben ihnen +verschlossen. Jahr aus Jahr ein fochten die Liparaeer mit den tuskischen +“Seeraeubern”, die Karthager mit den Massalioten, den Kyrenaeern, +vor allem den griechischen Sikelioten; aber nach keiner Seite hin ward ein +dauerndes Resultat erreicht und das Ergebnis der Jahrhunderte langen Kaempfe +war im ganzen die Aufrechterhaltung des Status quo. +</p> + +<p> +So hatte Italien, wenn auch nur mittelbar, den Phoenikern es zu danken, dass +wenigstens die mittleren und noerdlichen Landschaften nicht kolonisiert wurden, +sondern hier, namentlich in Etrurien, eine nationale Seemacht ins Leben trat. +Es fehlt aber auch nicht an Spuren, dass die Phoeniker es schon der Muehe wert +fanden, wenn nicht gegen die latinischen, doch wenigstens gegen die +seemaechtigeren etruskischen Bundesgenossen diejenige Eifersucht zu entwickeln, +die aller Seeherrschaft anzuhaften pflegt: der Bericht ueber die von den +Karthagern verhinderte Aussendung einer etruskischen Kolonie nach den +Kanarischen Inseln, wahr oder falsch, offenbart die hier obwaltenden +rivalisierenden Interessen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap11"></a>KAPITEL XI.<br/> +Recht und Gericht</h2> + +<p> +Das Volksleben in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit anschaulich zu machen, +vermag die Geschichte nicht allein; es muss ihr genuegen, die Entwicklung der +Gesamtheit darzustellen. Das Schaffen und Handeln, das Denken und Dichten des +einzelnen, wie sehr sie auch von dem Zuge des Volksgeistes beherrscht werden, +sind kein Teil der Geschichte. Dennoch scheint der Versuch, diese Zustaende, +wenn auch nur in den allgemeinsten Umrissen, anzudeuten, eben fuer diese +aelteste, geschichtlich so gut wie verschollene Zeit deswegen notwendig, weil +die tiefe Kluft, die unser Denken und Empfinden von dem der alten Kulturvoelker +trennt, sich auf diesem Gebiet allein einigermassen zum Bewusstsein bringen +laesst. Unsere Ueberlieferung mit ihren verwirrten Voelkernamen und getruebten +Sagen ist wie die duerren Blaetter, von denen wir muehsam begreifen, dass sie +einst gruen gewesen sind; statt die unerquickliche Rede durch diese saeuseln zu +lassen und die Schnitzel der Menschheit, die Choner und Oenotrer, die Siculer +und Pelasger zu klassifizieren, wird es sich besser schicken zu fragen, wie +denn das reale Volksleben des alten Italien im Rechtsverkehr, das ideale in der +Religion sich ausgepraegt, wie man gewirtschaftet und gehandelt hat, woher die +Schrift den Voelkern kam und die weiteren Elemente der Bildung. So duerftig +auch hier unser Wissen ist, schon fuer das roemische Volk, mehr noch fuer das +der Sabeller und das etruskische, so wird doch selbst die geringe und +lueckenvolle Kunde dem Leser statt des Namens eine Anschauung oder doch eine +Ahnung gewaehren. Das Hauptergebnis einer solchen Betrachtung, um dies gleich +hier vorwegzunehmen, laesst in dem Satze sich zusammenfassen, dass bei den +Italikern und insbesondere bei den Roemern von den urzeitlichen Zustaenden +verhaeltnismaessig weniger bewahrt worden ist als bei irgendeinem anderen +indogermanischen Stamm. Pfeil und Bogen, Streitwagen, Eigentumunfaehigkeit der +Weiber, Kauf der Ehefrau, primitive Bestattungsform, Blutrache, mit der +Gemeindegewalt ringende Geschlechtsverfassung, lebendiger Natursymbolismus - +alle diese und unzaehlige verwandte Erscheinungen muessen wohl auch als +Grundlage der italischen Zivilisation vorausgesetzt werden; aber wo diese uns +zuerst anschaulich entgegentritt, sind sie bereits spurlos verschwunden, und +nur die Vergleichung der verwandten Staemme belehrt uns ueber ihr einstmaliges +Vorhandensein. Insofern beginnt die italische Geschichte bei einem weit +spaeteren Zivilisationsabschnitt als zum Beispiel die griechische und deutsche +und traegt von Haus aus einen relativ modernen Charakter. +</p> + +<p> +Die Rechtssatzungen der meisten italischen Staemme sind verschollen: nur von +dem latinischen Landrecht ist in der roemischen Ueberlieferung einige Kunde auf +uns gekommen. +</p> + +<p> +Alle Gerichtsbarkeit ist zusammengefasst in der Gemeinde, das heisst in dem +Koenig, welcher Gericht oder “Gebot” (ius) haelt an den Spruchtagen +(dies fasti) auf der Richterbuehne (tribunal) der Dingstaette, sitzend auf dem +Wagenstuhl (sella curulis) ^1; ihm zur Seite stehen seine Boten (lictores), vor +ihm der Angeklagte oder die Parteien (rei). Zwar entscheidet zunaechst ueber +die Knechte der Herr, ueber die Frauen der Vater, Ehemann oder naechste +maennliche Verwandte; aber Knechte und Frauen galten auch zunaechst nicht als +Glieder der Gemeinde. Auch ueber hausuntertaenige Soehne und Enkel konkurrierte +die hausvaeterliche Gewalt mit der koeniglichen Gerichtsbarkeit; aber eine +eigentliche Gerichtsbarkeit war jene nicht, sondern lediglich ein Ausfluss des +dem Vater an den Kindern zustehenden Eigentumsrechts. Von einer eigenen +Gerichtsbarkeit der Geschlechter oder ueberhaupt von irgendeiner nicht aus der +koeniglichen abgeleiteten Gerichtsherrlichkeit treffen wir nirgends eine Spur. +Was die Selbsthilfe und namentlich die Blutrache anlangt, so findet sich +vielleicht noch ein sagenhafter Nachklang der urspruenglichen Satzung, dass die +Toetung des Moerders oder dessen, der ihn widerrechtlich beschuetzt, durch die +Naechsten des Ermordeten gerechtfertigt sei; aber eben dieselben Sagen schon +bezeichnen diese Satzung als verwerflich ^2 und es scheint demnach die +Blutrache in Rom sehr frueh durch das energische Auftreten der Gemeindegewalt +unterdrueckt worden zu sein. Ebenso ist weder von dem Einfluss, der den +Genossen und dem Umstand auf die Urteilsfaellung nach aeltestem deutschen Recht +zukommt, in dem aeltesten roemischen etwas wahrzunehmen, noch findet sich in +diesem, was in jenem so haeufig ist, dass der Wille selbst und die Macht einen +Anspruch mit den Waffen in der Hand zu vertreten als gerichtlich notwendig oder +doch zulaessig behandelt wird. Das Gerichtsverfahren ist Staats- oder +Privatprozess, je nachdem der Koenig von sich aus oder erst auf Anrufen des +Verletzten einschreitet. Zu jenem kommt es nur, wenn der gemeine Friede +gebrochen ist, also vor allen Dingen im Falle des Landesverrats oder der +Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio) und der gewaltsamen Auflehnung +gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber auch der arge Moerder (parricida), der +Knabenschaender, der Verletzer der jungfraeulichen oder Frauenehre, der +Brandstifter, der falsche Zeuge, ferner wer die Ernte durch boesen Zauber +bespricht oder wer zur Nachtzeit auf dem der Hut der Goetter und des Volkes +ueberlassenen Acker unbefugt das Korn schneidet, auch sie brechen den gemeinen +Frieden und werden deshalb dem Hochverraeter gleich geachtet. Den Prozess +eroeffnet und leitet der Koenig und faellt das Urteil, nachdem er mit den +zugezogenen Ratsmaennern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei, nachdem +er den Prozess eingeleitet hat, die weitere Verhandlung und die Urteilsfaellung +an Stellvertreter zu uebertragen, die regelmaessig aus dem Rat genommen werden; +die spaeteren ausserordentlichen Stellvertreter, die Zweimaenner fuer +Aburteilung der Empoerung (duoviri perduellionis) und die spaeteren staendigen +Stellvertreter, die “Mordspuerer” (quaestores parricidii), denen +zunaechst die Aufspuerung und Verhaftung der Moerder, also eine gewisse +polizeiliche Taetigkeit oblag, gehoeren der Koenigszeit nicht an, moegen aber +wohl an gewisse Einrichtungen derselben anknuepfen. Untersuchungshaft ist +Regel, doch kann auch der Angeklagte gegen Buergschaft entlassen werden. +Folterung zur Erzwingung des Gestaendnisses kommt nur vor fuer Sklaven. Wer +ueberwiesen ist, den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, buesst immer mit dem +Leben; die Todesstrafen sind mannigfaltig: so wird der falsche Zeuge vom +Burgfelsen gestuerzt, der Erntedieb aufgeknuepft, der Brandstifter verbrannt. +Begnadigen kann der Koenig nicht, sondern nur die Gemeinde; der Koenig aber +kann dem Verurteilten die Betretung des Gnadenweges (provocatio) gestatten oder +verweigern. Ausserdem kennt das Recht auch eine Begnadigung des verurteilten +Verbrechers durch die Goetter; wer vor dem Priester des Jupiter einen Kniefall +tut, darf an demselben Tag nicht mit Ruten gestrichen, wer gefesselt sein Haus +betritt, muss der Bande entledigt werden; und das Leben ist dem Verbrecher +geschenkt, welcher auf seinem Gang zum Tode einer der heiligen Jungfrauen der +Vesta zufaellig begegnet. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +^1 Dieser “Wagenstuhl” - eine andere Erklaerung ist sprachlich +nicht wohl moeglich (vgl. auch Serv. Aen. 1, 16) - wird wohl am einfachsten in +der Weise erklaert, dass der Koenig in der Stadt allein zu fahren befugt war, +woher das Recht spaeter dem hoechsten Beamten fuer feierliche Gelegenheiten +blieb, und dass er urspruenglich, solange es noch kein erhoehtes Tribunal gab, +auf dem Comitium oder wo er sonst wollte, vom Wagenstuhl herab Recht sprach. +</p> + +<p> +^2 Die Erzaehlung von dem Tode des Koenigs Tatius, wie Plutarch (Rom. 23, 24) +sie gibt: dass Verwandte des Tatius laurentinische Gesandte ermordet haetten; +dass Tatius den klagenden Verwandten der Erschlagenen das Recht geweigert habe; +dass dann Tatius von diesen erschlagen worden sei; dass Romulus die Moerder des +Tatius freigesprochen, weil Mord mit Mord gesuehnt sei; dass aber infolge +goettlicher ueber beide Staedte zugleich ergangener Strafgerichte sowohl die +ersten als die zweiten Moerder in Rom und in Laurentum nachtraeglich zur +gerechten Strafe gezogen seien - diese Erzaehlung sieht ganz aus wie eine +Historisierung der Abschaffung der Blutrache, aehnlich wie die Einfuehrung der +Provokation dem Horatiermythus zugrunde liegt. Die anderswo vorkommenden +Fassungen dieser Erzaehlung weichen freilich bedeutend ab, scheinen aber auch +verwirrt oder zurechtgemacht. +</p> + +<p> +———————————————————————— +</p> + +<p> +Bussen an den Staat wegen Ordnungswidrigkeit und Polizeivergehen verhaengt der +Koenig nach Ermessen; sie bestehen in einer bestimmten Zahl (daher der Name +multa) von Rindern oder Schafen. Auch Rutenhiebe zu erkennen steht in seiner +Hand. +</p> + +<p> +In allen uebrigen Faellen, wo nur der einzelne, nicht der gemeine Friede +verletzt war, schreitet der Staat nur ein auf Anrufen des Verletzten, welcher +den Gegner veranlasst, noetigenfalls mit handhafter Gewalt zwingt, sich mit ihm +persoenlich dem Koenig zu stellen. Sind beide Parteien erschienen und hat der +Klaeger die Forderung muendlich vorgetragen, der Beklagte deren Erfuellung in +gleicher Weise verweigert, so kann der Koenig entweder die Sache untersuchen +oder sie in seinem Namen durch einen Stellvertreter abmachen lassen. Als die +regelmaessige Form der Suehnung eines solchen Unrechts galt der Vergleich +zwischen dem Verletzer und dem Verletzten; der Staat trat nur ergaenzend ein, +wenn der Schaediger den Geschaedigten nicht durch eine ausreichende Suehne +(poena) zufriedenstellte, wenn jemand sein Eigentum vorenthalten oder seine +gerechte Forderung nicht erfuellt ward. +</p> + +<p> +Was in dieser Epoche der Bestohlene von dem Dieb zu fordern berechtigt war und +wann der Diebstahl als ueberhaupt der Suehne faehig galt, laesst sich nicht +bestimmen. Billig aber forderte der Verletzte von dem auf frischer Tat +ergriffenen Diebe Schwereres als von dem spaeter entdeckten, da die +Erbitterung, welche eben zu suehnen ist, gegen jenen staerker ist als gegen +diesen. Erschien der Diebstahl der Suehne unfaehig oder war der Dieb nicht +imstande, die von dem Beschaedigten geforderte und von dem Richter gebilligte +Schaetzung zu erlegen, so ward er vom Richter dem Bestohlenen als eigener Mann +zugesprochen. +</p> + +<p> +Bei Schaedigung (iniuria) des Koerpers wie der Sachen musste in den leichteren +Faellen der Verletzte wohl unbedingt Suehne nehmen; ging dagegen durch dieselbe +ein Glied verloren, so konnte der Verstuemmelte Auge um Auge fordern und Zahn +um Zahn. +</p> + +<p> +Das Eigentum hat, da das Ackerland bei den Roemern lange in Feldgemeinschaft +benutzt und erst in verhaeltnismaessig spaeter Zeit aufgeteilt worden ist, sich +nicht an den Liegenschaften, sondern zunaechst an dem “Sklaven- und +Viehstand” (familia pecuniaque) entwickelt. Als Rechtsgrund desselben +gilt nicht etwa das Recht des Staerkeren, sondern man betrachtet vielmehr alles +Eigentum als dem einzelnen Buerger von der Gemeinde zu ausschliesslichem Haben +und Nutzen zugeteilt, weshalb auch nur der Buerger und wen die Gemeinde in +dieser Beziehung dem Buerger gleich achtet, faehig ist, Eigentum zu haben. +Alles Eigentum geht frei von Hand zu Hand; das roemische Recht macht keinen +wesentlichen Unterschied zwischen beweglichem und unbeweglichem Gut, seit +ueberhaupt der Begriff des Privateigentums auf das letztere erstreckt war, und +kennt kein unbedingtes Anrecht der Kinder oder der sonstigen Verwandten auf das +vaeterliche oder Familienvermoegen. Indes ist der Vater nicht imstande, die +Kinder ihres Erbrechts willkuerlich zu berauben, da er weder die vaeterliche +Gewalt aufheben noch anders als mit Einwilligung der ganzen Gemeinde, die auch +versagt werden konnte und in solchem Falle gewiss oft versagt ward, ein +Testament errichten kann. Bei seinen Lebzeiten zwar konnte der Vater auch den +Kindern nachteilige Verfuegungen treffen; denn mit persoenlichen +Beschraenkungen des Eigentuemers war das Recht sparsam und gestattete im ganzen +jedem erwachsenen Mann die freie Verfuegung ueber sein Gut. Doch mag die +Einrichtung, wonach derjenige, welcher sein Erbgut veraeusserte und seine +Kinder desselben beraubte, obrigkeitlich gleich dem Wahnsinnigen unter +Vormundschaft gesetzt ward, wohl schon bis in die Zeit zurueckreichen, wo das +Ackerland zuerst aufgeteilt ward und damit das Privatvermoegen ueberhaupt eine +groessere Bedeutung fuer das Gemeinwesen erhielt. Auf diesem Wege wurden die +beiden Gegensaetze, unbeschraenktes Verfuegungsrecht des Eigentuemers und +Zusammenhaltung des Familiengutes, soweit moeglich, im roemischen Recht +miteinander vereinigt. Dingliche Beschraenkungen des Eigentums wurden, mit +Ausnahme der namentlich fuer die Landwirtschaft unentbehrlichen +Gerechtigkeiten, durchaus nicht zugelassen. Erbpacht und dingliche Grundrente +sind rechtlich unmoeglich; anstatt der Verpfaendung, die das Recht ebensowenig +kennt, dient die sofortige Uebertragung des Eigentums an dem Unterpfand auf den +Glaeubiger gleichsam als den Kaeufer desselben, wobei dieser sein Treuwort +(fiducia) gibt, bis zum Verfall der Forderung die Sache nicht zu veraeussern +und sie nach Rueckzahlung der vorgestreckten Summe dem Schuldner +zurueckzustellen. +</p> + +<p> +Vertraege, die der Staat mit einem Buerger abschliesst, namentlich die +Verpflichtung der fuer eine Leistung an den Staat eintretenden Garanten +(praevides, praedes), sind ohne weitere Foermlichkeit gueltig. Dagegen die +Vertraege der Privaten untereinander geben in der Regel keinen Anspruch auf +Rechtshilfe von Seiten des Staats; den Glaeubiger schuetzt nur das nach +kaufmaennischer Art hochgehaltene Treuwort und etwa noch bei dem haeufig +hinzutretenden Eide die Scheu vor den den Meineid raechenden Goettern. +Rechtlich klagbar sind nur das Verloebnis, infolgedessen der Vater, wenn er die +versprochene Braut nicht gibt, dafuer Suehne und Ersatz zu leisten hat, ferner +der Kauf (mancipatio) und das Darlehen (nexum). Der Kauf gilt als rechtlich +abgeschlossen dann, wenn der Verkaeufer dem Kaeufer die gekaufte Sache in die +Hand gibt (mancipare) und gleichzeitig der Kaeufer dem Verkaeufer den +bedungenen Preis in Gegenwart von Zeugen entrichtet; was, seit das Kupfer +anstatt der Schafe und Rinder der regelmaessige Wertmesser geworden war, +geschah durch Zuwaegen der bedungenen Quantitaet Kupfer auf der von einem +Unparteiischen richtig gehaltenen Waage ^3. Unter diesen Voraussetzungen muss +der Verkaeufer dafuer einstehen, dass er Eigentuemer sei, und ueberdies der +Verkaeufer wie der Kaeufer jede besonders eingegangene Beredung erfuellen; +widrigenfalls buesst er dem andern Teil aehnlich, wie wenn er die Sache ihm +entwendet haette. Immer aber bewirkt der Kauf eine Klage nur dann, wenn er Zug +um Zug beiderseits erfuellt war; Kauf auf Kredit gibt und nimmt kein Eigentum +und begruendet keine Klage. In aehnlicher Art wird das Darlehen eingegangen, +indem der Glaeubiger dem Schuldner vor Zeugen die bedungene Quantitaet Kupfer +unter Verpflichtung (nexum) zur Rueckgabe zuwaegt. Der Schuldner hat ausser dem +Kapital noch den Zins zu entrichten, welcher unter gewoehnlichen Verhaeltnissen +wohl fuer das Jahr zehn Prozent betrug ^4. In der gleichen Form erfolgte +seinerzeit auch die Rueckzahlung des Darlehens. Erfuellte ein Schuldner dem +Staat gegenueber seine Verbindlichkeit nicht, so wurde derselbe ohne weiteres +mit allem, was er hatte, verkauft; dass der Staat forderte, genuegte zur +Konstatierung der Schuld. Ward dagegen von einem Privaten die Vergewaltigung +seines Eigentums dem Koenig angezeigt (vindiciae), oder erfolgte die +Rueckzahlung des empfangenen Darlehens nicht, so kam es darauf an, ob das +Sachverhaeltnis der Feststellung bedurfte, was bei Eigentumsklagen regelmaessig +der Fall war, oder schon klar vorlag, was bei Darlehensklagen nach den +geltenden Rechtsnormen mittels der Zeugen leicht bewerkstelligt werden konnte. +Die Feststellung des Sachverhaeltnisses geschah in Form einer Wette, wobei jede +Partei fuer den Fall des Unterliegens einen Einsatz (sacramentum) machte: bei +wichtigen Sachen von mehr als zehn Rindern Wert einen von fuenf Rindern, bei +geringeren einen von fuenf Schafen. Der Richter entschied sodann, wer recht +gewettet habe, worauf der Einsatz der unterliegenden Partei den Priestern zum +Behuf der oeffentlichen Opfer zufiel. Wer also unrecht gewettet hatte, und, +ohne den Gegner zu befriedigen, dreissig Tage hatte verstreichen lassen; +ferner, wessen Leistungspflicht von Anfang an feststand, also regelmaessig der +Darlehensschuldner, wofern er nicht Zeugen fuer die Rueckzahlung hatte, +unterlag dem Exekutionsverfahren “durch Handanlegung” (manus +iniectio), indem ihn der Klaeger packte, wo er ihn fand, und ihn vor Gericht +stellte, lediglich um die anerkannte Schuld zu erfuellen. Verteidigen durfte +der Ergriffene sich selber nicht; ein Dritter konnte zwar fuer ihn auftreten +und diese Gewalttat als unbefugte bezeichnen (vindex), worauf dann das +Verfahren eingestellt ward; allein diese Vertretung machte den Vertreter +persoenlich verantwortlich, weshalb auch fuer den steuerzahlenden Buerger der +Proletarier nicht Vertreter sein konnte. Trat weder Erfuellung noch Vertretung +ein, so sprach der Koenig den Ergriffenen dem Glaeubiger so zu, dass dieser ihn +abfuehren und halten konnte gleich einem Sklaven. Waren alsdann sechzig Tage +verstrichen, war waehrend derselben der Schuldner dreimal auf dem Markt +ausgestellt und dabei ausgerufen worden, ob jemand seiner sich erbarme, und +dies alles ohne Erfolg geblieben, so hatten die Glaeubiger das Recht, ihn zu +toeten und sich in seine Leiche zu teilen, oder auch ihn mit seinen Kindern und +seiner Habe als Sklaven in die Fremde zu verkaufen, oder auch ihn bei sich an +Sklaven Statt zu halten; denn freilich konnte er, so lange er im Kreis der +roemischen Gemeinde blieb, nach roemischem Recht nicht vollstaendig Sklave +werden. So ward Habe und Gut eines jeden von der roemischen Gemeinde gegen den +Dieb und Schaediger sowohl wie gegen den unbefugten Besitzer und den +zahlungsunfaehigen Schuldner mit unnachsichtlicher Strenge geschirmt. +</p> + +<p> +————————————————————————- +</p> + +<p> +^3 Die Manzipation in ihrer entwickelten Gestalt ist notwendig juenger als die +Servianische Reform, wie die auf die Feststellung des Bauerneigentums +gerichtete Auswahl der manzipablen Objekte beweist, und wie selbst die +Tradition angenommen haben muss, da sie Servius zum Erfinder der Waage macht. +Ihrem Ursprung nach muss aber die Manzipation weit aelter sein, denn sie passt +zunaechst nur auf Gegenstaende, die durch Ergreifen mit der Hand erworben +werden und muss also in ihrer aeltesten Gestalt der Epoche angehoeren, wo das +Vermoegen wesentlich in Sklaven und Vieh (familia pecuniaque) bestand. Die +Aufzaehlung derjenigen Gegenstaende, die manzipiert werden mussten, wird +demnach eine Servianische Neuerung sein; die Manzipation selbst und also auch +der Gebrauch der Waage und des Kupfers sind aelter. Ohne Zweifel ist die +Manzipation urspruenglich allgemeine Kaufform und noch nach der Servianischen +Reform bei allen Sachen vorgekommen; erst spaeteres Missverstaendnis deutete +die Vorschrift, dass gewisse Sachen manzipiert werden muessten, dahin um, dass +nur diese Sachen und keine anderen manzipiert werden koennten. +</p> + +<p> +^4 Naemlich fuer das zehnmonatliche Jahr den zwoelften Teil des Kapitals +(uncia), also fuer das zehnmonatliche Jahr 8 1/3, fuer das zwoelfmonatliche +zehn vom Hundert. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +Ebenso schirmte man das Gut der nicht wehrhaften, also auch nicht zur Schirmung +des eigenen Vermoegens faehigen Personen, der Unmuendigen und der Wahnsinnigen +und vor allem das der Weiber, indem man die naechsten Erben zu der Hut +desselben berief. +</p> + +<p> +Nach dem Tode faellt das Gut den naechsten Erben zu, wobei alle +Gleichberechtigten, auch die Weiber gleiche Teile erhalten und die Witwe mit +den Kindern auf einen Kopfteil zugelassen wird. Dispensieren von der +gesetzlichen Erbfolge kann nur die Volksversammlung, wobei noch vorher wegen +der an dem Erbgang haftenden Sakralpflichten das Gutachten der Priester +einzuholen ist; indes scheinen solche Dispensationen frueh sehr haeufig +geworden zu sein, und wo sie fehlte, konnte bei der vollkommen freien +Disposition, die einem jeden ueber sein Vermoegen bei seinen Lebzeiten zustand, +diesem Mangel dadurch einigermassen abgeholfen werden, dass man sein +Gesamtvermoegen einem Freund uebertrug, der dasselbe nach dem Tode dem Willen +des Verstorbenen gemaess verteilte. +</p> + +<p> +Die Freilassung war dem aeltesten Recht unbekannt. Der Eigentuemer konnte +freilich der Ausuebung seines Eigentumsrechts sich enthalten; aber die zwischen +dem Herrn und dem Sklaven bestehende Unmoeglichkeit gegenseitiger +Verbindlichmachung wurde hierdurch nicht aufgehoben, noch weniger dem letzteren +der Gemeinde gegenueber das Gast- oder gar das Buergerrecht erworben. Die +Freilassung kann daher anfangs nur Tatsache, nicht Recht gewesen sein und dem +Herrn nie die Moeglichkeit abgeschnitten haben, den Freigelassenen wieder nach +Gefallen als Sklaven zu behandeln. Indes ging man hiervon ab in den Faellen, wo +sich der Herr nicht bloss dem Sklaven, sondern der Gemeinde gegenueber +anheischig gemacht hatte, denselben im Besitze der Freiheit zu lassen. Eine +eigene Rechtsform fuer eine solche Bindung des Herrn gab es jedoch nicht - der +beste Beweis, dass es anfaenglich eine Freilassung nicht gegeben haben kann -, +sondern es wurden dafuer diejenigen Wege benutzt, welche das Recht sonst +darbot: das Testament, der Prozess, die Schatzung. Wenn der Herr entweder bei +Errichtung seines letzten Willens in der Volksversammlung den Sklaven +freigesprochen hatte oder wenn er dem Sklaven verstattet hatte, ihm gegenueber +vor Gericht die Freiheit anzusprechen oder auch sich in die Schatzungsliste +einzeichnen zu lassen, so galt der Freigelassene zwar nicht als Buerger, aber +wohl als frei selbst dem frueheren Herrn und dessen Erben gegenueber und +demnach anfangs als Schutzverwandter, spaeterhin als Plebejer. Auf groessere +Schwierigkeiten als die Freilassung des Knechts stiess diejenige des Sohnes; +denn wenn das Verhaeltnis des Herrn zum Knecht zufaellig und darum willkuerlich +loesbar ist, so kann der Vater nie aufhoeren Vater zu sein. Darum musste +spaeterhin der Sohn, um von dem Vater sich zu loesen, erst in die Knechtschaft +eintreten, um dann aus dieser entlassen zu werden; in der gegenwaertigen +Periode aber kann es eine Emanzipation ueberhaupt noch nicht gegeben haben. +</p> + +<p> +Nach diesem Rechte lebten in Rom die Buerger und die Schutzverwandten, zwischen +denen, soweit wir sehen, von Anfang an vollstaendige privatrechtliche +Gleichheit bestand. Der Fremde dagegen, sofern er sich nicht einem roemischen +Schutzherrn ergeben hat und also als Schutzverwandter lebt, ist rechtlos, er +wie seine Habe. Was der roemische Buerger ihm abnimmt, das ist ebenso recht +erworben wie die am Meeresufer aufgelesene herrenlose Muschel; nur, das +Grundstueck, das ausserhalb der roemischen Grenze liegt, kann der roemische +Buerger wohl faktisch gewinnen, aber nicht im Rechtssinn als dessen Eigentuemer +gelten; denn die Grenze der Gemeinde vorzuruecken, ist der einzelne Buerger +nicht befugt. Anders ist es im Kriege; was der Soldat gewinnt, der unter dem +Heerbann ficht, bewegliches wie unbewegliches Gut, faellt nicht ihm zu, sondern +dem Staat, und hier haengt es denn auch von diesem ab, die Grenze vorzuschieben +oder zurueckzunehmen. +</p> + +<p> +Ausnahmen von diesen allgemeinen Regeln entstehen durch besondere +Staatsvertraege, die den Mitgliedern fremder Gemeinden innerhalb der roemischen +gewisse Rechte sichern. Vor allem erklaerte das ewige Buendnis zwischen Rom und +Latium alle Vertraege zwischen Roemern und Latinern fuer rechtsgueltig und +verordnete zugleich fuer diese einen beschleunigten Zivilprozess vor +geschworenen “Wiederschaffern” (reciperatores), welche, da sie, +gegen den sonstigen roemischen Gebrauch einem Einzelrichter die Entscheidung zu +uebertragen, immer in der Mehrheit und in ungerader Zahl sitzen, wohl als ein +aus Richtern beider Nationen und einem Obmann zusammengesetztes Handels- und +Messgericht zu denken sind. Sie urteilen am Ort des abgeschlossenen Vertrages +und muessen spaetestens in zehn Tagen den Prozess beendigt haben. Die Formen, +in denen der Verkehr zwischen Roemern und Latinern sich bewegte, waren +natuerlich die allgemeinen, in denen auch Patrizier und Plebejer miteinander +verkehrten; denn die Manzipation und das Nexum sind urspruenglich gar keine +Formalakte, sondern der praegnante Ausdruck der Rechtsbegriffe, deren +Herrschaft reichte wenigstens so weit man lateinisch sprach. +</p> + +<p> +In anderer Weise und anderen Formen ward der Verkehr mit dem eigentlichen +Ausland vermittelt. Schon in fruehester Zeit muessen mit den Caeriten und +anderen befreundeten Voelkern Vertraege ueber Verkehr und Rechtsfolge +abgeschlossen und die Grundlage des internationalen Privatrechts (ius gentium) +geworden sein, das sich in Rom allmaehlich neben dem Landrecht entwickelt hat. +Eine Spur dieser Rechtsbildung ist das merkwuerdige mutuum, der +“Wandel” (von mutare; wie dividuus); eine Form des Darlehens, die +nicht wie das Nexum auf einer ausdruecklich vor Zeugen abgegebenen bindenden +Erklaerung des Schuldners, sondern auf dem blossen Uebergang des Geldes aus +einer Hand in die andere beruht und die so offenbar dem Verkehr mit Fremden +entsprungen ist wie das Nexum dem einheimischen Geschaeftsverkehr. Es ist darum +charakteristisch, dass das Wort als μοίτον im sizilischen Griechisch +wiederkehrt; womit zu verbinden ist das Wiedererscheinen des lateinischen +carcer in dem sizilischen κάρκαρον. Da es sprachlich feststeht, dass beide +Woerter urspruenglich latinisch sind, so wird ihr Vorkommen in dem sizilischen +Lokaldialekt ein wichtiges Zeugnis fuer den haeufigen Verkehr der latinischen +Schiffer auf der Insel, welcher sie veranlasste, dort Geld zu borgen und der +Schuldhaft, die ja ueberall in den aelteren Rechten die Folge des nicht +bezahlten Darlehens ist, sich zu unterwerfen. Umgekehrt ward der Name des +syrakusanischen Gefaengnisses, “Steinbrueche” oder λατομίαι, in +alter Zeit auf das erweiterte roemische Staatsgefaengnis, die lautumiae +uebertragen. +</p> + +<p> +Werfen wir noch einen Blick zurueck auf die Gesamtheit dieser Institutionen, +die im wesentlichen entnommen sind der aeltesten, etwa ein halbes Jahrhundert +nach der Abschaffung des Koenigtums veranstalteten Aufzeichnung des roemischen +Gewohnheitsrechts und deren Bestehen schon in der Koenigszeit sich wohl fuer +einzelne Punkte, aber nicht im ganzen bezweifeln laesst, so erkennen wir darin +das Recht einer weit vorgeschrittenen, ebenso liberalen als konsequenten Acker- +und Kaufstadt. Hier ist die konventionelle Bildersprache, wie zum Beispiel die +deutschen Rechtssatzungen sie aufzeigen, bereits voellig verschollen. Es +unterliegt keinem Zweifel, dass eine solche auch bei den Italikern einmal +vorgekommen sein muss; merkwuerdige Belege dafuer sind zum Beispiel die Form +der Haussuchung, wobei der Suchende nach roemischer wie nach deutscher Sitte +ohne Obergewand im blossen Hemd erscheinen musste, und vor allem die uralte +latinische Formel der Kriegserklaerung, worin zwei, wenigstens auch bei den +Kelten und den Deutschen vorkommende Symbole begegnen: das “reine +Kraut” (herba pura, fraenkisch chrene chruda) als Symbol des heimischen +Bodens und der angesengte blutige Stab als Zeichen der Kriegseroeffnung. Mit +wenigen Ausnahmen aber, in denen religioese Ruecksichten die altertuemlichen +Gebraeuche schuetzten - dahin gehoert ausser der Kriegserklaerung durch das +Fetialenkollegium namentlich noch die Konfarreation -, verwirft das roemische +Recht, das wir kennen, durchaus und prinzipiell das Symbol und fordert in allen +Faellen nicht mehr und nicht weniger als den vollen und reinen Ausdruck des +Willens. Die Uebergabe der Sache, die Aufforderung zum Zeugnis, die Eingebung +der Ehe sind vollzogen, so wie die Parteien die Absicht in verstaendlicher +Weise erklaert haben; es ist zwar ueblich, dem neuen Eigentuemer die Sache in +die Hand zu geben, den zum Zeugnis Geladenen am Ohre zu zupfen, der Braut das +Haupt zu verhuellen und sie in feierlichem Zuge in das Haus des Mannes +einzufuehren; aber alle diese uralten Uebungen sind schon nach aeltestem +roemischen Landrecht rechtlich wertlose Gebraeuche. Vollkommen analog wie aus +der Religion alle Allegorie und damit alle Personifikation beseitigt ward, +wurde auch aus dem Rechte jede Symbolik grundsaetzlich ausgetrieben. Ebenso ist +hier jener aelteste Zustand, den die hellenischen wie die germanischen +Institutionen uns darstellen, wo die Gemeindegewalt noch ringt mit der +Autoritaet der kleineren, in die Gemeinde aufgegangenen Geschlechts- oder +Gaugenossenschaften, gaenzlich beseitigt; es gibt keine Rechtsallianz innerhalb +des Staates zur Ergaenzung der unvollkommenen Staatshilfe durch gegenseitigen +Schutz und Trutz, keine ernstliche Spur der Blutrache oder des die Verfuegung +des einzelnen beschraenkenden Familieneigentums. Auch dergleichen muss wohl +einmal bei den Italikern bestanden haben; es mag in einzelnen Institutionen des +Sakralrechts, zum Beispiel in dem Suehnbock, den der unfreiwillige Totschlaeger +den naechsten Verwandten des Getoeteten zu geben verpflichtet war, davon eine +Spur sich finden; allein schon fuer die aelteste Periode Roms, die wir in +Gedanken erfassen koennen, ist dies ein laengst ueberwundener Standpunkt. Zwar +vernichtet ist das Geschlecht, die Familie in der roemischen Gemeinde nicht; +aber die ideelle wie die reale Allmacht des Staates auf dem staatlichen Gebiet +ist durch sie ebensowenig beschraenkt wie durch die Freiheit, die der Staat dem +Buerger gewaehrt und gewaehrleistet. Der letzte Rechtsgrund ist ueberall der +Staat: die Freiheit ist nur ein anderer Ausdruck fuer das Buergerrecht im +weitesten Sinn; alles Eigentum beruht auf ausdruecklicher oder +stillschweigender Uebertragung von der Gemeinde auf den einzelnen; der Vertrag +gilt nur, insofern die Gemeinde in ihren Vertretern ihn bezeugt, das Testament +nur, insofern die Gemeinde es bestaetigt. Scharf und klar sind die Gebiete des +oeffentlichen und des Privatrechts voneinander geschieden: die Vergehen gegen +den Staat, welche unmittelbar das Gericht des Staates herbeirufen und immer +Lebensstrafe nach sich ziehen; die Vergehen gegen den Mitbuerger oder den Gast, +welche zunaechst auf dem Wege des Vergleichs durch Suehne oder Befriedigung des +Verletzten erledigt und niemals mit dem Leben gebuesst werden, sondern +hoechstens mit dem Verlust der Freiheit. Hand in Hand gehen die groesste +Liberalitaet in Gestattung des Verkehrs und das strengste Exekutionsverfahren; +ganz wie heutzutage in Handelsstaaten die allgemeine Wechselfaehigkeit und der +strenge Wechselprozess zusammen auftraten. Der Buerger und der Schutzgenosse +stehen sich im Verkehr vollkommen gleich; Staatsvertraege gestatten umfassende +Rechtsgleichheit auch dem Gast; die Frauen sind in der Rechtsfaehigkeit mit den +Maennern voellig auf eine Linie gestellt, obwohl sie im Handeln beschraenkt +sind; ja der kaum erwachsene Knabe bekommt sogleich das umfassendste +Dispositionsrecht ueber sein Vermoegen, und wer ueberhaupt verfuegen kann, ist +in seinem Kreise so souveraen, wie im oeffentlichen Gebiet der Staat. Hoechst +charakteristisch ist das Kreditsystem: ein Bodenkredit existiert nicht, sondern +anstatt der Hypothekarschuld tritt sofort ein, womit heutzutage das +Hypothekarverfahren schliesst, der Uebergang des Eigentums vom Schuldner auf +den Glaeubiger; dagegen ist der persoenliche Kredit in der umfassendsten, um +nicht zu sagen ausschweifendsten Weise garantiert, indem der Gesetzgeber den +Glaeubiger befugt, den zahlungsunfaehigen Schuldner dem Diebe gleich zu +behandeln und ihm dasjenige, was Shylock sich von seinem Todfeind halb zum +Spott ausbedingt, hier in vollkommen legislatorischem Ernste einraeumt, ja den +Punkt wegen des Zuvielabschneidens sorgfaeltiger verklausuliert, als es der +Jude tat. Deutlicher konnte das Gesetz es nicht aussprechen, dass es zugleich +unabhaengige, nicht verschuldete Bauernwesen und kaufmaennischen Kredit +herzustellen, alles Scheineigentum aber wie alle Wortlosigkeit mit +unerbittlicher Energie zu unterdruecken beabsichtige. Nimmt man dazu das frueh +anerkannte Niederlassungsrecht saemtlicher Latiner und die gleichfalls frueh +ausgesprochene Gueltigkeit der Zivilehe, so wird man erkennen, dass dieser +Staat, der das Hoechste von seinen Buergern verlangte und den Begriff der +Untertaenigkeit des einzelnen unter die Gesamtheit steigerte, wie keiner vor +oder nach ihm, dies nur tat und nur tun konnte, weil er die Schranken des +Verkehrs selber niederwarf und die Freiheit ebensosehr entfesselte, wie er sie +beschraenkte. Gestattend oder hemmend tritt das Recht stets unbedingt auf: wie +der unvertretene Fremde dem gehetzten Wild, so steht der Gast dem Buerger +gleich; der Vertrag gibt regelmaessig keine Klage, aber wo das Recht des +Glaeubigers anerkannt wird, da ist es so allmaechtig, dass dem Armen nirgends +eine Rettung, nirgends eine menschliche und billige Beruecksichtigung sich +zeigt; es ist, als faende das Recht eine Freude daran, ueberall die schaerfsten +Spitzen hervorzukehren, die aeussersten Konsequenzen zu ziehen, das Tyrannische +des Rechtsbegriffs gewaltsam dem bloedesten Verstande aufzudraengen. Die +poetische Form, die gemuetliche Anschaulichkeit, die in den germanischen +Rechtsordnungen anmutig walten, sind dem Roemer fremd, in seinem Recht ist +alles klar und knapp, kein Symbol angewandt, keine Institution zuviel. Es ist +nicht grausam; alles Noetige wird vollzogen ohne Umstaende, auch die +Todesstrafe; dass der Freie nicht gefoltert werden kann, ist ein Ursatz des +roemischen Rechts, den zu gewinnen andere Voelker Jahrtausende haben ringen +muessen. Aber es ist schrecklich, dies Recht mit seiner unerbittlichen Strenge, +die man sich nicht allzusehr gemildert denken darf durch eine humane Praxis, +denn es ist ja Volksrecht - schrecklicher als die Bleidaecher und die +Marterkammern, jene Reihe lebendiger Begraebnisse, die der Arme in den +Schuldtuermen der Vermoegenden klaffen sah. Aber darin eben ist die Groesse +Roms beschlossen und begruendet, dass das Volk sich selber ein Recht gesetzt +und ein Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsaetze der Freiheit und der +Botmaessigkeit, des Eigentums und der Rechtsfolge unverfaelscht und ungemildert +walteten und heute noch walten. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap12"></a>KAPITEL XII.<br/> +Religion</h2> + +<p> +Die roemische Goetterwelt ist, wie schon frueher angedeutet ward, +hervorgegangen aus der Widerspiegelung des irdischen Rom in einem hoeheren und +idealen Anschauungsgebiet, in dem sich mit peinlicher Genauigkeit das Kleine +wie das Grosse wiederholte. Der Staat und das Geschlecht, das einzelne +Naturereignis wie die einzelne geistige Taetigkeit, jeder Mensch, jeder Ort und +Gegenstand, ja jede Handlung innerhalb des roemischen Rechtskreises kehren in +der roemischen Goetterwelt wieder; und wie der Bestand der irdischen Dinge +flutet im ewigen Kommen und Gehen, so schwankt auch mit ihm der Goetterkreis. +Der Schutzgeist, der ueber der einzelnen Handlung waltet, dauert nicht laenger +als diese Handlung selbst, der Schutzgeist des einzelnen Menschen lebt und +stirbt mit dem Menschen; und nur insofern kommt auch diesen Goetterwesen ewige +Dauer zu, als aehnliche Handlungen und gleichartige Menschen und damit auch +gleichartige Geister immer aufs neue sich erzeugen. Wie die roemischen ueber +der roemischen, walten ueber jeder auswaertigen Gemeinde deren eigene +Gottheiten; wie schroff auch der Buerger dem Nichtbuerger, der roemische dem +fremden Gott entgegentreten mag, so koennen fremde Menschen wie fremde +Gottheiten dennoch durch Gemeindebeschluss in Rom eingebuergert werden, und +wenn aus der eroberten Stadt die Buerger nach Rom uebersiedelten, wurden auch +wohl die Stadtgoetter eingeladen, in Rom eine neue Staette sich zu bereiten. +</p> + +<p> +Den urspruenglichen Goetterkreis, wie er in Rom vor jeder Beruehrung mit den +Griechen sich gestaltet hat, lernen wir kennen aus dem Verzeichnis der +oeffentlichen und benannten Festtage (feriae publicae) der roemischen Gemeinde, +das in dem Kalender derselben erhalten und ohne Frage die aelteste aller aus +dem roemischen Altertum auf uns gekommenen Urkunden ist. Den Vorrang in +demselben nehmen die Goetter Jupiter und Mars nebst dem Doppelgaenger des +letzteren, dem Quirinus, ein. Dem Jupiter sind alle Vollmondstage (idus) +heilig, ausserdem die saemtlichen Weinfeste und verschiedene andere, spaeter +noch zu erwaehnende Tage; seinem Widerspiel, dem “boesen Jovis” +(Vediovis), ist der 21. Mai (agonalia) gewidmet. Dem Mars dagegen gehoert das +Neujahr des 1. Maerz und ueberhaupt das grosse Kriegerfest in diesem, von dem +Gotte selbst benannten Monat, das, eingeleitet durch das Pferderennen +(equirria) am 27. Februar, im Maerz selbst an den Tagen des Schildschmiedens +(equirria oeder Mamuralia, 14. Maerz), des Waffentanzes auf der Dingstaette +(quinquatrus, 19. Maerz) und der Drommetenweihe (tubilustrium, 23. Maerz) seine +Hochtage hatte. Wie, wenn ein Krieg zu fuehren war, derselbe mit diesem Feste +begann, so folgte nach Beendigung des Feldzuges im Herbst wiederum eine +Marsfeier, das Fest der Waffenweihe (armilustrium, 19. Oktober). Dem zweiten +Mars endlich, dem Quirinus, war der 17. Februar (Quirinalia) eigen. Unter den +uebrigen Festtagen nehmen die auf den Acker- und Weinbau bezueglichen die erste +Stelle ein, woneben die Hirtenfeste eine untergeordnete Rolle spielen. Hierher +gehoert vor allem die grosse Reihe der Fruehlingsfeste im April, wo am 15. der +Tellus, das ist der naehrenden Erde (fordicidia, Opfer der traechtigen Kuh), +und am 19. der Ceres, das ist der Goettin des sprossenden Wachstums (Cerialia), +dann am 21. der befruchtenden Herdengoettin Pales (Parilia), am 23. dem Jupiter +als dem Schuetzer der Reben und der an diesem Tage zuerst sich oeffnenden +Faesser von der vorjaehrigen Lese (Vinalia), am 25. dem boesen Feinde der +Saaten, dem Roste (Robigus: Robigalia) Opfer dargebracht werden. Ebenso wird +nach vollendeter Arbeit und gluecklich eingebrachtem Feldersegen dem Gott und +der Goettin des Einbringens und der Ernte, dem Consus (von condere) und der Ops +ein Doppelfest gefeiert: zunaechst unmittelbar nach vollbrachtem Schnitt (21. +August, Consualia; 25. August, Opiconsiva), sodann im Mittwinter, wo der Segen +der Speicher vor allem offenbar wird (15. Dezember, Consualia; 19. Dezember, +Opalia), zwischen welchen letzteren beiden Feiertagen die sinnige Anschauung +der alten Festordner das Fest der Aussaat (Saturnalia von Saëturnus oder +Saturnus, 17. Dezember), einschaltete. Gleichermassen wird das Most- oder +Heilefest (meditrinalia, 11. Oktober), so benannt, weil man dem jungen Most +heilende Kraft beilegte, dem Jovis als dem Weingott nach vollendeter Lese +dargebracht, waehrend die urspruengliche Beziehung des dritten Weinfestes +(Vinalia, 19. August) nicht klar ist. Zu diesen Festen kommen weiter am +Jahresschluss das Wolfsfest (Lupercalia, 17. Februar) der Hirten zu Ehren des +guten Gottes, des Faunus, und das Grenzsteinfest (Terminalia, 23. Februar) der +Ackerbauer, ferner das zweitaegige sommerliche Hainfest (Lucaria, 19., 21. +Juli) das den Waldgoettern (Silvani) gegolten haben mag, die Quellfeier +(Fontinalia, 13. Oktober) und das Fest des kuerzesten Tages, der die neue Sonne +herauffuehrt (An-geronalia, Divalia, 21. Dezember). +</p> + +<p> +Von nicht geringer Bedeutung sind ferner, wie das fuer die Hafenstadt Latiums +sich nicht anders erwarten laesst, die Schifferfeste der Gottheiten der See +(Neptunalia, 23. Juli), des Hafens (Portunalia, 17. August) und des +Tiberstromes (Volturnalia, 27. August). Handwerk und Kunst dagegen sind in +diesem Goetterkreis nur vertreten durch den Gott des Feuers und der +Schmiedekunst, den Vulcanus, welchem ausser dem nach seinem Namen benannten Tag +(Volcanalia, 23. August) auch das zweite Fest der Drommetenweihe (tubilustrium, +23. Mai) gewidmet ist, und allenfalls noch durch das Fest der Carmentis +(Carmentalia, 11., 15. Januar), welche wohl urspruenglich als die Goettin der +Zauberformel und des Liedes und nur folgeweise als Schuetzerin der Geburten +verehrt ward. +</p> + +<p> +Dem haeuslichen und Familienleben ueberhaupt galten das Fest der Goettin des +Hauses und der Geister der Vorratskammer, der Vesta und der Penaten (Vestalia, +9. Juni); das Fest der Geburtsgoettin ^1 (Matralia, 11. Juni), das Fest des +Kindersegens, dem Liber und der Libera gewidmet (Liberalia, 17. Maerz), das +Fest der abgeschiedenen Geister (Feralia, 21. Februar) und die dreitaegige +Gespensterfeier (Lemuria, 9., 11., 13. Mai), waehrend auf die buergerlichen +Verhaeltnisse sich die beiden uebrigens fuer uns nicht klaren Festtage der +Koenigsflucht (Regifugium, 24. Februar) und der Volksflucht (Poplifugia, 5. +Juli), von denen wenigstens der letzte Tag dem Jupiter zugeeignet war, und das +Fest der sieben Berge (Agonia oder Septimontium, 11. Dezember) bezogen. Auch +dem Gott des Anfangs, dem Janus, war ein eigener Tag (agonia, 9. Januar) +gewidmet. Einige andere Tage, der der Furrina (25. Juli) und der dem Jupiter +und der Acca Larentia gewidmete der Larentalien, vielleicht ein Larenfest (23. +Dezember), sind ihrem Wesen nach verschollen. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^1 Das ist allem Anschein nach das urspruengliche Wesen der +“Morgenmutter” oder Mater matuta; wobei man sich wohl daran zu +erinnern hat, dass, wie die Vornamen Lucius und besonders Manius beweisen, die +Morgenstunde fuer die Geburt als glueckbringend galt. Zur See- und Hafengoettin +ist die Mater matuta wohl erst spaeter unter dem Einfluss des Leukotheamythus +geworden; schon dass die Goettin vorzugsweise von den Frauen verehrt ward, +spricht dagegen, sie urspruenglich als Hafengoettin zu fassen. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Diese Tafel ist vollstaendig fuer die unbeweglichen oeffentlichen Feste; und +wenn auch neben diesen stehenden Festtagen sicher seit aeltester Zeit Wandel- +und Gelegenheitsfeste vorgekommen sind, so oeffnet doch diese Urkunde, in dem, +was sie sagt, wie in dem, was sie auslaesst, uns den Einblick in eine sonst +fuer uns beinahe gaenzlich verschollene Urzeit. Zwar die Vereinigung der +altroemischen Gemeinde und der Huegelroemer war bereits erfolgt, als diese +Festtafel entstand, da wir in ihr neben dem Mars den Quirinus finden; aber noch +stand der kapitolinische Tempel nicht, als sie aufgesetzt ward, denn es fehlen +Juno und Minerva; noch war das Dianaheiligtum auf dem Aventin nicht errichtet; +noch war den Griechen kein Kultbegriff entlehnt. Der Mittelpunkt nicht bloss +des roemischen, sondern ueberhaupt des italischen Gottesdienstes in derjenigen +Epoche, wo der Stamm noch sich selber ueberlassen auf der Halbinsel hauste, war +allen Spuren zufolge der Gott Maurs oder Mars, der toetende Gott ^2, vorwiegend +gedacht als der speerschwingende, die Herde schirmende, den Feind +niederwerfende goettliche Vorfechter der Buergerschaft - natuerlich in der Art, +dass eine jede Gemeinde ihren eigenen Mars besass und ihn fuer den staerksten +und heiligsten unter allen achtete, demnach auch jeder zu neuer +Gemeindebegruendung auswandernde heilige Lenz unter dem Schutz seines eigenen +Mars zog. Dem Mars ist sowohl in der - sonst goetterlosen - roemischen +Monatstafel wie auch wahrscheinlich in den saemtlichen uebrigen latinischen und +sabellischen der erste Monat geheiligt; unter den roemischen Eigennamen, die +sonst ebenfalls keiner Goetter gedenken, erscheinen Marcus, Mamercus, Mamurius +seit uralter Zeit in vorwiegendem Gebrauch; an den Mars und seinen heiligen +Specht knuepft sich die aelteste italische Weissagung; der Wolf, das heilige +Tier des Mars, ist auch das Wahrzeichen der roemischen Buergerschaft, und was +von heiligen Stammsagen die roemische Phantasie aufzubringen vermocht hat, geht +ausschliesslich zurueck auf den Gott Mars und seinen Doppelgaenger, den +Quirinus. In dem .Festverzeichnis nimmt allerdings der Vater Diovis, eine +reinere und mehr buergerliche als kriegerische Widerspiegelung des Wesens der +roemischen Gemeinde, einen groesseren Raum ein als der Mars, ebenso wie der +Priester des Jupiter an Rang den beiden Priestern des Kriegsgottes vorgeht; +aber eine sehr hervorragende Rolle spielt doch auch der letztere in demselben, +und es ist sogar ganz glaublich, dass, als diese Festordnung festgestellt +wurde, Jovis neben Mars stand wie Ahuramazda neben Mithra und dass der +wahrhafte Mittelpunkt der Gottesverehrung in der streitbaren roemischen +Gemeinde auch damals noch der kriegerische Todesgott und dessen Maerzfest war, +wogegen gleichzeitig nicht der durch die Griechen spaeter eingefuehrte +“Sorgenbrecher”, sondern der Vater Jovis selbst als der Gott galt +des herzerfreuenden Weines. +</p> + +<p> +—————————————————- +</p> + +<p> +^2 Aus Maurs, was die aelteste ueberlieferte Form ist, entwickeln sich durch +verschiedene Behandlung des u Mars, Mavors, mors; der Uebergang in ŏ (aehnlich +wie Paula, Pola und dergleichen mehr) erscheint auch in der Doppelform Mar-Mor +(vgl. Ma-mŭrius) neben Mar-Mar und Ma-Mers. +</p> + +<p> +—————————————————- +</p> + +<p> +Es ist nicht die Aufgabe dieser Darstellung, die roemischen Gottheiten im +einzelnen zu betrachten; aber wohl ist es auch geschichtlich wichtig, ihren +eigentuemlichen, zugleich niedrigen und innigen Charakter hervorzuheben. +Abstraktion und Personifikation sind das Wesen der roemischen wie der +hellenischen Goetterlehre; auch der hellenische Gott ruht auf einer +Naturerscheinung oder einem Begriff, und dass dem Roemer eben wie dem Griechen +jede Gottheit als Person erscheint, dafuer zeugt die Auffassung der einzelnen +als maennlicher oder weiblicher und die Anrufung an die unbekannte Gottheit: +“bist du Gott oder Goettin, Mann oder auch Weib”; dafuer der +tiefhaftende Glaube, dass der Name des eigentlichen Schutzgeistes der Gemeinde +unausgesprochen bleiben muesse, damit nicht ein Feind ihn erfahre und, den Gott +bei seinem Namen rufend, ihn ueber die Grenzen hinueberlocke. Ein Ueberrest +dieser maechtig sinnlichen Auffassung haftet namentlich der aeltesten und +nationalsten italischen Goettergestalt, dem Mars, an. Aber wenn die +Abstraktion, die jeder Religion zu Grunde liegt, anderswo zu weiten und immer +weiteren Konzeptionen sich zu erheben, tief und immer tiefer in das Wesen der +Dinge einzudringen versucht, so verhalten sich die roemischen Glaubensbilder +auf einer unglaublich niedrigen Stufe des Anschauens und des Begreifens. Wenn +dem Griechen jedes bedeutsame Motiv sich rasch zur Gestaltengruppe, zum Sagen- +und Ideenkreis erweitert, so bleibt dem Roemer der Grundgedanke in seiner +urspruenglichen nackten Starrheit stehen. Der apollinischen Religion irdisch +sittlicher Verklaerung, dem goettlichen dionysischen Rausche, den tiefsinnigen +und geheimnisvollen chthonischen und Mysterienkulten hat die roemische Religion +nichts auch nur entfernt aehnliches entgegenzustellen, das ihr eigentuemlich +waere. Sie weiss wohl auch von einem “schlimmen Gott” (Ve-diovis), +von Erscheinungen und Gespenstern (lemures), spaeterhin auch von Gottheiten der +boesen Luft, des Fiebers, der Krankheiten, vielleicht sogar des Diebstahls +(laverna); aber den geheimnisvollen Schauer, nach dem das Menschenherz doch +auch sich sehnt, vermag sie nicht zu erregen, nicht sich zu durchdringen mit +dem Unbegreiflichen und selbst dem Boesartigen in der Natur und dem Menschen, +welches der Religion nicht fehlen darf, wenn der ganze Mensch in ihr aufgehen +soll. Es gab in der roemischen Religion kaum etwas Geheimes als etwa die Namen +der Stadtgoetter, der Penaten; das Wesen uebrigens auch dieser Goetter war +jedem offenbar. +</p> + +<p> +Die nationalroemische Theologie sucht nach allen Seiten hin die wichtigen +Erscheinungen und Eigenschaften begreiflich zu fassen, sie terminologisch +auszupraegen und schematisch - zunaechst nach der auch dem Privatrecht zu +Grunde liegenden Einteilung von Personen und Sachen - zu klassifizieren, um +darnach die Goetter und Goetterreihen selber richtig anzurufen und ihre +richtige Anrufung der Menge zu weisen (indigitare). In solchen aeusserlich +abgezogenen Begriffen von der einfaeltigsten, halb ehrwuerdigen, halb +laecherlichen Schlichtheit ging die roemische Theologie wesentlich auf; +Vorstellungen wie Saat (saëturnus) und Feldarbeit (ops), Erdboden (tellus) und +Grenzstein (terminus) gehoeren zu den aeltesten und heiligsten roemischen +Gottheiten. Vielleicht die eigentuemlichste unter allen roemischen +Goettergestalten und wohl die einzige, fuer die ein eigentuemlich italisches +Kultbild erfunden ward, ist der doppelkoepfige Janus; und doch liegt in ihm +eben nichts als die fuer die aengstliche roemische Religiositaet bezeichnende +Idee, dass zur Eroeffnung eines jeden Tuns zunaechst der “Geist der +Eroeffnung” anzurufen sei, und vor allem das tiefe Gefuehl davon, dass es +ebenso unerlaesslich war, die roemischen Goetterbegriffe in Reihen +zusammenzufuegen, wie die persoenlicheren Goetter der Hellenen notwendig jeder +fuer sich standen ^3. Vielleicht der innigste unter allen roemischen ist der +Kult der in und ueber dem Hause und der Kammer waltenden Schutzgeister, im +oeffentlichen Gottesdienst der der Vesta und der Penaten, im Familienkult der +der Wald- und Flurgoetter, der Silvane und vor allem der eigentlichen +Hausgoetter, der Lasen oder Laren, denen regelmaessig von der Familienmahlzeit +ihr Teil gegeben ward, und vor denen seine Andacht zu verrichten noch zu des +aelteren Cato Zeit des heimkehrenden Hausvaters erstes Geschaeft war. Aber in +der Rangordnung der Goetter nahmen diese Haus- und Feldgeister eher den letzten +als den ersten Platz ein; es war, wie es bei einer auf Idealisierung +verzichtenden Religion nicht anders sein konnte, nicht die weiteste und +allgemeinste, sondern die einfachste und individuellste Abstraktion, in der das +fromme Herz die meiste Nahrung fand. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +^3 Dass Tor und Tuere und der Morgen (ianus matutinus) dem Janus heilig ist und +er stets vor jedem anderen Gott angerufen ja selbst in der Muenzreihe noch vor +dem Jupiter und den anderen Goettern aufgefuehrt wird, bezeichnet ihn +unverkennbar als die Abstraktion der Oeffnung und Eroeffnung. Auch der nach +zwei Seiten schauende Doppelkopf haengt mit dem nach zwei Seiten hin sich +oeffnenden Tore zusammen. Einen Sonnen- und Jahresgott darf man um so weniger +aus ihm machen, als der von ihm benannte Monat urspruenglich der elfte, nicht +der erste ist; vielmehr scheint dieser Monat seinen Namen davon zu fuehren, +dass in dieser Zeit nach der Rast des Mittwinters der Kreislauf der +Feldarbeiten wieder von vorn beginnt. Dass uebrigens, namentlich seit der +Januarius an der Spitze des Jahres stand, auch die Eroeffnung des Jahres in den +Bereich des Janus hineingezogen ward, versteht sich von selbst. +</p> + +<p> +——————————————————- +</p> + +<p> +Hand in Hand mit dieser Geringhaltigkeit der idealen Elemente ging die +praktische und utilitarische Tendenz der roemischen Religion, wie sie in der +oben eroerterten Festtafel deutlich genug sich darlegt. Vermoegensmehrung und +Guetersegen durch Feldbau und Herdengewinn, durch Schiffahrt und Handel - das +ist es, was der Roemer von seinen Goettern begehrt; es stimmt dazu recht wohl, +dass der Gott des Worthaltens (deus fidius), die Zufalls- und Gluecksgoettin +(fors fortuna) und der Handelsgott (mercurius), alle aus dem taeglichen Verkehr +hervorgegangen, zwar noch nicht in jener uralten Festtafel, aber doch schon +sehr frueh weit und breit von den Roemern verehrt auftreten. Strenge +Wirtschaftlichkeit und kaufmaennische Spekulation waren zu tief im roemischen +Wesen begruendet, um nicht auch dessen goettliches Abbild bis in den innersten +Kern zu durchdringen. +</p> + +<p> +Von der Geisterwelt ist wenig zu sagen. Die abgeschiedenen Seelen der +sterblichen Menschen, die “Guten” (manes) lebten schattenhaft +weiter, gebannt an den Ort, wo der Koerper ruhte (dii inferi), und nahmen von +den Ueberlebenden Speise und Trank. Allein sie hausten in den Raeumen der Tiefe +und keine Bruecke fuehrte aus der unteren Welt weder zu den auf der Erde +waltenden Menschen noch empor zu den oberen Goettern. Der griechische +Heroenkult ist den Roemern voellig fremd und wie jung und schlecht die +Gruendungssage von Rom erfunden ist, zeigt schon die ganz unroemische +Verwandlung des Koenigs Romulus in den Gott Quirinus. Numa, der aelteste und +ehrwuerdigste Name in der roemischen Sage, ist in Rom nie als Gott verehrt +worden wie Theseus in Athen. +</p> + +<p> +Die aeltesten Gemeindepriestertuemer beziehen sich auf den Mars: vor allem auf +Lebenszeit ernannte Priester des Gemeindegottes, der “Zuender des +Mars” (flamen Martialis), wie er vom Darbringen der Brandopfer benannt +ward, und die zwoelf “Springer” (salii), eine Schar junger Leute, +die im Maerz den Waffentanz zu Ehren des Mars auffuehrten und dazu sangen. Dass +die Verschmelzung der Huegelgemeinde mit der palatinischen die Verdoppelung des +roemischen Mars und damit die Einfuehrung eines zweiten Marspriesters - des +flamen Quirinalis - und einer zweiten Taenzergilde - der salii collini - +herbeifuehrte, ist bereits frueher auseinandergesetzt worden. +</p> + +<p> +Hierzu kamen andere oeffentliche, zum Teil wohl ihrem Ursprung nach weit ueber +Roms Entstehung hinaufreichende Verehrungen, fuer welche entweder +Einzelpriester angestellt waren -solche gab es zum Beispiel der Carmentis, des +Volcanus, des Hafen- und des Flussgottes - oder deren Begehung einzelnen +Genossenschaften oder Geschlechtern im Namen des Volkes uebertragen war. Eine +derartige Genossenschaft war vermutlich die der zwoelf +“Ackerbrueder” (fratres arvales), welche die “schaffende +Goettin” (dea dia) im Mai anriefen fuer das Gedeihen der Saaten; obwohl +es sehr zweifelhaft ist, ob dieselbe bereits in dieser Epoche dasjenige +besondere Ansehen genoss, welches wir ihr in der Kaiserzeit beigelegt finden. +Ihnen schloss die titische Bruederschaft sich an, die den Sonderkult der +roemischen Sabiner zu bewahren und zu besorgen hatte, sowie die fuer die Herde +der dreissig Kurien eingesetzten dreissig Kurienzuender (flamines curiales). +Das schon erwaehnte “Wolfsfest” (lupercalia) wurde fuer die +Beschirmung der Herden dem “guenstigen Gotte” (faunus) von dem +Quinctiergeschlecht und den nach dem Zutritt der Huegelroemer ihnen zugegebenen +Fabiern im Monat Februar gefeiert - ein rechtes Hirtenkarneval, bei dem die +“Woelfe” (luperci) nackt mit dem Bocksfell umguertet herumsprangen +und wen sie trafen mit Riemen klatschten. Ebenso mag noch bei andern +gentilizischen Kulten zugleich die Gemeinde gedacht sein als mitvertreten. +</p> + +<p> +Zu diesem aeltesten Gottesdienst der roemischen Gemeinde traten allmaehlich +neue Verehrungen hinzu. Die wichtigste darunter ist diejenige, welche auf die +neu geeinigte und durch den grossen Mauer- und Burgbau gleichsam zum zweitenmal +gegruendete Stadt sich bezieht: in ihr tritt der hoechste beste Jovis vom +Burghuegel, das ist der Genius des roemischen Volkes, an die Spitze der +gesamten roemischen Goetterschaft, und sein fortan bestellter Zuender, der +Flamen Dialis, bildet mit den beiden Marspriestern die heilige +oberpriesterliche Dreiheit. Gleichzeitig beginnt der Kultus des neuen einigen +Stadtherdes - der Vesta - und der dazu gehoerige der Gemeindepenaten. Sechs +keusche Jungfrauen versahen, gleichsam als die Haustoechter des roemischen +Volkes, jenen frommen Dienst und hatten das heilsame Feuer des Gemeindeherdes +den Buergern zum Beispiel und zum Wahrzeichen stets lodernd zu unterhalten. Es +war dieser haeuslich-oeffentliche Gottesdienst der heiligste aller roemischen, +wie er denn auch von allem Heidentum am spaetesten in Rom der christlichen +Verfemung gewichen ist. Ferner wurde der Aventin der Diana angewiesen als der +Repraesentantin der latinischen Eidgenossenschaft, aber eben darum eine +besondere roemische Priesterschaft fuer sie nicht bestellt; und zahlreichen +anderen Goetterbegriffen gewoehnte allmaehlich die Gemeinde sich in bestimmter +Weise durch allgemeine Feier oder durch besonders zu ihrem Dienst bestimmte +stellvertretende Priesterschaften zu huldigen, wobei sie einzelnen - zum +Beispiel der Blumen (Flora) und der Obstgoettin (Pomona) - auch wohl einen +eigenen Zuender bestellte, sodass deren zuletzt fuenfzehn gezaehlt wurden. Aber +sorgfaeltig unterschied man unter ihnen jene drei “grossen Zuender” +(flamines maiores), die bis in die spaeteste Zeit nur aus den Altbuergern +genommen werden konnten, ebenso wie die alten Genossenschaften der +palatinischen und quirinalischen Salier stets den Vorrang vor allen uebrigen +Priesterkollegien behaupteten. Also wurden die notwendigen und stehenden +Leistungen an die Goetter der Gemeinde bestimmten Genossenschaften oder +staendigen Dienern vom Staat ein fuer allemal uebertragen und zur Deckung der +vermutlich nicht unbetraechtlichen Opferkosten teils den einzelnen Tempeln +gewisse Laendereien, teils die Bussen angewiesen. +</p> + +<p> +Dass der oeffentliche Kult der uebrigen latinischen und vermutlich auch der +sabellischen Gemeinden im wesentlichen gleichartig war, ist nicht zu +bezweifeln; nachweislich sind die Flamines, Sauer, Luperker und Vestalinnen +nicht spezifisch roemische, sondern allgemein latinische Institutionen gewesen +und wenigstens die drei ersten Kollegien scheinen in den stammverwandten +Gemeinden nicht erst nach roemischem Muster gebildet zu sein. +</p> + +<p> +Endlich kann, wie der Staat fuer den Goetterkreis des Staats, so auch der +einzelne Buerger innerhalb seines individuellen Kreises aehnliche Anordnungen +treffen und seinen Goettern nicht bloss Opfer darbringen, sondern auch Staetten +und Diener ihnen weihen. +</p> + +<p> +Also gab es Priestertum und Priester in Rom genug; indes wer ein Anliegen an +den Gott hat, wendet sich nicht an den Priester, sondern an den Gott. Jeder +Flehende und Fragende redet selber zu der Gottheit, die Gemeinde natuerlich +durch den Mund des Koenigs wie die Kurie durch den Curio und die Ritterschaft +durch ihre Obristen; und keine priesterliche Vermittlung durfte das +urspruengliche und einfache Verhaeltnis verdecken oder verdunkeln. Allein es +ist freilich nicht leicht, mit dem Gotte zu verkehren. Der Gott hat seine +eigene Weise zu sprechen, die nur dem kundigen Manne verstaendlich ist; wer es +aber recht versteht, der weiss den Willen des Gottes nicht bloss zu ermitteln, +sondern auch zu lenken, sogar im Notfall ihn zu ueberlisten oder zu zwingen. +Darum ist es natuerlich, dass der Verehrer des Gottes regelmaessig kundige +Leute zuzieht und deren Rat vernimmt; und hieraus sind die religioesen +Sachverstaendigenvereine hervorgegangen, eine durchaus national-italische +Institution, die auf die politische Entwicklung weit bedeutender eingewirkt hat +als die Einzelpriester und die Priesterschaften. Mit diesen sind sie oft +verwechselt worden, allein mit Unrecht. Den Priesterschaften liegt die +Verehrung einer bestimmten Gottheit ob, diesen Genossenschaften aber die +Bewahrung der Tradition fuer diejenigen allgemeineren gottesdienstlichen +Verrichtungen, deren richtige Vollziehung eine gewisse Kunde voraussetzte und +fuer deren treue Ueberlieferung zu sorgen im Interesse des Staates lag. Diese +geschlossenen und sich selbst, natuerlich aus den Buergern, ergaenzenden +Genossenschaften sind dadurch die Depositare der Kunstfertigkeiten und +Wissenschaften geworden. In der roemischen und ueberhaupt der latinischen +Gemeindeverfassung gibt es solcher Kollegien urspruenglich nur zwei: das der +Augurn und das der Pontifices ^4. Die sechs “Voegelfuehrer” +(augures) verstanden die Sprache der Goetter aus dem Flug der Voegel zu deuten, +welche Auslegungskunst sehr ernstlich betrieben und in ein gleichsam +wissenschaftliches System gebracht ward. Die sechs “Brueckenbauer” +(pontifices) fuehrten ihren Namen von dem ebenso heiligen wie politisch +wichtigen Geschaeft, den Bau und das Abbrechen der Tiberbruecke zu leiten. Es +waren die roemischen Ingenieure, die das Geheimnis der Masse und Zahlen +verstanden; woher ihnen auch die Pflicht zukam, den Kalender des Staats zu +fuehren, dem Volke Neu- und Vollmond und die Festtage abzurufen und dafuer zu +sorgen, dass jede gottesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage +vor sich gehe. Da sie also vor allen andern den Ueberblick ueber den ganzen +Gottesdienst hatten, ging auch, wo es noetig war, bei Ehe, Testament und +Arrogation an sie die Vorfrage, ob das beabsichtigte Geschaeft nicht gegen das +goettliche Recht irgendwie verstosse, und ging von ihnen die Feststellung und +Bekanntmachung der allgemeinen exoterischen Sakralvorschriften aus, die unter +dem Namen der Koenigsgesetze bekannt sind. So gewannen sie, wenn auch in voller +Ausdehnung vermutlich erst nach Abschaffung des Koenigtums, die allgemeine +Oberaufsicht ueber den roemischen Gottesdienst und was damit zusammenhing - und +was hing nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichneten als den Inbegriff ihres +Wissens “die Kunde goettlicher und menschlicher Dinge”. In der Tat +sind die Anfaenge der geistlichen und weltlichen Rechtswissenschaft wie die der +Geschichtsaufzeichnung aus dem Schoss dieser Genossenschaft hervorgegangen. +Denn wie alle Geschichtsschreibung an den Kalender und das Jahrzeitbuch +anknuepft, musste auch die Kunde des Prozesses und der Rechtssaetze, da nach +der Errichtung der roemischen Gerichte in diesen selbst die Ueberlieferung +nicht entstehen konnte, in dem Kollegium der Pontifices traditionell werden, +das ueber Gerichtstage und religioese Rechtsfragen ein Gutachten zu geben +allein kompetent war. