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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 02:48:32 -0700 |
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Langkau, Jens Nordmann and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + + + + Selma Lagerlöf + + + Ein Stück Lebensgeschichte + und andere Erzählungen + + + Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Schwedischen + von + _Marie Franzos_ + + + + =Viertes und fünftes Tausend= + + + =Albert Langen, München= + + + Copyright 1909 by Albert Langen, Munich + + + + +Inhalt + Seite + +Ein Stück Lebensgeschichte 7 + +Das Mädchen vom Moorhof 26 + +Gottesfriede 113 + +Der Luftballon 132 + +Der erste im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts 166 + +Die Legende von der Christrose 190 + +Der Wechselbalg 216 + +Der Spielmann 238 + +Noch ein Stück Lebensgeschichte 252 + + + + +Ein Stück Lebensgeschichte + + +Es war einmal eine Saga, die wollte erzählt und in die Welt +hinausgetragen werden. Dies war ganz natürlich, weil sie wußte, daß sie +schon so gut wie fertig war. Viele hatten mitgeholfen, sie durch +merkwürdige Taten zu schaffen, andre hatten ihr Teil dadurch +beigetragen, daß sie diese Taten immer wieder und wieder erzählten. Ihr +fehlte nur, daß einer sie notdürftig zusammenfügte, damit sie gemächlich +durchs Land ziehen könne. Sie war erst ein ganzes Gewühl von +Geschichten, eine formlose Wolke von Abenteuern, die hin und her +flatterten wie ein Schwarm verirrter Bienen an einem Sommertag und nicht +wußten, wo sie einen finden sollten, der sie in einem Korbe vereinigen +könnte. + +Die Saga, die erzählt werden wollte, war in Värmland entstanden, und man +kann sicher sein, daß sie über so manchen Herrenhöfen und Eisenhämmern, +über so manchen Pfarrhöfen und Offizierswohnungen in der schönen Provinz +schwebte, zum Fenster hineinguckte und um Einlaß bat. Aber sie mußte +viele vergebliche Versuche machen: überall wurde sie abgewiesen. Es +konnte ja kaum anders sein. Die Leute hatten an viel wichtigere Dinge zu +denken. + +Endlich kam die Saga in ein altes Haus, das Mårbacka hieß. Das war ein +kleines Gehöft mit niedrigen Wirtschaftsgebäuden, die von hohen Bäumen +überschattet wurden. Früher einmal war es ein Pfarrhof gewesen, und es +war, als hätte ihm das ein Gepräge aufgedrückt, das es nicht verlieren +könnte. Man schien dort größere Liebe zu Büchern und Studien zu haben +als anderswo, und immer lag ein stiller Friede über diesem Hause. Da +durfte niemals ein Jagen bei der Arbeit oder ein Zank mit dem Gesinde +vorkommen. Haß oder Zwietracht durfte es da auch nicht geben; und wer +sich dort aufhielt, durfte das Leben nicht schwer nehmen --: die +allererste Pflicht war, sorglos zu sein und zu glauben, daß der liebe +Herrgott für jeden, der in diesem Hause lebte, alles zum Besten lenke. + +Wenn ich heute zurückdenke, weiß ich: die Saga, von der ich spreche, muß +eine ganze lange Reihe von Jahren in ihrem vergeblichen Warten, daß sie +einer erzähle, hier geweilt haben. Es dünkt mich, sie müsse das Haus +umschwebt haben, so wie eine Wolke einen Bergesgipfel umschwebt; und +einmal ums andre ließ sie eines der Abenteuer, aus denen sie bestand, +darauf hinunterregnen. Sie kamen als seltsame Gespenstergeschichten von +dem Gutsherrn, der immer schwarze Stiere vor dem Wagen hatte, wenn er +nachts von einem Gastmahl heimkehrte, und in dessen Heim der +leibhaftige Böse selbst im Schaukelstuhl saß und sich hin und her +wiegte, während die Hausfrau spielte. Sie kamen als wunderliche +Geschichten aus dem Nachbarhof, wo die Elstern die Hausmutter verfolgt +hatten, so daß sie nicht wagte, vor die Tür zu gehen, von der +Kapitänswohnung, wo sie so arm waren, daß sie sich alles hatten +ausleihen müssen, und von der kleinen Hütte unten an der Kirche, wo so +viele junge und alte Mädchen gewohnt, die sich alle in den schönen +Orgelbauer verliebten. + +Zuweilen kamen die lieben Abenteuer gleichsam noch handgreiflicher in +das Haus. Alte arme Offiziere fuhren in rumpelnden Carriols, die mit +uralten Pferden bespannt waren, an der Freitreppe vor. Sie machten Halt +und blieben wochenlang zu Gaste; und am Abend, wenn der Toddy ihnen Mut +gemacht hatte, begannen sie von der Zeit zu erzählen, wo sie ohne +Strümpfe in den Schuhen getanzt hatten, damit die Füße kleiner aussähen, +und wo sie ihr Haar gebrannt und ihren Schnurrbart geschwärzt hatten. +Einer von ihnen prahlte mit dem Abenteuer, wie er versucht hatte, ein +schönes Mädchen zu ihrem Bräutigam zurückzuführen, und wie er auf der +Heimfahrt von Wölfen verfolgt worden war, ein andrer war bei dem +Weihnachtsschmause mit dabei gewesen, wo ein erzürnter Gast alle +Haselhühner an die Wand warf, weil man ihm eingeredet hatte, es wären +Krähen, ein dritter hatte den Alten gesehen, der dazusitzen und auf +einem Holztische Beethoven zu spielen pflegte. + +Aber auch auf andere Weise konnte die Saga ihre Anwesenheit kundmachen. +Auf dem Dachboden hing das alte Porträt einer Dame mit gepudertem Haar; +und wenn jemand daran vorüberging, mußte er sich ja erinnern, daß es die +schöne Grafentochter darstellte, die den jungen Lehrer ihres Bruders +geliebt hatte und einmal gekommen war, ihn zu besuchen, als sie eine +alte, ergraute Dame war und er ein alter verheirateter Mann. In der +Rumpelkammer lagen große Haufen von Dokumentenbündeln, die Kaufkontrakte +und Pachtverträge enthielten, unterzeichnet von der mächtigen Frau, +welche einst über sieben Güter geherrscht, die sie von ihrem Geliebten +geerbt hatte. Kam man in die Kirche, so sah man da in einem kleinen +verstaubten Schrank unter der Empore die Truhe, die mit Schriften des +Unglaubens gefüllt war und nicht vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts +geöffnet werden durfte; und nicht weit davon war der Fluß, auf dessen +Grunde eine Menge Heiligenbilder ruhten, die nicht auf der Kanzel und +der Empore hatten bleiben dürfen, denen sie einstmals zum Schmuck +gedient hatten. + +Daher, daß so viele Überlieferungen das Haus umschwebten, kam es wohl +schließlich, wenn eines der Kinder, die dort aufwuchsen, Lust bekam, sie +zu erzählen. Es war keiner von den Jungen -- die waren nicht viel zu +Hause, sie hielten sich beinahe das ganze Jahr in ihren Schulen auf, +also daß die Saga nicht so große Macht über sie erlangte --, sondern es +war eines von den Mädchen, eines, das kränklich war, so daß es nicht so +viel umherlaufen und spielen durfte wie andre Kinder, sondern seine +liebste Freude daran hatte, durch Lesen und Erzählungen von allem dem +Großen und Merkwürdigen zu erfahren, was sich in der Welt zugetragen +hat. + +Nun verhielt es sich durchaus nicht so, daß etwa das junge Mädchen von +Anfang an die Absicht gehabt hätte, die Sagen und Geschichten +niederzuschreiben, die sie umgaben. Es fiel ihr nicht im entferntesten +ein, daß aus diesen Abenteuern, die sie so oft hatte erzählen hören, daß +sie sie das Alltäglichste von der Welt däuchten, -- daß daraus ein Buch +werden könnte. Wenn sie zu dichten versuchte, wählte sie die Stoffe aus +ihren Büchern, und mit frischem Mute schrieb sie Geschichten über die +Sultane aus Tausend und Einer Nacht, über Walter Scotts Ritter und +Snorre Sturlasons Sagenkönige. + +Es ist sicherlich überflüssig, zu erwähnen, daß, was sie schrieb, das +Unoriginellste und Unreifste war, was nur je niedergeschrieben worden +ist, aber das konnte sie selbst natürlich nicht sehen. Sie ging daheim +in dem stillen Hause umher und bedeckte jedes Stückchen Papier, dessen +sie nur habhaft werden konnte mit Versen und Prosa, mit Schauspielen und +Romanen. Wenn sie nicht schrieb, ging sie umher und wartete auf das +Glück. Und das Glück sollte darin bestehen, daß irgend ein fremder +Besucher, der sehr klug und mächtig wäre, durch einen wunderbaren Zufall +das entdeckte, was sie geschrieben hatte, und es würdig fände, gedruckt +zu werden. Dann würde alles andre ganz von selbst kommen. + +Doch es begab sich nichts derartiges, und als das junge Mädchen über +zwanzig Jahre alt war, begann es ungeduldig zu werden. Sie konnte nicht +begreifen, woher es kam, daß das Glück sich gar nicht einfinden wollte. +Vielleicht fehlten ihr Kenntnisse; sie müßte auch wohl ein wenig mehr +von der Welt zu Gesicht bekommen als das elterliche Haus. Und da es so +lange währte, bis sie ihren Unterhalt als Schriftstellerin verdienen +konnte, mußte sie etwas lernen, sich eine Lebensstellung schaffen, damit +sie einen Broterwerb hätte, davon zu leben, während sie auf sich selbst +wartete. + +Vielleicht war es ganz einfach so, daß die Saga die Geduld mit ihr +verloren hatte. Sie dachte sich vielleicht: Da dieses verblendete +Menschenkind nicht sieht, was dicht vor seinen Augen liegt, so muß es +eben gezwungen werden, von dannen zu ziehen. Es muß durch graue +Steinstraßen gehen, es muß in engen Stadträumen wohnen ohne andre +Aussicht als graue Hausmauern. Dieses Mädchen muß unter Menschen +einhergehen, die alles, was in ihnen eigentümlich ist, verbergen, und +die einander alle zu gleichen scheinen. Das wird sie vielleicht lehren, +das zu sehen, was vor der Tür ihres Heims wartet, alles, was zwischen +den blauen Hügelketten lebt und webt, die sie täglich vor Augen hat. + +Und eines Herbsts, als sie schon zweiundzwanzig Jahre alt war, fuhr sie +nach Stockholm, um das Studium zu beginnen und sich gleichzeitig zur +Lehrerin auszubilden. + +Das junge Mädchen stak bald tief in der Arbeit. Es schrieb nicht mehr, +sondern ging in Aufgaben und Lektionen auf. Es sah fast aus, als sollte +die Saga es ganz und gar verlieren. + +Da begab sich etwas Merkwürdiges. In diesem selben Herbst, nachdem sie +ein paar Monate in grauen Gassen zwischen Hausmauern gelebt hatte, ging +sie an einem Vormittag mit einem Pack Bücher unter dem Arm die +Malmskillnadsgasse hinauf. Sie hatte eben eine Vorlesung über +Literaturgeschichte gehört. Die mußte von Bellman oder Runeberg +gehandelt haben, denn sie ging einher und dachte an diese beiden und an +die Gestalten, die sich in ihrer Dichtung bewegten. Sie sagte sich +selbst, daß Runebergs gutmütige Kriegshelden und Bellmans sorglose +Zechbrüder das vortrefflichste Material wären, das ein Dichter nur haben +könnte. Und da auf einmal tauchte dieser Gedanke in ihr auf: Die Welt, +in der du unten in Värmland gelebt hast, ist wohl nicht weniger +originell als die Welt Fredmans oder die des Fähnrichs Stål. Kannst du +nur lernen, sie zu gestalten, so hast du wohl einen ebenso guten Stoff +für deine Arbeit wie diese beiden. + +So ging es zu, daß sie zum ersten Male der Saga ansichtig wurde. Und in +demselben Augenblicke, wo sie sie sah, begann der Boden unter ihr zu +schaukeln. Die ganze lange Malmskillnadsgasse vom Hamngatshügel bis +hinauf zur Brandstation erhob sich zum Himmel und sank wieder hinab, hob +sich und sank. Sie mußte eine gute Weile stille stehen, bis die Gasse +zur Ruhe gekommen war; und erstaunt sah sie die Vorübergehenden an, die +so ruhig einherschritten und gar nicht merkten, welches Wunder geschehen +war. + +In dieser Stunde beschloß das junge Mädchen, die Geschichte der +Värmlandskavaliere zu schreiben, und sie gab diesen Gedanken nie wieder +auf. Aber viele, lange Jahre währte es, bis der Entschluß zur Ausführung +kam. + +Denn erstens war sie nun in eine neue Lebensbahn eingetreten, und es +gebrach ihr an Zeit, etwas Größeres auszuführen. Zweitens erlebte sie +ein ganzes Mißlingen, als sie versuchte, diese Geschichte zu schreiben. + +In diesen Jahren trugen sich jedoch immer wieder Ereignisse zu, die ihr +halfen, die Saga auszugestalten. Eines Morgens in den Ferien saß sie mit +ihrem Vater am Frühstückstisch, und die beiden plauderten von alten +Zeiten. Da erzählte er auch von einem Jugendbekannten, den er als den +bezauberndsten Menschen schilderte. Dieser Mann hatte Freude und +Heiterkeit mitgebracht, wohin er auch kam. Er konnte singen, er +komponierte, er improvisierte Verse. Spielte er zum Tanze auf, dann +tanzte nicht nur die Jugend, sondern auch Greise und Greisinnen, Hoch +und Niedrig: und hielt er eine Rede, so mußte man lachen oder weinen, +ganz wie er es wollte. Wenn er sich betrank, so konnte er noch besser +spielen und sprechen, als wenn er nüchtern war. Und wenn er sich in ein +Weib verliebte, war es dem unmöglich, zu widerstehen. Wenn er Torheiten +machte, so verzieh man ihm; war er einmal betrübt, so wollte man alles +Erdenkliche tun, um ihn nur wieder froh zu sehen. Aber großen Erfolg in +der Welt hatte er trotz seiner reichen Begabung nicht gehabt. Den +größten Teil seines Lebens hatte er als Hofmeister auf den verschiedenen +Gütern Värmlands verbracht. Schließlich hatte er das Pastorexamen +gemacht. Das war das höchste, was er erreicht hatte. + +Nach diesem Gespräch konnte sie den Helden der Saga besser vor sich +sehen als früher, und damit kam ein wenig Leben und Bewegung hinein. Und +eines schönen Tages bekam der Held sogar einen Namen und wurde Gösta +Berling genannt. Woher er diesen Namen hatte, wußte sie nicht. Es war, +als hätte er ihn sich selbst gegeben. + +Ein ander Mal war sie in den Weihnachtsfeiertagen daheim. An einem Abend +fuhr man zu einem Weihnachtsschmaus, einen weiten Weg bei argem +Schneegestöber. Das war eine langwierigere Fahrt, als jemand hätte +glauben können. Das Pferd arbeitete sich mühsam vorwärts. Mehrere +Stunden hindurch saß sie da im Schneewehen und dachte an die Saga. Als +sie endlich angelangt waren, hatte sie ihr erstes Kapitel erdacht. Es +war das Kapitel, das von der Weihnachtsnacht in der Schmiede handelte. + +Welch ein Kapitel! Es war ihr erstes, und mehrere Jahre hindurch blieb +es ihr einziges. Es wurde zuerst in Versen geschrieben, denn der +ursprüngliche Plan war, daß die Saga ein Romanzenzyklus werden sollte, +so wie Fähnrich Ståls Erzählungen. Aber so allmählich änderte sich das, +und eine Zeitlang bestand die Absicht, die Saga als Schauspiel zu +schreiben. Da wurde die Weihnachtsnacht umgearbeitet: sie sollte den +ersten Akt geben. Aber auch dieser Versuch glückte nicht, und nun +entschloß sie sich endlich, die Saga als Roman zu schreiben. So wurde +das Kapitel in Prosa niedergeschrieben und umfaßte damals vierzig +Schreibseiten. Als es zum letzten Mal umgearbeitet wurde, hatte es nur +neun. + +Nach einigen Jahren kam ein zweites Kapitel hinzu. Es war die Geschichte +von dem Ball auf Borg und von den Wölfen, die Gösta Berling und Anna +Stjärnhök verfolgten. + +Dies wurde ursprünglich gar nicht in der Absicht geschrieben, es mit in +die Saga aufzunehmen, sondern als eine Art Gelegenheitsgedicht, das bei +einer kleinen Gesellschaft vorgelesen werden sollte. Die Vorlesung +jedoch unterblieb, und die Novelle wurde an die Zeitschrift Dagny +geschickt. Nach einiger Zeit erhielt die Verfasserin sie als für Dagny +nicht geeignet zurück. Sie war auch wirklich für niemand geeignet. Es +fehlte ihr noch ganz und gar an der künstlerischen Ausarbeitung. + +Nun zerbrach sich die Verfasserin den Kopf, wozu diese unglückselige +Novelle wohl verwendet werden könnte. Wenn sie sie in die Saga einfügte? +Aber sie war ja ein Abenteuer für sich, ganz abgeschlossen. Sie würde +sich seltsam ausnehmen unter den übrigen, die besser zusammenhingen. +Vielleicht aber, dachte sie dann, wäre es gar nicht so übel, wenn alle +Kapitel der Saga solche mehr oder weniger in sich abgeschlossene +Abenteuer wären. Es würde schwer durchzuführen sein, aber unmöglich wäre +es nicht. Es würden vielleicht zuweilen Lücken im Zusammenhang +entstehen. Ja, aber es würde dem Buche großen Reichtum und Stärke geben. + +Nun waren zwei wichtige Dinge entschieden. Es war klar, daß das Buch ein +Roman werden sollte, und daß jedes Kapitel ein Ganzes für sich sein +würde; aber damit war noch nicht so besonders viel gewonnen. Sie, die +die Idee gefaßt hatte, die Saga der Värmlandskavaliere zu schreiben, als +sie zweiundzwanzig Jahre war, begann sich nun den Dreißigern zu nähern +und hatte nicht mehr geschrieben als zwei Kapitel. Wohin waren die Jahre +entschwunden? Sie hatte das Seminar absolviert, sie war seit mehreren +Jahren Lehrerin in Landskrona, sie hatte sich für vieles interessiert +und sich mit mancherlei befaßt, aber die Saga war noch ungeschrieben. +Eine Menge Material war freilich gesammelt. Aber sollte das bedeuten, +daß ihr das Schreiben so schwer fiel? Warum kam nie die Inspiration über +sie? Warum glitt ihr die Feder so träge über das Papier? Zu dieser Zeit +hatte sie ihre düstern Stunden. Sie würde gewiß nie damit fertig werden. +Sie war der Knecht, der sein Pfund in die Erde vergrub und keinen +Versuch machte, damit zu wuchern. + +Es verhielt sich aber so, daß sich dies alles in den achtziger Jahren +zutrug, in der besten Zeit der strengen Wirklichkeitsdichtung. Sie +bewunderte die großen Meister dieser Zeit und kam nie auf den Gedanken, +daß man in der Dichtung eine andere Sprache anwenden könnte, als die, +deren sich diese bedienten. Sie für ihr Teil liebte die Romantiker mehr, +aber die Romantik war tot, und sie war nicht die Frau, die daran gedacht +hätte, ihre Form und Ausdrucksweise neu zu beleben. Obgleich ihr Gehirn +übervoll war an Geschichten von Gespenstern und wilder Liebe, von +wunderschönen Damen und abenteuerlustigen Kavalieren, suchte sie von dem +allen in ruhiger, realistischer Prosa zu schreiben. Sie hatte keinen +sehr klaren Blick. Ein anderer hätte gleich erkannt, daß das Unmögliche +unmöglich war. + +Einmal jedoch schrieb sie ein paar kleine Kapitel in einem andern Stil. +Das eine schilderte eine Szene auf dem Svartsjöer Kirchhof, das andre +handelte von dem alten Philosophen Onkel Eberhard und seinen Schriften +des Unglaubens. Sie schrieb sie mehr zum Spaße mit vielen Achs und Ohs +in einer Prosa, die fast rhythmisch war. Und sie merkte, daß es auf +diese Weise mit dem Schreiben ging; es war Inspiration darin, das fühlte +sie. Aber als die beiden kleinen Kapitel fertig waren, legte sie sie +weg. Sie waren nur der Kurzweil halber geschrieben worden. So könnte man +ein ganzes Buch ja nicht schreiben. + +Aber es war wohl so, daß die Saga nun lange genug gewartet hatte. Sie +dachte sicherlich wie das vorige Mal, da sie sie in die Welt +hinausgeschickt hatte: -- Ich muß diesem verblendeten Menschenkind eine +große Sehnsucht geben, daß die ihm die Augen öffne. + +Diese Sehnsucht kam auf die Art über sie, daß das Haus, wo sie +aufgewachsen war, verkauft wurde und sie hinfuhr, ihr Kindheitsheim zum +letzten Male zu sehen, bevor Fremde Besitz davon nahmen. + +Und an dem Abend, bevor sie von dort abreiste, um diese Stätte +vielleicht nie wieder zu sehen, beschloß sie in aller Demut, das Buch +auf ihre eigne Weise und nach ihren eignen schwachen Kräften zu +schreiben. Es würde kein Meisterwerk werden, wie sie gehofft hatte. Die +Menschen würden über ihr Buch lachen; aber schreiben mußte sie es doch. +Es schreiben, um für sich selbst von ihrem Heim zu retten, was sie noch +retten konnte: die lieben alten Geschichten, den fröhlichen Frieden der +sorglosen Tage und die schöne Landschaft mit dem langgestreckten See und +den blauschimmernden Hügeln. + +Aber ihr, die gehofft hatte, sie würde es doch einmal lernen, ein Buch +zu schreiben, das die Menschen lesen wollten, -- ihr war es, als hätte +sie damit preisgegeben, was sie im Leben am liebsten erringen wollte. Es +war das schwerste Opfer, das sie je gebracht hatte. + +Ein paar Wochen später befand sie sich wieder in ihrem Heim in +Landskrona und setzte sich an den Schreibtisch. Sie begann zu schreiben; +sie wußte nicht recht, was es werden sollte, aber sie wollte keine Angst +haben vor den starken Worten, den Ausrufen, den Fragen. Auch wollte sie +keine Furcht davor haben, sich selbst zu geben mit ihrer ganzen +Kindlichkeit und allen ihren Träumen. Und als sie sich so entschlossen +hatte, begann die Feder fast von selbst zu fliegen. Es versetzte sie +beinahe in einen Taumel, sie wußte vor Entzücken nicht aus noch ein. +Seht, das hieß schreiben! Unbekannte Dinge und Gedanken -- oder +richtiger gesagt, etwas, von dem sie nicht geahnt hatte, daß sie es in +ihrem Hirn besaß -- drängten sich aufs Papier. Die Seiten füllten sich +mit einer Schnelligkeit, von der sie sich nie hatte träumen lassen. Wozu +sie sonst Monate, ja Jahre gebraucht hatte, um es auszuarbeiten, das +wurde nun in ein paar Stunden fertig. An diesem Abend schrieb sie die +Erzählung von der Wanderung der jungen Gräfin über das Eis des Löfven +und von der Überschwemmung bei Ekeby nieder. + +Am nächsten Nachmittag verfaßte sie die Szene, in der der gichtbrüchige +Fähnrich Rutger von Örneclou versucht, sich aus dem Bett zu erheben, um +La Cachuca zu tanzen; und am folgenden Abend entstand die Geschichte von +dem alten Fräulein, das auszog, den geizigen Pastor von Broby zu +besuchen. + +Nun wußte sie sicher: sie konnte das Buch in diesem Stil schreiben; aber +ebenso sicher war sie, daß niemand die Geduld haben würde, es zu lesen. + +Übrigens ließen sich nicht viele Kapitel so in einem Atemzuge schreiben. +Die meisten erforderten lange Arbeit; und sie konnte sich nur ganz kurze +Weilchen an den Nachmittagen der Schriftstellerei widmen. Als sie ein +halbes Jahr lang geschrieben hatte, von dem Tage an gerechnet, da sie +sich der Romantik in die Arme geworfen hatte, waren ein Dutzend Kapitel +vollendet. Es war vorauszusehen, daß das ganze Buch in drei bis vier +Jahren fertig sein würde. + +Es war im Frühling 1890, als die Zeitschrift Idun die Einladung zu einer +Preiskonkurrenz für Novellen im Umfang von ungefähr hundert Druckseiten +ergehen ließ. + +Dies war ein Ausweg für eine Saga, die erzählt werden und in die Welt +hinausziehen wollte. Und die Saga war es wohl, die die Schwester der +Lehrerin dazu brachte, diese anzueifern, sie solle die Gelegenheit +benützen. Hier lag nun endlich eine Möglichkeit, zu erfahren, ob das +Geschriebene so ganz zu verwerfen wäre. Wenn es den Preis bekäme, wäre +viel gewonnen. Bekam es ihn nicht, so stünde sie nur auf demselben +Standpunkt wie zuvor. + +Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, aber sie hatte so geringes +Vertrauen zu sich selbst, daß sie zu keinem Entschluß kommen konnte. + +Endlich, knapp acht Tage vor Ablauf der Einlieferungsfrist entschloß sie +sich, fünf Kapitel aus dem Romane herauszuheben, die so ziemlich +zusammenhingen, so daß sie den Eindruck einer Novelle machten, und sich +damit am Wettbewerb zu beteiligen. + +Aber diese Kapitel waren durchaus noch nicht fertig. Drei von ihnen +waren notdürftig erzählt, aber zu den übrigen zwei war kaum ein Entwurf +vorhanden. Und dann mußte ja noch alles ins Reine geschrieben werden. + +Dazu kam, daß sie gerade damals nicht bei sich zu Hause war. Sie war auf +Besuch bei ihrer Schwester und ihrem Schwager, die noch oben in +Värmeland wohnten. Und wer gekommen ist, für kurze Zeit liebe Freunde zu +besuchen, kann seine Tage ja nicht am Schreibtisch verbringen. + +Sie schrieb also in den Nächten und saß in dieser Woche jede Nacht bis +vier Uhr auf. + +Endlich fehlten nur vierundzwanzig Stunden an der kostbaren Zeit. Und +noch waren zwanzig Seiten zu schreiben. + +Diesen letzten Tag waren sie eingeladen. Die ganze Familie sollte +fortfahren und über Nacht ausbleiben. Sie mußte natürlich mit. + +Endlich nahm die Gesellschaft ein Ende, und sie saß bei Nacht in dem +fremden Hause und schrieb. + +Es war ihr recht wunderlich zumute. Das Haus, wo sie als Gast weilte, +war eben das, wo der böse Sintram gewohnt hatte. Das Schicksal hatte sie +in wunderlicher Weise gerade in dieser Nacht hergeführt, wo sie über ihn +zu schreiben hatte, der in dem Schaukelstuhl saß und sich wiegte. + +Zuweilen blickte sie von der Arbeit auf und horchte in den Salon +hinüber, ob dort draußen nicht am Ende ein paar Schaukelstuhlkufen in +Gang wären. + +Doch sie hörte nichts, und als in der Frühe die Uhr sechs schlug, waren +die fünf Kapitel fertig. + +Im Laufe des Vormittags fuhren sie auf einem kleinen Lastdampfer nach +Hause. Dort machte ihre Schwester ein Paket, verschloß es mit Lack und +Siegel, die zu diesem Zwecke von zu Hause mitgenommen worden waren, +schrieb die Adresse und schickte die Novelle ab. + +Dies geschah an einem der letzten Tage im Juli. Gegen Ende August +enthielt die Zeitschrift Idun eine Notiz, daß mehr als zwanzig +Preisnovellen bei der Redaktion eingelaufen seien; aber ein paar davon +seien so wirr geschrieben, daß sie nicht mitgezählt werden könnten. + +Da gab sie es auf, noch weiter auf den Ausgang zu warten. Sie wußte +schon, welche Novelle so wirr war, daß sie nicht mitgezählt werden +konnte. + +Im November bekam sie eines Nachmittags ein wunderliches Telegramm. Es +enthielt nur die Worte »Jubelnde Glückwünsche« und war von drei ihrer +Kameradinnen aus dem Seminar unterzeichnet. + +Es erschien ihr recht lang, das Warten bis zur Mittagsstunde des +nächsten Tages, wo die stockholmer Zeitungen ausgeteilt wurden. Und als +sie die Zeitung in der Hand hatte, mußte sie lange suchen, ohne etwas zu +finden. Endlich entdeckte sie auf der letzten Spalte eine kurze Notiz in +kleinem Druck, die mitteilte, daß sie den Preis erhalten hatte. + +Vielleicht wäre das für einen andern nicht so viel gewesen, aber für sie +bedeutete es, daß sie sich dem Lebensberuf widmen durfte, nach dem sie +sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte. + + * * * * * + +Dem ist wenig hinzuzufügen. Die Saga, die in die Welt hinaus wollte, war +ihrem Ziele nun ziemlich nahe. Jetzt würde sie wenigstens geschrieben +werden, wenn es gleich einige Jahre dauerte, bis sie fertig würde. + +Sie, die sie schrieb, war zu Weihnachten, nachdem sie den Preis bekommen +hatte, nach Stockholm gereist. + +Der Redakteur der Zeitschrift Idun erbot sich, den Roman zu drucken, +sobald er fertig wäre. + +Ja, wenn sie nur die Zeit finden könnte, ihn zu schreiben. + +An dem Abend, bevor sie wieder nach Landskrona fahren sollte, saß sie +bei ihrer alten treuen Freundin, der Baronin Adlersparre, und las der +einige Kapitel vor. + +Esselde hörte zu, so wie nur sie zuhören konnte, und sie war voll +Interesse. Nachher blieb sie schweigend sitzen und versank in Grübeln. + +»Wie lange wird es dauern, bis es ganz fertig ist?« fragte sie +schließlich. + +»So drei bis vier Jahre.« + +Sie gingen auseinander; aber am nächsten Morgen, zwei Stunden, bevor sie +Stockholm verlassen sollte, kam ein Billett von Esselde mit der Bitte, +sie möge sie vor der Abreise besuchen. + +Die alte Baronin war in ihrer bestimmten und entschlossenen Stimmung. +»Du mußt dir jetzt für ein Jahr Urlaub nehmen und das Buch fertig +schreiben. Das Geld will ich beschaffen.« + +Eine Viertelstunde später war sie auf dem Wege zu der Vorsteherin des +Seminars, um sie zu bitten, ihr behilflich zu sein, daß sie eine +Stellvertreterin finde. + +Um ein Uhr saß sie glücklich in dem Zuge, aber nun fuhr sie nicht weiter +als bis nach Sörmland, wo sie gute Freunde besaß, die in einem +entzückenden Heim wohnten. + +Und sie fand dort beim Ingenieur Gumaelius und seiner Frau +Gastfreundschaft, Arbeitsfrieden und Ruhe und gute Fürsorge fast ein +Jahr hindurch, bis das Buch fertig war. + +Endlich konnte sie vom Morgen bis zum Abend schreiben. Das war die +glücklichste Zeit, die sie noch erlebt hatte. + +Aber als die Saga schließlich fertig war, da sah sie gar wunderlich aus. +Sie war toll und wild; und mit dem Zusammenhang war es nicht besser +bestellt, als daß alle ihre Teile noch immer die alte Lust hatten, jeder +seine eigne Straße zu ziehen. + +Die Saga wurde nie, was sie hätte werden sollen. Es war ihr Unglück, daß +sie so lange hatte warten müssen, bis sie erzählt wurde. Wenn sie nicht +gebührend in Zucht und Zaum gehalten worden ist, so kam dies +hauptsächlich daher, daß ihre Verfasserin nur allzu glücklich war, sie +endlich schreiben zu dürfen. + + + + +Das Mädchen vom Moorhof + +1 + + +Es ist in einem Thingsaal, weit draußen auf dem Lande. Am Richtertisch, +hoch oben im Saal, sitzt der Richter, ein großer, stark gebauter Mann +mit breitem, grobgeschnittenem Gesicht. Schon mehrere Stunden lang hat +er einen Fall nach dem andern entschieden, und schließlich ist etwas wie +Überdruß und Düsterkeit über ihn gekommen. Es ist schwer zu sagen, ob es +die Hitze und Schwüle im Gerichtssaal ist, die ihn bedrückt, oder die +Schuld an dieser schlechten Laune die Beschäftigung mit allen diesen +kleinlichen Zwistigkeiten trägt, die aus keinem andern Grunde entstanden +zu sein scheinen, als um die Händelsucht und Unbarmherzigkeit und +Geldgier der Menschen an den Tag zu bringen. + +Er hat gerade mit einer der letzten Verhandlungen begonnen, die heute +durchgeführt werden sollen. Es handelt sich um die Forderung eines +Erziehungsbeitrages. + +Dieser Fall ist schon am vorigen Gerichtstag verhandelt worden, und das +Protokoll des früheren Prozesses wird eben verlesen. Daraus erfährt man +fürs erste, daß die Klägerin eine arme Dienstmagd ist und der Beklagte +ein verheirateter Mann. + +Weiter geht aus dem Protokoll hervor, daß der Beklagte erklärt hat, die +Klägerin habe ihn zu Unrecht und nur aus Gewinnsucht hierher laden +lassen. Er gibt zu, daß die Klägerin eine Zeitlang auf seinem Hof in +Dienst gestanden hat; er aber habe sich während dieser Zeit in keinerlei +Liebeshändel mit ihr eingelassen, und sie habe kein Recht, irgendwelche +Unterstützung von ihm zu begehren. Die Klägerin jedoch hat an ihrer +Behauptung festgehalten; und nachdem einige Zeugen vernommen waren, ist +dem Beklagten auferlegt worden, einen Eid zu leisten, wenn er nicht +verurteilt werden wolle, der Klägerin die verlangte Unterstützung zu +zahlen. + +Beide Parteien haben sich eingefunden und stehen nebeneinander vor dem +Gerichtstisch. Die Klägerin ist sehr jung und sieht ganz verschüchtert +aus. Sie weint vor Scham und trocknet mühsam ihre Tränen mit einem +zusammengeknüllten Taschentuch; es scheint, als könne sie es nicht +auseinanderfalten. Sie trägt schwarze Kleider, die ziemlich neu und +ungetragen aussehen, aber sie sitzen so schlecht, daß man versucht ist, +zu glauben, sie habe sie sich ausgeliehen, um anständig vor Gericht +erscheinen zu können. + +Was den Beklagten anlangt, so sieht man ihm gleich an, daß er ein +wohlgestellter Mann ist. Er mag etwa vierzig Jahre alt sein und hat ein +zuversichtliches und frisches Aussehen. Wie er da vor dem Richterstuhl +steht, zeigt er eine sehr gute Haltung. Es sieht ja nicht aus, als +fände er ein besonderes Vergnügen daran, da zu stehen, aber er macht +auch durchaus keinen befangnen Eindruck. + +Als das Protokoll verlesen ist, wendet sich der Richter an den Beklagten +und fragt ihn, ob er an seinem Leugnen festhalte, und ob er bereit sei, +den Eid zu schwören. + +Auf diese Frage antwortet der Beklagte sogleich mit einem raschen Ja. Er +fängt an, in seiner Westentasche zu suchen, und holt ein Zeugnis des +Pfarrers darüber hervor, daß er die Wichtigkeit und Bedeutung des Eides +kenne und kein Hinderungsgrund für ihn vorliege, ihn zu schwören. + +Während dieser ganzen Zeit hat die Klägerin nicht aufgehört zu weinen. +Sie scheint unüberwindlich scheu zu sein und hält die Augen hartnäckig +zu Boden geschlagen. Sie hat den Blick noch nicht so weit erhoben, daß +sie dem Beklagten ins Gesicht sehen könnte. + +Als er nun sein Ja gesagt hat, zuckt sie zusammen. Sie tritt ein paar +Schritte näher an den Richterstuhl heran, als hätte sie etwas +einzuwenden; aber dann bleibt sie stehen. Es sei wohl nicht möglich, +scheint sie zu sich selbst zu sagen, er könne nicht Ja gesagt haben. -- +Ich habe nicht recht gehört ... + +Indessen nimmt der Richter das Zeugnis in die Hand und gibt zugleich dem +Gerichtsdiener einen Wink. Der Gerichtsdiener tritt an den Tisch heran, +um die Bibel zu nehmen und sie vor den Beklagten hinzulegen. + +Die Klägerin hört, daß jemand an ihr vorbeigeht, und wird unruhig. Sie +zwingt sich, den Blick so weit zu heben, daß sie über den Tisch hinsehen +kann, und da bemerkt sie, daß der Gerichtsdiener die Bibel zurechtlegt. + +Noch einmal sieht es aus, als wollte sie Einspruch erheben. Aber sie +hält sich wieder zurück. -- Es ist ja nicht möglich, daß er den Eid +ablegt. Der Richter muß ihn doch daran hindern. + +Der Richter war ein so kluger Mann, und er wußte gar wohl, was die Leute +in seiner Heimat dachten und fühlten. Er müßte doch wissen, wie streng +alle diese Menschen sind, sobald es sich um etwas handelt, was die Ehe +betrifft. Sie kannten keine ärgere Sünde als die, die sie begangen +hatte. Würde sie je so etwas aus sich selbst eingestanden haben, wenn es +nicht wahr gewesen wäre? Der Richter könnte wohl wissen, welche +furchtbare Verachtung sie sich zugezogen hatte. Und nicht nur Verachtung +allein, sondern auch alles mögliche Elend. Niemand wollte sie in Dienst +nehmen. Niemand wollte ihre Arbeit haben. Ihre eignen Eltern duldeten +sie kaum in ihrer Hütte, sondern sprachen jeden Tag davon, sie +hinauszuwerfen. Nein, der Richter müßte wohl begreifen, daß sie keine +Unterstützung von einem verheirateten Mann verlangt hätte, wenn ihr kein +Recht darauf zustünde. + +Der Richter könnte doch nicht glauben, daß sie in einer solchen Sache +lüge, daß sie so furchtbares Unglück auf sich herabbeschworen hätte, +wenn sie einen andern hätte anklagen können als einen verheirateten +Mann. Und wenn er dies wüßte, müßte er den Eid doch verhindern. + +Sie sieht, daß der Richter dasitzt und das Zeugnis des Pfarrers ein +paarmal durchliest. Darum fängt sie zu glauben an, daß er eingreifen +werde. + +Es ist auch richtig, daß der Richter nachdenklich aussieht. Er heftet +seine Blicke ein paarmal auf die Klägerin, aber dabei wird der Ausdruck +des Ekels und des Überdrusses, der auf seinem Gesicht ruht, immer +deutlicher. Es sieht aus, als wäre er ungünstig gegen sie gestimmt. +Selbst wenn die Klägerin die Wahrheit spricht, -- sie ist ja doch eine +schlechte Person, und der Richter kann keine Teilnahme für sie +empfinden. + +Es kommt manchmal vor, daß der Richter in einen Prozeß eingreift als ein +guter und kluger Ratgeber, der die Parteien davor behütet, sich ganz und +gar zugrunde zu richten. Aber diesmal ist er müde und unlustig, und er +denkt an nichts andres, als dem gesetzlichen Verfahren seinen Lauf zu +lassen. + +Er legt das Zeugnis hin und sagt dem Beklagten mit ein paar Worten, er +hoffe, daß dieser die verhängnisvollen Folgen eines falschen Schwurs +genau bedacht habe. Der Beklagte hört ihn mit derselben Ruhe an, die er +die ganze Zeit über an den Tag gelegt hat, und antwortet ehrerbietig und +nicht ohne Würde. + +Die Klägerin hört dies mit dem äußersten Schrecken. Sie macht ein paar +heftige Bewegungen und preßt die Hände zusammen. Nun will sie vor dem +Richterstuhl sprechen. Sie kämpft einen furchtbaren Kampf mit ihrer +Scheu und mit dem Schluchzen, das ihr die Kehle zusammenschnürt. Das +Ende ist doch, daß sie kein hörbares Wort hervorbringen kann. + +Der Eid soll also geleistet werden. Er wird ihn ablegen. Niemand wird +ihn hindern, seine Seele zu verschwören. + +Bis dahin hat sie nicht glauben können, daß es geschehen würde. Aber +jetzt packt sie die Gewißheit, daß es unmittelbar bevorsteht, daß es im +nächsten Augenblick geschehen wird. Ein Schrecken, der viel +überwältigender ist als alles, was sie bisher gekannt hat, bemächtigt +sich ihrer. Sie steht wie versteinert, sie weint nicht einmal mehr. Die +Augen erstarren ihr im Kopfe. + +Es ist also seine Absicht, sich um seines Weibes willen freizuschwören. +Aber wenn er auch einen schweren Stand mit ihr haben sollte, -- deshalb +darf er doch nicht seiner Seele Seligkeit preisgeben. + +Es gibt nichts Furchtbareres als einen Meineid. Es ist etwas +Geheimnisvolles und Gräßliches um diese Sünde. Es gibt keine Gnade, +keine Vergebung für sie. Die Tore des Abgrundes öffnen sich von selbst, +wenn der Name des Meineidigen genannt wird. + +Wenn sie jetzt die Blicke zu seinem Gesicht erhoben hätte, -- sie hätte +gefürchtet, es schon mit irgendeinem Zeichen der Verdammnis gebrandmarkt +zu sehen, ihm aufgeprägt von Gottes Zorn. + +Während sie so dasteht und immer größere Angst sich ihrer bemächtigt, +hat der Richter dem Beklagten gezeigt, wie er die Finger auf die Bibel +zu legen hat. Dann schlägt der Richter im Gesetzbuch nach, um die +Eidesformel zu finden. + +Als sie ihn die Finger auf das Buch legen sieht, macht sie noch einen +Schritt zum Richterstuhl hin; und es sieht aus, als wollte sie sich über +den Tisch beugen und seine Hand fortziehen. + +Aber noch wird sie von einer letzten Hoffnung zurückgehalten. Sie +glaubt, daß er jetzt im letzten Augenblick noch vom Schwur abstehen +werde. + +Der Richter hat die Seite im Gesetzbuch gefunden, nach der er gesucht +hat; und jetzt beginnt er, den Eid laut und deutlich vorzusagen. Dann +macht er eine Pause, damit der Beklagte seine Worte nachsprechen könne. +Und der Beklagte fängt wirklich an, sie nachzusprechen; aber er macht +einen kleinen Fehler, so daß der Richter von vorn anfangen muß. + +Jetzt kann sie keinen Schimmer von Hoffnung mehr haben. Jetzt weiß sie, +daß er falsch schwören, daß er Gottes Zorn für das zukünftige Leben auf +sich herabschwören will. + +Sie steht da und ringt in ihrer Hilflosigkeit die Hände. Und es ist +alles ihre Schuld, weil sie ihn verklagt hat. + +Aber sie war ja ohne Arbeit, sie hatte gehungert und gefroren. Das Kind +lag im Sterben. An wen sonst hätte sie sich um Hilfe wenden sollen? + +Nie hätte sie auch geglaubt, daß er eine so schreckliche Sünde begehen +könnte. + +Jetzt hat der Richter den Eid noch ein Mal vorgesprochen. In wenigen +Augenblicken wird die Tat vollbracht sein. Jene Tat, von der es keine +Umkehr gibt, die niemals gutgemacht, niemals ausgelöscht werden kann. + +Gerade als der Beklagte anfängt, den Eid nachzusprechen, stürzt sie vor, +schleudert seine ausgestreckte Hand beiseite und reißt die Bibel an +sich. + +Ein furchtbares Entsetzen hat ihr endlich Mut gegeben. Er darf seine +Seele nicht verschwören. Er darf nicht. + +Der Gerichtsdiener eilt sogleich herbei, sie zur Ordnung zu rufen und +ihr die Bibel abzunehmen. Sie hat ungeheure Angst vor allem, was mit dem +Gericht zusammenhängt, und sie glaubt, daß, was sie jetzt getan hat, sie +auf die Festung bringen werde. Aber sie gibt die Bibel nicht her. Was es +auch kosten möge, er darf den Eid nicht ablegen. Auch er, der schwören +will, läuft herbei, um das Buch zu ergreifen; aber sie leistet auch ihm +Widerstand. + +»Du darfst den Eid nicht schwören!« ruft sie. »Du darfst nicht!« + +Was jetzt vorgeht, erweckt natürlich das größte Staunen. Die +Versammelten drängen zum Richtertisch, die Geschwornen erheben sich, der +Protokollführer springt auf, das Tintenfaß in der Hand, damit es nicht +umgestürzt werde. + +Da ruft der Richter mit lauter, zorniger Stimme: »Ruhe!« und alle die +Menschen bleiben regungslos stehen. + +»Was fällt dir ein? Was hast du mit der Bibel zu schaffen?« fragt der +Richter die Klägerin mit harter und strenger Stimme. + +Nachdem sie ihrer Angst in einer Tat der Verzweiflung Luft gemacht hat, +ist ihre Beklommenheit gewichen, so daß sie antworten kann: »Er darf den +Eid nicht ablegen!« + +»Sei still und gib das Buch zurück!« ruft der Richter. + +Aber sie gehorcht nicht, sondern umklammert das Buch mit beiden Händen. + +»Er darf den Eid nicht ablegen!« ruft sie mit ungezügelter Heftigkeit. + +»Ist es dir so sehr darum zu tun, den Prozeß zu gewinnen?« fragt der +Richter in immer schärferem Ton. + +»Ich will die Klage zurückziehen!« ruft sie mit lauter, schneidender +Stimme. »Ich will ihn nicht zwingen, zu schwören!« + +»Was schreist du da?« fragt der Richter. »Hast du den Verstand +verloren?« + +Sie ringt heftig nach Atem und versucht sich zu beruhigen. Sie hört +selbst, wie sie schreit. Der Richter muß wohl glauben, daß sie toll +geworden sei, weil sie, was sie will, nicht in ruhigen Worten sagen +kann. Noch einmal kämpft sie mit sich selbst, um Macht über ihre Stimme +zu erlangen, und diesmal gelingt es ihr. Sie sagt langsam, ernst, laut, +während sie dem Richter gerade ins Gesicht sieht: + +»Ich will die Klage zurückziehen. Er ist der Vater des Kindes. Aber ich +hab ihn noch lieb. Ich will nicht, daß er falsch schwört!« + +Sie steht aufrecht und entschlossen vor dem Richtertisch und sieht dem +Richter gerade in sein strenges Gesicht. Er sitzt da, beide Hände auf +den Tisch gestützt; und lange, lange wendet er den Blick nicht von ihr. +Während der Richter sie betrachtet, geht eine große Veränderung mit ihm +vor. Alle Schlaffheit und Mißvergnügtheit, die in seinen Zügen gelegen +hat, schwindet, und das große, grobe Gesicht wird durch die Rührung +geradezu schön. Sieh da, denkt der Richter, sieh da, so ist mein Volk. +Ich will mich nicht darüber beklagen, wo doch bei einer der Geringsten +so viel Liebe und Gottesfurcht zu finden ist. + +Plötzlich aber spürt der Richter, daß seine Augen sich mit Tränen +füllen, und da zuckt er beinahe beschämt zusammen und wirft einen +raschen Blick um sich. Da sieht er, daß die Schreiber und die +Gerichtsdiener und die ganze lange Reihe der Beisitzer sich vorgebeugt +haben, um das Mädchen anzusehen, das vor dem Richtertisch steht, die +Bibel an die Brust gepreßt. Und er sieht einen Schimmer auf ihren +Gesichtern, als hätten sie etwas richtig Schönes gesehen, das sie bis in +das tiefste Herz erfreut hat. + +Hierauf sieht der Richter auch über das versammelte Volk hin, und ihm +ist, als säßen alle diese Menschen stumm und atemlos da, als hätten sie +gerade jetzt das gehört, wonach sie sich am meisten sehnten. + +Zu allerletzt sieht der Richter den Beklagten an. Jetzt ist er es, der +mit gesenktem Kopf dasteht und zu Boden blickt. + +Der Richter wendet sich abermals an das arme Mädchen. »Es soll so sein, +wie du es willst,« sagt er. »Die Klage wird zurückgezogen,« diktiert er +dem Protokollführer. + +Der Beklagte macht eine Bewegung, als wolle er einen Einwand vorbringen. +»Was denn? Was denn?« schreit ihn der Richter an. »Hast du vielleicht +etwas dagegen?« Der Beklagte läßt den Kopf noch tiefer sinken und sagt +dann kaum hörbar: »Ach nein, es ist wohl am besten so.« + +Der Richter sitzt noch einen Augenblick still, dann schiebt er den +schweren Stuhl zurück, erhebt sich und geht um den Tisch herum zur +Klägerin hin. + +»Ich danke dir,« sagt er und reicht ihr die Hand. + +Sie hat die Bibel jetzt fortgelegt und steht da und weint und trocknet +die Tränen mit dem zusammengerollten Taschentuch. + +»Ich danke dir,« sagt der Richter noch einmal und ergreift ihre Hand so +leicht und behutsam, als wäre sie etwas gar Feines und Kostbares. + + +2 + +Niemand darf glauben, daß das Mädchen, das eine so schwere Stunde vor +dem Gerichtstisch durchgemacht hatte, selbst meinte, sie habe etwas +Rühmenswertes getan. Sie meinte im Gegenteil, daß sie vor der ganzen +Gemeinde beschämt sei. Sie begriff nicht die Ehre, die darin lag, daß +der Richter auf sie zugekommen war und ihr die Hand geschüttelt hatte. +Sie glaubte, dies bedeutete nur, daß die Verhandlung zu Ende sei, und +sie ihrer Wege gehen könne. + +Sie sah auch nicht, daß die Leute ihr freundliche Blicke zuwarfen, und +daß ihr mehrere die Hand drücken wollten. Sie schlich sich nur davon und +wollte fort. Aber unten an der Tür herrschte ein großes Gedränge. Der +Thing war zu Ende, und viele wollten wieder ins Freie. Sie drückte sich +an die Wand und war wohl die letzte, die den Thingsaal verließ. Sie +meinte, daß alle andern vor ihr hinausgehen müßten. + +Als sie endlich ins Freie kam, stand Gudmund Erlandssons Wägelchen +angespannt vor der Freitreppe. Gudmund saß darin, die Zügel in der Hand, +und schien auf jemand zu warten. Sowie er ihrer unter allem Volk, das +aus dem Thingsaal strömte, ansichtig wurde, rief er ihr zu: »Komm her, +Helga! Du kannst mit mir fahren, wir haben denselben Weg.« + +Aber obgleich sie ihren Namen hörte, -- sie konnte nicht glauben, daß er +sie rief. Es war nicht möglich, daß Gudmund Erlandsson sie kutschieren +wollte. Er war der schmuckste Bursche im ganzen Kirchspiel, jung und +schön und aus gutem Hause und in Gunst bei allen Leuten. Sie konnte +nicht glauben, daß er etwas mit ihr zu tun haben wolle. + +Sie ging, das Kopftuch tief in die Stirn geschoben, und eilte an ihm +vorbei, ohne aufzusehen oder zu antworten. + +»Hörst du nicht, Helga, daß du mit mir fahren kannst?« fragte Gudmund, +und es lag ein so recht freundlicher Ton in der Stimme. Aber sie konnte +es nicht in ihren Kopf hineinbringen, daß Gudmund es gut mit ihr meine. +Sie glaubte, er wolle sie in der einen oder andern Weise verspotten und +wartete nur darauf, die Umstehenden in Kichern und Lachen ausbrechen zu +hören. Sie warf ihm einen erschrocknen und zornigen Blick zu und lief +vom Thingplatz fort, um außer Hörweite zu sein, wenn das Lachen begänne. + +Gudmund war damals noch unverheiratet und wohnte bei seinen Eltern. Der +Vater war ein kleiner Bauer. Er hatte keinen großen Hof und war nicht +vermögend, aber er konnte sorgenfrei leben. Der Sohn war zum Thing +gefahren, um einige Urkunden für seinen Vater zu holen, aber da er noch +eine andre Absicht mit seiner Fahrt verfolgte, hatte er sich sehr fein +hergerichtet. Er hatte das neue Wägelchen genommen, dessen Lackierung +keine Schramme aufwies; das Pferd hatte er gestriegelt, bis es wie Seide +glänzte, und das Sattelzeug fein geputzt. Er hatte eine schmucke, rote +Decke neben sich auf den Sitz gelegt, und sich selbst hatte er mit einem +kurzen Jagdrock, einem kleinen, grauen Filzhut und hohen Stiefeln +geputzt, in die die Hosen hineingesteckt waren. Es war wohl kein +Feiertagsgewand, aber er wußte, daß er männlich und stattlich darin +aussah. + +Als Gudmund am Morgen von daheim fortfuhr, hatte er allein im Wagen +gesessen, aber er war in angenehme Gedanken versunken, und die Zeit war +ihm nicht lang erschienen. Als er ungefähr auf halbem Wege war, fuhr er +an einem armen Mädchen vorbei, das sehr langsam ging und aussah, als +könnte es vor Müdigkeit kaum einen Fuß vor den andern setzen. Es war +Herbst, der Weg war vom Regen aufgeweicht, und Gudmund sah, wie sie bei +jedem Schritt tief in den Schmutz einsank. Er hielt an und fragte, wohin +sie gehe, und als er erfuhr, daß sie zum Thing wolle, bot er ihr an, +mitzufahren. Sie dankte und stieg rückwärts auf den Wagen, auf das +schmale Brett, an dem der Heusack festgebunden war, ganz so, als wagte +sie es nicht, die rote Decke neben Gudmund zu berühren. Es war auch +nicht seine Absicht gewesen, daß sie sich neben ihn setze. Er wußte +nicht, wer sie wäre, aber er vermutete, daß sie die Tochter irgendeines +armen Kleinhäuslers wäre, und fand, es sei wohl genug Ehre für sie, wenn +sie rückwärts aufsitzen dürfte. + +Als sie an einen Hügel kamen und das Pferd den Schritt verlangsamte, +begann Gudmund zu plaudern. Er wollte wissen, wie sie heiße, und wo sie +daheim sei. Als er hörte, daß sie Helga hieß und von einem Waldgütchen +stammte, das man den Moorhof nannte, begann er unruhig zu werden. »Bist +du immer daheim gewesen oder warst du im Dienst,« fragte er. Das letzte +Jahr wäre sie daheim gewesen, früher hätte sie einen Dienstplatz gehabt. +»Bei wem denn?« fragte Gudmund sehr hastig. Und es schien ihm, als daure +es lange bis die Antwort kam. »Im Sternhof, bei Per Martensson,« sagte +sie endlich und senkte die Stimme, als wollte sie am liebsten nicht +gehört werden. Aber Gudmund verstand sie doch. »Ja so, du bist also +die,« sagte er, sprach aber den Satz nicht zu Ende. Er wendete sich ab, +richtete sich gerade auf und sprach kein Wort mehr zu ihr. + +Gudmund versetzte dem Pferde einen Hieb nach dem andern, fluchte laut +über den schlechten Weg und schien recht schlechter Laune zu sein. Ein +Weilchen verhielt sich das Mädchen still, aber bald fühlte Gudmund seine +Hand auf seinem Arm. »Was willst du?« fragte er, ohne den Kopf zu +wenden. Ja, er solle halten, damit sie abspringen könne. »Ach, warum +denn?« sagte Gudmund in verächtlichem Tone. »Fährst du nicht gut?« -- +»Ja, danke, aber ich gehe doch lieber.« Gudmund kämpfte ein wenig mit +sich selbst. Es war ärgerlich, daß er gerade an diesem Tage eine solche +wie Helga aufgefordert hatte, mitzufahren. Aber er fand doch, daß er +sie, nun er sie einmal in den Wagen genommen hatte, nicht wieder +vertreiben könnte. »Halte, Gudmund,« sagte das Mädchen noch einmal. Sie +sprach sehr bestimmt, und Gudmund zog die Zügel an. -- »Wenn sie +durchaus aussteigen will,« dachte er, »brauche ich sie doch nicht zu +zwingen, gegen ihren Willen zu fahren.« Sie war schon unten auf der +Straße, bevor noch das Pferd ganz stehen geblieben war. -- »Ich glaubte, +du wußtest, wer ich bin, als du mir sagtest, ich kann mitfahren,« sprach +sie, »sonst wäre ich gar nicht eingestiegen.« Gudmund sagte kurz: »Behüt +Gott!« und fuhr weiter. Sie hatte wohl Grund gehabt, zu glauben, daß er +sie kenne. Er hatte ja das Dirnlein vom Moorhof oftmals als Kind +gesehen; aber sie hatte sich verändert, seit sie herangewachsen war. +Zuerst war er sehr froh, die Reisekameradin los zu sein, aber allmählich +begann er mit sich selbst unzufrieden zu werden. Er hätte kaum anders +handeln können, aber er war nicht gern grausam gegen irgend jemand. + +Ein kleines Weilchen, nachdem Gudmund sich von Helga getrennt hatte, bog +er von der Straße ab, fuhr ein enges Gäßchen hinaus und kam zu einem +prächtigen großen Bauernhof. Als Gudmund vor dem Hause anhielt, öffnete +sich die Eingangstür, und eine der Töchter zeigte sich auf der Schwelle. +Gudmund zog den Hut und grüßte, und dabei huschte eine leichte Röte über +sein Gesicht. »Ich möchte wohl wissen, ob der Herr Amtmann daheim ist,« +sagte er. -- »Nein, Vater ist zum Thing gefahren,« antwortete die +Tochter. -- »So, so, ist er schon fort?« sagte Gudmund. »Ich bin +hergekommen, um zu fragen, ob der Herr Amtmann nicht mit mir fahren +möchte. Ich will auch zum Thing.« -- »Ach, Vater ist immer so +überpünktlich,« klagte die Tochter. -- »Es ist ja weiter kein Schade +geschehen,« sagte Gudmund. -- »Vater wäre gewiß gern mit einem so +prächtigen Pferd und in einem so schmucken Wagen gefahren,« sagte das +Mädchen freundlich. Gudmund lächelte ein wenig, als er das Lob hörte. +-- »Ja, da muß ich also wieder abziehen,« sagte er. -- »Du willst nicht +hereinkommen, Gudmund?« -- »Danke schön, Hildur, aber ich muß ja zum +Thing. Ich darf nicht zu spät kommen.« + +Gudmund fuhr nun gerades Wegs zum Thinghause. Er war sehr vergnügt und +dachte nicht mehr an seine Begegnung mit Helga. Es war doch schön, daß +gerade Hildur herausgekommen war, und daß sie den Wagen und die Decke +und das Pferd und das Sattelzeug gesehen hatte. Sie hatte wohl alles +bemerkt. + +Es war das erste Mal, daß Gudmund auf einem Thing war. Er fand, daß es +da sehr viel zu hören und zu erfahren gäbe, und blieb den ganzen Tag +dort. Er saß im Thingsaal, als Helgas Sache geführt wurde, und sah, wie +sie die Bibel an sich riß und Gerichtsdienern und Richter standhielt. +Als alles zu Ende war, und der Richter Helga die Hand gedrückt hatte, +stand Gudmund hastig auf und verließ den Saal. Rasch spannte er das +Pferd vor den Wagen und fuhr zur Treppe hin. Er fand, daß Helga sehr +tapfer gewesen war, und nun wollte er sie ehren. Aber sie war so +verschüchtert, daß sie seine Absicht nicht verstand, sondern sich vor +der Ehre, die ihr zugedacht war, flüchtete. + +An demselben Tag kam Gudmund spät abends zum Moorhof. Das war ein +kleines Gehöft auf dem Abhang des bewaldeten Hügels, der das Kirchspiel +abschloß. Der Weg, der hinführte, war nur im Winter bei Schlittenbahn +fahrbar, und Gudmund hatte zu Fuß gehen müssen. Es war ihm recht sauer +geworden, vorwärts zu kommen. Fast hätte er sich an Stock und Stein die +Beine gebrochen, auch hatte er Bäche durchwaten müssen, die den Pfad an +mehreren Stellen durchschnitten. Wäre nicht Vollmond gewesen, so hätte +er überhaupt nicht hinfinden können; und er dachte, daß das ein +beschwerlicher Weg wäre, den Helga an diesem Tag hatte gehen müssen. + +Der Moorhof lag an einer ausgerodeten Stelle, etwa auf halber Höhe des +Hügels. Gudmund war noch nie dort gewesen, aber er hatte den Ort oftmals +unten vom Tale aus gesehen und kannte ihn genügend, um zu wissen, daß er +richtig gegangen war. + +Rings um die ausgerodete Stelle zog sich ein Reisigzaun, der sehr dicht +und sehr schwer zu übersteigen war. Er sollte wohl gleichsam eine Wehr +und ein Hort gegen die Wildnis sein, die das Gehöft umgab. Die Hütte +selbst stand am oberen Rand der Einzäunung. Davor breitete sich ein +abschüssiger Hof aus, mit kurzem, grünem Gras bewachsen, und unterhalb +des Hofes lagen ein paar graue Schuppen und ein Keller mit grünem +Torfdach. Es war ein geringes und ärmliches Anwesen, aber es ließ sich +nicht leugnen, daß es dort oben schön war. Das Moor, nach dem das +Gütchen seinen Namen hatte, lag irgendwo in der Nähe und sandte Nebel +empor, die sich im Mondschein prachtvoll und silberglänzend heranwälzten +und einen Kranz um den Hügel bildeten. Der höchste Gipfel ragte noch aus +dem Nebel empor. Und der Kamm, der zackig von Tannen war, zeichnete sich +scharf gegen den Himmel ab. Unten über dem Tal lag der Mondschein so +hell, daß man die Felder und Gehöfte und einen geschlängelten Bach +unterscheiden konnte, über dem der Nebel wie der leichteste Duft +schwebte. Es war nicht weit dort hinunter, aber das Seltsame war, daß +das Tal wie eine fremde Welt dalag, mit der das, was dem Wald angehörte, +nichts gemein hatte. Es war, als wenn die Menschen, die hier auf dem +Waldgut hausten, immer unter diesen Bäumen gehen müßten. Sie konnten +unten im Tale ebensowenig fortkommen wie Auerhähne und Bergeulen und +Luchse und Heidelbeerkraut. + +Gudmund ging über die Wiese auf die Hütte zu. Durch das Fenster drang +Feuerschein, die Scheiben waren nicht verhangen; er warf einen Blick +hinein, um zu sehen, ob Helga in der Hütte wäre. Auf einem Tisch am +Fenster brannte ein kleines Lämpchen, und davor saß der Hausvater und +flickte alte Schuhe. Im Hintergrunde des Zimmers neben dem Herd, auf dem +ein schwaches Feuer brannte, saß die Hausmutter. Sie hatte den +Spinnrocken vor sich, aber hatte zu arbeiten aufgehört, um mit einem +kleinen Kinde zu spielen. Sie hatte es aus der Wiege genommen, und man +hörte es bis zu Gudmund hinaus, wie sie mit ihm lachte und scherzte. +Ihr Gesicht war von vielen Runzeln durchfurcht, und sie sah strenge aus; +aber wie sie sich so über das Kind beugte, bekam ihr Gesicht einen +sanften Ausdruck, und sie lächelte dem Kleinen ebenso zärtlich zu wie +nur seine eigene Mutter. + +Gudmund spähte nach Helga aus, konnte sie aber in keinem Winkel der +Hütte entdecken. Da schien es ihm am besten, draußen zu bleiben, bis sie +käme. Er wunderte sich, daß sie noch nicht zu Hause war. Vielleicht wäre +sie auf dem Heimweg bei Bekannten eingekehrt, sich auszuruhen und einen +Imbiß zu nehmen? Aber bald müßte sie auf jeden Fall kommen, wenn sie vor +Einbruch der Nacht unter Dach sein wollte. + +Gudmund blieb eine Weile mitten im Hof stehen und horchte nach Schritten +aus. Es war ganz ruhig. Kein Lüftchen regte sich. Es kam ihm vor, als ob +ihn nie vorher eine solche Stille umgeben hätte. Es war, als hielte der +ganze Wald den Atem an und stünde da und wartete auf etwas Merkwürdiges. + +Niemand ging durch den Wald. Kein Zweiglein wurde geknickt, und kein +Stein rollte. Helga war wohl noch lange nicht zu erwarten. »Ich möchte +wohl wissen, was sie sagen wird, wenn sie sieht, daß ich hier bin,« +dachte Gudmund. »Sie wird vielleicht schreien und in den Wald laufen und +sich die ganze Nacht nicht heimwagen.