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +^4 Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass in den nach dem latinischen +Schema geordneten Gemeinden Augurn und Pontifices ueberall vorkommen (z. B. +Cic. leg. agr. 2, 35, 96 und zahlreiche Inschriften), ebenso der pater patratus +der Fetialen in Laurentum (Orelli 2276), die uebrigen Kollegien aber nicht. +Jene also stehen auf einer Linie mit der Zehnkurienverfassung, den Flamines, +Saliern, Luperkern als aeltestes latinisches Stammgut; wogegen die Duovirn +sacris faciundis und die anderen Kollegien, wie die dreissig Kurien und die +Servianischen Tribus und Zenturien, in Rom entstanden und darum auch auf Rom +beschraenkt geblieben sind. Nur der Name des zweiten Kollegiums, der +Pontifices, ist wohl entweder durch roemischen Einfluss in das allgemein +latinische Schema anstatt aelterer, vielleicht mannigfaltiger Namen +eingedrungen, oder es bedeutete urspruenglich, was sprachlich manches fuer sich +hat, pons nicht Bruecke, sondern Weg ueberhaupt, pontifex also den Wegebauer. +</p> + +<p> +Die Angaben ueber die urspruengliche Zahl namentlich der Augurn schwanken. Dass +die Zahl derselben ungerade sein musste, widerlegt Cicero (leg. agr. 2, 35, +96); und auch Livius (10, 6) sagt wohl nicht dies, sondern nur, dass die Zahl +der roemischen Augurn durch drei teilbar sein und insofern auf eine ungerade +Grundzahl zurueckgehen muesse. Nach Livius (a.a.O.) war die Zahl bis zum +Ogulnischen Gesetz sechs, und eben das sagt wohl auch Cicero (rep. 2, 9 14), +indem er Romulus vier, Numa zwei Augurstellen einrichten laesst. Ueber die Zahl +der Pontifices vgl. Roemisches Staatsrecht, Bd. 2, S. 20. +</p> + +<p> +———————————————————————————- +</p> + +<p> +Gewissermassen laesst diesen beiden aeltesten und ansehnlichsten +Genossenschaften geistlicher Sachverstaendigen das Kollegium der zwanzig +Staatsboten (fētiales, ungewisser Ableitung) sich anreihen, bestimmt als +lebendiges Archiv das Andenken an die Vertraege mit den benachbarten Gemeinden +durch Ueberlieferung zu bewahren, ueber angebliche Verletzungen des vertragenen +Rechts gutachtlich zu entscheiden und noetigenfalls den Suehneversuch und die +Kriegserklaerung zu bewirken. Sie waren durchaus fuer das Voelkerrecht, was die +Pontifices fuer das Goetterrecht, und hatten daher auch wie diese die Befugnis, +Recht zwar nicht zu sprechen, aber doch zu weisen. +</p> + +<p> +Aber wie hochansehnlich immer diese Genossenschaften waren und wie wichtige und +umfassende Befugnisse sie zugeteilt erhielten, nie vergass man, und am +wenigsten bei den am hoechsten gestellten, dass sie nicht zu befehlen, sondern +sachverstaendigen Rat zu erteilen, die Antwort der Goetter nicht unmittelbar zu +erbitten, sondern die erteilte dem Frager auszulegen hatten. So steht auch der +vornehmste Priester nicht bloss im Rang dem Koenig nach, sondern er darf +ungefragt nicht einmal ihn beraten. Dem Koenig steht es zu, zu bestimmen, ob +und wann er die Voegel beobachten will; der Vogelschauer steht nur dabei und +verdolmetscht ihm, wenn es noetig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso +kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das Landrecht nicht +anders eingreifen als wenn die Beikommenden es von ihm begehren, und mit +unerbittlicher Strenge hat man trotz aller Froemmigkeit festgehalten an dem +Grundsatz, dass in dem Staat der Priester in vollkommener Machtlosigkeit zu +verbleiben und, von allen Befehlen ausgeschlossen, gleich jedem anderen Buerger +dem geringsten Beamten Gehorsam zu leisten hat. Die latinische Gottesverehrung +beruht wesentlich auf dem Behagen des Menschen am Irdischen und nur in +untergeordneter Weise auf der Furcht vor den wilden Naturkraeften; sie bewegt +sich darum auch vorwiegend in Aeusserungen der Freude, in Liedern und +Gesaengen, in Spielen und Taenzen, vor allem aber in Schmaeusen. Wie ueberall +bei den ackerbauenden, regelmaessig von Vegetabilien sich naehrenden +Voelkerschaften war auch in Italien das Viehschlachten zugleich Hausfest und +Gottesdienst; das Schwein ist den Goettern das wohlgefaelligste Opfer nur +darum, weil es der gewoehnliche Festbraten ist. Aber alle Verschwendung wie +alle Ueberschwenglichkeit des Jubels ist dem gehaltenen roemischen Wesen +zuwider. Die Sparsamkeit gegen die Goetter ist einer der hervortretendsten +Zuege des aeltesten latinischen Kultes; und auch das freie Walten der Phantasie +wird durch die sittliche Zucht, in der die Nation sich selber haelt, mit +eiserner Strenge niedergedrueckt. Infolgedessen sind die Auswuechse, die von +solcher Masslosigkeit unzertrennlich sind, den Latinern ferngeblieben. Wohl +liegt der tief sittliche Zug des Menschen, irdische Schuld und irdische Strafe +auf die Goetterwelt zu beziehen und jene als ein Verbrechen gegen die Gottheit, +diese als deren Suehnung aufzufassen, im innersten Wesen auch der latinischen +Religion. Die Hinrichtung des zum Tode verurteilten Verbrechers ist ebenso ein +der Gottheit dargebrachtes Suehnopfer wie die im gerechten Krieg vollzogene +Toetung des Feindes; der naechtliche Dieb der Feldfruechte buesst der Ceres am +Galgen wie der boese Feind auf dem Schlachtfeld der Mutter Erde und den guten +Geistern. Auch der tiefe und furchtbare Gedanke der Stellvertretung begegnet +hierbei: wenn die Goetter der Gemeinde zuernen, ohne dass auf einen bestimmten +Schuldigen gegriffen werden kann, so mag sie versoehnen, wer sich freiwillig +hingibt (devovere se), wie denn giftige Erdspalten sich schliessen, +halbverlorene Schlachten sich in Siege wandeln, wenn ein braver Buerger sich +als Suehnopfer in den Schlund oder in die Feinde stuerzt. Auf aehnlicher +Anschauung beruht der heilige Lenz, indem den Goettern dargebracht wird, was +der bestimmte Zeitraum an Vieh und Menschen geboren werden laesst. Will man +dies Menschenopfer nennen, so gehoert solches freilich zum Kern des latinischen +Glaubens; aber man muss hinzufuegen, dass, soweit unser Blick in die Ferne +irgend zuruecktraegt, diese Opferung, insofern sie das Leben fordert, sich +beschraenkt auf den Schuldigen, der vor dem buergerlichen Gericht ueberwiesen +ist, und den Unschuldigen, der freiwillig den Tod waehlt. Menschenopfer anderer +Art laufen dem Grundgedanken der Opferhandlung zuwider und beruhen wenigstens +bei den indogermanischen Staemmen ueberall, wo sie vorkommen, auf spaeterer +Ausartung und Verwilderung. Bei den Roemern haben sie nie Eingang gefunden; +kaum dass einmal in Zeiten hoechster Not auch hier Aberglaube und Verzweiflung +ausserordentlicherweise im Greuel Rettung suchten. Von Gespensterglauben, +Zauberfurcht und Mysterienwesen finden sich bei den Roemern verhaeltnismaessig +sehr geringe Spuren. Das Orakel- und Prophetentum hat in Italien niemals die +Bedeutung erlangt wie in Griechenland und nie vermocht, das private und +oeffentliche Leben ernstlich zu beherrschen. Aber auf der andern Seite ist +dafuer auch die latinische Religion in eine unglaubliche Nuechternheit und +Trockenheit verfallen und frueh eingegangen auf einen peinlichen und geistlosen +Zeremonialdienst. Der Gott des Italikers ist, wie schon gesagt ward, vor allen +Dingen ein Hilfsinstrument zur Erreichung sehr konkreter irdischer Zwecke; wie +denn den religioesen Anschauungen des Italikers durch seine Richtung auf das +Fassliche und Reelle diese Wendung ueberhaupt gegeben wird und nicht minder +scharf noch in dem heutigen Heiligenkult der Italiener hervortritt. Die Goetter +stehen dem Menschen voellig gegenueber wie der Glaeubiger dem Schuldner; jeder +von ihnen hat ein wohlerworbenes Recht auf gewisse Verrichtungen und +Leistungen, und da die Zahl der Goetter so gross war wie die Zahl der Momente +des irdischen Lebens und die Vernachlaessigung oder verkehrte Verehrung eines +jeden Gottes in dem entsprechenden Moment sich raechte, so war es eine muehsame +und bedenkliche Aufgabe, seiner religioesen Verpflichtungen auch nur sich +bewusst zu werden, und so mussten wohl die des goettlichen Rechtes kundigen und +dasselbe weisenden Priester, die Pontifices, zu ungemeinem Einfluss gelangen. +Denn der rechtliche Mann erfuellt die Vorschriften des heiligen Rituals mit +derselben kaufmaennischen Puenktlichkeit, womit er seinen irdischen +Verpflichtungen nachkommt und tut auch wohl ein Uebriges, wenn der Gott es +seinerseits getan hat. Auch auf Spekulation laesst man mit dem Gotte sich ein: +das Geluebde ist der Sache wie dem Namen nach ein foermlicher Kontrakt zwischen +dem Gotte und dem Menschen, wodurch dieser jenem fuer eine gewisse Leitung eine +gewisse Gegenleistung zusichert, und der roemische Rechtssatz, dass kein +Kontrakt durch Stellvertretung abgeschlossen werden kann, ist nicht der letzte +Grund, weshalb in Latium bei den religioesen Anliegen der Menschen alle +Priestervermittlung ausgeschlossen blieb. Ja wie der roemische Kaufmann, seiner +konventionellen Rechtlichkeit unbeschadet, den Vertrag bloss dem Buchstaben +nach zu erfuellen befugt ist, so ward auch, wie die roemischen Theologen +lehren, im Verkehr mit den Goettern das Abbild statt der Sache gegeben und +genommen. Dem Herrn des Himmelsgewoelbes brachte man Zwiebel- und Mohnkoepfe +dar, um auf deren statt auf der Menschen Haeupter seine Blitze zu lenken; dem +Vater Tiberis wurden zur Loesung der jaehrlich von ihm erheischten Opfer +jaehrlich dreissig von Binsen geflochtene Puppen in die Wellen geworfen ^5. Die +Ideen goettlicher Gnade und Versoehnbarkeit sind hier ununterscheidbar gemischt +mit der frommen Schlauigkeit, welche es versucht, den gefaehrlichen Herrn durch +scheinhafte Befriedigung zu beruecken und abzufinden. So ist die roemische +Gottesfurcht wohl von gewaltiger Macht ueber die Gemueter der Menge, aber +keineswegs jenes Bangen vor der allwaltenden Natur oder der allmaechtigen +Gottheit, das den pantheistischen und monotheistischen Anschauungen zu Grunde +liegt, sondern sehr irdischer Art und kaum wesentlich verschieden von +demjenigen Zagen, mit dem der roemische Schuldner seinem gerechten, aber sehr +genauen und sehr maechtigen Glaeubiger sich naht. Es ist einleuchtend, dass +eine solche Religion die kuenstlerische und die spekulative Auffassung viel +mehr zu erdruecken als zu zeitigen geeignet war. Indem der Grieche die naiven +Gedanken der Urzeit mit menschlichem Fleisch und Blut umhuellte, wurden diese +Goetterideen nicht bloss die Elemente der bildenden und der dichtenden Kunst, +sondern sie erlangten auch die Universalitaet und die Elastizitaet, welche die +tiefste Eigentuemlichkeit der Menschennatur und eben darum der Kern aller +Weltreligion ist. Durch sie konnte die einfache Naturanschauung zu +kosmogonischen, der schlichte Moralbegriff zu allgemein humanistischen +Anschauungen sich vertiefen; und lange Zeit hindurch vermochte die griechische +Religion die physischen und metaphysischen Vorstellungen, die ganze ideale +Entwicklung der Nation in sich zu fassen und mit dem wachsenden Inhalt in Tiefe +und Weite sich auszudehnen, bevor die Phantasie und die Spekulation das +Gefaess, das sie gehegt hatte, zersprengten. Aber in Latium blieb die +Verkoerperung der Gottheitsbegriffe so vollkommen durchsichtig, dass weder der +Kuenstler noch der Dichter daran sich heranzubilden vermochte und die +latinische Religion der Kunst stets fremd, ja feindlich gegenueberstand. Da der +Gott nichts war und nichts sein durfte als die Vergeistigung einer irdischen +Erscheinung, so fand er eben in diesem irdischen Gegenbild seine Staette +(templum) und sein Abbild; Waende und Idole, von Menschenhand gemacht, schienen +die geistigen Vorstellungen nur zu trueben und zu befangen. Darum war der +urspruengliche roemische Gottesdienst ohne Gottesbilder und Gotteshaeuser; und +wenngleich auch in Latium, vermutlich nach griechischem Vorbild, schon in +frueher Zeit der Gott im Bilde verehrt und ihm ein Haeuschen (aedicula) gebaut +ward, so galt doch diese bildliche Darstellung als den Gesetzen Numas +zuwiderlaufend und ueberhaupt als unrein und fremdlaendisch. Mit Ausnahme etwa +des doppelkoepfigen Janus hat die roemische Religion kein ihr eigentuemliches +Goetterbild aufzuweisen und noch Varro spottete ueber die nach Puppen und +Bilderchen verlangende Menge. Der Mangel aller zeugenden Kraft in der +roemischen Religion ist gleichfalls die letzte Ursache, warum die roemische +Poesie und noch mehr die roemische Spekulation so vollstaendig nicht waren und +blieben. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^5 Hierin konnte nur unueberlegte Auffassung Ueberreste alter Menschenopfer +finden. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Aber auch auf dem praktischen Gebiet offenbart sich derselbe Unterschied. Der +praktische Gewinn, welcher der roemischen Gemeinde aus ihrer Religion erwuchs, +war ein von den Priestern, namentlich den Pontifices entwickeltes, formuliertes +Moralgesetz, welches teils in dieser - der polizeilichen Bevormundung des +Buergers durch den Staat noch fernstehenden - Zeit die Stelle der +Polizeiordnung vertrat, teils die sittlichen Verpflichtungen vor das Gericht +der Goetter zog und sie mit goettlicher Strafe belegte. Zu den Bestimmungen der +ersteren Art gehoerte ausser der religioesen Einschaerfung der Heiligung des +Feiertags und eines kunstmaessigen Acker- und Rebenbaus, die wir unten +kennenlernen werden, zum Beispiel der auch mit gesundheitspolizeilichen +Ruecksichten zusammenhaengende Herd- oder Larenkult und vor allem die bei den +Roemern ungemein frueh, weit frueher als bei den Griechen, durchgefuehrte +Leichenverbrennung, welche eine rationelle Auffassung des Lebens und Sterbens +voraussetzt, wie sie der Urzeit und selbst unserer Gegenwart noch fremd ist. +Man wird es nicht gering anschlagen duerfen, dass die latinische Landesreligion +diese und aehnliche Neuerungen durchzusetzen vermocht hat. Wichtiger aber noch +war ihre sittlichende Wirkung. Wenn der Mann die Ehefrau, der Vater den +verheirateten Sohn verkaufte; wenn das Kind oder die Schnur den Vater oder den +Schwiegervater schlug; wenn der Schutzvater gegen den Gast oder den zugewandten +Mann die Treupflicht verletzte; wenn der ungerechte Nachbar den Grenzstein +verrueckte oder der Dieb sich bei naechtlicher Weile an der dem Gemeinfrieden +anvertrauten Halmfrucht vergriff, so lastete fortan der goettliche Fluch auf +dem Haupt des Frevlers. Nicht als waere der also Verwuenschte (sacer) vogelfrei +gewesen; eine solche, aller buergerlichen Ordnung zuwiderlaufende Acht ist nur +ausnahmsweise als Schaerfung des religioesen Bannfluchs in Rom waehrend des +staendischen Haders vorgekommen. Nicht dem einzelnen Buerger oder gar dem +voellig machtlosen Priester kommt die Vollstreckung solchen goettlichen Fluches +zu. Zunaechst ist der also Gebannte dem goettlichen Strafgericht anheim +gefallen, nicht der menschlichen Willkuer, und schon der fromme Volksglaube, +auf dem dieser Bannfluch fusst, wird selbst ueber leichtsinnige und boesartige +Naturen Macht gehabt haben. Aber die Bannung beschraenkt darauf sich nicht; +vielmehr ist der Koenig befugt und verpflichtet, den Bann zu vollstrecken und, +nachdem die Tatsache, auf welche das Recht die Bannung setzt, nach seiner +gewissenhaften Ueberzeugung festgestellt worden ist, den Gebannten der +verletzten Gottheit gleichwie ein Opfertier zu schlachten (supplicium) und also +die Gemeinde von dem Verbrechen des einzelnen zu reinigen. Ist das Vergehen +geringerer Art, so tritt an die Stelle der Toetung des Schuldigen die Loesung +durch Darbringung eines Opfertiers oder aehnlicher Gaben. So ruht das ganze +Kriminalrecht in seinem letzten Grunde auf der religioesen Idee der Suehnung. +</p> + +<p> +Weitere Leistungen aber als dergleichen Foerderungen buergerlicher Ordnung und +Sittlichkeit hat die Religion in Latium auch nicht verrichtet. Unsaeglich viel +hat hier Hellas vor Latium voraus gehabt - dankt es doch seiner Religion nicht +bloss seine ganze geistige Entwicklung, sondern auch seine nationale Einigung, +soweit sie ueberhaupt erreicht ward; um Goetterorakel und Goetterfeste, um +Delphi und Olympia, um die Toechter des Glaubens, die Musen, bewegt sich alles, +was im hellenischen Leben gross, und alles, was darin nationales Gemeingut ist. +Und dennoch knuepfen eben hier auch Latiums Vorzuege vor Hellas an. Die +latinische Religion, herabgedrueckt wie sie ist auf das Mass der gewoehnlichen +Anschauung, ist jedem vollkommen verstaendlich und allen insgemein zugaenglich; +und darum bewahrte die roemische Gemeinde ihre buergerliche Gleichheit, +waehrend Hellas, wo die Religion auf der Hoehe des Denkens der Besten stand, +von fruehester Zeit an unter allem Segen und Unsegen der Geistesaristokratie +gestanden hat. Auch die latinische Religion ist wie jede andere urspruenglich +hervorgegangen aus der unendlichen Glaubensvertiefung; nur der oberflaechlichen +Betrachtung, die ueber die Tiefe des Stromes sich taeuscht, weil er klar ist, +kann ihre durchsichtige Geisterwelt flach erscheinen. Dieser innige Glaube +verschwindet freilich im Laufe der Zeiten so notwendig wie der Morgentau vor +der hoeher steigenden Sonne und auch die latinische Religion ist also +spaeterhin verdorrt; aber laenger als die meisten Voelker haben die Latiner die +naive Glaeubigkeit sich bewahrt, und vor allem laenger als die Griechen. Wie +die Farben die Wirkungen, aber auch die Truebungen des Lichtes sind, so sind +Kunst und Wissenschaft nicht bloss die Geschoepfe, sondern auch die Zerstoerer +des Glaubens; und so sehr in dieser zugleich Entwicklung und Vernichtung die +Notwendigkeit waltet, so sind doch durch das gleiche Naturgesetz auch der +naiven Epoche gewisse Erfolge vorbehalten, die man spaeter vergeblich sich +bemueht zu erringen. Eben die gewaltige geistige Entwicklung der Hellenen, +welche jene immer unvollkommene religioese und literarische Einheit erschuf, +machte es ihnen unmoeglich, zu der echten politischen Einigung zu gelangen; sie +buessten damit die Einfalt, die Lenksamkeit, die Hingebung, die +Verschmelzbarkeit ein, welche die Bedingung aller staatlichen Einigung ist. Es +waere darum wohl an der Zeit, einmal abzulassen von jener kinderhaften +Geschichtsbetrachtung, welche die Griechen nur auf Kosten der Roemer oder die +Roemer nur auf Kosten der Griechen preisen zu koennen meint und, wie man die +Eiche neben der Rose gelten laesst, so auch die beiden grossartigen Organismen, +die das Altertum hervorgebracht hat, nicht zu loben oder zu tadeln, sondern es +zu begreifen, dass ihre Vorzuege gegenseitig durch ihre Mangelhaftigkeit +bedingt sind. Der tiefste und letzte Grund der Verschiedenheit beider Nationen +liegt ohne Zweifel darin, dass Latium nicht, wohl aber Hellas in seiner +Werdezeit mit dem Orient sich beruehrt hat. Kein Volksstamm der Erde fuer sich +allein war gross genug, weder das Wunder der hellenischen noch spaeterhin das +Wunder der christlichen Kultur zu erschaffen; diese Silberblicke hat die +Geschichte da erzeugt, wo aramaeische Religionsideen in den indogermanischen +Boden sich eingesenkt haben. Aber wenn eben darum Hellas der Prototyp der rein +humanen, so ist Latium nicht minder fuer alle Zeiten der Prototyp der +nationalen Entwicklung; und wir Nachfahren haben beides zu verehren und von +beiden zu lernen. +</p> + +<p> +Also war und wirkte die roemische Religion in ihrer reinen und ungehemmten +durchaus volkstuemlichen Entwicklung. Es tut ihrem nationalen Charakter keinen +Eintrag, dass seit aeltester Zeit Weise und Wesen der Gottesverehrung aus dem +Auslande heruebergenommen wurden; so wenig als die Schenkung des Buergerrechts +an einzelne Fremde den roemischen Staat denationalisiert hat. Dass man von +alters her mit den Latinern die Goetter tauschte wie die Waren, versteht sich; +bemerkenswerter ist die Uebersiedlung von nicht stammverwandten Goettern und +Gottesverehrungen. Von dem sabinischen Sonderkult der Titier ist bereits +gesprochen worden. Ob auch aus Etrurien Goetterbegriffe entlehnt worden sind, +ist zweifelhafter; denn die Lasen, die aeltere Bezeichnung der Genien (von +lascivus), und die Minerva, die Goettin des Gedaechtnisses (mens, menervare), +welche man wohl als urspruenglich etruskisch zu bezeichnen pflegt, sind nach +sprachlichen Gruenden vielmehr in Latium heimisch. Sicher ist es auf jeden +Fall, und passt auch wohl zu allem, was wir sonst vom roemischen Verkehr +wissen, dass frueher und ausgedehnter als irgendein anderer auslaendischer der +griechische Kult im Rom Beruecksichtigung fand. Den aeltesten Anlass gaben die +griechischen Orakel. Die Sprache der roemischen Goetter beschraenkte sich im +ganzen auf Ja und Nein und hoechstens auf die Verkuendigung ihres Willens durch +das - wie es scheint, urspruenglich italische - Werfen der Lose ^6; waehrend +seit sehr alter Zeit, wenngleich dennoch wohl erst infolge der aus dem Osten +empfangenen Anregung, die redseligeren Griechengoetter wirkliche Wahrsprueche +erteilten. Solche Ratschlaege in Vorrat zu haben waren die Roemer gar frueh +bemueht, und Abschriften der Blaetter der weissagenden Priesterin Apollons, der +kymaeischen Sibylle, deshalb eine hochgehaltene Gabe der griechischen +Gastfreunde aus Kampanien. Zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuches wurde in +fruehester Zeit ein eigenes, nur den Augurn und Pontifices im Range +nachstehendes Kollegium von zwei Sachverstaendigen (duoviri sacris faciundis) +bestellt, auch fuer dasselbe zwei der griechischen Sprache kundige Sklaven von +Gemeinde wegen angeschafft; diese Orakelbewahrer ging man in zweifelhaften +Faellen an, wenn es, um ein drohendes Unheil abzuwenden, eines +gottesdienstlichen Aktes bedurfte und man doch nicht wusste, welchem Gott und +wie er zu beschaffen sei. Aber auch an den delphischen Apollon selbst wandten +schon frueh sich ratsuchende Roemer; ausser den schon erwaehnten Sagen ueber +diesen Verkehr zeugt davon noch teils die Aufnahme des mit dem delphischen +Orakel eng zusammenhaengenden Wortes thesaurus in alle uns bekannte italische +Sprachen, teils die aelteste roemische Form des Namens Apollon Aperta, der +Eroeffner, eine etymologisierende Entstellung des dorischen Apellon, deren +Alter eben ihre Barbarei verraet. Auch der griechische Herakles ist frueh als +Herclus, Hercoles, Hercules in Italien einheimisch und dort in eigentuemlicher +Weise aufgefasst worden, wie es scheint zunaechst als Gott des gewagten Gewinns +und der ausserordentlichen Vermoegensmehrung; weshalb sowohl von dem Feldherrn +der Zehnte der gemachten Beute wie auch von dem Kaufmann der Zehnte des +errungenen Guts ihm an dem Hauptaltar (ara maxima) auf dem Rindermarkt +dargebracht zu werden pflegte. Er wurde darum ueberhaupt der Gott der +kaufmaennischen Vertraege, die in aelterer Zeit haeufig an diesem Altar +geschlossen und mit Eidschwur bekraeftigt wurden, und fiel insofern mit dem +alten latinischen Gott des Worthaltens (deus fidius) zusammen. Die Verehrung +des Hercules ist frueh eine der weitverbreitetsten geworden; er wurde, mit +einem alten Schriftsteller zu reden, an jedem Fleck Italiens verehrt und in den +Gassen der Staedte wie an den Landstrassen standen ueberall seine Altaere. Die +Schiffergoetter ferner, Kastor und Polydeukes oder roemisch Pollux, ferner der +Gott des Handels, Hermes, der roemische Mercurius, und der Heilgott Asklapios +oder Aesculapius, wurden den Roemern frueh bekannt, wenngleich deren +oeffentliche Verehrung erst spaeter begann. Der Name des Festes der +“guten Goettin” (bona dea) damium, entsprechend dem griechischen +δάμιον oder δήμιον, mag gleichfalls schon bis in diese Epoche zurueckreichen. +Auf alter Entlehnung muss es auch beruhen, dass der alte Liber pater der Roemer +spaeter als “Vater Befreier” gefasst ward und mit dem Weingott der +Griechen, dem “Loeser” (Lyaeos) zusammenfloss, und dass der +roemische Gott der Tiefe der “Reichtumspender” (Pluton - Dis pater) +hiess, dessen Gemahlin Persephone aber, zugleich durch Anlautung und durch +Begriffsuebertragung, ueberging in die roemische Proserpina, dass heisst +Aufkeimerin. Selbst die Goettin des roemisch-latinischen Bundes, die +aventinische Diana scheint der Bundesgoettin der kleinasiatischen Ionier, der +ephesischen Artemis nachgebildet zu sein; wenigstens war das Schnitzbild in dem +roemischen Tempel nach dem ephesischen Typus gefertigt. Nur auf diesem Wege, +durch die frueh mit orientalischen Vorstellungen durchdrungenen apollinischen, +dionysischen, plutonischen, herakleischen und Artemismythen, hat in dieser +Epoche die aramaeische Religion eine entfernte und mittelbare Einwirkung auf +Italien geuebt. Deutlich erkennt man dabei, wie das Eindringen der griechischen +Religion vor allen Dingen auf den Handelsbeziehungen beruht und wie zunaechst +Kaufleute und Schiffer die griechischen Goetter nach Italien gebracht haben. +</p> + +<p> +———————————————————- +</p> + +<p> +^6 Sors, von serere, reihen. Es waren wahrscheinlich an einer Schnur gereihte +Holztaefelchen, die geworfen verschiedenartige Figuren bildeten; was an die +Runen erinnert. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +Indessen sind die einzelnen Entlehnungen aus dem Ausland nur von sekundaerer +Bedeutung, die Truemmer des Natursymbolismus der Urzeit aber, wie etwa die Sage +von den Rindern des Cacus eines sein mag, so gut wie ganz verschollen; im +grossen und ganzen ist die roemische Religion eine organische Schoepfung des +Volkes, bei dem wir sie finden. +</p> + +<p> +Die sabellische und umbrische Gottesverehrung beruht, nach dem wenigen zu +schliessen, was wir davon wissen, auf ganz gleichen Grundanschauungen wie die +latinische mit lokal verschiedener Faerbung und Gestaltung. Dass sie abwich von +der latinischen, zeigt am bestimmtesten die Gruendung einer eigenen +Genossenschaft in Rom zur Bewahrung der sabinischen Gebraeuche; aber eben sie +gibt ein belehrendes Beispiel, worin der Unterschied bestand. Die Vogelschau +war beiden Staemmen die regelmaessige Weise der Goetterbefragung; aber die +Titier schauten nach anderen Voegeln als die ramnischen Augurn. Ueberall, wo +wir vergleichen koennen, zeigen sich aehnliche Verhaeltnisse; die Fassung der +Goetter als Abstraktion des Irdischen und ihre unpersoenliche Natur sind beiden +Staemmen gemein, Ausdruck und Ritual verschieden. Dass dem damaligen Kultus +diese Abweichungen gewichtig erschienen, ist begreiflich; wir vermoegen den +charakteristischen Unterschied, wenn einer bestand, nicht mehr zu erfassen. +</p> + +<p> +Aber aus den Truemmern, die vom etruskischen Sakralwesen auf uns gekommen sind, +redet ein anderer Geist. Es herrscht in ihnen eine duestere und dennoch +langweilige Mystik, Zahlenspiel und Zeichendeuterei und jene feierliche +Inthronisierung des reinen Aberwitzes, die zu allen Zeiten ihr Publikum findet. +Wir kennen zwar den etruskischen Kult bei weitem nicht in solcher +Vollstaendigkeit und Reinheit wie den latinischen; aber mag die spaetere +Gruebelei auch manches erst hineingetragen haben, und moegen auch gerade die +duesteren und phantastischen, von dem latinischen Kult am meisten sich +entfernenden Saetze uns vorzugsweise ueberliefert sein, was beides in der Tat +nicht wohl zu bezweifeln ist, so bleibt immer noch genug uebrig, um die Mystik +und Barbarei dieses Kultes zu bezeichnen als im innersten Wesen des +etruskischen Volkes begruendet. +</p> + +<p> +Ein innerlicher Gegensatz des sehr ungenuegend bekannten etruskischen +Gottheitsbegriffs zu dem italischen laesst sich nicht erfassen; aber bestimmt +treten unter den etruskischen Goettern die boesen und schadenfrohen in den +Vordergrund, wie denn auch der Kult grausam ist und namentlich das Opfern der +Gefangenen einschliesst - so schlachtete man in Caere die gefangenen Phokaeer, +in Tarquinii die gefangenen Roemer. Statt der stillen, in den Raeumen der Tiefe +friedlich schaltenden Welt der abgeschiedenen “guten Geister”, wie +die Latiner sie sich dachten, erscheint hier eine wahre Hoelle, in die die +armen Seelen zur Peinigung durch Schlaegel und Schlangen abgeholt werden von +dem Totenfuehrer; einer wilden, halb tierischen Greisengestalt mit Fluegeln und +einem grossen Hammer; einer Gestalt, die man spaeter in Rom bei den +Kampfspielen verwandte, um den Mann zu kostuemieren, der die Leichen der +Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist mit diesem Zustand der +Schatten die Pein verbunden, dass es sogar eine Erloesung daraus gibt, die nach +gewissen geheimnisvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen +Goetter. Es ist merkwuerdig, dass, um ihre Unterwelt zu bevoelkern, die +Etrusker frueh von den Griechen deren finstere Vorstellungen entlehnten, wie +denn die acherontische Lehre und der Charon eine grosse Rolle in der +etruskischen Weisheit spielen. +</p> + +<p> +Aber vor allen Dingen beschaeftigt den Etrusker die Deutung der Zeichen und +Wunder. Die Roemer vernahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Goetter; +allein ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und erkannte nur im +allgemeinen, ob die Handlung Glueck oder Unglueck bringen werde. Stoerungen im +Laufe der Natur galten ihm als unglueckbringend und hemmten die Handlung, wie +zum Beispiel bei Blitz und Donner die Volksversammlung auseinanderging, und man +suchte auch wohl, sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Missgeburt +schleunigst getoetet ward. Aber jenseits des Tiber begnuegte man sich damit +nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und aus den Eingeweiden der +Opfertiere dem glaeubigen Mann seine Zukunft bis ins einzelne heraus, und je +seltsamer die Goettersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder, desto +sicherer gab er an, was er verkuende und wie man das Unheil etwa abwenden +koenne. So entstanden die Blitzlehre, die Haruspizes, die Wunderdeutung, alle +ausgesponnen mit der ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden +Verstandes, vor allem die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von Kindergestalt mit +grauen Haaren, der von einem Ackersmann bei Tarquinii war ausgepfluegt worden, +Tages genannt - man sollte meinen, dass das zugleich kindische und +altersschwache Treiben in ihm sich selber habe verspotten wollen -, also Tages +hatte sie zuerst den Etruskern verraten und war dann sogleich gestorben. Seine +Schueler und Nachfolger lehrten, welche Goetter Blitze zu schleudern pflegten; +wie man am Quartier des Himmels und an der Farbe den Blitz eines jeden Gottes +erkenne; ob der Blitz einen dauernden Zustand andeute oder ein einzelnes +Ereignis und wenn dieses, ob dasselbe ein unabaenderlich datiertes sei oder +durch Kunst sich verschieben lasse bis zu einer gewissen Grenze; wie man den +eingeschlagenen Blitz bestatte oder den drohenden einzuschlagen zwinge, und +dergleichen wundersame Kuenste mehr, denen man gelegentlich die +Sportulierungsgelueste anmerkt. Wie tief dies Gaukelspiel dem roemischen Wesen +widerstand, zeigt, dass, selbst als man spaeter in Rom es benutzte, doch nie +ein Versuch gemacht ward, es einzubuergern; in dieser Epoche genuegten den +Roemern wohl noch die einheimischen und die griechischen Orakel. +</p> + +<p> +Hoeher als die roemische Religion steht die etruskische insofern, als sie von +dem, was den Roemern voellig mangelt, einer in religioese Formen gehuellten +Spekulation, wenigstens einen Anfang entwickelt hat. Ueber der Welt mit ihren +Goettern walten die verhuellten Goetter, die der etruskische Jupiter selber +befragt; jene Welt aber ist endlich und wird, wie sie entstanden ist, so auch +wieder vergehen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums, dessen Abschnitte die +Saecula sind. Ueber den geistigen Gehalt, den diese etruskische Kosmogonie und +Philosophie einmal gehabt haben mag, ist schwer zu urteilen; doch scheint auch +ihnen ein geistloser Fatalismus und ein plattes Zahlenspiel von Haus aus eigen +gewesen zu sein. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap13"></a>KAPITEL XIII.