« + +Dabei fiel ihm ein, es sei doch recht sonderbar, daß er nun auf einmal +soviel mit dieser Häuslerdirne zu schaffen hatte. + +Als er vom Thing heim kam, war er wie gewöhnlich zu seiner Mutter +hineingegangen, ihr alles zu erzählen, was er während des Tages erlebt +hatte. Gudmunds Mutter war klug und hochsinnig und hatte es immer +verstanden, gegen den Sohn so zu sein, daß er noch ebensoviel Vertrauen +zu ihr hatte wie einst als Kind. Seit mehreren Jahren war sie krank und +konnte nicht gehen, sondern saß den ganzen Tag still in ihrem Lehnstuhl. +Es war immer eine gute Stunde für sie, wenn Gudmund von einer Reise +heimkam und ihr Neuigkeiten brachte. + +Als Gudmund nun von Helga vom Moorhof erzählte, sah er, daß die Mutter +gedankenvoll wurde. Lange saß sie stumm da und sah gerade vor sich hin. +»Es scheint doch ein guter Kern in diesem Mädchen zu stecken,« sagte sie +dann. »Man darf keinen verwerfen, weil er einmal ins Unglück gekommen +ist. Es kann wohl sein, daß sie sich dem, der ihr jetzt beistünde, +dankbar erweisen würde.« + +Gudmund begriff sogleich, woran die Mutter dachte. Sie konnte sich nicht +mehr selbst helfen, sondern mußte beständig jemand um sich haben, der +ihr zu Diensten stand. Aber es war immer schwer, jemand zu finden, der +auf diesem Platz bleiben wollte. Die Mutter war anspruchsvoll und nicht +leicht zu befriedigen, und außerdem wollten alle jungen Mägde lieber +eine andre Arbeit haben, bei der sie mehr Freiheit genossen. Nun war es +sicherlich der Mutter eingefallen, daß sie die Helga vom Moorhof in +Dienst nehmen könnte, und Gudmund fand, daß dies ein guter Vorschlag +sei. Helga würde der Mutter sicherlich sehr ergeben sein. Es wäre wohl +möglich, daß ihnen auf diese Weise für lange geholfen wäre. + +»Am schwersten wird es mit dem Kinde sein,« sagte die Mutter nach einer +Weile, und Gudmund begriff, daß sie ernsthaft an die Sache dachte. -- +»Das muß wohl bei den Großeltern bleiben,« sagte Gudmund. -- »Es ist +nicht ausgemacht, daß sie sich von ihm trennen will.« -- »Sie wird es +sich abgewöhnen müssen, daran zu denken, was sie will und nicht will. +Ich finde, daß sie förmlich verhungert aussieht. Dort oben auf dem +Moorhof ist wohl Schmalhans Küchenmeister.« + +Darauf antwortete die Mutter nichts, sondern begann von etwas anderm zu +sprechen. Man merkte, daß ihr neue Bedenklichkeiten aufstiegen, die sie +verhinderten, einen Entschluß zu fassen. + +Gudmund begann nun zu erzählen, wie er den Amtmann auf Älvåkra +aufgesucht und Hildur getroffen hatte. Er berichtete, was sie über das +Pferd und den Wagen gesagt hatte, und es war leicht zu merken, daß er +sich der Begegnung freute. Auch die Mutter schien sehr vergnügt. Wie sie +so unbeweglich in ihrem Lehnstuhl saß, war es ihre stete Beschäftigung, +Pläne für die Zukunft des Sohnes auszuspinnen; und sie war zuerst auf +den Gedanken verfallen, daß er es versuchen solle, um die schöne +Amtmannstochter zu werben. Das war die prächtigste Heirat, die er +machen konnte. Der Amtmann war ein richtiger Großbauer. Er hatte den +größten Hof im Kirchspiel und viel Macht und viel Geld. Es war +eigentlich töricht, zu hoffen, daß er sich mit einem Eidam begnügen +würde, der kein größeres Vermögen hatte als Gudmund, aber es war +immerhin möglich, daß er sich nach dem richtete, was seine Tochter +wollte. Und daß Gudmund Hildur gewinnen könnte, wenn er es nur wollte, +davon war die Mutter fest überzeugt. + +Dies war das erste Mal, daß Gudmund die Mutter merken ließ, wie der +Gedanke bei ihm Wurzel geschlagen hatte, und sie sprachen nun ein langes +und breites von Hildur und von allen den Reichtümern und Vorteilen, die +dem zufallen würden, der sie einmal bekäme. Aber bald stockte das +Gespräch wieder, weil die Mutter von neuem in ihre Grübeleien versunken +war. »Könntest du diese Helga nicht holen lassen? Ich möchte sie doch +sehen, bevor ich sie in meine Dienste nehme,« sagte sie schließlich. -- +»Das ist schön, daß du dich ihrer annehmen willst, Mutter,« entgegnete +Gudmund und dachte bei sich: wenn die Mutter eine Pflegerin bekäme, mit +der sie zufrieden wäre, würde seine Gattin hier daheim ein behaglicheres +Leben führen. »Du wirst sehen, daß du mit dem Mädchen zufrieden sein +wirst,« fuhr er fort. -- »Es ist ja auch ein gutes Werk, sich ihrer +anzunehmen,« sagte die Mutter. + +Als es zu dämmern begann, begab sich die Kranke zu Bett, und Gudmund +ging in den Stall, um die Pferde zu striegeln. Es war schönes Wetter, +die Luft war klar, und der ganze Hof lag vom Mondschein übergossen da. +Da fiel es ihm ein, daß er schon heute in den Moorhof gehen und die +Botschaft der Mutter bestellen könne. Wäre morgen schönes Wetter, dann +würde man es so eilig haben, den Hafer einzubringen, daß weder er noch +irgend ein andrer Zeit hätte, hinzugehen. + +Als jetzt Gudmund vor dem Moorhof stand und horchte, hörte er zwar keine +Schritte; doch andre Laute durchschnitten in kurzen Abständen die +Stille. Es war ein stilles Klagen, ein sehr leises und ersticktes +Jammern und dann hie und da ein Aufschluchzen. Gudmund glaubte zu +merken, daß die Laute von dem Schuppen herkämen, und ging auf diesen zu. +Als er sich näherte, hörte das Schluchzen auf; aber es war offenbar, daß +sich drinnen jemand in der Holzkammer regte. Mit einem Male begriff +Gudmund, wer dort drinnen war. »Bist du es, Helga, die da drinnen sitzt +und weint?« rief er und stellte sich in die Türöffnung, damit das +Mädchen nicht entwischen könnte, ehe er mit ihm gesprochen hätte. + +Wieder wurde es ganz still. Gudmund hatte wohl recht geraten: es war +Helga, die da saß und weinte; aber sie versuchte das Schluchzen zu +unterdrücken, damit Gudmund glaubte, er habe sich verhört, und seiner +Wege ginge. Es war stockfinster in dem Schuppen, und sie wußte, daß er +sie nicht sehen konnte. + +Aber Helga war an diesem Abend in solcher Verzweiflung, daß es ihr +nicht leicht fiel, die Tränen zurückzudrängen. Sie war noch nicht in der +Hütte gewesen und hatte die Eltern noch nicht begrüßt. Sie hatte nicht +den Mut dazu gehabt. Als sie in der Dämmerung den steilen Hügel +hinaufstieg und daran dachte, daß sie den Eltern jetzt sagen müßte, sie +habe keinen Erziehungsbeitrag von Per Martensson zu erwarten, da hatte +sie solche Angst vor den harten und grausamen Worten bekommen, die sie +ihr sagen würden, daß sie es nicht wagte, hineinzugehen. Sie gedachte +draußen zu bleiben, bis sie sich zu Bett gelegt hätten; dann brauchte +sie vielleicht nicht vor dem nächsten Tage von der unglückseligen Sache +zu sprechen. Und so hatte sie sich in dem Holzschuppen versteckt. Aber +während sie so dasaß und fror und hungerte, kam es ihr erst recht zu +Bewußtsein, wie unglücklich und ausgestoßen sie war. Alle Schmach und +Angst, die sie hatte erleiden müssen, und alle Schmach und Angst, die +ihrer noch harrten, stand vor ihr und drückte sie mit Bleischwere zu +Boden. Sie weinte über sich selbst, darüber, daß sie so elend war, und +daß niemand etwas von ihr wissen wollte. Sie erinnerte sich, wie sie +einmal als Kind in einen Morast gefallen und gleich untergesunken war. +Je mehr sie sich gemüht hatte, in die Höhe zu kommen, desto tiefer war +sie gesunken. Alle Büsche und Sträucher, nach denen sie gegriffen, +hatten nachgegeben. So war es auch jetzt. Alles, wonach sie zu greifen +versuchte, um sich aufrechtzuhalten, ließ sie im Stich. Niemand wollte +ihr helfen. Damals, als sie ins Moor versinken wollte, war schließlich +ein Hirtenbub gekommen und hatte sie herausgezogen; jetzt aber kam +niemand, sie zu retten. Jetzt war es gewiß ihre Bestimmung, zugrunde zu +gehen. + +Als Helga das Moor in den Sinn kam, wurde es ihr mit einem Male klar: +das beste, was sie tun konnte, war, dorthin zu gehn, in den Schlamm +hinauszuwandern und sich einsinken und begraben zu lassen. Wenn eine so +elend wäre, daß kein Mensch etwas mit ihr zu tun haben wollte, dann +könnte sie wohl gar nichts Besseres tun als sterben. Es wäre auch für +das Kind das Beste, wenn sie fortginge; denn Helgas Mutter hatte es +gern, obgleich sie es nicht zeigen wollte, wenn Helga daheim war. Aber +wenn Helga einmal für immer aus dem Wege wäre, dann würde sich die +Großmutter des Kindes wohl so annehmen, als wäre es ihr eigenes. + +Sie begriff nicht, daß sie mitten in ihrem größten Elend etwas getan +hatte, wodurch den Leuten eine bessere Meinung über sie gegeben würde. +Ihr wurde mit jedem Augenblick gewisser, daß das Moor der einzige +Zufluchtsort für sie sei. Und je klarer sie dies einsah, desto mehr +weinte sie. + +Es war darum nicht so leicht für sie, die Tränen zu unterdrücken. Es +dauerte nicht lange, so begann sie von neuem zu schluchzen. + +Gudmund war nichts verhaßter, als wenn Weibsleute weinten. Er hatte die +größte Lust, auf und davon zu laufen; aber er sagte sich, wenn er sich +nun einmal die Mühe gemacht hätte, zur Hütte hinaufzuklettern, müßte er +seinen Auftrag auch ausführen. + +»Was ist dir denn?« sagte er in barschem Ton zu Helga. »Warum gehst du +nicht ins Haus?« -- »Ach, ich getraue mich nicht,« antwortete Helga, und +ihre Zähne schlugen aufeinander. »Ich getraue mich nicht.« + +»Wovor hast du denn Angst? Du hast dich doch heute morgen gegen +Gerichtsdiener und Richter tapfer gehalten. Da kannst du wohl nicht vor +deinen leiblichen Eltern Angst haben.« -- »O ja, o ja, die sind viel +schlimmer als alle andern.« -- »Warum sollten sie denn gerade heute so +böse sein?« -- »Ich bekomme ja kein Geld.« -- »Na, du bist doch ein so +tüchtiges Mädel, daß du für dich und dein Kind das Brot verdienen +kannst.« -- »Ja, aber mich will doch niemand nehmen.« + +Plötzlich fiel es Helga ein, daß die Eltern ihre Stimmen hören und +herauskommen und fragen könnten, wer da spräche. Und dann wäre sie +gezwungen, ihnen alles zu erzählen. Dann könnte sie sich nicht in das +Moor retten. Und in ihrem Schrecken sprang sie auf und wollte an Gudmund +vorbeieilen. Aber er kam ihr zuvor. Er packte sie am Arm und hielt sie +fest. -- »Nein! Du kommst nicht davon, bis ich nicht mit dir gesprochen +habe.« -- »Laß mich gehen,« rief sie und blickte ihn wild an. -- »Du +siehst aus, als wenn du ins Wasser gehen wolltest,« sagte er; denn jetzt +stand sie draußen im Mondschein, und er konnte ihr Gesicht sehen. -- +»Ja, das würde wohl auch niemand etwas angehen, wenn ich das täte,« +sagte Helga und warf dabei den Kopf zurück und sah ihm gerade in die +Augen. »Heute morgen wolltest du mich nicht einmal rückwärts auf deinem +Wagen mitfahren lassen. Niemand will etwas mit mir zu tun haben. Da mußt +du doch selbst einsehen, daß es für solch ein armes Wurm, wie mich, am +besten ist, wenn ich ein Ende mache.« + +Gudmund wußte nicht, was er beginnen solle. Er wünschte sich weit weg, +aber er fühlte auch, daß er einen Menschen in solcher Verzweiflung nicht +verlassen konnte. »Hör mich jetzt an! Versprich nur, daß du anhörst, was +ich dir zu sagen habe. Dann kannst du gehen, wohin du willst.« -- Ja, +das versprach sie. -- »Kann man hier nirgends sitzen?« + +»Drüben steht doch der Hackblock.« -- »Also geh hin und setze dich und +sei still!« Sie ging ganz gehorsam hin und setzte sich. -- »Weine jetzt +nicht mehr!« sagte er; denn es war ihm, als finge er an, Macht über sie +zu gewinnen. Aber das hätte er nicht sagen sollen, denn sie ließ +sogleich den Kopf in die Hände sinken und weinte heftiger denn je. + +»Weine nicht!« sagte er und war nahe daran, mit dem Fuß auf die Erde zu +stampfen. »Es gibt genug Leute, denen es schlechter geht als dir.« -- +»Nein, keinem kann es schlechter gehen.« -- »Du bist jung und gesund, du +solltest nur wissen, wie es meiner Mutter geht. Sie ist von Schmerzen so +geplagt, daß sie sich nicht rühren kann, aber sie klagt nie.« -- »Sie +ist nicht so verlassen von allen wie ich.« -- »Du bist auch nicht +verlassen. Ich habe mit Mutter über dich gesprochen, und Mutter hat mich +zu dir geschickt.« Das Schluchzen hörte auf. Man vernahm gleichsam das +große Schweigen des Waldes, als ob der den Atem anhielte und auf etwas +Wunderbares wartete. »Ich soll dir bestellen, daß du morgen zu Mutter +kommst, damit sie dich sieht. Mutter gedenkt dich zu fragen, ob du zu +uns in Dienst gehen willst.« -- »Das will sie mich fragen?« -- »Ja, aber +zuerst will sie dich sehen.« -- »Weiß sie, daß ...?« -- »Sie weiß +ebensoviel von dir wie alle andern.« + +Mit einem Schrei des Staunens und der Freude sprang das Mädchen auf, und +im nächsten Augenblick fühlte Gudmund ein paar Arme um seinen Hals. Er +erschrak förmlich, und sein erster Gedanke war, sich loszureißen. Aber +dann faßte er sich und blieb stehen. Er begriff, daß das Mädchen so +außer sich vor Freude war, daß sie nicht wußte, was sie tat; in diesem +Augenblick hätte sie sich dem ärgsten Schurken an den Hals werfen +können, nur um in dem großen Glück, das über sie gekommen war, ein klein +wenig Mitgefühl zu finden. + +»Wenn sie mich bei sich aufnehmen will, dann kann ich ja am Leben +bleiben!« sagte sie und legte den Kopf an Gudmunds Brust und weinte +wieder, aber nicht so heftig wie zuvor. »Ich kann dir jetzt sagen, daß +es mir damit Ernst war, ins Moor zu gehen,« sagte sie. »Ich danke dir, +daß du gekommen bist! Du hast mir das Leben gerettet.« Gudmund hatte +bisher unbeweglich dagestanden, jetzt aber fühlte er, wie sich etwas +warm und zärtlich in ihm zu regen begann. Er hob die Hand und strich ihr +übers Haar. Da zuckte sie zusammen, als hätte er sie aus einem Traum +geweckt, und stellte sich kerzengerade vor ihn hin. »Ich danke dir, daß +du gekommen bist!« sagte sie noch einmal. Sie war flammend rot im +Gesicht geworden, und er errötete auch. + +»Ja, so kommst du also morgen zu uns,« sagte er und streckte die Hand +aus, um ihr Lebewohl zu sagen. -- »Ich werde nie vergessen, daß du heute +abend zu mir gekommen bist,« sagte Helga, und die große Dankbarkeit +bekam die Oberhand über ihre Befangenheit. »Ach ja, es ist vielleicht +ganz gut, daß ich da war,« sagte er ruhig, fühlte sich aber doch recht +zufrieden mit sich selbst. -- »Jetzt gehst du doch ins Haus?« sagte er. +-- »Ja, jetzt werde ich wohl hineingehen.« + +Gudmund hatte plötzlich eine solche Freude an Helga, wie man sie an +einem hat, dem man hat helfen können. Er stand da und zauderte und +wollte nicht gehen. »Ich möchte dich gern unter Dach und Fach sehen, +bevor ich gehe.« -- »Ich dachte, sie sollten sich lieber erst +niederlegen, bevor ich hineingehe.« -- »Nein, du mußt gleich gehen, +damit du etwas zu essen kriegst und unter Dach kommst,« sagte er und +fand es recht vergnüglich, so für sie zu sorgen. + +Sie ging sogleich auf die Hütte zu, und er kam mit, ganz zufrieden und +stolz, daß sie ihm gehorchte. Als sie auf der Schwelle stand, sagten sie +sich noch einmal Lebewohl. Aber kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, +als sie ihm nachkam. »Bleib hier draußen stehen, bis ich drinnen bin! Es +geht leichter, wenn ich weiß, daß du draußen bist.« -- »Ja,« sagte er, +»ich werde hier bleiben, bis du das Ärgste überstanden hast.« + +Nun öffnete Helga die Hüttentür, und Gudmund merkte, daß sie sie leicht +angelehnt ließ. Gleichsam, damit sie sich nicht allzu abgetrennt von dem +Helfer fühle, der dort draußen stand. Er machte sich auch kein Gewissen +daraus, alles zu hören und zu sehen, was drinnen in der Hütte geschah. + +Die Alten nickten Helga, als sie eintrat, freundlich zu. Die Mutter +legte sogleich das Kind in die Wiege, ging dann zum Schrank und holte +einen Laib Brot und eine Schale Milch und stellte sie auf den Tisch. + +»Bist du da? Setz dich jetzt und iß,« sagte sie. Dann ging sie zum Herd +und legte ein Stück Holz nach. »Ich habe das Feuer nicht ausgehen +lassen, damit du dir die Kleider trocknen und dich erwärmen kannst, wenn +du kommst. Aber iß jetzt zuerst! Das hast du wohl am nötigsten.« + +Helga war die ganze Zeit an der Tür stehen geblieben. »Ihr sollt mich +nicht so gut aufnehmen, Mutter,« sagte sie mit leiser Stimme. »Ich +bekomme kein Geld von Per. Ich habe auf die Unterstützung verzichtet.« +»Es ist heute Abend schon jemand dagewesen, der bei dem Thing war und +gehört hat, wie es dir ergangen ist,« sagte die Mutter. »Wir wissen +alles.« + +Helga blieb an der Tür stehen und machte, als wüßte sie weder aus noch +ein. + +Da legte der Vater die Arbeit nieder, schob die Brille auf die Stirn und +räusperte sich, um eine Rede zu halten, die er den ganzen Abend +überdacht hatte. »Es ist nämlich so, Helga,« sagte er: »Mutter und ich, +wir wollten immer anständige und ehrliche Leute sein. Aber dann ist es +uns vorgekommen, als ob du Unehre über uns gebracht hättest. Es war so, +als hätten wir dich nicht gelehrt, zwischen Gut und Böse zu +unterscheiden. Aber als wir nun hörten, was du heute getan hast, da +sagten wir uns, Mutter und ich, daß die Leute jetzt doch sehen können, +daß du eine ordentliche Erziehung genossen hast, und wir denken, daß wir +vielleicht auch noch Freude an dir erleben können. Und Mutter wollte +nicht, daß wir uns niederlegen, ehe du da bist, damit du doch eine +ordentliche Heimkehr hast.« + + +3 + +Helga vom Moorhof kam jetzt nach Närlunda, und da ging alles gut. Sie +war willig und anstellig und dankbar für jedes freundliche Wort, das man +ihr sagte. Sie fühlte sich immer als die Geringste und wollte sich nie +vordrängen. Es dauerte nicht lange, so hatten Herrschaft und Gesinde sie +lieb gewonnen. + +In den ersten Tagen sah es aus, als fürchte sich Gudmund, mit Helga zu +sprechen. Er hatte Angst, daß das Mädchen sich etwas einbilde, weil er +ihr zu Hilfe gekommen war. Aber dies war eine unnötige Sorge. Helga +hielt ihn für viel zu herrlich und hoch, als daß sie gewagt hätte, ihre +Blicke zu ihm zu erheben. Und Gudmund merkte auch bald, daß er sie nicht +fernzuhalten brauchte. Sie war vor ihm scheuer als vor irgend jemand. + +In demselben Herbst, da Helga nach Närlunda kam, machte Gudmund viele +Besuche bei der Familie des Amtmanns auf Älvåkra, und es wurde viel +darüber gesprochen, daß er alle Aussicht hätte, dort im Hause +Schwiegersohn zu werden. Volle Gewißheit, daß seine Werbung Erfolg +hatte, erhielten die Leute jedoch erst zu Weihnachten. Da kam der +Amtmann mit Frau und Tochter nach Närlunda, und es war ganz klar, daß +sie nur hierher gefahren waren, um zu sehen, wie es Hildur gehen würde, +wenn sie sich mit Gudmund verheiratete. + +Das war das erste Mal, daß Helga das Mädchen, welches Gudmund heimführen +wollte, aus der Nähe sah. Hildur Erikstochter war noch nicht zwanzig +Jahre, aber das Merkwürdige an ihr war, daß niemand sie ansehen konnte, +ohne zu denken, welche stattliche und prächtige Hausmutter einmal aus +ihr werden würde. Sie war hochgewachsen, stark gebaut, blond und schön, +und sah aus, als wenn sie gerne für viele um sich zu sorgen hätte. Sie +war nie scheu oder verschüchtert, sondern sprach viel und schien alles +besser zu wissen als der, mit dem sie sprach. Sie war ein paar Jahre in +der Stadt zur Schule gegangen und trug die schönsten Kleider, die Helga +je gesehen hatte, aber sie machte keinen eiteln oder prunkliebenden +Eindruck. Reich und schön, wie sie war, hätte sie wohl jeden Tag einen +Mann von Stand heiraten können, aber sie sagte immer, sie wolle keine +feine Dame werden und mit den Händen im Schoß dasitzen. Sie wollte einen +Bauer heiraten und ihr Haus selbst versehen wie eine richtige Bäuerin. + +Hildur schien Helga als ein wahres Wunder. Nie hatte sie jemand gesehen, +der so prächtig aufgetreten wäre. Sie hätte nicht geglaubt, daß ein +Mensch in allen Stücken so vollkommen sein könnte. Und es däuchte sie +ein großes Glück, in Zukunft einer solchen Frau zu dienen. + +Bei dem Besuch der Amtmannsfamilie war alles gut abgelaufen; aber wenn +Helga an den Tag zurückdachte, empfand sie eine gewisse Unruhe. Als die +Fremden gekommen waren, war sie herumgegangen und hatte den Kaffee +gereicht. Wie sie nun mit den Kannen hereinkam, hatte die Frau des +Amtmanns sich zu ihrer Herrin vorgebeugt und sie gefragt, ob das nicht +das Mädchen vom Moorhof sei. Sie hatte die Stimme nicht sehr gesenkt, so +daß Helga die Frage deutlich hörte. Mutter Ingeborg hatte Ja gesagt, und +da hatte die andre etwas geantwortet, was Helga nicht hören konnte. Aber +es war so etwas gewesen, als ob sie es wunderlich fände, daß sie eine +solche Person im Hause dulde. Dies bereitete Helga sehr viel Kummer, +aber sie suchte sich damit zu trösten, daß es die Mutter und nicht +Hildur war, die diese Worte gesprochen hatte. + +An einem Sonntag im Vorfrühling fügte es sich, daß Helga und Gudmund +zusammen aus der Kirche kamen. Als sie über den Kirchenhügel wanderten, +waren sie inmitten einer großen Schar von andern Kirchenbesuchern +gegangen; aber bald bog einer nach dem andern ab, und schließlich waren +Helga und Gudmund allein. + +Da fiel es Gudmund ein, daß er seit jenem Abend auf dem Moorhof nicht +mehr mit Helga allein gewesen war, und die Erinnerung daran kam nun in +voller Stärke wieder. Recht oft während des Winters hatte er an ihre +erste Begegnung gedacht und dabei immer gefühlt, wie etwas Süßes und +Wohliges seinen Sinn durchbebte. Wenn er allein bei der Arbeit war, +pflegte er sich die ganze schöne Nacht wieder zurückzurufen: den weißen +Nebel, den starken Mondschein, die schwarze Waldeshöhe, das lichte Tal +und dann das Mädchen, das die Arme um seinen Hals geschlungen und vor +Freude geweint hatte. Je öfter er sich den Vorfall zurückrief, desto +schöner wurde er. Aber wenn Gudmund Helga daheim unter den andern in +Arbeit und Plage umhergehen sah, dann konnte er sich nur schwer +vorstellen, daß sie mit dabei gewesen war. Jetzt aber, wo er allein mit +ihr den Kirchenweg entlang ging, konnte er es nicht lassen, sich zu +wünschen, daß sie für ein Weilchen dieselbe wäre wie an jenem Abend. + +Helga begann sogleich von Hildur zu sprechen. Sie rühmte sie sehr, +sagte, daß sie das schönste und klügste Mädchen in der ganzen Umgegend +sei, und beglückwünschte Gudmund dazu, daß er eine so ausgezeichnete +Frau bekäme. »Du mußt ihr sagen, daß sie mich immer auf Närlunda bleiben +läßt,« sagte sie. »Es wird so schön sein, unter einer solchen Frau zu +dienen.« + +Gudmund lächelte über ihren Eifer, gab ihr jedoch nur einsilbige +Antworten, als wären seine Gedanken nicht recht dabei. Aber es war ja +recht, daß ihr Hildur so gut gefiel, und daß sie sich über seine Heirat +so freute. + +»Du bist diesen Winter doch gern bei uns gewesen?« fragte er. -- »Ja +gewiß. Ich kann gar nicht sagen, wie gut Mutter Ingeborg und ihr alle +gegen mich wart.« -- »Hast du dich nach dem Walde gesehnt?« -- »Ach ja, +anfangs wohl, aber jetzt nicht mehr.« -- »Ich glaubte, wer im Wald +daheim ist, kann es nicht lassen, sich hinzusehnen.« + +Helga wendete sich halb um und sah ihn an, der auf der andern Seite des +Weges ging. Gudmund war ihr in letzter Zeit ganz fremd geworden, aber +jetzt lag etwas in seinem Tonfall und seinem Lächeln, das sie +wiedererkannte. Ja, er war doch derselbe, der in ihrer höchsten Not +gekommen war und sie gerettet hatte. Obgleich er sich mit einer andern +verheiraten wollte, war sie dessen gewiß, daß er ihr ein guter Freund +und getreuer Helfer bleiben würde. + +Es wurde ihr so leicht ums Herz; sie fühlte, daß sie Vertrauen zu ihm +haben könnte wie zu keinem andern, und es war ihr, als müßte sie ihm +alles erzählen, was ihr geschehen war, seit sie zuletzt miteinander +gesprochen hatten. »Ich will dir sagen, daß ich in den ersten Wochen auf +Närlunda eine recht schwere Zeit hatte,« begann sie. »Aber du darfst es +Mutter Ingeborg nicht wiedererzählen.« -- »Wenn du willst, daß ich +schweigen soll, so schweige ich.« -- »Denk dir nur, daß ich anfangs so +furchtbares Heimweh hatte! Ich war drauf und dran, wieder in den Wald +hinaufzulaufen.« -- »Du hattest Heimweh? Ich glaubte, du wärst froh, bei +uns zu sein.« -- »Ich konnte nichts dafür,« sagte sie entschuldigend. +»Ich sah wohl ein, welches Glück es für mich war, hier sein zu dürfen. +Ihr wart alle so freundlich gegen mich, und die Arbeit war nicht zu +schwer; aber ich sehnte mich doch. Irgend etwas zog und lockte und +wollte mich in den Wald zurückführen. Es war mir, als verriete ich +einen, der ein Recht auf mich hatte, wenn ich unten im Tale blieb.« + +»Das war vielleicht ...« begann Gudmund, aber er hielt mitten im Satz +inne. -- »Nein, es war nicht der Kleine, nach dem ich mich sehnte. Ich +wußte ja, daß es ihm gut ging, und daß Mutter freundlich zu ihm war. Es +war nichts Bestimmtes. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ein wilder +Vogel, den man in einen Käfig gesperrt hat, und ich glaubte, ich müßte +sterben, wenn man mich nicht losließ.« + +»Nein, daß es dir so schlecht ging!« sagte Gudmund, und dabei lächelte +er; denn jetzt kam es ihm mit einem Male vor, als ob er sie erst +wiedererkennte. Jetzt war es, als läge nichts zwischen ihnen, sondern +als hätten sie sich erst am vorigen Abend oben auf dem Moorhof +voneinander getrennt. Helga lächelte wieder, sie fuhr jedoch fort, von +ihrer Qual zu sprechen. »Keine Nacht schlief ich,« sagte sie; »kaum +hatte ich mich niedergelegt, so begannen die Tränen zu fließen, und wenn +ich am Morgen aufstand, war das Kopfkissen ganz naß. Am Tag, wenn ich +unter euch andern herumging, konnte ich das Weinen unterdrücken; aber +sowie ich allein war, schossen mir die Tränen in die Augen.« + +»Du hast schon viel geweint in deinem Leben,« sagte Gudmund, aber sah +gar nicht mitleidig aus, als er diese Bemerkung machte. Helga war es, +als ob er die ganze Zeit mit einem unterdrückten Lachen einherginge. -- +»Du kannst dir gar nicht denken, wie schlecht es mir ging,« sagte sie +und sprach immer lebhafter, in dem Bestreben, sich ihm verständlich zu +machen. »Es kam eine Sehnsucht über mich, die mich von mir selbst +forttrug. Keinen Augenblick konnte ich mich glücklich fühlen. Nichts war +schön, nichts war vergnüglich, keinen Menschen konnte ich liebgewinnen. +Ihr wart mir alle ebenso fremd wie an dem Tag, als ich zum ersten Male +in die Stube trat.« + +»Aber,« verwunderte sich Gudmund, »sagtest du nicht eben, daß du bei uns +bleiben willst?« -- »Ja, gewiß sagte ich das.« -- »Du sehnst dich also +jetzt nicht mehr?« -- »Nein, es ist vorübergegangen. Ich bin geheilt. +Warte nur, du wirst schon hören!« + +Als sie dies sagte, kreuzte Gudmund quer über den Weg und ging an ihrer +Seite weiter. Die ganze Zeit lächelte er. Es schien ihm Freude zu +machen, sie reden zu hören; aber er legte dem, was sie erzählte, wohl +nicht viel Gewicht bei. So allmählich kam Helga in dieselbe Stimmung. Es +schien ihr, als ob alles leicht und hell würde. Der Weg von der Kirche +war lang und beschwerlich zu gehen; aber an diesem Tage wurde sie nicht +müde. Irgend etwas schien sie zu tragen. Sie fuhr fort zu erzählen, weil +sie einmal begonnen hatte; aber es war nicht mehr so wichtig für sie, +sich auszusprechen. Sie hätte ebenso vergnügt sein können, wenn sie +stumm neben ihm einhergegangen wäre. + +»Als ich am allerunglücklichsten war, bat ich Mutter Ingeborg eines +Samstagabends, mir zu erlauben, nach Hause zu gehen und über den Sonntag +daheim zu bleiben. Und als ich an diesem Abend die Hügel zum Moor +hinaufwanderte, glaubte ich felsenfest, daß ich nie mehr nach Närlunda +zurückkommen würde. Aber daheim waren Vater und Mutter so froh, daß ich +eine Stelle in einem so angesehenen Hause hatte, daß ich es nicht übers +Herz brachte, ihnen zu sagen, ich hielte es nicht aus, bei euch zu +bleiben. Sobald ich in den Wald hinaufkam, war auch alle Angst und Qual +rein verschwunden. Und es schien mir, als ob das Ganze nur eine +Einbildung gewesen wäre. Und dann war es so schwer mit dem Kind. Mutter +hatte sich seiner angenommen und es zu dem ihren gemacht. Es gehörte +mir nicht mehr. Und es war ja gut, daß es so war; aber es fiel mir doch +schwer, mich daran zu gewöhnen.« + +»Vielleicht fingst du nun gar an, dich zu uns hinunter zu sehnen?« warf +Gudmund hin. -- »Ach nein. Als ich am Montag Morgen erwachte und daran +dachte, daß ich jetzt gehen müßte, kam die Sehnsucht wieder über mich. +Ich lag da und weinte und ängstigte mich, denn das einzige Rechte und +Richtige war doch, daß ich im Dienste blieb; aber ich hatte das Gefühl, +als müßte ich krank werden oder den Verstand verlieren, wenn ich +zurückkehrte. Aber da fiel mir plötzlich ein, was ich einmal gehört +hatte: wenn man ein wenig Asche aus dem Herd in seinem Hause nimmt und +sie dann auf den Herd im fremden Hause streut, dann wird man von seiner +Sehnsucht befreit.« -- »Na, das ist ein Heilmittel, das leicht +anzuwenden ist,« sagte Gudmund. -- »Ja, wenn es damit nur nicht die +Bewandtnis hätte, daß man sich nachher nirgendwo anders heimisch fühlen +kann. Geht man von dem Hause weg, in das man die Asche getragen hat, +dann sehnt man sich ebensosehr dorthin zurück, als man sich früher von +dort weggesehnt hat.« -- »Kann man die Asche nicht wieder dorthin +mitnehmen, wohin man geht?« -- »Nein, das kann man nur einmal im Leben +tun. Dann gibt es keine Umkehr. Und darum ist es ja sehr gefährlich, so +etwas zu versuchen.« + +»Ich hätte nie so etwas gewagt,« sagte Gudmund, und sie hörte sehr +wohl, daß er sie nur neckte. -- »Ich hab es doch gewagt,« sagte Helga. +»Es war besser, als vor Mutter Ingeborg und dir, die mir helfen wollten, +als undankbar dazustehen. Ich nahm ein klein wenig Asche von daheim mit, +und wie ich nach Närlunda zurückkam, benützte ich einen Augenblick, wo +niemand in der Stube war, und streute sie auf die Herdplatte.« + +»Und jetzt glaubst du, daß die Asche dir geholfen hat?« -- »Warte, du +wirst schon hören, wie es kam! Ich ging gleich an meine Arbeit und +dachte den ganzen Tag nicht mehr an die Asche. Ich sehnte mich ebenso +heftig wie früher, und alles war mir ebenso zuwider wie immer. Es war an +diesem Tage sehr viel drinnen und draußen zu tun; und als ich am Abend +im Stalle fertig war und ins Haus ging, war auf dem Herd schon das Feuer +angezündet.« + +»Jetzt bin ich aber wirklich begierig, zu hören, wie es kam,« sagte +Gudmund. -- »Ja, denke nur, schon als ich über den Hof ging, kam es mir +vor, als ob im Feuerschein etwas Wohlbekanntes wäre, und als ich die Tür +öffnete, da hatte ich das Gefühl, daß ich in unsre eigene Stube kam, und +daß Vater und Mutter am Feuer saßen. Ja, dies flog nur an mir vorbei wie +ein Traum. Aber als ich wirklich hineinkam, da war ich ganz erstaunt, +wie schön und traulich es in der Stube war. Nie hatten Mutter Ingeborg +und ihr andern so freundlich ausgesehen wie an diesem Abend, als ihr da +im Feuerschein saßet. Es war ein köstliches Gefühl, hereinzukommen, und +das war sonst nie so gewesen. Ich war so erstaunt, daß ich fast laut +aufgeschrieen und in die Hände geklatscht hätte. Es schien mir, als ob +ihr wie verwandelt wäret. Ihr wart mir nicht mehr fremd, sondern ich +konnte mit euch über alles reden. Du kannst dir denken, daß ich mich +freute; aber dabei mußte ich mich doch immer wieder wundern. Ich fragte +mich, ob ich denn verhext wäre, und sieh, da fiel mir plötzlich die +Asche ein, die ich auf die Herdplatte gestreut hatte.« + +»Ja, das ist seltsam,« sagte Gudmund. Er glaubte nicht im geringsten an +Zauber und Hexerei; aber es mißfiel ihm nicht, Helga von solchen Dingen +sprechen zu hören. »Jetzt ist doch die tolle Walddirne wieder zum +Vorschein gekommen,« dachte er. »Kann man begreifen, daß jemand, der so +viel durchgemacht hat, wie sie, noch so kindisch ist?« + +»Ja, gewiß war es seltsam,« sagte Helga. »Und dasselbe hat sich den +ganzen Winter hindurch wiederholt. Sowie das Feuer im Herd brannte, war +es mir ebenso behaglich, als wenn ich daheim gewesen wäre. Aber es ist +auch etwas Seltsames mit dem Feuer. Nicht mit anderm Feuer vielleicht, +aber mit Feuer, das auf einem Herde brennt, und um das sich alle +Hausgenossen Abend für Abend versammeln. Das wird, möcht man sagen, so +vertraut mit einem. Es spielt und tanzt vor einem und prasselt, und +manchmal ist es mürrisch und schlechter Laune. Es ist, als läge es in +seiner Macht, Traulichkeit oder Unbehagen zu verbreiten. Und nun war es +mir, als wäre das Feuer von daheim zu mir gekommen, und als gäbe es +allem hier denselben traulichen Schein wie daheim.« + +»Aber wenn du nun gezwungen wärest, aus Närlunda fortzugehen?« sagte +Gudmund. -- »Dann muß ich mich all mein Lebtag danach sehnen,« erwiderte +sie, und man hörte an ihrer Stimme, daß sie dies im tiefsten Ernst +sagte. -- »Ja, ich werde gewiß nicht der sein, der dich vertreibt,« +sagte Gudmund; und obgleich er lachte, lag etwas Warmes in seinem Ton. +-- Dann begannen sie kein neues Gespräch, sondern wanderten stumm bis +zum Bauernhofe. Gudmund wendete zuweilen den Kopf und sah sie an, die +neben ihm ging. Sie schien sich von der schweren Zeit, die sie im +vorigen Jahr durchgemacht hatte, erholt zu haben. Jetzt hatte sie etwas +Frisches und Rosiges. Die Züge waren klein und rein, das Haar umgab den +Kopf wie ein Heiligenschein, und aus den Augen konnte man nicht recht +klug werden. Sie ging flink und leicht. Wenn sie sprach, kamen die Worte +rasch hervor, aber dennoch scheu. Sie hatte immer Angst, verlacht zu +werden, doch mußte sie heraussagen, was sie auf dem Herzen hatte. + +Gudmund fragte sich, ob er sich wünsche, daß Hildur so wäre; aber das +wollte er doch nicht. Diese Helga war nichts zum Heiraten. -- + +Ein paar Wochen später erfuhr Helga, daß sie im April von Närlunda fort +müsse, weil Hildur Erikstochter nicht mit ihr unter einem Dache hausen +wollte. + +Ihre Herrschaft sagte ihr das nicht gerade heraus. Aber Mutter Ingeborg +begann davon zu sprechen, sie würden an ihrer neuen Schwiegertochter so +viel Hilfe haben, daß sie sich nicht so viele Dienstleute zu halten +brauchten. Ein andermal sagte sie wieder, sie habe von einer guten +Stelle gehört, wo es Helga viel besser gehen würde als bei ihnen. + +Helga brauchte nicht mehr zu hören: sie verstand, daß sie fort müsse, +und erklärte sogleich, daß sie gehen wolle; aber eine andre Stelle wolle +sie nicht annehmen, sondern sie kehre nach Hause zurück. + +Man merkte wohl, daß sie auf Närlunda Helga nicht aus freiem Willen +kündigten. + +Am Abschiedstage war so viel Essen aufgetischt, daß es ein förmlicher +Schmaus war, und Mutter Ingeborg steckte ihr eine solche Menge Kleider +und Schuhe zu, daß sie, die nur mit einem Bündel unter dem Arm gekommen +war, ihre Besitztümer jetzt kaum in einer Kiste unterbringen konnte. + +»Ich bekomme nie wieder eine so gute Magd wie dich in mein Haus,« sagte +Mutter Ingeborg. »Und denke nun nicht zu schlecht von mir, weil ich dich +ziehen lasse! Du weißt wohl, daß es nicht mit meinem Willen geschieht. +Ich werde dich nicht vergessen. Solange ich noch Macht habe, wirst du +keine Not leiden müssen.« + +Sie machte mit Helga ab, daß sie ihr Laken und Handtücher weben solle. +Und sie gab ihr Arbeit für mindestens ein halbes Jahr. + +Am Abschiedstage stand Gudmund im Schuppen und hackte Holz. Er kam +nicht herein, ihr Lebewohl zu sagen, obgleich das Pferd schon vor der +Tür stand. Er schien so vertieft zu sein in seine Arbeit, daß er gar +nicht merkte, was vorging. Sie mußte hinausgehen, um ihm Lebewohl zu +sagen. + +Er legte die Axt hin, gab Helga die Hand, sagte etwas hastig: »Ich danke +dir für all die Zeit!« und begann dann wieder zu arbeiten. Helga hatte +sagen wollen, sie sähe ein, daß es unmöglich für ihn sei, sie zu +behalten, und daß alles ihre eigne Schuld sei. Sie selbst hätte es so +für sich eingerichtet. Aber Gudmund schlug zu, daß die Späne rings um +ihn flogen, und da konnte sie sich nicht entschließen, etwas zu sagen. + +Aber das Merkwürdigste an der ganzen Sache war, daß der Bauer selbst, +der alte Erland Erlandsson, Helga zum Moorhof hinauffuhr. + +Gudmunds Vater war ein kleines, trocknes Männchen mit kahlem Scheitel +und schönen, klugen Augen. Er war so verschlossen und schweigsam, daß er +zuweilen den ganzen Tag kein Wort sprach. Solange alles ging, wie es +gehen sollte, bemerkte man ihn gar nicht. Aber wenn etwas nicht klappte, +dann kam er immer und sagte und tat, was gesagt und getan werden mußte, +um alles wieder in Ordnung zu bringen. Er war sehr geschickt im +Rechnungführen und genoß unter den Männern des Kirchspiels großes +Vertrauen. Er bekam auch alle möglichen kommunalen Aufträge und war +angesehener als so mancher, der einen schönen Hof und großen Reichtum +besaß. + +Erland Erlandsson also fuhr Helga auf dem schlechten Wege heim und ließ +nicht zu, daß sie bei irgendeiner steilen Stelle ausstieg. Als sie auf +dem Moorhof angelangt waren, saß er lange in der Hütte und sprach mit +Helgas Eltern und erzählte ihnen, wie zufrieden er und Mutter Ingeborg +mit ihr gewesen waren. Nur weil sie jetzt nicht mehr so viele +Dienstleute brauchten, müßten sie sie nach Hause schicken. Sie hätte +gehen müssen, weil sie die Jüngste wäre. Sie hätten es unrecht gefunden, +jemand fortzuschicken, der schon lange bei ihnen diente. + +Erland Erlandssons Rede machte einen guten Eindruck, und die Eltern +bereiteten Helga einen freundlichen Empfang. Als sie dazu noch hörten, +sie hätte so große Bestellungen erhalten, daß sie sich mit ihrer Weberei +das Brot verdienen könne, waren sie es recht zufrieden, daß sie nun +daheim blieb. + + +4 + +Gudmund kam es vor, als ob er Hildur Erikstochter bis zu dem Tage +geliebt hätte, an dem sie ihm das Versprechen abgezwungen, daß Helga aus +Närlunda fort sollte. Wenigstens hatte es bis dahin niemand gegeben, den +er mehr bewundert und geachtet hätte. Kein junges Mädchen schien ihm +Hildur an die Seite gestellt werden zu können, und er war sehr stolz +darauf gewesen, daß er sie gewonnen hatte. Es war ihm auch ein lieber +Gedanke, sich die Zukunft mit ihr zusammen vorzustellen. Sie würden +reich und angesehen sein, und er hatte das sichere Gefühl, daß es sich +in dem Heim, wo Hildur das Regiment führte, gut leben lassen müßte. Er +dachte auch gern daran, daß er viel Geld haben würde, wenn er mit ihr +verheiratet wäre. Er könnte seine Wirtschaft verbessern, könnte alle +verfallnen Hütten wieder aufbauen und den Hof erweitern, so daß er ein +richtiger Großbauer würde. + +An demselben Sonntag, da er mit Helga von der Kirche heimging, war er +abends nach Älvåkra gefahren. Da hatte Hildur angefangen von Helga zu +sprechen und hatte gesagt, daß sie nicht nach Närlunda kommen wolle, ehe +die Dirne von dort fort sei. Gudmund versuchte zuerst, das Ganze als +einen Scherz fortzulachen. Aber es zeigte sich bald, daß es Hildur ernst +war. Gudmund führte Helgas Sache sehr beredt; er sagte, sie sei noch so +jung gewesen, als sie in den Dienst geschickt wurde, da sei es nicht zu +verwundern, daß sie ins Unglück gekommen wäre, wo sie an einen so +schlechten Menschen geraten war wie Per Martensson. Aber seit seine +Mutter sich ihrer angenommen, hätte sie sich immer gut betragen. »Es +kann nicht Recht sein, sie wieder hinauszustoßen,« sagte er. »Da könnte +sie ja wieder ins Elend kommen.« + +Aber Hildur hatte nicht nachgeben wollen. »Wenn das Mädchen auf Närlunda +bleibt, so komme ich nie hin,« sagte sie. »Ich kann eine solche Person +in meinem Hause nicht dulden.« -- »Du weißt nicht, was du tust,« sagte +Gudmund. »Niemand hat Mutter noch so gut gepflegt wie Helga. Wir sind +alle froh, daß sie zu uns gekommen ist; früher war Mutter oft +verdrießlich und schlechter Laune.« -- »Ich zwinge dich ja nicht, sie +fortzuschicken,« sagte Hildur, aber man merkte: sie war, wenn Gudmund +ihr in dieser Sache nicht den Willen täte, entschlossen, die Heirat +aufzugeben. -- »Nein, es soll so sein, wie du willst,« sagte Gudmund +schließlich. Er fand, daß er Helgas wegen doch nicht seine ganze Zukunft +aufs Spiel setzen könnte. Aber er sah sehr blaß aus, als er so nachgab, +und war den ganzen Abend schweigsam und verstimmt. + +Diese Sache nun ließ Gudmund befürchten, daß Hildur vielleicht nicht +ganz so sei, wie er sie sich vorgestellt hatte. Es gefiel ihm nicht, daß +sie ihren Willen über den seinen gesetzt hatte; aber das Schlimmste war: +er konnte sich nicht verhehlen, daß sie im Unrecht war. Er sagte sich, +daß er ihr gern nachgegeben hätte, wenn sie sich großherzig gezeigt +haben würde; aber nun schien es ihm, daß sie nur kleinlich und herzlos +gewesen wäre. + +Jedesmal von da an, wenn Gudmund Hildur traf, saß er und suchte und +spähte, ob das, was er in ihr zu finden geglaubt hatte, sich wieder +zeigen würde. Nun sein Mißtrauen einmal geweckt war, dauerte es nicht +lange, und er fand manches, was nicht so war, wie er es sich gewünscht +hätte. »Sie ist wohl so eine, die zu allererst an sich selbst denkt,« +murmelte er jedesmal, wenn er sich von ihr trennte, und er fragte sich, +wie lange wohl ihre Liebe zu ihm standhalten würde, wenn man sie auf die +Probe stellte. Er suchte sich damit zu trösten, daß alle Menschen +zuerst an sich selbst dächten; aber sogleich fiel ihm Helga ein. Er sah +sie vor sich, wie sie im Thingsaal gestanden und die Bibel an sich +gerissen hatte, er hörte, wie sie rief: »Ich will die Klage +zurückziehen. Ich hab ihn noch lieb. Ich will nicht, daß er falsch +schwört.« So hätte er sich Hildur gewünscht. Helga war ihm ein Maß +geworden, nach dem er die Menschen beurteilte, -- wahrlich, es gab nicht +viele, die ein so liebevolles Herz hatten. + +Von Tag zu Tag gefiel ihm Hildur weniger; aber er kam nie auf den +Gedanken, daß er von der Heirat abstehen könnte. Er suchte sich +einzureden, daß sein Mißmut nichts andres sei als leere Grillen. Vor +einigen Wochen erst hatte er sie ja für die Beste gehalten, die es gäbe. + +Wäre er noch am Anfang seiner Werbung gewesen, dann hätte er sich +vielleicht zurückgezogen. Aber jetzt waren sie schon aufgeboten, der +Hochzeitstag war bestimmt, und bei ihm daheim hatten sie bereits große +Ausbesserungen in Angriff genommen. Er wollte auch den Reichtum und die +gute Stellung, die ihn erwarteten, nicht preisgeben. Und welchen Grund +hätte er für einen Bruch anzuführen vermocht? Was er gegen Hildur +einzuwenden hatte, war so unbedeutend, daß es sich auf seinen Lippen in +Luft verwandeln würde, wenn er versuchen wollte, es auszusprechen. + +Aber das Herz war ihm oft schwer, und jedesmal, wenn er im Kirchdorf +oder in der Stadt etwas zu besorgen hatte, ließ er sich Bier oder Wein +geben, um sich eine gute Laune anzutrinken. Wenn er ein paar Flaschen +geleert hatte, war er wieder stolz auf die Heirat und zufrieden mit +Hildur. Dann begriff er gar nicht, was ihn eigentlich quäle. + +Gudmund dachte oft an Helga und empfand Sehnsucht, sie zu treffen. Aber +er glaubte, daß Helga ihn für einen schlechten Kerl halte, weil er dem +Versprechen, das er ihr freiwillig gegeben hatte, untreu geworden war +und sie hatte ziehen lassen. Er konnte es ihr weder erklären, noch sich +rechtfertigen, und darum vermied er es, mit ihr zusammenzutreffen. + +Doch eines Morgens, als Gudmund gerade über die Straße ging, begegnete +er Helga, die im Tal gewesen war, Milch zu kaufen. Gudmund kehrte um und +schloß sich ihr an. Sie schien über seine Gesellschaft nicht gerade +erfreut zu sein, sondern schritt rasch aus, als wolle sie von ihm +fortkommen, und sagte kein Wort. Auch Gudmund schwieg, weil er nicht +recht wußte, wie er ein Gespräch einleiten solle. + +Da kam vom andern Ende der Straße ein Gefährt heran. Gudmund ging in +Gedanken versunken und bemerkte es nicht, aber Helga hatte es gesehen +und wendete sich nun plötzlich zu ihm. »Es hat keinen Zweck, daß du mit +mir weitergehst, Gudmund; denn wenn ich recht sehe, kommen da Amtmanns +aus Älvåkra gefahren.« Gudmund sah rasch auf, erkannte Pferd und Wagen +und machte eine Bewegung, als ob er umkehren wolle. Im nächsten +Augenblick jedoch richtete er sich auf und ging ruhig an Helgas Seite +weiter wie zuvor; und sie trennten sich, ohne daß er ihr ein Wort gesagt +hatte. Aber an diesem ganzen Tage war er zufriedener mit sich selbst, +als er seit lange gewesen war. + + +5 + +Es war bestimmt, daß Gudmund und Hildurs Hochzeit am zweiten +Pfingstfeiertag auf Älvåkra gefeiert werden sollte. Am Freitag vor +Pfingsten fuhr Gudmund in die Stadt, einige Einkäufe für einen +Begrüßungsschmaus zu machen, der am Tage nach der Hochzeit auf Närlunda +stattfinden sollte. In der Stadt traf er mit einigen andern jungen +Burschen aus seinem Kirchspiel zusammen. Sie wußten, daß dies Gudmunds +letzter Stadtbesuch vor der Hochzeit war, und nahmen dies zum Anlaß, ein +großes Trinkgelage zu veranstalten. Alle legten es darauf an, daß +Gudmund trinke, und es gelang ihnen schließlich, ihn ganz bewußtlos zu +machen. + +Am Samstag morgen kam er so spät nach Hause, daß sein Vater und der +Knecht schon zu ihrer Arbeit gegangen waren, und er schlief bis tief in +den Nachmittag. Als er aufstand und sich anziehen wollte, sah er, daß +sein Rock an mehreren Stellen zerrissen war. »Das sieht ja aus, als wenn +ich heute Nacht eine Schlägerei gehabt hätte,« sagte er und versuchte, +sich zu besinnen, was geschehen wäre, erinnerte sich jedoch nur, daß er +gegen elf Uhr in Gesellschaft der andern aus dem Wirtshaus gegangen war, +aber wohin sie sich dann begeben hätten, das konnte er sich nicht +zurückrufen. Es war, als versuchte er, in eine große Dunkelheit +hineinzustarren. Er wußte nicht, ob sie sich nur auf den Straßen +herumgetrieben hätten, oder ob sie noch irgendwo eingekehrt wären. Er +konnte sich auch nicht erinnern, ob er selbst oder irgendein andrer sein +Pferd eingespannt hätte, und er hatte gar keine Erinnerung an die +Heimfahrt. + +Als er in die Wohnstube trat, war sie der Feiertage wegen gescheuert und +gefegt. Alle Arbeit war beendigt, und das Hausgesinde trank Kaffee. +Niemand sagte etwas über Gudmunds Ausbleiben. Es schien ein +stillschweigendes Übereinkommen zu sein, daß er in diesen letzten Wochen +die Freiheit haben solle, so zu leben, wie es ihm behagte. + +Gudmund setzte sich an den Tisch und bekam seinen Kaffee wie die andern. +Während er so dasaß und ihn aus der Schale in die Untertasse und dann +wieder in die Schale goß, um ihn abkühlen zu lassen, wurde Mutter +Ingeborg mit dem ihren fertig; sie nahm die Zeitung zur Hand, die eben +gekommen war, und begann zu lesen. Sie las Spalte für Spalte vor, und +Gudmund, der Vater und die andern saßen da und hörten zu. + +Unter anderm las sie einen Bericht vor über eine Schlägerei, die in der +vorhergehenden Nacht auf dem großen Marktplatz zwischen einer Schar +betrunkner Bauern und einigen Arbeitern stattgefunden hatte. Sobald die +Polizei sich zeigte, waren die Streitenden entflohen; nur einer von +ihnen hatte leblos auf dem Marktplatz gelegen. Man trug den Gefallenen +auf die Polizeistation, und da man keine äußere Verletzung an ihm +entdecken konnte, begann man Belebungsversuche zu machen. Alle +Bemühungen waren jedoch vergebens, und schließlich entdeckte man, daß +eine Messerklinge in seinem Kopfe stak. Es war die Klinge eines +ungewöhnlich großen Taschenmessers, die durch die Hirnschale ins Gehirn +eingedrungen und dicht am Kopfe abgebrochen war. Der Mörder war mit dem +Messerschaft entflohen, aber da die Polizei die Leute, die an der +Schlägerei beteiligt waren, genau kannte, bestand die Hoffnung, man +würde ihn bald finden. + +Während Mutter Ingeborg dies las, stellte Gudmund die Kaffeetasse hin, +fuhr mit der Hand in die Tasche, zog sein Messer hervor und warf einen +gleichgültigen Blick darauf. Aber mit einem Mal zuckte er zusammen, +drehte das Messer um und steckte es dann so hastig in die Tasche, als +hätte er sich daran verbrannt. Er rührte den Kaffee nicht mehr an, +sondern blieb lange ganz still mit einem nachdenklichen Ausdruck sitzen. +Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. Es war deutlich zu sehen, daß er +mit aller Macht versuchte, sich über etwas klar zu werden. + +Endlich stand er auf, streckte sich, gähnte und ging langsam auf die Tür +zu. »Ich muß mir ein bißchen Bewegung machen. Ich bin den ganzen Tag +nicht aus dem Hause gewesen,« sagte er und verließ das Zimmer. + +Ungefähr gleichzeitig erhob sich auch Erland Erlandsson. Er hatte seine +Pfeife ausgeraucht und ging nun in die Kammer, sich neuen Tabak zu +holen. Als er da drinnen stand und die Pfeife stopfte, sah er Gudmund +vorübergehen. Die Fenster der Kammer gingen nicht auf den Hof, wie die +der Wohnstube, sondern auf ein kleines Gärtchen, in dem ein paar hohe +Apfelbäume standen. Unterhalb des Gärtchens lag ein Sumpfland wo um die +Frühlingszeit große Wasserpfützen waren, die aber im Sommer fast ganz +austrockneten. Dahin pflegte selten jemand zu gehen. Erland Erlandsson +fragte sich, was Gudmund da wohl zu suchen habe, und folgte ihm mit den +Blicken. Da sah er, wie der Sohn die Hand in die Tasche steckte, einen +Gegenstand herauszog und ihn in den Morast warf. Dann ging er durch das +kleine Gärtchen, sprang über einen Zaun und entfernte sich in der +Richtung nach der Straße. + +Sowie der Sohn außer Sehweite war, verließ Erland ebenfalls das Haus und +begab sich an den Morast. Hier watete er in den Schlamm hinaus, beugte +sich zu Boden und hob etwas auf, woran er mit dem Fuß gestoßen war. Es +war ein großes Taschenmesser, dessen größte Klinge abgebrochen war. Er +drehte es nach allen Seiten und besah es genau, während er noch immer im +Wasser stand. Dann steckte er es in die Tasche, zog es aber noch ein +paarmal heraus und betrachtete es prüfend, ehe er wieder ins Haus +zurückging. + +Gudmund kam erst heim, als sich alle schon niedergelegt hatten. Er ging +sofort zu Bett, ohne das Abendbrot zu berühren, das in der Wohnstube +aufgetischt stand. + +Erland Erlandsson und sein Weib schliefen in der Kammer. Um das +Morgengrauen glaubte Erland Schritte vor dem Fenster zu hören. Er stand +auf, zog die Gardinen zurück und sah, daß Gudmund zum Morast +hinunterging. Dort legte er Strümpfe und Schuhe ab, ging ins Wasser +hinaus und wanderte hin und her, wie einer, der etwas sucht. Das tat er +lange, dann ging er wieder an das Ufer, als wollte er seiner Wege gehen, +kehrte aber bald um und suchte weiter. Eine ganze Stunde stand der Vater +da und sah ihm zu, dann begab sich Gudmund ins Haus und legte sich +wieder schlafen. + +Am Pfingsttag sollte Gudmund zur Kirche fahren. Als er das Pferd +einzuspannen begann, kam der Vater über den Hof. »Du hast vergessen, das +Geschirr zu putzen,« sagte er, als er vorbeiging. Denn Geschirr und +Wagen waren schmutzig und ungescheuert. -- »Ich hab an andre Dinge zu +denken gehabt,« sagte Gudmund mürrisch und fuhr davon, ohne etwas +dergleichen zu tun. + +Nach dem Gottesdienst begleitete Gudmund seine Braut nach Älvåkra und +blieb den ganzen Tag dort. Es kam eine Menge jungen Volkes zusammen, um +Hildurs letzten Jungfernabend zu feiern, und man tanzte bis tief in die +Nacht hinein. Es gab auch viel zu trinken, aber Gudmund rührte nichts +an. Den ganzen Abend sprach er kaum ein Wort zu irgend jemand, aber er +tanzte wild und lachte zuweilen laut und schrill auf, ohne daß jemand +wußte, worüber. + +Gudmund kam nicht vor zwei Uhr nach Hause, und sobald er das Pferd in +den Stall geführt hatte, ging er zu dem Sumpf hinter dem Hause. Er +streifte die Schuhe ab, krempelte die Hosen hinauf und watete ins +Wasser. Es war eine helle Sommernacht, und der Vater stand in dem +Kämmerchen hinter der Gardine und sah dem Sohne zu. Er sah, wie er tief +über das Wasser gebeugt einherging und suchte wie in der Nacht zuvor. +Von Zeit zu Zeit ging er wieder an das Ufer, so als verzweifelte er, +etwas zu finden, aber nach einer Weile watete er wieder in das Wasser +hinaus. Einmal ging er in den Stall und holte einen Eimer und begann +Wasser aus den kleinen Pfützen zu schöpfen, als wollte er sie +trockenlegen, aber fand es sicherlich zwecklos und stellte den Eimer +wieder weg. Er versuchte es auch mit einem Sieb. Er durchsuchte den +ganzen Sumpf damit, aber schien nichts andres heraufzubekommen als +Schlamm. Erst um die Morgenstunde kam er herein, als die Leute im Hause +sich schon zu rühren begannen. Da war er so müde und übernächtig, daß er +im Gehen schwankte, und warf sich aufs Bett, ohne die Kleider abzulegen. + +Als die Uhr acht schlug, kam der Vater und weckte ihn. Gudmund lag auf +dem Bett, die Kleider voll Schlamm und Lehm; aber der Vater fragte +nicht, was er angestellt habe, sondern sagte nur, es sei jetzt Zeit +aufzustehen, und schloß die Tür. Nach einer Weile kam Gudmund in die +Wohnstube herunter, mit den feinen Hochzeitskleidern angetan. Er war +bleich, und die Augen brannten in unruhigem Glanz, aber niemand hatte +ihn je so schön gesehen. Die Züge waren wie von einem inneren Schein +verklärt. Man glaubte einen Menschen zu sehen, der nicht mehr aus +Fleisch und Blut bestünde, sondern nur noch aus Wille und Seele. + +Unten in der Wohnstube sah es festlich aus. Die Mutter hatte ihr +schwarzes Kleid angelegt und einen schönen Seidenschal über die +Schultern gehängt, obgleich sie nicht zur Hochzeit fahren wollte. Auch +alle Dienstleute waren in ihren besten Kleidern. Über dem Herde stak +frisches Birkenlaub, auf dem Tische lag eine schöne Decke, und viele +Schüsseln standen darauf. + +Als sie gegessen hatten, las Mutter Ingeborg einen Psalm und ein Stück +aus der Bibel vor. Dann wendete sie sich an Gudmund, dankte ihm, weil er +ihr ein guter Sohn gewesen war, wünschte ihm Glück für sein zukünftiges +Leben und gab ihm ihren Segen. Mutter Ingeborg wußte ihre Worte gut zu +setzen, und Gudmund war sehr gerührt. Immer wieder traten ihm die Tränen +in die Augen, aber es gelang ihm doch, das Weinen zu unterdrücken. Auch +der Vater sprach ein paar Worte. »Es wird schwer für deine Eltern sein, +dich zu verlieren,« sagte er, und Gudmund war wieder nahe daran, in +Schluchzen auszubrechen. Auch alle Dienstleute traten vor, schüttelten +ihm die Hand und dankten ihm für die Zeit, die nun zu Ende war. +Beständig hingen Gudmund die Tränen in den Wimpern. Er räusperte sich +und machte ein paar Versuche, zu sprechen, doch brachte er kaum ein Wort +über die Lippen. + +Der Vater sollte ihn in das Haus der Braut begleiten und der Hochzeit +beiwohnen. Er ging in den Hof, spannte das Pferd ein und kam dann +wieder, um zu sagen, daß es Zeit sei, sich auf den Weg zu machen. Als +Gudmund sich in den Wagen setzte, merkte er, daß alles so spiegelblank +war, wie er es selbst immer gern gehabt hatte. Zugleich sah er auch, wie +fein der Hof herausgeputzt war; der Zufahrtsweg war frisch beschottert; +alte Holzhaufen und andres Gerümpel, das Zeit seines Lebens dort +gelegen, waren fortgeschafft. Zu beiden Seiten der Eingangstür standen +ein paar abgehauene Birken als Triumphpforte, an der Wetterfahne hing +ein großer Blumenkranz, und aus allen Fensterluken guckten lichtgrüne +Birkenreiser. Wieder war Gudmund nahe daran, in Tränen auszubrechen. Er +drückte dem Vater, der eben das Pferd in Gang setzen wollte, heftig die +Hand. Es war, als wollte er ihn von der Fahrt abhalten. »Willst du +etwas?« sagte der Vater. -- »Ach nein,« sagte Gudmund »Es ist wohl am +besten, wenn wir uns auf den Weg machen.« + +Bevor sie weit vom Hofe waren, mußte Gudmund noch einmal Abschied +nehmen. Es war Helga vom Moorhof, die an der Stelle stand und wartete, +wo der Waldpfad von ihrem Heim her auf den Weg mündete. Der Vater, der +kutschierte, hielt an, sowie er Helga erblickte. »Ich hab auf euch +gewartet, weil ich Gudmund Glück wünschen möchte,« sagte Helga. Gudmund +beugte sich aus dem Wagen und schüttelte Helga die Hand. Er glaubte zu +sehen, daß sie abgemagert war, ihre Augen waren rot gerändert. Sie lag +wohl nachts und weinte und sehnte sich nach Närlunda. Aber jetzt +trachtete sie, fröhlich auszusehen, und lächelte ihm zu. Er war wieder +sehr gerührt, konnte aber nichts sagen. Der Vater, der ja in dem Rufe +stand, daß er nicht sprach, ehe die Not am höchsten war, fiel ein: »Ich +glaube, über diesen Glückwunsch freut sich Gudmund mehr als über irgend +einen andern.« -- »Ja, das ist sicher,« sagte Gudmund. Sie schüttelten +sich noch einmal die Hand, und dann fuhr der Vater weiter. Gudmund +beugte sich aus dem Wagen und sah Helga nach. Als sie von ein paar +Bäumen verdeckt wurde, riß er plötzlich den Fußsack fort und erhob sich, +als wolle er aus dem Wagen springen. -- »Willst du Helga noch etwas +sagen?« fragte der Vater. -- »Nein, ach nein,« antwortete Gudmund und +setzte sich wieder zurecht. + +Sie fuhren noch eine kleine Strecke. Der Vater fuhr sehr gemächlich. Es +war, als mache es ihm Freude, so mit seinem Sohne neben sich zu fahren. +Er machte keinerlei Anstalten, rasch ans Ziel zu kommen. + +Plötzlich ließ Gudmund den Kopf auf die Schulter des Vaters sinken und +brach in heftiges Schluchzen aus. »Was ist dir?« fragte Erland und zog +die Zügel so plötzlich an, daß das Pferd mit einem Ruck stehen blieb. +-- »Ja, alle sind so gut gegen mich, und ich verdien es nicht.« -- »Du +hast doch nichts Böses getan?« -- »Doch, Vater, das habe ich.« -- »Das +wollen wir doch nicht glauben.« -- »Ja, ich hab einen Menschen +erschlagen.« + +Der Vater holte tief Atem. Es klang beinahe wie ein Seufzer der +Erleichterung; Gudmund hob erstaunt den Kopf und sah ihn an. Der Vater +ließ das Pferd wieder in Trab fallen, dann sagte er still: »Ich bin +froh, daß du es selbst gesagt hast.« -- »Wußtet Ihr es denn schon, +Vater?« -- »Ich sah schon Samstag abend, daß irgend etwas nicht in +Ordnung war. Und dann fand ich dein Messer im Morast.« -- »Ach so, Ihr +habt das Messer gefunden!« -- »Ich hab es gefunden, und ich sah, daß die +eine Klinge abgebrochen war.« + +»Ja, Vater, ich weiß, daß die Klinge abgebrochen ist. Aber ich kann mir +doch nicht denken, daß ich es getan haben soll.« -- »Es ist wohl im +Rausch geschehen.« -- »Ich weiß nichts, ich kann mich an nichts erinnern. +Ich sehe es an meinen Kleidern, daß ich bei einer Rauferei war, und ich +weiß, daß die Messerklinge fort ist.« -- »Ich verstehe, daß du es +verschweigen wolltest,« sagte der Vater. -- »Ich dachte, die andern +waren gewiß ebenso sinnlos betrunken wie ich und können sich an nichts +erinnern. Es liegt vielleicht sonst kein Beweis gegen mich vor als das +Messer, und darum hab ich es fortgeworfen.« -- »Ich kann mir denken, +daß du dir die Sache so zurechtgelegt hast.« -- »Ihr versteht, Vater: +ich weiß nicht, wer der Tote ist; ich hab ihn vielleicht nie im Leben +gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich es getan habe. Und da +sagte ich mir, ich brauchte doch nicht für etwas zu leiden, was ich +nicht mit Willen getan habe. Aber bald sah ich ein, daß es eine Tollheit +war, das Messer in den Sumpf zu werfen. Er trocknet doch im Sommer aus, +und da kann es ein jeder finden. Darum wollte ich es gestern Nacht und +heute Nacht suchen.« -- »Hast du gar nicht daran gedacht, zu gestehen?« +-- »Nein, gestern dachte ich nur, wie ich es geheimhalten könnte, und ich +versuchte zu tanzen und vergnügt zu sein, damit mir niemand etwas +anmerkte.« -- »War es deine Absicht, vor den Traualtar zu treten, ohne +zu gestehen? Das ist eine große Verantwortung. Sahst du nicht ein, daß +du Hildur und ihre Familie mit in dein Elend ziehst, wenn man dich +entdeckt?« -- »Ich dachte, daß ich sie am besten verschonte, wenn ich +nichts sagte.« + +Sie fuhren im Galopp den Weg entlang. Der Vater schien es jetzt sehr +eilig zu haben, ans Ziel zu kommen. Die ganze Zeit sprach er zu dem +Sohne. Er hatte ihm vorher in seinem ganzen Leben nicht so viele Worte +gesagt. + +»Ich wüßte gerne, wodurch du andrer Meinung geworden bist,« sagte er. -- +»Weil Helga kam und mir Glück wünschte. Da brach etwas Hartes in mir. +Ich war so gerührt über sie. Ich war auch heute morgen über Mutter und +über Euch gerührt, und ich wollte sprechen und sagen, daß ich eure Liebe +nicht verdiene, aber das Harte war damals noch in mir und leistete +Widerstand. Aber als Helga kam, da war es aus und geschehen. Ich meinte, +sie müßte mir eigentlich böse sein, weil ich doch schuld daran bin, daß +sie von daheim fort mußte.« + +»Nun, denke ich, wirst du mit mir einig sein, daß wir dies gleich den +Amtmann wissen lassen müssen,« sagte der Vater. -- »Ja,« antwortete +Gudmund mit leiser Stimme. »Ja gewiß,« fügte er gleich darauf lauter und +fester hinzu, »ich will Hildur nicht in mein Unglück hineinziehen. Sie +würde es mir nie verzeihen.« -- »Die Älvåkraleute halten ihre Ehre hoch, +sie wie andre,« sagte der Vater, »und das magst du wissen, Gudmund: als +ich heute morgen von daheim fortfuhr, da sagte ich mir, ich muß es dem +Amtmann erzählen, wie es um dich steht, wenn du dich nicht +entschließest, es selbst zu tun. Wie hätte ich schweigend zusehen und +Hildur einen heiraten lassen können, dem jede Stunde eine Anklage wegen +Mordes droht.« + +Er klatschte mit der Peitsche und fuhr in immer rasenderem Galopp. »Das +wird das Schwerste für dich sein,« sagte er. »Wir müssen es so +einrichten, daß es bald überstanden ist. Ich denke, der Amtmann und +seine Familie werden es recht von dir finden, daß du dich selbst +angibst, und sie werden freundlich gegen dich sein.« + +Gudmund antwortete nichts. Er sah immer gequälter aus, je mehr sie sich +Älvåkra näherten. Der Vater sprach weiter, um ihm Mut zu machen. + +»Ich habe einmal eine ähnliche Geschichte gehört,« sagte er. »Ein +Bräutigam hatte einen Kameraden auf der Jagd erschossen. Es war nicht +seine Absicht gewesen, und man hatte nicht entdeckt, daß er es war, der +den tödlichen Schuß abgefeuert hatte. Aber ein paar Tage später sollte +er heiraten; und als er in das Hochzeitshaus kam, da ging er zur Braut +und sagte: >Aus der Hochzeit kann nichts werden. Ich will dich nicht in +das Elend hineinziehen, das mich erwartet.< Aber sie stand schon fertig +geschmückt da, in Krone und Schleier, und sie nahm ihn bei der Hand und +führte ihn in den Saal, wo die Gäste versammelt waren und alles für die +Trauung bereit war. Und sie erzählte allen mit lauter Stimme, was ihr +der Bräutigam eben gesagt hatte. >Dies erzähle ich, damit alle wissen, +daß du nicht falsch gegen mich gewesen bist<, sagte sie dann und wendete +sich an den Bräutigam. >Aber jetzt will ich mich gleich mit dir trauen +lassen. Denn du bleibst der, der du bist, wenn du auch ins Unglück +gekommen bist; und was dich auch erwartet, das will ich gemeinsam mit +dir tragen.<« + +Als der Vater mit seiner Erzählung zu Ende war, waren sie gerade bei der +langen Gasse angelangt, die nach Älvåkra führte. Gudmund sagte mit einem +wehmütigen Lächeln zu ihm: »So wird es uns nicht ergehen.« -- »Wer +weiß,« antwortete der Vater und richtete sich im Wagen auf. Er sah den +Sohn an und mußte wieder staunen, wie schön der an diesem Tage war. »Es +sollte mich nicht wundern, wenn ihm etwas Großes und Unerwartetes +widerführe,« dachte er. + +Es sollte eine Kirchenhochzeit sein, und eine Menge Leute hatten sich +schon bei den Brauteltern versammelt, um im Hochzeitszuge mitzufahren. +Auch viele Verwandte des Amtmanns waren von weit und breit gekommen. Sie +saßen in ihrem besten Staat auf dem Flur, bereit zur Fahrt in die +Kirche. Wagen und Kutschen standen im Hof, und man hörte, wie die Pferde +im Stalle stampften, während sie gestriegelt wurden. Der Dorfspielmann +saß allein auf der Treppe der Scheuer und stimmte die Fiedel. An einem +Fenster im oberen Stockwerk stand die Braut fertig angekleidet und hielt +Ausschau, um den Bräutigam zu sehen, bevor der sie erspäht hätte. + +Erland und Gudmund stiegen aus dem Wagen und sagten sogleich, daß sie +mit Hildur und ihren Eltern allein sprechen müßten. Bald standen sie +alle in einem kleinen Zimmer, wo der Amtmann sein Schreibpult hatte. + +»Ich denke, Herr Amtmann, Sie haben in den Zeitungen von jener +Schlägerei in der Stadt gelesen, bei der ein Mensch ermordet wurde, in +der Nacht vom Freitag auf Samstag,« sagte Gudmund so rasch, als leiere +er eine Lektion herunter. -- »Ja freilich habe ich davon gelesen,« sagte +der Amtmann. -- »Ich war nämlich in jener Nacht in der Stadt,« fuhr +Gudmund fort. + +Jetzt kam keine Antwort. -- Es wurde totenstill. Gudmund war es, als ob +alle ihn mit einem solchen Entsetzen anstarrten, daß er nicht +weitersprechen konnte. Aber der Vater kam ihm zu Hilfe. -- »Gudmund war +von ein paar Freunden eingeladen. -- Er hat in jener Nacht wohl zu viel +getrunken, denn als er heimkam, wußte er gar nicht, was mit ihm +geschehen war. Aber man merkte es ihm an, daß er bei einer Rauferei +gewesen war, denn seine Kleider waren zerrissen.« Gudmund sah, wie das +Entsetzen, das die andern empfanden, mit jedem Worte zunahm, aber er +selbst wurde ruhiger. Ein Gefühl des Trotzes erwachte in ihm, und er +ergriff wieder das Wort: »Als nun am Samstag abend die Zeitung kam und +ich von der Schlägerei las und von der Messerklinge, die in der +Hirnschale des Mannes stecken geblieben war, da zog ich mein Messer +hervor und sah, daß eine Klinge fehlte.« -- »Das sind schlimme +Neuigkeiten, die du da bringst, Gudmund,« sagte der Amtmann. »Es wäre +richtiger gewesen, wenn du uns das gestern gesagt hättest.« -- Gudmund +schwieg, und da kam ihm der Vater wieder zu Hilfe. -- »Es war nicht so +leicht für Gudmund. Die Versuchung, das Ganze zu verschweigen, war sehr +groß. Er verliert sehr viel durch dieses Geständnis.« -- »Ja, wir müssen +noch froh sein, daß er jetzt gesprochen hat, so daß wir nicht in das +Elend hineingezogen werden,« sagte der Amtmann bitter. + +Gudmund hielt seine Augen die ganze Zeit auf Hildur gerichtet. Sie trug +Krone und Schleier; und nun sah er, wie sie die Hand hob und eine der +großen Nadeln herauszog, die die Krone festhielten. Sie schien dies ganz +unbewußt getan zu haben. Als sie merkte, daß Gudmunds Blicke auf ihr +ruhten, steckte sie die Nadel wieder hinein. + +»Es ist ja noch gar nicht bewiesen, daß Gudmund der Schuldige ist,« +sagte der Vater, »aber ich begreife: Ihr wollt, daß die Hochzeit +aufgeschoben wird, bis wir alles aufgeklärt haben.« -- »Es hat wohl +wenig Zweck, von Aufschub zu sprechen,« sagte der Amtmann. »Ich denke, +Gudmund ist seiner Sache recht sicher, und wir könnten uns wohl darüber +einigen, daß es zwischen ihm und Hildur ein für allemal aus ist.« + +Gudmund antwortete nicht gleich. Er ging zu seiner Braut hinüber und +streckte die Hand aus. Sie saß ganz regungslos da und schien ihn nicht +zu sehen. »Willst du mir nicht Lebewohl sagen, Hildur?« Jetzt sah sie +auf, und ihre großen Augen blitzten ihn kalt an. -- »Hast du mit dieser +Hand das Messer geführt?« fragte sie. Gudmund antwortete ihr keine +Silbe, sondern wendete sich an den Amtmann. -- »Ja, jetzt bin ich meiner +Sache sicher,« sagte er. »Es hat gar keinen Zweck, die Hochzeit +aufzuschieben.« + +Damit war die Unterredung beendet, und Gudmund und Erland gingen ihrer +Wege. Sie hatten durch mehrere Stuben und Kammern zu gehen, ehe sie +hinauskamen, und überall sahen sie Vorbereitungen zur Hochzeit. Die Tür +nach der Küche stand offen, und sie sahen, wie eine Menge Menschen in +eiliger Geschäftigkeit durcheinanderliefen. Der Duft von Braten und +Backwerk drang heraus, der ganze Herd war voll kleiner und großer Töpfe, +die Kupferkasserollen, die sonst die Wände schmückten, waren +heruntergenommen und im Gebrauch. »Ach, daß sie alle diese Zurüstungen +für meine Hochzeit machen!« dachte Gudmund, als er vorüberging. + +Er bekam Einblick in den ganzen Reichtum dieses alten Bauernhofes, wie +er so durch das Haus wanderte. Er sah den Eßsaal, wo große Tische mit +langen Reihen von Silberbechern und Kannen gedeckt waren. Er kam durch +die Kleiderkammer, wo auf dem Boden große Truhen standen und an den +Wänden Kleider in unendlicher Reihe hingen. Als er dann in den Hof +hinaustrat, sah er eine Menge alte und neue Wagen, prächtige Pferde +wurden aus dem Stall geführt und schöne Wagendecken in die Kutschen +gelegt. Er sah über ein paar Höfe, die von Scheunen, Ställen, Schuppen, +Vorratskammern und noch vielen andern Gebäuden umgeben waren. »Das alles +hätte mein sein können,« dachte er, als er sich in den Wagen setzte. + +Mit einem Male kam bittre Reue über ihn. Er wäre am liebsten aus dem +Wagen gesprungen und hineingelaufen, um ihnen zu sagen, es sei alles +nicht wahr, was er erzählt hätte. Er hätte ja nur mit ihnen spaßen und +sie erschrecken wollen. Es war doch unerhört töricht von ihm gewesen, zu +bekennen. Was nützte es, daß er gestanden hatte? Dadurch wurde die Sache +für keinen Menschen besser. Der Tote war ja tot. Nein, dieses +Geständnis hatte nichts andres zur Folge, als daß auch er ins Verderben +gestürzt wurde. + +In den letzten Wochen hatte er diese Heirat nicht mehr so eifrig +gewünscht; aber jetzt, da er darauf verzichten mußte, fühlte er erst, +was sie wert war. Es bedeutete viel, Hildur Erikstochter und alles, was +an ihr hing, zu verlieren. Was hatte es zu sagen, daß sie eigenwillig +und selbstherrlich war! Sie war doch die erste von allen in der +Umgegend, und durch sie wäre er zu großer Macht und Ehre gekommen. + +Er trauerte jetzt nicht nur um Hildur und ihr Hab und Gut, sondern auch +um kleinere Dinge. In diesem Augenblick wäre er zur Kirche gefahren, und +alle, die ihn gesehen, hätten ihn beneidet. Und heute hätte er zu oberst +an der Hochzeitstafel gesessen. Heute wäre er mitten in Tanz und +Fröhlichkeit gewesen. Es war sein großer Glückstag, der ihm nun entging. + +Erland drehte den Kopf ein Mal ums andre dem Sohne zu und sah ihn an. Er +war jetzt nicht so schön und verklärt, wie er am Morgen gewesen war, +sondern saß stumpf und schwerfällig da mit erloschenem Blick. Der Vater +hätte wohl gerne gewußt, ob der Sohn sein Geständnis bereue, und er +wollte ihn danach fragen, hielt es aber doch für richtiger, zu +schweigen. + +»Wohin wollen wir jetzt fahren?« fragte Gudmund nach einer Weile. -- +»Wäre es nicht das beste, gleich zu Gericht zu gehen?« -- »Du mußt +zuerst nach Hause, damit du ruhen und dich ausschlafen kannst,« sagte +der Vater. »Du hast in den letzten Nächten wohl nicht viel Schlaf +gefunden.« -- »Mutter wird erschrecken, wenn sie uns sieht.« -- »Sie +wird nicht so erstaunt sein,« sagte der Vater, »sie weiß ebenso viel wie +ich. Sie wird sich freuen, daß du gestanden hast.« -- »Ich glaube, +Mutter und ihr alle miteinander daheim seid froh, mich ins Gefängnis zu +bringen,« sagte Gudmund bitter. -- »Wir wissen, daß du viel verlierst, +weil du recht gehandelt hast,« sagte der Vater, »wir können nicht +anders: wir müssen uns freuen, daß du dich selbst überwunden hast.« + +Gudmund glaubte es nicht ertragen zu können, nach Hause zu fahren und +allen den Leuten zuzuhören, die ihn rühmen würden, weil er seine Zukunft +vernichtet hatte. Er suchte einen Vorwand, um niemand treffen zu müssen, +bevor er sich mehr Ruhe erkämpft hätte. Nun fuhren sie an der Stelle +vorüber, wo der Pfad zum Moorhof abbog. »Wollt Ihr hier halten, Vater? +Ich denke, ich gehe zu Helga hinauf und spreche mit ihr.« -- + +Der Vater hielt bereitwillig das Pferd an. »Komm nur, sobald du kannst, +nach Hause, damit du dich ausruhst,« sagte er. + +Gudmund schlug den Weg in den Wald ein und war bald zwischen den Bäumen +verschwunden. Er dachte nicht daran, Helga aufzusuchen. Er war nur froh, +allein zu sein, so daß er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte. Er +fühlte eine unvernünftige Wut gegen alles, er stieß Steine fort, die ihm +im Wege lagen, und blieb zuweilen stehen, um einen großen Ast +abzubrechen, nur weil ein Blatt sein Gesicht gestreift hatte. Er schlug +den Weg zum Moorhof ein, ging aber an der Hütte vorbei und kletterte den +Berg hinauf. Hier wurde es ihm bald schwer, weiter zu kommen. Er hatte +den Pfad verlassen; und um den nächsten Gipfel zu erreichen, mußte er +über ein breites Flußbett voll kantiger Felsblöcke gehen. Es war eine +gefährliche Wanderung über die scharfen Felskanten, und er konnte sich +Arme und Beine brechen, wenn er einen Fehltritt machte. Das wußte er +sehr wohl, aber er ging doch weiter, als mache es ihm Freude, sich einer +Gefahr auszusetzen. »Und wenn ich mich zuschanden falle, so findet mich +hier oben niemand,« dachte er. »Aber was tut das? Ich kann ebensogut +hier liegen und sterben wie jahrelang hinter Gefängnismauern sitzen.« + +Doch alles ging gut ab, und ein paar Minuten später stand er auf der +Höhe. Über den Berg war einmal ein Waldbrand hingegangen. Die oberste +Spitze war noch kahl, und von dort hatte man eine meilenweite Aussicht. +Er sah Täler und Seen, dunkle Wälder und fruchtbare Äcker, Kirchen und +Herrenhöfe, kleine Bauernhütten und große Dörfer. Weit in der Ferne lag +die Stadt, in einen weißen Schleier von Sonnenrauch gehüllt, aus dem ein +paar funkelnde Türme aufragten. Durch die Täler schlängelten sich Wege, +und ein Eisenbahnzug rollte am Waldessaume vorbei. Es war ein ganzes +Reich, was er da sah. + +Er warf sich zu Boden, hielt aber den Blick noch immer auf die weite +Fernsicht geheftet. Es war etwas Stolzes und Großes in dieser Landschaft +vor ihm, und er empfand sich selbst und seine Sorgen als klein und +unbedeutend. + +Ihm kam eine Erinnerung aus seiner Kindheit. Wenn er damals gelesen +hatte, daß der Versucher Jesus auf einen hohen Berg geführt und ihm alle +Herrlichkeit der Welt gezeigt hätte, so war er immer der Meinung +gewesen, die beiden müßten hier oben auf dem Gipfel gestanden haben ... +Und er sprach die alten Worte vor sich hin: Dies alles will ich dir +geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. + +Da kam es ihm plötzlich vor, als sei ihm selbst in diesen letzten Tagen +eine solche Versuchung entgegengetreten. Wahrlich, hatte ihn nicht der +Versucher auf einen hohen Berg geführt und ihm alle Herrlichkeit der +Macht und des Reichtums gezeigt? »Verschweige nur das Böse, das du getan +hast,« sagte er, »und ich will dir dies alles geben.« Wie Gudmund daran +dachte, kam ein klein wenig Befriedigung über ihn. »Ich habe ja nein +geantwortet,« sagte er; und plötzlich begriff er, worum es sich für ihn +gehandelt hatte. Wenn er geschwiegen hätte, wäre er dann nicht all sein +Lebtag verurteilt gewesen, den Versucher anzubeten? Ein scheuer, +mutloser Mann wäre er geworden, ein Sklave von Hab und Gut. Die Furcht +vor der Entdeckung hätte stets auf ihm gelastet. Nie mehr hätte er sich +als ein freier Mann fühlen können. + +Eine große Ruhe kam über Gudmund. Er wurde ganz glücklich, weil er +einsah, daß er recht gehandelt hatte. Wenn er an die vergangenen Tage +zurückdachte, schien es ihm, daß er in einer großen Dunkelheit getappt +hätte. Es war wunderbar, daß er sich zuletzt doch zurechtgefunden hatte. +Er fragte sich selbst, wie es zugegangen sei, daß er nicht in die Irre +gegangen war. »Ich danke es dem, daß sie daheim alle so gut gegen mich +waren,« dachte er, »und die beste Hilfe war doch, daß Helga kam und mir +Glück wünschte.« + +Er blieb noch eine Weile oben auf dem Gipfel liegen, aber bald sagte er +sich, er müsse zu Vater und Mutter heimgehen und ihnen sagen, daß er den +Frieden mit sich selbst gefunden hätte. Als er nun aufstand, um zu +gehen, bemerkte er, daß ein Stück weiter unten Helga auf einem +Felsenvorsprung saß. + +Sie hatte dort nicht die große weite Aussicht -- nur ein kleines +Stückchen des Tales war für sie sichtbar. Es war die Gegend, wo Närlunda +lag, und sie sah vermutlich ein Stück des Hofes. Als Gudmund sie +erblickte, fühlte er, wie sein Herz, das den ganzen Tag mühsam und +ängstlich gearbeitet hatte, leicht und fröhlich zu klopfen begann, und +zu gleicher Zeit durchzuckte ihn ein so starkes Glücksgefühl, daß er +stehen blieb und über sich selbst staunte. + +»Was ist mir denn? Was ist das? Was ist das?« dachte er, während das +Blut durch seinen Körper strömte und das Glück ihn mit solcher Macht +packte, daß er es beinahe schmerzhaft empfand. Endlich sagte er mit +erstaunter Stimme zu sich selbst: »Aber ich hab ja sie lieb! Nein, daß +ich das bisher gar nicht wußte!« + +Es packte ihn mit der Stärke eines befreiten Wasserfalls. Er war die +ganze Zeit, solange er sie kannte, gebunden gewesen. Alles, was ihn zu +ihr hinzog, hatte er zurückgedrängt. Jetzt erst war er frei von dem +Gedanken, eine andre zu heiraten, hatte er die Freiheit, sie zu lieben. + +»Helga!« rief er und begann zugleich den Abhang zu ihr +hinunterzuklettern. Sie wendete sich mit einem erschrockenen Aufschrei +um. »Hab keine Angst! Ich bin es nur.« -- »Aber bist du denn nicht in +der Kirche und wirst getraut?« -- »Ach nein, aus der Hochzeit wird +nichts. Sie will mich nicht haben, Helga.« + +Helga richtete sich auf. Sie preßte die Hand aufs Herz und schloß die +Augen. Sie dachte in diesem Augenblick wohl, daß es nicht Gudmund sei, +der da kam. Ihre Augen und Ohren müßten hier im Walde verhext worden +sein. Aber schön und herrlich war es doch, daß er sich zeigte, wenn auch +nur als Traumerscheinung; und sie schloß die Augen und blieb regungslos +stehen, um das Trugbild noch ein paar Augenblicke festzuhalten. + +Aber Gudmund war wild und toll von der großen Liebe, die in ihm +aufgelodert war. Sobald er zu Helga heruntergekommen war, schlang er die +Arme um sie und küßte sie, und sie ließ es geschehen; denn sie war ganz +betäubt und benommen vor Überraschung. Es war ja zu wunderbar, daß er, +der gerade jetzt in der Kirche stehen sollte, zur Seite seiner Braut, +wirklich hierher in den Wald gekommen war. Dieser Geist oder +Doppelgänger von ihm, der zu ihr gekommen war, mochte sie immerhin +küssen. + +Aber in dem Augenblick, da Gudmund Helga küßte, wachte sie auf und stieß +ihn von sich. Und nun begann sie ihn mit Fragen zu überschütten. Ob er +es wirklich selbst sei? Was er im Walde zu tun hätte? Ob ein Unglück +geschehen? Warum man die Hochzeit aufgeschoben hätte? Ob Hildur krank +sei? Ob den Pfarrer in der Kirche der Schlag gerührt hätte? + +Gudmund wollte mit ihr von nichts anderm auf der Welt sprechen als von +seiner Liebe; aber sie zwang ihn, zu erzählen, wie alles zugegangen war. +Während er sprach, saß sie still da und hörte mit tiefer Andacht zu. + +Sie unterbrach ihn nicht, bis er von der abgebrochnen Klinge erzählte. +Da fuhr sie auf und fragte, ob es sein gewöhnliches Messer sei, das er +gehabt hätte, als sie noch auf Närlunda diente. + +»Ja, gerade das war es,« sagte er. -- »Wieviel Klingen waren denn +abgebrochen?« fragte sie. -- »Nicht mehr als eine.« + +In Helgas Kopf begann es zu arbeiten. Sie saß mit gerunzelter Stirn da +und suchte sich an etwas zu erinnern. Wie war es doch? Ja gewiß. Sie +entsann sich deutlich, daß sie sich dieses Messer an dem Tage, bevor sie +fortging, von ihm ausgeliehen hatte, um Holz zu spalten; dabei hatte sie +es zerbrochen, aber sie war nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen. Er +war ihr damals immer ausgewichen und hatte nicht mit ihr sprechen +wollen. Und nun hatte er das Messer wohl seitdem in der Tasche gehabt +und gar nicht bemerkt, daß es zerbrochen war. + +Sie hob den Kopf und wollte ihm dies eben sagen; doch er erzählte weiter +von seinem Besuch heute morgen im Hochzeitshaus, und sie wollte ihn zu +Ende kommen lassen. Als sie hörte, wie er von Hildur geschieden war, +erschien ihr dies als ein so furchtbares Unglück, daß sie ihn mit +Vorwürfen überhäufte. »Das ist deine eigne Schuld,« sagte sie. »Da kommt +ihr, du und dein Vater, angefahren und erschreckt sie zu Tode mit der +furchtbaren Botschaft. So hätte sie nicht geantwortet, wenn sie bei +Sinnen gewesen wäre. Ich will dir eines sagen: ich glaube, sie bereut es +schon in diesem Augenblick.« -- »Meinethalben mag sie bereuen, soviel +sie will,« sagte Gudmund. »Ich weiß jetzt, daß sie eine ist, die immer +nur an sich selbst denkt. Ich bin froh, daß ich sie los bin.« + +Helga preßte die Lippen aufeinander, damit ihr das große Geheimnis nicht +entschlüpfe. Sie hatte viel zu denken. Es handelte sich nicht nur darum, +Gudmund von dem Morde reinzuwaschen. Es herrschte ja auch Feindschaft +zwischen Gudmund und seiner Braut. Könnte sie nicht versuchen, die +beiden mit Hilfe dessen, was sie wußte, zu versöhnen? + +Wieder saß sie stumm da und grübelte, bis Gudmund davon zu sprechen +begann, daß er seinen Sinn jetzt ihr zugewandt hätte. + +Aber das erschien ihr als das größte Unglück, das ihm an diesem Tage +widerfahren war. Schlimm war es schon, daß die vorteilhafte Heirat zu +scheitern drohte, noch schlimmer aber, daß er um eine wie sie werben +wollte. »Nein, so etwas darfst du mir nicht sagen,« rief sie und sprang +plötzlich auf. -- »Warum soll ich es dir nicht sagen?« fragte Gudmund und +erblaßte. »Ist es mit dir vielleicht gerade so wie mit Hildur? Hast du +Angst vor mir?« -- »Nein, nicht deshalb.« Sie wollte ihm erklären, daß +er in sein eigenes Verderben renne, aber er hörte ihr gar nicht zu. -- +»Ich habe gehört, daß es früher einmal Frauen gab, die den Männern zur +Seite standen, wenn sie in Not kamen; aber heute trifft man solche +Frauen nicht mehr.« Helga erzitterte. Sie hätte die Arme um seinen Hals +schlingen wollen, aber sie verhielt sich still. Heute mußte sie +vernünftig sein. -- »Es ist ja wahr, ich hätte dich nicht an demselben +Tage, wo ich ins Gefängnis soll, bitten dürfen, mein Weib zu werden. +Aber der Gedanke, daß du auf mich warten würdest, bis ich wieder frei +wäre, hätte mich all das Schwere mit leichtem Mut erdulden lassen.« +-- »Ich bin es nicht, die auf dich warten soll, Gudmund.« -- »Alle +Menschen werden mich jetzt als einen Missetäter betrachten, als einen, +der sich besäuft und mordet. Ach wenn es nur eine gäbe, die mich mit +Liebe ansehen könnte! Das würde mich besser aufrechterhalten als alles +andre.« -- »Du weißt, daß ich nie etwas andres als Gutes von dir denken +werde, Gudmund.« + +Helga war sehr still. Gudmunds Bitten wurden fast zu viel für sie. Sie +wußte gar nicht, wie sie ihm entkommen sollte. Aber Gudmund verstand +nichts, sondern begann zu glauben, daß er sich geirrt habe. Sie könnte +nicht dasselbe für ihn empfinden wie er für sie. Er kam ganz dicht an +sie heran und sah sie an, als wollte er mitten durch sie hindurchsehen. +»Sitzest du nicht gerade auf diesem Felsen hier, um nach Närlunda +hinunterzusehen?« -- »Ja, das tu ich.« -- »Sehnst du dich nicht Tag und +Nacht hin?« -- »Ja. Aber ich sehne mich nicht nach einem Menschen.« +-- »Und mich magst du gar nicht?« -- »O ja, aber ich will dich nicht +heiraten.« -- »Wen hast du denn gern?« -- Helga schwieg. -- »Per +Martensson?« -- »Ja, ihm hab ich gesagt, daß ich ihn gern habe,« sagte +sie und war ganz zermartert. + +Gudmund blieb ein Weilchen stehen und sah sie mit ergrimmtem Gesicht an. +»Dann also lebewohl! Jetzt gehen wir getrennte Wege, du und ich,« sagte +er, und damit machte er einen gewaltigen Sprung von dem Stein zum +nächsten Felsabsatz und verschwand unter den Bäumen. + + +6 + +Kaum war Gudmund verschwunden, als Helga auf einem andern Wege den Berg +hinuntereilte. Sie lief am Moorhof vorbei, ohne stehen zu bleiben und +eilte dann, so rasch sie konnte, über die Waldhügel hinunter auf den +Weg. Im ersten Bauernhof, den sie erreichte, bat sie die Inwohner, ihr +Pferd und Fuhrwerk zu leihen, damit sie nach Älvåkra fahren könnte. Sie +sagte, es gälte das Leben, daß sie hinkäme, und versprach, dafür zu +zahlen. Die Dorfleute waren schon heimgekommen und hatten von der +unterbliebenen Hochzeit erzählt. Alle waren sehr bewegt und mitleidig, +und man wollte Helga die Hilfe nicht verweigern, da sie eine wichtige +Botschaft für die Leute auf Älvåkra zu haben schien. + +In Älvåkra saß Hildur Erikstochter in einer kleinen Kammer im oberen +Stockwerk, wo sie ihr Brautkleid abgelegt hatte. Die Mutter und ein paar +andre Bäuerinnen waren um sie. Hildur weinte nicht, aber sie war +ungewöhnlich still und blaß; es sah aus, als würde sie jeden Augenblick +krank hinsinken. Die Frauen sprachen die ganze Zeit von Gudmund. Alle +tadelten ihn und schienen es als ein Glück für Hildur anzusehen, daß sie +von ihm befreit war. Einige meinten, Gudmund habe wenig Rücksicht auf +die Schwiegereltern gezeigt. Er hätte ihnen schon am Pfingsttage sagen +müssen, wie es um ihn stand. Andre sagten, wem ein so großes Glück +bevorstünde, der müßte besser auf sich achten. Und einige +beglückwünschten Hildur, daß sie dem Schicksal entging, einen zu +heiraten, der sich so sinnlos betrinken konnte, daß er nicht mehr wußte, +was er tat. + +Mitten unter diesen Reden schien Hildur ungeduldig zu werden; sie stand +auf, um das Zimmer zu verlassen. Sowie sie zur Tür hinaus war, kam ihre +beste Freundin, ein junges Bauernmädchen, und flüsterte ihr zu: »Unten +ist jemand, der mit dir sprechen will.« -- »Ist es Gudmund?« fragte +Hildur, und ein Strahl des Lebens leuchtete in ihren Augen auf. -- »Nein, +aber, ich glaube, eine Botschaft von ihm. Sie will, was sie auszurichten +hat, keinem als nur dir selbst sagen.« Nun hatte Hildur den ganzen Tag +dagesessen und gedacht, daß jemand kommen müsse, der diesem Elend ein +Ende machte. Sie konnte es gar nicht begreifen, daß ein so schreckliches +Unglück sie treffen sollte. Sie meinte, es müsse etwas geschehen, das es +ihr möglich machte, Krone und Kranz wieder aufzusetzen, mit dem +Hochzeitszug zur Kirche zu fahren und getraut zu werden. Als sie nun von +einer Botschaft Gudmunds hörte, wurde sie ganz eifrig und lief eilends +zu Helga hinaus, die vor der Küchentür stand und auf sie wartete. + +Hildur wunderte sich wohl, daß Gudmund Helga zu ihr schickte, aber sie +dachte, er hätte vielleicht heute am Feiertag keine andre Botin +gefunden, und begrüßte sie freundlich. + +Sie winkte Helga, ihr in die Milchkammer zu folgen, die drüben auf der +andern Längsseite des Hofes lag. »Ich weiß keinen andern Ort, wo wir +allein sprechen können,« sagte sie. »Wir haben noch das ganze Haus voll +Leute.« + +Sobald sie drinnen waren, trat Helga dicht an Hildur heran und sah ihr +ins Gesicht. »Bevor ich etwas sage, muß ich erst wissen, ob du Gudmund +lieb hast, Hildur.« Hildur zuckte vor Empörung zusammen. Es war ihr +eine Qual, mit Helga auch nur ein einziges Wort wechseln zu müssen, und +sie hatte wahrlich keine Lust, sie zu ihrer Vertrauten zu machen. Aber +nun war die Not am höchsten, und so zwang sie sich, zu antworten: +»Warum, glaubst du, hätte ich ihn sonst heiraten wollen?« -- »Ich meine, +ob du ihn noch lieb hast, Hildur?« -- Hildur wurde wie zu Stein, aber +unter dem forschenden Blick der andern konnte sie nicht lügen. -- +»Vielleicht habe ich ihn noch nie so lieb gehabt wie heute,« sagte sie, +jedoch so leise, daß man glauben konnte, es täte ihr weh, die Worte +auszusprechen. + +»Dann komm gleich mit mir,« sagte Helga. »Ich habe drunten auf der +Straße einen Wagen stehen. Du brauchst dich nur fertig zu machen, dann +können wir gleich nach Närlunda fahren.« -- »Wozu soll es gut sein, daß +ich hinfahre?« fragte Hildur. -- »Du mußt hinfahren und sagen, daß du +Gudmund angehören willst, Hildur, was er auch getan haben mag, und daß +du treu auf ihn warten wirst, während er im Gefängnis sitzt.« -- »Warum +soll ich das sagen?« -- »Damit alles zwischen euch wieder gut wird.« +-- »Aber das ist ja unmöglich. Ich will doch keinen heiraten, der im +Gefängnis gesessen hat.« + +Helga prallte ein paar Schritte zurück, so als wäre sie an eine Mauer +gestoßen. Aber sie faßte rasch wieder Mut. Sie konnte ja begreifen, daß, +wer mächtig und reich war wie Hildur, so denken mußte. »Ich wäre nicht +hierher gekommen und hätte dich nicht gebeten, nach Närlunda zu fahren, +wenn ich nicht wüßte, daß Gudmund unschuldig ist,« sagte sie. Jetzt war +es Hildur, die einen Schritt von Helga forttrat. -- »Weißt du das, oder +ist es nur etwas, was du glaubst?« -- »Es wäre besser, wenn wir uns +gleich in den Wagen setzten, dann könnte ich es dir unterwegs erzählen, +Hildur.« -- »Nein, erst mußt du mir alles sagen. Ich muß wissen, was ich +tue.« Helga war so voll brennenden Eifers, daß sie kaum stillstehen +konnte, aber sie mußte sich doch bequemen, Hildur zu erzählen, woher sie +wüßte, daß nicht Gudmund der Täter sei. »Hast du das Gudmund nicht +gleich gesagt?« -- »Nein, ich sage es jetzt dir, Hildur. Kein andrer +weiß es.« -- »Und warum kommst du mit dieser Nachricht zu mir?« -- +»Damit es zwischen euch wieder gut werde. Auch er wird wohl bald +erfahren, daß er nichts Böses getan hat, aber ich will, daß du wie von +selbst zu ihm kommst, Hildur, und es gut machst.« -- »Ich soll nicht +sagen, daß ich von seiner Schuldlosigkeit weiß?« -- »Du sollst ganz von +selbst kommen, Hildur, und ihm nie verraten, daß ich mit dir gesprochen +habe. Sonst verzeiht er dir nie, was du ihm heute morgen gesagt hast.« + +Hildur hörte schweigend zu. Es lag etwas in diesen Worten, was ihr noch +nie im Leben begegnet war, und sie war bemüht, es sich klarzumachen. +»Weißt du, daß ich es war, die verlangte, daß du aus Närlunda +fortkommst?« -- »Ich weiß wohl, daß es nicht die Leute auf Närlunda +waren, die mich forthaben wollten.« -- »Ich kann gar nicht verstehen, +daß du heute zu mir kommst und mir helfen willst.« -- »Wenn du jetzt nur +mitkommst, Hildur, so kann alles gut werden!« Aber Hildur sah Helga an, +noch immer in dieselben Grübeleien versunken. -- »Vielleicht hat Gudmund +dich lieb,« warf sie hin. Aber nun riß Helga die Geduld. -- »Was hätte +er denn an mir!« sagte sie heftig, »du weißt doch, Hildur, daß ich +nichts andres bin als eine arme Häuslerdirne, und das ist noch nicht +einmal das Allerschlimmste.« + +Die beiden jungen Mädchen schlichen sich unbemerkt aus dem Haus und +saßen bald im Wagen. Helga kutschierte, und sie schonte das Pferd nicht, +sondern ließ es rasch traben. Sie waren beide stumm. Hildur saß da und +sah Helga an. Es war, als könnte sie sich nicht genug über sie wundern, +und als dächte sie mehr an sie als an irgend etwas andres. + +Als sie in die Nähe des Hofes kamen, übergab Helga Hildur die Zügel. +»Jetzt sollst du allein hinfahren, Hildur, und mit Gudmund sprechen. Ich +komme in einer Weile nach und erzähle die Geschichte mit dem Messer. +Aber du darfst Gudmund kein Wort davon sagen, Hildur, daß ich dich +geholt habe.« + +Gudmund saß in der Wohnstube auf Närlunda neben Mutter Ingeborg und +sprach mit ihr. Der Vater saß etwas abseits und rauchte. Er sah +zufrieden aus und sagte kein Wort. Man merkte, er war der Meinung, +jetzt gehe alles, wie es sollte, so daß er nicht einzugreifen brauchte. + +»Ich wüßte wohl gerne, Mutter, was Ihr gesagt haben würdet, wenn Ihr +Helga als Schwiegertochter bekommen hättet,« sagte Gudmund. Mutter +Ingeborg hob den Kopf und antwortete mit fester Stimme: »Ich werde jede +Schwiegertochter mit Freuden aufnehmen, wenn ich nur weiß, daß sie dich +so lieb hat, wie eine Frau ihren Mann lieb haben soll.« + +Kaum war dies gesagt, als sie Hildur Erikstochter in den Hof einfahren +sahen. Sie kam gleich darauf ins Haus und war ganz anders als sonst. Sie +trat nicht in ihrer gewohnten zuversichtlichen Art in das Zimmer, +sondern es sah fast aus, als wolle sie unten an der Tür stehen bleiben +wie ein armes Bettelmädchen. + +Sie kam jedoch heran und gab Mutter Ingeborg und Erland die Hand. Dann +wendete sie sich an Gudmund. »Mit dir will ich ein paar Worte sprechen.« +Gudmund stand auf, und sie gingen in die Kammer. Er stellte Hildur einen +Stuhl hin, aber sie setzte sich nicht. Sie war ganz rot vor +Verlegenheit, und die Worte kamen langsam und scheu über ihre Lippen: +»Ich war wohl -- -- ja, es war vielleicht zu hart, was ich heute morgen +sagte.« -- »Ach, wir haben dich damit so plötzlich überfallen,« sagte +Gudmund. Sie wurde noch röter und beschämter. »Ich hätte es mir besser +überlegen sollen. Wir könnten -- es sollte doch -- -- « -- »Es ist schon +am besten, wie es ist, Hildur. Darüber ist nichts mehr zu reden; aber +es ist schön, daß du gekommen bist.« + +Sie schlug die Hände vors Gesicht, holte sehr tief Atem, daß es klang +wie ein Schluchzen, hob dann aber den Kopf wieder. »Nein,« sagte sie. +»Es geht nicht. Ich will nicht, daß du mich für besser hältst, als ich +bin. Jemand kam zu mir und sagte, daß du unschuldig bist, und riet mir, +hierher zu eilen und alles wieder gutzumachen. Und ich sollte nicht +sagen, daß ich schon weiß, daß du unschuldig bist. Denn dann würdest du +nicht so viel daran finden, daß ich komme. Jetzt sage ich dir: ich +wünschte, ich wäre selbst auf den Gedanken gekommen. Doch so war es +nicht. Aber ich habe mich den ganzen Tag nach dir gesehnt und gewünscht, +daß es wieder gut zwischen uns werden könnte. Und wie es auch kommen +mag: eins will ich dir sagen, ich freue mich, daß du unschuldig bist.« + +»Wer hat dir denn diesen Rat gegeben, Hildur?« fragte Gudmund. -- »Das +darf ich nicht sagen.« -- »Ich wundere mich, daß es jemand weiß. Vater +kommt eben jetzt vom Bürgermeister. Er hat in die Stadt telegraphiert. +Und es ist die Antwort gekommen, daß der wahre Täter schon gefunden +ist.« + +Als Gudmund dies sagte, fühlte Hildur, wie die Beine unter ihr +zitterten, und sie setzte sich rasch nieder. Es wurde ihr ganz angst, +weil Gudmund so ruhig und freundlich war, und sie begann zu verstehen, +daß er ganz außerhalb ihrer Macht war. »Ich sehe schon, du kannst es +nicht vergessen, Gudmund, wie ich heute vormittag gewesen bin.« -- »O +doch, das kann ich dir schon verzeihen, Hildur,« sagte er in demselben +ruhigen Ton. »Davon wollen wir nie mehr sprechen.« + +Sie erzitterte, schlug die Augen nieder und saß da, als wartete sie auf +etwas. »Es ist nur ein großes Glück, Hildur,« sagte er und kam heran und +ergriff ihre Hand, »daß es zwischen uns aus ist. Denn heute ist es mir +klar geworden, daß ich eine andre lieb habe. Ich glaube, ich hatte sie +schon lange lieb, aber ich weiß es erst seit heute.« -- »Wer ist die, +die du lieb hast, Gudmund,« kam es tonlos von Hildurs Lippen. -- »Das +kommt ja auf eins heraus. Ich werde sie nicht heiraten, denn sie hat +mich nicht lieb. Aber eine andre kann ich nicht nehmen.« + +Hildur hob den Kopf. Es war nicht leicht, zu sagen, was in ihr vorging. +Aber sie fühlte in diesem Augenblick, daß sie, die Großbauerntochter, +mit all ihrem Reiz und allem ihrem Hab und Gut nichts für Gudmund +bedeutete. Und sie war stolz und wollte nicht von ihm scheiden, ohne ihm +zu zeigen, daß sie ihren Wert in sich hatte, abgesehen von allem +Äußerlichen. + +»Ich will, Gudmund, daß du mir sagst, ob es Helga vom Moorhof ist, die +du gern hast.« + +Gudmund stand schweigend da. »Denn wenn es Helga ist, dann weiß ich, daß +sie dich lieb hat. Sie kam zu mir und lehrte mich, was ich tun sollte, +damit es zwischen uns wieder gut würde. Sie wußte, daß du unschuldig +bist, aber sie sagte es nicht dir, sondern ließ es mich zuerst wissen.« +-- Gudmund sah ihr fest in die Augen. »Findest du darin ein Zeichen, daß +sie eine große Liebe für mich hat?« -- »Dessen kannst du sicher sein, +Gudmund. Das kann ich bezeugen. Niemand in der Welt kann dich lieber +haben als sie.« Er ging hastig durch das Zimmer. Dann blieb er vor Hildur +stehen. »Aber du? Warum sagst du mir das?« -- »Ich will Helga an Edelmut +nicht nachstehen.« -- »Ach, Hildur, Hildur!« sagte er, legte die Hand auf +die Schultern und schüttelte sie, um seiner Rührung Luft zu machen. »Du +weißt nicht, nein, du weißt nicht, wie gut ich dir in diesem Augenblick +bin. Du weißt nicht, wie glücklich du mich gemacht hast -- -- --« + + * * * * * + +Helga saß am Wegrand und wartete. Sie saß da, das Kinn in die Hand +gestützt und sah zu Boden. Sie sah Gudmund und Hildur vor sich und +dachte, wie glücklich sie jetzt sein müßten. + +Während sie so dasaß, kam ein Knecht aus Närlunda vorüber. Als er sie +sah, blieb er stehen. »Du hast doch von Gudmund gehört, Helga?« -- Ja, +das hatte sie. -- »Die ganze Geschichte ist ja gar nicht wahr. Der +richtige Täter ist schon verhaftet.« -- »Ich wußte, daß es nicht wahr +sein konnte,« sagte Helga. + +Dann ging der Mann, aber Helga blieb am Wegrand sitzen wie zuvor. Ja so, +drüben wußten sie es schon. Sie brauchte gar nicht nach Närlunda zu +gehen, um es zu erzählen. + +Sie fühlte sich so wunderlich ausgeschlossen. Vorhin erst war sie so +eifrig gewesen. Sie hatte gar nicht an sich selbst gedacht, nur daran, +daß Gudmunds und Hildurs Hochzeit zustande kommen müsse. Aber jetzt erst +stand es ihr vor Augen, wie einsam sie war. Und es war schwer, für die, +die man lieb hatte, nichts sein zu dürfen. Jetzt brauchte Gudmund sie +nicht, und ihr eigenes Kind hatte ihre Mutter zu dem ihren gemacht. Sie +gönnte ihr kaum, daß sie es ansah. + +Sie dachte daran, daß sie aufstehen und nach Hause gehen müsse. Aber die +Hügel erschienen ihr so steil und schwer zu ersteigen. Sie wußte gar +nicht, wie sie hinaufkommen solle. + +Da kam ein Wagen aus Närlunda. Hildur und Gudmund saßen darin. Jetzt +führen sie wohl nach Älvåkra, um zu sagen, daß sie sich ausgesöhnt +hätten. Und morgen fände dann die Hochzeit statt. + +Als sie Helga erblickten, hielten sie an. Gudmund gab Hildur die Zügel +und sprang heraus. Hildur nickte Helga zu und fuhr weiter. + +Gudmund blieb auf dem Wege vor Helga stehen. »Ich bin froh, daß du hier +sitzest, Helga,« sagte er. »Ich glaubte, ich müßte nach dem Moorhof +hinaufgehen, um dich zu treffen.« + +Er sagte dies heftig, beinahe hart, und dabei hielt er ihre Hand fest +umklammert, und sie sah es seinen Augen an, daß er jetzt wußte, wie es +um sie stand. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entfliehen. + + + + +Gottesfriede + + +Es war einmal ein alter Bauernhof, und es war ein Weihnachtsabend mit +grauem Himmel, wie vor einem großen Schneefall, und mit scharfem +Nordwind. Am Nachmittag war es, gerade um die Zeit, wo alle Leute es +eilig hatten, ihre Arbeit zu Ende zu bringen, damit sie dann in der +Badehütte baden konnten. Dort drinnen feuerte man so heftig ein, daß die +Flammen zum Schornstein hinausschlugen und eine Menge Funken und +Rußflocken mit dem Winde flogen und auf die schneebedeckten +Schindeldächer niederfielen. + +Wie die Flamme so aus dem Schornstein der Badehütte aufstieg und sich +gleich einer Feuersäule über den Bauernhof erhob, begannen alle zu +spüren, daß Weihnachten vor der Tür stand. Die Magd, die im Hausflur lag +und scheuerte, fing leise zu singen an obgleich das Scheuerwasser in dem +Kübel neben ihr zu Eis gefror, die Knechte, die im Schuppen standen und +das Weihnachtsholz hackten, begannen zwei Scheite auf einmal zu spalten +und schwangen die Axt so lustig, als wäre die Arbeit nur ein Spiel. + +Aus dem Speicher kam eine alte Frau mit einem großen Haufen runder +Bierwürzenbrote auf dem Arm. Sie ging langsam über den Hof in das große +rotgestrichne Wohnhaus und trat vorsichtig in die Wohnstube, wo sie die +Brote auf die lange Bank niederlegte. Dann breitete sie ein Tuch auf den +Tisch und legte das Brot in Häufchen, in jedes ein großes und ein +kleines. Sie war eine seltsam häßliche alte Frau, mit rötlichem Haar, +schweren, schlaffen Augenlidern und einem eignen so strammen Zug um Mund +und Kinn, als wären die Halssehnen zu kurz. Aber nun am Weihnachtsabend +war eine solche Freude und ein solcher Friede über ihr, daß man gar +nicht sehen konnte, wie häßlich sie war. + +Einen Menschen aber gab es auf dem Hof, der nicht vergnügt war, und das +war das Mädchen, welches die Birkenruten band, die beim Baden benützt +werden sollten. Sie saß am Herd, einen ganzen Arm voll feiner +Birkenreiser vor sich auf dem Boden, und band; doch hatte sie keine +haltbaren Gerten, um die Zweige zusammenzubinden. Die Wohnstube hatte +ein breites, niedriges Fenster mit kleinen Scheiben, und durch diese +fiel der Schein aus der Badehütte ins Zimmer, spielte auf dem Fußboden +und vergoldete das Birkenreisig. Aber je lustiger das Feuer brannte, +desto unglücklicher wurde das Mädchen. Sie wußte, daß die Rutenbüschel +auseinanderfallen müßten, sobald man sie nur anrührte, und daß sie darum +Spott und Schmach erleiden würde, zum mindesten so lange, bis ein neues +Weihnachtsfeuer in diesem Schornstein flammte. + +Wie sie so dasaß und sich unglücklich fühlte, trat der Mann in die +Stube, vor dem sie die allergrößte Angst hatte. Es war der Hausvater +Ingmar Ingmarson in eigner Person. Sicherlich war er in der Badehütte +gewesen, um sich zu vergewissern, daß der Ofen heiß genug würde; und nun +wollte er sehen, wie es mit den Rutenbüscheln stünde. Er war alt, Ingmar +Ingmarson, und er hielt auf alles, was alt war. Und gerade weil die +Leute es jetzt aufzugeben begannen, in der Badehütte zu baden und sich +mit Birkenreisern peitschen zu lassen, legte er großes Gewicht darauf, +daß es auf seinem Hof geschehe, und ordentlich geschehe. + +Ingmar Ingmarson trug einen alten Schafpelz und Lederhosen und +Pechdrahtstiefel. Er war schmutzig und unbarbiert und kam in seiner +bedächtigen Art so leise herein, daß man ihn ebensogut für einen Bettler +hätte halten können. Er zeigte ungefähr dieselben Züge und dieselbe +Häßlichkeit wie die Frau; sie waren miteinander verwandt, und sie hatte +von altersher gelernt, eine heilige Ehrfurcht vor jedem zu haben, der +dieses Aussehen hatte. Denn es bedeutete viel, dem alten Geschlecht der +Ingmarsöhne anzugehören, das allezeit das vornehmste in der Gegend +gewesen war; aber das Höchste, was ein Mensch sein konnte, war Ingmar +Ingmarson selbst, der Reichste, der Klügste und der Mächtigste im ganzen +Kirchspiel. + +Ingmar Ingmarson kam auf das Mädchen zu, bückte sich, nahm eines der +fertigen Rutenbüschel und schwang es durch die Luft. Sogleich flogen +die Ruten auseinander; eine landete auf dem Weihnachtstisch und eine +andre im Himmelbett. + +»Hei, min Deern,« sagte der alte Ingmar und lachte, »glaubst du, daß man +solche Ruten brauchen kann, wenn man bei den Ingmarsöhnen badet? Oder +hast du solche heillose Angst um deine Haut?