<br/> +Ackerbau, Gewerbe und Verkehr</h2> + +<p> +Ackerbau und Verkehr sind so innig verwachsen mit der Verfassung und der +aeusseren Geschichte der Staaten, dass schon bei deren Schilderung vielfach auf +dieselben Ruecksicht genommen werden musste. Hier soll es versucht werden, +anknuepfend an jene einzelnen Betrachtungen, die italische, namentlich die +roemische Oekonomie zusammenfassend und ergaenzend zu schildern. +</p> + +<p> +Dass der Uebergang von der Weide- zur Ackerwirtschaft jenseits der Einwanderung +der Italiker in die Halbinsel faellt, ward schon bemerkt. Der Feldbau blieb der +Grundpfeiler aller italischen Gemeinden, der sabellischen und der etruskischen +nicht minder als der latinischen; eigentliche Hirtenstaemme hat es in Italien +in geschichtlicher Zeit nicht gegeben, obwohl natuerlich die Staemme ueberall, +je nach der Art der Oertlichkeit in geringerem oder staerkerem Masse, neben dem +Ackerbau die Weidewirtschaft betrieben. Wie innig man es empfand, dass jedes +Gemeinwesen auf dem Ackerbau beruhe, zeigt die schoene Sitte, die Anlage neuer +Staedte damit zu beginnen, dass man dort, wo der kuenftige Mauerring sich +erheben sollte, mit dem Pflug eine Furche vorzeichnete. Dass namentlich in Rom, +ueber dessen agrarische Verhaeltnisse sich allein mit einiger Bestimmtheit +sprechen laesst, nicht bloss der Schwerpunkt des Staates urspruenglich in der +Bauernschaft lag, sondern auch dahin gearbeitet ward, die Gesamtheit der +Ansaessigen immer festzuhalten als den Kern der Gemeinde, zeigt am klarsten die +Servianische Reform. Nachdem im Laufe der Zeit ein grosser Teil des roemischen +Grundbesitzes in die Haende von Nichtbuergern gelangt war und also die Rechte +und Pflichten der Buergerschaft nicht mehr auf der Ansaessigkeit ruhten, +beseitigte die reformierte Verfassung dies Missverhaeltnis und die daraus +drohenden Gefahren nicht bloss fuer einmal, sondern fuer alle Folgezeit, indem +sie die Gemeindeglieder ohne Ruecksicht auf ihre politische Stellung ein fuer +allemal nach der Ansaessigkeit heranzog und die gemeine Last der Wehrpflicht +auf die Ansaessigen legte, denen die gemeinen Rechte im natuerlichen Lauf der +Entwicklung nachfolgen mussten. Auch die ganze Kriegs- und Eroberungspolitik +der Roemer war ebenso wie die Verfassung basiert auf die Ansaessigkeit; wie im +Staat der ansaessige Mann allein galt, so hatte der Krieg den Zweck, die Zahl +der ansaessigen Gemeindeglieder zu vermehren. Die ueberwundene Gemeinde ward +entweder genoetigt, ganz in der roemischen Bauernschaft aufzugehen, oder, wenn +es zu diesem Aeussersten nicht kam, wurde ihr doch nicht Kriegskontribution +oder fester Zins auferlegt, sondern die Abtretung eines Teils, gewoehnlich +eines Drittels ihrer Feldmark, wo dann regelmaessig roemische Bauernhoefe +entstanden. Viele Voelker haben gesiegt und erobert wie die Roemer; aber keines +hat gleich dem roemischen den erkaempften Boden also im Schweisse seines +Angesichts sich zu eigen gemacht und was die Lanze gewonnen hatte, mit der +Pflugschar zum zweitenmal erworben. Was der Krieg gewinnt, kann der Krieg +wieder entreissen, aber nicht also die Eroberung, die der Pflueger macht; wenn +die Roemer viele Schlachten verloren, aber kaum je bei dem Frieden roemischen +Boden abgetreten haben, so verdanken sie dies dem zaehen Festhalten der Bauern +an ihrem Acker und Eigen. In der Beherrschung der Erde liegt die Kraft des +Mannes und des Staates; die Groesse Roms ist gebaut auf die ausgedehnteste und +unmittelbarste Herrschaft der Buerger ueber den Boden und auf die geschlossene +Einheit dieser also festgegruendeten Bauernschaft. +</p> + +<p> +Dass in aeltester Zeit das Ackerland gemeinschaftlich, wahrscheinlich nach den +einzelnen Geschlechtsgenossenschaften, bestellt und erst der Ertrag unter die +einzelnen, dem Geschlecht angehoerigen Haeuser verteilt ward, ist bereits +angedeutet worden; wie denn Feldgemeinschaft und Geschlechtergemeinde innerlich +zusammenhaengen und auch spaeterhin in Rom noch das Zusammenwohnen und +Wirtschaften der Mitbesitzer sehr haeufig vorkam ^1. Selbst die roemische +Rechtsueberlieferung weiss noch zu berichten, dass das Vermoegen anfaenglich in +Vieh und Bodenbenutzung bestand und erst spaeter das Land unter die Buerger zu +Sondereigentum aufgeteilt ward ^2. Besseres Zeugnis dafuer gewaehrt die +aelteste Bezeichnung des Vermoegens als “Viehstand” (pecunia) oder +“Sklaven- und Viehstand” (familia pecuniaque) und des Sonderguts +der Hauskinder und Sklaven als “Schaefchen” (peculium); ferner die +aelteste Form des Eigentumserwerbs durch Handangreifen (mancipatio), was nur +fuer bewegliche Sachen angemessen ist, und vor allem das aelteste Mass des +“Eigenlandes” (heredium von herus, Herr) von zwei Jugeren oder +preussischen Morgen, das nur Gartenland, nicht Hufe, gewesen sein kann ^3. Wann +und wie die Aufteilung des Ackerlandes stattgefunden hat, laesst sich nicht +mehr bestimmen. Geschichtlich steht nur so viel fest, dass die aelteste +Verfassung die Ansaessigkeit nicht, sondern als Surrogat dafuer die +Geschlechtsgenossenschaft, dagegen schon die Servianische den aufgeteilten +Acker voraussetzt. Aus derselben Verfassung geht hervor, dass die grosse Masse +des Grundbesitzes aus mittleren Bauernstellen bestand, welche einer Familie zu +tun und zu leben gaben und das Halten von Ackervieh sowie die Anwendung des +Pfluges gestatteten; das gewoehnliche Flaechenmass dieser roemischen Vollhufe +ist nicht mit Sicherheit ermittelt, kann aber, wie schon gesagt ward, +schwerlich geringer als zu 20 Morgen angenommen werden. +</p> + +<p> +—————————————————————————————— +</p> + +<p> +^1 Die bei der deutschen Feldgemeinschaft vorkommende Verbindung geteilten +Eigentums der Genossen und gemeinschaftlicher Bestellung durch die +Genossenschaft hat in Italien schwerlich je bestanden. Waere hier, wie bei den +Deutschen, jeder Genosse als Eigentuemer eines Einzelfleckes in jedem +wirtschaftlich abgegrenzten Teile der Gesamtmark betrachtet worden, so wuerde +doch wohl die spaetere Sonderwirtschaft von zerstueckelten Hufen ausgehen. +Allein es ist vielmehr das Gegenteil der Fall; die Individualnamen der +roemischen Hufen (fundus Cornelianus) zeigen deutlich, dass der aelteste +roemische Individualgrundbesitz faktisch geschlossen war. +</p> + +<p> +^2 Cicero (rep. 2, 9, 14; vgl. Plut. q. Rom. 15) berichtet: Tunc (zur Zeit des +Romulus) erat res in pecore et locorum possessionibus, ex quo pecuniosi et +locupletes vocabantur. - (Numa) primum agros, quos bello Romulus ceperat, +divisit viritim civibus. Ebenso laesst Dionys den Romulus das Land in dreissig +Kuriendistrikte teilen, den Numa die Grenzsteine setzen und das Terminalienfest +einfuehren (1, 7; 2, 74; daraus Plut. Num. 16). +</p> + +<p> +^3 Da dieser Behauptung fortwaehrend noch widersprochen wird, so moegen die +Zahlen reden. Die roemischen Landwirte der spaeteren Republik und der +Kaiserzeit rechnen durchschnittlich fuer das Iugerum als Aussaat fuenf +roemische Scheffel Weizen, als Ertrag das fuenffache Korn; der Ertrag eines +Heredium ist demnach, selbst wenn man, von dem Haus- und Hofraum absehend, es +lediglich als Ackerland betrachtet und auf Brachjahre keine Ruecksicht nimmt, +50 oder nach Abzug des Saatkorns 40 Scheffel. Auf den erwachsenen, schwer +arbeitenden Sklaven rechnet Cato (agr. c. 56) fuer das Jahr 51 Scheffel Weizen. +Die Frage, ob eine roemische Familie von dem Heredium leben konnte oder nicht, +mag danach sich jeder selber beantworten. Der versuchte Gegenbeweis stuetzt +sich darauf, dass der Sklave der spaeteren Zeit ausschliesslicher als der freie +Bauer der aelteren von Getreide gelebt hat und dass fuer die aeltere Zeit die +Annahme des fuenffachen Kornes eine zu niedrige ist; beides ist wohl richtig, +aber fuer beides gibt es eine Grenze. Ohne Zweifel sind die Nebennutzungen, +welche das Ackerland selbst und die Gemeinweide an Feigen, Gemuese, Milch, +Fleisch (besonders durch die alte und intensive Schweinezucht) und dergleichen +abwirft, besonders fuer die aeltere Zeit in Anschlag zu bringen; aber die +aeltere roemische Weidewirtschaft war, wenn auch nicht unbedeutend, so doch von +untergeordneter Bedeutung und die Hauptnahrung des Volkes immer notorisch das +Getreide. Man mag ferner wegen der Intensitaet der aelteren Kultur zu einer +sehr ansehnlichen Steigerung besonders des Bruttoertrags gelangen - und ohne +Frage haben die Bauern dieser Zeit ihren Ackern einen groesseren Ertrag +abgewonnen, als die Plantagenbesitzer der spaeteren Republik und der Kaiserzeit +ihn erzielten; aber Mass wird auch hier zu halten sein, da es ja um +Durchschnittssaetze sich handelt und um eine weder rationell noch mit grossem +Kapital betriebene Bauernbewirtschaftung. Die Annahme des zehnten Korns statt +des fuenften wird die aeusserste Grenze sein, und sie genuegt doch weitaus +nicht. Auf keinen Fall laesst das enorme Defizit, welches auch nach diesen +Ansaetzen zwischen dem Ertrag des Heredium und dem Bedarf des Hauswesens +bleibt, durch blosse Kultursteigerung sich decken. In der Tat wird der +Gegenbeweis erst dann als gefuehrt zu betrachten sein, wenn eine rationelle +landwirtschaftliche Berechnung aufgestellt sein wird, wonach bei einer +ueberwiegend von Vegetabilien sich naehrenden Bevoelkerung der Ertrag eines +Grundstueckes von zwei Morgen sich als durchschnittlich fuer die Ernaehrung +einer Familie ausreichend herausstellt. +</p> + +<p> +Man behauptet nun zwar, dass selbst in geschichtlicher Zeit Koloniegruendungen +mit Ackerlosen von zwei Morgen vorkommen; aber das einzige Beispiel der Art +(Liv. 4, 47), die Kolonie Labici vom Jahr 336, wird von denjenigen Gelehrten, +gegen welche es ueberhaupt der Muehe sich verlohnt, Argumente zu gebrauchen, +sicherlich nicht zu der im geschichtlichen Detail zuverlaessigen Ueberlieferung +gezaehlt werden und unterliegt auch noch anderen sehr ernsten Bedenken. Das +allerdings ist richtig, dass bei der nichtkolonialen Ackeranweisung an die +gesamte Buergerschaft (adsignatio viritana) zuweilen nur wenige Morgen gegeben +worden sind (so z. B. Liv. 8, 11, 21); aber hier sollten auch keineswegs in den +Losen neue Bauernwesen geschaffen, sondern vielmehr in der Regel zu den +bestehenden vom eroberten Lande neue Parzellen hinzugefuegt werden (vgl. CIL I, +p. 88). Auf alle Faelle wird jede andere Annahme besser sein als eine +Hypothese, welche mit den fuenf Broten und zwei Fischen des Evangeliums +ziemlich auf einer Linie steht. Die roemischen Bauern waren bei weitem weniger +bescheiden als ihre Historiographen; sie meinten selbst auf Grundstuecken von +sieben Morgen oder 140 roemischen Scheffeln Ertrag nicht auskommen zu koennen. +</p> + +<p> +——————————————————————— +</p> + +<p> +Die Landwirtschaft ging wesentlich auf den Getreidebau, das gewoehnliche Korn +war der Spelt (far) ^4; doch wurden auch Huelsenfruechte, Rueben und Gemuese +fleissig gezogen. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +^4 Vielleicht der juengste, obwohl schwerlich der letzte Versuch, den Nachweis +zu fuehren, dass die latinische Bauernfamilie von zwei Morgen Landes hat leben +koennen, ist hauptsaechlich darauf gestuetzt worden, dass Varro (tust. 1, 44, +1) als Aussaat auf den Morgen fuenf Scheffel Weizen, dagegen zehn Scheffel +Spelt rechnet und diesem entsprechend den Ertrag ansetzt, woraus denn gefolgert +wird, dass der Speltbau wo nicht den doppelten, doch einen betraechtlich +hoeheren Ertrag liefert als der Weizenbau. Es ist aber vielmehr das Umgekehrte +richtig und jene nominell hoehere Aussaat und Ernte einfach zu erklaeren aus +dem Umstand, dass die Roemer den Weizen ausgehuelst lagerten und saeten, den +Spelt aber in den Huelsen (Plin. nat. 18, 7, 61), die sich hier durch das +Dreschen nicht von der Frucht trennen. Aus demselben Grunde wird der Spelt auch +heutzutage noch doppelt so stark gesaet als der Weizen und liefert nach +Scheffelmass doppelt hoeheren Ertrag, nach Abzug der Huelsen aber geringeren. +Nach wuerttembergischen Angaben, die mir G. Hanssen mitteilt, rechnet man dort +als Durchschnittsertrag fuer den wuerttembergischen Morgen an Weizen (bei einer +Aussaat von ¼-½ Scheffel) drei Scheffel zum mittleren Gewicht von 275 Pfund (= +825 Pfund), an Spelt (bei einer Aussaat von ½-1½ Scheffel) mindestens sieben +Scheffel zum mittleren Gewicht von 150 Pfund (= 1050 Pfund), welche durch die +Schaelung sich auf etwa vier Scheffel reduzieren. Also liefert der Spelt, +verglichen mit dem Weizen, im Bruttoertrag mehr als doppelte, bei gleich gutem +Boden vielleicht dreifache Ernte, dem spezifischen Gewicht nach aber vor der +Enthuelsung nicht viel ueber, nach der Enthuelsung (als Kern”) weniger +als die Haelfte. Nicht aus Versehen, wie behauptet worden ist, sondern weil es +zweckmaessig ist, bei Ueberschlaegen dieser Art von ueberlieferten und +gleichartigen Ansetzungen auszugehen, ist die oben aufgestellte Berechnung auf +Weizen gestellt worden; sie durfte es, weil sie, auf Spelt uebertragen, nicht +wesentlich abweicht und der Ertrag eher faellt als steigt. Der Spelt ist +genuegsamer in bezug auf Boden und Klima und weniger Gefahren ausgesetzt als +der Weizen; aber der letztere liefert im ganzen, namentlich wenn man die nicht +unbetraechtlichen Enthuelsungskosten in Anschlag bringt, einen hoeheren +Reinertrag (nach fuenfzigjaehrigem Durchschnitt stellt in der Gegend von +Frankenthal in Rheinbayern sich der Malter Weizen auf 11 Gulden 3 Kreuzer, der +Malter Spelt auf 4 Gulden 30 Kreuzer), und wie in Sueddeutschland, wo der Boden +ihn zulaesst, der Weizenbau vorgezogen wird, und ueberhaupt bei vorschreitender +Kultur dieser den Speltbau zu verdraengen pflegt, so ist auch der gleichartige +Uebergang der italischen Landwirtschaft vom Spelt- zum Weizenbau unleugbar ein +Fortschritt gewesen. +</p> + +<p> +———————————————————————————— +</p> + +<p> +Dass die Pflege des Weinstocks nicht erst durch die griechischen Ansiedler nach +Italien kam, beweist das in die vorgriechische Zeit hinaufreichende +Festverzeichnis der roemischen Gemeinde, das drei Weinfeste kennt und diese dem +Vater Iovis, nicht dem juengeren, erst von den Griechen entlehnten Weingott, +dem Vater Befreier, feiern heisst. Wenn nach einer recht alten Sage der Koenig +Mezentius von Caere von den Latinern oder den Rutulern einen Weinzins fordert, +wenn als die Ursache, welche die Kelten veranlasste, die Alpen zu +ueberschreiten, in einer weit verbreiteten und sehr verschiedenartig gewendeten +italischen Erzaehlung die Bekanntschaft mit den edlen Fruechten Italiens und +vor allem mit der Traube und dem Wein genannt wird, so spricht daraus der Stolz +der Latiner auf ihre herrliche, von den Nachbarn vielbeneidete Rebe. Frueh und +allgemein wurde von den latinischen Priestern auf eine sorgfaeltige Rebenzucht +hingewirkt. In Rom begann die Lese erst, wenn der hoechste Priester der +Gemeinde, der Flamen des Jupiter sie gestattet und selbst damit begonnen hatte; +in gleicher Weise verbot eine tusculanische Ordnung das Feilbieten des neuen +Weines, bevor der Priester das Fest der Fassoeffnung abgerufen hatte. Ebenso +gehoert hierher nicht bloss die allgemeine Aufnahme der Weinspende in das +Opferritual, sondern auch die als Gesetz des Koenigs Numa bekannt gemachte +Vorschrift der roemischen Priester, den Goettern keinen von unbeschnittenen +Reben gewonnenen Wein zum Trankopfer auszugiessen; eben wie sie, um das +nuetzliche Doerren des Getreides einzufuehren, die Opferung ungedoerrten +Getreides untersagten. +</p> + +<p> +Juenger ist der Oelbau und sicher erst durch die Griechen nach Italien gekommen +^5. Die Olive soll zuerst gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts der Stadt am +westlichen Mittelmeer gepflanzt worden sein; es stimmt dazu, dass der Oelzweig +und die Olive im roemischen Ritual eine weit untergeordnetere Rolle spielen als +der Saft der Rebe. Wie wert uebrigens der Roemer beide edle Baeume hielt, +beweisen der Rebstock und Oelbaum, die mitten auf dem Markte der Stadt unweit +des Curtischen Teiches gepflanzt wurden. +</p> + +<p> +———————————————————- +</p> + +<p> +^5 Oleum, oliva sind aus έλαιον, έλαια, amurca (Φlhefe) aus αμόργη entstanden. +</p> + +<p> +———————————————————- +</p> + +<p> +Von den Fruchtbaeumen ward vor allem die nahrhafte und wahrscheinlich in +Italien einheimische Feige gepflanzt; um die alten Feigenbaeume, deren +ebenfalls mehrere auf und an dem roemischen Markte standen ^6, hat die +roemische Ursprungssage ihre dichtesten Faeden gesponnen. +</p> + +<p> +———————————————————- +</p> + +<p> +^6 Aber dass der vor dem Saturnustempel stehende im Jahr 260 (494) umgehauen +ward (Plin. nat. 15, 18, 77), ist nicht ueberliefert; die Ziffer CCLX fehlt in +allen guten Handschriften und ist, wohl mit Anlehnung an Liv. 2, 21, +interpoliert. +</p> + +<p> +————————————————————- +</p> + +<p> +Es waren der Bauer und dessen Soehne, welche den Pflug fuehrten und ueberhaupt +die landwirtschaftlichen Arbeiten verrichteten; dass auf den gewoehnlichen +Bauernwirtschaften Sklaven oder freie Tageloehner regelmaessig mit verwandt +worden sind, ist nicht wahrscheinlich. Den Pflug zog der Stier, auch die Kuh; +zum Tragen der Lasten dienten Pferde, Esel und Maultiere. Eine selbstaendige +Viehwirtschaft zur Gewinnung des Fleisches oder der Milch bestand wenigstens +auf dem in Geschlechtseigentum stehenden Land nicht oder nur in sehr +beschraenktem Umfang; wohl aber wurden ausser dem Kleinvieh, das man auf die +gemeine Weide mit auftrieb, auf dem Bauernhof Schweine und Gefluegel, besonders +Gaense gehalten. Im allgemeinen ward man nicht muede zu pfluegen und wieder zu +pfluegen - der Acker galt als mangelhaft bestellt, bei dem die Furchen nicht so +dicht gezogen waren, dass das Eggen entbehrt werden konnte; aber der Betrieb +war mehr intensiv als intelligent, und der mangelhafte Pflug, das unvollkommene +Ernte- und Dreschverfahren, blieben unveraendert. Mehr als das hartnaeckige +Festhalten der Bauern an dem Hergebrachten wirkte hierzu wahrscheinlich die +geringe Entwicklung der rationellen Mechanik; denn dem praktischen Italiener +war die gemuetliche Anhaenglichkeit an die mit der ererbten Scholle +ueberkommene Bestellungsweise fremd, und einleuchtende Verbesserungen der +Landwirtschaft, wie zum Beispiel der Anbau von Futterkraeutern und das +Berieselungssystem der Wiesen, moegen schon frueh von den Nachbarvoelkern +uebernommen oder selbstaendig entwickelt worden sein; begann doch die roemische +Literatur selbst mit der theoretischen Behandlung des Ackerbaus. Der fleissigen +und verstaendigen Arbeit folgte die erfreuliche Rast; und auch hier machte die +Religion ihr Recht geltend, die Muehsal des Lebens auch dem Niedrigen durch +Pausen der Erholung und der freieren menschlichen Bewegung zu mildern. Jeden +achten Tag (nonae), also durchschnittlich viermal im Monat, geht der Bauer in +die Stadt, um zu verkaufen und zu kaufen und seine uebrigen Geschaefte zu +besorgen. Eigentliche Arbeitsruhe bringen aber nur die einzelnen Festtage und +vor allem der Feiermonat nach vollbrachter Wintersaat (feriae sementivae); +waehrend dieser Fristen rastete nach dem Gebote der Goetter der Pflug und es +ruhten in Feiertagsmusse nicht bloss der Bauer, sondern auch der Knecht und der +Stier. +</p> + +<p> +In solcher Weise etwa ward die gewoehnliche roemische Bauernstelle in aeltester +Zeit bewirtschaftet. Gegen schlechte Verwaltung gab es fuer die Anerben keinen +anderen Schutz, als das Recht, den leichtsinnigen Verschleuderer ererbten +Vermoegens gleichsam als einen Wahnsinnigen unter Vormundschaft stellen zu +lassen. Den Frauen war ueberdies das eigene Verfuegungsrecht wesentlich +entzogen, und wenn sie sich verheirateten, gab man ihnen regelmaessig einen +Geschlechtsgenossen zum Mann, um das Gut in dem Geschlecht zusammenzuhalten. +Der Ueberschuldung des Grundbesitzes suchte das Recht zu steuern teils dadurch, +dass es bei der Hypothekenschuld den vorlaeufigen Uebergang des Eigentums an +der verpfaendeten Liegenschaft vom Schuldner auf den Glaeubiger verordnete, +teils durch das strenge und rasch zum faktischen Konkurs fuehrende +Exekutivverfahren bei dem einfachen Darlehen; doch erreichte, wie die Folge +zeigt, das letztere Mittel seinen Zweck sehr unvollkommen. Die freie +Teilbarkeit des Eigentums blieb gesetzlich unbeschraenkt. So wuenschenswert es +auch sein mochte, dass die Miterben im ungeteilten Besitz des Erbguts blieben, +so sorgte doch schon das aelteste Recht dafuer die Aufloesung einer solchen +Gemeinschaft zu jeder Zeit jedem Teilnehmer offenzuhalten; es ist gut, wenn +Brueder friedlich zusammenwohnen, aber sie dazu zu noetigen, ist dem liberalen +Geiste des roemischen Rechts fremd. Die Servianische Verfassung zeigt denn +auch, dass es schon in der Koenigszeit in Rom an Insten und Gartenbesitzern +nicht gefehlt hat, bei denen an die Stelle des Pfluges der Karst trat. Die +Verhinderung der uebermaessigen Zerstueckelung des Bodens blieb der Gewohnheit +und dem gesunden Sinn der Bevoelkerung ueberlassen; und dass man sich hierin +nicht getaeuscht hat und die Landgueter in der Regel zusammengeblieben sind, +beweist schon die allgemeine roemische Sitte, sie mit feststehenden +Individualnamen zu bezeichnen. Die Gemeinde griff nur indirekt hier ein durch +die Ausfuehrung von Kolonien, welche regelmaessig die Gruendung einer Anzahl +neuer Vollhufen, und haeufig wohl auch, indem man kleine Grundbesitzer als +Kolonisten ausfuehrte, die Einziehung einer Anzahl Instenstellen herbeifuehrte. +Bei weitem schwieriger ist es, die Verhaeltnisse des groesseren Grundbesitzes +zu erkennen. Dass es einen solchen in nicht unbedeutender Ausdehnung gab, ist +nach der fruehen Entwicklung der Ritterschaft nicht zu bezweifeln und erklaert +sich auch leicht teils aus der Aufteilung der Geschlechtsmarken, welche bei der +notwendig ungleichen Kopfzahl der in den einzelnen Geschlechtern daran +Teilnehmenden von selbst einen Stand von groesseren Grundbesitzern ins Leben +rufen musste, teils aus der Menge der in Rom zusammenstroemenden +kaufmaennischen Kapitalien. Aber eine eigentliche Grosswirtschaft, gestuetzt +auf einen ansehnlichen Sklavenstand, wie wir sie spaeter in Rom finden, kann +fuer diese Zeit nicht angenommen werden; vielmehr ist die alte Definition, +wonach die Senatoren Vaeter genannt worden sind von den Aeckern, die sie an +geringe Leute austeilen wie der Vater an die Kinder, hierher zu ziehen und wird +urspruenglich der Gutsbesitzer den Teil seines Grundstueckes, den er nicht +selber zu bewirtschaften vermochte, oder auch das ganze Gut in kleinen +Parzellen unter abhaengige Leute zur Bestellung verteilt haben, wie dies noch +jetzt in Italien allgemein geschieht. Der Empfaenger konnte Hauskind oder +Sklave des Verleihers sein; wenn er ein freier Mann war, so war sein +Verhaeltnis dasjenige, welches spaeter unter dem Namen des +“Bittbesitzes” (precarium) erscheint. Der Empfaenger behielt +diesen, solange es dem Verleiher beliebte, und hatte kein gesetzliches Mittel, +um sich gegen denselben im Besitz zu schuetzen; vielmehr konnte dieser ihn +jederzeit nach Gefallen ausweisen. Eine Gegenleistung des Bodennutzers an den +Bodeneigentuemer lag in dem Verhaeltnis nicht notwendig; ohne Zweifel aber fand +sie haeufig statt und mag wohl in der Regel in der Abgabe eines Teils vom +Fruchtertrag bestanden haben, wo dann das Verhaeltnis der spaeteren Pacht sich +naehert, immer aber von ihr unterschieden bleibt teils durch den Mangel eines +festen Endtermins, teils durch den Mangel an Klagbarkeit auf beiden Seiten und +den lediglich durch das Ausweisungsrecht des Verpaechters vermittelten +Rechtsschutz der Pachtforderung. Offenbar war dies wesentlich ein +Treueverhaeltnis und konnte ohne das Hinzutreten eines maechtigen, religioes +geheiligten Herkommens nicht bestehen; aber dieses fehlte auch nicht. Das +durchaus sittlich-religioese Institut der Klientel ruhte ohne Zweifel im +letzten Grunde auf dieser Zuweisung der Bodennutzungen. Dieselbe wurde auch +keineswegs erst durch die Aufhebung der Feldgemeinschaft moeglich; denn wie +nach dieser der einzelne, konnte vorher das Geschlecht die Mitnutzung seiner +Mark abhaengigen Leuten gestatten, und eben damit haengt ohne Zweifel zusammen, +dass die roemische Klientel nicht persoenlich war, sondern von Haus aus der +Klient mit seinem Geschlecht sich dem Patron und seinem Geschlecht zu Schutz +und Treue anbefahl. Aus dieser aeltesten Gestalt der roemischen Gutswirtschaft +erklaert es sich, weshalb aus den grossen Grundbesitzern in Rom ein Land-, kein +Stadtadel hervorging. Da die verderbliche Institution der Mittelmaenner den +Roemern fremd blieb, fand sich der roemische Gutsherr nicht viel weniger an den +Grundbesitz gefesselt als der Paechter und der Bauer; er sah ueberall selbst zu +und griff selber ein, und auch dem reichen Roemer galt es als das hoechste Lob, +ein guter Landwirt zu heissen. Sein Haus war auf dem Lande; in der Stadt hatte +er nur ein Quartier, um seine Geschaefte dort zu besorgen und etwa waehrend der +heissen Zeit dort die reinere Luft zu atmen. Vor allem aber wurde durch diese +Ordnungen eine sittliche Grundlage fuer das Verhaeltnis der Vornehmen zu den +Geringen hergestellt und dadurch dessen Gefaehrlichkeit wesentlich gemindert. +Die freien Bittpaechter, hervorgegangen aus heruntergekommenen Bauernfamilien, +zugewandten Leuten und Freigelassenen, machten die grosse Masse des +Proletariats aus und waren von dem Grundherrn nicht viel abhaengiger, als es +der kleine Zeitpaechter dem grossen Gutsbesitzer gegenueber unvermeidlich ist. +Die fuer den Herrn den Acker bauenden Knechte waren ohne Zweifel bei weitem +weniger zahlreich als die freien Paechter. Ueberall wo die einwandernde Nation +nicht sogleich eine Bevoelkerung in Masse geknechtet hat, scheinen Sklaven +anfaenglich nur in sehr beschraenktem Umfang vorhanden gewesen zu sein und +infolgedessen die freien Arbeiter eine ganz andere Rolle im Staate gehabt zu +haben, als in der wir spaeter sie finden. Auch in Griechenland erscheinen in +der aelteren Epoche die “Tageloehner” (θήτες) vielfach an der +Stelle der spaeteren Sklaven und hat in einzelnen Gemeinden, zum Beispiel bei +den Lokrern, es bis in die historische Zeit keine Sklaverei gegeben. Selbst der +Knecht aber war doch regelmaessig italischer Abkunft; der volskische, +sabinische, etruskische Kriegsgefangene musste seinem Herrn anders +gegenueberstehen als in spaeterer Zeit der Syrer und der Kelte. Dazu hatte er +als Parzelleninhaber zwar nicht rechtlich, aber doch tatsaechlich Land und +Vieh, Weib und Kind wie der Gutsherr, und seit es eine Freilassung gab, lag die +Moeglichkeit, sich frei zu arbeiten, ihm nicht fern. Wenn es mit dem grossen +Grundbesitz der aeltesten Zeit sich also verhielt, so war er keineswegs eine +offene Wunde des Gemeinwesens, sondern fuer dasselbe vom wesentlichsten Nutzen. +Nicht bloss verschaffte er nach Verhaeltnis ebenso vielen Familien eine wenn +auch im ganzen geringere Existenz wie der mittlere und kleine; sondern es +erwuchsen auch in den verhaeltnismaessig hoch und frei gestellten Grundherren +die natuerlichen Leiter und Regierer der Gemeinde, in den ackerbauenden und +eigentumslosen Bittpaechtern aber das rechte Material fuer die roemische +Kolonisationspolitik, welche ohne ein solches nimmermehr gelingen konnte; denn +der Staat kann wohl dem Vermoegenlosen Land, aber nicht demjenigen, der kein +Ackerbauer ist, den Mut und die Kraft geben, um die Pflugschar zu fuehren. +</p> + +<p> +Das Weideland ward von der Landaufteilung nicht betroffen. Es ist der Staat, +nicht die Geschlechtsgenossenschaft, der als Eigentuemer der Gemeinweide +betrachtet wird, und teils dieselbe fuer seine eigenen, fuer die Opfer und zu +anderen Zwecken bestimmten und durch die Viehbussen stets in ansehnlichem +Stande gehaltenen Herden benutzt, teils den Viehbesitzern das Auftreiben auf +dieselbe gegen eine maessige Abgabe (scriptura) gestattet. Das Triftrecht am +Gemeindeanger mag urspruenglich tatsaechlich in einem gewissen Verhaeltnis zum +Grundbesitz gestanden haben. Allein eine rechtliche Verknuepfung der einzelnen +Ackerhufe mit einer bestimmten Teilnutzung der Gemeinweide kann in Rom schon +deshalb nie stattgefunden haben, weil das Eigentum auch von dem Insassen +erworben werden konnte, das Nutzungsrecht aber dem Insassen wohl nur +ausnahmsweise durch koenigliche Gnade gewaehrt ward. In dieser Epoche indes +scheint das Gemeindeland in der Volkswirtschaft ueberhaupt nur eine +untergeordnete Rolle gespielt zu haben, da die urspruengliche Gemeinweide wohl +nicht sehr ausgedehnt war, das eroberte Land aber wohl groesstenteils sogleich +unter die Geschlechter oder spaeter unter die einzelnen als Ackerland verteilt +ward. +</p> + +<p> +Dass der Ackerbau in Rom wohl das erste und ausgedehnteste Gewerbe war, daneben +aber andere Zweige der Industrie nicht gefehlt haben, folgt schon aus der +fruehen Entwicklung des staedtischen Lebens in diesem Emporium der Latiner, und +in der Tat werden unter den Institutionen des Koenigs Numa, das heisst unter +den seit unvordenklicher Zeit in Rom bestehenden Einrichtungen, acht +Handwerkerzuenfte aufgezaehlt: der Floetenblaeser, der Goldschmiede, der +Kupferschmiede, der Zimmerleute, der Walker, der Faerber, der Toepfer, der +Schuster - womit fuer die aelteste Zeit, wo man das Brotbacken und die +gewerbmaessige Arzneikunst noch nicht kannte und die Frauen des Hauses die +Wolle zu den Kleidern selber spannen, der Kreis der auf Bestellung fuer fremde +Rechnung arbeitenden Gewerke wohl im wesentlichen erschoepft sein wird. +Merkwuerdig ist es, dass keine eigene Zunft der Eisenarbeiter erscheint. Es +bestaetigt dies aufs neue, dass man in Latium erst verhaeltnismaessig spaet mit +der Bearbeitung des Eisens begonnen hat; weshalb denn auch im Ritual zum +Beispiel fuer den heiligen Pflug und das priesterliche Schermesser bis in die +spaeteste Zeit durchgaengig nur Kupfer verwandt werden durfte. Fuer das +staedtische Leben Roms und seine Stellung zu der latinischen Landschaft muessen +diese Gewerkschaften in der aeltesten Periode von grosser Bedeutung gewesen +sein, die nicht abgemessen werden darf nach den spaeteren, durch die Masse der +fuer den Herrn oder auf seine Rechnung arbeitenden Handwerkersklaven und die +steigende Einfuhr von Luxuswaren gedrueckten Verhaeltnissen des roemischen +Handwerks. Die aeltesten Lieder Roms feierten nicht bloss den gewaltigen +Streitgott Mamers, sondern auch den kundigen Waffenschmied Mamurius, der nach +dem goettlichen vom Himmel gefallenen Musterschild seinen Mitbuergern gleiche +Schilde zu schmieden verstanden hatte; der Gott des Feuers und der Esse +Volcanus erscheint bereits in dem uralten roemischen Festverzeichnis. Auch in +dem aeltesten Rom sind also wie allerorten die Kunst, die Pflugschar und das +Schwert zu schmieden und sie zu fuehren, Hand in Hand gegangen und fand sich +nichts von jener hoffaertigen Verachtung der Gewerke, die spaeter daselbst +begegnet. Seit indes die Servianische Ordnung den Heerdienst ausschliesslich +auf die Ansaessigen legte, waren die Industriellen zwar nicht gesetzlich, aber +doch wohl infolge ihrer durchgaengigen Nichtansaessigkeit tatsaechlich vom +Waffenrecht ausgeschlossen, ausser insofern aus den Zimmerleuten, den +Kupferschmieden und gewissen Klassen der Spielleute eigene militaerisch +organisierte Abteilungen dem Heer beigegeben wurden; und es mag dies wohl der +Anfang sein zu der spaeteren sittlichen Geringschaetzung und politischen +Zuruecksetzung der Gewerke. Die Einrichtung der Zuenfte hatte ohne Zweifel +denselben Zweck wie die der auch im Namen ihnen gleichenden +Priestergemeinschaften: die Sachverstaendigen taten sich zusammen, um die +Tradition fester und sicherer zu bewahren. Dass unkundige Leute in irgendeiner +Weise ferngehalten wurden, ist wahrscheinlich; doch finden sich keine Spuren +weder von Monopoltendenzen noch von Schutzmitteln gegen schlechte Fabrikation - +freilich sind auch ueber keine Seite des roemischen Volkslebens die Nachrichten +so voellig versiegt wie ueber die Gewerke. +</p> + +<p> +Dass der italische Handel sich in der aeltesten Epoche auf den Verkehr der +Italiker untereinander beschraenkt hat, versteht sich von selbst. Die Messen +(mercatus), die wohl zu unterscheiden sind von den gewoehnlichen Wochenmaerkten +(nundinae), sind in Latium sehr alt. Sie moegen sich zunaechst an die +internationalen Zusammenkuenfte und Feste angereiht, vielleicht also in Rom mit +der Festfeier in dem Bundestempel auf dem Aventin in Verbindung gestanden +haben; die Latiner, die hierzu jedes Jahr am 13. August nach Rom kamen, mochten +diese Gelegenheit zugleich benutzen, um ihre Angelegenheiten in Rom zu +erledigen und ihren Bedarf daselbst einzukaufen. Aehnliche und vielleicht noch +groessere Bedeutung hatte fuer Etrurien die jaehrliche Landesversammlung am +Tempel der Voltumna (vielleicht bei Montefiascone) im Gebiet von Volsinii, +welche zugleich als Messe diente und auch von roemischen Kaufleuten +regelmaessig besucht ward. Aber die bedeutendste unter allen italischen Messen +war die, welche am Soracte im Hain der Feronia abgehalten ward, in einer Lage, +wie sie nicht guenstiger zu finden war fuer den Warentausch unter den drei +grossen Nationen. Der hohe, einzeln stehende Berg, der mitten in die Tiberebene +wie von der Natur selbst den Wanderern zum Ziel hingestellt erscheint, liegt an +der Grenzscheide der etruskischen und sabinischen Landschaft, zu welcher +letzteren er meistens gehoert zu haben scheint, und ist auch von Latium und +Umbrien aus mit Leichtigkeit zu erreichen; regelmaessig erschienen hier die +roemischen Kaufleute, und Verletzungen derselben fuehrten manchen Hader mit den +Sabinern herbei. +</p> + +<p> +Ohne Zweifel handelte und tauschte man auf diesen Messen, lange bevor das erste +griechische oder phoenikische Schiff in die Westsee eingefahren war. Hier +halfen bei vorkommenden Missernten die Landschaften einander mit Getreide aus; +hier tauschte man ferner Vieh, Sklaven, Metalle und was sonst in jenen +aeltesten Zeiten notwendig oder wuenschenswert erschien. Das aelteste +Tauschmittel waren Rinder und Schafe, so dass auf ein Rind zehn Schafe gingen; +sowohl die Feststellung dieser Gegenstaende als gesetzlich allgemein +stellvertretender oder als Geld, als auch der Verhaeltnissatz zwischen Gross- +und Kleinvieh reichen, wie die Wiederkehr von beiden besonders bei den +Deutschen zeigt, nicht bloss in die graecoitalische, sondern noch darueber +hinaus in die Zeit der reinen Herdenwirtschaft zurueck ^7. Daneben kam in +Italien, wo man besonders fuer die Ackerbestellung und die Ruestung allgemein +des Metalls in ansehnlicher Menge bedurfte, nur wenige Landschaften aber selbst +die noetigen Metalle erzeugten, sehr frueh als zweites Tauschmittel das Kupfer +(aes) auf, wie denn den kupferarmen Latinern die Schaetzung selbst die +“Kupferung” (aestimatio) hiess. In dieser Feststellung des Kupfers +als allgemeinen, auf der ganzen Halbinsel gueltigen Aequivalents, sowie in den +spaeter noch genauer zu erwaegenden einfachsten Zahlzeichen italischer +Erfindung und in dem italischen Duodezimalsystem duerften Spuren dieses +aeltesten sich noch selbst ueberlassenen Internationalverkehrs der italischen +Voelker vorliegen. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^7 Der gesetzliche Verhaeltniswert der Schafe und Rinder geht bekanntlich +daraus hervor, dass, als man die Vieh- in Geldbussen umsetzte, das Schaf zu +zehn, das Rind zu hundert Assen angesetzt wurde (Fest. v. peculatus p. 237, +vgl. p. 34, 144; Gell. 11, 1; Plut. Publ. 11). Es ist dieselbe Bestimmung, wenn +nach islaendischem Recht der Kuh zwoelf Widder gleich gelten; nur dass hier, +wie auch sonst, das deutsche Recht dem aelteren dezimalen das Duodezimalsystem +substituiert hat. +</p> + +<p> +Dass die Bezeichnung des Viehs bei den Latinern (pecunia) wie bei den Deutschen +(englisch fee) in die des Geldes uebergeht, ist bekannt. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +In welcher Art der ueberseeische Verkehr auf die unabhaengig gebliebenen +Italiker einwirkte, wurde im allgemeinen schon frueher bezeichnet. Fast ganz +unberuehrt von ihm blieben die sabellischen Staemme, die nur einen geringen und +unwirtlichen Kuestensaum innehatten, und was ihnen von den fremden Nationen +zukam, wie zum Beispiel das Alphabet, nur durch tuskische oder latinische +Vermittlung empfingen; woher denn auch der Mangel staedtischer Entwicklung +ruehrt. Auch Tarents Verkehr mit den Apulern und Messapiern scheint in dieser +Epoche noch gering gewesen zu sein. Anders an der Westkueste, wo in Kampanien +Griechen und Italiker friedlich nebeneinander wohnten, in Latium und mehr noch +in Etrurien ein ausgedehnter und regelmaessiger Warentausch stattfand. Was die +aeltesten Einfuhrartikel waren, laesst sich teils aus den Fundstuecken +schliessen, die uralte, namentlich caeritische Graeber ergeben haben, teils aus +Spuren, die in der Sprache und den Institutionen der Roemer bewahrt sind, teils +und vorzugsweise aus den Anregungen, die das italische Gewerbe empfing; denn +natuerlich kaufte man laengere Zeit die fremden Manufakte, ehe man sie +nachzuahmen begann. Wir koennen zwar nicht bestimmen, wie weit die Entwicklung +der Handwerke vor der Scheidung der Staemme und dann wieder in derjenigen +Periode gediehen ist, wo Italien sich selbst ueberlassen blieb; es mag +dahingestellt werden, inwieweit die italischen Walker, Faerber, Gerber und +Toepfer von Griechenland oder von Phoenikien aus den Anstoss empfangen oder +selbstaendig sich entwickelt haben. Aber sicher kann das Gewerk der +Goldschmiede, das seit unvordenklicher Zeit in Rom bestand, erst aufgekommen +sein, nachdem der ueberseeische Handel begonnen und in einiger Ausdehnung unter +den Bewohnern der Halbinsel Goldschmuck vertrieben hatte. So finden wir denn +auch in den aeltesten Grabkammern von Caere und Vulci in Etrurien und Praeneste +in Latium Goldplatten mit eingestempelten gefluegelten Loewen und aehnlichen +Ornamenten babylonischer Fabrik. Es mag ueber das einzelne Fundstueck +gestritten werden, ob es vom Ausland eingefuehrt oder einheimische Nachahmung +ist; im ganzen leidet es keinen Zweifel, dass die ganze italische Westkueste in +aeltester Zeit Metallwaren aus dem Osten bezogen hat. Es wird sich spaeter, wo +von der Kunstuebung die Rede ist, noch deutlicher zeigen, dass die Architektur +wie die Plastik in Ton und Metall daselbst in sehr frueher Zeit durch +griechischen Einfluss eine maechtige Anregung empfangen haben, das heisst, dass +die aeltesten Werkzeuge und die aeltesten Muster aus Griechenland gekommen +sind. In die eben erwaehnten Grabkammern waren ausser dem Goldschmuck noch mit +eingelegt Gefaesse von blaeulichem Schmelzglas oder gruenlichem Ton, nach +Material und Stil wie nach den eingedrueckten Hieroglyphen zu schliessen, +aegyptischen Ursprungs ^8; Salbgefaesse von orientalischem Alabaster, darunter +mehrere als Isis geformt; Strausseneier mit gemalten oder eingeschnitzten +Sphinxen und Greifen; Glas- und Bernsteinperlen. Die letzten koennen aus dem +Norden auf dem Landweg gekommen sein; die uebrigen Gegenstaende aber beweisen +die Einfuhr von Salben und Schmucksachen aller Art aus dem Orient. Eben daher +kamen Linnen und Purpur, Elfenbein und Weihrauch, was ebenso der fruehe +Gebrauch der linnenen Binden, des purpurnen Koenigsgewandes, des elfenbeinernen +Koenigsszepters und des Weihrauchs beim Opfer beweist wie die uralten Lehnnamen +(λίνον līnum; πορφύρα purpura; σκήπτρον σκίπων scipio, auch wohl ελέφας ebur; +θύος thus). Eben dahin gehoert die Entlehnung einer Anzahl auf Ess- und +Trinkwaren bezueglicher Woerter, namentlich die Benennung des Oels (vgl. 1, +200), der Kruege (αμφορεύς amp[h]ora ampulla; κρατήρ cratera), des Schmausens +(κωμάζω comissari), des Leckergerichts (οψώνιον opsonium), des Teiges (μάζα +massa) und verschiedener Kuchennamen (γλυκούς lucuns; πλακούς placenta; τυρούς +turunda), wogegen umgekehrt die lateinischen Namen der Schuessel (patina +πατάνη) und des Specks (arvina αρβίνη) in das sizilische Griechisch Eingang +gefunden haben. Die spaetere Sitte, den Toten attisches, kerkyraeisches und +kampanisches Luxusgeschirr ins Grab zu stellen, beweist eben wie diese +sprachlichen Zeugnisse den fruehen Vertrieb der griechischen Toepferwaren nach +Italien. Dass die griechische Lederarbeit in Latium wenigstens bei der Armatur +Eingang fand, zeigt die Verwendung des griechischen Wortes fuer Leder (σκύτος) +bei den Latinern fuer den Schild (scutum; wie lorica von lorum). Endlich +gehoeren hierher die zahlreichen aus dem Griechischen entlehnten +Schifferausdruecke, obwohl die Hauptschlagwoerter fuer die Segelschiffahrt: +Segel, Mast und Rahe doch merkwuerdigerweise rein lateinisch gebildet sind ^9; +ferner die griechische Benennung des Briefes (επιστολή epistula), der Marke +(tessera, von τέσσαρα ^10), der Waage (στατήρ statera) und des Aufgeldes +(αρραβών arrabo, arra) im Lateinischen und umgekehrt die Aufnahme italischer +Rechtsausdruecke in das sizilische Griechisch, sowie der nachher zu erwaehnende +Austausch der Muenz-, Mass- und Gewichtsverhaeltnisse und Namen. Namentlich der +barbarische Charakter, den alle diese Entlehnungen an der Stirne tragen, vor +allem die charakteristische Bildung des Nominativs aus dem Akkusativ (placenta += πλακούντα; ampora = αμφορέα; statera = στατήρα), ist der klarste Beweis ihres +hohen Alters. Auch die Verehrung des Handelsgottes (Mercurius) erscheint von +Haus aus durch griechische Vorstellungen bedingt und selbst sein Jahrfest darum +auf die Iden des Mai gelegt zu sein, weil die hellenischen Dichter ihn feierten +als den Sohn der schoenen Maia. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^8 Vor kurzem ist in Praeneste ein silberner Mischkrug mit einer phoenikischen +und einer Hieroglypheninschrift gefunden worden (Mon. Inst. X., Taf. 32), +welcher unmittelbar beweist, dass, was Aegyptisches in Italien zum Vorschein +kommt, durch phoenikische Vermittlung dorthin gelangt ist. +</p> + +<p> +^9 Velum ist sicher latinischen Ursprungs; ebenso malus, zumal da dies nicht +bloss den Mast-, sondern ueberhaupt den Baum bezeichnet; auch antenna kann von +ανά (anhelare, antestari) und tendere = supertensa herkommen. Dagegen sind +griechisch gubernare steuern κυβερνάν, ancora Anker άγκυρα, prora Vorderteil +πρώρα, aplustre Schiffshinterteil άφλαστον, anquina der die Rahen festhaltende +Strick άγκοινα, nausea Seekrankheit ναυσία. Die alten vier Hauptwinde - aquilo +der Adlerwind, die nordoestliche Tramontana; volturnus (unsichere Ableitung, +vielleicht der Geierwind), der Suedost; auster, der ausdoerrende Suedwestwind, +der Scirocco; favonius, der guenstige, vom Tyrrhenischen Meer herwehende +Nordwestwind - haben einheimische nicht auf Schiffahrt bezuegliche Namen; alle +uebrigen lateinischen Windnamen aber sind griechisch (wie eurus, notus) oder +aus griechischen uebersetzt (z. B. solanus = απηλιώτης, Africus = λίψ). +</p> + +<p> +^10 Zunaechst sind die Marken im Lagerdienst gemeint, die ξυλήφια κατά φυλακήν +βραχέα τελέως έχοντα χαρακτήρα (Polyb. 6, 35, 7); die vier vigiliae des +Nachtdienstes haben den Marken ueberhaupt den Namen gegeben. Die Vierteilung +der Nacht fuer den Wachtdienst ist griechisch wie roemisch; die +Kriegswissenschaft der Griechen mag wohl, etwa durch Pyrrhos (Liv. 35, 14), auf +die Organisation des Sicherheitsdienstes im roemischen Lager eingewirkt haben. +Die Verwendung der nicht dorischen Form spricht fuer verhaeltnismaessig spaete +Uebernahme des Wortes. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +Sonach bezog das aelteste Italien so gut wie das kaiserliche Rom seine +Luxuswaren aus dem Osten, bevor es nach den von dort empfangenen Mustern selbst +zu fabrizieren versuchte; zum Austausch aber hatte es nichts zu bieten als +seine Rohprodukte, also vor allen Dingen sein Kupfer, Silber und Eisen, dann +Sklaven und Schiffsbauholz, den Bernstein von der Ostsee und, wenn etwa im +Ausland Missernte eingetreten war, sein Getreide. +</p> + +<p> +Aus diesem Stande des Warenbedarfs und der dagegen anzubietenden Aequivalente +ist schon frueher erklaert worden, warum sich der italische Handel in Latium +und in Etrurien so verschiedenartig gestaltete. Die Latiner, denen alle +hauptsaechlichen Ausfuhrartikel mangelten, konnten nur einen Passivhandel +fuehren und mussten schon in aeltester Zeit das Kupfer, dessen sie notwendig +bedurften, von den Etruskern gegen Vieh oder Sklaven eintauschen, wie denn der +uralte Vertrieb der letzteren auf das rechte Tiberufer schon erwaehnt ward; +dagegen musste die tuskische Handelsbilanz in Caere wie in Populonia, in Capua +wie in Spina sich notwendig guenstig stellen. Daher der schnell entwickelte +Wohlstand dieser Gegenden und ihre maechtige Handelsstellung, waehrend Latium +vorwiegend eine ackerbauende Landschaft bleibt. Es wiederholt sich dies in +allen einzelnen Beziehungen: die aeltesten nach griechischer Art, nur mit +ungriechischer Verschwendung gebauten und ausgestatteten Graeber finden sich in +Caere, waehrend mit Ausnahme von Praeneste, das eine Sonderstellung gehabt zu +haben und mit Falerii und dem suedlichen Etrurien in besonders enger Verbindung +gewesen zu sein scheint, die latinische Landschaft nur geringen Totenschmuck +auslaendischer Herkunft und kein einziges eigentliches Luxusgrab aus aelterer +Zeit aufweist, vielmehr hier wie bei den Sabellern in der Regel ein einfacher +Rasen die Leiche deckte. Die aeltesten Muenzen, den grossgriechischen der Zeit +nach wenig nachstehend, gehoeren Etrurien, namentlich Populonia an; Latium hat +in der ganzen Koenigszeit mit Kupfer nach dem Gewicht sich beholfen und selbst +die fremden Muenzen nicht eingefuehrt, denn nur aeusserst selten haben +dergleichen, wie zum Beispiel eine von Poseidonia, dort sich gefunden. In +Architektur, Plastik und Toreutik wirkten dieselben Anregungen auf Etrurien und +auf Latium, aber nur dort kommt ihnen ueberall das Kapital entgegen und erzeugt +ausgedehnten Betrieb und gesteigerte Technik. Es waren wohl im ganzen dieselben +Waren, die man in Latium und Etrurien kaufte, verkaufte und fabrizierte; aber +in der Intensitaet des Verkehrs stand die suedliche Landschaft weit zurueck +hinter den noerdlichen Nachbarn. Eben damit haengt es zusammen, dass die nach +griechischem Muster in Etrurien angefertigten Luxuswaren auch in Latium, +namentlich in Praeneste, ja in Griechenland selbst Absatz fanden, waehrend +Latium schwerlich jemals dergleichen ausgefuehrt hat. +</p> + +<p> +Ein nicht minder bemerkenswerter Unterschied des Verkehrs der Latiner und +Etrusker liegt in dem verschiedenen Handelszug. Ueber den aeltesten Handel der +Etrusker im Adriatischen Meere koennen wir kaum etwas aussprechen als die +Vermutung, dass er von Spina und Hatria vorzugsweise nach Kerkyra gegangen ist. +Dass die westlichen Etrusker sich dreist in die oestlichen Meere wagten und +nicht bloss mit Sizilien, sondern auch mit dem eigentlichen Griechenland +verkehrten, ward schon gesagt. Auf alten Verkehr mit Attika deuten nicht bloss +die attischen Tongefaesse, die in den juengeren etruskischen Graebern so +zahlreich vorkommen und zu anderen Zwecken als zum Graeberschmuck, wie bemerkt, +wohl schon in dieser Epoche eingefuehrt worden sind, waehrend umgekehrt die +tyrrhenischen Erzleuchter und Goldschalen frueh in Attika ein gesuchter Artikel +wurden, sondern bestimmter noch die Muenzen. Die Silberstuecke von Populonia +sind nachgepraegt einem uralten, einerseits mit dem Gorgoneion gestempelten, +anderseits bloss mit einem eingeschlagenen Quadrat versehenen Silberstueck, das +sich in Athen und an der alten Bernsteinstrasse in der Gegend von Posen +gefunden hat und das hoechst wahrscheinlich eben die in Athen auf Solons +Geheiss geschlagene Muenze ist. Dass ausserdem, und seit der Entwicklung der +karthagisch-etruskischen Seeallianz vielleicht vorzugsweise, die Etrusker mit +den Karthagern verkehrten, ward gleichfalls schon erwaehnt; es ist +beachtenswert, dass in den aeltesten Graebern von Caere ausser einheimischem +Bronze- und Silbergeraet vorwiegend orientalische Waren sich gefunden haben, +welche allerdings auch von griechischen Kaufleuten herruehren koennen, +wahrscheinlicher aber doch von phoenikischen Handelsmaennern eingefuehrt +wurden. Indes darf diesem phoenikischen Verkehr nicht zu viel Bedeutung +beigelegt und namentlich nicht uebersehen werden, dass das Alphabet wie alle +sonstigen Anregungen und Befruchtungen der einheimischen Kultur von den +Griechen, nicht von den Phoenikern nach Etrurien gebracht sind. +</p> + +<p> +Nach einer anderen Richtung weist der latinische Verkehr. So selten wir auch +Gelegenheit haben, Vergleichungen der roemischen und der etruskischen Aufnahme +hellenischer Elemente anzustellen, so zeigen sie doch, wo sie moeglich sind, +eine vollstaendige Unabhaengigkeit beider Voelkerschaften voneinander. Am +deutlichsten tritt dies hervor im Alphabet: das von den chalkidisch-dorischen +Kolonien in Sizilien oder Kampanien den Etruskern zugebrachte griechische +weicht nicht unwesentlich ab von dem den Latinern ebendaher mitgeteilten, und +beide Voelker haben also hier zwar aus derselben Quelle, aber doch jedes zu +anderer Zeit und an einem anderen Ort geschoepft. Auch in einzelnen Woertern +wiederholt sich dieselbe Erscheinung: der roemische Pollux, der tuskische +Pultuke sind jedes eine selbstaendige Korruption des griechischen Polydeukes; +der tuskische Utuze oder Uthuze ist aus Odysseus gebildet, der roemische Ulixes +gibt genau die in Sizilien uebliche Namensform wieder; ebenso entspricht der +tuskische Aivas der altgriechischen Form dieses Namens, der roemische Aiax +einer wohl auch sikelischen Nebenform; der roemische Aperta oder Apello, der +samnitische Appellun sind entstanden aus dem dorischen Apellon, der tuskische +Apulu a us Apollon. So deuten Sprache und Schrift Latiums ausschliesslich auf +den Zug des latinischen Handels zu den Kymaeern und Sikelioten; und eben dahin +fuehrt jede andere Spur, die aus so ferner Zeit uns geblieben ist: die in +Latium gefundene Muenze von Poseidonia; der Getreidekauf bei Missernten in Rom +bei den Volskern, Kymaeern und Sikelioten, daneben freilich auch wie +begreiflich bei den Etruskern; vor allen Dingen aber das Verhaeltnis des +latinischen Geldwesens zu dem sizilischen. Wie die lokale dorisch-chalkidische +Bezeichnung der Silbermuenze νόμος, das sizilische Mass ημίνα als nummus und +hemina in gleicher Bedeutung nach Latium uebergingen, so waren umgekehrt die +italischen Gewichtsbezeichnungen libra, triens, quadrans, sextans, uncia, die +zur Abmessung des nach dem Gewichte an Geldes Statt dienenden Kupfers in Latium +aufgekommen sind, in den korrupten und hybriden Formen λίτρα, τριάς, τετράς, +εζάς, ουγκία schon im dritten Jahrhundert der Stadt in Sizilien in den gemeinen +Sprachgebrauch eingedrungen. Ja es ist sogar das sizilische Gewicht- und +Geldsystem allein unter allen griechischen zu dem italischen Kupfersystem in +ein festes Verhaeltnis gesetzt worden, indem nicht bloss dem Silber der +zweihundertfuenfzigfache Wert des Kupfers konventionell und vielleicht +gesetzlich beigelegt, sondern auch das hiernach bemessene Aequivalent eines +sizilischen Pfundes Kupfer (1/120 des attischen Talents, 1/3 des roemischen +Pfundes) als Silbermuenze (λίτρα αργυρίου, das ist “Kupferpfund in +Silber”) schon in fruehester Zeit namentlich in Syrakus geschlagen ward. +Es kann danach nicht bezweifelt werden, dass die italischen Kupferbarren auch +in Sizilien an Geldes Statt umliefen; und es stimmt dies auf das beste damit +zusammen, dass der Handel der Latiner nach Sizilien ein Passivhandel war und +also das latinische Geld nach Sizilien abfloss. Noch andere Beweise des alten +Verkehrs zwischen Sizilien und Italien, namentlich die Aufnahme der italischen +Benennungen des Handelsdarlehens, des Gefaengnisses, der Schuessel in den +sizilischen Dialekt und umgekehrt, sind bereits frueher erwaehnt worden. Auch +von dem alten Verkehr der Latiner mit den chalkidischen Staedten in +Unteritalien, Kyme und Neapolis, und mit den Phokaeern in Elea und Massalia +begegnen einzelne, wenn auch minder bestimmte Spuren. Dass er indes bei weitem +weniger intensiv war als der mit den Sikelioten, beweist schon die bekannte +Tatsache, dass alle in aelterer Zeit nach Latium gelangten griechischen Woerter +- es genuegt an Aesculapius, Latona, Aperta, machina zu erinnern - dorische +Formen zeigen. Wenn der Verkehr mit den urspruenglich ionischen Staedten, wie +Kyme und die phokaeischen Ansiedlungen waren, dem mit den sikelischen Dorern +auch nur gleichgestanden haette, so wuerden ionische Formen wenigstens daneben +erscheinen; obwohl allerdings auch in diese ionischen Kolonien selbst der +Dorismus frueh eingedrungen ist und der Dialekt hier sehr geschwankt hat. +Waehrend also alles sich vereinigt, um den regen Handel der Latiner mit den +Griechen der Westsee ueberhaupt und vor allem mit den sizilischen zu belegen, +hat mit den asiatischen Phoenikern schwerlich ein unmittelbarer Verkehr +stattgefunden und kann der Verkehr mit den afrikanischen, den Schriftstellen +und Fundstuecke hinreichend belegen, in seiner Einwirkung auf den Kulturstand +Latiums doch nur in zweiter Reihe gestanden haben; namentlich ist dafuer +beweisend, dass - von einigen Lokalnamen abgesehen - es fuer den alten Verkehr +der Latiner mit den Voelkerschaften aramaeischer Zunge an jedem sprachlichen +Zeugnis gebricht ^11. +</p> + +<p> +————————————————————————————— +</p> + +<p> +^11 Das Latein scheint, abgesehen von Sarranus, Afer und anderen oertlichen +Benennungen, nicht ein einziges, in aelterer Zeit unmittelbar aus dem +Phoenikischen entlehntes Wort zu besitzen. Die sehr wenigen in demselben +vorkommenden, wurzelhaft phoenikischen Woerter, wie namentlich arrabo oder arra +und etwa noch murra, nardus und dergleichen mehr, sind offenbar zunaechst +Lehnwoerter aus dem Griechischen, das in solchen orientalischen Lehnwoertern +eine ziemliche Anzahl von Zeugnissen seines aeltesten Verkehrs mit den +Aramaeern aufzuweisen hat. Dass ελέφας und ebur von dem gleichen phoenikischen +Original mit oder ohne Hinzufuegung des Artikels, also jedes selbstaendig +gebildet seien, ist sprachlich unmoeglich, da der phoenikische Artikel vielmehr +ha ist, auch so nicht verwendet wird; ueberdies ist das orientalische Urwort +bis jetzt noch nicht gefunden. Dasselbe gilt von dem raetselhaften Worte +thesaurus; mag dasselbe nun urspruenglich griechisch oder von den Griechen aus +dem Phoenikischen oder Persischen entlehnt sein, im Lateinischen ist es, wie +schon die Festhaltung der Aspiration beweist, auf jeden Fall griechisches +Lehnwort. +</p> + +<p> +————————————————————————————— +</p> + +<p> +Fragen wir weiter, wie dieser Handel vorzugsweise gefuehrt ward, ob von +italischen Kaufleuten in der Fremde oder von fremden Kaufleuten in Italien, so +hat, wenigstens was Latium anlangt, die erstere Annahme alle Wahrscheinlichkeit +fuer sich: es ist kaum denkbar, dass jene latinischen Bezeichnungen des +Geldsurrogats und des Handelsdarlehens in den gemeinen Sprachgebrauch der +Bewohner der sizilischen Insel dadurch haetten eindringen koennen, dass +sizilische Kaufleute nach Ostia gingen und Kupfer gegen Schmuck einhandelten. +</p> + +<p> +Was endlich die Personen und Staende anlangt, durch die dieser Handel in +Italien gefuehrt ward, so hat sich in Rom kein eigener, dem Gutsbesitzerstand +selbstaendig gegenueberstehender hoeherer Kaufmannsstand entwickelt. Der Grund +dieser auffallenden Erscheinung ist, dass der Grosshandel von Latium von Anfang +an sich in den Haenden der grossen Grundbesitzer befunden hat - eine Annahme, +die nicht so seltsam ist, wie sie scheint. Dass in einer von mehreren +schiffbaren Fluessen durchschnittenen Landschaft der grosse Grundbesitzer, der +von seinen Paechtern in Fruchtquoten bezahlt wird, frueh zu dem Besitz von +Barken gelangte, ist natuerlich und beglaubigt; der ueberseeische Eigenhandel +musste also um so mehr dem Gutsbesitzer zufallen, als er allein die Schiffe und +in den Fruechten die Ausfuhrartikel besass. In der Tat ist der Gegensatz +zwischen Land- und Geldaristokratie den Roemern der aelteren Zeit nicht +bekannt; die grossen Grundbesitzer sind immer zugleich die Spekulanten und die +Kapitalisten. Bei einem sehr intensiven Handel waere allerdings diese +Vereinigung nicht durchzufuehren gewesen; allein wie die bisherige Darstellung +zeigt, fand ein solcher in Rom wohl relativ statt, insofern der Handel der +latinischen Landschaft sich hier konzentrierte, allein im wesentlichen ward Rom +keineswegs eine Handelsstadt wie Caere oder Tarent, sondern war und blieb der +Mittelpunkt einer ackerbauenden Gemeinde. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap14"></a>KAPITEL XIV.<br/> +Mass und Schrift</h2> + +<p> +Die Kunst des Messens unterwirft dem Menschen die Welt; durch die Kunst des +Schreibens hoert seine Erkenntnis auf, so vergaenglich zu sein, wie er selbst +ist; sie beide geben dem Menschen, was die Natur ihm versagte, Allmacht und +Ewigkeit. Es ist der Geschichte Recht und Pflicht, den Voelkern auch auf diesen +Bahnen zu folgen. +</p> + +<p> +Um messen zu koennen, muessen vor allen Dingen die Begriffe der zeitlichen, +raeumlichen und Gewichtseinheit und des aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen, +das heisst die Zahl und das Zahlensystem entwickelt werden. Dazu bietet die +Natur als naechste Anhaltspunkte fuer die Zeit die Wiederkehr der Sonne und des +Mondes oder Tag und Monat, fuer den Raum die Laenge des Mannesfusses, der +leichter misst als der Arm, fuer die Schwere diejenige Last, welche der Mann +mit ausgestrecktem Arm schwebend auf der Hand zu wiegen (librare) vermag oder +das “Gewicht” (libra). Als Anhalt fuer die Vorstellung eines aus +gleichen Teilen bestehenden Ganzen liegt nichts so nahe als die Hand mit ihren +fuenf oder die Haende mit ihren zehn Fingern, und hierauf beruht das +Dezimalsystem. Es ist schon bemerkt worden, dass diese Elemente alles Zaehlens +und Messens nicht bloss ueber die Trennung des griechischen und lateinischen +Stammes, sondern bis in die fernste Urzeit zurueckreichen. Wie alt namentlich +die Messung der Zeit nach dem Monde ist, beweist die Sprache; selbst die Weise, +die zwischen den einzelnen Mondphasen verfliessenden Tage nicht von der zuletzt +eingetretenen vorwaerts, sondern von der zunaechst zu erwartenden rueckwaerts +zu zaehlen, ist wenigstens aelter als die Trennung der Griechen und Lateiner. +Das bestimmteste Zeugnis fuer das Alter und die urspruengliche +Ausschliesslichkeit des Dezimalsystems bei den Indogermanen gewaehrt die +bekannte Uebereinstimmung aller indogermanischen Sprachen in den Zahlwoertern +bis hundert einschliesslich. Was Italien anlangt, so sind hier alle aeltesten +Verhaeltnisse vom Dezimalsystem durchdrungen: es genuegt, an die so +gewoehnliche Zehnzahl der Zeugen, Buergen, Gesandten, Magistrate, an die +gesetzliche Gleichsetzung von einem Rind und zehn Schafen, an die Teilung des +Gaues in zehn Kurien und ueberhaupt die durchstehende Dekuriierung, an die +Limitation, den Opfer- und Ackerzehnten, das Dezimieren, den Vornamen Decimus +zu erinnern. Dem Gebiet von Mass und Schrift angehoerige Anwendungen dieses +aeltesten Dezimalsystems sind zunaechst die merkwuerdigen italischen Ziffern. +Konventionelle Zahlzeichen hat es noch bei der Scheidung der Griechen und +Italiker offenbar nicht gegeben. Dagegen finden wir fuer die drei aeltesten und +unentbehrlichsten Ziffern, fuer ein, fuenf, zehn, drei Zeichen, I, V oder A, X, +offenbar Nachbildungen des ausgestreckten Fingers, der offenen und der +Doppelhand, welche weder den Hellenen noch den Phoenikern entlehnt, dagegen den +Roemern, Sabellern und Etruskern gemeinschaftlich sind. Es sind die Ansaetze +zur Bildung einer national italischen Schrift und zugleich Zeugnisse von der +Regsamkeit des aeltesten, dem ueberseeischen voraufgehenden binnenlaendischen +Verkehrs der Italiker; welcher aber der italischen Staemme diese Zeichen +erfunden und wer von wem sie entlehnt hat, ist natuerlich nicht auszumachen. +Andere Spuren des rein dezimalen Systems sind auf diesem Gebiet sparsam; es +gehoeren dahin der Vorsus, das Flaechenmass der Sabeller von 100 Fuss ins +Gevierte und das roemische zehnmonatliche Jahr. Sonst ist im allgemeinen in +denjenigen italischen Massen, die nicht an griechische Festsetzungen anknuepfen +und wahrscheinlich von den Italikern vor Beruehrung mit den Griechen entwickelt +worden sind, die Teilung des “Ganzen” (as) in zwoelf +“Einheiten” (unciae) vorherrschend. Nach der Zwoelfzahl sind eben +die aeltesten latinischen Priesterschaften, die Kollegien der Salier und +Arvalen sowie auch die etruskischen Staedtebuende geordnet. Die Zwoelfzahl +herrscht im roemischen Gewichtsystem, wo das Pfund (libra), und im Laengenmass, +wo der Fuss (pes) in zwoelf Teile zerlegt zu werden pflegen; die Einheit des +roemischen Flaechenmasses ist der aus dem Dezimal- und Duodezimalsystem +zusammengesetzte “Trieb” (actus) von 120 Fuss ins Gevierte ^1. Im +Koerpermass moegen aehnliche Bestimmungen verschollen sein. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +^1 Urspruenglich sind sowohl “actus” Trieb, wie auch das noch +haeufiger vorkommende Doppelte davon, “iugerum”, Joch, wie unser +“Morgen” nicht Flaechen-, sondern Arbeitsmasse und bezeichnen +dieser das Tage-, jener das halbe Tagewerk, mit Ruecksicht auf die namentlich +in Italien scharf einschneidende Mittagsruhe des Pfluegers. +</p> + +<p> +—————————————————————— +</p> + +<p> +Wenn man erwaegt, worauf das Duodezimalsystem beruhen, wie es gekommen sein +mag, dass aus der gleichen Reihe der Zahlen so frueh und allgemein neben der +Zehn die Zwoelf hervorgetreten ist, so wird die Veranlassung wohl nur gefunden +werden koennen in der Vergleichung des Sonnen- und Mondlaufs. Mehr noch als an +der Doppelhand von zehn Fingern ist an dem Sonnenkreislauf von ungefaehr zwoelf +Mondkreislaeufen zuerst dem Menschen die tiefsinnige Vorstellung einer aus +gleichen Einheiten zusammengesetzten Einheit aufgegangen und damit der Begriff +eines Zahlensystems, der erste Ansatz mathematischen Denkens. Die feste +duodezimale Entwicklung dieses Gedankens scheint national italisch zu sein und +vor die erste Beruehrung mit den Hellenen zu fallen. +</p> + +<p> +Als nun aber der hellenische Handelsmann sich den Weg an die italische +Westkueste eroeffnet hatte, empfanden zwar nicht das Flaechen-, aber wohl das +Laengenmass, das Gewicht und vor allem das Koerpermass, das heisst diejenigen +Bestimmungen, ohne welche Handel und Wandel unmoeglich ist, die Folgen des +neuen internationalen Verkehrs. Der aelteste roemische Fuss ist verschollen; +der, den wir kennen und der in fruehester Zeit bei den Roemern in Gebrauch war, +ist aus Griechenland entlehnt und wurde neben seiner neuen roemischen +Einteilung in Zwoelftel auch nach griechischer Art in vier Hand- (palmus) und +sechzehn Fingerbreiten (digitus) geteilt. Ferner wurde das roemische Gewicht in +ein festes Verhaeltnis zu dem attischen gesetzt, welches in ganz Sizilien +herrschte, nicht aber in Kyme - wieder ein bedeutsamer Beweis, dass der +latinische Verkehr vorzugsweise nach der Insel sich zog; vier roemische Pfund +wurden gleich drei attischen Minen oder vielmehr das roemische Pfund gleich +anderthalb sizilischen Litren oder Halbminen gesetzt. Das seltsamste und +buntscheckigste Bild aber bieten die roemischen Koerpermasse teils in den +Namen, die aus den griechischen entweder durch Verderbnis (amphora, modius nach +μέδιμνος congius aus χοεύς, hemina, cyathus) oder durch Uebersetzung +(acetabulum von οξύβαφον) entstanden sind, waehrend umgekehrt ξέστης Korruption +von sextarius ist; teils in den Verhaeltnissen. Nicht alle, aber die +gewoehnlichen Masse sind identisch: fuer Fluessigkeiten der Congius oder Chus, +der Sextarius, der Cyathus, die beiden letzteren auch fuer trockene Waren, die +roemische Amphora ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und +steht zugleich im festen Verhaeltnisse zu dem griechischen Metretes von 3 : 2, +zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1. Fuer den, der solche Schrift zu lesen +versteht, steht in diesen Namen und Zahlen die ganze Regsamkeit und Bedeutung +jenes sizilisch-latinischen Verkehrs geschrieben. +</p> + +<p> +Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht auf; wohl aber benutzte der Roemer +das griechische Alphabet, als ihm dies zukam, um aus den ihm unnuetzen Zeichen +der drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50 und 1000, vielleicht auch die Ziffer +100 zu gestalten. In Etrurien scheint man auf aehnlichem Wege wenigstens das +Zeichen fuer 100 gewonnen zu haben. Spaeter setzte sich wie gewoehnlich das +Ziffersystem der beiden benachbarten Voelker ins gleiche, indem das roemische +im wesentlichen in Etrurien angenommen ward. +</p> + +<p> +In gleicher Weise ist der roemische und wahrscheinlich ueberhaupt der italische +Kalender, nachdem er sich selbstaendig zu entwickeln begonnen hatte, spaeter +unter griechischen Einfluss gekommen. In der Zeiteinteilung draengt sich die +Wiederkehr des Sonnenauf- und -unterganges und des Neu- und Vollmondes am +unmittelbarsten dem Menschen auf; demnach haben Tag und Monat, nicht nach +zyklischer Vorberechnung, sondern nach unmittelbarer Beobachtung bestimmt, +lange Zeit ausschliesslich die Zeit gemessen. Sonnenauf- und -untergang wurden +auf dem roemischen Markte durch den oeffentlichen Ausrufer bis in spaete Zeit +hinab verkuendigt, aehnlich vermutlich einstmals an jedem der vier +Mondphasentage die von da bis zum naechstfolgenden verfliessende Tagzahl durch +die Priester abgerufen. Man rechnete also in Latium und vermutlich aehnlich +nicht bloss bei den Sabellern, sondern auch bei den Etruskern nach Tagen, +welche, wie schon gesagt, nicht von dem letztverflossenen Phasentag vorwaerts, +sondern von dem naechsterwarteten rueckwaerts gezaehlt wurden; nach Mondwochen, +die bei der mittleren Dauer von 7⅜ Tagen zwischen sieben- und achttaegiger +Dauer wechselten; und nach Mondmonaten, die gleichfalls bei der mittleren Dauer +des synodischen Monats von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten bald neunundzwanzig-, +bald dreissigtaegig waren. Eine gewisse Zeit hindurch ist den Italikern der Tag +die kleinste, der Mond die groesste Zeiteinteilung geblieben. Erst spaeterhin +begann man Tag und Nacht in je vier Teile zu zerlegen, noch viel spaeter der +Stundenteilung sich zu bedienen; damit haengt auch zusammen, dass in der +Bestimmung des Tagesanfangs selbst die sonst naechstverwandten Staemme +auseinandergehen, die Roemer denselben auf die Mitternacht, die Sabeller und +die Etrusker auf den Mittag setzen. Auch das Jahr ist, wenigstens als die +Griechen von den Italikern sich schieden, noch nicht kalendarisch geordnet +gewesen, da die Benennungen des Jahres und der Jahresteile bei den Griechen und +den Italikern voellig selbstaendig gebildet sind. Doch scheinen die Italiker +schon in der vorhellenischen Zeit wenn nicht zu einer festen kalendarischen +Ordnung, doch zur Aufstellung sogar einer doppelten groesseren Zeiteinheit +fortgeschritten zu sein. Die bei den Roemern uebliche Vereinfachung der +Rechnung nach Mondmonaten durch Anwendung des Dezimalsystems, die Bezeichnung +einer Frist von zehn Monaten als eines “Ringes” (annus) oder eines +Jahrganzen traegt alle Spuren des hoechsten Altertums an sich. Spaeter, aber +auch noch in einer sehr fruehen und unzweifelhaft ebenfalls jenseits der +griechischen Einwirkung liegenden Zeit ist, wie schon gesagt wurde, das +Duodezimalsystem in Italien entwickelt und, da es eben aus der Beobachtung des +Sonnenlaufs als des Zwoelffachen des Mondlaufs hervorgegangen ist, sicher +zuerst und zunaechst auf die Zeitrechnung bezogen worden; damit wird es +zusammenhaengen, dass in den Individualnamen der Monate - welche erst +entstanden sein koennen, seit der Monat als Teil eines Sonnenjahres aufgefasst +wurde -, namentlich in den Namen des Maerz und des Mai, nicht Italiker und +Griechen, aber wohl die Italiker unter sich uebereinstimmen. Es mag also das +Problem, einen zugleich dem Mond und der Sonne entsprechenden praktischen +Kalender herzustellen - diese in gewissem Sinne der Quadratur des Zirkels +vergleichbare Aufgabe, die als unloesbar zu erkennen und zu beseitigen es +vieler Jahrhunderte bedurft hat -, in Italien bereits vor der Epoche, wo die +Beruehrungen mit den Griechen begannen, die Gemueter beschaeftigt haben; indes +diese rein nationalen Loesungsversuche sind verschollen. Was wir von dem +aeltesten Kalender Roms und einiger andern latinischen Staedte wissen - ueber +die sabellische und etruskische Zeitmessung ist ueberall nichts ueberliefert -, +beruht entschieden auf der aeltesten griechischen Jahresordnung, die der +Absicht nach zugleich den Phasen des Mondes und den Sonnenfahrzeiten folgte und +aufgebaut war auf der Annahme eines Mondumlaufs von 29½ Tagen, eines +Sonnenumlaufs von 12½ Mondmonaten oder 368¾ Tagen und dem stetigen Wechsel der +vollen oder dreissigtaegigen und der hohlen oder neunundzwanzigtaegigen Monate +sowie der zwoelf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, daneben aber durch +willkuerliche Aus- und Einschaltungen in einiger Harmonie mit den wirklichen +Himmelserscheinungen gehalten ward. Es ist moeglich, dass diese griechische +Jahrordnung zunaechst unveraendert bei den Latinern in Gebrauch gekommen ist; +die aelteste roemische Jahrform aber, die sich geschichtlich erkennen laesst, +weicht zwar nicht im zyklischen Ergebnis und ebenso wenig in dem Wechsel der +zwoelf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, wohl aber wesentlich in der +Benennung wie in der Abmessung der einzelnen Monate von ihrem Muster ab. Dies +roemische Jahr beginnt mit Fruehlingsanfang; der erste Monat desselben und der +einzige, der von einem Gott den Namen traegt, heisst nach dem Mars (Martius), +die drei folgenden vom Sprossen (aprilis), Wachsen (maius) und Gedeihen +(iunius), der fuenfte bis zehnte von ihren Ordnungszahlen (quinctilis, +sextilis, september, october, november, december), der elfte vom Anfangen +(ianuarius, 1, 178), wobei vermutlich an den nach dem Mittwinter und der +Arbeitsruhe folgenden Wiederbeginn der Ackerbestellung gedacht ist, der +zwoelfte und im gewoehnlichen Jahr der letzte vom Reinigen (februarius). Zu +dieser im stetigen Kreislauf wiederkehrenden Reihe tritt im Schaltjahr noch ein +namenloser “Arbeitsmonat” (mercedonius) am Jahresschluss, also +hinter dem Februar hinzu. Ebenso wie in den wahrscheinlich aus dem +altnationalen heruebergenommenen Namen der Monate ist der roemische Kalender in +der Dauer derselben selbstaendig: fuer die vier aus je sechs dreissig- und +sechs neunundzwanzigtaegigen Monaten und einem jedes zweite Jahr eintretenden, +abwechselnd dreissig- und neunundzwanzigtaegigen Schaltmonat zusammengesetzten +Jahre des griechischen Zyklus (354 + 384 + 354 + 383 = 1475 Tage) sind in ihm +gesetzt worden vier Jahre von je vier - dem ersten, dritten, fuenften und +achten - einunddreissig- und je sieben neunundzwanzigtaegigen Monaten, ferner +einem in drei Jahren acht-, in dem vierten neunundzwanzigtaegigen Februar und +einem jedes andere Jahr eingelegten siebenundzwanzigtaegigen Schaltmonat (355 + +383 + 355 + 382 = 1475 Tage). Ebenso ging dieser Kalender ab von der +urspruenglichen Einteilung des Monats in vier, bald sieben-, bald achttaegige +Wochen; er liess die achttaegige Woche ohne Ruecksicht auf die sonstigen +Kalenderverhaeltnisse durch die Jahre laufen, wie unsere Sonntage es tun, und +setzte auf deren Anfangstage (noundinae) den Wochenmarkt. Er setzte daneben ein +fuer allemal das erste Viertel in den einunddreissigtaegigen Monaten auf den +siebenten, in den neunundzwanzigtaegigen auf den fuenften, Vollmond in jenen +auf den fuenfzehnten, in diesen auf den dreizehnten Tag. Bei dem also fest +geordneten Verlauf der Monate brauchte von jetzt ab allein die Zahl der +zwischen dem Neumond und dem ersten Viertel liegenden Tage angekuendigt zu +werden; davon empfing der Tag des Neumonds den Namen des Rufetages (kalendae). +Der Anfangstag des zweiten, immer achttaegigen Zeitabschnitts des Monats wurde +- der roemischen Sitte gemaess, den Zieltag der Frist mit in dieselbe +einzuzaehlen - bezeichnet als Neuntag (nonae). Der Tag des Vollmonds behielt +den alten Namen idus (vielleicht Scheidetag). Das dieser seltsamen +Neugestaltung des Kalenders zu Grunde liegende Motiv scheint hauptsaechlich der +Glaube an die heilbringende Kraft der ungeraden Zahl gewesen zu sein ^2, und +wenn er im allgemeinen an die aelteste griechische Jahrform sich anlehnt, so +tritt in seinen Abweichungen von dieser bestimmt der Einfluss der damals in +Unteritalien uebermaechtigen, namentlich in Zahlenmystik sich bewegenden Lehren +des Pythagoras hervor. Die Folge aber war, dass dieser roemische Kalender, so +deutlich er auch die Spur an sich traegt, sowohl mit dem Mond- wie mit dem +Sonnenlauf harmonieren zu wollen, doch in der Tat mit dem Mondlauf keineswegs +so uebereinkam, wie wenigstens im ganzen sein griechisches Vorbild, den +Sonnenfahrzeiten aber, eben wie der aelteste griechische, nicht anders als +mittels haeufiger willkuerlicher Ausschaltungen folgen konnte, und da man den +Kalender schwerlich mit groesserem Verstande gehandhabt als eingerichtet hat, +hoechst wahrscheinlich nur sehr unvollkommen folgte. Auch liegt in der +Festhaltung der Rechnung nach Monaten oder, was dasselbe ist, nach +zehnmonatlichen Jahren ein stummes, aber nicht misszuverstehendes +Eingestaendnis der Unregelmaessigkeit und Unzuverlaessigkeit des aeltesten +roemischen Sonnenjahres. Seinem wesentlichen Schema nach wird dieser roemische +Kalender mindestens als allgemein latinisch angesehen werden koennen. Bei der +allgemeinen Wandelbarkeit des Jahresanfangs und der Monatsnamen sind kleinere +Abweichungen in der Bezifferung und den Benennungen mit der Annahme einer +gemeinschaftlichen Grundlage wohl vereinbar; ebenso konnten bei jenem +Kalenderschema, das tatsaechlich von dem Mondumlauf absieht, die Latiner leicht +zu ihren willkuerlichen, etwa nach Jahrfesten abgegrenzten Monatlaengen kommen, +wie denn beispielsweise in den albanischen die Monate zwischen 16 und 36 Tagen +schwanken. Wahrscheinlich also ist die griechische Trieteris von Unteritalien +aus fruehzeitig wenigstens nach Latium, vielleicht auch zu anderen italischen +Staemmen gelangt und hat dann in den einzelnen Stadtkalendern weitere +untergeordnete Umgestaltungen erfahren. +</p> + +<p> +———————————————————— +</p> + +<p> +^2 Aus derselben Ursache sind saemtliche Festtage ungerade, sowohl die in jedem +Monat wiederkehrenden (kalendae am 1., nonae am 5. oder 7., idus am 13. oder +15.) als auch, mit nur zwei Ausnahmen, die Tage der oben erwaehnten 45 +Jahresfeste. Dies geht so weit, dass bei mehrtaegigen Festen dazwischen die +geraden Tage ausfallen, also z. B. das der Carmentis am 11., 15. Januar, das +Hainfest am 19., 21. Juli, die Gespensterfeier am 9., 11., 13. Mai begangen +wird. +</p> + +<p> +————————————————————- +</p> + +<p> +Zur Messung mehrjaehriger Zeitraeume konnte man sich der Regierungsjahre der +Koenige bedienen; doch ist es zweifelhaft, ob diese dem Orient gelaeufige +Datierung in Griechenland und Italien in aeltester Zeit vorgekommen ist. +Dagegen scheint an die vierjaehrige Schaltperiode und die damit verbundene +Schatzung und Suehnung der Gemeinde eine der griechischen Olympiadenzaehlung +der Anlage nach gleiche Zaehlung der Lustren angeknuepft zu haben, die indes +infolge der bald in der Abhaltung der Schatzungen einreissenden +Unregelmaessigkeit ihre chronologische Bedeutung frueh wieder eingebuesst hat. +</p> + +<p> +Juenger als die Messkunst ist die Kunst der Lautschrift. Die Italiker haben +sowenig wie die Hellenen von sich aus eine solche entwickelt, obwohl in den +italischen Zahlzeichen, etwa auch in dem uralt italischen und nicht aus +hellenischem Einfluss hervorgegangenen Gebrauch des Losziehens mit +Holztaefelchen, die Ansaetze zu einer solchen Entwicklung gefunden werden +koennen. Wie schwierig die erste Individualisierung der in so mannigfaltigen +Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muss, beweist am besten die +Tatsache, dass fuer die gesamte aramaeische, indische, griechisch-roemische und +heutige Zivilisation ein einziges, von Volk zu Volk und von Geschlecht zu +Geschlecht fortgepflanztes Alphabet ausgereicht hat und heute noch ausreicht; +und auch dieses bedeutsame Erzeugnis des Menschengeistes ist gemeinsame +Schoepfung der Aramaeer und der Indogermanen. Der semitische Sprachstamm, in +dem der Vokal untergeordneter Natur ist und nie ein Wort beginnen kann, +erleichtert eben deshalb die Individualisierung des Konsonanten; weshalb denn +auch hier das erste, der Vokale aber noch entbehrende Alphabet erfunden worden +ist. Erst die Inder und die Griechen haben, jedes Volk selbstaendig und in +hoechst abweichender Weise, aus der durch den Handel ihnen zugefuehrten +aramaeischen Konsonantenschrift das vollstaendige Alphabet erschaffen durch +Hinzufuegung der Vokale, welche erfolgte durch die Verwendung von vier fuer die +Griechen als Konsonantenzeichen unbrauchbarer Buchstaben fuer die vier Vokale a +e i o und durch Neubildung des Zeichens fuer u, also durch Einfuehrung der +Silbe in die Schrift statt des blossen Konsonanten, oder wie Palamedes bei +Euripides sagt: +</p> + +<p> +Heilmittel also ordnend der Vergessenheit +</p> + +<p> +Fuegt ich lautlos’ und lautende in Silben ein +</p> + +<p> +Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen. +</p> + +<p> +Dies aramaeisch-hellenische Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht +worden und zwar durch die italischen Hellenen, nicht aber durch die +Ackerkolonien Grossgriechenlands, sondern durch die Kaufleute etwa von Kyme +oder Tarent, von denen es zunaechst nach den uralten Vermittlungsstaetten des +internationalen Verkehrs in Latium und Etrurien, nach Rom und Caere gelangt +sein wird. Das Alphabet, das die Italiker empfingen, ist keineswegs das +aelteste hellenische: es hatte schon mehrfache Modifikationen erfahren, +namentlich den Zusatz der drei Buchstaben ξ φ χ und die Abaenderung der Zeichen +fuer υ γ λ ^3. Auch das ist schon bemerkt worden, dass das etruskische und das +latinische Alphabet nicht eines aus dem anderen, sondern beide unmittelbar aus +dem griechischen abgeleitet sind; ja es ist sogar dies Alphabet nach Etrurien +und nach Latium in wesentlich abweichender Form gelangt. Das etruskische +Alphabet kennt ein doppeltes s (Sigma s und San sch) und nur ein einfaches k ^4 +und vom r nur die aeltere Form P; das latinische kennt, soviel wir wissen, nur +ein einziges s, dagegen ein doppeltes k (Kappa k und Koppa q) und vom r fast +nur die juengere Form R. Die aelteste etruskische Schrift kennt noch die Zeile +nicht und windet sich wie die Schlange sich ringelt, die juengere schreibt in +abgesetzten Parallelzeilen von rechts nach links; die latinische Schrift kennt, +soweit unsere Denkmaeler zurueckreichen, nur die letztere Schreibung in +gleichgerichteten Zeilen, die urspruenglich wohl beliebig von links nach rechts +oder von rechts nach links laufen konnten, spaeterhin bei den Roemern in jener, +bei den Faliskern in dieser Richtung liefen. Das nach Etrurien gebrachte +Musteralphabet muss trotz seines relativ geneuerten Charakters dennoch in eine +sehr alte, wenn auch nicht positiv zu bestimmende Zeit hinaufreichen: denn da +die beiden Sibilanten Sigma und San von den Etruskern stets als verschiedene +Laute nebeneinander gebraucht worden sind, so muss das griechische Alphabet, +das nach Etrurien kam, sie wohl auch noch in dieser Weise beide als lebendige +Lautzeichen besessen haben; unter allen uns bekannten Denkmaelern der +griechischen Sprache aber zeigt auch nicht eines Sigma und San nebeneinander im +Gebrauch. Das lateinische Alphabet traegt allerdings, wie wir es kennen, im +ganzen einen juengeren Charakter; doch ist es nicht unwahrscheinlich, dass in +Latium nicht, wie in Etrurien, bloss eine einmalige Rezeption stattgefunden +hat, sondern die Latiner infolge ihres lebhaften Verkehrs mit den griechischen +Nachbarn laengere Zeit sich mit dem dort ueblichen Alphabet im Gleichgewicht +hielten und den Schwankungen desselben folgten. So finden wir zum Beispiel, +dass die Formen /W, P ^5 und E den Roemern nicht unbekannt waren, aber die +juengeren AA, R und >, dieselben im gemeinen Gebrauch ersetzten; was sich +nur erklaeren laesst, wenn die Latiner laengere Zeit fuer ihre griechischen +Aufzeichnungen wie fuer die in der Muttersprache sich des griechischen +Alphabets als solchen bedienten. Deshalb ist es auch bedenklich, aus dem +verhaeltnismaessig juengeren Charakter desjenigen griechischen Alphabets, das +wir in Rom finden, und dem aelteren des nach Etrurien gebrachten den Schluss zu +ziehen, dass in Etrurien frueher geschrieben worden ist als in Rom. +</p> + +<p> +—————————————————————- +</p> + +<p> +^3 Die Geschichte des Alphabets bei den Hellenen besteht im wesentlichen darin, +dass gegenueber dem Uralphabet von 23 Buchstaben, das heisst dem vokalisierten +und mit dem u vermehrten phoenikischen, die verschiedenartigsten Vorschlaege +zur Ergaenzung und Verbesserung desselben gemacht worden sind und dass jeder +dieser Vorschlaege seine eigene Geschichte gehabt hat. Die wichtigsten dieser +Vorschlaege, die auch fuer die Geschichte der italischen Schrift im Auge zu +behalten vor. Interesse ist, sind die folgenden. +</p> + +<p> +I. Einfuehrung eigener Zeichen fuer die Laute ξ φ χ. Dieser Vorschlag ist so +alt, dass mit einziger Ausnahme desjenigen der Inseln Thera, Melos und Kreta +alle griechischen und schlechterdings alle aus dem griechischen abgeleiteten +Alphabete unter dem Einfluss desselben stehen. Urspruenglich ging er wohl +dahin, die Zeichen Χ ξι, Φ φι, Ψ χι dem Alphabet am Schluss anzufuegen, und in +dieser Gestalt hat er auf dem Festland von Hellas mit Ausnahme von Athen und +Korinth und ebenso bei den sizilischen und italischen Griechen Annahme +gefunden. Die kleinasiatischen Griechen dagegen und die der Inseln des +Archipels, ferner auf dem Festland die Korinther scheinen, als dieser Vorschlag +zu ihnen gelangte, fuer den Laut ~i bereits das fuenfzehnte Zeichen des +phoenikischen Alphabets (Samech) Ξ im Gebrauch gehabt zu haben; sie verwendeten +deshalb von den drei neuen Zeichen zwar das Φ auch fuer φι, aber das Χ nicht +fuer ξι sondern fuer χι. Das dritte, urspruenglich fuer χι erfundene Zeichen +liess man wohl meistenteils fallen; nur im kleinasiatischen Festland hielt man +es fest, gab ihm aber den Wert ψι. Der kleinasiatischen Schreibweise folgte +auch Athen, nur dass hier nicht bloss das ψι, sondern auch das ξι nicht +angenommen, sondern dafuer wie frueher der Doppelkonsonant geschrieben ward. +</p> + +<p> +II. Ebenso frueh, wenn nicht noch frueher, hat man sich bemueht, die +naheliegende Verwechslung der Formen fuer i und s zu verhueten; denn saemtliche +uns bekannte griechische Alphabete tragen die Spuren des Bestrebens, beide +Zeichen anders und schaerfer zu unterscheiden. Aber schon in aeltester Zeit +muessen zwei Aenderungsvorschlaege gemacht sein, deren jeder seinen eigenen +Verbreitungskreis gefunden hat: entweder man verwendete fuer den Sibilanten, +wofuer das phoenikische Alphabet zwei Zeichen, das vierzehnte (M) fuer sch und +das achtzehnte (Σ) fuer s, darbot, statt des letzteren, lautlich angemesseneren +vielmehr jenes - und so schrieb man in aelterer Zeit auf den oestlichen Inseln, +in Korinth und Kerkyra und bei den italischen Achaeern - oder man ersetzte das +Zeichen des i durch einfachen Strich І, was bei weitem das Gewoehnlichere war +und in nicht allzu spaeter Zeit wenigstens insofern allgemein ward, als das +gebrochene i ueberall verschwand, wenngleich einzelne Gemeinden das s in der +Form M auch neben dem І festhielten. +</p> + +<p> +III. Juenger ist die Ersetzung des leicht mit Γ γ zu verwechselnden λ Λ durch +V, der wir in Athen und Boeotien begegnen, waehrend Korinth und die von Korinth +abhaengigen Gemeinden denselben Zweck dadurch erreichten, dass sie dem γ statt +der haken- die halbkreisfoermige Gestalt C gaben. +</p> + +<p> +IV. Die ebenfalls der Verwechslung sehr ausgesetzten Formen fuer ρ Ρ p p und r +P wurden unterschieden durch Umgestaltung des letzteren in R; welche juengere +Form nur den kleinasiatischen Griechen, den Kretern, den italischen Achaeern +und wenigen anderen Landschaften fremd geblieben ist, dagegen sowohl in dem +eigentlichen wie in Grossgriechenland und Sizilien weit aeberwiegt. Doch ist +die aeltere Form des r p hier nicht so frueh und so voellig verschwunden wie +die aeltere Form des l; diese Neuerung faellt daher ohne Zweifel spaeter. +</p> + +<p> +Die Differenzierung des langen und kurzen e und des langen und kurzen o ist in +aelterer Zeit beschraenkt geblieben auf die Griechen Kleinasiens und der Inseln +des Aegaeischen Meeres. +</p> + +<p> +Alle diese technischen Verbesserungen sind insofern gleicher Art und +geschichtlich von gleichem Wert, als eine jede derselben zu einer bestimmten +Zeit und an einem bestimmten Orte aufgekommen ist und sodann ihren eigenen +Verbreitungsweg genommen und ihre besondere Entwicklung gefunden hat. Die +vortreffliche Untersuchung A. Kirchhoffs (Studien zur Geschichte des +griechischen Alphabets. Guetersloh 1863), welche auf die bisher so dunkle +Geschichte des hellenischen Alphabets ein helles Licht geworfen und auch fuer +die aeltesten Beziehungen zwischen Hellenen und Italikern wesentliche Daten +ergeben, namentlich die bisher ungewisse Heimat des etruskischen Alphabets +unwiderleglich festgestellt hat, leidet insofern an einer gewissen +Einseitigkeit, als sie auf einen einzelnen dieser Vorschlaege +verhaeltnismaessig zu grosses Gewicht legt. Wenn ueberhaupt hier Systeme +geschieden werden sollen, darf man die Alphabete nicht nach der Geltung des X +als ξ oder als χ in zwei Klassen teilen, sondern wird man das Alphabet von 23 +und das von 25 oder 26 Buchstaben und etwa in dem letzteren noch das +kleinasiatisch-ionische, aus dem das spaetere Gemeinalphabet hervorgegangen +ist, und das gemeingriechische der aelteren Zeit zu unterscheiden haben. Es +haben aber vielmehr im Alphabet die einzelnen Landschaften sich den +verschiedenen Modifikationsvorschlaegen gegenueber wesentlich eklektisch +verhalten und ist der eine hier, der andere dort rezipiert worden. Eben +insofern ist die Geschichte des griechischen Alphabets so lehrreich, als sie +zeigt, wie in Handwerk und Kunst einzelne Gruppen der griechischen Landschaften +die Neuerungen austauschten, andere in keinem solchen Wechselverhaeltnis +standen. Was insbesondere Italien betrifft, so ist schon auf den merkwuerdigen +Gegensatz der achaeischen Ackerstaedte zu den chalkidischen und dorischen mehr +kaufmaennischen Kolonien aufmerksam gemacht worden; in jenen sind durchgaengig +die primitiven Formen festgehalten, in diesen die verbesserten Formen +angenommen, selbst solche, die von verschiedenen Seiten kommend sich +gewissermassen widersprechen, wie das C Y neben dem V l. Die italischen +Alphabete stammen, wie Kirchhoff gezeigt hat, durchaus von dem Alphabet der +italischen Griechen und zwar von dem chalkidisch-dorischen her; dass aber die +Etrusker und die Latiner nicht die einen von den andern, sondern beide +unmittelbar von den Griechen das Alphabet empfingen, setzt besonders die +verschiedene Form des r ausser Zweifel. Denn waehrend von den vier oben +bezeichneten Modifikationen des Alphabets, die die italischen Griechen +ueberhaupt angehen (die fuenfte blieb auf Kleinasien beschraenkt), die drei +ersten bereits durchgefuehrt waren, bevor dasselbe auf die Etrusker und Latiner +ueberging, war die Differenzierung von p und r noch nicht geschehen, als +dasselbe nach Etrurien kam, dagegen wenigstens begonnen, als die Latiner es +empfingen, weshalb fuer r die Etrusker die Form R gar nicht kennen, dagegen bei +den Faliskern und den Latinern mit der einzigen Ausnahme des Dresselschen +Tongefaesses ausschliesslich die juengere Form begegnet. +</p> + +<p> +^4 Dass das Koppa den Etruskern von jeher gefehlt hat, scheint nicht +zweifelhaft: denn nicht bloss begegnet sonst nirgends eine sichere Spur +desselben, sondern es fehlt auch in dem Musteralphabet des galassischen +Gefaesses. Der Versuch, es in dem Syllabarium desselben nachzuweisen, ist auf +jeden Fall verfehlt, da dieses nur auf die auch spaeterhin gemein +gebraeuchlichen etruskischen Buchstaben Ruecksicht nimmt und nehmen kann zu +diesen aber das Koppa notorisch nicht gehoert; ueberdies kann das am Schluss +stehende Zeichen seiner Stellung nach nicht wohl einen anderen Wert haben als +den des f, das im etruskischen Alphabet eben das letzte ist und das in dem, die +Abweichungen .des etruskischen Alphabets von seinem Muster darlegenden +Syllabarium nicht fehlen durfte. Auffallend bleibt es freilich, dass in dem +nach Etrurien gelangten griechischen Alphabet das Koppa mangelte da es sonst in +dem chalkidisch-dorischen sich lange behauptet hat; aber es kann dies fueglich +eine lokale Eigentuemlichkeit derjenigen Stadt gewesen sein, deren Alphabet +zunaechst nach Etrurien gekommen ist. Darin, ob ein als ueberfluessig werdendes +Zeichen im Alphabet stehenbleibt oder ausfaellt, hat zu allen Zeiten Willkuer +und Zufall gewaltet; so hat das attische Alphabet das achtzehnte phoenikische +Zeichen eingebuesst, die uebrigen aus der Lautschrift verschwundenen im +Alphabet festgehalten. +</p> + +<p> +^5 Die vor kurzem bekannt gewordene goldene Spange von Praeneste (RM 2, 1887), +unter den verstaendlichen Denkmaelern lateinischer Sprache und lateinischer +Schrift das weitaus aelteste zeigt die aeltere Form des m, das raetselhafte +Tongefaess vom Quirinal (herausgegeben von A. Dressel in den AdI 52, 1880) die +aeltere Form des r. +</p> + +<p> +—————————————————————- +</p> + +<p> +Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buchstabenschatzes auf die +Empfaenger machte und wie lebhaft sie die in diesen unscheinbaren Zeichen +schlummernde Macht ahnten, beweist ein merkwuerdiges Gefaess aus einer vor +Erfindung des Bogens gebauten Grabkammer von Caere, worauf das altgriechische +Musteralphabet, wie es nach Etrurien kam, und daneben ein daraus gebildetes +etruskisches Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar, verzeichnet ist - +offenbar eine heilige Reliquie der Einfuehrung und der Akklimatisierung der +Buchstabenschrift in Etrurien. +</p> + +<p> +Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets ist fuer die Geschichte +dessen weitere Entwicklung auf italischem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; +denn hierdurch faellt ein Lichtstrahl auf den italienischen Binnenverkehr, der +noch weit mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Kuesten mit den Fremden. +In der aeltesten Epoche der etruskischen Schrift, in der man sich im +wesentlichen des eingefuehrten Alphabets unveraendert bediente, scheint der +Gebrauch desselben sich auf die Etrusker am Po und in der heutigen Toskana +beschraenkt zu haben; dieses Alphabet ist alsdann, offenbar von Atria und Spina +aus, suedlich an der Ostkueste hinab bis in die Abruzzen, noerdlich zu den +Venetern und spaeter sogar zu den Kelten an und in den Alpen, ja jenseits +derselben gelangt, sodass die letzten Auslaeufer desselben bis nach Tirol und +Steiermark reichen. Die juengere Epoche geht aus von einer Reform des +Alphabets, welche sich hauptsaechlich erstreckt auf die Einfuehrung abgesetzter +Zeilenschrift, auf die Unterdrueckung des o, das man im Sprechen vom u nicht +mehr zu unterscheiden wusste, und auf die Einfuehrung eines neuen Buchstabens +f, wofuer dem ueberlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen mangelte. Diese +Reform ist offenbar bei den westlichen Etruskern entstanden und hat, waehrend +sie jenseits des Apennin keinen Eingang fand, dagegen bei saemtlichen +sabellischen Staemmen, zunaechst bei den Umbrern sich eingebuergert; im +weiteren Verlaufe sodann hat das Alphabet bei jedem einzelnen Stamm, den +Etruskern am Arno und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen +Schicksale erfahren, haeufig die Mediae ganz oder zum Teil verloren, anderswo +wieder neue Vokale und Konsonanten entwickelt. Jene westetruskische Reform des +Alphabets aber ist nicht bloss so alt wie die aeltesten in Etrurien gefundenen +Graeber, sondern betraechtlich aelter, da das erwaehnte, wahrscheinlich in +einem derselben gefundene Syllabarium das reformierte Alphabet bereits in einer +wesentlich modifizierten und modernisierten Gestalt gibt; und da das +reformierte selbst wieder, gegen das primitive gehalten, relativ jung ist, so +versagt sich fast der Gedanke dem Zurueckgehen in jene Zeit, wo dies Alphabet +nach Italien gelangte. +</p> + +<p> +Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Alphabets im Norden, +Osten und Sueden der Halbinsel, so hat sich dagegen das latinische Alphabet auf +Latium beschraenkt und hier im ganzen mit geringen Veraenderungen sich +behauptet; nur fielen γ κ und ζ ς allmaehlich lautlich zusammen, wovon die +Folge war, dass je eins der homophonen Zeichen (κ ζ) aus der Schrift +verschwand. In Rom waren diese nachweislich schon vor dem Ende des vierten +Jahrhunderts der Stadt beseitigt ^6, und unsere gesamte monumentale und +literarische Ueberlieferung mit einer einzigen Ausnahme ^7 kennt sie nicht. Wer +nun erwaegt, dass in den aeltesten Abkuerzungen der Unterschied von γ c und κ k +noch regelmaessig durchgefuehrt wird ^8, dass also der Zeitraum, wo die Laute +in der Aussprache zusammenfielen, und vor diesem wieder der Zeitraum, in dem +die Abkuerzungen sich fixierten, weit jenseits des Beginns der Samnitenkriege +liegt; dass endlich zwischen der Einfuehrung der Schrift und der Feststellung +eines konventionellen Abkuerzungssystems notwendig eine bedeutende Frist +verstrichen sein muss, der wird wie fuer Etrurien so fuer Latium den Anfang der +Schreibkunst in eine Epoche hinaufruecken, die dem ersten Eintritt der +aegyptischen Siriusperiode in historischer Zeit, dem Jahre 1321 vor Christi +Geburt, naeher liegt als dem Jahre 776, mit dem in Griechenland die +Olympiadenchronologie beginnt ^9. Fuer das hohe Alter der Schreibkunst in Rom +sprechen auch sonst zahlreiche und deutliche Spuren. Die Existenz von Urkunden +aus der Koenigszeit ist hinreichend beglaubigt: so des Sondervertrags zwischen +Gabii und Rom, den ein Koenig Tarquinius, und schwerlich der letzte dieses +Namens, abschloss, und der, geschrieben auf das Fell des dabei geopferten +Stiers, in dem an Altertuemern reichen, wahrscheinlich dem gallischen Brande +entgangenen Tempel des Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt ward; des +Buendnisses, das Koenig Servius Tullius mit Latium abschloss und das noch +Dionysios auf einer kupfernen Tafel im Dianatempel auf dem Aventin sah - +freilich wohl in einer nach dem Brand mit Hilfe eines latinischen Exemplars +hergestellten Kopie, denn dass man in der Koenigszeit schon in Metall grub, ist +nicht wahrscheinlich. Auf den Stiftungsbrief dieses Tempels beziehen sich noch +die Stiftungsbriefe der Kaiserzeit als auf die aelteste derartige roemische +Urkunde und das gemeinschaftliche Muster fuer alle. Aber schon damals ritzte +man (exarare, scribere verwandt mit scrobes ^10) oder malte (linere, daher +littera) auf Blaetter (folium), Bast (liber) oder Holztafeln (tabula, albuni), +spaeter auch auf Leder und Leinen. Auf leinene Rollen waren die heiligen +Urkunden der Samniten wie der anagninischen Priesterschaft geschrieben, ebenso +die aeltesten, im Tempel der Goettin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem +Kapitol bewahrten Verzeichnisse der roemischen Magistrate. Es wird kaum noch +noetig sein, zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura), an die +Anrede im Senat “Vaeter und Eingeschriebene” (patres conscripti), +an das hohe Alter der Orakelbuecher, der Geschlechtsregister, des albanischen +und des roemischen Kalenders. Wenn die roemische Sage schon in der fruehesten +Zeit der Republik von Hallen am Markte spricht, in denen die Knaben und +Maedchen der Vornehmen lesen und schreiben lernten, so kann das, aber muss +nicht notwendig erfunden sein. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht +einmal der Mangel an Dokumenten hat uns die Kunde der aeltesten roemischen +Geschichte entzogen, sondern die Unfaehigkeit der Historiker derjenigen Zeit, +die zur Geschichtsforschung berufen war, die archivalischen Nachrichten zu +verarbeiten, und ihre Verkehrtheit, fuer die aelteste Epoche Schilderung von +Motiven und Charakteren, Schlachtberichte und Revolutionserzaehlungen zu +begehren und ueber deren Erfindung zu vernachlaessigen, was die vorhandene +schriftliche Ueberlieferung dem ernsten und entsagenden Forscher nicht +verweigert haben wuerde. +</p> + +<p> +——————————————————————————————- +</p> + +<p> +^6 In diese Zeit wird diejenige Aufzeichnung der Zwoelf Tafeln zu setzen sein, +welche spaeterhin den roemischen Philologen vorlag und von der wir Truemmer +besitzen. Ohne Zweifel ist das Gesetzbuch gleich bei seiner Entstehung +niedergeschrieben worden; aber dass jene Gelehrten selber ihren Text nicht auf +das Urexemplar zurueckfuehrten, sondern auf eine nach dem gallischen Brande +vorgenommene offizielle Niederschrift, beweist die Erzaehlung von der damals +erfolgten Wiederherstellung der Tafeln, und erklaert sich leicht eben daraus, +dass ihr Text keineswegs die ihnen nicht unbekannte aelteste Orthographie +aufwies, auch abgesehen davon, dass bei einem derartigen, ueberdies noch zum +Auswendiglernen fuer die Jugend verwendeten Schriftstueck philologisch genaue +Ueberlieferung unmoeglich angenommen werden kann. +</p> + +<p> +^7 Dies ist die 1, 227 angefuehrte Inschrift der Spange von Praeneste. Dagegen +hat selbst schon auf der ficoronischen Kiste c den spaeteren Wert von κ. +</p> + +<p> +^8 So ist C Gaius, CN Gnaeus, aber K Kaeso. Fuer die juengeren Abkuerzungen +gilt dieses natuerlich nicht; hier wird γ nicht durch c, sondern durch G (GAL +Galeria), κ in der Regel durch C (C centum, Cos consul, COL Collina), vor a +durch K (KAR karmentalia, MERK merkatus) bezeichnet. Denn eine Zeitlang hat man +den Laut K vor den Vokalen e i o und vor allen Konsonanten durch C +ausgedrueckt, dagegen vor a durch K, vor u durch das alte Zeichen des Koppa Q. +</p> + +<p> +^9 Wenn dies richtig ist, so muss die Entstehung der Homerischen Gedichte, wenn +auch natuerlich nicht gerade die der uns vorliegenden Redaktion, weit vor die +Zeit fallen, in welche Herodot die Bluete des Homeros setzt (100 vor Rom 850); +denn die Einfuehrung des hellenischen Alphabets in Italien gehoert wie der +Beginn des Verkehrs zwischen Hellas und Italien selbst erst der nachhomerischen +Zeit an. +</p> + +<p> +^10 Ebenso altsaechsisch writan eigentlich reissen, dann schreiben. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +Die Geschichte der italischen Schrift bestaetigt also zunaechst die schwache +und mittelbare Einwirkung des hellenischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz +zu den westlicheren Voelkern. Dass jene das Alphabet von den Etruskern, nicht +von den Roemern empfingen, erklaert sich wahrscheinlich daraus, dass sie das +Alphabet schon besassen, als sie den Zug auf den Ruecken des Apennin antraten, +die Sabiner wie die Samniten also dasselbe schon vor ihrer Entlassung aus dem +Mutterlande in ihre neuen Sitze mitbrachten. Andererseits enthaelt diese +Geschichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die Annahme, welche die +spaetere, der etruskischen Mystik und Altertumstroedelei ergebene roemische +Bildung aufgebracht hat und welche die neuere und neueste Forschung geduldig +wiederholt, dass die roemische Zivilisation ihren Keim und ihren Kern aus +Etrurien entlehnt habe. Waere dies wahr, so muesste hier vor allem eine Spur +sich davon zeigen; aber gerade umgekehrt ist der Keim der latinischen +Schreibkunst griechisch, ihre Entwicklung so national, dass sie nicht einmal +das so wuenschenswerte etruskische Zeichen fuer f sich angeeignet hat ^11. Ja +wo Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr die Etrusker, +die von den Roemern wenigstens das Zeichen fuer 50 uebernommen haben. +</p> + +<p> +——————————————————————— +</p> + +<p> +^11 Das Raetsel, wie die Latiner dazu gekommen sind, das griechische dem v +entsprechende Zeichen fuer das lautlich ganz verschiedene f zu verwenden, hat +die Spange von Praeneste geloest mit ihrem fhefhaked fuer fecit und damit +zugleich die Herleitung des lateinischen Alphabets von den chalkidischen +Kolonien Unteritaliens bestaetigt. Denn in einer, demselben Alphabet +angehoerigen boeotischen Inschrift findet sich in dem Worte fhekadamoe (Gustav +Meyer, Griechische Grammatik, § 244 a. E.) dieselbe Lautverbindung, und ein +aspiriertes v mochte allerdings dem lateinischen f lautlich sich naehern. +</p> + +<p> +——————————————————————- +</p> + +<p> +Endlich ist es charakteristisch, dass in allen italischen Staemmen die +Entwicklung des griechischen Alphabets zunaechst in einer Verderbung desselben +besteht. So sind die Mediae in den saemtlichen etruskischen Dialekten +untergegangen, waehrend die Umbrer γ d, die Samniten d, die Roemer γ +einbuessten und diesen auch d mit r zu verschmelzen drohte. Ebenso fielen den +Etruskern schon frueh o und u zusammen, und auch bei den Lateinern finden sich +Ansaetze derselben Verderbnis. Fast das Umgekehrte zeigt sich bei den +Sibilanten; denn waehrend der Etrusker die drei Zeichen z s sch festhaelt, der +Umbrer zwar das letzte wegwirft, aber dafuer zwei neue Sibilanten entwickelt, +beschraenkt sich der Samnite und der Falisker auf s und z gleich dem Griechen, +der spaetere Roemer sogar auf s allein. Man sieht, die feineren +Lautverschiedenheiten wurden von den Einfuehrern des Alphabets, gebildeten und +zweier Sprachen maechtigen Leuten, wohl empfunden; aber nach der voelligen +Loesung der nationalen Schrift von dem hellenischen Mutteralphabet fielen +allmaehlich die Mediae und ihre Tenues zusammen und wurden die Sibilanten und +Vokale zerruettet, von welchen Lautverschiebungen oder vielmehr +Lautzerstoerungen namentlich die erste ganz ungriechisch ist. Die Zerstoerung +der Flexions- und Derivationsformen geht mit dieser Lautzerruettung Hand in +Hand. Die Ursache dieser Barbarisierung ist also im allgemeinen keine andere +als die notwendige Verderbnis, welche an jeder Sprache fortwaehrend zehrt, wo +ihr nicht literarisch und rationell ein Damm entgegengesetzt wird; nur dass von +dem, was sonst spurlos voruebergeht, hier in der Lautschrift sich Spuren +bewahrten. Dass diese Barbarisierung die Etrusker in staerkerem Masse erfasste +als irgendeinen der italischen Staemme, stellt sich zu den zahlreichen Beweisen +ihrer minderen Kulturfaehigkeit; wenn dagegen, wie es scheint, unter den +Italikern am staerksten die Umbrer, weniger die Roemer, am wenigsten die +suedlichen Sabeller von der gleichen Sprachverderbnis ergriffen wurden, so wird +der regere Verkehr dort mit den Etruskern, hier mit den Griechen wenigstens mit +zu dieser Erscheinung beigetragen haben. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap15"></a>KAPITEL XV.<br/> +Die Kunst</h2> + +<p> +Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang die Weise; insofern +ist kein Volk ohne Poesie und Musik. Allein zu den poetisch vorzugsweise +begabten Nationen gehoerte und gehoert die italienische nicht; es fehlt dem +Italiener die Leidenschaft des Herzens, die Sehnsucht, das Menschliche zu +idealisieren und das Leblose zu vermenschlichen, und damit das Allerheiligste +der Dichtkunst. Seinem scharfen Blick, seiner anmutigen Gewandtheit gelingen +vortrefflich die Ironie und der Novellenton, wie wir sie bei Horaz und bei +Boccaccio finden, der launige Liebes- und Liederscherz, wie Catullus und die +guten neapolitanischen Volkslieder ihn zeigen, vor allem die niedere Komoedie +und die Posse. Auf italischem Boden entstand in alter Zeit die parodische +Tragoedie, in neuer das parodische Heldengedicht. In der Rhetorik und +Schauspielkunst vor allem tat und tut es den Italienern keine andere Nation +gleich. Aber in den vollkommenen Kunstgattungen haben sie es nicht leicht ueber +Fertigkeiten gebracht, und keine ihrer Literaturepochen hat ein wahres Epos und +ein echtes Drama erzeugt. Auch die hoechsten in Italien gelungenen +literarischen Leistungen, goettliche Gedichte wie Dantes Commedia und +Geschichtbuecher wie Sallustius und Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind +doch von einer mehr rhetorischen als naiven Leidenschaft getragen. Selbst in +der Musik ist in alter wie in neuer Zeit das eigentlich schoepferische Talent +weit weniger hervorgetreten als die Fertigkeit, die rasch zur Virtuositaet sich +steigert und an der Stelle der echten und innigen Kunst ein hohles und +herzvertrocknendes Idol auf den Thron hebt. Es ist nicht das innerliche Gebiet, +insoweit in der Kunst ueberhaupt ein Innerliches und ein Aeusserliches +unterschieden werden kann, das dem Italiener als eigene Provinz anheimgefallen +ist; die Macht der Schoenheit muss, um voll auf ihn zu wirken, nicht im Ideal +vor seine Seele, sondern sinnlich ihm vor die Augen gerueckt werden. Darum ist +er denn auch in den bauenden und bildenden Kuensten recht eigentlich zu Hause +und darin in der alten Kulturepoche der beste Schueler des Hellenen, in der +neuen der Meister aller Nationen geworden. +</p> + +<p> +Es ist bei der Lueckenhaftigkeit unserer Ueberlieferung nicht moeglich, die +Entwicklung der kuenstlerischen Ideen bei den einzelnen Voelkergruppen Italiens +zu verfolgen; und namentlich laesst sich nicht mehr von der italischen Poesie +reden, sondern nur von der Poesie Latiums. Die latinische Dichtkunst ist wie +jede andere ausgegangen von der Lyrik oder vielmehr von dem urspruenglichen +Festjubel, in welchem Tanz, Spiel und Lied noch in ungetrennter Einheit sich +durchdringen. Es ist dabei bemerkenswert, dass in den aeltesten +Religionsgebraeuchen der Tanz und demnaechst das Spiel weit entschiedener +hervortreten als das Lied. In dem grossen Feierzug, mit dem das roemische +Siegesfest eroeffnet ward, spielten naechst den Goetterbildern und den +Kaempfern die vornehmste Rolle die ernsten und die lustigen Taenzer: jene +geordnet in drei Gruppen, der Maenner, der Juenglinge und der Knaben, alle in +roten Roecken mit kupfernem Leibgurt, mit Schwertern und kurzen Lanzen, die +Maenner ueberdies behelmt, ueberhaupt in vollem Waffenschmuck; diese in zwei +Scharen geteilt, der Schafe in Schafpelzen mit buntem Ueberwurf, der Boecke +nackt bis auf den Schurz mit einem Ziegenfell als Umwurf. Ebenso waren +vielleicht die aelteste und heiligste von allen Priesterschaften die +“Springer” und durften die Taenzer (ludii, ludiones) ueberhaupt bei +keinem oeffentlichen Aufzug und namentlich bei keiner Leichenfeier fehlen, +weshalb denn der Tanz schon in alter Zeit ein gewoehnliches Gewerbe ward. Wo +aber die Taenzer erscheinen, da stellen auch die Spielleute oder, was in +aeltester Zeit dasselbe ist, die Floetenblaeser sich ein. Auch sie fehlen bei +keinem Opfer, bei keiner Hochzeit und bei keinem Begraebnis, und neben der +uralten oeffentlichen Priesterschaft der Springer steht gleich alt, obwohl im +Range bei weitem niedriger, die Pfeifergilde (collegium tibicinum, 1, 205), +deren echte Musikantenart bezeugt wird durch das alte und selbst der strengen +roemischen Polizei zum Trotz behauptete Vorrecht, an ihrem Jahresfest maskiert +und suessen Weines voll auf den Strassen sich herumzutreiben. Wenn also der +Tanz als ehrenvolle Verrichtung, das Spiel als untergeordnete, aber notwendige +Taetigkeit auftritt und darum oeffentliche Genossenschaften fuer beide bestellt +sind, so erscheint die Dichtung mehr als ein Zufaelliges und gewissermassen +Gleichgueltiges, mochte sie nun fuer sich entstehen oder dem Taenzer zur +Begleitung seiner Spruenge dienen. +</p> + +<p> +Den Roemern galt als das aelteste dasjenige Lied, das in der gruenen +Waldeseinsamkeit die Blaetter sich selber singen. Was der “guenstige +Geist” (faunus, von favere) im Haine fluestert und floetet, das +verkuenden die, denen es gegeben ist, ihm zu lauschen, den Menschen wieder in +rhythmisch gemessener Rede (casmen, spaeter carmen, von canere). Diesen +weissagenden Gesaengen der vom Gott ergriffenen Maenner und Frauen (vates) +verwandt sind die eigentlichen Zaubersprueche, die Besprechungsformeln gegen +Krankheiten und anderes Ungemach und die boesen Lieder, durch welche man dem +Regen wehrt und den Blitz herabruft oder auch die Saat von einem Feld auf das +andere lockt; nur dass in diesen wohl von Haus aus neben den Wort- auch reine +Klangformeln erscheinen ^1. Fester ueberliefert und gleich uralt sind die +religioesen Litaneien, wie die Springer und andere Priesterschaften sie sangen +und tanzten und von denen die einzige bis auf uns gekommene, ein wahrscheinlich +als Wechselgesang gedichtetes Tanzlied der Ackerbrueder zum Preise des Mars, +wohl auch hier eine Stelle verdient: +</p> + +<p> +————————————————————————- +</p> + +<p> +^1 So gibt der aeltere Cato (agr. 160) als kraeftig gegen Verrenkungen den +Spruch: hauat hauat hauat ista pista sista damia bodannaustra, der vermutlich +seinem Erfinder ebenso dunkel war, wie er es uns ist. Natuerlich finden sich +daneben auch Wortformeln; so z. B. hilft es gegen Gicht, wenn man nuechtern +eines andern gedenkt und dreimal neunmal, die Erde beruehrend und ausspuckend, +die Worte spricht: “Ich denke dein, hilf meinen Fuessen. Die Erde +empfange das Unheil, Gesundheit sei mein Teil” (terra pestem teneto, +salus hic maneto. Varro rust. 1, 2, 27). +</p> + +<p> +—————————————————————————————————— +</p> + +<p> +Enos, Lases, iuvate! +</p> + +<p> +Ne velue rue, Marmar, sins incurrere in pleores! +</p> + +<p> +Satur fu, fere Mars! Timen sali! sta! berber! +</p> + +<p> +Semunis alternei advocapit conctos! +</p> + +<p> +Enos, Marmar, invato! +</p> + +<p> +Triumpe! ^2 +</p> + +<p> +—————————————————————————————————— +</p> + +<p> +^2 Nos, Lares, iuvate! Ne veluem (= malam luem) ruem (= ruinam), Mamers, sinas +incurrere in plures! Satur esto, fere Mars! In limen insili! sta! verbera +(limen?)! Semones alterni advocate cunctos! Nos, Mamers, iuvato! Tripudia! Die +ersten fuenf Zeilen werden je dreimal, der Schlussruf fuenfmal wiederholt. Die +Uebersetzung ist vielfach unsicher, besonders der dritten Zeile. +</p> + +<p> +Die drei Inschriften des Tongefaesses vom Quirinal lauten: ioue sat deiuosqoi +med mitat nei ted endo gosmis uirgo sied - asted noisi ope toitesiai pakariuois +- duenos med feked (= onus me fecit) enmanom einom dze noine (wahrscheinlich = +die noni) med malo statod. Sicher verstaendlich sind nur einzelne Woerter; +bemerkenswert vor allem, dass Formen, die wir bisher nur als umbrische und +oskische kannten, wie das Adjektiv pacer und die Partikel einom im Wert von et, +hier wahrscheinlich doch als altlateinische uns entgegentreten. +</p> + +<p> +—————————————————————————————— +</p> + +<p> +an die Goetter Uns, Laren, helfet! +</p> + +<p> + Nicht Sterben und Verderben, Mars, Mars, +</p> + +<p> + lass einstuermen auf mehrere. +</p> + +<p> + Satt sei, grauser Mars! +</p> + +<p> +an die einzelnen Auf die Schwelle springe! stehe! tritt sie! + +</p> <p> +Brueder +</p> + +<p> +an alle +</p> + +<p> +Brueder Den Semonen, erst ihr, dann ihr, rufet zu, allen +</p> + +<p> +an den Gott Uns, Mars, Mars, hilf! +</p> + +<p> +an die einzelnen Springe! +</p> + +<p> +Brueder +</p> + +<p> +Das Latein dieses Liedes und der verwandten Bruchstuecke der Baliarischen +Gesaenge, welche schon den Philologen der augustischen Zeit als die aeltesten +Urkunden ihrer Muttersprache galten, verhaelt sich zu dem Latein der Zwoelf +Tafeln etwa wie die Sprache der Nibelungen zu der Sprache Luthers; und wohl +duerfen wir der Sprache wie dem Inhalt nach diese ehrwuerdigen Litaneien den +indischen Veden vergleichen. +</p> + +<p> +Schon einer juengeren Epoche gehoeren die Lob- und Schimpflieder an. Dass es in +Latium der Spottlieder schon in alten Zeiten im Ueberfluss gab, wuerde sich aus +dem Volkscharakter der Italiener abnehmen lassen, auch wenn nicht die sehr +alten polizeilichen Massnahmen dagegen es ausdruecklich bezeugten. Wichtiger +aber wurden die Lobgesaenge. Wenn ein Buerger zur Bestattung weggetragen ward, +so folgte der Bahre eine ihm anverwandte oder befreundete Frau und sang ihm +unter Begleitung eines Floetenspielers das Leichenlied (nenia). Desgleichen +wurden bei dem Gastmahl von den Knaben, die nach der damaligen Sitte die Vaeter +auch zum Schmaus ausser dem eigenen Hause begleiteten, Lieder zum Lobe der +Ahnen abwechselnd bald ebenfalls zur Floete gesungen, bald auch ohne Begleitung +bloss gesagt (assa voce canere). Dass auch die Maenner bei dem Gastmahl der +Reihe nach sangen, ist wohl erst spaetere vermutlich den Griechen entlehnte +Sitte. Genaueres wissen wir von diesen Ahnenliedern nicht; aber es versteht +sich, dass sie schilderten und erzaehlten und insofern neben und aus dem +lyrischen Moment der Poesie das epische entwickelten. +</p> + +<p> +Andere Elemente der Poesie waren taetig in dem uralten, ohne Zweifel ueber die +Scheidung der Staemme zurueckreichenden Volkskarneval, dem lustigen Tanz oder +der Satura (I, 44). Der Gesang wird dabei nie gefehlt haben; es lag aber in den +Verhaeltnissen, dass bei diesen vorzugsweise an Gemeindefesten und den +Hochzeiten aufgefuehrten und gewiss vorwiegend praktischen Spaessen leicht +mehrere Taenzer oder auch mehrere Taenzerscharen ineinander griffen und der +Gesang eine gewisse Handlung in sich aufnahm, welche natuerlich ueberwiegend +einen scherzhaften und oft einen ausgelassenen Charakter trug. So entstanden +hier nicht bloss die Wechsellieder, wie sie spaeter unter dem Namen der +fescenninischen Gesaenge auftreten, sondern auch die Elemente einer +volkstuemlichen Komoedie, die bei dem scharfen Sinn der Italiener fuer das +Aeusserliche und das Komische und bei ihrem Behagen an Gestenspiel und +Verkleidung auf einen vortrefflich geeigneten Boden gepflanzt war. +</p> + +<p> +Erhalten ist nichts von diesen Inkunabeln des roemischen Epos und Drama. Dass +die Ahnenlieder traditionell waren, versteht sich von selbst und wird zum +Ueberfluss dadurch bewiesen, dass sie regelmaessig von Kindern vorgetragen +wurden; aber schon zu des aelteren Cato Zeit waren dieselben vollstaendig +verschollen. Die Komoedien aber, wenn man den Namen gestatten will, sind in +dieser Epoche und noch lange nachher durchaus improvisiert worden. Somit konnte +von dieser Volkspoesie und Volksmelodie nichts fortgepflanzt werden als das +Mass, die musikalische und chorische Begleitung und vielleicht die Masken. +</p> + +<p> +Ob es in aeltester Zeit das gab, was wir Versmass nennen, ist zweifelhaft; die +Litanei der Arvalbrueder fuegt sich schwerlich einem aeusserlich fixierten +metrischen Schema und erscheint uns mehr als eine bewegte Rezitation. Dagegen +begegnet in spaeterer Zeit eine uralte Weise, das sogenannte saturnische ^3 +oder faunische Mass, welches den Griechen fremd ist und vermutlich gleichzeitig +mit der aeltesten latinischen Volkspoesie entstand. Das folgende, freilich +einer weit spaeteren Zeit angehoerende Gedicht mag von demselben eine +Vorstellung geben. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +^3 Der Name bezeichnet wohl nichts als das “Liedermass”, insofern +die sătura urspruenglich das beim Karneval gesungene Lied ist. Von demselben +Stamm ist auch der Saeegott Saeturnus oder Saiturnus, spaeter Sāturnus benannt; +sein Fest, die Saturnalien, ist allerdings eine Art Karneval, und es ist +moeglich, dass die Possen urspruenglich vorzugsweise an diesem aufgefuehrt +wurden. Aber Beweise einer Beziehung der Satura zu den Saturnauen fehlen, und +vermutlich gehoert die unmittelbare Verknuepfung des versus sāturnius mit dem +Gott Saturnus und die damit zusammenhaengende Dehnung der ersten Silbe erst der +spaeteren Zeit an. +</p> + +<p> +————————————————————— +</p> + +<p> +Quod ré suá difeídens - ásperé afleícta +</p> + +<p> +Paréns timéns heíc vóvit - vóto hóc soúto +</p> + +<p> +Decumá factá poloúcta - leíbereís lubéntes +</p> + +<p> +Donú danúnt - Hércolei - máxsumé - méreto +</p> + +<p> +Semól te oránt se vóti - crébro cóndémnes +</p> + +<p> +Was, Missgeschick befuerchtend - schwer betroffnem Wohlstand, +</p> + +<p> +Sorgvoll der Ahn gelobt hier, - des Geloebnis eintraf, +</p> + +<p> +Zu Weih’ und Schmaus den Zehnten - bringen gern die Kinder +</p> + +<p> +Dem Hercoles zur Gabe - dar, dem hochverdienten; +</p> + +<p> +Sie flehn zugleich dich an, dass - oft du sie erhoerest. +</p> + +<p> +In saturnischer Weise scheinen die Lob- wie die Scherzlieder gleichmaessig +gesungen worden zu sein, zur Floete natuerlich und vermutlich so, dass +namentlich der Einschnitt in jeder Zeile scharf angegeben ward, bei +Wechselliedern hier auch wohl der zweite Saenger den Vers aufnahm. Es ist die +saturnische Messung, wie jede andere im roemischen und griechischen Altertum +vorkommende, quantitativer Art, aber wohl unter allen antiken Versmassen sowohl +das am mindesten durchgebildete, da es ausser anderen mannigfaltigen Lizenzen +sich die Weglassung der Senkungen im weitesten Umfang gestattet, als auch das +der Anlage nach unvollkommenste, indem diese einander entgegengesetzten +iambischen und trochaeischen Halbzeilen wenig geeignet sind, einen fuer hoehere +poetische Leistungen genuegenden rhythmischen Bau zu entwickeln. +</p> + +<p> +Die Grundelemente der volkstuemlichen Musik und Choreutik Latiums, die +ebenfalls in dieser Zeit sich festgestellt haben muessen, sind fuer uns +verschollen; ausser dass uns von der latinischen Floete berichtet wird als +einem kurzen und duennen, nur mit vier Loechern versehenen, urspruenglich, wie +der Name zeigt, aus einem leichten Tierschenkelknochen verfertigten +musikalischen Instrument. +</p> + +<p> +Dass endlich die spaeteren stehenden Charaktermasken der latinischen +Volkskomoedie oder der sogenannten Atellane: Maccus der Harlekin, Bucco der +Vielfrass, Pappus der gute Papa, der weise Dossennus - Masken, die man so artig +wie schlagend mit den beiden Bedienten, dem Pantalon und dem Dottore der +italienischen Pulcinellkomoedie verglichen hat -, dass diese Masken bereits der +aeltesten latinischen Volkskunst angehoeren, laesst sich natuerlich nicht +eigentlich beweisen; da aber der Gebrauch der Gesichtsmasken in Latium fuer die +Volksbuehne von unvordenklichem Alter ist, waehrend die griechische Buehne in +Rom erst ein Jahrhundert nach ihrer Begruendung dergleichen Masken an nahm, da +jene Atellanenmasken ferner entschieden italischen Ursprungs sind und da +endlich die Entstehung wie die Durchfuehrung improvisierter Kunstspiele ohne +feste, dem Spieler seine Stellung im Stueck ein fuer allemal zuweisende Masken +nicht wohl denkbar ist, so wird man die festen Masken an die Anfaenge des +roemischen Schauspiels anknuepfen oder vielmehr sie als diese Anfaenge selbst +betrachten duerfen. +</p> + +<p> +Wenn unsere Kunde ueber die aelteste einheimische Bildung und Kunst von Latium +spaerlich fliesst, so ist es begreiflich, dass wir noch weniger wissen ueber +die fruehesten Anregungen, die hier den Roemern von aussen her zuteil wurden. +In gewissem Sinn kann schon die Kunde der auslaendischen, namentlich der +griechischen Sprache hierher gezaehlt werden, welche letztere den Latinern +natuerlich im allgemeinen fremd war, wie dies schon die Anordnung hinsichtlich +der Sibyllinischen Orakel beweist, aber doch unter den Kaufleuten nicht gerade +selten gewesen sein kann; und dasselbe wird zu sagen sein von der eng mit der +Kunde des Griechischen zusammenhaengenden Kenntnis des Lesens und Schreibens. +Indes die Bildung der antiken Welt ruhte weder auf der Kunde fremder Sprachen +noch auf elementaren technischen Fertigkeiten; wichtiger als jene Mitteilungen +wurden fuer die Entwicklung Latiums die musischen Elemente, die sie bereits in +fruehester Zeit von den Hellenen empfingen. Denn lediglich die Hellenen und +weder Phoeniker noch Etrusker sind es gewesen, welche in dieser Beziehung eine +Einwirkung auf die Italiker uebten; nirgends begegnet bei den letzteren eine +musische Anregung, die auf Karthago oder Caere zurueckwiese, und es darf wohl +ueberhaupt die phoenikische wie die etruskische den Bastard- und darum auch +nicht weiterzeugenden Formen der Zivilisation zugezaehlt werden ^4. Griechische +Befruchtung aber blieb nicht aus. Die griechische siebensaitige Lyra, die +“Saiten” (fides, von σφίδη Darm; auch barbitus βάρβυτος) ist nicht, +wie die Floete, in Latium einheimisch und hat dort stets als fremdlaendisches +Instrument gegolten; aber wie frueh sie daselbst Aufnahme gefunden hat, beweist +teils die barbarische Verstuemmelung des griechischen Namens, teils ihre +Anwendung selbst im Ritual ^5. Dass von dem Sagenschatz der Griechen bereits in +dieser Zeit nach Latium floss, zeigt schon die bereitwillige Aufnahme der +griechischen Bildwerke mit ihren durchaus auf dem poetischen Schaue der Nation +ruhenden Darstellungen; und auch die altlatinischen Barbarisierungen der +Persephone in Prosepna, des Bellerophontes in Melerpanta, des Kyklops in Codes, +des Laomedon in Alumentus, des Ganymedes in Catamitus, des Neilos in Melus, der +Semele in Stimula lassen erkennen, in wie ferner Zeit schon solche Erzaehlungen +von Latinern vernommen und wiederholt worden sind. Endlich aber und vor allem +kann das roemische Haupt- und Stadtfest (ludi maximi, Romani) wo nicht seine +Entstehung, doch seine spaetere Einrichtung nicht wohl anders als unter +griechischem Einfluss erhalten haben. Es ward als ausserordentliche Dankfeier, +regelmaessig auf Grund eines von dem Feldherrn vor der Schlacht getanen +Geluebdes und darum gewoehnlich bei der Heimkehr der Buergerwehr im Herbst, dem +kapitolinischen Jupiter und den mit ihm zusammen hausenden Goettern +ausgerichtet. Im Festzuge begab man sich nach dem zwischen Palatin und Aventin +abgesteckten und mit einer Arena und Zuschauerplaetzen versehenen Rennplatz: +voran die ganze Knabenschaft Roms, geordnet nach den Abteilungen der +Buergerwehr zu Pferde und zu Fuss; sodann die Kaempfer und die frueher +beschriebenen Taenzergruppen, jede mit der ihr eigenen Musik; hierauf die +Diener der Goetter mit den Weihrauchfaessern und dem anderen heiligen Geraet; +endlich die Bahren mit den Goetterbildern selbst. Das Schaufest selbst war das +Abbild des Krieges, wie er in aeltester Zeit gewesen, der Kampf zu Wagen, zu +Ross und zu Fuss. Zuerst liefen die Streitwagen, deren jeder nach homerischer +Art einen Wagenlenker und einen Kaempfer trug, darauf die abgesprungenen +Kaempfer, alsdann die Reiter, deren jeder nach roemischer Fechtart mit einem +Reit- und einem Handpferd erschien (desultor); endlich massen die Kaempfer zu +Fuss, nackt bis auf einen Guertel um die Hueften, sich miteinander im Wettlauf, +im Ringen und im Faustkampf. In jeder Gattung der Wettkaempfe ward nur einmal +und zwischen nicht mehr als zwei Kaempfern gestritten. Den Sieger lohnte der +Kranz, und wie man den schlichten Zweig in Ehren hielt, beweist die gesetzliche +Gestattung, ihm denselben, wenn er starb, auf die Bahre zu legen. Das Fest +dauerte also nur einen Tag, und wahrscheinlich liessen die Wettkaempfe an +diesem selbst noch Zeit genug fuer den eigentlichen Karneval, wobei denn die +Taenzergruppen ihre Kunst und vor allem ihre Possen entfaltet haben moegen und +wohl auch andere Darstellungen, zum Beispiel Kampfspiele der Knabenreiterei, +ihren Platz fanden ^6. Auch die im ernsten Kriege gewonnenen Ehren spielten bei +diesem Feste eine Rolle; der tapfere Streiter stellte an diesem Tage die +Ruestungen der erschlagenen Gegner aus und trug ebenso wie der Sieger im +Wettspiel den Kranz, mit dem die dankbare Gemeinde ihn geschmueckt hatte. +</p> + +<p> +—————————————————————————————- +</p> + +<p> +^4 Die Erzaehlung, dass ehemals die roemischen Knaben etruskische wie +spaeterhin griechische Bildung empfangen haetten (Liv. 9, 36), ist mit dem +urspruenglichen Wesen der roemischen Jugendbildung ebenso unvereinbar, wie es +nicht abzusehen ist, was denn die roemischen Knaben in Etrurien lernten. Dass +das Studium der etruskischen Sprache damals in Rom die Rolle gespielt habe wie +etwa jetzt bei uns das Franzoesischlernen, werden doch selbst die eifrigsten +heutigen Bekenner des Tages-Kultus nicht behaupten; und von der etruskischen +Haruspicin etwas zu verstehen, galt selbst bei denen, die sich ihrer bedienten, +einem Nichtetrusker fuer schimpflich oder vielmehr fuer unmoeglich (K. O. +Mueller, Die Etrusker. Breslau 1828. Bd. 2, S. 4). Vielleicht ist die Angabe +von den etruskisierenden Archaeologen der letzten Zeit der Republik +herausgesponnen aus pragmatisierenden Erzaehlungen der aelteren Annalen, welche +zum Beispiel den Mucius Scaevola seiner Unterhaltung mit Porsena zuliebe als +Kind etruskisch lernen lassen (Dion. Hal. 5, 28; Plut. Publ. 17; vgl. Dion. +Hal. 3, 70). Aber es gab allerdings eine Epoche, wo die Herrschaft Roms ueber +Italien eine gewisse Kenntnis der Landessprache bei den vornehmen Roemern +erforderte. +</p> + +<p> +^5 Den Gebrauch der Leier im Ritual bezeugen Cic. De orat. 3, 51,197; Cic. +Tusc. 4, 2, 4; Dion. Hal. 7, 72; App. Pun. 66 und die Inschrift Orelli 2448, +vgl. 1803. Ebenso ward sie bei den Nenien angewandt (Varro bei Nonius unter +nenia und praeficae). Aber das Leierspiel blieb darum nicht weniger +unschicklich (Scipio bei Macr. Sat. 2, 10 und sonst); von dem Verbot der Musik +im Jahre 639 wurden nur der “latinische Floetenspieler samt dem Saengern, +nicht der Saitenspieler ausgenommen, und die Gaeste bei dem Mahle sangen nur +zur Floete (Cato bei Cic. Tusc. 1, 2, 3; 4, 2, 3; Varro bei Nonius unter assa +voce; Hor. carm. 4, 15, 30). Quintilian, der das Gegenteil sagt (inst. 1, 10, +20), hat, was Cicero (De orat. 3, 51) von den Goetterschmaeusen erzaehlt, +ungenau auf Privatgastmaehler uebertragen. +</p> + +<p> +^6 Das Stadtfest kann urspruenglich nur einen Tag gewaehrt haben, da es noch im +sechsten Jahrhundert aus vier Tagen szenischer und einem Tag circensischer +Spiele bestand (F. W. Ritschl, Parerga zu Plautus und Terentius. Leipzig 1845. +Bd. 1, S. 313) und notorisch die szenischen Spiele erst spaeter hinzugekommen +sind. Dass in jeder Kampfgattung urspruenglich nur einmal gestritten ward, +folgt aus Liv. 44, 9; wenn spaeter an einem Spieltag bis zu fuenfundzwanzig +Wagenpaare nacheinander liefen (Varro bei Serv. georg. 