« + +Da der Hausvater es nicht übler aufnahm, faßte das Mädchen Mut und +sagte, sie wolle schon Rutenbüschel binden, die hielten, wenn man ihr +nur Gerten zum Binden gäbe. + +»Dann muß man dir wohl Gerten schaffen, min Deern,« sagte der alte +Ingmar; denn er war in rechter Weihnachtsstimmung. + +Er ging aus der Wohnstube, kletterte über die Magd mit dem Scheuereimer +hinweg und blieb auf der Türschwelle stehen, sich nach jemand umzusehen, +den er in den Birkenhain um Gerten schicken könnte. Die Knechte waren +noch bei dem Weihnachtsholz, der Sohn kam mit dem Weihnachtsstroh aus +der Tenne, die beiden Schwiegersöhne schleppten eben die Arbeitswagen in +die Schuppen, damit der Hof feiertäglich aussähe. Keiner von ihnen hatte +Zeit, sich aus dem Hause zu entfernen. + +Da beschloß der Alte ganz gelassen, sich selbst auf den Weg zu machen. +Er ging schräg über den Hof, als wolle er in den Stall, sah sich um, +sich zu vergewissern, daß niemand auf ihn acht gäbe, und schlüpfte dann +hinter die Stallwand, wo ein halbwegs gebahnter Weg in den Wald hinauf +führte. Der Alte hielt es nicht für nötig, jemand zu sagen, wohin er +ging, denn sonst hätte es vielleicht dem Sohn oder einem der Eidame +einfallen können, ihn abzuhalten. Und alte Leute wollen nun einmal am +liebsten ihren eignen Willen haben. + +Er schlug den Weg über die Felder durch das kleine Tannenwäldchen ein +und kam zu dem Birkenhain. Hier bog er vom Wege ab und watete in den +Schnee hinauf, um ein paar einjährige Birkenschößlinge zu finden. + +Um diese Zeit hatte der Wind endlich erreicht, woran er den ganzen Tag +gearbeitet hatte: er hatte den Schnee aus den Wolken losgerissen, und +jetzt kam er den Wald heraufgefegt, mit einer langen Schleppe von +Schneeflocken hinter sich. + +Ingmar Ingmarson bückte sich eben, um einen Zweig abzuschneiden, als der +Wind, ganz mit Schnee beladen, heransauste. In dem Augenblick, als der +alte Mann sich aufrichtete, pustete der Wind los und blies ihm einen +Haufen Flocken ins Gesicht. Er bekam die Augen voll Schnee, und der Wind +wirbelte so heftig rings um ihn, daß er sich ein paarmal herumdrehen +mußte. + +Das ganze Unglück kam wohl daher, daß Ingmar Ingmarson alt geworden war. +In seinen Jugendtagen hätte ihn ein Schneesturm wohl kaum schwindelig +gemacht, aber jetzt drehte sich alles im Kreise, als wenn er sich in +einer Weihnachtspolka herumgeschwungen hätte. Und als er heimwärts gehen +wollte, ging er gerade nach der verkehrten Richtung. Er ging geradewegs +in den großen Tannenwald hinein, der hinter dem Birkenhain anfing, +anstatt zu den Feldern hinunter. + +Die Dunkelheit brach schnell herein, und unter den jungen Bäumen am +Waldessaum trieb das Schneegestöber sein Spiel weiter. Der Alte sah +wohl, daß er zwischen Tannen ging, aber er merkte nicht, daß er fehl +gegangen war; denn auch auf der Seite des Birkenwaldes, die dem Hofe +zugekehrt war, wuchsen Tannen. Aber nun kam er so tief in den Wald +hinein, daß es ganz ruhig und still wurde; von dem Sturm war nichts mehr +zu spüren, und die Bäume wurden hoch und großstämmig. Da sah er, daß er +in die Irre gegangen war, und wollte umkehren. + +Er war ganz traumselig und erregt davon, daß er sich hatte verirren +können; und wie er so mitten in dem weglosen Wald stand, war er nicht +klar genug im Kopfe, um zu wissen, wohin er gehen müßte. Er schlug +zuerst eine Richtung ein und dann wieder eine andre. Endlich kam es ihm +in den Sinn, in seinen eignen Fußstapfen zurückzugehen, dann aber brach +die Dunkelheit herein, und er konnte die Fußstapfen nicht mehr finden. +Und höher und höher wurden die Bäume um ihn. Er mochte gehen, wie er +wollte, -- er merkte schon, daß er sich weiter und weiter vom Waldsaum +entfernte. + +Es war rein wie verhext und verzaubert: den ganzen Abend mußte er hier +im Walde herumlaufen und kam gewiß zu spät zum Baden. + +Er drehte die Mütze um und knüpfte sein Strumpfband anders, aber es +blieb ihm ebenso wirr im Kopfe wie zuvor, und es wurde ganz dunkel, und +er fing an zu glauben, daß er die Nacht über im Walde bleiben müßte. + +Er lehnte sich an einen Tannenbaum und stand still, um seine Gedanken zu +sammeln. Mit diesem Walde war er doch so wohl vertraut. Er war hier so +viel umhergegangen, daß er fast jeden Baum kannte. Als Knabe war er hier +umhergelaufen und hatte die Schafe gehütet, war er auf Schleichwegen +gegangen und hatte den Waldvögeln Fallen gestellt. In seiner Jugend +hatte er mitgeholfen, den Wald zu fällen. Er hatte ihn abgeholzt +daliegen und er hatte ihn aufs neue wachsen sehen. + +Endlich kam es ihm vor, als ob er wieder wüßte, wo er war, und er +glaubte, wenn er nur so und so ginge, müßte er auf den rechten Weg +kommen. Aber wie er auch ging, -- er kam nur tiefer und tiefer in das +Waldesdickicht. + +Einmal fühlte er festen, glatten Boden unter dem Fuß, und da sagte er +sich, daß er nun endlich auf einen Weg gekommen wäre. Den versuchte er +nun weiterzugehen, denn ein Weg mußte doch irgendwohin führen. Aber nun +lief der Weg in eine Waldwiese aus, und da hatte das Schneegestöber +freien Spielraum, da gab es keinen Pfad mehr, -- nur Schneehaufen und +Schneegruben. Da sank dem Alten der Mut, und er fühlte sich als ein +armer Wicht, der draußen in der Wildnis sterben müßte. + +Er begann es müde zu werden, sich durch den Schnee zu schleppen; und ein +Mal ums andre setzte er sich auf einen Stein, um auszuruhen. Aber sobald +er sich setzte, wurde er schläfrig, und er wußte, daß er erfrieren +mußte, wenn er einschlummerte. Darum versuchte er zu gehen und zu gehen, +-- das war ja das Einzige, was ihn retten konnte. + +Aber wie er so ging, konnte er der Lust nicht widerstehen, zu rasten. Er +dachte, wenn er nur ruhen dürfte, fragte er gar nicht viel danach, ob es +ihn das Leben koste. + +Es bereitete ihm ein solches Wohlgefühl, stillzusitzen, daß der +Todesgedanke ihn gar nicht beängstigte. Er empfand sogar eine Art +Freude, wenn er daran dachte, daß lange Personalien über ihn in der +Kirche verlesen werden würden, wenn er tot wäre. Er erinnerte sich, wie +schön der alte Propst über seinen Vater gesprochen hatte; und sicherlich +würde auch über ihn etwas Schönes gesagt werden. Es würde gesagt werden, +daß er den ältesten Bauernhof im Tale gehabt hätte, und es würde von der +Ehre gesprochen werden, die darin läge, einem so ansehnlichen Geschlecht +zu entstammen. Und auch von der Verantwortung würde die Rede sein. + +Ja, ja. Verantwortung war bei der Sache, das hatte er immer gewußt. Man +mußte bis zum äußersten ausharren, wenn man einer von den Ingmarsöhnen +war. + +Und plötzlich durchzuckte es ihn blitzartig, daß es nicht rühmlich für +ihn wäre, erfroren im wilden Walde gefunden zu werden. Das wollte er +nicht in seinem Nachruf haben. Und so stand er wieder auf und begann zu +wandern. Doch da hatte er so lange stillgesessen, daß ganze Schneemengen +sich aus seinem Pelze wälzten, als er sich zu rühren begann. Und nach +einem Weilchen saß er wieder da und träumte. + +Jetzt kamen die Todesgedanken noch lockender zu ihm. Er dachte das ganze +Begräbnis durch und alle die Ehren, die seinem toten Leib erwiesen +werden würden. Er sah den großen Gastmahltisch im Festsaal des oberen +Stockwerkes gedeckt, den Propst und die Pröpstin auf dem Hochsitz, den +Richter mit der weißen Krause über der schmalen Brust, die Majorin in +schwarzer Seide, die dicke Goldkette viele Male um den Hals geschlungen. +Er sah alle Gastzimmer weiß bezogen, weiße Laken vor den Fenstern. Weiß +auf allen Möbeln. Tannenreisig auf dem Weg vom Hausflur bis hinab zur +Kirche. Und ein Backen und Schlachten und Brauen zwei Wochen vor dem +Begräbnis. Zwanzig Klafter Holz in vierzehn Tagen verheizt. + +Die Leiche auf einer Bahre im innern Zimmer, Kohlendunst in den +frischgeheizten Stuben. Gesang an der Leiche, wenn der Sargdeckel +zugeschraubt wird, Silberplatten auf dem Sarge. Der Hof voll Gäste. Das +ganze Dorf in Bewegung, um das »Mitgebrachte« zu bereiten, alle +Kirchenhüte gebürstet, der ganze Herbstbranntwein beim Leichenschmaus +ausgetrunken, alle Wege voll von Menschen wie an einem Markttag. + +Wieder fuhr der Alte auf. Er hatte sie beim Leichenschmaus von sich +sprechen hören. »Aber wie konnte er denn in dieser Weise erfrieren?« +fragte der Amtsrichter. »Was hatte er denn überhaupt oben im Hochwald zu +tun?« Und da antwortete der Kapitän, das habe wohl das Weihnachtsbier +und der Branntwein gemacht. + +Und dies weckte ihn aufs neue. Die Ingmarsöhne waren nüchterne Leute. Es +sollte nicht von ihm heißen, er wäre in seiner letzten Stunde nicht bei +Sinnen gewesen. Er begann wieder zu gehen und zu gehen. Aber er war so +müde, daß er kaum auf den Füßen stehen konnte. Er war jetzt ganz hoch +oben im Walde, das merkte er; denn es war ein unwegsamer Boden voll von +großen Felsblöcken, wie sie weiter unten nicht zu finden waren. Er blieb +mit dem Fuß zwischen ein paar Steinen hängen, so daß er sich kaum +losmachen konnte; und nun stand er da und jammerte laut. Jetzt war es um +ihn geschehen. + +Und plötzlich fiel er zu Boden in einen großen Reisighaufen. Er fiel +ganz weich auf Schnee und Reisig, so daß ihm kein Leid geschah; aber +jetzt konnte er nicht mehr aufstehen. Er wollte nichts andres mehr auf +dieser Welt als schlafen. Er schob das Reisig ein bißchen beiseite und +kroch hinein, als wäre es ein Fell. Aber wie er so den Körper unter die +Zweige schob, spürte er, daß dort drinnen im Haufen etwas lag, was warm +und weich war. »Hier liegt gewiß ein Bär und schläft,« dachte er. + +Er fühlte, wie das Tier sich rührte, und hörte, wie es rings um sich +witterte. Er lag ganz still. Er dachte, seinethalben könne der Bär ihn +schon auffressen. Er vermochte kein Glied zu regen, um ihm zu entkommen. + +Aber der Bär schien ihm, der in einer solchen Unwetternacht unter seinem +Dach Schutz suchte, nichts zuleide tun zu wollen. Er schob sich etwas +tiefer in seine Höhle, als wolle er dem Gast Platz machen, und gleich +darauf schlief er mit gleichmäßigen, sausenden Atemzügen. + + * * * * * + +Unterdessen hatten sie unten auf dem alten Ingmarshof nicht viel +Weihnachtsfreude gehabt. Den ganzen heiligen Abend hatten sie Ingmar +Ingmarson gesucht. + +Zuerst waren sie im ganzen Wohnhaus und in allen Wirtschaftsgebäuden +umhergegangen. Sie hatten vom Boden bis zum Keller gesucht, dann waren +sie in die Nachbarhöfe gegangen und hatten dort nach Ingmar Ingmarson +gefragt. + +Als sie ihn nirgends fanden, hatten Söhne und Schwiegersöhne sich auf +die Felder und Äcker hinaus begeben. Die Fackeln, die den +Kirchenwanderern auf dem Weg zur Weihnachtsmette hätten leuchten sollen, +wurden nun angezündet und in dem rasenden Schneegestöber auf allen Wegen +und Stegen umhergetragen. Aber der Wind hatte alle Spuren verweht, und +sein Heulen übertönte den Laut der Stimmen, wenn sie zu rufen und zu +schreien versuchten. Bis weit über Mitternacht waren sie draußen, aber +endlich sahen sie ein, daß sie bis zum Tagesanbruch warten müßten, wenn +sie den Verschwundenen finden wollten. + +Kaum dämmerte das Morgenrot, so waren alle Leute im Ingmarshof wieder +auf den Beinen, und die Männer standen im Hofe, bereit, in den Wald +hinauszuziehen. Aber ehe sie sich noch aufgemacht hatten, kam die alte +Hausmutter und rief sie in die Wohnstube. Sie hieß sie, sich auf die +langen Bänke in der Stube setzen, und sie selbst setzte sich an den +Weihnachtstisch, mit der Bibel vor sich, und begann zu lesen. Und als +sie nach ihren schwachen Kräften gesucht hatte, was in einer solchen +Stunde angemessen wäre, da hatte sie die Geschichte von dem Manne +gefunden, der von Jerusalem gen Jericho ging und unter die Mörder fiel. + +Sie las langsam und singend von dem armen Manne, dem der barmherzige +Samariter zu Hilfe kam. Söhne und Schwiegersöhne, Töchter und +Enkeltöchter saßen ringsumher auf den Bänken. Sie alle glichen ihr und +einander: groß und schwerfällig, mit häßlichen, altklugen Gesichtern, +denn alle waren sie von dem alten Stamm der Ingmarsöhne. Alle hatten sie +rötliches Haar, eine sommersprossige Haut und lichtblaue Augen mit +weißen Wimpern. Im übrigen konnten sie verschieden genug voneinander +sein, aber alle hatten sie einen strengen Zug um den Mund, schläfrige +Augen und ungelenke Bewegungen, als fiele ihnen alles schwer. Aber jedem +von ihnen konnte man doch ansehen, daß sie zu den ersten in der Gegend +gehörten und selbst wußten, daß sie vornehmer waren als die andern. + +Alle Ingmarsöhne und Ingmartöchter seufzten bei dem Bibellesen tief. Sie +fragten sich, ob wohl ein Samariter den Hausvater gefunden und sich +seiner erbarmt hätte. Denn für alle Ingmarsöhne war es, als verlören sie +etwas von ihrer eignen Seele, wenn jemand, der zum Stamme gehörte, von +einem Unglück getroffen wurde. + +Die alte Frau las und las und kam zu der Frage: »Welcher dünkt dich, der +unter diesen dreien der nächste sei gewesen, dem, der unter die Mörder +gefallen?« + +Aber ehe sie noch die Antwort lesen konnte, ging die Tür auf, und der +alte Ingmar trat in die Stube. + +»Mutter, Vater ist da,« sagte eine der Töchter, und es wurde nicht mehr +gelesen, daß des Mannes Nächster der gewesen war, der Barmherzigkeit an +ihm getan hatte. + + * * * * * + +Etwas später am Tage saß die Hausmutter wieder auf demselben Platz und +las in ihrer Bibel. Sie war allein. Die Frauen waren zur Kirche +gegangen, und die Männer waren auf der Bärenjagd im Hochwalde. Sowie +Ingmar Ingmarson gegessen und getrunken hatte, hatte er die Söhne +mitgenommen und war in den Wald auf die Bärenjagd gegangen. Denn es ist +nun einmal so, daß es eines Mannes Pflicht ist, den Bären zu fällen, wo +und wann er ihm auch begegnet. Es geht nicht an, einen Bären zu schonen; +denn früher oder später findet er doch Geschmack am Fleische und +verschont dann weder Mensch noch Tier. + +Aber seit sie auf die Jagd gegangen waren, war eine große Angst über die +alte Hausmutter gekommen, und sie hatte zu lesen begonnen. Jetzt machte +sie sich daran, was an diesem Tage in der Kirche gepredigt wurde, aber +sie kam nicht weiter als bis zu dem Wort: »Friede auf Erden und den +Menschen ein Wohlgefallen.« Sie blieb sitzen und starrte mit ihren +erlöschenden Blicken diese Worte an, und von Zeit zu Zeit stieß sie +einen tiefen Seufzer aus. Sie las nicht weiter, sondern wiederholte nur +ein Mal ums andre mit langsamer schleppender Stimme: »Friede auf Erden +und den Menschen ein Wohlgefallen.« + +Da kam der älteste Sohn in die Stube, als sie sich gerade aufs neue +durch diese Worte schleppte. + +»Mutter,« sagte er sehr leise. + +Sie hörte ihn, schlug aber die Augen nicht vom Buche auf, als sie +fragte: »Bist du nicht mit im Walde?« + +»Doch,« sagte er noch leiser. »Ich bin dort gewesen.« + +»Komm hierher zum Tisch,« sagte sie, »so daß ich dich sehen kann.« + +Er kam näher, aber als ihr Blick auf ihn fiel sah sie, daß er zitterte. +Er mußte sich auf die Tischkante stützen, um die Hände still halten zu +können. + +»Habt Ihr den Bären erlegt?« fragte sie wieder. + +Jetzt konnte er nicht mehr antworten; er schüttelte nur den Kopf. + +Die Alte stand auf und tat, was sie nicht getan hatte, seit der Sohn ein +Kind gewesen war. Sie ging auf ihn zu, legte liebkosend die Hand auf +seinen Arm, streichelte ihm die Wange und zog ihn auf die Bank. Dann +setzte sie sich neben ihn und hielt seine Hand in der ihren. »Sag mir +jetzt, was geschehen ist, mein Junge.« + +Der Bursche erkannte die Liebkosung wieder, die ihn in den Jahren der +Kindheit getröstet hatte, wenn er unglücklich und hilflos war; und das +rührte ihn so tief, daß er zu weinen anfing. »Ich kann mir denken, daß +es etwas mit Vater ist,« sagte sie. + +»Ja, aber es ist noch schlimmer,« schluchzte der Sohn. + +»Noch schlimmer?« + +Der Bursche weinte immer heftiger; er wußte nicht, wie er Macht über +seine Stimme bekommen sollte. Endlich hob er die grobe Hand mit den +breiten Fingern und wies auf die Stelle, die sie eben gelesen hatte: +»Friede auf Erden.« + +»Hat es etwas damit zu tun?« fragte sie. + +»Ja,« antwortete er. + +»Mit dem Weihnachtsfrieden?« + +»Ja.« + +»Ihr wolltet heute morgen eine böse Tat tun.« + +»Ja.« + +»Und Gott hat uns gestraft?« + +»Gott hat uns gestraft.« + +Endlich erfuhr sie, wie es zugegangen war. Sie hatten die Bärenhöhle +gesucht, und als sie so nahe waren, daß sie den Reisighaufen sehen +konnten, waren sie stehen geblieben, um die Gewehre in Ordnung zu +bringen. Aber ehe sie noch fertig waren, kam der Bär aus der Höhle +gestürzt, gerade auf sie zu. Er sah weder nach rechts, noch nach links, +er kam gerade auf den alten Ingmar Ingmarson zu und versetzte ihm einen +Schlag auf den Kopf, der ihn zu Boden streckte, als wäre er vom Blitz +getroffen. Aber niemand sonst fiel der Bär an, sondern stürzte an ihnen +vorbei in den Wald hinein. + + * * * * * + +Am Nachmittag fuhren Ingmar Ingmarsons Frau und Sohn in den Pfarrhof und +meldeten den Todesfall an. Der Sohn führte das Wort. Die alte Hausmutter +saß dabei und hörte zu, mit einem Gesicht, das regungslos war wie ein +Steinbild. + +Der Pfarrer saß in seinem Lehnstuhl am Schreibtisch. Er hatte seine +Bücher hervorgenommen und den Todesfall aufgezeichnet. Er tat das ein +wenig langsam: er wollte Zeit haben, darüber nachzudenken, was er der +Witwe und dem Sohne sagen solle; denn dies war doch ein ungewöhnlicher +Fall. Der Sohn hatte ganz offen erzählt, wie alles sich zugetragen +hatte; doch der Pfarrer wollte gern wissen, wie sie selbst die Sache +auffaßten. Es waren sehr eigentümliche Menschen, die Leute vom +Ingmarhofe. + +Als nun der Pfarrer das Buch zuschlug, sagte der Sohn: »Wir wollten Euch +auch sagen, Herr Pfarrer, daß wir keine Personalien über Vater verlesen +haben wollen.« + +Der Pfarrer schob die Augengläser auf die Stirn und sah scharf forschend +zu der alten Frau hinüber. Sie saß ebenso regungslos da wie zuvor. Sie +zerknüllte nur das Taschentuch, das sie zwischen den Händen hielt. + +»Wir werden ihn an einem Werktag begraben,« fuhr der Sohn fort. + +»So, so, so, so,« sagte der Pfarrer. Es schwindelte ihm förmlich. Der +alte Ingmar Ingmarson sollte unter die Erde kommen, ohne daß jemand +darum wüßte. Die Dorfbewohner sollten nicht auf dem Hügel stehen und +sehen, mit welchem Staat er zu Grabe getragen würde. + +»Wir werden keinen Leichenschmaus halten. Wir haben es den Nachbarn +mitgeteilt, damit sie kein >Mitgebrachtes< bereiten.« + +»So, so, so, so,« sagte der Pfarrer abermals. Er konnte nichts andres +über die Lippen bringen. Er wußte wohl, was es für solche Leute +bedeutete, vom Leichenschmaus abzustehen. Er hatte gesehen, wie sehr es +Witwen und Vaterlose tröstete, einen stattlichen Leichenschmaus +abzuhalten. + +»Und es wird auch kein Trauerzug sein, nur ich und meine Brüder gehen +mit.« + +Der Pfarrer sah gleichsam Antwort heischend zu der Alten hinüber. Konnte +sie dem wirklich zustimmen? Er fragte sich, ob der Sohn auch ihren +Willen ausspräche. Sie saß ja da und ließ sich alles dessen berauben, +was ihr kostbarer sein mußte als Silber und Gold. + +»Wir wollen kein Glockengeläute haben und keine Silberplatten auf dem +Sarge. Das wollen wir so, Mutter und ich. Aber wir sagen es Euch, Herr +Pfarrer, um zu hören, ob Ihr es als ein Unrecht gegen Vater anseht.« + +Nun ergriff auch die Frau das Wort. »Ja, wir wollen wissen, ob Ihr +meint, Herr Pfarrer, daß es ein Unrecht gegen Vater sein kann.« + +Der Pfarrer schwieg noch immer, und da fuhr die Frau eifrig fort: »Laßt +Euch sagen, Herr Pfarrer: hätte mein Mann sich gegen den König oder den +Vogt vergangen, und hätte ich ihn vom Galgen herunterschneiden müssen, +er würde doch ein ehrliches Begräbnis bekommen haben, wie sein Vater vor +ihm, denn die Ingmarsöhne fürchten niemand, und sie brauchen keinem aus +dem Wege zu gehen. Aber um die Weihnachtszeit hat Gott Friede gesetzt +zwischen Tieren und Menschen, und das arme Tier hielt Gottes Gebot, aber +wir brachen es, und darum sind wir jetzt unter Gottes Strafgericht. Und +es steht uns nicht an, in Prunk und Staat einherzugehen.« + +Der Pfarrer stand auf und ging zu der Alten hin. »Es ist ganz recht, was +Ihr sagt,« antwortete er, »und Ihr sollt Euern eignen Willen haben.« +Und unwillkürlich fügte er hinzu, vielleicht mehr für sich selbst: »Die +Ingmare sind doch großangelegte Menschen.« + +Bei diesen Worten richtete sich die Alte ein wenig empor. Und der +Pfarrer sah sie für einen Augenblick als das Sinnbild des ganzen +Stammes. Er begriff, was Jahrhundert um Jahrhundert diesen +schwerflüssigen und wortkargen Menschen die Macht gegeben hatte, die +Führer eines ganzen Kirchspiels zu sein. + +»Es kommt den Ingmarsöhnen zu, dem Volke ein gutes Beispiel zu geben,« +sagte sie. »Es ist an uns, zu zeigen, daß wir demütig sind vor Gott.« + + + + +Der Luftballon + + +Vater und die Knaben sitzen an einem regnerischen Oktoberabend in einem +Kupee dritter Klasse, auf der Fahrt nach Stockholm. Vater ist auf seiner +Bank allein. Die Knaben sitzen ihm gegenüber, eng aneinander geschmiegt, +und lesen einen Roman von Jules Verne, der den Titel führt: Sechs Wochen +im Luftballon. Das Buch ist sehr abgegriffen. Die Knaben können es fast +auswendig und haben endlose Diskussionen darüber geführt, aber sie lesen +es immer wieder mit demselben Vergnügen, sie haben alles vergessen, um +den kühnen Luftschiffern quer über Afrika zu folgen, und sie erheben nur +selten den Blick vom Buche, um die schwedischen Landschaften zu +betrachten, die sie durchfahren. + +Die Knaben sehen einander sehr ähnlich. Sie sind von gleicher Größe, +gleich gekleidet -- in graue Überröcke und blaue Schulmützen --, sie +haben alle beide große träumerische Augen und kleine Stumpfnasen. Sie +sind immer gut Freund, gehen immer miteinander, kümmern sich nicht um +andre Kinder und sprechen immer von Erfindungen und Entdeckungsfahrten. +Der Begabung nach sind sie recht verschieden geartet. Lennart, der +ältere, der dreizehn Jahre zählt, kommt in der Schule schwer vorwärts, +und er kann kaum in irgendeinem Gegenstande mit seiner Klasse Schritt +halten. Dafür ist er aber sehr geschickt und unternehmungslustig. Er +will Erfinder werden und beschäftigt sich beständig damit, eine +Flugmaschine zu konstruieren. Hugo ist ein Jahr jünger als Lennart, aber +er begreift leichter und ist schon in derselben Klasse wie der Bruder. +Auch er interessiert sich nicht besonders für das Lernen, hingegen ist +er ein großer Sportsmann: Skiläufer, Radfahrer und Eisläufer. Wenn er +erwachsen ist, will er auf Entdeckungsreisen gehen. Sobald Lennarts +Flugmaschine fertig ist, wird Hugo damit ausfliegen, um zu entdecken, +was von der Welt noch zu entdecken übrig ist. + +Vater ist ein großgewachsener Mann mit eingesunkner Brust, fahlem +Gesicht und schmalen, schönen Händen. Er ist nachlässig gekleidet. Seine +Hemdbrust ist zerknittert, der Rockaufhänger guckt am Halse hervor, die +Weste ist schief geknöpft, und die Strümpfe sind herabgerutscht. Er +trägt das Haar so lang, daß es auf den Rockkragen hängt, dies jedoch +nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Geschmack und Gewohnheit. + +Vater stammt aus einem alten Spielmannsgeschlecht, weit her aus dem +Bauernland, und er hat als sein besondres Erbteil zwei starke Anlagen +mitbekommen. Die eine Anlage ist eine große musikalische Begabung, und +sie trat als Erstes zutage. Er besuchte die Akademie in Stockholm, +studierte dann ein paar Jahre im Ausland und machte in diesen +Studienjahren so glänzende Fortschritte, daß er selbst und seine Lehrer +erwarteten, es würde ein großer, weltberühmter Violinspieler aus ihm +werden. Er hätte sicherlich Talent genug gehabt, dieses Ziel zu +erreichen, aber es fehlte ihm an Kraft und Ausdauer. Er konnte sich +draußen in der Welt keine Stellung erkämpfen, sondern kam gar bald heim +und nahm einen Organistenposten in einer Provinzstadt an. Anfangs +schämte er sich wohl, daß er allen den in ihn gesetzten Erwartungen +nicht entsprochen hatte; aber er empfand es auch angenehm, einen sichern +Lebensunterhalt zu haben und nicht mehr die Barmherzigkeit fremder Leute +in Anspruch nehmen zu müssen. + +Kurz nachdem er die Stelle bekommen hatte, heiratete er; und einige +Jahre lang war er mit seinem Lose ganz zufrieden. Er hatte ein schönes +kleines Heim, eine frohe und glückliche Frau und zwei kleine Jungen, und +er war der Liebling der ganzen Stadt, überall gesucht und gefeiert. Aber +dann war eine Zeit gekommen, wo dies alles ihn nicht mehr zu befriedigen +schien. Er sehnte sich danach, noch einmal in die Welt hinauszuziehen +und sein Glück zu versuchen, doch fühlte er sich verpflichtet, daheim zu +bleiben, weil er nun Weib und Kind hatte. + +Vor allem war es die Frau, die ihn überredet hatte, von dieser Reise +abzustehen. Sie glaubte, daß es ihm nicht besser glücken werde als das +erste Mal. Sie meinte, sie seien so glücklich, daß er nichts andres zu +erstreben brauche. Damit beging sie sicher einen Fehler, aber sie mußte +ihn auch schwer genug büßen; denn von der Zeit an kam der zweite +Familienzug bei dem Manne zum Vorschein. Da er seine Sehnsucht nach Ruhm +und Erfolg nicht stillen konnte, suchte er sich mit dem Trinken zu +trösten. + +Und es ging ihm nun so, wie es den Menschen aus seiner Familie zu gehen +pflegte: er trank ohne Besinnung und ohne Maß und kam binnen kurzem ganz +herunter. Er wurde allmählich ein ganz andrer Mensch als zuvor. Er war +nicht mehr liebenswürdig und einnehmend, sondern böse und hart. Und das +größte Unglück war, daß er einen furchtbaren Haß gegen seine Frau faßte +und sie in jeder möglichen Weise quälte, wenn er betrunken war -- und +auch sonst. + +Die Knaben hatten also kein gutes Heim gehabt, und ihre Kindheit wäre +sehr unglücklich gewesen, hätten sie sich nicht eine kleine Welt für +sich selbst geschaffen, voll von Maschinenmodellen, Entdeckungsplänen +und Abenteuerbüchern. Die einzige, die zuweilen einen Blick in diese +Welt werfen durfte, war Mutter. Vater hatte nicht einmal eine Ahnung, +daß sie existierte; und auch jetzt vermag er mit den Knaben über nichts +zu sprechen, was sie interessiert. Er stört sie ein Mal ums andre, wenn +er fragt, ob es nicht schön wäre, Stockholm kennen zu lernen, und ob sie +sich nicht freuten, mit Vater zu reisen, und dergleichen mehr. Sie +antworten sehr kurz, um sich augenblicklich wieder in das Buch zu +vertiefen. Vater jedoch fragt weiter. Er glaubt, daß die Knaben von +seiner Liebenswürdigkeit sehr entzückt sein müßten und nur zu schüchtern +wären, es zu zeigen. + +»Die haben zu lange an Mutters Schürzenband gehangen,« denkt er. »Sie +sind ängstlich und zimperlich geworden. Das wird jetzt anders werden, +wenn sie in meine Hand kommen.« + +Aber Vater täuscht sich. Daß die Knaben ihm so kurze Antworten geben, +kommt nicht von der Schüchternheit, sondern bedeutet nur, daß sie +wohlerzogen sind und ihn nicht verletzen wollen. Wenn es nicht so wäre, +würden sie ganz anders antworten. »Warum sollten wir es schön finden, +mit Vater zu reisen?« würden sie dann sagen. »Vater glaubt freilich, +etwas ganz Besondres zu sein, aber wir sehen ja, daß er nur ein +verkommner Schwächling ist. Und warum sollten wir uns darauf freuen, +Stockholm kennen zu lernen? Wir wissen sehr gut, daß Vater uns nicht +mitgenommen hat, um uns eine Freude zu machen, sondern nur, um Mutter zu +kränken.« + +Es wäre klüger, wenn Vater die Knaben lesen ließe, ohne sie zu stören. +Sie sind niedergeschlagen und ängstlich, und es reizt sie, daß er so +guter Laune ist. »Nur weil er weiß, daß Mutter daheim sitzt und weint, +ist er heute so vergnügt,« flüstern sie einander zu. + +Vaters Fragen bringen es schließlich dahin, daß die Knaben nicht mehr +lesen, obgleich sie noch immer über das Buch gebeugt dasitzen. Anstatt +dessen beginnen ihre Gedanken mit großer Bitterkeit um alles zu +kreisen, was sie um Vaters willen haben leiden müssen. + +Sie erinnern sich, wie sich Vater einmal am hellichten Tage betrunken +hatte und über die Straße getorkelt kam, von einer Menge Schuljungen +verfolgt, die ihn ausspotteten. Sie rufen sich zurück, wie die andern +Jungen sie gehänselt und ihnen Spitznamen gegeben haben, weil sie einen +Vater hatten, der trank. + +Sie haben sich für Vater schämen müssen, sie mußten seinetwegen in +beständiger Angst leben; und sowie sie irgendeinen Spaß hatten, ist er +dazwischen gekommen und hat ihnen das Vergnügen verdorben. Es ist kein +kleines Sündenregister, das sie da aufstellen. Die Knaben sind sehr +sanftmütig und geduldig, aber sie fühlen einen Groll in sich aufsteigen, +der stärker und stärker wird. + +Er hätte doch begreifen müssen, daß sie ihm die große Enttäuschung nicht +verzeihen konnten, die er ihnen gestern bereitet hatte. Das war doch das +Ärgste, was er ihnen noch angetan hatte. + +Die Sache war nämlich die, daß die Mutter der Knaben sich im vorigen +Frühling entschlossen hatte, sich von deren Vater zu trennen. Mehrere +Jahre lang hatte der Mann sie auf jede erdenkliche Art verfolgt und +gepeinigt, doch sie hatte sich nicht von ihm trennen wollen, sondern war +bei ihm geblieben, damit er nicht völlig verkomme. Aber jetzt endlich +wollte sie es um der Knaben willen tun. Sie hatte beobachtet, daß der +Vater sie unglücklich machte; und sie meinte, sie müsse sie diesem +Elend entziehen und ihnen ein gutes, friedliches Heim schaffen. + +Als das Frühlingssemester zu Ende war, hatte sie die Knaben aufs Land zu +ihren Eltern geschickt und war selbst ins Ausland gereist, um so aufs +einfachste die Scheidung zu erlangen. Es war ihr freilich nicht recht +gewesen, daß es dadurch den Anschein gewann, als ob die Ehe durch ihr +Verschulden gelöst würde; aber dem hatte sie sich unterwerfen müssen. +Noch weniger zufrieden war sie damit, daß die Knaben vom Gerichte dem +Vater zugesprochen wurden, weil sie eine entlaufne Ehefrau wäre. Sie +tröstete sich freilich damit, daß er unmöglich die Absicht haben könnte, +die Kinder zu behalten; aber sie hatte doch keine rechte Ruhe mehr. + +Sobald die Scheidung durchgeführt war, war sie zurückgekommen und hatte +eine Wohnung gemietet, in der sie mit den Knaben leben wollte. Erst vor +zwei Tagen hatte sie alles fertig gehabt, so daß die Knaben zu ihr +übersiedeln konnten. Es war der glücklichste Tag, den die Kinder noch +erlebt hatten. Die ganze Wohnung bestand aus einem großen Zimmer und +einer großen Küche, aber alles war neu und fein, und Mutter hatte es so +außerordentlich behaglich eingerichtet. Das Zimmer sollte Mutter und +ihnen tagsüber als Arbeitsraum dienen, und nachts sollten die Knaben da +schlafen. Die Küche war sehr niedlich und hell. Da würden sie essen. Und +in einem kleinen Verschlag hinter der Küche hatte Mutter ihr Bett. + +Mutter hatte ihnen gesagt, daß sie sehr arm sein würden. Sie hatte eine +Stelle als Gesanglehrerin an der Mädchenschule bekommen; aber dies war +auch alles: davon mußten sie leben. Sie waren nicht in der Lage, sich +ein Dienstmädchen zu halten, sondern mußten sich allein behelfen. Die +Knaben waren über das Ganze in hellstem Entzücken; vor allem darüber, +daß sie mit angreifen durften. Sie erboten sich, Holz und Wasser zu +tragen. Sie wollten die Schuhe putzen und die Betten machen. Es war ein +rechter Spaß, sich das alles auszudenken. + +Eine Kammer war da, wo Lennart alle seine Maschinen aufheben konnte. Er +selbst sollte den Schlüssel dazu haben, und kein andrer als Hugo und er +sollten sie je betreten dürfen. + +Aber nur einen einzigen Tag durften die Knaben bei Mutter glücklich +sein. Dann hatte ihnen Vater die Freude verdorben, wie er es stets getan +hatte, solange sie sich zurückerinnern konnten. Mutter hatte ihnen +erzählt, sie habe gehört, daß Vater eine Erbschaft von einigen tausend +Kronen gemacht hätte; er habe seine Stellung gekündigt und wolle nun +nach Stockholm ziehen. Mutter und sie hatten sich sehr darüber gefreut, +daß er die Stadt verließ, so daß sie ihm nicht mehr auf der Straße zu +begegnen brauchten. Aber dann war einer von Vaters Freunden mit der +Botschaft zu Mutter gekommen, daß Vater die Knaben nach Stockholm +mitnehmen wolle. + +Mutter hatte geweint und gefleht, ihre Knaben behalten zu dürfen, aber +Vaters Abgesandter hatte geantwortet, daß Vater fest entschlossen sei, +die Knaben in seine Obhut zu nehmen. Wenn sie nicht gutwillig kämen, +würde er sie durch die Polizei holen lassen. Er sagte, Mutter solle doch +das Scheidungsurteil durchlesen, da stünde es ja deutlich, daß die +Knaben dem Vater gehörten. Und das wußte Mutter ja auch. Das ließ sich +nicht leugnen. + +Vaters Freund hatte viele schöne Dinge gesagt: Vater liebe seine Jungen +und wolle sie deshalb für sich haben ... Aber die Knaben wußten, daß +Vater sie einzig und allein fortschleppte, um Mutter zu quälen. Er hatte +sich das ausgedacht, damit Mutter an der Trennung von ihm keine Freude +hätte. Sie sollte in beständiger Unruhe um die Knaben leben. Das Ganze +war nur Rache und Bosheit. + +Aber Vater hatte seinen Willen durchgesetzt, und hier waren sie nun auf +dem Wege nach Stockholm. Und ihnen gegenüber saß Vater und freute sich, +daß er Mutter unglücklich gemacht hatte. Mit jedem Augenblick, der +verging, wurde ihnen der Gedanke, daß sie bei Vater bleiben und mit ihm +leben müßten, immer widerwärtiger. Waren sie denn völlig in seiner +Gewalt? Gab es keine Rettung? + +Vater hat sich in seine Ecke zurückgelehnt, und nach einem Weilchen +schlummert er ein. Sogleich beginnen die Knaben sehr lebhaft miteinander +zu flüstern. Es wird ihnen nicht schwer, einen Entschluß zu fassen. Den +ganzen Tag haben sie, jeder für sich, nur daran gedacht, +durchzubrennen. + +Sie verabreden, sich auf die Plattform zu schleichen und aus dem Zuge zu +springen, wenn er gerade durch einen großen Wald führe. Dann würden sie +sich an einem versteckten Plätzchen im Wald eine Hütte bauen und dort +allein leben, ohne sich irgendeinem Menschen zu zeigen. + +Während die Knaben diese Pläne schmieden, bleibt der Zug an einer +Station stehen, und eine Bäuerin, die ein kleines Kind an der Hand +führt, steigt in das Kupee. Sie ist schwarz gekleidet, trägt ein +Kopftuch und sieht gut und freundlich aus. Sie zieht dem Kleinen das +Überröckchen aus, das vom Regen naß geworden ist, und wickelt ihn in +einen Schal. Dann zieht sie ihm die Schuhe ab, trocknet die kalten +Füßchen, sucht aus einem Bündel Strümpfe und Schuhe hervor und legt sie +ihm an. Schließlich steckt sie ihm ein Bonbon zu und legt ihn auf die +Bank, den Kopf auf ihrem Schoße, damit er einschlafe. + +Bald wirft der eine, bald der andre Knabe einen Blick auf die Bäuerin, +die sich mit ihrem Kinde beschäftigt. Diese Blicke werden immer +häufiger, und plötzlich haben die Knaben, beide zugleich, Tränen in den +Augen. Nun sehen sie nicht mehr auf, sondern halten die Augen hartnäckig +niedergeschlagen. + +Es ist, als wäre zugleich mit der Bäuerin noch jemand anders, der für +alle, außer für die Knaben, unsichtbar und unmerkbar ist, in den Wagen +gekommen. Und dieser andre ist -- Mutter. Die Knaben haben das Gefühl, +daß sie gekommen sei und sich zwischen sie gesetzt und ihre Hände +ergriffen habe, wie sie es noch gestern abend tat, als es sich +entschied, daß sie reisen müßten; und sie spricht ebenso zu ihnen wie +damals: »Ihr müßt mir versprechen, daß ihr Vater meinetwegen nicht gram +sein werdet. Vater hat es mir nie verzeihen können, daß ich ihn +gehindert habe, fortzureisen. Er meint, daß es meine Schuld sei, wenn +nichts aus ihm geworden ist, und wenn er trinkt. Er kann mich nie genug +strafen. Aber ihr dürft ihm deshalb nicht böse sein. Da ihr jetzt mit +Vater leben sollt, müßt ihr mir versprechen, gut gegen ihn zu sein. Ihr +dürft ihn nicht reizen, ihr müßt auf ihn achten, so gut ihr könnt. Das +müßt ihr mir versprechen; sonst weiß ich gar nicht, wie ich euch ziehen +lassen soll.« + +Und die Knaben hatten es versprochen. + +»Ihr dürft euch nicht von Vater fortschleichen! Versprecht mir das!« +hatte Mutter gesagt. + +Das hatten sie auch versprochen. + +Die Knaben sind zuverlässig, und in demselben Augenblick, wo sie daran +denken, daß sie Mutter dieses Versprechen gegeben haben, lassen sie alle +Fluchtgedanken fahren. Vater schläft noch immer, aber sie bleiben +geduldig auf ihren Plätzen sitzen. Mit verdoppeltem Eifer fangen sie +wieder zu lesen an, und ihr Freund, der gute Jules Verne, führt sie bald +aus ihren Sorgen in die Wunderwelt Afrikas. + + * * * * * + +Weit draußen in der Södervorstadt hatte Vater zwei Zimmer zu ebner Erde +gemietet, mit der Aussicht in einen engen Hof. Die Wohnung ist schon +lange in Gebrauch, sie ist von einer Familie auf die andre übergegangen, +ohne je instand gesetzt zu werden. Die Tapeten haben eine Unmenge Risse +und Flecken, die Decken sind verrußt, ein paar Fensterscheiben sind +zerbrochen, und der Küchenboden ist so ausgetreten, daß er ganz holperig +geworden ist. Ein paar Dienstmänner haben die Möbel vom Bahnhof geholt, +sie in die Zimmer getragen und sie da kunterbunt stehen lassen. Vater +und Knaben sind jetzt dabei, auszupacken. Vater steht mit hocherhobner +Axt da, um eine Kiste zu öffnen. Die Knaben packen aus einer andern +Kiste Glas und Porzellan und stellen es in den Wandschrank. Sie sind +geschickt und arbeiten eifrig, aber Vater hört nicht auf, sie zur +Vorsicht zu mahnen, und verbietet ihnen, mehr als ein Glas oder einen +Teller auf einmal zu tragen. Inzwischen geht es mit Vaters eigner Arbeit +nicht recht vorwärts. Seine Hände sind zitterig und kraftlos, und er ist +schon ganz schweißbedeckt, ohne den Deckel von der Kiste losbekommen zu +können. Er legt die Axt nieder, geht um die Kiste herum und fragt sich, +ob sie vielleicht verkehrt stehe. Da nimmt einer der Knaben die Axt und +fängt an, sie anzustemmen, doch Vater stößt ihn fort. Lennart werde doch +nicht glauben, daß er den Deckel aufbringen könne, wenn Vater selbst es +nicht zustande bringe? »Nur ein geübter Arbeiter kann diese Kiste +öffnen,« sagt Vater und nimmt Hut und Rock, um den Hausknecht zu holen. + +Kaum ist Vater zur Türe hinaus, als ihm etwas einfällt. Er begreift +plötzlich, warum er keine Kraft in den Händen hat. Es ist noch früh am +Vormittag, und er hat nichts zu sich genommen, was das Blut in Umlauf +bringt. Wenn er in ein Café ginge und einen Kognak tränke, dann würde er +seine Kraft wiederfinden und könnte sich ohne fremde Unterstützung +behelfen. Das ist viel besser, als den Hausknecht zu holen. + +Vater geht also auf die Straße, um ein Café zu suchen. Als er in die +kleine Hofwohnung zurückkehrt, ist es acht Uhr abends. + +In Vaters Jugend, als er noch auf die Akademie ging, hatte er in der +Södervorstadt gewohnt. Er war damals Mitglied eines Doppelquartetts +gewesen, das hauptsächlich aus Kontoristen und kleinen Kaufleuten +bestand und in einem Keller in der Nähe von Mosebacke seine +Zusammenkünfte abzuhalten pflegte. Vater hatte nun Lust bekommen, +nachzusehen, ob dieser kleine Keller noch existiere. Er war wirklich +noch da, und Vater hatte das Glück gehabt, ein paar von den alten +Freunden zu treffen, die da saßen und frühstückten. Sie hatten ihn mit +größter Freude begrüßt, ihn zum Frühstück eingeladen und seine Ankunft +in Stockholm auf die herzlichste Weise gefeiert. Als die Mahlzeit +schließlich beendet war, hatte Vater heimgehen wollen, um seine Möbel +auszupacken; doch die Freunde hatten ihn überredet, zu bleiben und mit +ihnen zu Mittag zu essen. Und dies hatte sich so lange hinausgezogen, +daß Vater nicht vor acht Uhr nach Hause gekommen war. Und es hatte ihn +keine geringe Überwindung gekostet, sich zu so früher Stunde von der +lustigen Gesellschaft loszureißen. + +Als Vater heimkommt, sitzen die Knaben in der Dunkelheit, denn sie haben +kein Zündholz. Vater hat ein Zündholzschächtelchen in der Tasche, und +als er ein kleines Kerzenstümpfchen angezündet hat, das glücklicherweise +mitgekommen ist, sieht er, daß die Knaben erhitzt und verstaubt sind, +aber munter und vergnügt und augenscheinlich sehr zufrieden mit ihrem +Tag. + +In den Stübchen stehen die Möbel geordnet, die Kisten sind fortgeräumt, +Stroh und Papierschnitzel fortgekehrt. Hugo macht gerade im ersten +Zimmer die Betten für die Knaben. Das zweite Zimmer soll Vaters +Schlafstube sein, und da steht sein Bett, mit so viel Sorgfalt gemacht, +wie er sichs nur wünschen kann. + +Jetzt geht mit Vater ein eigentümlicher Umschwung vor. Als er heimkam, +war er mit sich selbst unzufrieden gewesen, weil er sich von der Arbeit +davongemacht und die Knaben ohne Speise und Trank zurückgelassen hatte. +Aber jetzt, wo er sieht, daß sie guter Laune sind, und daß ihnen nichts +abzugehen scheint, bereut er es, daß er ihrethalben seine Freunde +verlassen hat; er wird reizbar und streitsüchtig. + +Er sieht wohl, daß die Knaben stolz auf alle die Arbeit sind, die sie +geleistet haben, und daß sie erwarten, von ihm gelobt zu werden; aber +dazu ist er gar nicht geneigt. Er fragt vielmehr, wer dagewesen sei und +ihnen geholfen habe, und bittet sie, sich gefälligst zu merken, daß man +in Stockholm nichts geschenkt bekomme und der Hausknecht für alles, was +er täte, bezahlt werden müsse. Die Knaben antworten, daß sie keine Hilfe +in Anspruch genommen, sondern alles allein gemacht hätten, aber er hört +nicht auf, zu zanken. Es sei unrecht von ihnen gewesen, die große Kiste +zu öffnen. Sie hätten sich dabei etwas zuleide tun können. Er hätte +ihnen doch verboten, sie zu öffnen. Sie hätten jetzt ihm zu gehorchen. +Er sei für sie verantwortlich. + +Er nimmt die Kerze, geht in die Küche und leuchtet in die Schränke. Der +kleine Vorrat an Glas und Porzellan ist in guter Ordnung auf den +Brettern aufgestellt. + +Er prüft alles haargenau, um Anlaß zu weiterm Tadel zu finden. + +Plötzlich erblickt Vater ein paar Überreste des Abendbrots der Knaben +und beginnt sogleich zu zanken, weil sie Huhn gegessen haben. Woher sie +sich das verschafft hätten? Ob sie wie die Prinzen zu leben gedächten? +Ob sie sein Geld hinauswürfen, um Hühner zu essen? + +Dann fällt ihm ein, daß er ihnen ja kein Geld zurückgelassen hat. Er +fragt, ob sie das Huhn gestohlen hätten, und gerät ganz außer sich. + +Er spricht und ermahnt, zankt und tost, aber jetzt bekommt er von den +Knaben keine Antwort. Sie wollen ihm nicht sagen, woher sie das Huhn +haben, sondern lassen ihn austoben. Und er hält ganze Reden, ganze +Predigten, er erschöpft seine letzten Kräfte. Schließlich bittet und +bettelt er. + +»Ich beschwöre euch, sagt mir die Wahrheit! Ich will euch alles +verzeihen, was ihr auch begangen haben mögt, wenn ihr mir nur die +Wahrheit sagt.« + +Jetzt können es die Knaben nicht länger aushalten. Vater hört einen +prustenden Laut. Sie werfen die Decken ab und setzen sich auf, und er +merkt, daß sie vor unterdrücktem Lachen ganz rot im Gesicht sind. Und +während sie jetzt ungezügelt herauslachen, sagt Lennart, von beständigem +Kichern unterbrochen: »Mutter hat uns doch ein Hühnchen in den Eßkorb +gelegt, den sie uns auf die Reise mitgegeben hat.« + +Vater richtet sich auf, sieht die Knaben an, will sprechen, findet aber +keine passenden Worte. Er richtet sich noch majestätischer empor, sieht +sie mit tiefster Verachtung an und geht ohne weitres auf sein Zimmer. + + * * * * * + +Vater hat jetzt herausgebracht, wie geschickt die Knaben sind, und er +benützt dies, um ein Dienstmädchen zu ersparen. Morgens schickt er +Lennart in die Küche und läßt ihn Kaffee kochen, während Hugo den +Frühstücktisch deckt und Brot vom Bäcker holt. Nach dem Frühstück setzt +Vater sich auf einen Stuhl und sieht zu, wie die Knaben die Betten +machen, die Zimmer kehren und die Öfen heizen. Er gibt unaufhörlich +Befehle und kommandiert sie von einer Arbeit zur andern, nur um seine +Macht zu zeigen. Wenn das Morgenaufräumen vorüber ist, geht er aus und +bleibt den ganzen Vormittag weg. Das Mittagessen läßt er aus einer +benachbarten Kochschule holen. Dann läßt Vater die Knaben für den Abend +allein und verlangt von ihnen nichts andres, als daß sein Bett gemacht +sei, wenn er heimkommt. + +Die Knaben sind so fast den ganzen Tag allein und können sich +beschäftigen, womit sie wollen. + +Eine ihrer wichtigsten Arbeiten besteht darin, an Mutter zu schreiben. +Sie bekommen von ihr jeden Tag einen Brief, und sie schickt ihnen Papier +und Marken, damit sie ihr antworten können. + +Mutters Briefe enthalten hauptsächlich Ermahnungen, artig gegen Vater zu +sein. Sie schreibt immer, wie liebenswert Vater gewesen sei, als sie ihn +kennen lernte, und sie erzählt ihnen, wie hochstrebend und arbeitsam er +im Anfang seiner Laufbahn gewesen sei. Sie sollten zärtlich und +liebevoll gegen ihn sein. Sie dürften nie vergessen, wie unglücklich er +wäre. + +»Wenn Ihr so recht gut gegen Vater seid, dann hat er vielleicht Mitleid +mit Euch und läßt Euch wieder nach Hause zu mir kommen,« schreibt +Mutter. + +Mutter erzählt, daß sie beim Pfarrer und beim Bürgermeister gewesen sei, +um zu fragen, ob es nicht möglich wäre, die Knaben wieder zu bekommen. +Aber alle beide hätten ihr gesagt, daß es keinen Ausweg gebe. Die Knaben +müßten bei ihrem Vater bleiben. Mutter wolle gern nach Stockholm +übersiedeln, um ihre Jungen wenigstens ab und zu sehen zu können, aber +alle Menschen rieten ihr, sich zu gedulden und noch zu warten. Sie +glaubten, daß Vater die Knaben bald satt bekommen und sie wieder +heimschicken werde. Mutter wisse nicht recht, was sie tun solle. +Einerseits finde sie es schrecklich, daß ihre Knaben in Stockholm ohne +irgend jemand lebten, der sich ihrer annehme; und andrerseits wisse sie: +wenn sie ihr Heim verließe und ihre Anstellung aufgäbe, könnte sie sie +nicht bei sich aufnehmen und versorgen, falls sie frei würden. Aber zu +Weihnachten werde Mutter auf jeden Fall nach Stockholm kommen und nach +ihnen sehen. + +Die Knaben schreiben und erzählen, was sie den ganzen Tag tun, Stunde +für Stunde. Sie lassen Mutter wissen, daß sie Vater das Essen holen und +ihm das Bett machen. Sie begreift, daß sie sich bemühen, ihr zuliebe gut +gegen ihn zu sein, aber sie merkt, daß sie ihn nicht besser leiden +können als früher. + +Ihre kleinen Jungen scheinen immer einsam zu sein. Sie wohnen in einer +großen Stadt, wo es von Menschen wimmelt, aber niemand fragt nach ihnen, +niemand beachtet sie. Und vielleicht ist es noch am besten so. Wer weiß, +in was sie hineingeraten könnten, wenn sie irgendwelche Bekanntschaften +machten! + +Sie bitten sie immer, sich ihrethalben keine Sorgen zu machen. Sie +würden sich schon durchschlagen. Sie erzählen, daß sie sich die Strümpfe +stopfen und die Knöpfe annähen. Sie deuten auch an, daß Lennart mit +seiner Erfindung sehr weit gekommen sei, und sagen, daß alles gut sein +werde, sowie die fertig wäre. + +Aber Mutter lebt in beständiger Angst. Tag und Nacht sind ihre Gedanken +bei den Knaben. Tag und Nacht betet sie zu Gott, er möge über ihre +kleinen Söhne wachen, die einsam in einer großen Stadt leben, ohne +irgend jemand, der ihre Augen gegen die Lockungen der Verderbnis schützt +und ihre jungen Herzen vor der Lust zum Bösen bewahrt. + + * * * * * + +Vater und die Knaben sitzen eines Vormittags in der Oper. Einer von +Vaters früheren Kollegen, der der Hofkapelle angehört, hat ihn +eingeladen, der Probe zu einem Symphoniekonzert beizuwohnen, und Vater +hat die Knaben mitgenommen. Als das Orchester einsetzt und das Haus von +den Tonwellen erfüllt wird, gerät Vater in so heftige Bewegung, daß er +sich nicht beherrschen kann, sondern zu weinen anfängt. Er schluchzt, +schneuzt sich geräuschvoll und stöhnt ein Mal um das andre auf. Er legt +sich gar keinen Zwang mehr an, sondern wird so laut, daß die Spielenden +gestört werden. Ein Diener kommt und winkt ihm ab, darauf nimmt Vater +die Knaben bei der Hand und schleicht sich ohne ein Wort des +Widerspruchs hinaus, und den ganzen Heimweg hören seine Tränen nicht auf +zu fließen. + +Vater hat die Hände der Knaben in den seinen behalten und geht mit einem +Jungen an jeder Seite einher. Ganz plötzlich fangen auch die Knaben zu +weinen an. Sie verstehen nun zum ersten Male, wie Vater seine Kunst +geliebt hat. Es war entsetzlich für ihn gewesen, versoffen und verkommen +dazusitzen und andre spielen zu hören. Es war ein Jammer, daß er nicht +das geworden war, was er hätte werden sollen. Es war für Vater so, wie +es für Lennart wäre, wenn er seine Flugmaschine nie fertigbrächte, oder +für Hugo, wenn er keine Entdeckungsreise machen dürfte. Zu denken, daß +sie einmal als untaugliche Greise dasitzen und sich zu Häupten prächtige +Luftschiffe dahinbrausen sehen sollten, die sie weder erfunden hätten +noch lenken dürften! + + * * * * * + +Die Jungen sitzen eines Vormittags daheim und haben ihre Bücher vor +sich. Vater hat eine Notenrolle unter den Arm genommen und ist +ausgegangen. Er hat etwas davon gemurmelt, daß er eine Musiklektion zu +geben hätte, aber die Knaben haben sich keinen Augenblick einreden +lassen, daß dies die Wahrheit sei. + +Vater ist schlechter Laune, wie er so über die Straße geht. Er hat den +Blick bemerkt, den die Knaben wechselten, als er sagte, daß er zu einer +Musiklektion ginge. »Sie werfen sich zum Richter auf über ihren Vater,« +denkt er. + +»Ich bin zu nachsichtig gegen sie. Ich hätte jedem eine Ohrfeige geben +sollen. Sicherlich hetzt ihre Mutter sie gegen mich auf.« + +»Wie wäre es, wenn ich mich ein wenig nach den Herrchen umsähe?« fährt +er fort. »Es könnte gewiß nichts schaden, sich zu überzeugen, wie sie +ihren Studien obliegen.« + +Er kehrt um, geht rasch durch den Hof, öffnet ganz leise die Türe und +steht in dem Zimmer der Knaben, ohne daß einer von ihnen ihn hätte +kommen hören. Und richtig: die Knaben fahren mit ganz roten Köpfen auf, +und Lennart reißt ängstlich ein Bündel Papiere an sich, das er in die +Schreibtischlade wirft. + +Als die Knaben ein paar Tage in Stockholm waren, da hatten sie gefragt, +in welche Schule sie gehen würden, und Vater hatte geantwortet, mit +ihrem Schulbesuch sei es jetzt aus. Er würde versuchen, einen Meister zu +finden, der sie in die Lehre nehmen wollte. Dies hatte er jedoch nie ins +Werk gesetzt, und die Knaben hatten auch nicht weiter von ihrem +Schulbesuch gesprochen. Doch nach kaum einer Woche hing in dem Zimmer +der Knaben ein Stundenplan an der Wand. Schulbücher wurden +hervorgesucht, und jeden Vormittag saßen die Knaben an einem alten +Schreibtisch und machten Aufgaben. Es war offenbar: sie hatten einen +Brief von Mutter bekommen, der sie ermahnte, auf eigne Faust zu +arbeiten, um nicht alles zu vergessen, was sie gelernt hätten. + +Als Vater jetzt so unerwartet zu ihnen hereinkommt, geht er zuerst hin +und studiert den Stundenplan. Er zieht seine Uhr heraus und vergleicht. +Mittwoch von zehn bis elf: Geographie. Dann kommt er an den Tisch +heran. »Hättet ihr in dieser Stunde nicht eigentlich Geographie?« fragt +er. -- »Ja,« antworten die Knaben, flammend rot im Gesicht. -- »Aber wo +habt ihr das Geographiebuch und den Atlas?« -- Die Knaben werfen einen +Blick auf das Bücherbrett und sehen tödlich verlegen aus. »Wir haben +noch nicht angefangen,« sagt Lennart. -- »So, so,« sagt Vater. »Ihr habt +wohl etwas andres vor.« Und er richtet sich ganz vergnügt auf. Er hat +jetzt die Oberhand, und die will er behalten, bis er die Knaben +gründlich an die Wand gedrückt hat. + +Die beiden Knaben schweigen. Seit dem Tage, da sie mit Vater in die Oper +gingen, haben sie Mitleid mit ihm, und es hat ihnen nicht soviel +Überwindung gekostet wie früher, artig gegen ihn zu sein. Aber natürlich +haben sie keinen Augenblick daran gedacht, Vater ins Vertrauen zu +ziehen. Er ist in ihrem Ansehen nicht gestiegen, wenn er ihnen auch leid +tut. + +»Habt ihr einen Brief geschrieben?« fragt Vater mit seiner strengsten +Stimme. -- »Nein,« rufen die beiden Knaben wie aus einem Munde. -- »Was +habt ihr denn getan?« -- »Wir haben nur geplaudert.« -- »Das ist nicht +wahr! Ich habe gesehen, wie Lennart etwas in die Schreibtischlade +gesteckt hat.« -- Jetzt schweigen die beiden Knaben wieder. -- »Nehmt es +heraus!« ruft Vater, rot vor Zorn. Er glaubt, daß die Söhne an seine +Frau geschrieben hätten; und da sie ihm den Brief nicht zeigen wollten, +stünde natürlich etwas Häßliches über ihn darin. Die Knaben rühren sich +nicht, und Vater hebt die Hand, um nach Lennart zu schlagen, der vor der +Schublade sitzt. -- »Rühr ihn nicht an!« ruft Hugo. »Wir haben nur über +etwas gesprochen, was Lennart sich ausgedacht hat.« + +Hugo schiebt Lennart weg, reißt die Lade auf und zieht einen Bogen +Papier hervor, der mit Luftschiffen in den wunderlichsten Formen +vollgekleckst ist. »Lennart hat sich heute nacht ein neues Segel für +sein Luftschiff ausgedacht. Und darüber haben wir gesprochen.« + +Vater will ihm nicht glauben. Er beugt sich hinunter, durchsucht die +Lade, findet aber nichts andres als Bogen Papier, bedeckt mit +Zeichnungen, die Luftballons, Fallschirme, Flugmaschinen und alles andre +vorstellen, was zur Luftschiffahrt gehört. + +Zum größten Staunen der Knaben schleudert Vater dies alles nicht gleich +fort, er lacht auch nicht über ihre Versuche, sondern er betrachtet +Blatt für Blatt genau. Vater hat nämlich auch ein wenig Anlage zur +Mechanik; und er hat sich einstmals, als sein Hirn noch zu etwas taugte, +für solche Dinge interessiert. Bald beginnt er Fragen nach dem Zweck von +diesem und jenem zu stellen; und da seine Worte verraten, daß er großen +Anteil nimmt und das, was er sieht, versteht, bekämpft Lennart seine +Verlegenheit und antwortet ihm zuerst zögernd, doch allmählich mit immer +größerer Bereitwilligkeit. + +Bald sind Vater und die Knaben in eine tiefsinnige Diskussion über +Luftschiffe und Flugmaschinen vertieft. Nachdem sie so recht in Zug +gekommen sind, plaudern die Knaben unbefangen und teilen Vater alle ihre +Pläne und Träume mit. Und wenn Vater auch begreift, daß die Knaben mit +den Luftschiffen, die sie jetzt konstruieren, nicht weit fliegen können, +imponiert ihm die ganze Sache doch. Seine kleinen Söhne sprechen von +Aluminiummotoren, Aeroplanen und Gleichgewichtslagen wie von den +selbstverständlichsten Dingen. Er hat sie für rechte Dummköpfe gehalten, +weil sie in der Schule nicht gut vorwärts kamen. Jetzt scheint es ihm +mit einem Male, daß sie ein paar kleine Gelehrte seien. + +Und hochfliegende Gedanken und Hoffnungen, -- das versteht Vater besser +als irgend jemand. Er erkennt es wieder: er hat selbst so geträumt und +hat durchaus keine Lust, über solche Träume zu lachen. + +An diesem Vormittag geht Vater nicht mehr aus, sondern bleibt sitzen und +plaudert mit seinen Knaben, bis es Zeit ist, das Mittagessen zu holen +und den Tisch zu decken. Und da sind Vater und die Knaben zu ihrer +großen Überraschung richtig gute Freunde. + + * * * * * + +Es ist elf Uhr abends, und Vater taumelt durch die Straßen. Die kleinen +Jungen gehen neben ihm. Sie haben ihn im Wirtshaus gesucht und haben +sich dicht an die Tür gestellt, ohne ein Wort zu sagen. Vater saß allein +an einem Tisch, einen großen dunkeln Toddy vor sich, und hörte einer +Damenkapelle zu, die am andern Ende des Zimmers spielte. Nach einem +Weilchen war er unwillig aufgestanden und zu den Knaben hingegangen. +»Was soll das heißen?« hatte er gefragt. »Warum kommt ihr hierher?« -- +»Du solltest doch nach Hause kommen, Vater,« sagten die Knaben. »Es ist +doch der fünfte Dezember. Du hast ja versprochen -- -- --« + +Da hat sich Vater erinnert, daß Lennart ihm anvertraut hatte, heute sei +Hugos Geburtstag, und daß er versprochen hätte, beizeiten nach Hause zu +kommen. Aber das hatte er ganz vergessen. Hugo erwartete sich wohl ein +Geburtstagsgeschenk von ihm, aber er hatte nicht daran gedacht, eins zu +besorgen. + +Auf jeden Fall ist er mit den Knaben gegangen, und nun wandert er, +unzufrieden mit ihnen und mit sich selbst, die Straße entlang. Als er +heimkommt, steht der Geburtstagstisch gedeckt. Die Knaben haben es +festlich machen wollen. Lennart hat Kuchen gebacken, die jetzt ein paar +Stunden alt sind und wie Lappen aussehen. Sie haben von Mutter ein +bißchen Geld bekommen, und dafür haben sie Nüsse, Mandeln und eine +Flasche Himbeersaft gekauft. + +Alle diese Herrlichkeiten haben sie nicht allein genießen wollen, +sondern haben gewartet, daß Vater heimkomme und sie mit ihnen teile. +Nachdem sie sich nun mit Vater befreundet haben, können sie ein so +großes Fest nicht ohne ihn feiern. Vater versteht das schon. Es +schmeichelt ihm, daß sie sich nach ihm gesehnt haben, und in leidlich +guter Laune läßt er sich an dem Tisch nieder. Aber halb betrunken, wie +er ist, strauchelt er, als er Platz nehmen will, er hält sich an der +Tischdecke fest, fällt zu Boden und zieht alle Herrlichkeiten mit. Als +er wieder aufsteht, sieht er, wie der Himbeersaft über den Boden strömt +und Backwerk und Konfekt zwischen Scherben von Porzellan und Glas +verstreut liegen. + +Vater wirft einen Blick auf die langen Gesichter der Knaben, läuft zur +Türe hinaus und kommt nicht vor dem Morgengrauen heim. + + * * * * * + +An einem Vormittag im Februar gehen die Knaben mit Schlittschuhen über +der Schulter durch die Straße. Sie sind nicht recht dieselben. Sie sind +mager und blaß geworden und sehen ungepflegt und nachlässig aus. Ihr +Haar ist nicht geschnitten, sie sind nicht ordentlich gewaschen, und +Strümpfe und Schuhe zeigen Löcher. Wenn sie miteinander sprechen, +brauchen sie eine Menge Gassenjungenausdrücke, und es kommt auch vor, +daß ein Fluch über ihre Lippen gleitet. + +Es ist ein Umschwung bei den Knaben eingetreten, und dies schreibt sich +von dem Abend her, an dem Vater vergaß, heimzukommen und Hugos +Geburtstag zu feiern. Es war, als hätte sie bis dahin doch die Hoffnung +aufrecht erhalten, daß eine baldige Änderung in ihrem Schicksal +eintreten würde. In der ersten Zeit hatten sie darauf gerechnet, daß +Vater ihrer bald müde werden und sie wieder heimschicken würde. Dann +hatten sie sich eingebildet, Vater würde sie liebgewinnen und um +ihretwillen zu trinken aufhören. Ja, sie hatten sich gedacht, daß Mutter +und er sich versöhnen könnten, und daß sie alle glücklich sein würden. +Aber an jenem Abend wurde es ihnen klar, daß dies alles unmöglich war. +Vater konnte nichts andres lieben als das Saufen. Wenn er auch ab und zu +einmal gut gegen sie war, so machte er sich doch eigentlich nichts aus +ihnen. + +Und eine schwere Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich der Knaben. Nichts +könnte je anders werden. Sie würden nie von Vater loskommen. Sie hatten +das Gefühl, als wären sie verurteilt, ihr ganzes Leben lang in einem +dunkeln Gefängnis eingeschlossen zu sitzen. + +Nicht einmal ihre großen Pläne konnten sie trösten. Festgekettet, wie +sie hier saßen, könnten sie die ja nie zur Ausführung bringen. Da sie ja +doch nicht einmal etwas lernen durften ...! Sie kannten die Geschichte +der großen Männer gut genug, um zu wissen, daß jeder, der etwas +Bedeutendes leisten will, vor allem Kenntnisse braucht. + +Der härteste Schlag aber war gewesen, daß Mutter zu Weihnachten nicht zu +ihnen gekommen war. Zu Anfang des Dezembers war sie auf der Treppe +gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen, so daß sie während der +Weihnachtsferien im Krankenhaus liegen mußte und nicht nach Stockholm +reisen konnte. Jetzt war Mutter wohl auf, aber jetzt hatte auch ihre +Schule wieder begonnen. Überdies hatte sie kein Geld zur Reise. Alles, +was sie zusammengespart hatte, war während ihrer Krankheit +draufgegangen. + +Die Knaben fühlten sich von der ganzen Welt verlassen. Es war ganz klar, +daß es ihnen nie besser gehen würde, wie sehr sie sich auch anstrengten; +und darum hatten sie so allmählich aufgehört, sich mit dem zu plagen, +was ihnen langweilig schien. Sie konnten ja ebensogut etwas tun, was +ihnen Spaß machte. + +Manchmal betteten sie ihre Betten tagelang nicht auf, und sie hörten +ganz auf, die Zimmer zu kehren. Es kam ja auf eins heraus. Es besuchte +sie ja doch niemand, um nachzusehen, wie es ihnen ginge. + +Vater kam immer tiefer herunter. Er versuchte manchmal, sich +aufzurütteln und die Knaben zur Ordnung anzuhalten, aber das waren nur +ohnmächtige Anläufe. Er vergaß seine Befehle ebenso rasch, wie er sie +gegeben hatte. + +Die Knaben hatten auch angefangen, die Vormittagsarbeit zu +vernachlässigen. Niemand hörte ihnen die Aufgaben ab; und da hatte es ja +keinen Zweck, daß sie lernten. Es war jetzt seit ein paar Tagen gutes +Eis; so machten sie sich lieber Ferien und liefen Schlittschuh, solang +es Tag war. Auf dem Eise gab es auch immer eine Menge andre Jungen, und +sie hatten mit mehreren Bekanntschaft gemacht, die auch lieber +Schlittschuh liefen als daheim saßen und lernten. + +Heute nun ist ein so wunderschöner Tag, daß sie unmöglich im Zimmer +bleiben können. Es sind nur ein paar Grad Kälte, -- stille, hohe Luft +und klarer Sonnenschein. Es ist so herrliches Wetter, daß die Schulen +Eislaufferien gegeben haben. Die ganze Straße ist voll von Kindern, die +daheim waren, um ihre Schlittschuhe zu holen, und jetzt dem Eise +zueilen. + +Wie die Knaben so unter den andern Kindern einhergehen, sehen sie sehr +ernst und schwermütig aus. Kein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ihr +Unglück ist so groß, daß sie es keinen Augenblick vergessen können. + +Als sie aufs Eis kommen, herrscht dort Leben und Bewegung. Das Ufer ist +von einer dichten Menschenmenge umsäumt, weiter draußen schwirren die +Schlittschuhläufer durcheinander wie Ameisen, deren Haufen beschädigt +worden ist; noch weiter weg sieht man einzelne schwarze Punkte, die in +blitzschneller Fahrt dahingleiten. + +Die Knaben schnallen die Schlittschuhe an und mischen sich unter die +übrigen Läufer. Sie laufen sehr gut; und wie sie so in voller Fahrt über +das Eis schießen, bekommen ihre Wangen Farbe und die Augen Glanz, doch +nicht eine Minute sehen sie froh und sorglos aus wie andre Kinder. + +Auf einmal, als sie gerade eine Wendung zum Ufer machen, erblicken sie +etwas sehr Schönes. Ein großer Luftballon kommt aus der Richtung von +Stockholm und treibt zur Ostsee hin. Er ist rot und gelb gestreift; und +als die Sonne darauf fällt, leuchtet er wie eine Feuerkugel. Die Gondel +ist mit einer Menge bunter Fähnchen geschmückt, und da der Ballon nicht +sehr hoch fliegt, ist das lebhafte Farbenspiel sehr gut zu sehen. + +Als die Knaben den Ballon erblicken, stoßen sie einen Freudenschrei aus. +Es ist das erste Mal in ihrem Leben, daß sie einen großen Ballon durch +die Luft segeln sehen. Er ist viel schöner, als sie ihn sich vorgestellt +haben. Alle die Träume und Pläne, die in so vielen schweren Tagen ihr +Trost und ihre Freude waren, tauchen wieder auf, da sie ihn erblicken. +Sie bleiben stehen, um zu sehen, wie die Stricke und Leinen befestigt +sind, sie bemerken den Anker und die Sandsäcke an der Gondelkante. + +Der Ballon streicht mit scharfer Geschwindigkeit über die vereiste +Bucht. Alle Schlittschuhläufer, groß und klein durcheinander, stürzen +ihm lachend und rufend entgegen, als er sich zeigt, und eilen ihm dann +nach. Sie folgen ihm in einer langen geschwungnen Linie, wie ein +ungeheures Schlepptau. Und die Luftschiffer vergnügen sich damit, eine +Menge Papierchen in verschiednen Farben auszuwerfen, die langsam durch +die blaue Luft flattern. + +Die Knaben sind die vordersten in der langen Reihe, die dem Ballon +nachjagt. Sie eilen voran, den Kopf zurückgeworfen, den Blick nach oben +gerichtet. Zum ersten Male, seit sie von ihrer Mutter getrennt sind, +strahlen ihre Augen von Glück. Sie sind ganz außer sich vor Entzücken +über das Luftschiff und denken an nichts andres, als ihm solange zu +folgen wie nur möglich. + +Doch der Ballon treibt rasch dahin, und man muß schon ein guter Läufer +sein, um nicht zurückzubleiben. Die Schar, die ihm nachjagt, lichtet +sich, aber an der Spitze deren, die die Verfolgung fortsetzen, sind die +kleinen Knaben. Sie sind so eifrig, daß man auf sie aufmerksam wird. +Später sagten die Leute, es sei etwas eignes über ihnen gewesen. Sie +lachten nicht, sie riefen nicht, aber es ruhte ein Glanz der +Hingerissenheit auf ihren emporgewandten Gesichtern, als sähen sie eine +Vision. + +Der Ballon wirkt auf die Kleinen auch fast so wie ein himmlischer +Wegweiser, der käme, sie auf den rechten Pfad zurückzuführen und sie zu +lehren, ihn mit frischem Mut zu gehen. Wie die Knaben ihn erblicken, +schwellen ihre Herzen vor Sehnsucht danach, wieder an der großen +Erfindung zu arbeiten. Sie sind wieder gewiß, daß es ihnen gelingen +wird. Wenn sie nur ausharren, werden sie sich schon zum Siege +durchringen. Und der Tag wird kommen, da sie ihr eignes Luftschiff +besteigen und in den Raum hinaufschweben werden. Ja, eines Tages werden +sie dort oben hoch über den Menschen fliegen. Und ihr Luftschiff wird +weit vollkommner sein als dieses, das sie jetzt sehen. Es wird sich +lenken und drehen, senken und heben lassen, wird gegen den Wind und ohne +Wind gehen. Es wird sie durch Tage und Nächte tragen, wohin sie nur +wollen. Sie werden sich auf den höchsten Berggipfeln niederlassen, die +ödesten Wüsten durchfahren, die am schwersten zugänglichen Gegenden +erforschen. Sie werden alle Herrlichkeit der Welt sehen. + +»Wir dürfen es nicht aufgeben, Hugo,« sagt Lennart. »Es wird prächtig +sein, wenn wir nur fertig werden.« + +Vater und sein Unglück, -- das ist etwas, was sie gar nichts mehr +angeht. Wer ein so großes Ziel hat wie sie, kann sich wohl nicht von +etwas Erbärmlichem hindern lassen. + +Je weiter der Ballon kommt, desto größer wird seine Geschwindigkeit. Die +Schlittschuhläufer haben nun aufgehört, ihn zu verfolgen. Die einzigen, +die die Jagd fortsetzen, sind die kleinen Knaben. Sie eilen so rasch und +leicht dahin, als hätten sie Flügel an den Füßen. + +Plötzlich entringt sich den Menschen, die auf dem Lande stehen und weit +über die Bucht schauen können, ein Schrei des Entsetzens und der Angst. +Sie sehen, wie der Ballon, noch immer von den zwei Kindern verfolgt, dem +offnen Fahrwasser zugleitet. + +»Draußen ist offnes Wasser! Offnes Wasser!« So rufen die Menschen. + +Die Schlittschuhläufer unten auf dem Eise hören die Rufe und wenden ihre +Blicke der Mündung der Bucht zu. Sie sehen, daß weit draußen ein +Streifen Wasser in der Sonne glitzert. Sie sehen auch, daß zwei kleine +Knaben gerade auf diesen Streifen zulaufen, den sie nicht bemerken, +weil sie die Augen auf den Ballon geheftet haben, ohne sie auch nur +einen Moment zur Erde zu wenden. + +Man ruft mit aller Macht, man stampft auf das Eis, Schnelläufer eilen +dahin, sie aufzuhalten. Aber die Kleinen merken nichts von alledem, wie +sie so dem Luftschiff nachjagen. Sie wissen nicht, daß sie die einzigen +sind, die es verfolgen: sie hören keine Rufe hinter sich, sie vernehmen +nicht das Wogen und Brausen des offnen Wassers vor sich. Sie sehen nur +den Ballon, der sie gleichsam mitzieht. Schon fühlt Lennart, wie sein +eignes Luftschiff sich unter ihm erhebt, und Hugo schwebt über den +geheimnisvollen Gegenden des Nordpols dahin. + +Die Leute auf dem Eise und am Strande sehen, wie rasch sich die Knaben +dem offnen Wasser nähern. Ein paar Augenblicke herrscht eine so atemlose +Spannung, daß sie weder rufen noch ein Glied rühren können. Es liegt wie +eine Verzauberung über den beiden Kindern, die in ihrem wilden +Dahinstürmen nichts merken, die dem Tode zueilen, einer strahlenden +Himmelserscheinung nach. + +Die Luftschiffer oben im Ballon haben nun auch die kleinen Knaben +bemerkt. Sie sehen, daß sie in Gefahr sind, sie schreien ihnen zu und +machen warnende Gebärden, aber die Knaben verstehen sie nicht. Als sie +sehen, daß die Luftschiffer ihnen Zeichen machen, glauben sie, jene +wollten sie in die Gondel hinaufnehmen. Sie strecken die Arme zu ihnen +empor, überglücklich in der Hoffnung, ihnen durch den strahlenden Raum +folgen zu dürfen. + +In diesem Augenblick haben die Knaben den Wasserrand erreicht, mit +emporgewendeten, freudestrahlenden Gesichtern und aufgehobnen Armen +gleiten sie ins Meer und verschwinden ohne einen Hilferuf. Die +Schlittschuhläufer, die versucht haben, sie einzuholen, stehen ein paar +Sekunden später an der Eiskante, aber die Strömung hat die Körper unter +das Eis gezogen, und keine helfende Hand kann sie erreichen. + + + + +Der erste im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts + + +Es war am Neujahrsmorgen des Jahres 1900. Die Uhr zeigte fast die neunte +Stunde, aber im Kirchspiel Svartsjö in Wermland war es noch beinah ganz +dunkel. Die Sonne war noch nicht über die langgestreckten niedrigen +Waldfirste emporgestiegen. + +Gerade als die Glocke schlug, öffnete sich die Tür zum Pfarrhofe, und +der Pfarrer trat heraus, um in die Kirche zu gehen. Doch als er die +Treppe hinuntergegangen war, blieb er stehen, um auf jemand zu warten. +Er war ein junger und eifriger Mann; er stand da und stampfte den Schnee +wie ein ungeduldiges Pferd. + +Endlich zeigte sich seine Frau in der Tür. Sie war erstaunt, daß er sich +die Zeit genommen hatte, auf sie zu warten. »Das ist schön, daß du +gewartet hast,« sagte sie. -- »Nein,« antwortete der Mann und lächelte, +»das ist nicht schön. Ich möchte mit dir über etwas sprechen.« + +Die Glocken der Svartsjöer Kirchen begannen zu läuten, als er dies +sagte. Er trat näher an die Frau heran und fragte sie, ob sie höre, daß +gerade jetzt die Glocken in Löfwik am andern Ufer des Sees und dort +oben in Bro auch läuteten? + +»Es ist etwas Schönes um allen diesen Glockenklang,« sagte der Pfarrer. +-- »Ja,« sagte sie, »ja, so ist es.« -- »Hast du daran gedacht, daß sie +heute Nacht in jeder Kirche in ganz Wermland das neue Jahr eingeläutet +haben? Die großen Erzschlünde haben es in die dunkle Winternacht +hinausgerufen, von den kleinen Kapellchen in Finmarken gerade so wie vom +Domkirchenturm in Karlstad.« -- »Ja,« sagte sie, »daran hab ich auch +gedacht.« + +»Aber nicht nur in Wermland ...« sagte der Pfarrer. »In ganz Schweden +sind heute Nacht die Kirchenglocken erklungen, ja, auf einem großen Teil +der Erde.« -- »Ja, das wird schon so sein,« sagte die Pastorin und wußte +nicht recht, worauf der Mann hinauswolle. + +»Das neue Jahr, das heute Nacht geboren wurde, hat noch kaum etwas +andres erlebt als dies Glockengeläute,« fuhr der Pfarrer fort. »Zuerst +lag es ein wenig schlaftrunken und verschüchtert oben in den Wolken und +wiegte sich und konnte in der tiefen Finsternis gar nicht sehen, woher +es gekommen wäre. Da begegnete ihm der Glockenklang, der zu ihm +hinaufdrang: stark und volltönig aus den großen Städten, wo die Kirchen +einander nahestehen, schwächer und gleichsam rührend eintönig aus den +kleinen verstreuten Dorfkirchlein. Ich lag heute morgen da und dachte +daran, seit wir von dem Mitternachtsgottesdienste heimkamen. Als wir +nach der Kirche heimgingen, da hast du etwas gesagt, was mich nicht +schlafen ließ.« + +Die Frau wußte sofort, was er meinte. Auf dem Heimwege hatten sie von +der alten versperrten und versiegelten Truhe gesprochen, die Magister +Eberhard Berggren vor achtzig Jahren in die Svartsjöer Kirche gestellt +hatte, mit der Vorschrift, daß sie nicht vor dem Neujahrstag des Jahres +neunzehnhundert eröffnet werden dürfe. Die Frau hatte gesagt, sie finde +es unrecht, daß sie jetzt hervorgenommen und geöffnet werden solle. +Jedermann wußte ja, daß die Truhe nichts andres enthielt als Schriften +des Unglaubens und der Gottesleugnung. + +Doch der Pfarrer hatte gemeint, wenn das Kirchspiel einmal die Truhe in +seine Obhut genommen und versprochen hätte, Magister Eberhards Willen zu +erfüllen, so könnte man nicht umhin, sie zu eröffnen. Niemand wüßte ja +auch so recht, was eigentlich darin wäre. + +»Ich habe gehört, daß der alte Eberhard ein Gottesleugner war,« hatte +die Frau geantwortet. -- Ja, das hatte der Pastor auch gehört. -- »Wär +ich du,« beharrte die Pastorin auf ihrer Meinung, »ich würde erwirken, +daß die Gemeinde beschlösse, die Truhe stehen zu lassen, wie sie steht.« +-- »Nein, aber Frau,« fiel da der Pfarrer ein, »willst du mich +vielleicht glauben machen, daß dieser alte Ekebykavalier imstande sein +könnte, auch nur einen einzigen Menschen in seinem Gottesglauben zu +erschüttern?« + +Das hatte die Pastorin zugegeben. Sie glaubte nicht, daß die Schriften +gefährlich seien, aber sie meinte, es sei häßlich, daß sie durch einen +christlichen Geistlichen und seine Gemeinde ans Licht gezogen werden +sollten. Es läge etwas Anstößiges darin. Er könnte seinen Pfarrkindern +doch wenigstens vorschlagen, die Truhe uneröffnet zu lassen. + +»Aber es ist eines toten Mannes Wille,« hatte der Pfarrer geantwortet; +und als die Frau sah, daß sie sich nicht einigen konnten, hatte sie +geschwiegen. + +Als ihr nun der Mann sagte, daß ihre Worte ihn so früh am Morgen geweckt +hätten, da wurde sie sehr froh und fragte sogleich, ob er zu ihrer +Meinung übergegangen sei. + +»Das wird davon abhängen, was ich dich jetzt fragen will.« -- »Ja, ich +werde dir gewiß nicht meine Zustimmung geben, diese Truhe zu öffnen.« -- +Der Pfarrer lachte. -- »Dessen sollst du nicht so gewiß sein,« sagte er. + +»Ich erwachte sehr früh,« fuhr der Pfarrer fort, »und rieb sogleich ein +Zündhölzchen an. Die Glocke schlug drei, und das erste, was ich dachte, +war, daß heute Nacht das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen ist, +und daß wir jetzt neunzehnhundert schreiben. Und dabei mußte ich an den +Glockenschlag denken, der die Nacht erfüllte, und an das neugeborne +Jahr, das da lag und lauschte. Wie ich so im Halbschlummer lag, sah ich +deutlich vor mir, daß das alte Jahr irgendwo im fernen Osten auf einem +Scheiterhaufen verbrannt worden war, und das neue Jahr war aus der +Asche hervorgekrochen und hatte die Flügel ausgebreitet und war +ausgezogen, die Welt in Besitz zu nehmen. Jetzt wiegt es sich wohl in +dem Glockenklange der Klöster und Kirchen Palästinas, dachte ich. Es +braucht die Flügel gar nicht zu bewegen, dachte ich weiter. Es hält sie +nur ausgespannt, und dann kommen die Tonwellen und ergreifen es und +wiegen es von einem Land zum andern. Ja, es liegt nur da und wiegt und +schaukelt sich. In der Dunkelheit weiß es gar nicht, wohin es kommt. +Alles, was es vernimmt, ist Glockenklang, und vielleicht noch +Kirchengesang, Orgelton und die Schritte derer, die zur Christmette +wandern. + +»Das neue Jahr wird fühlen, daß es über heiliger Erde schwebt,« dachte +ich. Und ich fühlte mich ganz gerührt, wie ich da lag. Jetzt ist es über +die Sankt Peterskirche in Rom gewiegt worden, und dann ist es über die +Alpen nach Deutschland hinaufgeflattert. Später am Tage wird es bis zu +uns heraufschweben. + +»Aber während ich so sann, wurde mir ganz weich zumute, und da kamen +deine Worte mir wieder in den Sinn. Wenn also das neue Jahr über +Wermland und Svartsjö geschwebt käme, dann sollte es hier einen Priester +und seine Gemeinde sehen, die eine Truhe mit Schriften des Unglaubens +öffneten. Und es schien mir sehr traurig, daß es so etwas schauen +sollte, nach allem dem Schönen, das es bisher erlebt hat. In Rom bei den +Katholiken hatte es den Papst die heilige Pforte öffnen und das Jubeltor +einweihen sehen, und hier oben im Norden sollte es uns den Riegel +eröffnen sehen, der Zweifel und Gottesleugnung einschloß. Das neue Jahr +wird eine zu schlechte Meinung von uns bekommen,« sagte ich. »Es geht +einfach nicht an, diese Truhe zu öffnen.« + +»Siehst du wohl! Ich wußte, daß du zu meiner Partei übergehen würdest,« +sagte die Pastorin. + +»Es hat nicht viel daran gefehlt,« sagte der Pfarrer; »aber gleich +darauf stand es mir wieder vor Augen, wie unmöglich es sei, gegen eines +toten Mannes Willen zu handeln. Ja, es war unmöglich, -- das eine wie +das andre: die Truhe zu öffnen wie sie geschlossen zu lassen. Und ich +begann mich zu fragen, ob es denn keinen Ausweg gäbe. Wenn man eine +Sache nur lange genug überdenkt, pflegt man schließlich doch +herauszufinden, was das Rechte ist. Ich lag da und grübelte stundenlang. +Ich dachte alles durch, was ich vom Magister Eberhard Berggren wußte, um +Klarheit darüber zu gewinnen, was er in diese Truhe gelegt haben +mochte.« + +»Hast du es also herausgebracht?« + +»Ich glaube wohl, daß ich es herausgebracht habe, aber ich will auch +deine Meinung hören.« + +»Die kennst du schon,« sagte die Frau eigensinnig. + +»Das sollst du nicht so bestimmt sagen,« meinte der Pfarrer. »Du +solltest zuerst versuchen, dich in die Sache hineinzudenken. Du solltest +versuchen, dich in Magister Eberhards Gedanken zu versetzen. Das hab ich +heute morgen getan. Wenn du nun ein alter Mann wärst, sagte ich zu mir +selbst, wenn du Magister Eberhard Berggren wärst, ein alter gelehrter +Mann, der nicht an Gott glaubte! Ich versuchte mir einzubilden, daß ich +mein ganzes Leben am Schreibtisch verbracht hätte, ohne Unterlaß denkend +und schreibend. Ich dachte mir, ich hätte Jahr für Jahr in einer Ecke +des Kavalierflügels auf Ekeby gesessen, mit Büchern und Papieren rings +um mich, -- und Leben und Scherz, Sang und Spiel wären durch die Räume +erbraust, aber ich hätte ganz still und stumm hinter einer Mauer von +Büchern gesessen und gearbeitet. + +»Und dann dachte ich mir weiter, daß ich nach vielen, unendlich vielen +und langen Jahren endlich mit meiner Arbeit fertig geworden wäre. Und +ich hätte ihr alle meine Lebenskräfte geopfert. Ich wäre alt und müde +geworden, und in letzter Zeit hätte ich auch angefangen zu kränkeln. Ich +hätte zuweilen brennende Schmerzen in der rechten Seit gespürt, in der +Gegend der Leber, obgleich ich mir gar nicht die Zeit genommen hätte, +mich darum zu bekümmern. Ja, ich hätte wohl gar nicht daran gedacht, was +das Werk mich gekostet hätte: ich wäre nur glücklich gewesen, es +vollendet zu haben. + +»Ich wäre auch natürlich ganz überzeugt gewesen, daß alles ganz +vollkommen sei, daß nichts fehle. Allen andern Philosophen hätte man +irgendeine Lücke im Gedankengang nachgewiesen, aber so etwas könnte mir +nicht passieren. Ich hätte meine eigne Philosophie gefunden, und die sei +ganz ohne Makel. Sie sei sicher und fest vom Grunde bis zur Turmspitze. + +»Ja, ich versuchte mich noch weiter in die Sache hineinzudenken,« fuhr +der Pfarrer fort. »Wenn ich nun mein Buch fertig hätte, was würde ich +damit anfangen? Es wäre ja das allereinfachste, es gleich in die +Druckerei zu schicken. Aber wenn ich solch ein alter Mann wäre, würde +ich mir die Sache sicherlich überlegen. Ich würde sie mir deshalb +überlegen, weil ich sehr wohl wüßte: sobald meine Philosophie bekannt +würde, könnte niemand ihr widerstehen. Alle Menschen würden dann auf +einmal aufhören, an Gott zu glauben; und die Hoffnung auf ein ewiges +Leben würden sie gleichfalls verlieren. Und ich müßte mir doch sagen, +daß eine ganze Menge von jenen, die ich gekannt und geliebt, dies als +ein großes Unglück empfinden würde. Die Menschen sind schwach, würde ich +mir selbst sagen, sie können die Wahrheit nicht ertragen. Und so +allmählich würde ich dahin kommen, daß ich den Entschluß faßte, mein +Buch zu verwahren und es erst einige Zeit nach meinem Tode an den Tag +kommen zu lassen. Wenn ich es bis zum Jahre neunzehnhundert verwahrte, +dann müßte wohl ein neues Geschlecht herangewachsen sein, das das Licht +der Wahrheit besser ertragen könnte. Ich glaube, es wäre gar nicht +unmöglich, daß ich einen solchen Entschluß fassen würde, wenn ich solch +ein alter Mann wäre,« sagte der Pfarrer und sah seine Frau an, ihrer +Zustimmung gewiß. + +»Ach nein,« antwortete sie, »so ganz unmöglich wäre das wohl nicht.« + +»Wie ich so in der Dunkelheit dalag, glaubte ich sein Leben ganz zu +durchleben,« fuhr der Pfarrer fort. »Wo sollte ich nun fürs erste das +Manuskript hinterlegen? In einem der Herrenhöfe könnte ich es nicht +aufbewahren. Die sind alle aus Holz; früher oder später könnten sie +verbrennen, und dann wäre meine Arbeit verloren. Und wenn ich es in +einen Keller legte, dann würde die Feuchtigkeit es ebenso sicher +zerstören, wie es nur je das Feuer vermöchte. + +»Nein, der einzige sichere Aufbewahrungsort, den ich mir denken könnte, +wäre wohl eine der Kirchen in Bro oder Svartsjö, die aus Stein erbaut +sind. Nun muß ich sagen: wenn ich ein solcher alter Heide wäre, dann +würde ich wohl eine gewisse Abneigung dagegen empfinden, meine Arbeit in +einer Kirche aufzubewahren. Aber ich würde mich schon bald mit dem +Gedanken trösten: wenn ich so sicher weiß, daß es keinen Gott gibt, kann +ich meine Arbeit schließlich ebenso gut in eine Kirche legen wie in +irgendein andres Gebäude. + +»Ja, den Tag, an dem ich alles fertig hätte, so daß ich meine große +Dokumententruhe in den Schlitten legen und mit ihr nach Svartsjö fahren +könnte, würde ich sicherlich als einen großen Festtag ansehen. Denn ich +glaube, wenn ich ein so alter umsichtiger Mann wäre, würde ich meine +Truhe lieber in Svartsjö verwahren als in Bro, weil der Vikar in +Svartsjö ein viel nachgiebigerer Mann war als der Propst in Bro. Ja, +wahrhaftig, -- wäre ich nicht vergnügt an diesem Wintertage, wenn ich +bei guter Schlittenbahn mit einem flinken Pferde von Ekeby fortführe? +Wenn ich auch in den letzten Tagen jene innerlichen Schmerzen gespürt +hätte, so wüßte ich doch ganz genau, daß sie an einem Tage wie diesem +ganz wie fortgeblasen wären. Ich würde nur dasitzen und denken, welche +Wirkung es haben müßte, wenn mein Buch einmal in die Welt hinauszöge, +und wie berühmt mein Name da auf einmal sein würde. Das ganze Jahr +neunzehnhundert würden die Menschen von niemand anders sprechen als von +Eberhard Berggren. + +»Aber obgleich ich so stolze Gedanken hätte, während ich so über die +Straße kutschierte, würde ich doch einen Wandrer bemerken, der mit dem +Ränzel auf dem Rücken und einem großen Bügeleisen in der Hand am +Wegesrand ginge. Und ich würde zu mir selbst sagen: Sieh da! Da geht der +alte lustige Schneider Lilje! Der arme Teufel muß das Ränzel und das +Bügeleisen schleppen. Ich will ihn doch fragen, ob er nicht ein Stück in +meinem Schlitten fahren will. + +»Und nun stelle ich mir dies vor: wenn Schneider Lilje das Bügeleisen +und das Ränzel in den Schlitten gelegt und sich selbst auf die Kufen +gestellt hätte, würden er und ich bald ins Gespräch kommen. + +Schneider Lilje würde fragen, wohin ich denn mit der schönen Truhe +wolle, und ich würde es nicht lassen können, ihm zu erzählen, was darin +sei. >Sieht er, Lilje,< würde ich wohl sagen, >diese Truhe enthält das +große Buch, das ich geschrieben habe, und jetzt fahre ich damit zur +Svartsjöer Kirche und verwahre es dort. Wir wollen die Truhe versperren +und versiegeln, der Pfarrer und ich; und niemand darf sie vor dem Jahre +neunzehnhundert öffnen.< + +»Aber nun würde es mir auffallen, daß Lilje die ganze Zeit still bliebe, +und er pflegte doch sonst keine Minute lang schweigen zu können, und +dies würde mich so verwundern, daß ich schließlich fragen müßte: >Was +ist denn in ihn gefahren, Lilje, woran denkt er denn?< Und siehst du, +Frau, wenn Lilje dann antwortete, daß er sich überlege, ob er mich um +etwas bitten dürfte, dann würde ich ihm gleich die Erlaubnis geben, frei +von der Leber weg zu sprechen. + +»Wahrscheinlich hätte ich in diesem Augenblicke nicht sehr auf Liljes +Geschichte aufgepaßt, aber später würde ich mich doch an jedes Wort +davon erinnern können. Ich würde mich erinnern, daß Lilje sagte, er habe +vor ein paar Tagen einen Landstreicher getroffen, der sterbend am +Wegesrande lag. Dieser Mann habe Lilje gebeten, ein kleines Päckchen, +das er ihm reichte, in Verwahrung zu nehmen. Er habe ihm aufgetragen, es +irgendwo aufzuheben, wo niemand es finden könnte. Er dürfte es nicht +vernichten. Und wenn er so alt würde, daß alle, die jetzt lebten, tot +wären, dann dürfte er es öffnen, sonst sollte er es einem andern zur +Aufbewahrung anvertrauen. Und Lilje habe es nicht übers Herz gebracht, +einem Sterbenden seine letzte Bitte abzuschlagen, und habe das Päckchen +entgegengenommen. + +»Nun, wenn mir Lilje all dies erzählt hätte, dann würde ich natürlich +gesagt haben: >Es ist schon gut, Lilje, ich versteh, wo er hinaus will. +Er darf das Päckchen hier in meine Truhe legen.< + +»Und ich hätte das Pferd angehalten und die Truhe geöffnet, und wir +hätten Liljes Päckchen hineingetan. Ich hätte der Sache so wenig Gewicht +beigelegt, daß ich es kaum angeschaut hätte. Aber nachher würde ich es +wohl oft vor Augen gesehn haben. Es war ein blaues Kuvert ohne Adresse, +ohne ein geschriebnes Wort. Es sah aus, als enthielte es Papiere, aber +sonst konnte man in keiner Weise erraten, was für Geheimnisse es bergen +mochte. + +»Ja,« sagte der Pfarrer, »heute morgen versetzte ich mich in die ganze +Sache hinein und fand es ganz natürlich, daß alles so zugegangen wäre, +und stellte mir auch vor, daß ich, nachdem Lilje bei einem Kreuzweg aus +dem Schlitten gestiegen wäre, wohl gar nicht weiter an ihn gedacht, +sondern nur in Gedanken mein Buch noch ein letztes Mal durchgegangen und +gefunden hätte, daß alles darin makellos und vollendet sei, und daß kein +Wort geändert zu werden brauche.« + +»Ja, wenn ich in Eberhard Berggrens Haut gesteckt hätte, wäre ich auch +nach der Ankunft in Svartsjö und während die Truhe versperrt und +versiegelt wurde, in derselben fröhlichen Laune gewesen. Aber wenn mir +dann der Pfarrer in Svartsjö gesagt hätte, dies könne ja jederzeit +wieder rückgängig gemacht werden, falls es mich reuen sollte, dann hätte +ich vielleicht etwas heftig geantwortet, weil es mich geärgert hätte, +daß er glaubte, ich hätte mir nicht genau überlegt, was ich tat. >Nein, +Bruder, hier kann keine Reue in Frage kommen,< hätte ich wohl +geantwortet. >Aber eines verspreche ich dir, Bruder: wenn dein Gott mich +zwingen kann, diese Truhe zu öffnen, dann will ich alles vernichten, was +ich gegen ihn geschrieben habe.< + +»Und wenn dann der Pfarrer in Svartsjö mich ermahnt hätte, Ihn nicht +herauszufordern, der stärker sei als ich, dann hätte ich erwidert, daß +ich nur jemand herausforderte, der bloß in der Einbildung der Menschen +existierte. + +»Glaubst du nicht, daß ich ganz so geantwortet hätte, wenn ich der +Magister Eberhard gewesen wäre?« fragte der Pfarrer und sah die Frau +noch einmal Zustimmung heischend an. + +»Ach ja,« antwortete die Frau und nickte, »das glaube ich schon. Du bist +ja schon völlig so wie der alte Eberhard.« + +»Ja, darum handelt es sich eben,« sagte der Pfarrer. »Man muß ganz eins +mit dem Manne sein, den man beurteilen soll. Sonst kann man nicht zur +Klarheit kommen.« + +»Und glaubst du nun nicht,« fuhr er fort, »glaubst du, die du mich +kennst, nicht, daß ich mich, wenn ich Eberhard Berggren gewesen wäre, in +demselben Augenblick, wo ich mich in den Schlitten setzte, um nach Ekeby +zurückzufahren, -- daß ich mich da nicht tief unglücklich gefühlt hätte? +Glaubst du nicht, daß ich eine ganz furchtbare Sehnsucht nach meiner +Arbeit empfunden hätte? Obgleich ich mir ja sagen müßte, daß es ein +Glück sei, fertig zu sein, wäre ich doch furchtbar niedergeschlagen +gewesen. Und glaubst du nicht, daß plötzlich das Alter über mich +gekommen wäre, und daß die Krankheit, die ich bis dahin durch meinen +Willen hatte unterjochen können, mir jetzt so arg zugesetzt hätte, daß +ich mich kaum aufrecht zu erhalten vermochte, bis ich zu Hause anlangte. +Nicht wahr, glaubst du nicht auch, daß es so gekommen wäre?« + +»Ich kann nicht recht wissen, was ich glauben soll,« sagte die Frau, +»aber ich denke schon, daß deine Arbeit dir gefehlt hätte.« + +»Ja,« sagte der Pfarrer, »dies alles stellte ich mir heute morgen so +vor. Ich wußte, daß ich nicht nur mein Buch vermissen, sondern daß ich +auch furchtbar krank werden würde. Das Übel würde mit so furchtbarer +Kraft über mich hereinbrechen, weil solch ein alter Mann, wie ich es +wäre, jetzt gar nichts mehr hätte, womit er es zurückdrängen könnte, +nichts, wofür er leben müßte, und so bliebe mir nichts anderes übrig, +als mich hinzulegen und auf den Tod zu warten. + +»Du wirst wissen, daß es damals hier im Ort keinen Arzt gab; aber +irgendeine weise Frau wäre wohl gerufen worden, und sie hätte die +Krankheit erkannt und gesagt, es sei Krebs. Und merkwürdigerweise wäre +dies fast als ein Glück angesehen worden; denn damals glaubte man gar +nicht, daß diese Krankheit unbedingt zum Tode führen müsse. Es gab +nämlich eine alte Familie -- Amnérus hieß sie wohl --, und die besaß ein +Rezept, das den Krebs heilen konnte. Es wurde als ein großer Schatz +betrachtet, streng geheim gehalten und vererbte sich wie ein Majorat in +der Familie. + +»Und nun kannst du dir wohl denken: Frau, wenn ich ein alter kranker +Mann wäre, würde ich den ersten Tag benützen, an dem mir so wohl wäre, +daß ich in einem Schlitten sitzen könnte, um zu diesen Leuten mit Namen +Amnérus zu fahren, die das Rezept besäßen und Heilung für die +furchtbaren Qualen hätten. + +»Nun denke ich mir also, siehst du, Frau, daß ich bei der Familie +Amnérus angefahren käme. Sie wohnten tief drinnen im Walde. Es gab keine +Felder, keinen Garten, sondern der Wald stand bis dicht ans Haus heran. +Und die Menschen dort waren klein und lichtscheu und trugen +altväterische Kleider und hatten dünne, piepsende Stimmen. + +»Ich denke, es würde mir sogleich auffallen, wie erschrocken sie +aussähen, da sie mich erblickten. Ich würde zuerst gar nicht begreifen, +warum sie davonlaufen zu wollen schienen, wenn ich mein Anliegen +vorbrächte. Aber bald würde die Reihe, Angst zu haben, an mir sein. Denn +ich würde erfahren, daß der Grund ihres Schreckens der sei, daß sie das +Rezept nicht mehr hätten. Ja, was glaubst du, Frau, würde wohl ein armer +Kranker fühlen, wenn er hörte, daß dieses Rezept ihnen von einem Knecht +gestohlen sei, der in ihrem Dienst gestanden hätte, und sich aus +irgendeinem Grunde an ihnen rächen wollte? Was würde ein Todkranker, +der Linderung und Besserung erwartet hätte, denken, wenn sie die +Geheimlade des Sekretärs herauszögen, wo sie das Rezept zu verwahren +pflegten, und ihm zeigten, daß sie leer sei. Ja, sie sei leer; sie +hätten keine Macht mehr über die Krankheit. + +»Natürlich würde der Kranke sie fragen, ob sie denn die Mischung nicht +so gut kennten, daß sie sie ohne Rezept zu bereiten vermöchten. Aber das +wäre nicht der Fall. Niemand von ihnen kennte das Heilmittel; denn die +Sache wäre so strenge geheimgehalten worden, daß immer nur eine Person +sich hätte damit befassen dürfen. Und die unter den Schwestern, die die +Bereitung des Heilmittels gekannt hätte, wäre an dem Tage, bevor es +gestohlen worden, gestorben. Der Dieb hätte sich gerade diesen Zeitpunkt +ausgewählt, sonst hätte er ja keinen Schaden gestiftet. Aber wo der Dieb +sich jetzt befände, das wüßten sie nicht. Es wäre ein versoffener wilder +Geselle gewesen, vielleicht wäre er schon bei irgendeiner Schlägerei ums +Leben gekommen. Nur eines wüßten sie sicher, daß er das Rezept genommen +hätte. Denn ehe er fortgegangen wäre, hätte er den Mägden ein blaues +Kuvert gezeigt und sich gerühmt, daß die Herrschaft ihn noch vermissen +würde. + +»Und nun weiß ich ganz gewiß: wenn ich solch ein kranker Mann gewesen +wäre, ich würde, wenn ich dies von dem blauen Kuvert gehört hätte, kein +Wort weiter gefragt haben, sondern wäre aus dem Zimmer gegangen, hätte +mich in den Wagen gesetzt und wäre davongefahren. + +»Ja, nur davongefahren, Frau, um allein zu sein und die Sache mit mir +selbst durchzudenken. Dieses blaue Kuvert, dieses blaue Kuvert, ich +würde natürlich sogleich wissen, wo es wäre. Und ich hätte doch erst +einige wenige Tage zuvor gesagt: >Wenn dein Gott mich zwingen kann, +diese Truhe zu öffnen, dann -- --< Nein, nein, es wäre nicht zugänglich, +dieses Rezept, ohne daß meine ganze Lebensarbeit vernichtet würde. Aber +in dieser Arbeit lebte Eberhard Berggren in Jugend und Klarheit; was +sonst auf Erden von ihm übrig wäre, das sei nur ein abgelebter Greis. In +früheren Tagen hätte Eberhard Berggren seine Arbeit höher geschätzt als +Freude und Lust und Liebe. Und dann würde ich wohl die Fäuste ballen und +denken -- --« + +Der Pfarrer trat dicht an seine Frau heran. »Du, die du mich kennst, -- +was, glaubst du, hätte ich beschlossen, wenn ich solch ein alter Mann +wäre? Bedenke, daß ich felsenfest glauben würde, daß mein Buch das beste +und weiseste Buch sei, das je geschrieben wurde, und bedenke, daß ich +glauben würde, daß das Rezept mich unfehlbar gesund machen könne. Sage, +wie glaubst du, daß ich gehandelt hätte?« + +»Ich glaube wohl, du hättest dich dafür entschieden, für dein Buch zu +sterben,« sagte die Frau. + +»Ja,« sagte der Pfarrer, »ich hätte die Fäuste geballt und gedacht, daß +ich dieses Rezept ja gar nicht so notwendig brauchte, -- ich könnte ja +sterben. Und glaubst du auch, daß ich an meinem Vorsatze festgehalten +hätte?« + +»Ich weiß nicht,« sagte die Pastorin, »ich kenne dich nicht gut genug. +Wenn es sich nur um den Tod gehandelt hätte. Aber nun waren da ja auch +die Schmerzen.« + +»Ich hätte innerlich gekämpft,« sagte der Pfarrer, »und in den ersten +Tagen wäre die Krankheit sogar ein wenig zurückgewichen, weil ich den +festen Entschluß gefaßt hätte, sie ihr Schlimmstes tun zu lassen. Aber +nach ein paar Wochen hätte sie mich mit erneuter Kraft überfallen, und +man hätte mir oben im Kavaliersflügel wieder ein Lager gebettet, und da +hätte ich einsam gelegen, den ganzen Tag lang, und hätte mit den +Schmerzen gekämpft. + +»Und ich glaube wohl, wenn ich solch ein alter, unerschütterlicher Mann +gewesen wäre, dann hätte ich zuweilen ganz gegen meinen Willen die +Vorstellung gehabt, daß ich gegen Gott kämpfte. Ich hätte den Gedanken +von mir gewiesen. Ich hätte gedacht, daß ich nicht mit jemandem kämpfen +könne, der gar nicht da wäre. Es sei doch ein bloßer Zufall, würde ich +sagen, daß ich Lilje mit dem Rezepte begegnet sei. Es sei durchaus keine +lenkende Vorsehung, die ihn mir geschickt hätte. Es gäbe keine +Vorsehung, und so könne sie auch nichts schicken. + +»Aber einmal ums andre würde mir die Vorstellung kommen, daß ich daläge +und mit unserm Herrgotte ränge. Vielleicht würde es mancher als Milde +und Gnade betrachten, daß du mich wissen ließest, wo das gestohlene +Rezept zu finden sei. Der Dieb hätte es ja ebensogut vernichten können. +Du willst wohl, daß ich es als eine sonderliche Gnade ansehe, daß es in +Liljes Hände kam. Aber ich wünsche, es wäre vernichtet worden. Ich sehe +es nicht als eine Gnade an, daß ich weiß, wo es zu finden ist. Ich +betrachte es -- -- Ja, und dann würde ich mich wieder erinnern, daß ich +in meinem Buch doch ganz unwiderleglich bewiesen hätte, daß es keinen +Gott gebe, und würde den Zwist abbrechen. + +»Ich denke, es muß eine große Versuchung, eine furchtbare Versuchung für +den alten kranken Magister Eberhard gewesen sein: nur ein Wort an den +Pfarrer in Svartsjö, und er hätte das Heilmittel in seiner Hand! Glaubst +du nicht, daß er um dieser Versuchung willen die Qualen noch tausendmal +verschärft empfand? Es handelte sich um einen furchtbaren Preis; aber +wer wirklich krank ist, fragt wohl nach nichts anderm als nach der +Gesundheit. + +»Doch immerhin -- wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, ich hätte +versucht, auszuharren; hätte versucht, Gott und den Menschen zu zeigen, +was Manneskraft vermag. + +»Aber am schlimmsten wäre es an dem Tage gewesen, an dem Schneider Lilje +auf den Hof gekommen wäre. Da wären die Qualen so furchtbar gewesen, daß +ich in jeder Stunde meinen Tod erwartete. Und da wäre mir wohl der +Gedanke gekommen, daß ich jemand sagen müßte, was in diesem blauen +Kuvert sei. Denn plötzlich hätte mich der Gedanke beängstigt, daß ich +ein großes Unrecht gegen meine Mitmenschen beginge, wenn ich nicht +sagte, wo dieses unschätzbare Heilmittel zu finden sei. Ich könnte es ja +so einrichten, daß es erst nach meinem Tode hervorgenommen würde. Dann +hätte nicht ich die Truhe geöffnet, dann könnte ja meine Arbeit +unberührt liegen bleiben. + +»Ich würde mir wohl denken, daß es am sichersten wäre, das Geheimnis +niederzuschreiben, und niemanden vor meinem Tode von dieser Schrift +Kenntnis erlangen zu lassen. Aber siehst du, Frau, es wäre wohl für +einen Todkranken, dem die geringste Bewegung Qualen verursacht, nicht so +leicht, die Feder zu führen. + +»Und schließlich hätte ich wohl Lilje hereingerufen und ihm das +Geheimnis anvertraut und ihm befohlen, das gestohlne Kuvert den +Eigentümern zurückzugeben. Aber zu gleicher Zeit hätte ich ihm streng +verboten, es vor meinem Tode aus der Truhe zu nehmen. Erst wenn ich in +den Kirchhof gebettet wäre, dürfte er zu dem Pfarrer in Svartsjö gehen +und mit ihm sprechen. + +»Du kannst sicher sein, sobald ich mit Lilje gesprochen hätte, würde es +mich wieder gereut haben. Man könnte sich doch auf einen solchen Kerl +nicht verlassen. Es wäre klar, ich hätte jemandem sagen müssen, wo das +Rezept zu finden sei. Aber ich hätte es niederschreiben sollen. Ich +hätte niemanden vor meinem Tode darum wissen lassen dürfen. + +»Und bei alledem hätte ich mit der stummen geheimen Hoffnung dagelegen, +daß Lilje mir ungehorsam sein könnte. + +»Ein paar Tage später würde ich etwas Eignes, Geheimnisvolles an der +Frau bemerken können, die mich pflegte. Ich würde sehen, daß sie eine +ganz besonders frohe und feierliche Miene machte, wenn sie mit einem +warmen Trunke zu mir hereinkäme. Ich würde erschrecken, und ich würde +mir selbst zuflüstern: Hüte dich, trinke nicht! Es kostet dich die +Arbeit deines ganzen Lebens! + +»Aber trotzdem, siehst du, Frau, würde ich wohl den Kopf vorstrecken und +trinken; und mit jedem Tropfen, der über meine Lippen käme, würde ich +Linderung fühlen. Ich würde das Glas von mir schieben wollen, wenn es +halb geleert wäre, aber ich würde es nicht können. Und wenn ich es +geleert hätte, würde ich mich auf einmal ganz gesund fühlen und vor +Freude weinen. + +»Nun will ich dir sagen, wie es mir weiter ergangen wäre, wenn ich der +alte Eberhard gewesen wäre. Am nächsten Tage wären die Schmerzen +wiedergekommen, und da hätte ich wieder von diesem Trank getrunken. Da +hätten die Schmerzen aufgehört und wären in kleinen Zwischenräumen +wieder zum Leben erwacht, aber am dritten Tage wären sie ganz +verschwunden gewesen. Und ich würde sehr wohl wissen, was für einen +Trank man mir gegeben hätte, ich würde begreifen, daß ich eine +Niederlage erlitten hätte, aber ich wäre allzu glücklich, um weiter +danach zu fragen. + +»Dann würde ich wieder umhergehen und mich ganz gesund fühlen. Aber ich +würde mich wohl hüten, jemand zu fragen, woher der Trank gekommen wäre, +der mich geheilt hätte. Und ich glaube ganz gewiß nicht, daß mir jemand +sagen würde, daß man die Truhe eröffnet und das Rezept herausgenommen +hätte. Niemand würde es sagen, aber ich würde es doch wissen. Ich würde +nach Svartsjö fahren und mir die Truhe ansehen, und sie würde versperrt +und versiegelt in der Kirche stehen, aber ich würde doch wissen, daß sie +eröffnet worden wäre. Und dann -- --« + +»Würdest du dich dann für verpflichtet halten, dein Buch zu vernichten?« +fragte die Pastorsfrau. + +»Ich glaube wohl, daß ich versuchen würde, Schlupfwinkel und Ausflüchte +zu finden, aber ich würde nicht leugnen können, daß ich, wenn ich ein +Ehrenmann sein wollte, mein Buch vernichten müßte.« + +»Und würdest du es auch tun?« + +»Ja, was glaubst du? Bedenke jetzt auch recht, was dieses Buch für mich +bedeuten würde! Wäre es vernichtet, so wäre auch mein Name und mein Ruhm +vernichtet.« + +Die Pastorin sah mit einem warmen Blick zu ihrem Mann auf. + +»Ja, du hast es vernichtet,« sagte sie, »du hast es vernichtet!« + +»Ich danke dir,« sagte der Pastor. + +Eine Weile ging er schweigend weiter. + +»Nun aber: was denkst du jetzt von der Truhe?« fragte die Frau. + +»Ich denke, daß es nicht gefährlich sein kann, sie zu öffnen. Du hast +meine Frage jetzt so beantwortet, wie ich es wünschte.« + +»Du und Magister Eberhard, ihr seid nicht eine und dieselbe Person,« +sagte die Frau. + +»Liebes Kind,« sagte der Pfarrer. »Wir wissen ja, daß der alte Eberhard +alles, was ich jetzt erzählt habe, durchgemacht hat, und daß man die +Truhe öffnen mußte, um das Rezept herauszunehmen, das ihn heilte. Aber +wir dürfen nicht glauben, daß Magister Eberhard ein schlechterer Mann +gewesen sei als irgendeiner von uns. Es ist, seit ich nun die Sache +durchdacht habe, mein fester Glaube, daß er in aller Heimlichkeit die +Schrift aus der Truhe genommen hat, und daß das große Buch des +Unglaubens längst, längst vernichtet ist.« + +»Aber die Truhe steht doch noch mit allen ihren Siegeln da.« + +»Ja, siehst du,« sagte der Pastor lächelnd, »allzuviel darfst du von +einem alten Philosophen nicht verlangen. Du kannst nicht von ihm +verlangen, daß er alle Menschen wissen lasse, daß er gezwungen war, +nachzugeben. Ich glaube wohl, es war das Natürlichste, daß er die Truhe +auf alle Fälle stehen ließ, wie sie stand. Er konnte es wohl nicht +ertragen, daß alle Bekannten zu ihm kämen und sagten, jetzt müsse er +wohl bekehrt sein und an Gott glauben.« + +Die Frau grübelte ein wenig nach, und dann sagte sie: »Ja, das werden +wir jetzt bald sehen, denn nun willst du sicherlich die Truhe öffnen.« + +»Ja, jetzt öffne ich sie mit frohem Mut,« sagte der Pastor. + +Und wenn das junge Jahr so um die Mittagszeit des Neujahrtags +neunzehnhundert in den Wolken über der Svartsjöer Kirche geschwebt +hätte, da hätte es den Pfarrer und die angesehensten Männer des +Kirchspiels um eine schöne alte Mosaiktruhe versammelt gesehen. Und als +sie feierlich eröffnet wurde, da enthielt sie ein paar Pakete: alte +Gerichtsverhandlungen und Zeitungen. + +Aber von gottesleugnerischer, himmelstürmender Philosophie, -- nicht +eine Zeile. + + + + +Die Legende von der Christrose + + +Die Räubermutter, die in der Räuberhöhle oben im Göinger Walde hauste, +hatte sich eines Tages auf einen Bettelzug in das Flachland hinunter +begeben. Der Räubervater selbst war ein friedloser Mann und durfte den +Wald nicht verlassen, sondern mußte sich damit begnügen, den +Wegfahrenden aufzulauern, die sich in den Wald wagten; doch zu der Zeit, +als der Räubervater und die Räubermutter sich in dem Göinger Wald +aufhielten, gab es im nördlichen Schoonen nicht allzuviel Reisende. Wenn +es sich also begab, daß der Räubervater ein paar Wochen lang Pech mit +seiner Jagd hatte, dann machte sich die Räubermutter auf die +Wanderschaft. Sie nahm ihre fünf Kinder mit, und jedes der Kleinen hatte +zerfetzte Fellkleider und Holzschuhe und trug auf dem Rücken einen Sack, +der gerade so lang war wie es selbst. Wenn die Räubermutter zu einer +Haustüre hereinkam, dann wagte niemand, ihr das zu verweigern, was sie +verlangte, denn sie bedachte sich keinen Augenblick, in der nächsten +Nacht zurückzukehren und das Haus anzuzünden, in dem man sie nicht +freundlich aufgenommen hatte. Die Räubermutter und ihre +Nachkommenschaft waren ärger als die Wolfsbrut, und gar mancher hatte +Lust, ihnen seinen guten Speer nachzuwerfen, aber dies geschah niemals; +denn man wußte, daß der Mann dort oben im Walde hauste und sich zu +rächen wissen würde, wenn den Kindern oder der Alten etwas zuleide +geschähe. + +Wie nun die Räubermutter so von Hof zu Hof zog und bettelte, kam sie +eines schönen Tages nach Öved, das zu jener Zeit ein Kloster war. Sie +klingelte an der Klosterpforte und verlangte etwas zu essen, und der +Türhüter ließ ein kleines Schiebfensterchen herab und reichte ihr sechs +runde Brote, eines für sie und eines für jedes Kind. + +Aber während die Räubermutter so still vor der Klosterpforte stand, +liefen ihre Kinder umher. Und nun kam eines von ihnen heran und zupfte +sie am Rocke, zum Zeichen, daß es etwas gefunden hätte, was sie sich +ansehen sollte, und die Räubermutter ging auch gleich mit ihm. + +Das ganze Kloster war von einer hohen, starken Mauer umgeben, aber der +kleine Junge hatte es zustande gebracht, ein kleines Hintertürchen zu +finden, das angelehnt stand. Als die Räubermutter hinkam, stieß sie +sogleich das Pförtchen auf und trat, ohne erst viel zu fragen, ein, wie +es eben bei ihr der Brauch war. + +Aber das Kloster Öved wurde zu jener Zeit von Abt Johannes regiert, der +ein gar pflanzenkundiger Mann war. Er hatte sich hinter der +Klostermauer einen kleinen Lustgarten angelegt, und in diesen drang nun +die Räubermutter ein. + +Im ersten Augenblick war sie so erstaunt, daß sie regungslos stehen +blieb. Es war Hochsommerzeit, und der Garten des Abtes Johannes stand so +voll von Blumen, daß es einem blau, und rot und gelb vor den Augen +flimmerte, wenn man hineinsah. Aber bald zeigte sich ein vergnügtes +Lächeln auf dem Gesicht der Räubermutter, und sie begann einen schmalen +Gang hinunterzugehen, der zwischen vielen kleinen Blumenbeeten +durchlief. + +Im Garten stand der Laienbruder, der Gärtnergehilfe war, und jätete das +Unkraut aus. Er war es, der die Tür in der Mauer halb offen gelassen +hatte, um Queckengras und Melde auf den Kehrichthaufen davor werfen zu +können. Als er die Räubermutter mit ihren fünf Bälgern hinter sich her +in den Lustgarten treten sah, stürzte er ihnen sogleich entgegen und +befahl ihnen, sich zu trollen. Aber die alte Bettlerin ging weiter, als +sei nichts geschehen. Sie ließ die Blicke hinauf und hinab wandern, sah +bald die starren weißen Lilien an, die sich auf einem Beet ausbreiteten, +und bald den Efeu, der die Klosterwand hoch emporkletterte, und +bekümmerte sich nicht im geringsten um den Laienbruder. + +Der Laienbruder dachte, sie hätte ihn nicht verstanden. Da wollte er sie +am Arm nehmen, um sie nach dem Ausgang umzudrehen. Aber als die +Räubermutter seine Absicht merkte, warf sie ihm einen Blick zu, vor dem +er zurückprallte. Sie war unter ihrem Bettelsack mit gebeugtem Rücken +gegangen, aber jetzt richtete sie sich zu ihrer vollen Höhe auf. -- »Ich +bin die Räubermutter aus dem Göinger Wald,« sagte sie, »rühr mich nur +an, wenn du es wagst.« Und es sah aus, als ob sie nach diesen Worten +ebenso sicher wäre, in Frieden von dannen zu ziehen, als hätte sie +verkündet, daß sie die Königin von Dänemark sei. + +Aber der Laienbruder wagte es dennoch, sie zu stören, obgleich er jetzt, +wo er wußte, wer sie war, recht sanftmütig zu ihr sprach. -- »Du mußt +wissen, Räubermutter,« sagte er, »daß dies ein Mönchskloster ist, und +daß es keiner Frau im Lande verstattet wird, hinter diese Mauer zu +kommen. Wenn du nun nicht deiner Wege gehst, dann werden die Mönche mir +zürnen, weil ich vergessen habe, das Tor zu schließen, und sie werden +mich vielleicht von Kloster und Garten verjagen.« + +Doch solche Bitten waren an die Räubermutter verschwendet. Die ging +weiter durch die Rosenbeete und guckte sich den Ysop an, der mit +lilafarbnen Blüten bedeckt war, und das Kaprifolium, das voll rotgelber +Blumentrauben hing. + +Da wußte sich der Laienbruder keinen andern Rat, als in das Kloster zu +laufen und um Hilfe zu rufen. + +Er kam mit zwei handfesten Mönchen zurück, und die Räubermutter sah +sogleich, daß es nun Ernst wurde. Sie stellte sich breitbeinig in den +Weg und begann mit gellender Stimme herauszuschreien, welche furchtbare +Rache sie an dem Kloster nehmen würde, wenn sie nicht im Lustgarten +bleiben dürfte, solange sie wollte. Aber die Mönche meinten, daß sie sie +nicht zu fürchten brauchten, und sie dachten nur daran, sie zu +vertreiben. Da stieß die Räubermutter schrille Schreie aus, stürzte sich +auf sie und kratzte und biß, und ebenso machten es alle ihre Sprossen. +Die drei Männer merkten bald, daß sie ihnen überlegen war. Es blieb +ihnen nichts andres übrig, als in das Kloster zu gehen und Verstärkung +zu holen. + +Wie sie über den Pfad liefen, der in das Kloster führte, begegneten sie +dem Abt Johannes, der herbeigeeilt war, um zu sehen, was für ein Lärm +das wäre, den man vom Lustgarten hörte. Da mußten sie gestehen, daß die +Räubermutter aus dem Göinger Walde in das Kloster gedrungen war; sie +hätten nicht vermocht, sie zu vertreiben, und wollten sich nun Entsatz +schaffen. + +Aber Abt Johannes tadelte sie, daß sie Gewalt angewendet hätten, und +verbot ihnen, um Hilfe zu rufen. Er schickte die beiden Mönche zu ihrer +Arbeit zurück, und obgleich er ein alter, gebrechlicher Mann war, nahm +er nur den Laienbruder mit in den Garten. + +Als Abt Johannes dort anlangte, ging die Räubermutter wie zuvor zwischen +den Beeten umher. Und er konnte sich nicht genug über sie wundern. Er +war ganz sicher, daß die Räubermutter nie zuvor in ihrem Leben einen +Lustgarten erblickt hätte. Aber wie dem auch sein mochte, -- sie ging +zwischen allen den kleinen Beeten umher, die jedes mit einer andern Art +fremder und seltsamer Blumen bepflanzt waren, und betrachtete sie, als +wären es alte Bekannte. Es sah aus, als hätte sie schon öfters Immergrün +und Salbei und Rosmarin gesehen. Einigen lächelte sie zu, und über andre +wieder schüttelte sie den Kopf. + +Abt Johannes liebte seinen Garten mehr als alle andern Dinge, die +irdisch und vergänglich sind. So wild und grimmig die Räubermutter auch +aussah, so konnte er es doch nicht lassen, Gefallen daran zu finden, daß +sie mit drei Mönchen gekämpft hatte, um ihn in Ruhe zu betrachten. Er +ging auf sie zu und fragte sie freundlich, ob ihr der Garten gefalle. + +Die Räubermutter wendete sich heftig gegen Abt Johannes, denn sie war +nur auf Hinterhalt und Überfall gefaßt, aber als sie seine weißen Haare +und seinen gebeugten Rücken sah, da antwortete sie ganz freundlich: »Als +ich ihn zuerst erblickte, da schien es mir, als ob ich nie etwas +Schöneres gesehen hätte, aber jetzt merke ich, daß er sich mit einem +andern nicht messen kann, den ich kenne.« + +Abt Johannes hatte sicherlich eine andre Antwort erwartet. Als er hörte, +daß die Räubermutter einen Lustgarten kennte, der schöner wäre, als der +seine, bedeckten sich seine runzeligen Wangen mit einer schwachen Röte. + +Der Gärtnergehilfe, der daneben stand, begann auch sogleich die +Räubermutter zurechtzuweisen.»Dies ist Abt Johannes, Räubermutter,« +sagte er, »der selber mit großem Fleiß und Mühe von fern und nah die +Blumen für seinen Garten gesammelt hat. Wir wissen alle, daß es im +ganzen schoonischen Land keinen reicheren Lustgarten gibt, und es steht +dir, die du das ganze liebe Jahr im wilden Walde hausest, wahrlich übel +an, sein Werk meistern zu wollen.