3, 18), so ist das +Neuerung. Dass nur zwei Wagen und ebenso ohne Zweifel nur zwei Reiter und zwei +Ringer um den Preis stritten, folgt daraus, dass zu allen Zeiten in den +roemischen Wagenrennen nur so viel Wagen zugleich liefen, als es sogenannte +Faktionen gab und dieser urspruenglich nur zwei waren, die weisse und die rote. +Das zu den circensischen gehoerende Reiterspiel der patrizischen Epheben, die +sogenannte Troia, ward bekanntlich von Caesar wieder ins Leben gerufen; ohne +Zweifel knuepfte es an den Aufzug der Knabenbuergerwehr zu Pferde, dessen +Dionys (7, 72) gedenkt. +</p> + +<p> +————————————————————————————— +</p> + +<p> +Solcher Art war das roemische Sieges- oder Stadtfest, und auch die uebrigen +oeffentlichen Festlichkeiten Roms werden wir uns aehnlich, wenn auch in den +Mitteln beschraenkter vorzustellen haben. Bei der oeffentlichen Leichenfeier +traten regelmaessig Taenzer und daneben, wenn mehr geschehen sollte, noch +Wettreiter auf, wo dann die Buergerschaft durch den oeffentlichen Ausrufer +vorher besonders zu dem Begraebnis eingeladen ward. +</p> + +<p> +Aber dieses mit den Sitten und den Uebungen Roms so eng verwachsene Stadtfest +trifft mit den hellenischen Volksfesten wesentlich zusammen: so vor allem in +dem Grundgedanken der Vereinigung einer religioesen Feier und eines +kriegerischen Wettkampfs; in der Auswahl der einzelnen Uebungen, die bei dem +Fest von Olympia nach Pindaros’ Zeugnis von Haus aus im Laufen, Ringen, +Faustkampf, Wagenrennen, Speer- und Steinwerfen bestanden; in der +Beschaffenheit des Siegespreises, der in Rom so gut wie bei den griechischen +Nationalfesten ein Kranz ist und dort wie hier nicht dem Lenker, sondern dem +Besitzer des Gespannes zuteil wird; endlich in dem Hineinziehen allgemein +patriotischer Taten und Belohnungen in das allgemeine Volksfest. Zufaellig kann +diese Uebereinstimmung nicht sein, sondern nur entweder ein Rest uralter +Volksgemeinschaft oder eine Folge des aeltesten internationalen Verkehrs; fuer +die letztere Annahme spricht die ueberwiegende Wahrscheinlichkeit. Das +Stadtfest in der Gestalt, wie wir es kennen, ist keine der aeltesten +Einrichtungen Roms, da der Spielplatz selbst erst zu den Anlagen der spaeteren +Koenigszeit gehoert (I, 123); und so gut wie die Verfassungsreform damals unter +griechischem Einfluss erfolgt ist (I, 109), kann gleichzeitig im Stadtfest eine +aeltere Belustigungsweise - der “Sprung” (triumpus, 1, 44) und etwa +das in Italien uralte und bei dem Fest auf dem Albaner Berg noch lange in +Uebung gebliebene Schaukeln - mit den griechischen Rennen verbunden und bis zu +einem gewissen Grade durch dieselben verdraengt worden sein. Es ist ferner von +dem ernstlichen Gebrauch der Streitwagen wohl in Hellas, aber nicht in Latium +eine Spur vorhanden. Endlich ist das griechische Stadion (dorisch σπάδιον) als +spatium mit der gleichen Bedeutung in sehr frueher Zeit in die lateinische +Sprache uebergegangen und liegt sogar ein ausdrueckliches Zeugnis dafuer vor, +dass die Roemer die Pferde- und Wagenrennen von den Thurinern entlehnten, +wogegen freilich eine andere Angabe sie aus Etrurien herleitet. Demnach +scheinen die Roemer ausser den musikalischen und poetischen Anregungen auch den +fruchtbaren Gedanken des gymnastischen Wettstreits den Hellenen zu verdanken. +</p> + +<p> +Es waren also in Latium nicht bloss dieselben Grundlagen vorhanden, aus denen +die hellenische Bildung und Kunst erwuchs, sondern es hat auch diese selbst in +fruehester Zeit maechtig auf Latium gewirkt. Die Elemente der Gymnastik +besassen die Latiner nicht bloss insofern, als der roemische Knabe wie jeder +Bauernsohn Pferde und Wagen regieren und den Jagdspiess fuehren lernte und als +in Rom jeder Gemeindebuerger zugleich Soldat war; sondern es genoss die +Tanzkunst von jeher oeffentlicher Pflege, und frueh trat mit den hellenischen +Wettkaempfen eine gewaltige Anregung hinzu. In der Poesie war die hellenische +Lyrik und Tragoedie aus aehnlichen Gesaengen erwachsen, wie das roemische +Festlied sie darbot, enthielt das Ahnenlied die Keime des Epos, die Maskenposse +die Keime der Komoedie; und auch hier mangelte griechische Einwirkung nicht. +</p> + +<p> +Um so merkwuerdiger ist es, dass alle diese Samenkoerner nicht aufgingen oder +verkuemmerten. Die koerperliche Erziehung der latinischen Jugend blieb derb und +tuechtig, aber fern von dem Gedanken einer kuenstlerischen Ausbildung des +Koerpers, wie die hellenische Gymnastik sie verfolgte. Die oeffentlichen +Wettkaempfe der Hellenen veraenderten in Italien nicht gerade ihre Satzungen, +aber ihr Wesen. Waehrend sie Wettkaempfe der Buerger sein sollten und ohne +Zweifel anfangs auch in Rom waren, wurden sie Wettkaempfe von Kunstreitern und +Kunstfechtern; und wenn der Beweis freier und hellenischer Abstammung die erste +Bedingung der Teilnahme an den griechischen Festspielen war, so kamen die +roemischen bald in die Haende von freigelassenen und fremden, ja selbst von +unfreien Leuten. Folgeweise verwandelte sich der Umstand der Mitstreiter in ein +Zuschauerpublikum, und von dem Kranz des Wettsiegers, den man mit Recht das +Wahrzeichen von Hellas genannt hat, ist in Latium spaeterhin kaum die Rede. +</p> + +<p> +Aehnlich erging es der Poesie und ihren Schwestern. Nur die Griechen und die +Deutschen besitzen den freiwillig hervorsprudelnden Liederquell; aus der +goldenen Schale der Musen sind auf Italiens gruenen Boden eben nur wenige +Tropfen gefallen. Zur eigentlichen Sagenbildung kam es nicht. Die italischen +Goetter sind Abstraktionen gewesen und geblieben und haben nie zu rechter +persoenlicher Gestaltung sich gesteigert oder, wenn man will, verdunkelt. +Ebenso sind die Menschen, auch die groessten und herrlichsten, dem Italiker +ohne Ausnahme Sterbliche geblieben und wurden nicht wie in Griechenland in +sehnsuechtiger Erinnerung und liebevoll gepflegter Ueberlieferung in der +Vorstellung der Menge zu goettergleichen Heroen erhoben. Vor allem aber kam es +in Latium nicht zur Entwicklung einer Nationalpoesie. Es ist die tiefste und +herrlichste Wirkung der musischen Kuenste und vor allem der Poesie, dass sie +die Schranken der buergerlichen Gemeinden sprengen und aus den Staemmen ein +Volk, aus den Voelkern eine Welt erschaffen. Wie heutzutage in unserer und +durch unsere Weltliteratur die Gegensaetze der zivilisierten Nationen +aufgehoben sind, so hat die griechische Dichtkunst das duerftige und +egoistische Stammgefuehl zum hellenischen Volksbewusstsein und dieses zum +Humanismus umgewandelt. Aber in Latium trat nichts Aehnliches ein; es mochte +Dichter in Alba und in Rom geben, aber es entstand kein latinisches Epos, nicht +einmal, was eher noch denkbar waere, ein latinischer Bauernkatechismus von der +Art wie die Hesiodischen ‘Werke und Tage’. Es konnte wohl das +latinische Bundesfest ein musisches Nationalfest werden wie die Olympien und +Isthmien der Griechen. Es konnte wohl an Albas Fall ein Sagenkreis anknuepfen, +wie er um Ilions Eroberung sich spann, und jede Gemeinde und jedes edle +Geschlecht Latiums seine eigenen Anfaenge darin wiederfinden oder hineinlegen. +Aber weder das eine noch das andere geschah und Italien blieb ohne nationale +Poesie und Kunst. +</p> + +<p> +Was hieraus mit Notwendigkeit folgt, dass die Entwicklung der musischen Kuenste +in Latium mehr ein Eintrocknen als ein Aufbluehen war, das bestaetigt, auch +fuer uns noch unverkennbar, die Ueberlieferung. Die Anfaenge der Poesie eignen +wohl ueberall mehr den Frauen als den Maennern; Zaubergesang und Totenlied +gehoeren vorzugsweise jenen und nicht ohne Grund sind die Liedesgeister, die +Casmenen oder Camenen und die Carmentis Latiums, wie die Musen von Hellas +weiblich gefasst worden. Aber in Hellas kam die Zeit, wo der Dichter die +Sangfrau abloeste und Apollon an die Spitze der Musen trat; Latium hat keinen +nationalen Gott des Gesanges und die aeltere lateinische Sprache keine +Bezeichnung fuer den Dichter ^7. Die Liedesmacht ist hier unverhaeltnismaessig +schwaecher aufgetreten und rasch verkuemmert. Die Uebung musischer Kuenste hat +sich hier frueh teils auf Frauen und Kinder, teils auf zuenftige und +unzuenftige Handwerker beschraenkt. Dass die Klagelieder von den Frauen, die +Tischlieder von den Knaben gesungen wurden, ist schon erwaehnt worden; auch die +religioesen Litaneien wurden vorzugsweise von Kindern ausgefuehrt. Die +Spielleute bildeten ein zuenftiges, die Taenzer und die Klagefrauen (praeficae) +unzuenftige Gewerbe. Wenn Tanz, Spiel und Gesang in Hellas stets blieben, was +sie auch in Latium urspruenglich gewesen waren, ehrenvolle und dem Buerger wie +seiner Gemeinde zur Zier gereichende Beschaeftigungen, so zog sich in Latium +der bessere Teil der Buergerschaft mehr und mehr von diesen eitlen Kuensten +zurueck, und um so entschiedener, je mehr die Kunst sich oeffentlich darstellte +und je mehr sie von den belebenden Anregungen des Auslandes durchdrungen war. +Die einheimische Floete liess man sich gefallen, aber die Lyra blieb geaechtet; +und wenn das nationale Maskenspiel zugelassen ward, so schien das auslaendische +Ringspiel nicht bloss gleichgueltig, sondern schaendlich. Waehrend die +musischen Kuenste in Griechenland immer mehr Gemeingut eines jeden einzelnen +und aller Hellenen zusammen werden und damit aus ihnen eine allgemeine Bildung +sich entwickelt, schwinden sie in Latium allgemach aus dem allgemeinen +Volksbewusstsein, und indem sie zu in jeder Beziehung geringen Handwerken +herabsinken, kommt hier nicht einmal die Idee einer der Jugend mitzuteilenden, +allgemein nationalen Bildung auf. Die Jugenderziehung blieb durchaus befangen +in den Schranken der engsten Haeuslichkeit. Der Knabe wich dem Vater nicht von +der Seite und begleitete ihn nicht bloss mit dem Pfluge und der Sichel auf das +Feld, sondern auch in das Haus des Freundes und in den Sitzungssaal, wenn der +Vater zu Gaste oder in den Rat geladen war. Diese haeusliche Erziehung war wohl +geeignet, den Menschen ganz dem Hause und ganz dem Staate zu bewahren; auf der +dauernden Lebensgemeinschaft zwischen Vater und Sohn und auf der gegenseitigen +Scheu des werdenden Menschen vor dem fertigen und des reifen Mannes vor der +Unschuld der Jugend beruhte die Festigkeit der haeuslichen und staatlichen +Tradition, die Innigkeit des Familienbandes, ueberhaupt der gewichtige Ernst +(gravitas) und der sittliche und wuerdige Charakter des roemischen Lebens. Wohl +war auch diese Jugenderziehung eine jener Institutionen schlichter und ihrer +selbst kaum bewusster Weisheit, die ebenso einfach sind wie tief; aber ueber +der Bewunderung, die sie erweckt, darf es nicht uebersehen werden, dass sie nur +durchgefuehrt werden konnte und nur durchgefuehrt ward durch die Aufopferung +der eigentlichen individuellen Bildung und durch voelligen Verzicht auf die so +reizenden wie gefaehrlichen Gaben der Musen. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +^7 Vates ist wohl zunaechst der Vorsaenger (denn so wird der vates der Salier +zu fassen sein) und naehert sich dann im aelteren Sprachgebrauch dem +griechischen προφήτης: es ist ein dem religioesen Ritual angehoerendes Wort und +hat, auch als es spaeter vom Dichter gebraucht ward, immer den Nebenbegriff des +gotterfuellten Saengers, des Musenpriesters, behalten. +</p> + +<p> +——————————————————————— +</p> + +<p> +Ueber die Entwicklung der musischen Kuenste bei den Etruskern und Sabellern +mangelt uns so gut wie jede Kunde ^8. Es kann hoechstens erwaehnt werden, dass +auch in Etrurien die Taenzer (histri, histriones) und die Floetenspieler +(subulones) frueh und wahrscheinlich noch frueher als in Rom aus ihrer Kunst +ein Gewerbe machten und nicht bloss in der Heimat, sondern auch in Rom um +geringen Lohn und keine Ehre sich oeffentlich produzierten. Bemerkenswerter ist +es, dass an dem etruskischen Nationalfest, welches die saemtlichen +Zwoelfstaedte durch einen Bundespriester ausrichteten, Spiele wie die des +roemischen Stadtfestes gegeben wurden; indes die dadurch nahegelegte Frage, +inwieweit die Etrusker mehr als die Latiner zu einer nationalen, ueber den +einzelnen Gemeinden stehenden musischen Kunst gelangt sind, sind wir zu +beantworten nicht mehr imstande. Anderseits mag wohl in Etrurien schon in +frueherer Zeit der Grund gelegt sein zu der geistlosen Ansammlung gelehrten, +namentlich theologischen und astrologischen Plunders, durch den die Tusker +spaeterhin, als in dem allgemeinen Verfall die Zopfgelehrsamkeit zur Bluete +kam, mit den Juden, Chaldaeern und Aegyptern die Ehre teilten, als Urquell +goettlicher Weisheit angestaunt zu werden. +</p> + +<p> +Womoeglich noch weniger wissen wir von sabellischer Kunst; woraus natuerlich +noch keineswegs folgt, dass sie der der Nachbarstaemme nachgestanden hat. +Vielmehr laesst sich nach dem sonst bekannten Charakter der drei Hauptstaemme +vermuten, dass an kuenstlerischer Begabung die Samniten den Hellenen am +naechsten, die Etrusker ihnen am fernsten gestanden haben moegen; und eine +gewisse Bestaetigung dieser Annahme gewaehrt die Tatsache, dass die +bedeutendsten und eigenartigsten unter den roemischen Poeten, wie Naevius, +Ennius, Lucilius, Horatius, den samnitischen Landschaften angehoeren, wogegen +Etrurien in der roemischen Literatur fast keine anderen Vertreter hat als den +Arretiner Maecenas, den unleidlichsten aller herzvertrockneten und +worteverkraeuselnden Hofpoeten, und den Volaterraner Persius, das rechte Ideal +eines hoffaertigen und mattherzigen, der Poesie beflissenen Jungen. +</p> + +<p> +Die Elemente der Baukunst sind, wie dies schon angedeutet ward, uraltes +Gemeingut der Staemme. Den Anfang aller Tektonik macht das Wohnhaus; es ist +dasselbe bei Griechen und Italikern. Von Holz gebaut und mit einem spitzen +Stroh- oder Schindeldach bedeckt, bildet es einen viereckigen Wohnraum, welcher +durch die mit dem Regenloch im Boden korrespondierende Deckenoeffnung (cavum +aedium) den Rauch entlaesst und das Licht einfuehrt. Unter dieser +“schwarzen Decke” (atrium) werden die Speisen bereitet und +verzehrt; hier werden die Hausgoetter verehrt und das Ehebett wie die Bahre +aufgestellt; hier empfaengt der Mann die Gaeste und sitzt die Frau spinnend im +Kreise ihrer Maegde. Das Haus hatte keinen Flur, insofern man nicht den +unbedeckten Raum zwischen der Haustuer und der Strasse dafuer nehmen will, +welcher seinen Namen vestibulum, das ist der Ankleideplatz, davon erhielt, dass +man im Hause im Untergewand zu gehen pflegte und nur, wenn man hinaustrat, die +Toga umwarf. Auch eine Zimmereinteilung mangelte, ausser dass um den Wohnraum +herum Schlaf- und Vorratskammern angebracht werden konnten; und an Treppen und +aufgesetzte Stockwerke ist noch weniger zu denken. +</p> + +<p> +———————————————————————— +</p> + +<p> +^8 Dass die Atellanen und Fescenninen nicht der kampanischen und etruskischen, +sondern der latinischen Kunst angehoeren, wird seiner Zeit gezeigt werden. +</p> + +<p> +———————————————————————- +</p> + +<p> +Ob und wieweit aus diesen Anfaengen eine national-italische Tektonik +hervorging, ist kaum zu entscheiden, da die griechische Einwirkung schon in der +fruehesten Zeit hier uebermaechtig eingegriffen und die etwa vorhandenen +volkstuemlichen Anfaenge fast ganz ueberwuchert hat. Schon die aelteste +italische Baukunst, welche uns bekannt ist, steht nicht viel weniger unter dem +Einfluss der griechischen als die Tektonik der augustischen Zeit. Die uralten +Graeber von Caere und Alsium sowie wahrscheinlich auch das aelteste unter den +kuerzlich aufgedeckten praenestinischen sind ganz wie die Thesauren von +Orchomenos und Mykenae durch uebereinandergeschobene, allmaehlich einspringende +und mit einem grossen Deckstein geschlossene Steinlagen ueberdacht gewesen. In +derselben Weise ist ein sehr altertuemliches Gebaeude an der Stadtmauer von +Tusculum gedeckt, und ebenso gedeckt war urspruenglich das Quellhaus +(tullianum) am Fusse des Kapitols, bis des darauf gesetzten Gebaeudes wegen die +Spitze abgetragen ward. Die nach demselben System angelegten Tore gleichen sich +voellig in Arpinum und in Mykenae. Der Emissar des Albaner Sees hat die +groesste Aehnlichkeit mit dem des Kopaischen. Die sogenannten kyklopischen +Ringmauern kommen in Italien, vorzugsweise in Etrurien, Umbrien, Latium und der +Sabina haeufig vor und gehoeren der Anlage nach entschieden zu den aeltesten +Bauwerken Italiens, obwohl der groesste Teil der jetzt vorhandenen +wahrscheinlich erst viel spaeter, einzelne sicher erst im siebenten Jahrhundert +der Stadt aufgefuehrt worden sind. Sie sind, eben wie die griechischen, bald +ganz roh aus grossen unbearbeiteten Felsbloecken mit dazwischen eingeschobenen +kleineren Steinen, bald quadratisch in horizontalen Lagen ^9, bald aus +vieleckig zugehauenen, ineinandergreifenden Bloecken geschichtet; ueber die +Wahl des einen oder des anderen dieser Systeme entschied in der Regel wohl das +Material, wie denn in Rom, wo man in aeltester Zeit nur aus Tuff baute, +deswegen der Polygonalbau nicht vorkommt. Die Analogie der beiden ersten +einfacheren Arten mag man auf die des Baustoffs und des Bauzwecks +zurueckfuehren; aber es kann schwerlich fuer zufaellig gehalten werden, dass +auch der kuenstliche polygone Mauerbau und das Tor mit dem durchgaengig links +einbiegenden und die unbeschildete rechte Seite des Angreifers den Verteidigern +blosslegenden Torweg den italischen Festungen ebensowohl wie den griechischen +eignet. Bedeutsame Winke liegen auch darin, dass in demjenigen Teil Italiens, +der von den Hellenen zwar nicht unterworfen, aber doch mit ihnen in lebhaftem +Verkehr war, der eigentliche polygone Mauerbau landueblich war und er in +Etrurien nur in Pyrgi und in den nicht sehr weit davon entfernten Staedten Cosa +und Saturnia begegnet; da die Anlage der Mauer von Pyrgi, zumal bei dem +bedeutsamen Namen (“Tuerme”), wohl ebenso sicher den Griechen +zugeschrieben werden kann wie die der Mauern von Tirynth, so steht hoechst +wahrscheinlich in ihnen noch uns eines der Muster vor Augen, an denen die +Italiker den Mauerbau lernten. Der Tempel endlich, der in der Kaiserzeit der +tuscanische hiess und als eine den verschiedenen griechischen Tempelbauten +koordinierte Stilgattung betrachtet ward, ist sowohl im ganzen eben wie der +griechische ein gewoehnlich viereckiger ummauerter Raum (cella), ueber welchem +Waende und Saeulen das schraege Dach schwebend emportragen, als auch im +einzelnen, vor allem in der Saeule selbst und ihrem architektonischen Detail, +voellig abhaengig von dem griechischen Schema. Es ist nach allem diesem +wahrscheinlich wie auch an sich glaublich, dass die italische Baukunst vor der +Beruehrung mit den Hellenen sich auf Holzhuetten, Verhacke und Erd- und +Steinaufschuettungen beschraenkte und dass die Steinkonstruktion erst in +Aufnahme kam durch das Beispiel und die besseren Werkzeuge der Griechen. Kaum +zu bezweifeln ist es, dass die Italiker erst von diesen den Gebrauch des Eisens +kennenlernten und von ihnen die Moertelbereitung (cal[e]x, calecare, von +χάλιξ), die Maschine (machina μηχανή), das Richtmass (groma, verdorben aus +γνώμων γνώμα) und den kuenstlichen Verschluss (clatri κλήθρον) ueberkamen. +Demnach kann von einer eigentuemlich italischen Architektur kaum gesprochen +werden. Doch mag in dem Holzbau des italischen Wohnhauses neben den durch +griechischen Einfluss hervorgerufenen Abaenderungen manches Eigentuemliche +festgehalten oder auch erst entwickelt worden sein und dies dann wieder auf den +Bau der italischen Goetterhaeuser zurueckgewirkt haben. Die architektonische +Entwicklung des Hauses aber ging in Italien aus von den Etruskern. Der Latiner +und selbst der Sabeller hielten noch fest an der ererbten Holzhuette und der +guten alten Sitte, dem Gotte wie dem Geist nicht eine geweihte Wohnung, sondern +nur einen geweihten Raum anzuweisen, als der Etrusker schon begonnen hatte, das +Wohnhaus kuenstlerisch umzubilden und nach dem Muster des menschlichen +Wohnhauses auch dem Gotte einen Tempel und dem Geist ein Grabgemach zu +errichten. Dass man in Latium zu solchen Luxusbauten erst unter etruskischem +Einfluss vorschritt, beweist die Bezeichnung des aeltesten Tempelbau- und des +aeltesten Hausbaustils als tuscanischer ^10. Was den Charakter dieser +Uebertragung anlangt, so ahmt der griechische Tempel wohl auch die allgemeinen +Umrisse des Zeltes oder des Wohnhauses nach; aber er ist wesentlich von Quadern +gebaut und mit Ziegeln gedeckt, und in dem durch den Stein und den gebrannten +Ton bestimmten Verhaeltnissen haben sich fuer ihn die Gesetze der Notwendigkeit +und der Schoenheit entwickelt. Dem Etrusker dagegen blieb der scharfe +griechische Gegensatz zwischen der von Holz hergerichteten Menschen- und der +steinernen Goetterwohnung fremd; die Eigentuemlichkeiten des tuscanischen +Tempels: der mehr dem Quadrat sich naehernde Grundriss, der hoehere Giebel, die +groessere Weite der Zwischenraeume zwischen den Saeulen, vor allem die +gesteigerte Schraegung und das auffallende Vortreten der Dachbalkenkoepfe ueber +die tragenden Saeulen gehen saemtlich aus der groesseren Annaeherung des +Tempels an das Wohnhaus und aus den Eigentuemlichkeiten des Holzbaues hervor. +</p> + +<p> +————————————————————————————- +</p> + +<p> +^9 Dieser Art sind die Servianischen Mauern gewesen. Sie bestehen teils aus +einer Verstaerkung der Huegelabhaenge durch vorgelegte bis zu vier Metern +starke Futtermauern, teils in den Zwischenraeumen, vor allem am Viminal und +Quirinal, wo vom Esquilinischen bis zum Collinischen Tore die natuerliche +Verteidigung fehlte, aus einem Erdwall, welcher nach aussen durch eine +aehnliche Futtermauer abgeschlossen wird. Auf diesen Futtermauern ruhte die +Brustwehr. Ein Graben, nach zuverlaessigen Berichten der Alten 30 Fuss tief und +100 Fuss breit, zog sich vor dem Wall hin, zu dem die Erde aus eben diesem +Graben genommen war. Die Brustwehr hat sich nirgends erhalten; von den +Futtermauern sind in neuerer Zeit ausgedehnte Ueberreste zum Vorschein +gekommen. Die Tuffbloecke derselben sind im laenglichen Rechteck behauen, +durchschnittlich 60 Zentimeter (= 2 roem. Fuss) hoch und breit, waehrend die +Laenge von 70 Zentimetern bis zu drei Metern wechselt, und ohne Anwendung von +Moertel, abwechselnd mit den Lang- und mit den Schmalseiten nach aussen, in +mehreren Reihen nebeneinander geschichtet. +</p> + +<p> +Der im Jahre 1862 in der Villa Negroni aufgedeckte Teil des Servianischen Walls +am Viminalischen Tor ruht auf einem Fundament gewaltiger Tuffbloecke von drei +bis vier Metern Hoehe und Breite, auf welchem dann aus Bloecken von demselben +Material und derselben Groesse, wie sie bei der Mauer sonst verwandt waren, die +Aussenmauer sich erhob. Der dahinter aufgeschuettete Erdwall scheint auf der +oberen Flaeche eine Breite bis zu etwa dreizehn Metern oder reichlich 40 roem. +Fuss, die ganze Mauerwehr mit Einrechnung der Aussenmauer von Quadern eine +Breite bis zu fuenfzehn Metern oder 50 roem. Fuss gehabt zu haben. Die Stuecke +aus Peperinbloecken, welche mit eisernen Klammern verbunden sind, sind erst bei +spaeteren Ausbesserungsarbeiten hinzugekommen. +</p> + +<p> +Den Servianischen wesentlich gleichartig sind die in der Vigna Nussiner am +Abhang des Palatins nach der Kapitolseite und an anderen Punkten des Palatin +aufgefundenen Mauern, die von Jordan (Topographie der Stadt Rom im Altertum. +Bd. 2. Berlin 1885, S. 173) wahrscheinlich mit Recht fuer Ueberreste der +Burgmauer des palatinischen Rom erklaert worden sind. +</p> + +<p> +^10 Ratio Tuscanica; cavum aedium Tuscanicum. +</p> + +<p> +——————————————————————————- +</p> + +<p> +Die bildenden und zeichnenden Kuenste sind juenger als die Architektur; das +Haus muss erst gebaut sein, ehe man daran geht, Giebel und Waende zu +schmuecken. Es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Kuenste in Italien schon +waehrend der roemischen Koenigszeit recht in Aufnahme gekommen sind; nur in +Etrurien, wo Handel und Seeraub frueh grosse Reichtuemer konzentrierten, wird +die Kunst oder, wenn man lieber will, das Handwerk in fruehester Zeit Fuss +gefasst haben. Die griechische Kunst, wie sie auf Etrurien gewirkt hat, stand, +wie ihr Abbild beweist, noch auf einer sehr primitiven Stufe und es moegen wohl +die Etrusker in nicht viel spaeterer Zeit von den Griechen gelernt haben, in +Ton und Metall zu arbeiten, als diejenige war, in der sie das Alphabet von +ihnen entlehnten. Von etruskischer Kunstfertigkeit dieser Epoche geben die +Silbermuenzen von Populonia, fast die einzigen mit einiger Sicherheit dieser +Epoche zuzuweisenden Arbeiten, nicht gerade einen hohen Begriff; doch moegen +von den etruskischen Bronzewerken, welche die spaeteren Kunstkenner so hoch +stellten, die besten eben dieser Urzeit angehoert haben, und auch die +etruskischen Terrakotten koennen nicht ganz gering gewesen sein, da die +aeltesten in den roemischen Tempeln aufgestellten Werke aus gebrannter Erde, +die Bildsaeule des kapitolinischen Jupiter und das Viergespann auf seinem +Dache, in Veii bestellt worden waren und die grossen derartigen Aufsaetze auf +den Tempeldaechern ueberhaupt bei den spaeteren Roemern als “tuscanische +Werke” gingen. +</p> + +<p> +Dagegen war bei den Italikern, nicht bloss bei den sabellischen Staemmen, +sondern selbst bei den Latinern, das eigene Bilden und Zeichnen in dieser Zeit +noch erst im Entstehen. Die bedeutendsten Kunstwerke scheinen im Auslande +gearbeitet worden zu sein. Der angeblich in Veii verfertigten Tonbilder wurde +schon gedacht; dass in Etrurien verfertigte und mit etruskischen Inschriften +versehene Bronzearbeiten wenn nicht in Latium ueberhaupt, doch mindestens in +Praeneste gangbar waren, haben die neuesten Ausgrabungen bewiesen. Das Bild der +Diana in dem roemisch-latinischen Bundestempel auf dem Aventin, welches als das +aelteste Goetterbild in Rom galt ^11, glich genau dem massaliotischen der +ephesischen Artetuis und war vielleicht in Elea oder Massalia gearbeitet. Es +sind fast allein die seit alter Zeit in Rom vorhandenen Zuenfte der Toepfer, +Kupfer- und Goldschmiede, welche das Vorhandensein eigenen Bildens und +Zeichnens daselbst beweisen; von ihrem Kunststandpunkt aber ist es nicht mehr +moeglich, eine konkrete Vorstellung zu gewinnen. +</p> + +<p> +Versuchen wir aus den Archiven aeltester Kunstueberlieferung und Kunstuebung +geschichtliche Resultate zu gewinnen, so ist zunaechst offenbar, dass die +italische Kunst ebenso wie italisches Mass und italische Schrift nicht unter +phoenikischem, sondern ausschliesslich unter hellenischem Einfluss sich +entwickelt hat. Es ist nicht eine einzige unter den italischen Kunstrichtungen, +die nicht in der altgriechischen Kunst ihr bestimmtes Musterbild faende, und +insofern hat die Sage ganz recht, wenn sie die Verfertigung der bemalten +Tonbilder, ohne Zweifel der aeltesten Kunstart, in Italien zurueckfuehrt auf +die drei griechischen Kuenstler: den “Bildner”, +“Ordner” und “Zeichner”, Eucheir, Diopos und Eugrammos, +obwohl es mehr als zweifelhaft ist, dass diese Kunst zunaechst von Korinth und +zunaechst nach Tarquinii kam. Von unmittelbarer Nachahmung orientalischer +Muster findet sich ebensowenig eine Spur als von einer selbstaendig +entwickelten Kunstform; wenn die etruskischen Steinschneider an der +urspruenglich aegyptischen Kaefer- oder Skarabaeenform festhielten, so sind +doch auch die Skarabaeen in Griechenland in sehr frueher Zeit nachgeschnitten +worden, wie denn ein solcher Kaeferstein mit sehr alter griechischer Inschrift +sich in Aegina gefunden hat, und koennen also den Etruskern recht wohl durch +die Griechen zugekommen sein. Von dem Phoeniker mochte man kaufen; man lernte +nur von dem Griechen. +</p> + +<p> +———————————————————————————— +</p> + +<p> +^11 Wenn Varro (bei Aug. civ. 4, 31, vgl. Plut. Num. 8) sagt, dass die Roemer +mehr als 170 Jahre die Goetter ohne Bilder verehrt haetten, so denkt er +offenbar an dies uralte Schnitzbild, welches nach der konventionellen +Chronologie zwischen 176 und 219 (578 und 535) der Stadt dediziert und ohne +Zweifel das erste Goetterbild war, dessen Weihung die dem Varro vorliegenden +Quellen erwaehnten. Vgl. oben 1, 230. +</p> + +<p> +——————————————————————————— +</p> + +<p> +Auf die weitere Frage, von welchem griechischen Stamm den Etruskern die +Kunstmuster zunaechst zugekommen sind, laesst sich eine kategorische Antwort +nicht geben; doch bestehen bemerkenswerte Beziehungen zwischen der etruskischen +und der aeltesten attischen Kunst. Die drei Kunstformen, die in Etrurien +wenigstens spaeterhin in grosser, in Griechenland nur in sehr beschraenkter +Ausdehnung geuebt worden sind, die Grabmalerei, die Spiegelzeichnung und die +Steinschneidekunst, sind bis jetzt auf griechischem Boden einzig in Athen und +Aegina beobachtet worden. Der tuskische Tempel entspricht genau weder dem +dorischen noch dem ionischen; aber in den wichtigsten Unterscheidungsmomenten, +in dem um die Cella herumgefuehrten Saeulengang sowie in der Unterlegung eines +besonderen Postaments unter jede einzelne Saeule, folgt der etruskische Stil +dem juengeren ionischen; und eben der noch vom dorischen Element durchdrungene +ionisch-attische Baustil steht in der allgemeinen Anlage unter allen +griechischen dem tuskischen am naechsten. Fuer Latium mangelt es so gut wie +ganz an sicheren kunstgeschichtlichen Verkehrsspuren; wenn aber, wie sich dies +ja genau genommen von selbst versteht, die allgemeinen Handels- und +Verkehrsbeziehungen auch fuer die Kunstmuster entscheidend gewesen sind, so +kann mit Sicherheit angenommen werden, dass die kampanischen und sizilischen +Hellenen wie im Alphabet so auch in der Kunst die Lehrmeister Latiums gewesen +sind; und die Analogie der aventinischen Diana mit der ephesischen Artemis +widerspricht dem wenigstens nicht. Daneben war denn natuerlich die aeltere +etruskische Kunst auch fuer Latium Muster. Den sabellischen Staemmen ist wie +das griechische Alphabet so auch die griechische Bau- und Bildkunst wenn +ueberhaupt doch nur durch Vermittlung der westlicheren italischen Staemme +nahegetreten. +</p> + +<p> +Wenn aber endlich ueber die Kunstbegabung der verschiedenen italischen Nationen +ein Urteil gefaellt werden soll, so ist schon hier ersichtlich, was freilich in +den spaeteren Stadien der Kunstgeschichte noch bei weitem deutlicher +hervortritt, dass die Etrusker wohl frueher zur Kunstuebung gelangt sind und +massenhafter und reicher gearbeitet haben, dagegen ihre Werke hinter den +latinischen und sabellischen an Zweckrichtigkeit und Nuetzlichkeit nicht minder +wie an Geist und Schoenheit zurueckstehen. Es zeigt sich dies allerdings fuer +jetzt nur noch in der Architektur. Der ebenso zweckmaessige wie schoene +polygone Mauerbau ist in Latium und dem dahinterliegenden Binnenland haeufig, +in Etrurien selten und nicht einmal Caeres Mauern sind aus vieleckigen Bloecken +geschichtet. Selbst in der auch kunstgeschichtlich merkwuerdigen religioesen +Hervorhebung des Bogens und der Bruecke in Latium ist es wohl erlaubt, die +Anfaenge der spaeteren roemischen Aquaedukte und roemischen Konsularstrassen zu +erkennen. Dagegen haben die Etrusker den hellenischen Prachtbau wiederholt, +aber auch verdorben, indem sie die fuer den Steinbau festgestellten Gesetze +nicht durchaus geschickt auf den Holzbau uebertrugen und durch das tief +hinabgehende Dach und die weiten Saeulenzwischenraeume ihrem Gotteshaus, mit +einem alten Baumeister zu reden, “ein breites, niedriges, sperriges und +schwerfaelliges Ansehen” gegeben haben. Die Latiner haben aus der reichen +Fuelle der griechischen Kunst nur sehr weniges ihrem energisch realistischen +Sinne kongenial gefunden, aber was sie annahmen, der Idee nach und innerlich +sich angeeignet und in der Entwicklung des polygonen Mauerbaus vielleicht ihre +Lehrmeister uebertroffen; die etruskische Kunst ist ein merkwuerdiges Zeugnis +handwerksmaessig angeeigneter und handwerksmaessig festgehaltener Fertigkeiten, +aber so wenig wie die chinesische ein Zeugnis auch nur genialer Rezeptivitaet. +Wie man sich auch straeuben mag, so gut wie man laengst aufgehoert hat, die +griechische Kunst aus der etruskischen abzuleiten, wird man sich auch noch +entschliessen muessen, in der Geschichte der italischen Kunst die Etrusker aus +der ersten in die letzte Stelle zu versetzen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Römische Geschichte Book 1 by Theodor Mommsen + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK RÖMISCHE GESCHICHTE *** + +***** This file should be named 3060-h.htm or 3060-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/3/0/6/3060/ + +Updated editions will replace the previous one--the old editions will +be renamed. + +Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright +law means that no one owns a United States copyright in these works, +so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United +States without permission and without paying copyright +royalties. 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