« + +»Ich will niemand meistern, weder ihn, noch dich,« sagte die +Räubermutter, »ich sage nur, wenn ihr den Lustgarten sehen könntet, an +den ich denke, dann würdet ihr jegliche Blume, die hier steht, ausraufen +und sie als Unkraut fortwerfen.« + +Aber der Gärtnergehilfe war kaum weniger stolz auf die Blumen als Abt +Johannes selbst, und als er diese Worte hörte, begann er höhnisch zu +lachen. -- »Ich kann mir wohl denken, daß du nur so schwätzest, +Räubermutter, um uns zu reizen,« sagte er, »das wird mir ein schöner +Garten sein, den du dir unter Tannen und Wacholderbüschen im Göinger +Walde eingerichtet hast! Ich wollte meine Seele verschwören, daß du +überhaupt noch nie hinter einer Gartenmauer gewesen bist.« + +Die Räubermutter wurde rot vor Ärger, daß man ihr also mißtraute, und +sie rief: »Es mag wohl sein, daß ich niemals vor heute hinter einer +Gartenmauer gestanden habe, aber ihr Mönche, die ihr heilige Männer +seid, solltet wohl wissen, daß der große Göinger Wald sich in jeder +Weihnachtsnacht in einen Lustgarten verwandelt, um die Geburtsstunde +unseres Herrn und Heilands zu feiern. Wir, die wir im Walde leben, +haben dies nun jedes Jahr geschehen sehen, und in diesem Lustgarten habe +ich so herrliche Blumen geschaut, daß ich es nicht wagte, die Hand zu +erheben, um sie zu brechen.« + +Da lachte der Laienbruder noch lauter und stärker: »Es ist gar leicht +für dich, dazustehen und mit derlei zu prahlen, was kein Mensch sehen +kann. Aber ich kann nicht glauben, es könnte etwas andres als Lüge sein, +daß der Wald Christi Geburtsstunde an einer solchen Stelle feiern +sollte, wo so unheilige Leute wohnen, wie du und der Räubervater.« -- +»Und das, was ich sage, ist doch ebenso wahr,« entgegnete die +Räubermutter, »wie daß du es nicht wagen würdest, in einer +Weihnachtsnacht in den Wald zu kommen, um es zu sehen.« Der Laienbruder +wollte ihr von neuem antworten, aber Abt Johannes bedeutete ihm durch +ein Zeichen, stillzuschweigen. Denn Abt Johannes hatte schon seit seiner +Kindheit erzählen hören, daß der Wald sich in der Weihnachtsnacht in ein +Feierkleid hülle. Er hatte sich oft danach gesehnt, es zu sehen, aber es +war ihm niemals gelungen. Nun begann er die Räubermutter gar eifrig zu +bitten und anzurufen, sie möge ihn um die Weihnachtszeit in die +Räuberhöhle kommen lassen. Wenn sie nur eins ihrer Kinder schickte, ihm +den Weg zu zeigen, dann wolle er allein hinaufreiten, und er würde sie +nie und nimmer verraten, sondern sie im Gegenteil so reich belohnen, wie +es nur in seiner Macht stünde. + +Die Räubermutter weigerte sich zuerst, denn sie dachte an den +Räubervater und an die Gefahr, der sie ihn preisgab, wenn sie Abt +Johannes in ihre Höhle kommen ließe; aber dann wurde doch der Wunsch, +ihm zu zeigen, daß der Lustgarten, den sie kannte, schöner sei als der +seinige, in ihr übermächtig, und sie gab nach. + +»Aber mehr als einen Begleiter darfst du nicht mitnehmen,« sagte sie. +»Und du darfst uns keinen Hinterhalt und keine Falle stellen, so gewiß +du ein heiliger Mann bist.« + +Dies versprach Abt Johannes, und damit ging die Räubermutter. Aber Abt +Johannes befahl dem Laienbruder, niemand zu verraten, was nun vereinbart +worden war. Er fürchtete, daß seine Mönche, wenn sie von seinem Vorhaben +etwas erführen, einem alten Mann, wie er es war, nicht gestatten würden, +hinauf in die Räuberhöhle zu ziehen. + +Auch er selbst wollte den Plan keiner Menschenseele verraten. Aber da +begab es sich, daß Erzbischof Absalon aus Lund gereist kam und eine +Nacht in Öved verbrachte. Als nun Abt Johannes ihm seinen Garten zeigte, +fiel ihm der Besuch der Räubermutter ein; und der Laienbruder, der dort +umherging und arbeitete, hörte, wie der Abt dem Bischof vom Räubervater +erzählte, der nun so viele Jahre vogelfrei im Walde gehaust hätte, und +um einen Freibrief für ihn bat, damit er wieder ein ehrliches Leben +unter andern Menschen führen könnte. -- »Wie es jetzt geht,« sagte Abt +Johannes, »wachsen seine Kinder zu ärgeren Missetätern heran, als er +selbst einer ist, und Ihr werdet es dort oben im Walde bald mit einer +ganzen Räuberbande zu tun bekommen.« + +Doch Erzbischof Absalon erwiderte, daß er den bösen Räuber nicht auf die +ehrlichen Leute im Lande loslassen wolle. Es sei für alle am besten, +wenn er dort oben in seinem Walde bliebe. + +Da wurde Abt Johannes eifrig und begann dem Bischof vom Göinger Wald zu +erzählen, der sich jedes Jahr rings um die Räuberhöhle in +Weihnachtsschmuck kleide. »Wenn diese Räuber nicht schlimmer sind, als +daß Gottes Herrlichkeit sich ihnen zeigen will,« sagte er, »so können +sie wohl auch nicht zu schlecht sein, um die Gnade der Menschen zu +erfahren.« + +Aber der Erzbischof wußte Abt Johannes zu antworten. -- »Soviel kann ich +dir versprechen, Abt Johannes,« sagte er und lächelte, »an welchem Tage +immer du mir eine Blume aus dem Weihnachtsgarten im Göinger Walde +schickst, will ich dir einen Freibrief für alle Friedlosen geben, für +die du mich bitten magst.« + +Der Laienbruder sah, daß Bischof Absalon ebensowenig wie er selbst an +die Geschichte der Räubermutter glaubte, aber Abt Johannes merkte nichts +davon, sondern dankte Absalon für sein gütiges Versprechen und sagte, +die Blume wollte er ihm schon schicken. + + * * * * * + +Abt Johannes setzte seinen Willen durch, und am nächsten Weihnachtsabend +saß er nicht daheim in Öved, sondern war auf dem Wege nach Göinge. Einer +der wilden Jungen der Räubermutter lief vor ihm her, und zum Geleit +hatte er den Knecht, der im Lustgarten mit der Räubermutter gesprochen +hatte. + +Abt Johannes hatte sich den ganzen Herbst über schon sehr danach +gesehnt, diese Fahrt anzutreten, und freute sich nun sehr, daß sie +zustande gekommen war. Aber ganz anders stand es mit dem Laienbruder, +der ihm folgte. Er hatte Abt Johannes von Herzen lieb und würde es nicht +gern einem andern überlassen haben, ihn zu begleiten und über ihn zu +wachen, aber er glaubte keineswegs, daß sie einen Weihnachtsgarten zu +Gesicht bekommen würden, er dachte nichts andres, als daß das Ganze eine +Falle sei, die die Räubermutter mit großer Schlauheit Abt Johannes +gelegt hätte, damit er ihrem Mann in die Hände falle. + +Während Abt Johannes nordwärts zur Waldgegend ritt, sah er, wie überall +Anstalten getroffen wurden, das Weihnachtsfest zu feiern. In jedem +Bauerndorf machte man Feuer in der Badehütte, damit sie zum +nachmittägigen Bade warm sei. Aus den Vorratskammern wurden große Mengen +von Fleisch und Brot in die Hütten getragen, und aus den Tennen kamen +die Burschen mit großen Strohgarben, die über den Boden gestreut werden +sollten. + +Als er an dem kleinen Dorfkirchlein vorüberritt, sah er, wie der +Priester und seine Küster vollauf damit beschäftigt waren, sie mit den +besten Geweben zu behängen, die sie nur hatten auftreiben können; und +als er zu dem Wege kam, der nach dem Kloster Bosjö führte, sah er die +Armen des Klosters mit großen Brotlaiben und langen Kerzen daherwandern, +die sie an der Klosterpforte bekommen hatten. + +Als Abt Johannes alle diese Weihnachtszurüstungen sah, da spornte er zur +Eile an. Denn er dachte daran, daß seiner ein größeres Fest harre, als +irgendeiner der anderen feiern sollte. + +Doch der Knecht jammerte und klagte, als er sah, wie sie sich auch in +der kleinsten Hütte anschickten, das Weihnachtsfest zu feiern. Und er +wurde immer ängstlicher und bat und beschwor Abt Johannes, umzukehren +und sich nicht freiwillig in die Hände der Räuber zu geben. + +Aber Abt Johannes ritt weiter, ohne sich um seine Klagen zu kümmern. Er +hatte bald das Flachland hinter sich und kam nun hinauf in die einsamen, +wilden Wälder. Hier wurde der Weg schlechter. Er war eigentlich nur noch +ein steiniger, nadelbestreuter Pfad, und nicht Brücke nicht Steg halfen +ihnen über Flüsse und Bäche. Je länger sie ritten, desto kälter wurde +es, und tief drinnen im Walde war der Boden mit Schnee bedeckt. + +Es war ein langer und beschwerlicher Ritt. Sie schnitten auf steilen und +schlüpfrigen Seitenpfaden den Weg ab und zogen über Moor und Sumpf, +drangen durch Windbrüche und Dickicht. Gerade als der Tag zur Neige +ging, führte der Räuberjunge sie über eine Waldwiese, die von hohen +Bäumen umgeben war, von nackten Laubbäumen und von grünen Nadelbäumen. +Hinter der Wiese erhob sich eine Felswand, und in der Felswand sahen sie +eine Tür aus rohen Planken. Nun merkte Abt Johannes, daß sie am Ziel +waren, und er stieg vom Pferde. Das Kind öffnete ihm die schwere Tür, +und er sah in eine ärmliche Berggrotte mit nackten Steinwänden. Die +Räubermutter saß an einem Blockfeuer, das mitten auf dem Boden brannte, +an den Wänden standen Lagerstätten aus Tannenreisig und Moos, und auf +einer von ihnen lag der Räubervater und schlief. -- »Kommt herein, ihr +dort draußen!« rief die Räubermutter, ohne aufzustehen. »Und nehmt die +Pferde mit, damit sie nicht draußen in der Nachtkälte zugrunde gehen!« + +Abt Johannes trat nun kühnlich in die Grotte, und der Laienbruder folgte +ihm. Da sah es gar ärmlich und dürftig aus, und nichts war geschehen, um +das Weihnachtsfest zu feiern. Die Räubermutter hatte weder gebraut, noch +gebacken, sie hatte weder gefegt, noch gescheuert. Ihre Kinder lagen auf +der Erde rings um einen Kessel, aus dem sie aßen; aber darin war nichts +besseres als dünne Wassergrütze. + +Doch die Räubermutter war ebenso stolz und selbstbewußt wie nur +irgendeine wohlbestallte Bauersfrau. -- »Setze dich nun hier ans Feuer, +Abt Johannes, und wärme dich,« sagte sie, »und wenn du Wegzehrung +mitgebracht hast, so iß, denn was wir hier im Walde kochen, wird dir +wohl nicht munden. Und wenn du vom Ritt müde bist, kannst du dich auf +eine dieser Lagerstätten ausstrecken und ruhen. Du brauchst keine Angst +zu haben, daß du dich verschlafen könntest. Ich sitze hier am Feuer und +wache, und ich will dich schon wecken, damit du zu sehen bekommst, +wonach du ausgeritten bist.« + +Abt Johannes gehorchte der Räubermutter in allen Stücken und nahm seinen +Schnappsack hervor. Aber er war nach dem Ritt so müde, daß er kaum zu +essen vermochte; und sowie er sich auf dem Lager ausgestreckt hatte, +schlummerte er ein. + +Dem Laienbruder ward auch eine Ruhestatt angewiesen, aber er wagte +nicht, zu schlafen, weil er ein wachsames Auge auf den Räubervater haben +wollte, damit dieser nicht etwa aufstünde und Abt Johannes fesselte. +Allmählich jedoch erlangte die Müdigkeit auch über ihn solche Gewalt, +daß er einschlummerte. Als er erwachte, sah er, daß Abt Johannes sein +Lager verlassen hatte und jetzt am Feuer saß und mit der Räubermutter +Zwiesprach pflog. Der Räubervater saß daneben. Er war ein +hochaufgeschossener magerer Mann und sah schwerfällig und trübsinnig +aus. Er kehrte Abt Johannes den Rücken, und es sah aus, als wolle er +nicht zeigen, daß er dem Gespräch zuhörte. + +Abt Johannes erzählte der Räubermutter von allen den +Weihnachtszurüstungen, die er unterwegs gesehen hatte, und er erinnerte +sie an die Weihnachtsfeste und die fröhlichen Weihnachtsspiele, die wohl +auch sie in ihrer Jugend mitgemacht hätte, als sie noch in Frieden +unter den Menschen lebte. -- »Es ist ein Jammer, daß eure Kinder nie +verkleidet auf der Dorfstraße umhertollen oder im Weihnachtsstroh +spielen dürfen,« sagte Abt Johannes. Die Räubermutter hatte ihm zuerst +kurz und barsch geantwortet, aber so allmählich wurde sie kleinlauter +und lauschte eifrig. Plötzlich wendete sich der Räubervater gegen Abt +Johannes und hielt ihm die geballte Faust vor das Gesicht. -- »Du +elender Mönch, bist du hierhergekommen, um Weib und Kinder von mir +fortzulocken? Weißt du nicht, daß ich ein friedloser Mann bin und diesen +Wald nicht verlassen darf?« Abt Johannes sah ihm unerschrocken gerade in +die Augen. -- »Mein Wille ist es, dir einen Freibrief vom Erzbischof zu +verschaffen,« sagte er. Kaum hatte er dies gesagt, als der Räubervater +und die Räubermutter ein schallendes Gelächter aufschlugen. Sie wußten +nur zu wohl, welche Gnade ein Waldräuber vom Bischof Absalon zu erwarten +hatte. -- »Ja, wenn ich einen Freibrief von Absalon bekomme,« sagte der +Räubervater, »dann gelobe ich dir, nie mehr auch nur soviel wie eine +Gans zu stehlen.« + +Den Gärtnergehilfen verdroß es sehr, daß das Räuberpack sich vermaß, Abt +Johannes auszulachen; aber dieser selbst schien es ganz zufrieden zu +sein. Der Knecht hatte ihn kaum je friedvoller und milder unter seinen +Mönchen auf Öved sitzen sehen, als er ihn jetzt unter den wilden +Räuberleuten sah. + +Aber plötzlich sprang die Räubermutter auf. + +»Du sitzest hier und plauderst, Abt Johannes,« sagte sie, »und wir +vergessen ganz, nach dem Wald zu sehen. Jetzt höre ich bis in unsere +Höhle, wie die Weihnachtsglocken läuten.« + +Kaum war dies gesagt, als alle aufsprangen und hinausliefen; aber im +Walde war noch dunkle Nacht und grimmiger Winter. Das einzige, was man +vernahm, war ferner Glockenklang, der von einem leisen Südwind +hergetragen wurde. + +Wie soll dieser Glockenklang den toten Wald wecken können? dachte Abt +Johannes. Denn jetzt, wo er mitten im Waldesdunkel stand, schien es ihm +viel unmöglicher als früher, daß hier ein Lustgarten erstehen könnte. + +Aber als die Glocke ein paar Augenblicke geläutet hatte, zuckte +plötzlich ein Lichtstrahl durch den Wald. Gleich darauf wurde es ebenso +dunkel wie zuvor, aber dann kam das Licht wieder. Es kämpfte sich wie +ein leuchtender Nebel zwischen den dunkeln Bäumen durch. Und soviel +vermochte es, daß die Dunkelheit in schwache Morgendämmerung überging. + +Da sah Abt Johannes, wie der Schnee vom Boden verschwand, als hätte +jemand einen Teppich fortgezogen; und die Erde begann zu grünen. Das +Farrnkraut streckte seine Triebe hervor, eingerollt wie Bischofstäbe. +Die Erika, die auf der Steinhalde wuchs, und der Porsch, der im Moor +wurzelte, kleideten sich rasch in frisches Grün. Die Mooshügelchen +schwollen und hoben sich, und die Frühlingsblumen schossen mit +schwellenden Knospen auf, die schon einen Schimmer von Farbe hatten. + +Abt Johannes klopfte das Herz heftig, als er die ersten Zeichen sah, daß +der Wald erwachen wollte. -- Soll nun ich alter Mann ein solches Wunder +schauen! dachte er. Und die Tränen wollten ihm in die Augen treten. + +Nun wurde es wieder so dämmerig, daß er fürchtete, die nächtliche +Finsternis könnte aufs neue Macht erlangen. Aber sogleich kam eine neue +Lichtwelle hereingebrochen. Die brachte das Murmeln von Bächlein und das +Rauschen der eisbefreiten Bergströme mit. Da schlugen die Blätter der +Laubbäume so rasch aus, als wären grüne Schmetterlinge herangeflattert +und hätten sich auf den Zweigen niedergelassen. Und nicht nur die Bäume +und Pflanzen erwachten. Die Kreuzschnäbel begannen über die Zweige zu +hüpfen. Die Spechte hämmerten an die Stämme, daß die Holzsplitter nur so +flogen. Ein Zug Stare, der das Land hinanflog, ließ sich in einem +Tannenwipfel nieder, um zu ruhen. Es waren prächtige Stare. Die Spitze +jedes kleinen Federchens leuchtete glänzend rot, und wenn die Vögel sich +bewegten, glitzerten sie wie Edelsteine. + +Wieder wurde es für ein Weilchen still, aber bald begann es von neuem. +Ein starker, warmer Südwind blies und säte über die Waldwiese alle die +Samen aus südlichen Ländern, die von Vögeln und Schiffen und Winden in +das Land gebracht worden waren und auf seinem kargen Boden nirgend +anders blühen konnten; und sie schlugen Wurzel und schossen Triebe in +demselben Augenblick, da sie den Boden berührten. + +Als die nächste Welle kam, fingen Blaubeeren und Preißelbeeren zu blühen +an. Wildgänse und Kraniche riefen hoch oben in der Luft, die Buchfinken +bauten ihr Nest, und die Eichhörnchen begannen in den Baumzweigen zu +spielen. + +Alles ging nun so rasch, daß Abt Johannes gar nicht Zeit hatte, zu +überlegen, welches Wunder gerade geschah. Er hatte nur Zeit, Augen und +Ohren weit aufzumachen. Die nächste Welle, die herangebraust kam, +brachte den Duft frischgepflügter Felder. Aus weiter Ferne hörte man, +wie die Hirtinnen die Kühe lockten, und wie die Glöckchen der Lämmer +klingelten. Tannen und Fichten bekleideten sich so dicht mit kleinen +roten Zapfen, daß die Bäume wie Seide leuchteten. Der Wacholder trug +Beeren, die jeden Augenblick die Farbe wechselten. Und die Waldblumen +bedeckten den Boden, daß er ganz weiß und blau und gelb war. + +Abt Johannes beugte sich zur Erde und brach eine Erdbeerblüte. Und +während er sich aufrichtete, reifte die Beere. Die Füchsin kam aus ihrer +Höhle mit einer großen Schar von schwarzbeinigen Jungen hinter sich her. +Sie ging auf die Räubermutter zu und rieb sich an ihrem Rock, und die +Räubermutter beugte sich zu ihr hinunter und lobte ihre Jungen. Der Uhu, +der eben seine nächtige Jagd begonnen hatte, kehrte wieder nach Hause +zurück, ganz erstaunt über das Licht, suchte seine Schlucht auf und +legte sich schlafen. Der Kuckuck rief, und das Kuckucksweibchen +umkreiste mit einem Ei im Schnabel die Nester der Singvögel. + +Die Kinder der Räubermutter stießen zwitschernde Freudenschreie aus. Sie +aßen sich an den Waldbeeren satt, die groß wie Tannenzapfen an den +Sträuchern hingen. Eines von ihnen spielte mit einer Schar junger Hasen, +ein andres lief mit den jungen Krähen um die Wette, die aus dem Nest +gehüpft waren, ehe sie noch flügge waren, das dritte hob die Natter vom +Boden und wickelte sie sich um Hals und Arm. Der Räubervater stand +draußen auf dem Moor und aß Brombeeren. Als er aufsah, ging ein großes +schwarzes Tier neben ihm einher. Da brach der Räubervater einen +Weidenzweig und schlug dem Bären auf die Schnauze. -- »Bleib du, wo du +hingehörst,« sagte er. »Das ist mein Platz.« Da machte der Bär kehrt und +trabte nach seiner Seite fort. + +Immer wieder kamen neue Wellen von Wärme und Licht, und jetzt brachten +sie Entengeschnatter vom Waldmoor her. Gelber Blütenstaub von den +Feldern schwebte in der Luft. Schmetterlinge kamen, so groß, daß sie wie +fliegende Lilien aussahen. Das Nest der Bienen in einer hohlen Eiche war +schon so voll von Honig, daß er am Stamm hinuntertropfte. Jetzt begannen +auch die Blumen sich zu entfalten, deren Samen aus fremden Ländern +gekommen waren. Die Rosenbüsche kletterten um die Wette mit den +Brombeeren die Felswand hinan, und oben auf der Waldwiese sprossen +Blumen, so groß wie ein Menschengesicht. Abt Johannes dachte an die +Blume, die er für Bischof Absalon pflücken wollte, aber eine Blume wuchs +herrlicher heran als die andre, und er wollte die allerschönste wählen. + +Welle um Welle kam, und jetzt war die Luft so von Licht durchtränkt, daß +sie glitzerte. Und alle Lust und aller Glanz und alles Glück des Sommers +lächelte rings um Abt Johannes. Es war ihm, als könnte die Erde keine +größere Freude bringen als die, die ihn über den plötzlichen Anbruch der +schönen Jahreszeit erfüllte, und er sagte zu sich selbst: »Jetzt weiß +ich nicht, was die nächste Welle, die kommt, noch an Herrlichkeit +bringen kann.« + +Aber das Licht strömte noch immer zu, und jetzt däuchte es Abt Johannes, +daß es etwas aus einer unendlichen Ferne bringe. Er fühlte, wie +überirdische Luft ihn umwehte, und er begann zitternd zu erwarten, es +würde nun, nachdem die Freude der Erde gekommen war, des Himmels +Herrlichkeit anbrechen. + +Abt Johannes merkte, wie alles still wurde: die Vögel verstummten, die +jungen Füchslein spielten nicht mehr, und die Blumen ließen ab, zu +wachsen. Die Seligkeit, die nahte, war von der Art, daß einem das Herz +stillstehen wollte; das Auge weinte, ohne daß es darum wußte, die Seele +sehnte sich, in die Ewigkeit hinüberzufliegen. Aus weiter, weiter Ferne +hörte man leise Harfentöne und überirdischen Gesang. Abt Johannes +faltete die Hände und sank in die Kniee. Sein Gesicht strahlte von +Seligkeit. Nie hatte er erwartet, daß es ihm beschieden sein würde, +schon in diesem Leben des Himmels Wonne zu kosten und die Engel +Weihnachtslieder singen zu hören. + +Aber neben Abt Johannes stand der Gärtnergehilfe, der ihn begleitet +hatte. Er sah den Räuberwald voll Grün und Blumen, und er wurde zornig +in seinem Herzen, weil er sah, daß er einen solchen Lustgarten nie und +nimmer schaffen könnte, wie er sich auch mit Hacke und Spaten mühte. Und +er vermochte nicht zu begreifen, warum Gott solche Herrlichkeit an das +Räubergesindel verschwende, das seine Gebote mißachtete. + +Gar dunkle Gedanken zogen durch seinen Kopf. »Das kann kein rechtes +Wunder sein,« dachte er, »das sich bösen Missetätern zeigt. Das kann +nicht von Gott stammen, das ist aus Zauberei entsprungen. Es ist von des +Teufels arger List hierher gesandt. Es ist die Macht des bösen Feindes, +die uns verhext und uns zwingt, das zu sehen, was nicht ist.« + +In der Ferne hörte man Engelsharfen klingen, und Engelgesang ertönte, +aber der Laienbruder glaubte, daß es die böse Macht der Unholde sei, die +nahe. »Sie wollen uns locken und verführen,« seufzte er, »nie kommen wir +mit heiler Haut davon, wir werden betört und dem Abgrund verkauft.« + +Jetzt waren die Engelscharen so nahe, daß Abt Johannes ihre +Lichtgestalten zwischen den Stämmen des Waldes schimmern sah. Und der +Laienbruder sah dasselbe wie er, aber er dachte nur, welche Arglist +darin läge, daß die bösen Geister ihre Künste gerade in der Nacht +betrieben, in der der Heiland geboren war. Dies geschah ja nur, um die +Christen um so sicherer ins Verderben zu stürzen. + +Die ganze Zeit über hatten die Vögel Abt Johannes Haupt umschwärmt, und +er hatte sie zwischen seine Hände nehmen können. Aber vor dem +Laienbruder hatten sich die Tiere gefürchtet: kein Vogel hatte sich auf +seine Schulter gesetzt, und keine Schlange spielte zu seinen Füßen. Nun +war da eine kleine Waldtaube. Als sie merkte, daß die Engel nahe waren, +nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und flog dem Laienbruder auf die +Schulter und schmiegte das Köpfchen an seine Wange. Da vermeinte er, daß +der Zauber ihm nun völlig auf den Leib rücke, ihn in Versuchung zu +führen und zu verderben. Er schlug mit der Hand nach der Waldtaube und +rief mit lauter Stimme, so daß es durch den Wald hallte: + +»Zeuch du zur Hölle, von wannen du kommen bist!« + +Gerade da waren die Engel so nahe, daß Abt Johannes den Hauch ihrer +mächtigen Fittiche fühlte, und er hatte sich zur Erde geneigt, sie zu +grüßen. Aber als die Worte des Laienbruders ertönten, da verstummte +urplötzlich ihr Gesang, und die heiligen Gäste wendeten sich zur Flucht. +Und ebenso floh das Licht und die milde Wärme in unsäglichem Schreck vor +der Kälte und Finsternis in einem Menschenherzen. Die Dunkelheit sank +auf die Erde hinab wie eine Decke, die Kälte kam, die Pflanzen auf dem +Boden schrumpften zusammen, die Tiere enteilten, das Rauschen der +Wasserfälle verstummte, das Laub fiel von den Bäumen, prasselnd wie +Regen. + +Abt Johannes fühlte, wie sein Herz, das eben vor Seligkeit gezittert +hatte, sich jetzt in unsäglichem Schmerz zusammenkrampfte. Niemals kann +ich dies überleben, dachte er, daß die Engel des Himmels mir so nahe +waren und vertrieben wurden, daß sie mir Weihnachtslieder singen wollten +und in die Flucht gejagt wurden. + +In demselben Augenblick erinnerte er sich an die Blume, die er Bischof +Absalon versprochen hatte, und er beugte sich zur Erde und tastete unter +dem Moos und Laub, um noch im letzten Augenblick etwas zu finden. Aber +er fühlte, wie die Erde unter seinen Fingern gefror, und wie der weiße +Schnee über den Boden geglitten kam. + +Da ward sein Herzeleid noch größer. Er konnte sich nicht erheben, +sondern mußte auf dem Boden liegen bleiben. + +Aber als die Räubersleute und der Laienbruder sich in der tiefen +Dunkelheit zur Räuberhöhle zurückgetappt hatten, da vermißten sie Abt +Johannes. Sie nahmen glühende Scheite aus dem Feuer und zogen aus, ihn +zu suchen, und sie fanden ihn tot auf der Schneedecke liegen. + +Und der Laienbruder hub an zu weinen und zu klagen, denn er erkannte, +daß er es war, der Abt Johannes getötet hatte, weil er ihm den +Freudenbecher entrissen, nach dem er gelechzt hatte. + + * * * * * + +Aber als Abt Johannes nach Öved hinuntergebracht worden war, sahen die, +die sich des Toten annahmen, daß er seine rechte Hand hart um etwas +geschlossen hielt, was er in seiner Todesstunde umklammert haben mußte. +Und als sie die Hand endlich öffnen konnten, fanden sie, daß, was er mit +solcher Stärke festhielt, ein paar weiße Wurzelknollen waren, die er aus +Moos und Laub hervorgerissen hatte. Und als der Laienbruder, der Abt +Johannes geleitet hatte, diese Wurzeln sah, nahm er sie und pflanzte sie +in des Abtes Garten in die Erde. + +Er pflegte sie und wartete das ganze Jahr, daß eine Blume daraus +erblühe, doch er wartete vergebens den ganzen Frühling und Sommer und +Herbst. Als endlich der Winter anbrach und alle Blätter und Blumen tot +waren, hörte er auf zu warten. Als aber der Weihnachtsabend kam, da +überkam ihn die Erinnerung an Abt Johannes so mächtig, daß er in den +Lustgarten hinausging, seiner zu gedenken. Und siehe, wie er nun an der +Stelle vorbeikam, wo er die kahlen Wurzelknollen eingepflanzt hatte, da +sah er, daß üppige grüne Stengel daraus emporgesproßt waren, die schöne +Blumen mit silberweißen Blättern trugen. + +Da rief er alle Mönche von Öved zusammen; und als sie sahen, daß diese +Pflanze am Weihnachtsabend blühte, wo alle andern Blumen tot waren, da +erkannten sie, daß sie wirklich von Abt Johannes aus dem +Weihnachtslustgarten im Göinger Wald gepflückt war. + +Aber der Laienbruder sagte den Mönchen, da nun ein so großes Wunder +geschehen sei, sollten sie einige von den Blumen dem Bischof Absalon +schicken. + +Als nun der Laienbruder vor Bischof Absalon hintrat, reichte er ihm die +Blumen und sagte: »Dies schickt dir Abt Johannes. Es sind die Blumen, +die er dir aus dem Weihnachtslustgarten im Göinger Walde zu pflücken +versprochen hat.« + +Und als Bischof Absalon die Blumen sah, die in dunkler Winternacht der +Erde entsprossen waren, und als er die Worte hörte, wurde er so bleich, +als wäre er einem Toten begegnet. Eine Weile saß er schweigend da, dann +sagte er: »Abt Johannes hat sein Wort gut gehalten; so will auch ich das +meine halten.« Und er ließ einen Freibrief für den wilden Räuber +ausstellen, der von Jugend an friedlos im Walde gelebt hatte. + +Er übergab dem Laienbruder den Brief, und dieser zog damit von dannen, +hinauf in den Wald und suchte den Weg zur Räuberhöhle. Als er am +Weihnachtstage dort eintrat, da eilte ihm der Räuber mit erhobner Axt +entgegen. -- »Ich will euch Mönche niederschlagen, so viele euer auch +sind!« rief er. »Sicherlich hat sich um euretwillen der Göinger Wald in +dieser Nacht nicht in sein Weihnachtskleid gehüllt.« + +»Es ist einzig und allein meine Schuld,« sagte der Laienbruder, »und ich +will gerne dafür sterben. Aber zuerst muß ich dir eine Botschaft von Abt +Johannes bringen.« Und er zog den Brief des Bischofs heraus und +verkündete ihm, daß er nicht mehr vogelfrei sei, und zeigte ihm das +Siegel Absalons, das an dem Pergamente hing. -- »Fortab sollst du mit +deinen Kindern im Weihnachtsstroh spielen, und ihr sollt das Christfest +unter den Menschen feiern, wie es der Wunsch des Abtes Johannes war,« +sagte er. + +Da blieb der Räubervater stumm und bleich stehen, aber die Räubermutter +sagte in seinem Namen: »Abt Johannes hat sein Wort getreulich gehalten, +so wird auch der Räubervater das seine halten.« + +Doch als der Räubervater und die Räubermutter aus der Räuberhöhle +fortzogen, da zog der Laienbruder hinein und hauste dort einsam im Walde +unter unablässigem Gebet, daß sein hartes Herz ihm verziehen werde. + +Und niemand darf ein strenges Wort über einen sagen, der bereut und sich +bekehrt hat, wohl aber kann man wünschen, daß seine bösen Worte ungesagt +geblieben wären, denn nie mehr hat der Göinger Wald die Geburtsstunde +des Heilands gefeiert, und von seiner ganzen Herrlichkeit lebt nur noch +die Pflanze, die Abt Johannes dereinst gepflückt hat. Man hat sie +Christrose genannt, und jedes Jahr läßt sie ihre weißen Blüten und ihre +grünen Stengel um die Weihnachtszeit aus dem Erdreich sprießen, als +könnte sie nie und nimmer vergessen, daß sie einmal in dem großen +Weihnachtslustgarten erwachsen ist. + + + + +Der Wechselbalg + + +Die Trollin kam durch den Wald geschlichen, ihr Junges hatte sie in +einer Rindenbutte, die sie auf dem Rücken trug. Es war groß und häßlich, +mit Haaren wie Borsten, nadelscharfen Zähnen und einer Kralle am kleinen +Finger; aber die Trollin glaubte natürlich, daß es gar kein schöneres +Kind geben könne. + +Wie die Trollin so einherging, kam sie zu einer Stelle, wo der Wald sich +ein wenig lichtete. Ein Weg lief hier durch, holperig und schlüpfrig von +Baumwurzeln, die sich darüber schlangen wie ein geknüpftes Netz. Und +über den Weg kamen ein Bauer und sein Weib geritten. + +Zuerst wollte die Trollin wieder in den Wald fliehen, damit niemand sie +zu Gesicht bekomme, aber plötzlich bemerkte sie, daß die Bäuerin ein +Kind auf dem Arme trug, und da wurde sie andern Sinnes. Sie schlich sich +näher zum Weg heran und versteckte sich hinter einem Haselstrauch. »Ich +will doch sehen, ob das Menschenkind ebenso schön sein kann wie meines,« +dachte die Trollin. + +Aber in ihrem Eifer streckte sie sich zu weit aus dem Busch vor, und als +die Reitenden sich näherten, erblickten die Pferde den großen schwarzen +Trollkopf. Sie erschraken, stellten sich auf die Hinterbeine, scheuten +und gingen durch. Fast wären der Bauer und sein Weib abgeworfen worden. +Sie stießen einen Schrei aus, beugten sich vor, um die Zügel anzureißen, +und waren im nächsten Augenblick verschwunden. + +Die Trollin grinste vor Wut. Jetzt hatte sie das Menschenkind kaum zu +Gesicht bekommen. Aber plötzlich wurde sie wieder seelenvergnügt, denn +da lag ja das Kind gerade vor ihr auf der Erde. Es war der Bäuerin aus +dem Arm gefallen, als die Pferde durchgingen. + +Das Kind lag auf einem Haufen dürrer Blätter und war ganz unversehrt. Es +schrie laut vor Schrecken über den Fall; aber als die Trollin sich +darüber beugte, schien es so belustigt über den erstaunlichen Anblick, +daß es verstummte und lächelte und das Händchen ausstreckte, um sie an +ihrem schwarzen Bart zu zupfen. + +Aber die Trollin stand ganz verblüfft da und betrachtete das +Menschenkind. Sie sah die kleinen Händchen an mit den rosenroten Nägeln, +die klaren blauen Äuglein und das kleine Mündchen. Sie befühlte das +weiche Haar, strich über die Wangen und wußte sich vor Staunen gar nicht +zu fassen, daß ein Kind so rosig und weich und fein sein könnte. + +Plötzlich riß die Trollin ihre Rindenbutte vom Rücken, holte ihr eignes +Junges heraus und setzte es neben das Menschenkind. Und, als sie nun +sah, welcher Unterschied zwischen den beiden war, konnte sie es nicht +lassen, vor Wut laut aufzuheulen. + +Unterdessen hatten der Bauer und sein Weib ihre Pferde wieder gebändigt, +und sie kamen nun zurück, um ihr Kind zu suchen. Als die Trollin sie +herankommen hörte, kamen ihr fast die Tränen, denn sie hatte sich noch +lange nicht an dem Menschenkind satt gesehen. Sie blieb sitzen, bis die +Reitenden fast in Sehweite waren, da faßte sie einen raschen Entschluß. +Sie ließ ihr Junges am Wegesrand liegen, aber das Menschenkind steckte +sie in ihre Rindenbutte und lief damit in den Wald. + + * * * * * + +Kaum war die Trollin in den Wald verschwunden, als der Bauer und seine +Frau zum Vorschein kamen. + +Es waren prächtige Bauersleute, reich und geachtet und mit einem schönen +Hof am Fuße des Waldhügels. Sie waren schon viele Jahre verheiratet, +aber sie hatten nur dieses einzige Kindchen. Man kann sich also denken, +wie sehr ihnen am Herzen lag, es wieder zu finden. + +Die Frau war dem Manne um ein paar Pferdelängen voraus und erblickte +zuerst das Kind, das am Wegesrand lag. Es schrie aus Leibeskräften, um +die Trollin zurückzurufen, und die Bäuerin hätte schon an dem Geheul +merken können, was für ein Kind das war. Aber sie hatte solche Angst +ausgestanden, daß der Kleine sich im Fallen erschlagen haben könnte, +daß sie bei dem Geschrei nur dachte: Gott sei Dank, daß er am Leben ist. +»Da liegt das Kind,« rief sie dem Manne zu und glitt aus dem Sattel und +lief auf das Trolljunge zu. + +Als der Bauer zur Stelle kam, saß die Frau am Wegesrand und drehte das +Kind hin und her und sah aus wie jemand, der seinen Sinnen nicht trauen +kann. »Mein Kind hatte doch nicht Zähne wie die Stacheln,« sagte sie, +und ihre Stimme drückte immer größeren und größeren Schrecken aus; »mein +Kind hatte doch nicht Haare wie Schweinsborsten, mein Kind hatte doch +keine Kralle am kleinen Finger.« + +Der Bauer konnte nichts andres glauben, als daß sein Weib verrückt +geworden sei, und sprang nun auch vom Pferde. »Sieh das Kind an und sag, +ob du begreifen kannst, wie es sich so verändert hat,« sagte die Frau +und reichte es ihm. Er nahm es aus ihren Händen, aber kaum hatte er +einen Blick darauf geworfen, als er dreimal ausspuckte und es von sich +schleuderte. »Das ist doch ein Trolljunges,« rief er. »Das ist nicht +unser Kind.« Die Frau saß noch immer am Wegesrand. Sie war nicht rasch +von Gedanken und konnte nicht erraten, was sich begeben hätte. »Aber was +tust du denn mit dem Kinde?« fragte sie. »Ja, merkst du denn nicht, daß +das ein Wechselbalg ist?« sagte der Mann. »Die Trolle haben die +Gelegenheit benutzt, als unsere Pferde durchgingen. Sie haben unser Kind +gestohlen und eines von ihren eignen dafür hingelegt.« -- »Aber wo ist +denn dann jetzt mein Kind?« fragte die Frau. -- »Das ist eben bei den +Trollen,« antwortete der Mann. + +Nun begriff die Frau endlich das ganze Unglück. Sie erbleichte, und der +Mann glaubte, daß sie auf der Stelle ihren Geist aufgeben würde. + +»Unser Kind kann ja nicht weit fort sein,« sagte der Mann und versuchte +sie zu beschwichtigen, obgleich er selbst nicht viel Hoffnung hatte. +»Wir wollen in den Wald gehen und es suchen.« Damit band er die Pferde +an einen Baum und begab sich in das Dickicht. Die Frau stand auch auf, +um ihm zu folgen, als sie bemerkte, daß das Trolljunge auf dem Boden lag +und jeden Augenblick von den Pferden totgetrampelt werden könnte, die +über seine Gegenwart unruhig schienen und einmal ums andre wild nach +hinten ausschlugen. Sie schauderte bei dem Gedanken, den Wechselbalg +anrühren zu müssen, aber sie schob ihn doch so, daß die Pferde ihn nicht +zertreten konnten. + +»Hier liegt die Schelle, die unser Kind in der Hand hatte, als du es +fallen ließest,« rief der Bauer aus dem Wald. »Jetzt weiß ich, daß ich +auf der rechten Spur bin.« Die Frau eilte ihm nach, und sie gingen in +den Wald und suchten lange und eifrig. Aber sie fanden weder Kind noch +Troll; und als die Dämmrung einbrach, mußten sie zu ihren Pferden +zurückkehren. + +Die Frau weinte und rang die Hände. Der Mann ging mit +aufeinandergepreßten Lippen und sagte nicht ein Wort, um sie zu trösten. +Er war aus altem gutem Stamm, der erloschen wäre, wenn er nicht einen +Sohn bekommen hätte. Er ging jetzt einher und zürnte der Frau, weil sie +das Kind hatte zu Boden fallen lassen. Sie hätte es doch vor allem +andern festhalten müssen. Aber als er sah, wie betrübt sie war, brachte +er es nicht übers Herz, sie zu tadeln. + +Der Bauer hatte der Frau in den Sattel geholfen, als ihr der Wechselbalg +einfiel. »Was sollen wir aber mit dem Trolljungen anfangen?« rief sie. +-- »Ja, wo ist denn das hingekommen?« sagte der Mann. -- »Es liegt dort +unter dem Busch.« -- »Da liegt es ja ganz gut,« sagte der Mann und +lächelte bitter. -- »Wir müssen es aber doch mitnehmen. Wir können es +doch nicht hier in der Wildnis lassen.« -- »Doch, das können wir sehr +gut,« sagte der Bauer und setzte den Fuß in den Steigbügel. + +Die Frau fand, daß der Mann eigentlich ganz recht hätte. Sie brauchten +sich doch nicht des Trollkindes anzunehmen. So ließ sie das Pferd ein +paar Schritte machen. Aber sie war von weicher und warmherziger +Gemütsart, und plötzlich war es ihr ganz unmöglich, weiterzureiten. +»Nein, es ist ja doch ein Kind,« sagte sie. »Ich kann es nicht hier +lassen, den Wölfen zum Fraße. Du mußt mir den Jungen reichen.« -- »Das tu +ich nicht,« sagte der Mann. »Er liegt ganz gut, wo er liegt.« -- »Wenn +du ihn mir nicht jetzt bringst, so muß ich heute abend wieder herkommen +und ihn holen,« sagte die Frau. -- »Mir scheint, es ist nicht genug, daß +die Trolle mir meinen Knaben gestohlen haben,« sagte er, »sie haben +auch noch meinem Weibe den Kopf verdreht.« Aber dabei hob er doch das +Kind auf und reichte es der Frau, denn er hatte eine große Liebe zu ihr +und war es gewohnt, ihr in allem zu Willen zu sein. + +Am nächsten Tage war das Unglück im ganzen Kirchspiel bekannt, und alle, +die alt und klug waren, eilten in die Hütte des Bauern, um gute +Ratschläge zu geben. »Wer einen Wechselbalg im Hause hat, muß ihm jeden +Tag mit einem derben Stecken Schläge geben,« sagte eine der Alten. +»Warum soll man denn so übel mit ihm umgehen?« fragte die Bäuerin. +»Freilich ist er häßlich, aber er hat doch nichts Böses getan.« -- »Ja, +wenn man das Junge schlägt, bis das Blut fließt, dann kommt schließlich +die Trollin herangesaust, wirft einem das eigne Kind zu und nimmt ihres +mit. Ich weiß viele, die es so gemacht haben, um ihr Kind wieder zu +bekommen.« -- »Aber diese Kinder sind dann nicht lange am Leben +geblieben,« sagte eine der alten Frauen; und die Bäuerin dachte bei sich +selbst, daß sie dieses Mittel nicht anwenden könnte. Das wäre ihr +unmöglich gewesen. + +Gegen Abend, als die Bäuerin mit dem Wechselbalg allein in der Stube +war, begann sie sich auf einmal so heftig nach ihrem eignen Kinde zu +sehnen, daß sie gar nicht wußte, wo aus noch ein. »Vielleicht sollte ich +doch das versuchen, was sie mir geraten haben,« dachte sie, aber sie +konnte sich doch nicht entschließen. + +In demselben Augenblick kam der Mann mit einem Stock in der Hand in die +Stube und fragte nach dem Wechselbalg. Da sah die Frau, daß der Mann den +Rat der klugen Frauen befolgen und das Trollkind prügeln wollte, um sein +eignes zurückzubekommen. »Es ist gut, daß er es tut,« dachte sie. »Ich +bin zu dumm. Ich könnte nie ein unschuldiges Kind schlagen.« + +Aber kaum hatte der Mann dem Trollkind einen Hieb versetzt, als die Frau +herbeistürzte und ihn am Arm packte. »Nein, schlag nicht, schlag nicht!« +bat sie. -- »Du willst wohl dein eignes Kind nicht wieder haben?« sagte +der Mann und versuchte sich loszumachen. -- »Freilich will ich es wieder +haben, aber nicht auf diese Art,« sagte die Frau. Der Mann erhob den Arm +zu einem neuen Schlag, aber ehe er fiel, hatte sich die Frau auf das +Kind geworfen, so daß der Hieb ihren Rücken traf. »Gott schütze mich,« +sagte der Mann, »jetzt sehe ich, du willst dich so anstellen, daß unser +Kind all sein Lebtag bei den Trollen bleiben muß.« Er blieb stehen und +wartete, aber die Frau blieb vor ihm liegen und schützte das Kind. Da +warf der Mann den Stock fort und ging unmutig aus der Stube. Er wunderte +sich später, daß er seinen Vorsatz nicht seinem Weibe zum Trotz +durchgeführt hatte, aber wenn sie da war, bezwang ihn irgend etwas: er +konnte ihr nicht zuwiderhandeln. + +Ein paar Tage vergingen in Schmerz und Trauer. Was die Bäuerin am +meisten quälte und ihren Kummer verdoppelte, war, daß sie für dieses +Trollkind zu sorgen hatte. Um seinetwillen hatte sie so bitter zu +leiden, daß es ihr fast die Kraft nahm, ihr eignes Kind zu betrauern. + +»Ich weiß rein nicht, was ich dem Wechselbalg zu essen geben soll,« +sagte sie eines Morgens zu ihrem Mann. »Er will nichts kosten, was ich +ihm vorsetze.« -- »Das ist nicht zu verwundern,« sagte der Mann. »Du +wirst doch schon gehört haben, daß die Trolle nichts anderes essen als +Frösche und Mäuse.« -- »Aber du kannst doch nicht verlangen, daß ich zum +Froschsumpf gehe und ihm dort das Essen hole,« sagte die Frau. -- »Nein, +ich verlange nichts dergleichen,« antwortete der Bauer. »Ich finde, es +wäre am besten, wenn er verhungern würde.« + +Die ganze Woche verging, ohne daß die Bäuerin imstande war, das +Trolljunge zu bewegen, irgend etwas zu sich zu nehmen. Es schrie nur, +wie es da in seiner Wiege lag, und wurde so elend und mager, daß kaum +noch etwas von ihm übrig blieb. Rings um ihn stellte die Bäuerin alles +mögliche gute Essen auf, das sie nur bereiten konnte; aber der +Wechselbalg fauchte und spuckte nur, wenn sie ihn überreden wollte, +etwas von den Leckerbissen zu kosten. + +Eines Abends, als das Trollkind so aussah, als sollte es Hungers +sterben, kam die Katze mit einer Maus zwischen den Zähnen in die Stube +gelaufen. Da riß die Bäuerin der Katze die Maus aus dem Rachen, warf sie +dem Kind hin und verließ hastig die Stube, um nicht sehen zu müssen, +wie das Trolljunge aß. + +Aber als der Bauer merkte, daß die Frau wirklich anfing, Frösche und +Spinnen für den Wechselbalg zu sammeln, da begann er einen solchen +Abscheu vor ihr zu empfinden, daß er ihn kaum verbergen konnte. Er +konnte sich nicht überwinden, ihr ein freundliches Wort zu sagen; und +wäre nicht jene wunderliche Macht gewesen, die sie über ihn besaß, so +hätte er sie sogleich verlassen. + +Auch die Dienstleute begannen der Bäuerin Ungehorsam und +Unehrerbietigkeit zu zeigen, ohne daß der Bauer sich darum kümmerte. + +Die Frau merkte bald: wenn sie fortführe, den Wechselbalg in Schutz zu +nehmen, würde sie es mit ihrem Manne, dem Gesinde und den Nachbarn sehr +schwer haben; aber sie war nun einmal so: wenn es jemand gab, den alle +andern haßten, mußte sie ihre äußerste Kraft aufbieten, um einen solchen +armen Wicht zu schützen. Und je mehr sie um des Wechselbalgs willen litt +und sich quälte, desto getreulicher wachte sie darüber, daß ihm nichts +Böses widerfahre. + +Ein paar Jahre später an einem Vormittag saß die Bäuerin allein in der +Stube und nähte Flicken um Flicken auf ein kleines Kinderkleid. »Ach +ja,« dachte sie, während sie so nähte, »der hat keine guten Tage, der +für ein fremdes Kind sorgen muß.« + +Sie nähte und nähte, aber die Löcher waren so groß und so zahlreich, daß +ihr die Tränen in die Augen kamen, wenn sie sie ansah. »Aber so viel +weiß ich,« dachte sie, »wenn ich meines eignen Sohnes Kittelchen +flickte, da wollte ich die Löcher nicht zählen.« + +»Ich habe es doch gar zu schwer mit dem Wechselbalg,« dachte die +Bäuerin, als sie ein neues Loch entdeckte. »Das Beste wäre schon, wenn +ich ihn tief in den Wald führte, so tief, daß er nicht mehr heimfinden +könnte, und ihn dort zurückließe.« + +»Obgleich ich mir gar nicht so viele Mühe zu geben brauchte, um ihn los +zu werden,« fuhr sie nach einem Weilchen fort. »Ich brauchte ihn nur +einen Augenblick ohne Aufsicht zu lassen, dann würde er schon im Brunnen +ertrinken oder im Herde verbrennen oder vom Hunde gebissen oder von den +Pferden gestoßen oder von den Knechten erschlagen werden. Ja, es wäre +ein Leichtes, ihn los zu werden, denn ausgelassen und schlimm ist er, +und es gibt keinen, der ihn nicht haßte. Ich glaube, wenn ich ihn nicht +beständig um mich hätte, würde gleich jemand die Gelegenheit benützen +und ihn umbringen.« + +Sie ging hin und sah das Kind an, das in einer Ecke der Stube lag und +schlief. Es war sehr gewachsen und sah nun noch viel häßlicher aus, als +da sie es zum ersten Male erblickt hatte. Es hatte große, wulstige +Lippen, die Augenbrauen waren wie zwei steife Bürsten, und die Haut war +ganz braun. + +»Deine Kleider flicken und über dich wachen, ginge wohl noch an,« dachte +sie. »Wenn ich deinetwegen nicht schlimmere Sorgen hätte. Es ist ja +fast, als hätte ich den Verstand verloren, daß ich so viel um dich +leide, wo du doch nichts andres bist als ein widerwärtiger Troll. Mein +Mann verabscheut mich, die Knechte verachten mich, die Mägde höhnen +mich, die Katze faucht mich an, der Hund knurrt, wenn er mir begegnet; +und an dem allen bist du nur schuld.« + +»Aber daß Tiere und Menschen mich hassen, ist noch nicht das +Schlimmste,« fuhr sie nachdenklich fort. »Das Schlimmste ist, daß ich +mich jedesmal, wenn ich dich ansehe, um so mehr nach meinem eignen Sohn +sehne. O, mein liebes Kind, mein allerliebstes Goldkind, wo bist du +jetzt? Schläfst du jetzt bei der Trollin auf Moos und Reisig?« + +Da ging die Tür auf, und die Frau begab sich wieder zum Tisch und setzte +sich zu ihrer Näherei. Es war ihr Mann, der eintrat. Er hatte ein +lächelndes Gesicht und sprach mit freundlicherer Stimme als seit langer +Zeit. + +»Heute ist im Nachbardorf Jahrmarkt,« sagte er. »Wie wär es, wenn wir +hingingen?« + +»Ach, das wollte ich gar so gerne,« sagte die Frau und wurde sehr froh. + +»Nun, dann mach dich rasch fertig,« sagte der Mann. »Wir müssen zu Fuß +gehen, denn die Pferde sind bei der Arbeit. Aber wir kommen noch +zurecht, wenn wir den Weg über den Hügel nehmen.« + +Ein kleines Weilchen später stand die Frau in Feiertagskleidern auf der +Schwelle. Das war das Freudigste, was ihr nun schon seit Jahren begegnet +war, und sie hatte das Trollkind völlig vergessen. »Aber,« dachte sie +ganz plötzlich, »vielleicht will mein Mann mich nur fortlocken, damit +einer der Knechte das Trollkind erschlagen kann, während ich nicht +daheim bin.« Sogleich ging sie in die Stube und kam mit dem großen +Trolljungen auf dem Arm zurück. + +»Kannst du den Wechselbalg nicht daheim lassen?« fragte der Mann, aber +er lachte dabei und war ganz sanft. -- »Nein, ich traue mich nicht, von +ihm fortzugehen,« sagte sie. »Ja, das ist deine Sache,« sagte der Bauer, +»aber es wird dir schwer werden, solch' einen Bengel den Hügel +hinaufzuschleppen.« + +Sie begannen nun ihre Wanderung, aber es ging steil aufwärts, man mußte +einen hohen Gebirgsgrat erklimmen, ehe man in das benachbarte Dörfchen +kam. + +Die Frau wurde schließlich so müde, daß sie kaum mehr einen Fuß vor den +andern setzen konnte. Einmal ums andre suchte sie den großen Burschen zu +überreden, selbst zu gehen, aber er wollte nicht. + +Der Mann war die ganze Zeit über vergnügt und so freundlich, wie er noch +nie gewesen war, seit sie ihr Kind verloren hatten. »Jetzt mußt du mir +aber den Wechselbalg geben,« sagte er, »ich werde ihn ein Weilchen +tragen.« -- »Ach nein, ich kann schon,« sagte die Frau, »ich will nicht, +daß du von diesem Trollzeug Beschwerden hast.« -- »Warum sollst du dich +allein damit abplagen,« sagte er und nahm den Wechselbalg. + +Als der Bauer das Kind nahm, war der Weg gerade am allersteilsten. Er +führte ganz schmal und schlüpfrig am Rande eines Abgrundes vorbei, und +es war kaum Platz, um den Fuß aufzusetzen. Die Frau ging hinter ihm, und +sie bekam plötzlich große Angst, daß dem Mann etwas geschehen könnte, +wie er da ging und das Kind trug. »Geh hier vorsichtig,« rief sie. Sie +meinte, wenn er so rasch und unachtsam ginge, müßte er stürzen. Gleich +darauf glitt er auch wirklich aus und hätte fast das Trolljunge in den +Abgrund fallen lassen. + +»Nein, wenn das Kind jetzt gefallen wäre, dann wären wir es für alle +Zeit los gewesen,« dachte sie. Aber in demselben Augenblicke stand es +ihr klar vor Augen, daß es die Absicht des Mannes war, das Kind hier +hinunterzuwerfen und dann zu tun, als wäre ein Unglück geschehen. -- +Ach, ach, dachte sie, ist es so?! Er hat das alles nur so eingerichtet, +um das Kind zu beseitigen, ohne daß ich merke, daß er es mit Absicht +tut. Ja, wäre es nicht am besten, wenn ich ihm seinen Willen ließe? + +Wieder rutschte der Mann auf einem lockern Stein aus, wieder wäre ihm +das Kind fast aus dem Arm gefallen. »Gib mir das Kind, du fällst damit,« +sagte die Frau. -- »Nein,« sagte der Mann, »ich werde schon aufpassen.« +-- »Du sollst es mir geben,« rief die Frau, »du bist schon zweimal +ausgeglitten.« + +In demselben Augenblick rutschte der Mann zum drittenmal aus. Er +streckte die Arme nach einem Baumast, um sich daran festzuhalten, und +das Kind fiel. Die Frau kam dicht hinterdrein, und obgleich sie eben +noch gedacht hatte, daß es schön wäre, den Wechselbalg loszuwerden, +stürzte sie nun vor, packte einen Zipfel des Kittelchens und zog das +Kind daran wieder auf den Weg. Da wendete sich der Mann zu ihr. Sein +Gesicht war jetzt häßlich und wie verwandelt. »Als du unser Kind im +Walde fallen ließest, warst du nicht so flink,« sagte er zornig. + +Die Frau antwortete nichts. Sie saß auf der Erde und weinte darüber, daß +die Freundlichkeit des Mannes nur gespielt gewesen war. »Warum weinst +du?« sagte er hart. »Es wäre wohl kein so großes Unglück gewesen, wenn +ich den Balg hätte fallen lassen. Komm jetzt, es wird spät.« -- »Ich +glaube, ich hab keine Lust mehr, auf den Markt zu gehen,« sagte sie. -- +»Na ja, mir ist die Lust auch vergangen,« sagte er. »Ich will lieber +nach Hause,« sagte die Frau. »Ja, warum sollten wir auch hin, wenn es +uns keine Freude macht,« sagte der Mann und war einig mit ihr. + +Auf dem Heimwege ging der Mann einher und fragte sich, wie lange er es +noch mit seinem Weibe aushalten könnte. Wenn er nun von seiner Macht +Gebrauch machte und ihren Willen zwänge, dann könnte ja noch alles +zwischen ihnen wieder gut werden, meinte er; aber so, wie es jetzt war, +wollte er am liebsten von ihr befreit sein. Er war nahe daran, Gewalt +gegen sie anzuwenden und das Kind an sich zu reißen, aber gerade da +begegnete er dem Blick des Weibes, der so schwermütig und traurig auf +ihm ruhte, daß er es nicht vermochte, hart gegen sie zu verfahren. Um +ihrer Trauer willen tat er sich Gewalt an, wie er es bisher getan hatte, +und alles blieb, wie es gewesen war. + +Wieder vergingen ein paar Jahre, und es kam eine Sommernacht, wo im +Bauernhof eine Feuersbrunst ausbrach. Als die Leute aufwachten, waren +Stube und Kammer voll Rauch, und der ganze Dachboden war ein Feuermeer. +Es war gar nicht daran zu denken, zu löschen oder zu retten; man konnte +nur hinausstürmen, um nicht zu verbrennen. + +Der Bauer ging in den Hof hinaus und stand da und sah das brennende Haus +an. »Eins möchte ich wissen, wer mir das angetan hat?« -- »Wer? Nun, wer +sollte es wohl anders sein als der Wechselbalg?« sagte ein Knecht. »Es +war schon lange immer sein Spiel, Scheiterhaufen aus Reisig zu machen +und sie anzuzünden.« -- »Gestern hat er einen großen Haufen trockne +Zweige auf den Dachboden getragen,« sagte die Magd. »Er wollte sie eben +anzünden, als ich kam und ihn bemerkte.« -- »Gewiß hat er sie gestern +Abend in Brand gesteckt,« sagte der Knecht. »Ihr könnt ganz sicher sein, +daß er das Unglück verursacht hat.« + +»Wenn er nur wenigstens verbrennen wollte,« sagte der Bauer, »dann +wollte ich nicht klagen, daß meine alte Hütte durch ihn in Flammen +aufgegangen ist.« Wie er das eben sagte, trat die Frau aus dem Hause und +schleppte das Kind hinter sich her. Da stürzte der Bauer heran, entriß +ihr das Kind, hob es hoch in die Luft und warf es wieder in das Haus +zurück. Das Feuer schlug gerade zum Dach und zu den Fenstern heraus, und +die Hitze war fürchterlich. Einen Augenblick sah die Frau den Mann an, +leichenblaß vor Schrecken, dann kehrte sie um und eilte in das Haus +zurück, dem Kinde nach. + +»Es macht mir gar nichts, wenn du mit verbrennst,« rief ihr der Bauer +nach. Sie kam jedoch wieder heraus und hatte das Kind in den Armen. Ihre +Hände waren arg verbrannt, und das Haar war fast abgesengt. Niemand +sagte ein Wort zu ihr, als sie herauskam. Sie ging zum Brunnen, löschte +ein paar Funken, die an ihrem Rocksaum glühten, und setzte sich dann auf +den Boden. Das Trollkind lag auf ihrem Schoß und schlummerte bald ein, +doch sie saß hochaufgerichtet und wach da und starrte mit traurigen +Augen vor sich hin. Eine ganze Menge Menschen eilten herbei, um zu +löschen, aber niemand sprach zu ihr. Es sah aus, als meinten alle, daß +sie etwas Häßliches und Unheimliches an sich hätte, das Schrecken und +Abscheu errege. + +Bei Tagesanbruch, als das Feuer gelöscht war, kam der Bauer auf sie zu. +»Ich halte es nicht länger aus, ich kann nicht mit Trollen +zusammenleben, obgleich ich dich ungern verlasse. Ich gehe jetzt meiner +Wege und komme nie wieder.« + +Als die Frau diese Worte hörte und sah, wie der Mann sich gleich darauf +abwendete, um seiner Wege zu gehen, da fuhr ein Zucken durch sie, als +wollte sie ihm nacheilen, aber das Trollkind lag schwer auf ihrem +Schoß. Sie schien nicht Kraft genug zu haben, es abzuschütteln, sondern +blieb sitzen. + +Aber kaum war der Bauer in den Wald gekommen, als ihm ein kleiner Knirps +in vollem Lauf über die Hügel entgegenkam. Er war schön wie ein junges +Bäumchen, so schmal und schlank, das Haar war seidenweich, und die Augen +leuchteten wie blauer Stahl. »Ach ja, so wäre mein Sohn jetzt, wenn ich +ihn hätte behalten dürfen,« dachte der Bauer. »Einen solchen Erben hätte +ich gehabt. Das wäre freilich ein ander Ding gewesen als das schwarze +Ungetüm, das meine Frau mir ins Haus gebracht hat.« + +»Grüß Gott,« sagte der Bauer, »wohin gehst du denn?« -- »Grüß Gott,« +sagte das Bürschchen und reichte ihm die Hand. »Wenn du erraten kannst, +wer ich bin, sollst du erfahren, wohin ich gehe.« + +Als der Bauer die Stimme hörte, wurde er ganz blaß. + +»Ich kenne diese Stimme,« sagte er. »Wenn mein Sohn nicht bei den +Trollen wäre, würde ich sagen, daß du es bist.« -- »Ja, jetzt habt Ihr +recht geraten, Vater,« sagte das Bürschchen und lachte. »Und weil Ihr +recht geraten habt, sollt Ihr auch wissen, daß ich auf dem Wege zur +Mutter bin.« -- »Du sollst nicht zur Mutter gehen,« sagte der Bauer. +»Sie fragt gar nicht nach dir. Sie hat für niemand ein Herz, als für ein +großes garstiges Trolljunges.« -- »Meint Ihr das, Vater?« sagte der +Knabe und sah dem Vater tief in die Augen. »Dann ist es vielleicht +besser, wenn ich fürs erste bei Euch bleibe.« + +Der Bauer war so froh über das Kind, daß ihm die Tränen in die Augen +kamen. »Ja, bleib du nur bei mir,« sagte er und nahm den Knaben in seine +Arme und küßte ihn. Er hatte förmlich Angst, ihn aufs neue zu verlieren, +und wagte es nicht, ihn wieder auf den Boden zu stellen, sondern +wanderte mit dem Kinde im Arme weiter. + +Als er ein paar Schritte gegangen war, begann der Kleine zu plaudern. +»Das ist gut, daß Ihr mich nicht so tragt, wie Ihr den Wechselbalg +getragen habt,« sagte der Knabe. »Was meinst du damit?« fragte der +Bauer. »Ja, die Trollin ging auf der andern Seite der Kluft mit mir, und +jedesmal, wenn Ihr mit dem Kinde ausglittet, Vater, glitt sie mit mir +aus.« »Ach was, ihr gingt auf der andern Seite der Kluft?« sagte der +Bauer und wurde plötzlich ganz nachdenklich. »Nie habe ich solche Angst +gehabt,« sagte das Bürschchen. »Als Ihr das Trollkind in die Schlucht +warft, wollte mich die Trollin hinterherwerfen. Wäre Mutter nicht so +geschwind gewesen und hätte den andern gerettet --« + +Der Bauer begann langsamer zu gehen, während er dem Kleinen Fragen +stellte. »Du mußt mir doch erzählen, wie es dir bei den Trollen ergangen +ist.« »Manchesmal recht schlimm,« sagte der Kleine, »aber wenn Mutter +nur gut gegen das Trolljunge war, dann war die Trollin auch gut gegen +mich.« + +»Pflegte sie dich vielleicht zu schlagen?« fragte der Bauer. »Sie +schlug mich nicht öfter, als Ihr das andre Kind schlugt.« -- »Was +kriegtest du denn zu essen?« fragte der Bauer. »Jedesmal, wenn Mutter +dem Wechselbalg Spinnen und Mäuse gab, bekam ich Butterbrot. Aber wenn +ihr dem Trolljungen Kuchen und Fleisch vorsetztet, dann setzte mir die +Trollin Schlangen und Kröten vor. In der ersten Zeit wäre ich fast +verhungert. Wenn Mutter dann nicht mehr Barmherzigkeit bewiesen hätte +als ihr andern, so hätte ich wohl ins Gras beißen müssen.« + +Als das Kind dies sagte, machte der Bauer Kehrt und ging rasch in das +Tal hinab, seinem Hofe zu. »Ich weiß nicht, woher das kommt,« sagte er, +»aber es ist mir, als spürte ich einen Brandgeruch, wenn ich dich +anrühre, und dein Haar sieht aus, als ob es vom Feuer versengt wäre.« +»Das ist doch nicht zu verwundern,« sagte das Kind. »Ich wurde doch +heute Nacht ins Feuer geworfen, als Ihr das Trollkind in die brennende +Hütte schleudertet. Und wenn Mutter das Trolljunge nicht gerettet hätte, +so wäre ich wohl auch verbrannt.« + +Der Bauer schien nun solche Eile zu haben, daß er fast lief, um in sein +Heim und zu seinem Weibe zurückzukommen. Aber plötzlich blieb er stehen. +»Jetzt mußt du mir aber sagen, woher es kommt, daß die Trolle dich +freigegeben haben?« sagte er. -- »Als Mutter das opferte, was ihr mehr +ist als das Leben, hatten die Trolle keine Macht mehr über mich und +ließen mich ziehen,« sagte das Kind. -- »Hat sie geopfert, was ihr mehr +ist als das Leben?« fragte der Bauer. »Ja, das hat sie wohl, als sie +Euch ziehen ließ, ohne einen Versuch zu machen, Euch zurückzuhalten,« +sagte das Kind. + +Die Frau saß noch immer auf demselben Fleck am Brunnen. Sie schlief +nicht, aber sie schien wie versteinert. Sie vermochte sich nicht zu +rühren; und was rings um sie vorging, das bemerkte sie ebensowenig, als +wenn sie tot gewesen wäre. Da hörte sie die Stimme ihres Mannes nach ihr +rufen, und ihr Herz begann wieder zu pochen, und das Leben erwachte in +ihr. Sie schlug die Augen auf und sah sich wie eine Schlaftrunkne um. Es +war hellichter Tag, die Sonne schien, und die Vögel sangen, und es +schien ihr ganz unmöglich, daß sie an einem so schönen Morgen noch ihr +Unglück zu tragen haben sollte. Aber gleich darauf sah sie die +verkohlten Balken, die noch umherlagen, wo einst die Hütte gestanden +hatte, und eine Menge Menschen mit geschwärzten Händen und berußtem +Gesicht, und da kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie zu einem schwereren +Unglück erwachte als je zuvor; aber dennoch hatte sie das Gefühl, als ob +es nun zu Ende sein müßte. Sie sah sich nach dem Wechselbalg um. Er lag +nicht mehr auf ihrem Schoße und war auch nicht in der Nähe zu sehen. +Wäre alles wie sonst gewesen, sie wäre aufgesprungen und hätte nach ihm +gesucht, aber jetzt empfand sie gar keine Unruhe um ihn. Sie hörte ihren +Mann aus weiter Ferne rufen. Er kam aus dem Walde, zum Hofe hinunter, +und alle die fremden Menschen, die beim Löschen geholfen hatten, liefen +ihm entgegen und umringten ihn, so daß sie ihn nicht sehen konnte. Sie +hörte nur, wie er unaufhörlich rief: »Mutter, Mutter! komm doch und +sieh, komm und sieh!« Und die Stimme brachte Kunde von einer großen +Freude, aber sie blieb dennoch regungslos sitzen. Sie wagte ihm nicht +entgegenzugehen. Endlich kam die ganze Menschenschar auf sie zu, und der +Mann trennte sich von den andern und kam heran und legte ein schönes +Kind in ihre Arme. + +»Hier ist unser Sohn, er ist zu uns zurückgekehrt,« sagte der Mann. »Und +du -- und kein andrer -- hast ihn gerettet.« + + + + +Der Spielmann + + +Ein Spielmann geht eines Sonnabends spät nachts mit seiner Fiedel unterm +Arme einher. Er ist sehr munter und fröhlich, denn er kommt von einem +Feste, wo er mit seinem Spiel alt und jung zum Tanzen verlockt hat. + +Wie er nun so geht, denkt er just daran, wie niemand sich stille halten +konnte, solange sein Bogen im Gange war. Ein so wilder Tanz hatte durch +die Stube gewirbelt, daß es ihm ein paarmal gewesen war, als tanzten +Tische und Stühle mit. + +-- »Ich glaube doch sicherlich, daß sie niemals einen solchen Spielmann +wie mich an diesem Orte gehabt haben,« sagte er zu sich selbst. + +-- »Aber recht schwer habe ich es gehabt, bis ich ein so tüchtiger Kerl +wurde,« fährt er fort. »Das war kein Spaß, als ich noch ein Kind war und +die Eltern mir befahlen, Schafe und Kühe zu hüten, und ich alles vergaß +und nur dasaß und an meiner Geige zupfte. Ja, und nicht einmal eine +richtige Geige wollten sie mir daheim geben. Ich hatte nichts andres +zum Spielen als eine alte Holzkiste, über die ich Saiten gespannt +hatte.« + +»Am Tage, wenn ich allein im Walde sein durfte, ging es mir ja ganz gut, +aber es war kein Spaß, am Abend heimzukommen, wenn die Herde sich mir +verirrt hatte. Da bekam ichs unzählige Male von Vater und Mutter zu +hören, daß ich ein Taugenichts sei, und daß nie etwas aus mir werden +würde.« + +In dem Teil des Waldes, den der Spielmann durchwandert, bahnt sich ein +kleiner Bergstrom seinen Weg. Da ist der Boden steinig und hügelig, und +dem Strom macht es große Beschwerden, vorwärts zu kommen. Er windet sich +hin und her, stürzt sich über kleine Fälle und scheint doch nicht vom +Fleck zu kommen. Der Weg hingegen, den der Spielmann wandert, versucht +so schnurgerade zu gehen wie nur möglich. Er trifft so immer wieder mit +dem sich schlängelnden Bergstrom zusammen und springt jedesmal auf einem +kleinen Brücklein hinüber. Der Spielmann muß daher einmal ums andre den +Strom überschreiten; und das macht ihm Freude. Es ist ihm so, als hätte +er nun im Walde Gesellschaft gefunden. + +Er geht durch die helle Sommernacht. Die Sonne ist noch nicht +aufgestanden, aber es hat nicht viel zu sagen, daß sie sich ferne hält, +denn es herrscht doch auf jeden Fall volles Licht. Aber richtig so wie +am Tage ist es doch nicht. + +Alles hat eine andre Farbe. Der Himmel ist ganz weiß, die Bäume und die +hohen Kräuter im Grase sind glänzend grau. Aber alles ist ebenso +deutlich erkennbar wie am Tage, und als der Spielmann auf einer der +vielen Brücken stehen bleibt und in den Strom hinabblickt, kann er jedes +Bläschen unterscheiden, das durch das Wasser perlt. + +»Wenn ich solch einen Strom in der Wildnis sehe, muß ich mich an mein +eignes Leben erinnern,« denkt der Spielmann. »Ebenso halsstarrig wie er +habe ich mir meine Straße gebahnt, vorbei an allem, was sich mir in den +Weg stellte. Da war Vater: er stellte sich mir entgegen wie ein harter +Fels. Und da war Mutter: sie suchte mich still zu halten und mich +gleichsam zwischen Mooshügelchen einzubetten. Aber ich schlich mich an +Vater und Mutter vorbei, und hinaus in die Welt ging es.« + +»Haha, jaja, ich denke, Mutter sitzt daheim und weint noch um mich; aber +was kümmert das mich! Sie hätte doch verstehen können, daß aus mir etwas +werden mußte, und hätte nicht versuchen sollen, mir entgegen zu sein.« + +Ungeduldig reißt er ein paar Blätter von einem Busch ab und wirft sie in +den Strom. + +-- »So habe ich mich von allem daheim losgerissen,« sagt er, als er +sieht, wie das Wasser die Blätter forttreibt. + +-- »Möchte doch gerne wissen, ob Mutter erfahren hat, daß ich nun der +beste Spielmann in ganz Värmland bin?« sagt er, während er weiter +wandert. + +Er geht mit rüstigen Schritten vorwärts, bis er wieder zu einem Steg +kommt. Da bleibt er abermals stehen und sieht in den Strom hinab. Unter +der Brücke schäumt der Strom in reißendem Fall und macht ein +erschreckliches Getöse. Da es Nacht ist, hört man ganz andre Laute als +am Tage, und der Spielmann wundert sich gar sehr, wie er stehen bleibt +und lauscht. Da ist kein Vogelgesang im Walde und kein Spiel in den +Nadeln und kein Rascheln im Laube. Keine Wagenräder knarren auf dem +Wege, und keine Kuhschellen klingeln. Man hört nur den Bergstrom, aber +gerade darum hört man ihn wohl umsoviel besser und anders als am Tage. +Es klingt, als wenn alles Denkbare und Undenkbare in der Tiefe des +Stromes wäre. Vor allem klingt es, als wenn jemand dort unten säße und +zwischen großen Steinen Korn mahlte, aber zuweilen klingt es so, wie +wenn Becher bei einem Trinkgelage aneinander stoßen, und manchmal hört +man ein Murmeln, wie wenn die Gemeinde aus der Kirche kommt und nach dem +Gottesdienst in eifrigem Gespräch auf dem Kirchenhügel steht. + +-- »Das hier ist wohl auch eine Art Musik,« denkt der Spielmann, +»obschon ich nicht finden kann, daß es besonders weit damit her ist. Ich +sollte doch meinen, daß die Weise, die ich jüngst gesetzt habe, mehr +wert ist, daß man auf sie horche.« + +Aber je länger der Spielmann steht und dem Wasserfall lauscht, desto +besser und besser gefällt ihm dessen Lied. + +-- »Ich glaube wirklich, du nimmst dich zusammen,« sagt er zum +Wasserfall. »Du mußt wohl merken, daß der beste Spielmann von ganz +Värmland da steht und dir zuhört.« + +In demselben Augenblick, wo er dies sagt, vermeint er, aus der Tiefe ein +paar metallklare Laute zu vernehmen, wie wenn jemand an einer Saite +zupft, um zu prüfen, ob sie stimme. + +»Sieh da, nun ist der Wassermann selbst zur Stelle gekommen; ich höre, +wie er an seiner Fiedel zupft,« sagt der Spielmann und lacht. »Aber ich +kann doch nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben und darauf warten, +daß du anfängst,« ruft er gleich darauf ins Wasser hinab. »Nun muß ich +weiter gehen, aber ich verspreche dir, daß ich auch auf der nächsten +Brücke stehen bleiben und horchen will, ob du zu spielen begonnen hast.« + +Er wandert weiter, und während der Strom auf seinem geschlängelten Wege +in den Wald hineinläuft, fängt er wieder an, an seine Heimat zu denken. + +-- »Ich möchte wohl wissen, wie es mit dem kleinen Bächlein steht, das +an unserm Gehöft vorbeifließt; das wollte ich gerne wieder einmal sehen. +Ich sollte doch einmal heimgehen, um zu sehen, ob die Mutter dürftige +und schwere Zeit hat, seit Vater tot ist, -- wenn ich nur die Zeit +finden könnte. Aber ich bin so beschäftigt; da ist es fast unmöglich. +Ich kann zu nichts anderm Zeit finden als für meine Fiedel; es gibt ja +kaum einen Abend in der Woche, an dem ich frei wäre.« + +Nach einem kleinen Weilchen trifft er den Strom wieder, und damit kommt +er allsogleich auf andre Gedanken. Bei diesem Übergang kommt der +Bergstrom nicht in einem donnernden Wasserfall herangestürzt, sondern er +fließt ganz sacht vorbei. Tiefschwarz und blank liegt er unter den +nächtig grauen Bäumen des Waldes und trägt noch hier und dort einen +schneeweißen Schaumkamm von den obern Fällen. + +Als der Spielmann auf das Brücklein kommt und keinen andern Laut vom +Strome hört als hie und da ein leises Plätschern, fängt er abermals zu +lachen an. + +-- »Ich konnte es mir ja denken, daß der Neck sich nicht bequemen würde, +zum Stelldichein zu kommen,« rief er. »Freilich habe ich immer gehört, +daß er ein tüchtiger Spielmann sein soll, aber gar so weit her kann es +doch nicht mit ihm sein, wenn er immer ganz still im Bach liegt und nie +etwas Neues zu hören bekommt. Er weiß schon, daß hier einer steht, der +die Sache besser versteht als er, und darum will er sich nicht hören +lassen.« + +Damit geht er weiter und verliert den Strom wieder aus den Augen. + +Er kommt in eine Gegend des Waldes, die ihn immer unheimlich und +gruselig zu durchwandern däuchte. Da ist der Boden von Steinen und +Geröll bedeckt, und verkrümmte Tannenwurzeln schlängeln sich dazwischen +durch. Wenn es etwas Verhextes oder Gefährliches im Walde gäbe, sollte +man wohl meinen, daß es sich gerade hier verborgen halten müßte. + +Als der Spielmann zwischen die wilden Steinblöcke kommt, überläuft ihn +ein Schauder, und er fängt an zu bedenken, ob es nicht unklug von ihm +gewesen sei, sich vor dem Neck zu rühmen. + +Es dünkt ihn, daß die großen Tannenwurzeln Gebärden gegen ihn machten, +als wollten sie ihm drohen. + +-- »Hüte dich, du, der du mehr sein willst als der Wassermann!« scheinen +sie zu sagen. + +Der Spielmann fühlt, wie das Herz sich ihm vor Angst zusammenschnürt. +Eine solche Last legt sich ihm auf die Brust, daß er kaum atmen kann, +und seine Hände werden eiskalt. Er bleibt mitten auf dem Wege stehen und +sucht sich selbst Vernunft zuzusprechen. + +-- »Es gibt doch keinen Spielmann im Wasserfall!« sagt er. »Das ist nur +Aberglaube und Ammenmärchen. Darum ist es ganz gleichgültig, was ich von +ihm gesagt habe oder nicht gesagt habe.« + +Wie er so spricht, sieht er sich im Walde um, als wollte er bekräftigt +finden, daß es sich so verhalte, wie er gesagt. Wenn es Tag gewesen +wäre, so hätte wohl jedes Blättchen ihm zugeblinkt, daß es im Walde +nichts Gefährliches gäbe; aber jetzt bei Nacht stehen alle Bäume +verschlossen und stumm da und sehen aus, als bärgen sie gefährliche +Heimlichkeiten. + +Der Spielmann wird auch immer ängstlicher. Was ihm am meisten Schrecken +einflößt, ist, daß er noch einmal über den Strom gehen muß, bevor der +und der Weg sich trennen und nach verschiednen Seiten ziehen. Er weiß +nicht, was der Wassermann ihm tun wird, wenn er über die letzte Brücke +geht. Vielleicht wird er eine große schwarze Hand aus den Fluten +emporrecken und ihn in die Tiefe ziehen. + +Er hat sich solche Angst eingejagt, daß er ernstlich daran denkt, +umzukehren. Aber dann würde er ja wieder den Strom treffen. Und wenn er +vom Wege abwiche und tiefer in den Wald hineinginge, dann müßte er ihm +wohl auch begegnen, wie der sich krümmte und schlängelte. + +Er fühlt solche Angst, daß er nicht weiß, was er anfangen soll. Er ist +von dem Strome verstrickt, gebunden und gefangen und sieht keine +Möglichkeit des Entrinnens. + +Aber nun fängt er zu laufen an, so rasch ihn die Beine tragen wollen, +denn es ist ihm etwas eingefallen: + +»Gerade hier macht der Strom eine weite Biegung in den Wald hinaus. Der +Wassermann hat bis zur nächsten Brücke einen viel weitern Weg als ich. +Vielleicht kann ich ihn überholen, ehe er noch ans Ziel gekommen ist.« + +Und er läuft, er läuft. + + * * * * * + +Endlich sieht er den letzten Steg vor sich. Gerade gegenüber auf der +andern Seite des Bergstroms liegt eine alte Mühle, die schon so manches +liebe Jahr verlassen dasteht. Das große Mühlrad hängt regungslos über +dem Wasser, die Schleuse vermodert oben auf der Erde, die Wasserrinnen +sind mit Moos bewachsen, und in den leeren Dachluken wuchern Steinwurz +und Moosflechte. + +-- »Wenn es noch wäre wie früher und es hier Menschen gäbe,« denkt der +Spielmann, »dann wäre ich nun aus aller Gefahr erlöst.« + +Aber es beruhigt ihn doch, ein Haus zu sehen, das ein Überbleibsel von +Menschenwerk ist, und als er den Strom überschreitet, hat er beinahe +keine Angst mehr. Es geschieht ihm auch gar nichts Gefährliches. Der +Wassermann scheint ihm nichts anhaben zu wollen. Der Spielmann wundert +sich nur über sich selbst, daß er sich wegen rein gar nichts solche +Furcht hat einjagen lassen. + +Er fühlt sich ganz fröhlich und geborgen, und noch froher wird er, als +die Tür der Mühle sich öffnet und ein junges Mägdlein ihm entgegenkommt. + +Sie sieht ganz aus wie eine gewöhnliche Bauerndirne. Sie hat ein +Baumwolltuch auf dem Kopfe, ein kurzes Röckchen und ein weites Leibchen, +aber die Füße sind bloß. + +Sie geht auf den Spielmann zu und sagt ihm ohne Umschweife: + +-- »Willst du mir eins spielen, so will ich dir eins tanzen.« + +-- »Ja, freilich,« sagt der Spielmann, der bei guter Laune ist, weil er +seine Angst abgeschüttelt hat, »das will ich wohl. Hab doch noch nie +einem schönen Mädchen, das tanzen wollte, Nein gesagt.« + +Er setzt sich auf einen Stein neben dem Mühldamm, lehnt die Fiedel ans +Kinn und hebt an zu spielen. + +Das Mädchen macht ein paar Schritte im Takt zu seinem Spiel, aber dann +bleibt es stehen. + +-- »Was ist denn das für eine Polka, die du da spielst?« sagt sie. »Da +liegt ja keine Kraft darin.« + +Der Spielmann ändert die Melodie, er versucht es mit einer, in der mehr +Schwung ist. Die Dirne bleibt mißmutig stehen. + +-- »Nach einer solchen Schleppolka kann ich nicht tanzen,« sagt sie. + +Da stimmt der Spielmann die wildeste Weise an, die er kennt. + +-- »Bist du mit der nicht zufrieden,« sagt er, »dann mußt du einen +Spielmann rufen, der es besser kann als ich.« + +Wie er das sagt, fühlt er, daß eine Hand seinen Arm gerade am Ellenbogen +packt und den Bogen zu führen und den Takt zu befeuern anfängt. + +Da entströmt der Geige eine Weise, wie er ihresgleichen niemals zuvor +gehört hat. Es ist ein so hurtiger Takt darin, daß es ihn bedünken will, +ein rollendes Rad könnte ihr nicht folgen. + +-- »Ja, das nenn ich eine Polka,« sagt die Dirne und beginnt sich im +Kreise zu drehen. + +Aber der Spielmann sieht sie nicht an. Er ist so erstaunt über die +Weise, die er spielt, daß er die Augen schließt, um besser zu hören. + +Als er sie nach einer Weile wieder aufschlägt, ist das Mädchen +verschwunden, aber er denkt nicht weiter daran. + +Er spielt weiter und immer weiter, denn nie zuvor hat er ein solches +Geigenspiel gehört. + +-- »Aber nun mag es wohl Zeit sein, aufzuhören«, denkt er schließlich +und will den Bogen niederlegen. + + * * * * * + +Aber der Bogen regt sich weiter. Er kann ihn nicht zum Stehen bringen. +Er gleitet auf und nieder über die Saiten und reißt die Hand und den Arm +mit. Und die Hand, die den Geigenhals umfaßt und auf den Saiten fingert, +die kann auch nicht loskommen. + +Der kalte Schweiß tritt dem Spielmann auf die Stirn, und er erschrickt +nun wirklich. + +-- »Wie soll dies enden? Soll ich bis zum jüngsten Tage hier sitzen und +spielen?« fragt er sich in Verzweiflung. + +Der Bogen jagt dahin und zaubert eine Weise nach der andern hervor; +stets ist es etwas Neues und so schön, daß der Arme denken muß: + +-- »Der auf meiner Geige spielt, der versteht die Kunst. Aber ich bin +all mein Lebtag ein elender Stümper gewesen. Jetzt erst lerne ich, wie +Musik klingen soll.« + +Für ein paar Augenblicke kann ihn die Musik so hinreißen, daß er sein +unglückseliges Schicksal vergißt. Aber dann fühlt er seine Arme vor +Müdigkeit schmerzen, und er wird aufs neue von Verzweiflung erfaßt. + +-- »Diese Geige darf ich nicht von mir legen, bis ich mich zu Tode +gespielt habe. Ich merke, daß der Neck sich nicht früher zufrieden +gibt.« + +Er fängt an, über sich selbst zu weinen, während er immer weiter spielt. + +-- »Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich daheim in dem kleinen +Hüttchen bei Mutter geblieben wäre. Was ist aller Ruhm wert, wenn dies +das Ende sein soll!« + +Da sitzt er nun Stunde um Stunde. Es wird Morgen, die Sonne geht auf, +und die Vögel singen rings um ihn her. Aber er spielt, er spielt ohne +Unterlaß. + +Da es ein Sonntag ist, der anbricht, bleibt er ganz allein an der alten +Mühle sitzen. Kein Mensch wandert in den Wald. Sie gehen alle zur Kirche +unten im Tal, und in die Dörfer, die die große Landstraße einsäumen. + +Es wird Vormittag, die Sonne steigt immer höher. Die Vögel verstummen, +aber es beginnt in den langen Nadeln der Tannen zu rauschen. + +Er läßt sich von der Hitze des Sommertages nicht aufhalten. Er spielt, +er spielt. Es wird endlich Abend, die Sonne sinkt zur Ruh, aber sein +Bogen braucht keine Ruhe, und sein Arm fährt fort sich zu regen. + +-- »Es ist ganz gewiß, daß dies mein Tod ist,« sagt er. »Und es ist eine +gerechte Strafe für meinen Übermut.« + +In tiefer Nacht kommt der erste Mensch, den er den ganzen Tag lang +gesehen hat, durch den Wald gewandert. Es ist ein altes armes Mütterchen +mit gebeugtem Rücken und grauem Haar und einem Gesichte, das von vielen +Sorgen vergrämt ist. + +-- »Das ist seltsam,« denkt der Spielmann. »Es ist mir, als wenn ich das +alte Weiblein kennen müßte. Kann es möglich sein, daß das Mutter ist? +Kann es möglich sein, daß Mutter so alt und grau geworden ist?« + +Er ruft sie laut und bittet sie. + +-- »Mutter, Mutter, komm her zu mir!« sagt er. Sie bleibt wie unwillig +stehen. + +-- »Ich höre, daß du der beste Spielmann in Värmland bist,« sagt sie. +»Was hast du mit einem armen alten Weibe wie mir zu schaffen?« + +-- »Mutter, Mutter, geh nicht an mir vorbei,« ruft der Spielmann, »komm +her und sieh mich an!« + +Da kommt sie näher und sieht, wie er da sitzt und spielt. Das Gesicht +ist bleich wie bei einem Toten, das Haar trieft von Schweiß, und das +Blut perlt unter seinen Nagelwurzeln hervor. + +-- »Mutter,« sagt der Spielmann, »nun habe ich mich bald zu Tode +gespielt, aber sage mir vorher noch, ob du mir verzeihen kannst, daß ich +dich in deinem Alter einsam und arm hausen ließ?« + +-- »Ja, gewiß, in Gottes, des Erlösers, Namen verzeih ich dir,« sagt die +Mutter. + +Aber wie sie dies sagt, bleibt der Bogen stehen, die Fiedel fällt aus +den erstarrten Fingern zu Boden, und der Spielmann steht erlöst und +gerettet auf. Denn der Zauber ist gebrochen, weil seine alte Mutter zu +ihm gekommen ist und Gottes Namen über ihn ausgesprochen hat. + + + + +Noch ein Stück Lebensgeschichte + +(Geschrieben zu meinem fünfzigsten Geburtstag) + +Die erste Prophezeiung + + +Es läßt sich denken, daß es auf dem alten Herrenhof Morbacka am +zwanzigsten November des Jahres 1858 recht unruhig zugegangen ist. Ein +Kind ist an diesem Tage zu ziemlich später Abendstunde geboren worden, +und so etwas bringt ja immer Verwirrung und Aufregung mit sich, selbst +an einem Ort, wo man die Gewohnheit hat, das Leben ruhig zu nehmen und +nicht mehr Wesens von einer Sache zu machen, als sie wirklich verdient. + +Am dunkeln Abend, so gegen neun Uhr, kommt die Pastorin, die im +Nachbarhause wohnt, und steckt den Kopf zur Küchentür herein. Es ist +eine kleine, alte Frau, eine Verwandte und gute Freundin, die von allen +Menschen Tante Wennervik genannt wird. Sie hat es zu Hause nicht +aushalten können, sondern hat einen Schal über den Kopf geworfen, eine +Laterne in die Hand genommen und sich auf dem schmalen Abkürzungsweg, +der hinter dem Garten läuft, herübergetappt, um zu hören, wie es stehe. + +Die Pastorin wird gleich in die Kammer neben der Küche geführt. Dort +wohnt die alte Frau Lagerlöf, die Witwe des Regimentsschreibers +Lagerlöf, noch heute, so wie sie ihr ganzes Leben lang da gewohnt hat, +als junges Mädchen und als verheiratete Frau. Sie sitzt, siebzigjährig +und weißhaarig, in ihrer Sofaecke und strickt den Enkelkindern Strümpfe, +ganz wie immer. Drinnen bei ihr ist alles ruhig, und sie selbst ist +ruhig, denn der Sohn, Leutnant Lagerlöf, der nach seines Vaters Tode das +Gut übernommen hat, ist eben hier gewesen und hat ihr gesagt, daß das +Ärgste überstanden und das Kind zur Welt gekommen sei. + +So spät am Tage es auch ist, die Haushälterin stellt doch gleich die +Kaffeemaschine aufs Feuer, und bald kommt sie mit einem wohlbesetzten +Kaffeebrett in die Kammer. Nun sitzen Tante Wennervik und die alte Frau +Lagerlöf da und trinken ganz allein Kaffee. Tante Wennervik erfährt, daß +das jüngste Enkelkind ihrer alten Freundin ein Mädchen sei, und die +beiden Alten, die die Grenze des Lebens erreicht haben, sitzen da und +sprechen davon, wie es der Neugeborenen, die ihr Leben gerade begonnen +hat, einst ergehen werde. + +»Es wird ihr so ergehen, wie sie es verdient, weder besser, noch +schlechter,« sagt die alte Frau Lagerlöf. + +»Es kommt auch aufs Glück an, will ich dir sagen, Schwester,« meint +Tante Wennervik. + +Während die Pastorin diese Bemerkung macht, beugt sich die alte Frau +Lagerlöf vor und fühlt das große Ridikül an, das Tante Wennervik immer +am Arm trägt. Es sind tausend Dinge darin, denn Tante Wennervik ist +eine, die für alles Rat weiß und darum beständig zu Hilfe gerufen wird. +Sie hat sich erst auf ihre alten Tage mit dem alten Pastor Wennervik +verheiratet, der Frau Lagerlöfs Bruder ist; und früher, ehe sie sich +verheiratete, ist sie Wirtschafterin auf vielen großen Gütern gewesen. +Darum versteht sie sich auf alles, nicht nur darauf, die feinsten Gewebe +aufzuziehen und die größten Hochzeitsschmäuse auszurichten, sondern auch +darauf, Kranke zu heilen und junge Bauernmädchen zu tüchtigen +Hausmüttern zu erziehen. + +Als die alte Frau Lagerlöf das Ridikül befühlt, merkt sie bald, daß +außer den Augengläsern und dem Nähzeug und der Medikamentenflasche und +dem Riechsalz und dem Webebuch und den Brustpastillen und dem +Schlüsselbund noch ein harter, viereckiger Gegenstand darin liegt. + +»Ich merke, daß du die Karten mithast, Schwester,« sagte sie. + +Tante Wennerviks welke Wangen werden ein wenig rot. Sie kann +prophezeien, und sie schlägt nie die Karten auf, ohne daß alles, was sie +voraussagt, eintritt. Es ist ihre kleine Schwäche, sich zu freuen, wenn +man ihre Kunst in Anspruch nimmt; aber das will sie nie zugestehen. Sie +beteuert, nicht die geringste Ahnung gehabt zu haben, daß sie die Karten +mit hat. Sie könne gar nicht begreifen, wie sie in das Ridikül gekommen +seien. + +»Aber wenn sie nun einmal da sind, kannst du sie doch für das arme Ding, +das heute abend geboren worden ist, aufschlagen,« sagt die alte Frau +Lagerlöf. + +Tante Wennervik ziert sich ein wenig, aber sie ist nicht sehr schwer zu +erweichen; und nun wird das Kaffeebrett beiseite gerückt, und die alte +Pastorin beginnt, die Karten zu legen. Sie hantiert mit großer Übung und +Fertigkeit, und wie die alte Frau Lagerlöf dasitzt und sie ansieht, kann +sie sich des Gedankens nicht erwehren, daß ihre alte Schwägerin wie eine +richtige Wahrsagerin aussehe. Sie hat einen dunkeln Teint und spielende +schwarze Augen und eine lange Hakennase. Auf dem Kopfe trägt sie eine +große schwarze Mütze, die mit einer scharfen Schnebbe in die Stirne +fällt, und an jeder Schläfe liegen drei Korkzieherlocken. Sie hat kein +einziges graues Haar und nicht ein Fleckchen in ihrem Gesicht, das noch +nicht von Runzeln übersponnen wäre. + +Tante Wennervik legt die Karten in vier Reihen: neun Karten in jeder +Reihe; und als dies geschehen ist, legt sie den Zeigefinger auf die +erste Karte und beginnt zu zählen: eins, zwei, drei, vier -- bis +sechzehn. Sie zählt hinauf und hinunter, von rechts und von links, und +bewegt den Finger, während sie zählt, von einer Karte zur andern. +Endlich bleibt sie sitzen und murmelt in sich hinein, als wäre sie nicht +recht zufrieden. + +»Nun, was siehst du, Schwester?« fragte die alte Frau Lagerlöf. + +»Kränklichkeit folgt ihr,« antwortete Tante Wennervik. »Damit muß sie +sich all ihr Lebtag abplagen.« + +»Ein jeder muß sein Kreuz tragen,« sagt die alte Frau Lagerlöf, »sonst +wird nichts Rechtes aus einem. Da wird es wohl ein stilles Leben führen, +dieses Kind, wenn es kränklich sein wird; und das ist ja ohnehin das +Beste für den Menschen.« + +Tante Wennervik legt den Zeigefinger wieder auf die Karten und beginnt +von neuem zu zählen. »Es liegen viele und lange Reisen vor diesem +Mädchen,« sagt sie. »Und viele Male muß sie übersiedeln und ihren +Wohnort wechseln.« + +»Ein rollender Stein deckt sich nicht mit Moos,« sagt die alte Frau +Lagerlöf. Sie ist nicht recht zufrieden damit, daß die Sohnestochter so +eine werden soll, die in Land und Reich herumzieht. »Ich verstehe: wenn +sie kränklich ist, dann wird sie auch arm sein und zu den Verwandten +herumgeschickt werden,« fährt sie fort. »Der hat es schlimm, der nicht +arbeiten und sich nützlich machen kann.« + +»Sie wird all ihr Lebtag arbeiten und sich plagen müssen,« sagt Tante +Wennervik nach einer neuen Rechnung. »Darüber brauchst du dir keine +Sorgen zu machen, Schwester.« + +»Ja so, dann kommt es wohl so, daß sie ihr Brot bei Fremden verdienen +und oftmals die Herrschaft wechseln muß,« sagt die alte Frau Lagerlöf +und seufzt; denn es scheint ihr, die ihr ganzes Leben lang auf dem +eignen Hof gesessen hat, daß ein Leben bei Fremden das Allerärgste sein +müsse. Aber da sie es von jeher gewohnt ist, alles zum Besten zu wenden, +erhellt sich ihr Gesicht bald. »Es hat dir ja auch nur Segen gebracht, +Schwester, bei Fremden zu sein,« sagt sie. »Wenn sie ein ebenso +tüchtiger Mensch werden kann, dann hat es keine Not.« + +»Sie wird in ihrem ganzen Leben kein Gewebe aufziehen,« sagt Tante +Wennervik, die Nase in den Karten und so davon ausgefüllt, die Zukunft +zu erforschen, daß sie sich kaum klarmacht, was sie prophezeit. »Sie +wird viel mit Büchern und Papieren zu tun haben.« + +Die alte Frau Lagerlöf beugt sich über die Karten, wie um einen +Leitfaden in all dieser Wirrnis zu finden. »Sie wird viel mit Büchern zu +tun haben? Du meinst vielleicht, Schwester, daß sie einen armen +Geistlichen heiraten wird, der von einem Kirchspiel ins andre ziehen muß +und nie zur Ruhe kommt,« warf sie hin. »Aber wenn es nur ein +ordentlicher Mann ist, der sie gut behandelt ...« + +Tante Wennervik erhebt den Zeigefinger gerade in die Luft und +unterbricht sie. »Willst du, Schwester, daß ich dir sage, wie es ist?« +fragt sie. + +»Gewiß will ich das,« antwortet die alte Frau Lagerlöf. + +»Sie wird nie heiraten.« + +»So, so, sie wird nie heiraten ... Na ja, dann bleiben ihr vielleicht +viele Sorgen erspart. Aber weißt du, das ist gerade keine gute +Prophezeiung, die du mich heute abend hören läßt, Schwester. Aber du +kannst mir doch wenigstens sagen, ob sie ein braver, guter Mensch wird?« + +»Gut und freundlich wird sie sein,« sagte Tante Wennervik und guckt +wieder in die Karten, um nachzusehen, was sie ihr noch weiter zu sagen +haben. Aber die alte Frau Lagerlöf unterbricht sie etwas trocken: + +»Ich glaube, Schwester, du legst die Karten jetzt zusammen. Ich bin +froh, daß ich wenigstens weiß, daß ein ordentlicher Mensch aus ihr wird. +Das ist eigentlich das einzige, was man zu wissen braucht.« + + +Oceola + +Es gibt ein Buch, das Oceola heißt. Obgleich es möglich sein kann, das +ich mich nicht recht erinnre, und daß es irgendeinen andern prächtigen +exotischen Namen führt. Es ist ein Indianerbuch, wie man heutzutage +sagt, aber es ist wohl ursprünglich nicht für Kinder geschrieben, +sondern war bestimmt, von großen Leuten gelesen zu werden. Ich weiß +nicht, wer es verfaßt hat, ich weiß auch nicht, wann es geschrieben +wurde, aber es ist wohl recht alt, da es mehr als vierzig Jahre her ist, +seit ich es zum ersten Male gesehen habe. + +Ich kann auch nicht sagen, wie es kommt, daß das Buch seinen Weg in mein +Heim dort oben in Värmland fand. Es gehörte nicht zu dem Bücherschatz +des Hauses, der hauptsächlich aus Versdichtungen bestand und nur ganz +wenige Romane umfaßte. Vielleicht hatte es ein Besucher mitgebracht, +oder auch hatte es sich meine Tante, die eine große Romanvertilgerin +war, von irgendeinem der Nachbarn ausgeliehen. Aber wie dem auch sein +mag, -- eines ist sicher, daß es an einem schönen Tage, als ich etwa +sieben, acht Jahre alt bin, daheim auf einem Tische liegt, und daß meine +Augen darauf fallen. + +Ich lese gerne. Ich pflege jeden Tag auf einem Schemelchen neben Mutter +zu sitzen, wenn sie an ihrer Näherei arbeitet, und ihr aus Nösselts +»Weltgeschichte für Frauenzimmer« vorzulesen. Wir sind durch alle sieben +Teile gekommen, aber am besten verstehe ich den ersten Teil mit den +vielen Sagen. Ich kann nie aufhören, mich zu freuen, wenn Odysseus +heimkehrt und die Freier totschießt; aber Hektors und Andromaches +Abschied übergehe ich am liebsten, weil ich ihn nicht lesen kann, ohne +zu weinen. + +Die Frithjofsage und Andersens Märchen und Fähnrich Ståls Erzählungen +sind auch meine guten Freunde, aber einen Roman habe ich noch nie zu +lesen versucht. Ich beabsichtige auch garnicht, mich durch dieses dicke +Buch durchzuarbeiten. Es kommt mir vor, als müßte man mehrere Jahre +brauchen, um es zu Ende zu lesen; ich will nur hineingucken. Aber das +Glück will es, daß ich es gerade an der Stelle aufschlage, wo die Heldin +des Buches, die junge, schöne Tochter eines Plantagenbesitzers, beim +Bade von einem Alligator überrascht wird. Ich lese, wie sie entflieht +und verfolgt wird und in Todesgefahr schwebt. Nie zuvor hat mich ein +Buch in solche Spannung versetzt. Ich stehe atemlos und lese, bis der +junge heldenmütige Indianer zu ihrer Rettung herbeieilt und nach einem +furchtbaren Kampf mit dem Alligator diesem sein Messer in das Herz +stößt. + +Nun lese ich Seite um Seite, solange man mich in Frieden läßt. Und sowie +ich wieder frei bin (denn ich bin ja viele Stunden des Tages damit +beschäftigt, bei einer Lehrerin Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen), +kehre ich zu dem Tisch zurück, wo der Roman noch immer liegt, und lese +darin. + +Ich bin ganz benommen, ganz bezaubert. Tag und Nacht denke ich nur an +das Buch. Es ist eine neue Welt, die sich mir ganz plötzlich eröffnet +hat. Der ganze Reichtum des Lebens strömt mir zu. Da sind Liebe, +Heldenmut, schöne, edle Menschen, niedrige Schurken, Gefahren und +Freuden, Glück und Schmerz. Da sind kunstvoll verschlungne Ereignisse, +die mich in Spannung und Schrecken versetzen. Da ist alles mögliche, +wovon ein kleines, siebenjähriges Kind, das auf einem stillen Herrenhof +in Värmland aufgewachsen ist, nie zuvor hat reden hören. Man versetze +einen der erwachsenen Bewohner der Erde auf einen Stern im Weltenraume. +Ich glaube kaum, daß er diese neue Welt mit glühenderem Eifer +untersuchen könnte, mit größerem Interesse, mit einem stärkeren Gefühl, +wie wunderbar glücklich er sei, weil er all dies Ungeahnte kennen lernen +dürfe. + +Fortab lese ich alle Romane, die mir in die Hände fallen. Es läßt sich +schwer sagen, wieviel ich von ihnen verstand, aber ein unerhörtes +Vergnügen bereiteten sie mir. Jetzt sind sie meiner Erinnerung +entschwunden, die allermeisten wenigstens. + +Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, wundert es mich wohl, daß man mich +alles lesen ließ, was ich nur fand. Aber ich begreife, daß es Vater und +Mutter schwer fiel, mir etwas abzuschlagen. Jene Kränklichkeit, die +Tante Wennervik mir prophezeit hatte, war schon eingetreten. Das eine +Bein war schwach, und lange Zeit hindurch konnte ich gar nicht gehen. +Man fand es nicht zuträglich für mich, daß ich mich mit körperlichen +Übungen und Spielen belustigte wie andre Kinder; sondern die Eltern +sahen es am liebsten, wenn ich mich still verhielt. Und da sie nun +merkten, daß ich mich glücklich fühlte, wenn ich nur ein Buch in der +Hand hatte, waren sie froh, daß ich mich auf diese Weise zerstreuen +konnte. + +Aber für mich wurde die Bekanntschaft mit diesem Indianerbuche Oceola +entscheidend für das ganze Leben. Es erweckte in mir die tiefe, starke +Sehnsucht, einmal etwas ebenso Herrliches schaffen zu können. Dieses +Buch bewirkte, daß ich von den frühesten Kindheitsjahren an wußte, daß, +was ich in kommenden Tagen am liebsten tun wollte, Romane schreiben war. + +Ich hatte wohl durch Geschwister und Dienstleute gehört, was die alte +Tante Wennervik mir an dem Abend, an dem ich geboren wurde, über meine +Zukunft prophezeit hatte. Niemand wurde der Weissagung froh; nur ich +selbst, -- ich war zufrieden, weil sie mir versprach, daß ich viel mit +Büchern und Schreiben zu tun haben würde. Nach etwas anderm fragte ich +damals nicht. -- -- -- + +Ich will auch erzählen, daß es sich vor einigen Jahren, als ich schon +ein paar Bücher geschrieben hatte, zutrug, daß ich in dem Bücherstand +einer Eisenbahnstation ein kleines, dickes Büchlein erblickte, das +»Oceola« hieß. Es war schlecht gedruckt, auf häßlichem grauem +Zeitungspapier und in einen schäbigen braunen Umschlag geheftet; es +wurde für einen geringen Preis feilgeboten. Ich kaufte es, und als ich +im Zuge saß, begann ich darin zu lesen, um zu sehen, ob es wirklich das +Wunderbuch meiner Kindheit wäre, das ich hier wiedergefunden hatte. Ich +entdeckte auch die Szene mit den Alligator, -- es mußte also dasselbe +Buch sein. + +Aber es war es doch nicht. Dies war ein armseliges, langweiliges, +schlecht übersetztes, veraltetes Buch. Es war etwa so, wie wenn man den +Geliebten seiner Jugend als hinfälligen Kranken wiedersieht. Ich hatte +Angst davor, Angst, daß es das Bild der rechten, der strahlenden Oceola +verdunkeln könnte. Ich hatte die größte Lust, es zum Kupeefenster +hinauszuwerfen. + +Aber das konnte ich doch nicht tun. Es ging nicht an, dieses Buch zum +Fenster hinauszuwerfen. Genau bedacht, war etwas Rührendes darin, daß +mir ein solches Buch damals soviel Freude hatte schenken können. + +Es durfte mit nach Hause kommen, aber dann steckte ich es ganz tief +unten in den Bücherschrank, und ich wage es nie mehr anzusehen. + + +Meine Rose im Walde + +Als ich neun Jahre alt bin, geht eine andre von den bösen Prophezeiungen +der Pastorin Wennervik in Erfüllung. Da mache ich eine lange Reise. Ich +werde nach Stockholm geschickt, um Heilung für mein krankes Bein zu +suchen, und es wird mir verordnet, eine Kur im gymnastischen Institut +durchzumachen. Ich bleibe einen ganzen Winter in Stockholm, und die +Behandlung tut mir sehr gut. Als ich im Frühling heimkomme, bin ich +ebenso gesund wie andre Kinder, und man merkt es beinahe gar nicht, daß +ich hinke. + +Ich wohne bei nahen Verwandten, die sehr gut gegen mich sind, aber das +kann nicht hindern, daß ich mich ein wenig nach Hause sehne. Es fällt +mir schwer, mich an das Stadtleben zu gewöhnen. Es ist mir eine Last, +daß ich jedesmal, wenn ich ausgehe, Hut und Mantel anziehen muß. Ich mag +diese Welt von Steinstraßen nicht, wo die Kinder ebenso ordentlich und +still wie die Erwachsenen ihrer Wege gehen müssen. Ich verstehe mich +auch nicht auf die Spiele der stockholmer Kinder. Ich kann nicht in +ihren kleinen Schlitten fahren, und ich mache mir nichts daraus, mit +Puppen zu spielen. Ich fühle mich dumm und ungeschickt in Gesellschaft +dieser niedlichen und lebhaften Kinder, und ich habe große Angst, +ausgelacht zu werden, weil ich mit värmländischem Akzent spreche. + +Aber es gibt Dinge in der Hauptstadt, die über alle Beschreibung +herrlich sind und für alle Unannehmlichkeiten Ersatz bieten. So zum +Beispiel hat mein Onkel alle Romane von Walter Scott in seinem +Bücherschrank, und er leiht sie mir, so daß ich im Laufe des Winters die +ganze Sammlung durchlesen kann. Und dann das Theater! + +Bei meinen Verwandten wohnt eine alte treue Dienerin, die dem Haushalt +meines Onkels vorgestanden hat, bevor er sich verheiratete. Sie ist zu +alt, um an irgendwelchen Arbeiten teilzunehmen; sie sitzt tagaus, tagein +in einem schönen Lehnstuhl in ihrem eignen Zimmerchen und strickt und +häkelt. Onkel ist sehr gut gegen sie. Er ist besorgt, daß ihr die Zeit +zu einförmig werden könnte, und steckt ihr nicht selten eine +Theaterkarte zu. Aber wenn die Alte ins Theater geht, darf ich +mitkommen. Meine Verwandten haben schon entdeckt, welches ungeheure +Vergnügen mir dies bereitet, und sie sind vielleicht auch ein klein +wenig ängstlich, die Alte ganz allein fortzulassen. Meine Theaterbesuche +kosten überdies nichts. Die alte Ursula sagt dem Theaterdiener nur ein +gutes Wort, und ich darf mit hinein. Ich bekomme keinen Sitzplatz, +sondern muß vor ihr stehen, aber das hat nichts zu bedeuten. Im Theater +vergeht die Zeit so rasch, daß ich gar nicht müde werde, ehe alles schon +vorbei ist. + +Es gibt wohl noch heute Menschen, die sich an die ausgetretnen Stufen +und die schmalen Gänge im alten Opernhaus erinnern. Und es gibt auch +wohl noch den einen oder andern, der sich entsinnt, wie es in den +Korridoren roch. Ich komme manchmal im Ausland in irgendein altes +Schauspielhaus, wo derselbe Theatergeruch noch herrscht. Und wenn ich +ihn spüre, dann werde ich von der Seligkeit der Erwartung erfüllt. Es +kommt mir vor, als ob ich wieder als ein kleines Kind vor der Logentür +stünde und darauf wartete, daß der Diener komme und aufschließe. + +Ulla und ich, wir sitzen stets in der ersten Reihe der zweiten Galerie. +Wir gehen übrigens nicht immer in die Oper, sondern wir gehen auch in +das dramatische Theater, aber auch dort haben wir denselben Platz. + +Auf diese Weise sehen wir »Die Afrikanerin«, »Robert den Teufel«, den +»Freischütz«, »Die Värmländer«, »Die schöne Helena«, »Die Frauenschule«, +»Die Blumen im Treibhaus«, »Meine Rose im Walde«. Das ist wieder eine +neue bunte Welt, in die ich geführt werde. Es ist wirklich gut, daß ich +am Nähtisch meiner Mutter gesessen und Nösselts Weltgeschichte gelesen +habe. Wie hätte ich mich sonst zurechtfinden können! + +Aber eigentlich ist sie nicht ganz neu. Es ist ja meine ganze Romanwelt, +die so illustriert und mir in lebenden Bildern vorgeführt wird. So also +sehen sie aus, meine edeln Wilden, meine geharnischten Ritter. So geht +ein König gekleidet. So nimmt sich ein Klosterhof aus. In solchen +langen, grauen Mänteln wandeln Mönche und Nonnen umher. Ich lerne +sturmgepeitschte Meere, leuchtende Rittersäle und tropische Landschaften +kennen. Und ich nehme natürlich alles blutig ernst. Ich verstehe nicht, +daß die schöne Helena ein einziger großer Scherz ist. Ich glaube, daß +es wirklich so zugegangen sei, als Helena von Paris geraubt wurde, +obgleich Nösselt es zu erzählen vergessen hat. + +Wir haben ganz denselben Geschmack, die Alte und ich. Wir lieben +prächtige Dekorationen, prächtige Kostüme und große Szenen, wo es auf +der Bühne von Menschen wimmelt. Und natürlich kümmern wir uns +hauptsächlich um die Handlung. Vom Gesang und von der Musik verstehen +wir nicht viel. Wir werden eher davon belästigt, weil es uns schwer +fällt, die Worte zu hören, und weil wir den Zusammenhang verlieren. + +Aus einfachen Stücken, in denen keine Könige und Ritter auftreten, +machen wir uns nicht viel, obgleich ich für meinen Teil ein Volksstück +wie »Die Värmländer« sehr gerne habe, weil es mich an die Heimat +erinnert. Aber die alte Ulla ist unzufrieden, wenn sie nur Bauern auf +der Bühne sieht. Sie kränkt mich tief durch die Bemerkung, daß die +schöne Helena mit ihrer großen Königsschar doch etwas ganz andres sei. +Ich fühle mich für meine Landsleute verletzt, aber im tiefsten Grunde +bin ich eigentlich ihrer Meinung. + +Inzwischen geht der Winter zu Ende, und ich darf nach Hause reisen. Und +natürlich verfolgt mich die Erinnerung an alles, was ich gesehen habe, +und ich erzähle es meinen Geschwistern wieder und wieder. + +Eines Tages, als wir aus dem einen oder andern Anlaß keine Schularbeiten +haben, fällt es uns ein, daß wir Theater spielen und eines der Stücke +aufführen könnten, die ich in Stockholm gesehen habe. Wir entscheiden +uns für »Meine Rose im Walde«. Nicht weil es das hübscheste ist, was ich +gesehen habe, aber es ist das einfachste, das einzige, das wir uns +darstellen zu können getrauen. + +Es wird ein anstrengender Tag für mich. Ich bin es, die die Rollen +einstudiert und die Auftretenden unterweist, was sie sagen und tun +sollen. Wir haben kein Textbuch, sondern alles muß so gemacht werden, +wie ich es in der Erinnerung habe. Ich verwandle mit Hilfe von Decken +und Tüchern die Kinderstube in eine Bühne. Ich wähle die Kostüme aus, +ich erkläre, wie die Mitwirkenden frisiert und geschminkt sein müssen. +Ich bin ja die einzige, die einige Erfahrung in allen diesen Dingen hat. + +Noch vor dem Abend ist alles fertig, und das Schauspiel geht in Szene. +Zuschauer sind Vater, Mutter, Tante, die Erzieherin, die Haushälterin +und ein paar Dienstmädchen. Sie sitzen alle in einer engen Türöffnung +und können nicht viel von der Bühne sehen. Aber das macht nichts. Sie +unterhalten sich doch unbeschreiblich gut. + +Wir haben ein junges Mädchen als Pensionärin im Hause. Sie ist sehr +reizend und geht in einem alten Ballkleid meiner Mutter umher und spielt +die Liebhaberin: »Meine Rose im Walde«. Meine älteste Schwester, die +auch zwölf Jahre alt ist, hat sich mit Vaters allerältester Uniformjacke +herausstaffiert und spielt den Liebhaber. Sie ist ganz unbeschreiblich +niedlich. Sie hat wirklich Anlagen für den schauspielerischen Beruf. +Unsere Kammerjungfer gibt die Rolle der Haushälterin, und ich selbst +habe es übernommen, einen siebzigjährigen Greis zu spielen. Es muß ein +Greis mit langem, weißem Haar im Stücke vorkommen, und ich wähle diese +Rolle, weil mein Haar sehr lang und ganz weiß ist. + +Wir haben einen großen, großen Erfolg. Ich möchte wissen, was der alte +Franz Hedberg gesagt haben würde, wenn er sein Stück auf diese Weise +aufgeführt gesehen hätte, aber auch er wäre vielleicht mit uns zufrieden +gewesen. + +Doch von diesem Tage an träume ich nicht nur davon, Romane zu schreiben. +Jetzt will ich auch Theaterstücke verfassen. Ich sehne mich danach, +erwachsen zu sein, damit ich nicht mehr am Schultisch sitzen und meine +Zeit mit Lektionen und Aufgaben vergeuden muß. + + +Wie dunkel ist es doch unter der Linde + +Es ist ein schöner Frühlingsabend, und ich gehe in dem kleinen Hain +hinter dem Garten auf und ab. Sowie ich auf einem der geschlängelten +Pfade an die Grenze des Haines komme, schlägt mir das blendendste Licht +entgegen. Weite Fluren breiten sich vor mir aus, und der Sonnenschein +zittert in dem feuchten Dunst, der von den frischgepflügten Feldern +aufsteigt. Auf einer Seite leuchtet die Luft wie Purpur, auf der andern +sieht es aus, als wäre sie von Goldstaub erfüllt. + +Drinnen unter den Bäumen ist es jedoch merkwürdig finster. Sie haben +sich erst ganz kürzlich belaubt, ich bin das grüne Dunkel noch nicht +gewohnt, das im Sommer unter ihnen zu herrschen pflegt. Ganz plötzlich, +gerade als ich aus dem Licht vor dem Hain wieder unter die Bäume trete, +kommen mir ein paar Reime auf die Lippen: + + Wie dunkel ist es doch unter der Linde, + Wie ängstlich still wehen die Winde. + +Was nun? Was war das? Ich stehe da und wage kaum zu atmen. Das sind ja +Reime. Das ist ja ein Vers. Kann ich Verse machen? + +Ich bin fünfzehn Jahre, und ich habe alle Dichter gelesen, die wir zu +Hause haben: Tegnèr, Runeberg, Frau Lengren, Stagnelius, Vitalis, +Bellman, Wallin, Dahlgren. Aber nie zuvor ist es mir eingefallen, daß +ich Verse schreiben könnte. Verse machen, -- das ist ja etwas Hohes und +Heiliges. Seine Gedanken in Reim und Metrum niederschreiben zu können, +-- das ist eine Gabe, die nur den Auserwählten der Menschheit beschieden +ist. + +Aber jetzt habe auch ich ein paar gereimte Zeilen zusammengestellt. Ich +wiederhole sie mir einmal ums andre. Ich spreche sie halblaut. Ich singe +sie leise. Aber ich versuche nicht, weitere Zeilen hinzuzufügen. Ich bin +viel zu erstaunt darüber, was mir widerfahren ist. + +Stelle dir vor, daß du als armes Bettelkind aufgewachsen bist und ganz +plötzlich die Gewißheit erlangst, ein Königskind zu sein! + +Stelle dir vor, daß du blind warst und plötzlich sehend wirst, daß du +bettelarm gewesen und auf einmal reich bist, daß du ausgestoßen und +freudlos warst und ganz unvermutet einer großen, warmen Liebe begegnest! +Stelle dir was du willst an großem unerwartetem Glück vor, und du wirst +dir doch kein größeres denken können, als das ich in diesem Augenblick +empfand. + +Ich konnte reimen. Ich konnte Verse machen. Ich hatte dieselbe Gabe wie +Tegnèr, Runeberg, Wallin. Ich würde werden wie einer von ihnen. + +Ich hatte ja schon lange daran gedacht, Romane und Theaterstücke zu +schreiben. Aber das ist lange nicht so merkwürdig wie Verse schreiben. +Das ist nur hübsch und vergnüglich; aber Verse, -- das ist das Hohe und +Edle. Das ist das Ruhmvolle und Anbetungswürdige. Das ist das +Allerwunderbarste. + +Ich verschweige den Meinen die große Entdeckung. Aber ich gehe den +ganzen Tag wie im Taumel umher, höre garnichts, was man mir sagt, +sondern antworte ganz verkehrt. + +Ich sehe uns noch alle an jenem Tag beim Abendbrot vor mir. Da sitzen +Vater und Mutter. Da sind meine Schwestern, die Tante, die Erzieherin. +Und da bin ich selbst, klein und blaß, mit langem Haar, ganz wie alle +andern Kinder. Vater führt wie gewöhnlich das Wort. Er scherzt mit der +Tante und der Erzieherin. Es geht fröhlich und munter her, aber das +Gespräch bewegt sich um die alleralltäglichsten Dinge. Was würden sie +sagen, die anderen, wenn sie eine Ahnung von den wilden Hoffnungen +hätten, die in meinem Kopfe stürmen! + +Was mich beunruhigt, ist Tante Wennerviks Weissagung. Darin kam nichts +davon vor, daß ich etwas Großes und Merkwürdiges werden solle. Aber wer +Verse schreibt, der ist doch eine Größe, der ist fast noch mehr als ein +König. Ich bekomme Angst, daß ich mich geirrt haben könnte, daß ich doch +nicht die Göttergabe hätte. + +Da wiederhole ich mir selbst den kleinen Reim, und wieder fühle ich mich +unendlich stolz, unendlich glücklich. + +Als es endlich Nacht wird, will ich versuchen, was diese neue Gabe +vermag; und ich beginne ganz getrost, ein Poem zu verfassen. Ich liege +bis zum Morgen wach und binde und knüpfe Wort an Wort. Ich füge +Verszeile an Verszeile und habe bis zum Morgen eine Menge Strophen +fertig. + +Aber das Gedicht ist nicht das Merkwürdige für mich. Das Merkwürdige +ist, daß ich die Gabe habe, zu reimen, daß ich zu den Auserwählten +gehöre. + +In den nächsten Jahren schreibe ich zur Zeit und zur Unzeit, früh und +spät, Tag und Nacht Verse. Der größte Teil von diesen Dichtungen ist +vernichtet; und das wenige, was übrig blieb, ist recht schwach. + +Von dieser ganzen Schriftstellerei gibt es nur ein kleines Stückchen, an +dem ich meine Freude habe, und das ich mir zuweilen selbst wiederhole, +wenn ich unter dem Dunkel der Bäume stehe und das Licht der Abendsonne +über Flur und Tal lodern sehe: + + Wie dunkel ist es doch unter der Linde + Wie ängstlich still wehen die Winde. + + +Die Aufnahmeprüfung + +Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und befinde mich wieder in Stockholm, +in demselben freundlichen Heim, das mich aufnahm, als ich ein +neunjähriges Kind war. Ich bin in die Hauptstadt gekommen, um Aufnahme +in dem Höheren Lehrerinnenseminar zu finden. Ich habe die Prüfung +gemacht; gestern war der letzte Tag, und nun sitze ich da und warte +darauf, zu hören, ob ich durchgekommen sei, ob ich in die Anstalt +aufgenommen würde. + +Das ist ein langer Tag. Es ist fast unmöglich, ihn zu Ende zu bringen. +Wir sind beinahe eine ganze Woche geprüft worden, und das war nicht so +schlimm, wie ich befürchtet hatte. Es waren Tage voll starker Spannung, +aber es ist doch immer etwas vorgegangen. Es war Kampf und Wettbewerb, +und bisweilen ist es sogar ganz lustig gewesen. Die Prüfer waren äußerst +wohlwollend und haben keine übertriebnen Ansprüche gestellt. Im großen +und ganzen glaube ich, daß ich bei den Prüfungen ganz gut bestanden +habe. Aber unglücklicherweise genügt es nicht, wenn man gut besteht, -- +man muß es auch noch besser machen als viele andre. + +Nicht mehr als fünfundzwanzig Schülerinnen können jedes Jahr ins Seminar +eintreten; und es sind neunundvierzig, die Aufnahme suchen. Darin liegt +das Schreckliche. Wir sind in kleinen Gruppen von drei und drei geprüft +worden; und darum weiß ich nicht, wie die andern die Probe bestanden +haben. Aber ich denke mir, daß diese andern in ordentliche Schulen in +Städten gegangen sein würden. Sie hätten nicht ihr ganzes Leben lang auf +dem Lande gewohnt und ihre ganze freie Zeit dazu verwendet, unnütze +Verse zu schreiben. Es sei nur natürlich, wenn sie alle viel besser +beschlagen wären als ich. + +Dieses ganze letzte Jahr habe ich in Stockholm verbracht und habe einen +Kurs absolviert, mich für diese Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Aber es +ist ja nur ein Jahr, in dem ich ordentlich studiert habe. Die andern +haben große achtklassige Schulen durchgemacht ... + +Wir sollen unser Schicksal erst spät am Nachmittag erfahren. Zu denen, +die die Prüfung nicht bestanden haben, kommt ein Diener mit einem Brief, +der ihnen mitteilt, daß sie in diesem Jahre nicht in das Seminar +aufgenommen werden könnten. Bin ich hingegen glücklich durch, so bekomme +ich keinen Brief, gar keine Nachricht. Dann kann ich am nächsten Morgen +ganz ruhig zum Seminar hinaufwandern und meine Studien beginnen. Aber +noch ist es mitten am Tage. Es müssen noch viele Stunden hingehen, ehe +ich ernstlich den Diener mit dem gefürchteten Brief erwarten kann. + +Die Verwandten haben Mitleid mit mir; aber was können sie tun, mir zu +helfen! Es gibt nichts, was meine Unruhe zerstreuen könnte. Wir sitzen +da und plaudern, aber ich kann nicht recht folgen. Die Gedanken kehren +immer zu der Frage zurück, ob ich nicht die mathematische Aufgabe ganz +falsch gelöst, und ob ich bei der mündlichen Prüfung im Schwedischen +nicht am Ende sehr schlecht bestanden hätte. + +Ich hoffe und bete, daß ich durchkomme, nicht weil ich genug weiß und +kann, sondern weil ich es nötiger brauche als irgendeine andre. + +Davon bin ich ganz überzeugt. Es ist nicht möglich, daß irgendeine von +allen denen, die Aufnahme suchen, diese drei Jahre kostenlosen +Unterricht, die das Seminar bietet, ebenso notwendig brauchte wie ich. +Wenn es mir jetzt mißlingt, dann ist es aus mit mir, dann muß ich mir +eine kleine Gouvernantenstelle mit ein paar hundert Kronen Lohn suchen, +oder ich muß auch nach Hause zurückfahren und in der Wirtschaft +mitarbeiten. Ich muß etwas lernen, sonst kann ich das Ziel meines Lebens +nicht erreichen. Ich bin jetzt nicht mehr so kindisch. Ich glaube nicht, +daß man etwas werden kann, wenn man nur umhergeht und wünscht und +träumt. Ich weiß, daß ich Kenntnisse brauche, um Schriftstellerin werden +zu können. + +Ich weiß auch, daß ich Kenntnisse brauche, um leben zu können. Wir sind +daheim in letzter Zeit so arm geworden. Ich weiß, daß ich es lernen muß, +mir selbst mein Brot zu verdienen, wenn ich nicht ins Elend kommen +soll. + +Alle die andern, die Aufnahme suchen, handeln wohl kaum dem Willen ihres +Vaters zuwider, sie haben sich sicherlich nicht die Erlaubnis erzwingen +müssen, von daheim fortzufahren. Bei ihnen zu Hause hat man vielleicht +nicht mehr den alten Aberglauben, daß ein Mädchen es nicht nötig habe, +etwas Ordentliches zu können. Und wenn es ihnen heute schlecht ergeht, +so dürfen sie es vielleicht nächstes Jahr noch einmal versuchen. Aber +ich darf das nicht. Wenn es mir jetzt mißlingt, bekomme ich niemals die +Erlaubnis von Vater, es noch einmal zu versuchen. + +Die andern sind vielleicht nicht so arm wie ich. Sie können vielleicht +von andrer Seite Unterstützung für das Studium finden. Aber für mich ist +das unmöglich. Vater kann mir kein Geld geben; und wohl größtenteils +deshalb hat er soviel Einwände dagegen, daß ich in die Welt hinausziehe. +Aber komme ich nur in das Seminar, dann habe ich eine gesicherte +Laufbahn vor mir, dann macht es nicht soviel, daß ich kein Geld habe, +dann leiht man mir vielleicht etwas, so daß ich mich während der Kurse +in Stockholm erhalten kann. Wenn ich aber nicht hineinkomme, -- wer +sollte mir dann helfen wollen! + +Wie langsam die Zeit an diesem Tage vergeht! Ich weiß rein nicht, womit +ich mich beschäftigen soll. Ich wage nicht auszugehen; denn man denke: +wenn der Brief käme, während ich fort bin! Ich kann mich auch nicht +hinsetzen und lesen. Die Prüfung ist zu Ende, es kann mir nichts mehr +helfen, was ich auch studiere. Es bleib mir nichts übrig, als still zu +sitzen und zu warten. + +Mein ganzes früheres Lebenlang habe ich gewartet, aber in andrer Weise. +Ich habe darauf gewartet, entdeckt zu werden, gewartet, daß jemand komme +und meine Schauspiele, meine Romane, meine Verse lese und sie +außerordentlich schön und genial finde. Jedesmal, wenn ich sie einem +zeigte, habe ich gehofft, daß dieses Wunder geschehen würde. + +Und einmal war es auch sehr nahe daran. Bei einem unserer Nachbarn fand +eine Hochzeit statt, und ich war Brautjungfer. Beim Mittagessen brachte +einer der Brautführer ein Gedicht auf die Kranzeljungfern zum Vortrag, +und ich hielt die Rede auf die Brautführer, auch in Versen. Wir hatten +natürlich alle beide großen Erfolg. Man hat ja immer Erfolg, wenn man +Gelegenheitsverse vorträgt. + +Aber ein Weilchen nach dem Mittagessen kam Mutter zu mir und sagte, daß +Eva Fryxell mit mir sprechen wollte. + +Eva Fryxell war die Tochter des großen Historikers Anders Fryxell, der +Probst in der Nachbargemeinde war. Sie war selbst Schriftstellerin und +dazu eine hochgebildete Dame. Sie pflegte die Winter in Stockholm zu +verbringen, wo sie in den literarischen Kreisen jener Zeit verkehrte. + +Sie hatte mich die Verse sprechen hören, und nun wollte sie mit mir +reden. + +Sie fragte mich, ob ich zu schriftstellern pflegte, und ob ich schon +viele Gedichte geschrieben hätte. Sie forderte mich auf, ihr meine +besten Sachen zu schicken. Sie wolle versuchen, sie in einer Zeitung +unterzubringen. + +Sie war sehr freundlich, und sie machte mich sehr, sehr glücklich. + +Aber dann verging der ganze Herbst, der ganze Winter, ohne daß ich etwas +von ihr hörte. Endlich im Frühling kam ein großer Brief von Eva Fryxell. +Sie schickte mir alle meine Gedichte zurück: keine Zeitschrift hätte sie +annehmen wollen. Aber sie schrieb nicht nur davon. Sie schrieb, ich +müsse es so einrichten, daß ich in die Welt hinauskomme. Ich müsse +arbeiten, etwas lernen, sonst könne nie etwas aus mir werden. + +Und wohl hauptsächlich auf ihre Ratschläge hin hatte ich mich vor einem +Jahre von daheim losgerissen. Das ganze letzte Jahr hatte ich kaum eine +Zeile gedichtet, sondern nur studiert, nur gearbeitet, all das +nachzuholen, was mir fehlte. + +Und die Liebe zu den Studien war in mir erwacht. Ich sehnte mich nach +diesen drei Jahren auf dem Seminar, nach diesen drei Jahren der starken +intensiven Arbeit und des Fortschreitens. + +Ab und zu klingelt es draußen, dann schrecke ich auf und frage mich, ob +das der Diener mit dem furchtbaren Brief sei. Man hat mir gesagt, er +könne nicht vor fünf Uhr nachmittag kommen, aber -- wer weiß! -- es +wäre ja möglich, daß die Entscheidung in diesem Jahre früher fiele. + +Die Hoffnung sinkt mit jedem Augenblick. Natürlich wüßten alle die +andern mehr als ich. Und natürlich hätte ich oft unrichtig geantwortet, +wenn ich es auch selber nicht bemerkt hätte. + +Es schlägt drei Uhr. Noch zwei Stunden, ehe man ernstlich eine +Entscheidung erwarten kann ...! Da läutet es wieder. + +Die kommt, ist eine Verwandte und Kollegin von mir. Sie will auch heuer +in das Seminar eintreten; so wie ich; und wir sind bei der Prüfung in +derselben Gruppe gewesen. + +Sie kommt ganz glücklich und atemlos, um zu berichten, daß wir alle +beide durchgekommen sind, sie und ich. Sie hat es von wohlunterrichteter +Seite. Sie will nicht sagen, woher sie es weiß, aber sicher sei es. Ich +solle es niemand sagen, -- sie sei eben nur geschwind heraufgelaufen, +damit ich mich nicht länger beunruhigte. + +Ich weiß nicht, was ich sage oder tue. Ich weiß nicht, ob ich ihr danke. +Ich stürze nur fort, ans äußerste Ende der Wohnung, um allein zu sein. + +Es ist nun ganz vorbei mit meiner Selbstbeherrschung. Ich zittre und +bebe und kann mich nicht stillhalten. Und die Tränen stürzen mir aus den +Augen. + +Ich fühle, daß ich das Ärgste überwunden habe. Ich bin nicht mehr +hilflos und abhängig. Ich habe eine Laufbahn vor mir. Ich werde imstande +sein, mir selbst mein Brot zu verdienen. Ich werde selbst über mein Tun +und Lassen bestimmen. Künftighin hängt es von mir allein ab, ob ich das +erreichen werde, was ich erreichen will. + +»Sie wird all ihr Lebtag arbeiten und sich plagen müssen,« hatte Tante +Wennervik gesagt, und ich freue mich darüber und hoffe, daß es +eintreffe. + + +Die zweite Prophezeiung + +Es ist im Grand Hotel in Jerusalem, an einem Märzabend des Jahres +neunzehnhundert. Ich bin von unserm syrischen Dragoman aus meinem Zimmer +gerufen worden, einen Gast zu empfangen. Aber dieser Gast kann nicht in +mein Zimmer geführt werden, auch nicht in den großen Empfangssalon. +Jemil, der Dragoman, glaubt ihn nicht weiter führen zu dürfen als bis in +die Vorhalle des Hotels; und ich muß mich dorthin begeben, ihn zu +begrüßen. + +Das ist auch nicht zu verwundern, denn mein Gast hat kein einnehmendes +Aussehen. Es ist ein alter Neger von einer furchtbar häßlichen Rasse. +Mit seinen wulstigen Lippen, den langen Affenarmen, seinem großen +plumpen Körper, seiner groben, rindenähnlichen Haut, seinen starken, +angeschwollnen Muskeln macht er den Eindruck, als gehöre er jener +Menschenwelt an, die vor der Sintflut da war. Und dieser abstoßende +Mensch ist nicht in etwas gehüllt, was man Kleider nennen könnte. Er ist +in lange, schmutzigweiße Tücher gerollt und gewickelt. Die Füße sind +nackt, und über den Kopf hängt ihm ein Zipfel desselben Tuches, das um +den Körper geschlungen ist. + +Vor einigen Tagen hat Jemil mich und meine Reisegenossin, Frau Sophie +Elkan, durch die ehrwürdige alte Moschee El Aksa in Jerusalem geführt, +und wir wunderten uns damals, in der Fensternische eines Seitenganges +eine schmutzige, zerfetzte Decke ausgebreitet zu sehen. Jemil erklärte +uns, daß sich in dieser Fensternische ein Wahrsager aufzuhalten pflege, +der den Besuchern Aufklärungen über ihre künftigen Schicksale gebe. Ich +bedauerte, daß er nicht auf seinem Platze war. Ich hätte mir gerne von +einem richtigen Wahrsager prophezeien lassen, in einem Tempel, der auf +demselben Grund errichtet war wie der Salomos. + +Und nun hat der Dragoman den Wahrsager aufgesucht und ihn in das Hotel +gebracht, damit ich mir wirklich in Jerusalem prophezeien lassen könne. + +Es ist nicht so feierlich, sich in der Vorhalle des Hotels wahrsagen zu +lassen, wo Diener und Reisende hinaus- und hereinströmen, als es in El +Aksa gewesen wäre; aber ich habe keine Wahl. Wir gehen alle drei zu +einem Tisch, der in einer Ecke steht. Der Wahrsager zieht einen Beutel +hervor, den er unter seinen Tüchern verborgen gehalten hat, knüpft ihn +auf und schüttet eine ziemlich dicke Lage grauweißen Sand auf den Tisch, +zweifelsohne eine Art Meersand, denn ich sehe, daß eine Menge zerbrochne +Muscheln darin sind. + +Während ich so stehe und die Vorbereitungen betrachte, muß ich +unwillkürlich an die alte Tante Wennervik und ihre Wahrsagekunst +denken; und ich bin gespannt, ob dieser schmutzige Neger sich ihr +überlegen zeigen werde. + +Sowie der Sand ausgebreitet ist, sagt der Wahrsager ein paar Worte auf +Arabisch, die der Dragoman ins Englische übersetzt. + +»Er bittet die Lady, an etwas zu denken, worüber sie Aufklärung wünscht. +Die Lady soll nicht sagen, woran sie denkt, sondern es nur eine Zeitlang +in Gedanken festhalten, dann wird sie Antwort bekommen.« + +Einen Augenblick stehe ich verdutzt da. Liegt nicht eine unüberbrückbare +Kluft zwischen mir und diesem Negerwahrsager? Wir haben in verschiednen +Welten gelebt, sind auf verschiednen Pfaden gewandelt. Was sollte ich +denken können, das innerhalb seiner Gedankensphäre läge! Während meines +ganzen Aufenthalts in Jerusalem habe ich nur an eine einzige Sache +gedacht. Ich habe die ganze Reise hierher in das Morgenland einzig und +allein unternommen, um schwedische Bauern zu besuchen, die hierher +ausgewandert sind und gemeinsam mit einigen Amerikanern eine Kolonie +gegründet haben. Ich habe sie hier draußen sehen wollen, um ein Buch +über sie zu schreiben. + +Und ich bin mehrere Male bei ihnen gewesen, habe an ihrem Tisch +gegessen, ihre Schulen besucht, sie in ihren Werkstätten und Küchen +arbeiten sehen, ich bin in ihren selbstverfertigten Wagen gefahren, bin +auf Teppichen gegangen und habe auf Stühlen gesessen, die sie selbst +gemacht haben. Ich habe sie von ihrer Lehre sprechen hören. Ich habe +nichts an ihnen gefunden, was nicht gut, ehrlich und aufrichtig gewesen +wäre. + +Ich war so froh, als ich hier draußen im Morgenlande ihre guten, +schwedischen Gesichter erblickte und ihre treuherzigen, schwedischen +Worte hörte, daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich habe ihrem +schönen Gottesdienste beigewohnt, ich habe sie ihre Abschiedslieder an +uns, ihre schwedischen Gäste, singen hören. Ich habe sie einig, +glücklich, geduldig gefunden, und ich brenne vor Sehnsucht, ein Buch +über sie zu schreiben. + +Aber zugleich läßt mich vieles befürchten, daß ich nie imstande sein +würde, dieses Buch zu schreiben. Jeden Tag kommen mir neue Zweifel und +Besorgnisse. Nicht nur, daß der Stoff für meine Kräfte zu schwer ist, -- +noch eine Menge andre Dinge machen mir Angst. Ich gehe in einem Zweifel, +einer Unentschlossenheit umher, die beinahe qualvoll geworden ist. + +Es handelt sich für mich um etwas Ernstes. Diese ganze lange Reise wäre +vergebens gewesen, wenn ich dieses Buch nicht schreiben könnte. Zeit, +Mühe und Geld nutzlos vergeudet ... Das ist kein Spaß. + +Mich selbst frage ich alle Tage: Wird daraus ein Buch werden können? +Wird es je geschrieben werden? Wird irgendein Mensch es lesen wollen? + +Aber kann man diesem Neger solche Frage stellen? Hat solch ein +Urzeitwesen je ein Buch gesehen? Hat es eine Ahnung davon, was überhaupt +ein Roman ist? + +Aber da es ja doch nichts andres gibt, was ich in diesem Augenblick +wissen wollte, entschließe ich mich, einen Versuch zu machen. Und ich +hefte meinen Gedanken auf dieses: »Wird es mir gelingen, ein Buch über +die Schweden hier draußen in Jerusalem zu schreiben?« + +Der Wahrsager erhebt seine Hand über den Sand, den er vor sich +ausgebreitet hat. Er streckt einen dicken Zeigefinger aus, an dem ein +Nagel sitzt, der einer Tierkralle gleicht, und macht einige Linien und +Löcher, die er dann sehr eingehend betrachtet. Es dauert ziemlich lange, +bevor er zu sprechen anfängt. Aber plötzlich wendet er sich an den +Dragoman und spricht eine Menge unverständliche Worte. + +»Er sagt, daß die Lady an etwas denkt, was sie auf ein Papier schreiben +will,« übersetzt Jemil. »Er bittet die Lady, sich nicht zu beunruhigen. +Was sie zu tun gedenkt, wird ihr gelingen.« + +Ich bin wirklich ein wenig erstaunt. Das sieht aus, als könnte er +Gedanken lesen, dieser schmutzige alte Neger. + +Er betrachtet mich abwartend, und ich bitte den Dragoman, ihm zu +erklären, daß er eine richtige Antwort gegeben habe, und daß ich sehr +zufrieden sei. + +Sogleich fährt er über den Sand, so daß er wieder ganz glatt daliegt, +und bittet mich dann, noch eine stumme Frage zu stellen. + +Diesmal besinne ich mich nicht lange. Wir wollen Jerusalem am nächsten +Tage verlassen, um nach Nazareth, Tiberius, Damaskus zu reisen. Ich +frage nur: »Werden wir eine gute Reise haben? Werden wir alles sehen, +was wir zu sehen wünschen?« + +Es dauert nicht lange, so beginnt der Wahrsager wieder zu sprechen. Aber +er gibt keine Antwort auf meine Frage, sondern bittet mich, ihm meine +Hände zu zeigen, meine beiden Hände. + +Ich strecke die Hände mit den Handflächen nach oben aus. Der Wahrsager +betrachtet sie, macht einen Schritt zurück und erhebt die Arme zum +Himmel. Die Worte stürzen über seine Lippen. Er ist offenbar erregt. + +»Was gibt es? Was sagt er?« frage ich den Dragoman. + +»Er sagt, daß die Lady an einen Weg denkt, der vor ihr liegt,« antwortet +dieser, »und er versichert, daß die Lady eine gute Reise haben wird. Er +sagt weiter, daß diese Lady Sultan Ibrahim il Kalils und Sultan Solimans +Zeichen auf ihren Händen hat. Er sagt, daß dieser Lady alles gelingen +wird. Diese Lady hat einen sehr starken Stern.« + +Ich bitte den Dragoman, ihm zu versichern, daß ich sehr erfreut über +seine Antwort sei, und ich frage nicht weiter, sondern bezahle ihm +seinen Frank. Nun ich erfahren habe, daß ich Abrahams und Salomos +Zeichen in meinen Händen trage, muß ich ja wohl zufrieden sein. + +Während ich in mein Zimmer zurückkehre, denke ich an Tante Wennervik und +frage mich, was sie dazu sagen würde. + +In demselben Augenblick ist es mir, als wenn eine harte und klare Stimme +mir im traulichsten Värmländisch ins Ohr sagte: + +»Das mußt du doch wissen, Kind, daß sich diese Orientalen, auch wenn sie +in Fetzen gehen und häßlich wie die Affen sind, doch besser darauf +verstehen, zu schmeicheln und schöne Dinge zu sagen als wir andern, +namentlich wenn es sich darum handelt, ein paar Groschen zu verdienen. +Aber auf meine Prophezeiung kannst du dich verlassen. Die ist nicht +bezahlt. Reisen wirst du machen, Arbeit wirst du haben, und Bücher +schreiben wirst du, und so richtig gesund wirst du nie. Und so wird dein +Leben hingehen.« + +»Ja, das ist wahr,« antworte ich, »aber du verstehst den Sinn seiner +Worte nicht. Er will nur sagen, daß, wem sich in reifen Jahren seine +Kindheitsträume erfüllen, das Glück der alten Weisen besitzt und von +einem guten Stern geleitet wird.« + + + + +Anmerkungen zur Transkription: + +Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem +Originaltext vorgenommenen Korrekturen. + +p 38: Lachen ausbrechen zu hären -> hören +p 57: du Unehre über uns gebracht hätte -> hättest +p 71: IV -> 4 +p 76: V -> 5 +p 107: »Jetzt sollst ... geholt habe.« [Anführungszeichen ergänzt] +p 111: Gudmud sah ihr fest in die Augen. [Anführungszeichen entfernt] +p 119: Strumpfband anders, aber er -> es +p 137: wie die andern Jungern -> Jungen +p 141: sich auf die Plattform schleichen -> zu schleichen +p 143: kunterbunt stehen lassen. [Punkt ergänzt] +p 164: den sie icht -> nicht +p 169: zu Ende gegegangen -> gegangen +p 170: und die Schritte deren -> derer +p 177: »Ja« [Anführungszeichen ergänzt] +p 185: der Gedanke beängstigt, daß [Komma ergänzt] +p 187: »Würdest du dich dann für verflichtet -> verpflichtet +p 193: bedeckt war, und das Kaprifoliuum -> Kaprifolium +p 194: zuvor zwischen den Beeren -> Beeten +p 197: Johannes bedeutete ihn -> ihm +p 214: sagte den Mönchen, nun ein so -> Mönchen, da nun +p 234: glitt sie mit mir aus.« [Anführungszeichen ergänzt] +p 239: über die ich Saiten gespannt hatte.« [Anführungszeichen ergänzt] +p 256: antwortete Tante Wennervik. [Punkt ergänzt] +p 265: natürlich alles blutig ernst. [Punkt ergänzt] +p 273: Wir sind in kleine Gruppen von drei -> in kleinen Gruppen + + +Die Originalschreibweise und kleinere Inkonsistenzen in der Formatierung +wurden prinzipiell beibehalten. + +Formatierung: + +Fettgedruckter Text wurde mit Unterstrich markiert (_text_) und gesperrter +Text mit Gleichheitszeichen (=text=) + + + + +Transcriber's Notes: + +The table below lists all corrections applied to the original text. + +p 38: Lachen ausbrechen zu hären -> hören +p 57: du Unehre über uns gebracht hätte -> hättest +p 71: IV -> 4 +p 76: V -> 5 +p 107: »Jetzt sollst du ... ich dich geholt habe.« [both quotes added] +p 111: Gudmud sah ihr fest in die Augen. [closing quotes deleted] +p 119: Strumpfband anders, aber er -> es +p 137: wie die andern Jungern -> Jungen +p 141: sich auf die Plattform schleichen -> zu schleichen +p 143: kunterbunt stehen lassen. [period added] +p 164: den sie icht -> nicht +p 169: zu Ende gegegangen -> gegangen +p 170: und die Schritte deren -> derer +p 177: »Ja« [closing quotes added] +p 185: der Gedanke beängstigt, daß [comma added] +p 187: »Würdest du dich dann für verflichtet -> verpflichtet +p 193: bedeckt war, und das Kaprifoliuum -> Kaprifolium +p 194: zuvor zwischen den Beeren -> Beeten +p 197: Johannes bedeutete ihn -> ihm +p 214: sagte den Mönchen, nun ein so -> Mönchen, da nun +p 234: glitt sie mit mir aus.« [closing quotes added] +p 239: über die ich Saiten gespannt hatte.« [closing quotes added] +p 256: antwortete Tante Wennervik. [period added] +p 265: natürlich alles blutig ernst. [period added] +p 273: Wir sind in kleine Gruppen von drei -> in kleinen Gruppen + +The original spelling and minor inconsistencies in the formatting have +been maintained. + +Formatting: + +Bold Text was marked using underscores (_text_) and spaced text with +equal signs (=text=). + + + + + +End of Project Gutenberg's Ein Stück Lebensgeschichte, by Selma Lagerlöf + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EIN STÜCK LEBENSGESCHICHTE *** + +***** This file should be named 29957-8.txt or 29957-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/2/9/9/5/29957/ + +Produced by Norbert H. Langkau, Jens Nordmann and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. 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By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm +electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to +and accept all the terms of this license and intellectual property +(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all +the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy +all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. +If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project +Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the +terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or +entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. + +1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be +used on or associated in any way with an electronic work by people who +agree to be bound by the terms of this agreement. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Ein Stück Lebensgeschichte + +Author: Selma Lagerlöf + +Release Date: September 10, 2009 [EBook #29957] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EIN STÜCK LEBENSGESCHICHTE *** + + + + +Produced by Norbert H. Langkau, Jens Nordmann and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + +<div class="note"> +<p class="center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> +<p style="text-indent: 0;">Die Originalschreibweise und kleinere Inkonsistenzenin der Formatierung wurden +beibehalten. Offensichtliche Druckfehler wurden +korrigiert. Änderungen sind im Text <ins title="so wie hier">gekennzeichnet</ins>, +der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.</p> + +<p class="center"><b>Transcriber's Note</b></p> +<p style="text-indent: 0;">The original spelling and minor inconsistencies in the formatting have been +maintained. Obvious misprints were corrected and <ins title="like this">marked-up</ins>. +The original text will be displayed as a mouse-over pop-up.</p> +</div> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_4" id="Page_4"></a></span></p> + +<h2>Selma Lagerlöf</h2> + +<h1>Ein Stück Lebensgeschichte</h1> + +<h3>und andere Erzählungen</h3> + +<h4>Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Schwedischen</h4> + +<h5>von</h5> + +<h4><b>Marie Franzos</b></h4> + +<h4><em class="gesperrt">Viertes und fünftes Tausend</em></h4> + +<h3><em class="gesperrt">Albert Langen, München</em></h3> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_5" id="Page_5"></a></span></p> + +<h5>Copyright 1909 by Albert Langen, Munich</h5> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6"></a></span><br/><br/><br/></p> + +<div class="center"> +<table width="500" summary="toc"> +<caption>Inhalt</caption> +<tr><td></td><td align="center">Seite</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Ein_Stuck_Lebensgeschichte">Ein Stück Lebensgeschichte</a></td><td align="right">7</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Das_Madchen_vom_Moorhof">Das Mädchen vom Moorhof</a></td><td align="right">26</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Gottesfriede">Gottesfriede</a></td><td align="right">113</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Der_Luftballon">Der Luftballon</a></td><td align="right">132</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Der_erste_im_ersten_Jahr_des_zwanzigsten_Jahrhunderts">Der erste im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts</a></td><td align="right">166</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Die_Legende_von_der_Christrose">Die Legende von der Christrose</a></td><td align="right">190</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Der_Wechselbalg">Der Wechselbalg</a></td><td align="right">216</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Der_Spielmann">Der Spielmann</a></td><td align="right">238</td></tr> +<tr><td align="left"><a href="#Noch_ein_Stuck_Lebensgeschichte">Noch ein Stück Lebensgeschichte</a></td><td align="right">252</td></tr> +</table></div> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[Pg 7]</a></span></p> + + +<h2><a name="Ein_Stuck_Lebensgeschichte" id="Ein_Stuck_Lebensgeschichte"></a>Ein Stück Lebensgeschichte</h2> + + +<p>Es war einmal eine Saga, die wollte erzählt und in die Welt +hinausgetragen werden. Dies war ganz natürlich, weil sie wußte, daß sie +schon so gut wie fertig war. Viele hatten mitgeholfen, sie durch +merkwürdige Taten zu schaffen, andre hatten ihr Teil dadurch +beigetragen, daß sie diese Taten immer wieder und wieder erzählten. Ihr +fehlte nur, daß einer sie notdürftig zusammenfügte, damit sie gemächlich +durchs Land ziehen könne. Sie war erst ein ganzes Gewühl von +Geschichten, eine formlose Wolke von Abenteuern, die hin und her +flatterten wie ein Schwarm verirrter Bienen an einem Sommertag und nicht +wußten, wo sie einen finden sollten, der sie in einem Korbe vereinigen +könnte.</p> + +<p>Die Saga, die erzählt werden wollte, war in Värmland entstanden, und man +kann sicher sein, daß sie über so manchen Herrenhöfen und Eisenhämmern, +über so manchen Pfarrhöfen und Offizierswohnungen in der schönen Provinz +schwebte, zum Fenster hineinguckte und um Einlaß bat. Aber sie mußte +<span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[Pg 8]</a></span>viele vergebliche Versuche machen: überall wurde sie abgewiesen. Es +konnte ja kaum anders sein. Die Leute hatten an viel wichtigere Dinge zu +denken.</p> + +<p>Endlich kam die Saga in ein altes Haus, das Mårbacka hieß. Das war ein +kleines Gehöft mit niedrigen Wirtschaftsgebäuden, die von hohen Bäumen +überschattet wurden. Früher einmal war es ein Pfarrhof gewesen, und es +war, als hätte ihm das ein Gepräge aufgedrückt, das es nicht verlieren +könnte. Man schien dort größere Liebe zu Büchern und Studien zu haben +als anderswo, und immer lag ein stiller Friede über diesem Hause. Da +durfte niemals ein Jagen bei der Arbeit oder ein Zank mit dem Gesinde +vorkommen. Haß oder Zwietracht durfte es da auch nicht geben; und wer +sich dort aufhielt, durfte das Leben nicht schwer nehmen —: die +allererste Pflicht war, sorglos zu sein und zu glauben, daß der liebe +Herrgott für jeden, der in diesem Hause lebte, alles zum Besten lenke.</p> + +<p>Wenn ich heute zurückdenke, weiß ich: die Saga, von der ich spreche, muß +eine ganze lange Reihe von Jahren in ihrem vergeblichen Warten, daß sie +einer erzähle, hier geweilt haben. Es dünkt mich, sie müsse das Haus +umschwebt haben, so wie eine Wolke einen Bergesgipfel umschwebt; und +einmal ums andre ließ sie eines der Abenteuer, aus denen sie bestand, +darauf hinunterregnen. Sie kamen als seltsame Gespenstergeschichten von +dem Gutsherrn, der immer schwarze Stiere vor dem Wagen hatte, wenn er +<span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[Pg 9]</a></span>nachts von einem Gastmahl heimkehrte, und in dessen Heim der +leibhaftige Böse selbst im Schaukelstuhl saß und sich hin und her +wiegte, während die Hausfrau spielte. Sie kamen als wunderliche +Geschichten aus dem Nachbarhof, wo die Elstern die Hausmutter verfolgt +hatten, so daß sie nicht wagte, vor die Tür zu gehen, von der +Kapitänswohnung, wo sie so arm waren, daß sie sich alles hatten +ausleihen müssen, und von der kleinen Hütte unten an der Kirche, wo so +viele junge und alte Mädchen gewohnt, die sich alle in den schönen +Orgelbauer verliebten.</p> + +<p>Zuweilen kamen die lieben Abenteuer gleichsam noch handgreiflicher in +das Haus. Alte arme Offiziere fuhren in rumpelnden Carriols, die mit +uralten Pferden bespannt waren, an der Freitreppe vor. Sie machten Halt +und blieben wochenlang zu Gaste; und am Abend, wenn der Toddy ihnen Mut +gemacht hatte, begannen sie von der Zeit zu erzählen, wo sie ohne +Strümpfe in den Schuhen getanzt hatten, damit die Füße kleiner aussähen, +und wo sie ihr Haar gebrannt und ihren Schnurrbart geschwärzt hatten. +Einer von ihnen prahlte mit dem Abenteuer, wie er versucht hatte, ein +schönes Mädchen zu ihrem Bräutigam zurückzuführen, und wie er auf der +Heimfahrt von Wölfen verfolgt worden war, ein andrer war bei dem +Weihnachtsschmause mit dabei gewesen, wo ein erzürnter Gast alle +Haselhühner an die Wand warf, weil man ihm eingeredet hatte, es wären +Krähen, ein dritter hatte den Alten gesehen, der dazusitzen und auf +einem Holztische Beethoven zu spielen pflegte.<span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[Pg 10]</a></span></p> + +<p>Aber auch auf andere Weise konnte die Saga ihre Anwesenheit kundmachen. +Auf dem Dachboden hing das alte Porträt einer Dame mit gepudertem Haar; +und wenn jemand daran vorüberging, mußte er sich ja erinnern, daß es die +schöne Grafentochter darstellte, die den jungen Lehrer ihres Bruders +geliebt hatte und einmal gekommen war, ihn zu besuchen, als sie eine +alte, ergraute Dame war und er ein alter verheirateter Mann. In der +Rumpelkammer lagen große Haufen von Dokumentenbündeln, die Kaufkontrakte +und Pachtverträge enthielten, unterzeichnet von der mächtigen Frau, +welche einst über sieben Güter geherrscht, die sie von ihrem Geliebten +geerbt hatte. Kam man in die Kirche, so sah man da in einem kleinen +verstaubten Schrank unter der Empore die Truhe, die mit Schriften des +Unglaubens gefüllt war und nicht vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts +geöffnet werden durfte; und nicht weit davon war der Fluß, auf dessen +Grunde eine Menge Heiligenbilder ruhten, die nicht auf der Kanzel und +der Empore hatten bleiben dürfen, denen sie einstmals zum Schmuck +gedient hatten.</p> + +<p>Daher, daß so viele Überlieferungen das Haus umschwebten, kam es wohl +schließlich, wenn eines der Kinder, die dort aufwuchsen, Lust bekam, sie +zu erzählen. Es war keiner von den Jungen — die waren nicht viel zu +Hause, sie hielten sich beinahe das ganze Jahr in ihren Schulen auf, +also daß die Saga nicht so große Macht über sie erlangte —, sondern es +war eines von den Mädchen, eines, das kränklich war, so daß es nicht<span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[Pg 11]</a></span> so +viel umherlaufen und spielen durfte wie andre Kinder, sondern seine +liebste Freude daran hatte, durch Lesen und Erzählungen von allem dem +Großen und Merkwürdigen zu erfahren, was sich in der Welt zugetragen +hat.</p> + +<p>Nun verhielt es sich durchaus nicht so, daß etwa das junge Mädchen von +Anfang an die Absicht gehabt hätte, die Sagen und Geschichten +niederzuschreiben, die sie umgaben. Es fiel ihr nicht im entferntesten +ein, daß aus diesen Abenteuern, die sie so oft hatte erzählen hören, daß +sie sie das Alltäglichste von der Welt däuchten, — daß daraus ein Buch +werden könnte. Wenn sie zu dichten versuchte, wählte sie die Stoffe aus +ihren Büchern, und mit frischem Mute schrieb sie Geschichten über die +Sultane aus Tausend und Einer Nacht, über Walter Scotts Ritter und +Snorre Sturlasons Sagenkönige.</p> + +<p>Es ist sicherlich überflüssig, zu erwähnen, daß, was sie schrieb, das +Unoriginellste und Unreifste war, was nur je niedergeschrieben worden +ist, aber das konnte sie selbst natürlich nicht sehen. Sie ging daheim +in dem stillen Hause umher und bedeckte jedes Stückchen Papier, dessen +sie nur habhaft werden konnte mit Versen und Prosa, mit Schauspielen und +Romanen. Wenn sie nicht schrieb, ging sie umher und wartete auf das +Glück. Und das Glück sollte darin bestehen, daß irgend ein fremder +Besucher, der sehr klug und mächtig wäre, durch einen wunderbaren Zufall +das entdeckte, was sie geschrieben hatte, und es würdig fände, gedruckt +zu werden. Dann würde alles andre ganz von selbst kommen.<span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[Pg 12]</a></span></p> + +<p>Doch es begab sich nichts derartiges, und als das junge Mädchen über +zwanzig Jahre alt war, begann es ungeduldig zu werden. Sie konnte nicht +begreifen, woher es kam, daß das Glück sich gar nicht einfinden wollte. +Vielleicht fehlten ihr Kenntnisse; sie müßte auch wohl ein wenig mehr +von der Welt zu Gesicht bekommen als das elterliche Haus. Und da es so +lange währte, bis sie ihren Unterhalt als Schriftstellerin verdienen +konnte, mußte sie etwas lernen, sich eine Lebensstellung schaffen, damit +sie einen Broterwerb hätte, davon zu leben, während sie auf sich selbst +wartete.</p> + +<p>Vielleicht war es ganz einfach so, daß die Saga die Geduld mit ihr +verloren hatte. Sie dachte sich vielleicht: Da dieses verblendete +Menschenkind nicht sieht, was dicht vor seinen Augen liegt, so muß es +eben gezwungen werden, von dannen zu ziehen. Es muß durch graue +Steinstraßen gehen, es muß in engen Stadträumen wohnen ohne andre +Aussicht als graue Hausmauern. Dieses Mädchen muß unter Menschen +einhergehen, die alles, was in ihnen eigentümlich ist, verbergen, und +die einander alle zu gleichen scheinen. Das wird sie vielleicht lehren, +das zu sehen, was vor der Tür ihres Heims wartet, alles, was zwischen +den blauen Hügelketten lebt und webt, die sie täglich vor Augen hat.</p> + +<p>Und eines Herbsts, als sie schon zweiundzwanzig Jahre alt war, fuhr sie +nach Stockholm, um das Studium zu beginnen und sich gleichzeitig zur +Lehrerin auszubilden.<span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[Pg 13]</a></span></p> + +<p>Das junge Mädchen stak bald tief in der Arbeit. Es schrieb nicht mehr, +sondern ging in Aufgaben und Lektionen auf. Es sah fast aus, als sollte +die Saga es ganz und gar verlieren.</p> + +<p>Da begab sich etwas Merkwürdiges. In diesem selben Herbst, nachdem sie +ein paar Monate in grauen Gassen zwischen Hausmauern gelebt hatte, ging +sie an einem Vormittag mit einem Pack Bücher unter dem Arm die +Malmskillnadsgasse hinauf. Sie hatte eben eine Vorlesung über +Literaturgeschichte gehört. Die mußte von Bellman oder Runeberg +gehandelt haben, denn sie ging einher und dachte an diese beiden und an +die Gestalten, die sich in ihrer Dichtung bewegten. Sie sagte sich +selbst, daß Runebergs gutmütige Kriegshelden und Bellmans sorglose +Zechbrüder das vortrefflichste Material wären, das ein Dichter nur haben +könnte. Und da auf einmal tauchte dieser Gedanke in ihr auf: Die Welt, +in der du unten in Värmland gelebt hast, ist wohl nicht weniger +originell als die Welt Fredmans oder die des Fähnrichs Stål. Kannst du +nur lernen, sie zu gestalten, so hast du wohl einen ebenso guten Stoff +für deine Arbeit wie diese beiden.</p> + +<p>So ging es zu, daß sie zum ersten Male der Saga ansichtig wurde. Und in +demselben Augenblicke, wo sie sie sah, begann der Boden unter ihr zu +schaukeln. Die ganze lange Malmskillnadsgasse vom Hamngatshügel bis +hinauf zur Brandstation erhob sich zum Himmel und sank wieder hinab, hob +sich und sank. Sie mußte eine gute Weile stille stehen, bis die Gasse<span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[Pg 14]</a></span> +zur Ruhe gekommen war; und erstaunt sah sie die Vorübergehenden an, die +so ruhig einherschritten und gar nicht merkten, welches Wunder geschehen +war.</p> + +<p>In dieser Stunde beschloß das junge Mädchen, die Geschichte der +Värmlandskavaliere zu schreiben, und sie gab diesen Gedanken nie wieder +auf. Aber viele, lange Jahre währte es, bis der Entschluß zur Ausführung +kam.</p> + +<p>Denn erstens war sie nun in eine neue Lebensbahn eingetreten, und es +gebrach ihr an Zeit, etwas Größeres auszuführen. Zweitens erlebte sie +ein ganzes Mißlingen, als sie versuchte, diese Geschichte zu schreiben.</p> + +<p>In diesen Jahren trugen sich jedoch immer wieder Ereignisse zu, die ihr +halfen, die Saga auszugestalten. Eines Morgens in den Ferien saß sie mit +ihrem Vater am Frühstückstisch, und die beiden plauderten von alten +Zeiten. Da erzählte er auch von einem Jugendbekannten, den er als den +bezauberndsten Menschen schilderte. Dieser Mann hatte Freude und +Heiterkeit mitgebracht, wohin er auch kam. Er konnte singen, er +komponierte, er improvisierte Verse. Spielte er zum Tanze auf, dann +tanzte nicht nur die Jugend, sondern auch Greise und Greisinnen, Hoch +und Niedrig: und hielt er eine Rede, so mußte man lachen oder weinen, +ganz wie er es wollte. Wenn er sich betrank, so konnte er noch besser +spielen und sprechen, als wenn er nüchtern war. Und wenn er sich in ein +Weib verliebte, war es dem unmöglich, zu widerstehen. Wenn er Torheiten +machte, so verzieh man ihm; war er einmal<span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[Pg 15]</a></span> betrübt, so wollte man alles +Erdenkliche tun, um ihn nur wieder froh zu sehen. Aber großen Erfolg in +der Welt hatte er trotz seiner reichen Begabung nicht gehabt. Den +größten Teil seines Lebens hatte er als Hofmeister auf den verschiedenen +Gütern Värmlands verbracht. Schließlich hatte er das Pastorexamen +gemacht. Das war das höchste, was er erreicht hatte.</p> + +<p>Nach diesem Gespräch konnte sie den Helden der Saga besser vor sich +sehen als früher, und damit kam ein wenig Leben und Bewegung hinein. Und +eines schönen Tages bekam der Held sogar einen Namen und wurde Gösta +Berling genannt. Woher er diesen Namen hatte, wußte sie nicht. Es war, +als hätte er ihn sich selbst gegeben.</p> + +<p>Ein ander Mal war sie in den Weihnachtsfeiertagen daheim. An einem Abend +fuhr man zu einem Weihnachtsschmaus, einen weiten Weg bei argem +Schneegestöber. Das war eine langwierigere Fahrt, als jemand hätte +glauben können. Das Pferd arbeitete sich mühsam vorwärts. Mehrere +Stunden hindurch saß sie da im Schneewehen und dachte an die Saga. Als +sie endlich angelangt waren, hatte sie ihr erstes Kapitel erdacht. Es +war das Kapitel, das von der Weihnachtsnacht in der Schmiede handelte.</p> + +<p>Welch ein Kapitel! Es war ihr erstes, und mehrere Jahre hindurch blieb +es ihr einziges. Es wurde zuerst in Versen geschrieben, denn der +ursprüngliche Plan war, daß die Saga ein Romanzenzyklus werden sollte, +so wie Fähnrich Ståls Erzählungen. Aber so all<span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[Pg 16]</a></span>mählich änderte sich das, +und eine Zeitlang bestand die Absicht, die Saga als Schauspiel zu +schreiben. Da wurde die Weihnachtsnacht umgearbeitet: sie sollte den +ersten Akt geben. Aber auch dieser Versuch glückte nicht, und nun +entschloß sie sich endlich, die Saga als Roman zu schreiben. So wurde +das Kapitel in Prosa niedergeschrieben und umfaßte damals vierzig +Schreibseiten. Als es zum letzten Mal umgearbeitet wurde, hatte es nur +neun.</p> + +<p>Nach einigen Jahren kam ein zweites Kapitel hinzu. Es war die Geschichte +von dem Ball auf Borg und von den Wölfen, die Gösta Berling und Anna +Stjärnhök verfolgten.</p> + +<p>Dies wurde ursprünglich gar nicht in der Absicht geschrieben, es mit in +die Saga aufzunehmen, sondern als eine Art Gelegenheitsgedicht, das bei +einer kleinen Gesellschaft vorgelesen werden sollte. Die Vorlesung +jedoch unterblieb, und die Novelle wurde an die Zeitschrift Dagny +geschickt. Nach einiger Zeit erhielt die Verfasserin sie als für Dagny +nicht geeignet zurück. Sie war auch wirklich für niemand geeignet. Es +fehlte ihr noch ganz und gar an der künstlerischen Ausarbeitung.</p> + +<p>Nun zerbrach sich die Verfasserin den Kopf, wozu diese unglückselige +Novelle wohl verwendet werden könnte. Wenn sie sie in die Saga einfügte? +Aber sie war ja ein Abenteuer für sich, ganz abgeschlossen. Sie würde +sich seltsam ausnehmen unter den übrigen, die besser zusammenhingen. +Vielleicht aber, dachte sie dann, wäre es gar nicht so übel, wenn alle +Kapitel der<span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[Pg 17]</a></span> Saga solche mehr oder weniger in sich abgeschlossene +Abenteuer wären. Es würde schwer durchzuführen sein, aber unmöglich wäre +es nicht. Es würden vielleicht zuweilen Lücken im Zusammenhang +entstehen. Ja, aber es würde dem Buche großen Reichtum und Stärke geben.</p> + +<p>Nun waren zwei wichtige Dinge entschieden. Es war klar, daß das Buch ein +Roman werden sollte, und daß jedes Kapitel ein Ganzes für sich sein +würde; aber damit war noch nicht so besonders viel gewonnen. Sie, die +die Idee gefaßt hatte, die Saga der Värmlandskavaliere zu schreiben, als +sie zweiundzwanzig Jahre war, begann sich nun den Dreißigern zu nähern +und hatte nicht mehr geschrieben als zwei Kapitel. Wohin waren die Jahre +entschwunden? Sie hatte das Seminar absolviert, sie war seit mehreren +Jahren Lehrerin in Landskrona, sie hatte sich für vieles interessiert +und sich mit mancherlei befaßt, aber die Saga war noch ungeschrieben. +Eine Menge Material war freilich gesammelt. Aber sollte das bedeuten, +daß ihr das Schreiben so schwer fiel? Warum kam nie die Inspiration über +sie? Warum glitt ihr die Feder so träge über das Papier? Zu dieser Zeit +hatte sie ihre düstern Stunden. Sie würde gewiß nie damit fertig werden. +Sie war der Knecht, der sein Pfund in die Erde vergrub und keinen +Versuch machte, damit zu wuchern.</p> + +<p>Es verhielt sich aber so, daß sich dies alles in den achtziger Jahren +zutrug, in der besten Zeit der strengen Wirklichkeitsdichtung. Sie +bewunderte die großen Meister<span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[Pg 18]</a></span> dieser Zeit und kam nie auf den Gedanken, +daß man in der Dichtung eine andere Sprache anwenden könnte, als die, +deren sich diese bedienten. Sie für ihr Teil liebte die Romantiker mehr, +aber die Romantik war tot, und sie war nicht die Frau, die daran gedacht +hätte, ihre Form und Ausdrucksweise neu zu beleben. Obgleich ihr Gehirn +übervoll war an Geschichten von Gespenstern und wilder Liebe, von +wunderschönen Damen und abenteuerlustigen Kavalieren, suchte sie von dem +allen in ruhiger, realistischer Prosa zu schreiben. Sie hatte keinen +sehr klaren Blick. Ein anderer hätte gleich erkannt, daß das Unmögliche +unmöglich war.</p> + +<p>Einmal jedoch schrieb sie ein paar kleine Kapitel in einem andern Stil. +Das eine schilderte eine Szene auf dem Svartsjöer Kirchhof, das andre +handelte von dem alten Philosophen Onkel Eberhard und seinen Schriften +des Unglaubens. Sie schrieb sie mehr zum Spaße mit vielen Achs und Ohs +in einer Prosa, die fast rhythmisch war. Und sie merkte, daß es auf +diese Weise mit dem Schreiben ging; es war Inspiration darin, das fühlte +sie. Aber als die beiden kleinen Kapitel fertig waren, legte sie sie +weg. Sie waren nur der Kurzweil halber geschrieben worden. So könnte man +ein ganzes Buch ja nicht schreiben.</p> + +<p>Aber es war wohl so, daß die Saga nun lange genug gewartet hatte. Sie +dachte sicherlich wie das vorige Mal, da sie sie in die Welt +hinausgeschickt hatte: — Ich muß diesem verblendeten Menschenkind eine +große Sehnsucht geben, daß die ihm die Augen öffne.<span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[Pg 19]</a></span></p> + +<p>Diese Sehnsucht kam auf die Art über sie, daß das Haus, wo sie +aufgewachsen war, verkauft wurde und sie hinfuhr, ihr Kindheitsheim zum +letzten Male zu sehen, bevor Fremde Besitz davon nahmen.</p> + +<p>Und an dem Abend, bevor sie von dort abreiste, um diese Stätte +vielleicht nie wieder zu sehen, beschloß sie in aller Demut, das Buch +auf ihre eigne Weise und nach ihren eignen schwachen Kräften zu +schreiben. Es würde kein Meisterwerk werden, wie sie gehofft hatte. Die +Menschen würden über ihr Buch lachen; aber schreiben mußte sie es doch. +Es schreiben, um für sich selbst von ihrem Heim zu retten, was sie noch +retten konnte: die lieben alten Geschichten, den fröhlichen Frieden der +sorglosen Tage und die schöne Landschaft mit dem langgestreckten See und +den blauschimmernden Hügeln.</p> + +<p>Aber ihr, die gehofft hatte, sie würde es doch einmal lernen, ein Buch +zu schreiben, das die Menschen lesen wollten, — ihr war es, als hätte +sie damit preisgegeben, was sie im Leben am liebsten erringen wollte. Es +war das schwerste Opfer, das sie je gebracht hatte.</p> + +<p>Ein paar Wochen später befand sie sich wieder in ihrem Heim in +Landskrona und setzte sich an den Schreibtisch. Sie begann zu schreiben; +sie wußte nicht recht, was es werden sollte, aber sie wollte keine Angst +haben vor den starken Worten, den Ausrufen, den Fragen. Auch wollte sie +keine Furcht davor haben, sich selbst zu geben mit ihrer ganzen +Kindlichkeit und allen<span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[Pg 20]</a></span> ihren Träumen. Und als sie sich so entschlossen +hatte, begann die Feder fast von selbst zu fliegen. Es versetzte sie +beinahe in einen Taumel, sie wußte vor Entzücken nicht aus noch ein. +Seht, das hieß schreiben! Unbekannte Dinge und Gedanken — oder +richtiger gesagt, etwas, von dem sie nicht geahnt hatte, daß sie es in +ihrem Hirn besaß — drängten sich aufs Papier. Die Seiten füllten sich +mit einer Schnelligkeit, von der sie sich nie hatte träumen lassen. Wozu +sie sonst Monate, ja Jahre gebraucht hatte, um es auszuarbeiten, das +wurde nun in ein paar Stunden fertig. An diesem Abend schrieb sie die +Erzählung von der Wanderung der jungen Gräfin über das Eis des Löfven +und von der Überschwemmung bei Ekeby nieder.</p> + +<p>Am nächsten Nachmittag verfaßte sie die Szene, in der der gichtbrüchige +Fähnrich Rutger von Örneclou versucht, sich aus dem Bett zu erheben, um +La Cachuca zu tanzen; und am folgenden Abend entstand die Geschichte von +dem alten Fräulein, das auszog, den geizigen Pastor von Broby zu +besuchen.</p> + +<p>Nun wußte sie sicher: sie konnte das Buch in diesem Stil schreiben; aber +ebenso sicher war sie, daß niemand die Geduld haben würde, es zu lesen.</p> + +<p>Übrigens ließen sich nicht viele Kapitel so in einem Atemzuge schreiben. +Die meisten erforderten lange Arbeit; und sie konnte sich nur ganz kurze +Weilchen an den Nachmittagen der Schriftstellerei widmen. Als sie ein +halbes Jahr lang geschrieben hatte, von dem Tage an gerechnet, da sie +sich der Romantik in<span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[Pg 21]</a></span> die Arme geworfen hatte, waren ein Dutzend Kapitel +vollendet. Es war vorauszusehen, daß das ganze Buch in drei bis vier +Jahren fertig sein würde.</p> + +<p>Es war im Frühling 1890, als die Zeitschrift Idun die Einladung zu einer +Preiskonkurrenz für Novellen im Umfang von ungefähr hundert Druckseiten +ergehen ließ.</p> + +<p>Dies war ein Ausweg für eine Saga, die erzählt werden und in die Welt +hinausziehen wollte. Und die Saga war es wohl, die die Schwester der +Lehrerin dazu brachte, diese anzueifern, sie solle die Gelegenheit +benützen. Hier lag nun endlich eine Möglichkeit, zu erfahren, ob das +Geschriebene so ganz zu verwerfen wäre. Wenn es den Preis bekäme, wäre +viel gewonnen. Bekam es ihn nicht, so stünde sie nur auf demselben +Standpunkt wie zuvor.</p> + +<p>Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, aber sie hatte so geringes +Vertrauen zu sich selbst, daß sie zu keinem Entschluß kommen konnte.</p> + +<p>Endlich, knapp acht Tage vor Ablauf der Einlieferungsfrist entschloß sie +sich, fünf Kapitel aus dem Romane herauszuheben, die so ziemlich +zusammenhingen, so daß sie den Eindruck einer Novelle machten, und sich +damit am Wettbewerb zu beteiligen.</p> + +<p>Aber diese Kapitel waren durchaus noch nicht fertig. Drei von ihnen +waren notdürftig erzählt, aber zu den übrigen zwei war kaum ein Entwurf +vorhanden. Und dann mußte ja noch alles ins Reine geschrieben werden.<span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[Pg 22]</a></span></p> + +<p>Dazu kam, daß sie gerade damals nicht bei sich zu Hause war. Sie war auf +Besuch bei ihrer Schwester und ihrem Schwager, die noch oben in +Värmeland wohnten. Und wer gekommen ist, für kurze Zeit liebe Freunde zu +besuchen, kann seine Tage ja nicht am Schreibtisch verbringen.</p> + +<p>Sie schrieb also in den Nächten und saß in dieser Woche jede Nacht bis +vier Uhr auf.</p> + +<p>Endlich fehlten nur vierundzwanzig Stunden an der kostbaren Zeit. Und +noch waren zwanzig Seiten zu schreiben.</p> + +<p>Diesen letzten Tag waren sie eingeladen. Die ganze Familie sollte +fortfahren und über Nacht ausbleiben. Sie mußte natürlich mit.</p> + +<p>Endlich nahm die Gesellschaft ein Ende, und sie saß bei Nacht in dem +fremden Hause und schrieb.</p> + +<p>Es war ihr recht wunderlich zumute. Das Haus, wo sie als Gast weilte, +war eben das, wo der böse Sintram gewohnt hatte. Das Schicksal hatte sie +in wunderlicher Weise gerade in dieser Nacht hergeführt, wo sie über ihn +zu schreiben hatte, der in dem Schaukelstuhl saß und sich wiegte.</p> + +<p>Zuweilen blickte sie von der Arbeit auf und horchte in den Salon +hinüber, ob dort draußen nicht am Ende ein paar Schaukelstuhlkufen in +Gang wären.</p> + +<p>Doch sie hörte nichts, und als in der Frühe die Uhr sechs schlug, waren +die fünf Kapitel fertig.</p> + +<p>Im Laufe des Vormittags fuhren sie auf einem kleinen Lastdampfer nach +Hause. Dort machte ihre<span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[Pg 23]</a></span> Schwester ein Paket, verschloß es mit Lack und +Siegel, die zu diesem Zwecke von zu Hause mitgenommen worden waren, +schrieb die Adresse und schickte die Novelle ab.</p> + +<p>Dies geschah an einem der letzten Tage im Juli. Gegen Ende August +enthielt die Zeitschrift Idun eine Notiz, daß mehr als zwanzig +Preisnovellen bei der Redaktion eingelaufen seien; aber ein paar davon +seien so wirr geschrieben, daß sie nicht mitgezählt werden könnten.</p> + +<p>Da gab sie es auf, noch weiter auf den Ausgang zu warten. Sie wußte +schon, welche Novelle so wirr war, daß sie nicht mitgezählt werden +konnte.</p> + +<p>Im November bekam sie eines Nachmittags ein wunderliches Telegramm. Es +enthielt nur die Worte »Jubelnde Glückwünsche« und war von drei ihrer +Kameradinnen aus dem Seminar unterzeichnet.</p> + +<p>Es erschien ihr recht lang, das Warten bis zur Mittagsstunde des +nächsten Tages, wo die stockholmer Zeitungen ausgeteilt wurden. Und als +sie die Zeitung in der Hand hatte, mußte sie lange suchen, ohne etwas zu +finden. Endlich entdeckte sie auf der letzten Spalte eine kurze Notiz in +kleinem Druck, die mitteilte, daß sie den Preis erhalten hatte.</p> + +<p>Vielleicht wäre das für einen andern nicht so viel gewesen, aber für sie +bedeutete es, daß sie sich dem Lebensberuf widmen durfte, nach dem sie +sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[Pg 24]</a></span></p> + +<p>Dem ist wenig hinzuzufügen. Die Saga, die in die Welt hinaus wollte, war +ihrem Ziele nun ziemlich nahe. Jetzt würde sie wenigstens geschrieben +werden, wenn es gleich einige Jahre dauerte, bis sie fertig würde.</p> + +<p>Sie, die sie schrieb, war zu Weihnachten, nachdem sie den Preis bekommen +hatte, nach Stockholm gereist.</p> + +<p>Der Redakteur der Zeitschrift Idun erbot sich, den Roman zu drucken, +sobald er fertig wäre.</p> + +<p>Ja, wenn sie nur die Zeit finden könnte, ihn zu schreiben.</p> + +<p>An dem Abend, bevor sie wieder nach Landskrona fahren sollte, saß sie +bei ihrer alten treuen Freundin, der Baronin Adlersparre, und las der +einige Kapitel vor.</p> + +<p>Esselde hörte zu, so wie nur sie zuhören konnte, und sie war voll +Interesse. Nachher blieb sie schweigend sitzen und versank in Grübeln.</p> + +<p>»Wie lange wird es dauern, bis es ganz fertig ist?« fragte sie +schließlich.</p> + +<p>»So drei bis vier Jahre.«</p> + +<p>Sie gingen auseinander; aber am nächsten Morgen, zwei Stunden, bevor sie +Stockholm verlassen sollte, kam ein Billett von Esselde mit der Bitte, +sie möge sie vor der Abreise besuchen.</p> + +<p>Die alte Baronin war in ihrer bestimmten und entschlossenen Stimmung. +»Du mußt dir jetzt für ein Jahr Urlaub nehmen und das Buch fertig +schreiben. Das Geld will ich beschaffen.«</p> + +<p>Eine Viertelstunde später war sie auf dem Wege<span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[Pg 25]</a></span> zu der Vorsteherin des +Seminars, um sie zu bitten, ihr behilflich zu sein, daß sie eine +Stellvertreterin finde.</p> + +<p>Um ein Uhr saß sie glücklich in dem Zuge, aber nun fuhr sie nicht weiter +als bis nach Sörmland, wo sie gute Freunde besaß, die in einem +entzückenden Heim wohnten.</p> + +<p>Und sie fand dort beim Ingenieur Gumaelius und seiner Frau +Gastfreundschaft, Arbeitsfrieden und Ruhe und gute Fürsorge fast ein +Jahr hindurch, bis das Buch fertig war.</p> + +<p>Endlich konnte sie vom Morgen bis zum Abend schreiben. Das war die +glücklichste Zeit, die sie noch erlebt hatte.</p> + +<p>Aber als die Saga schließlich fertig war, da sah sie gar wunderlich aus. +Sie war toll und wild; und mit dem Zusammenhang war es nicht besser +bestellt, als daß alle ihre Teile noch immer die alte Lust hatten, jeder +seine eigne Straße zu ziehen.</p> + +<p>Die Saga wurde nie, was sie hätte werden sollen. Es war ihr Unglück, daß +sie so lange hatte warten müssen, bis sie erzählt wurde. Wenn sie nicht +gebührend in Zucht und Zaum gehalten worden ist, so kam dies +hauptsächlich daher, daß ihre Verfasserin nur allzu glücklich war, sie +endlich schreiben zu dürfen.<span class='pagenum'><a name="Page_26" id="Page_26">[Pg 26]</a></span></p> + +<h2><a name="Das_Madchen_vom_Moorhof" id="Das_Madchen_vom_Moorhof"></a>Das Mädchen vom Moorhof</h2> + +<h3>1</h3> + +<p>Es ist in einem Thingsaal, weit draußen auf dem Lande. Am Richtertisch, +hoch oben im Saal, sitzt der Richter, ein großer, stark gebauter Mann +mit breitem, grobgeschnittenem Gesicht. Schon mehrere Stunden lang hat +er einen Fall nach dem andern entschieden, und schließlich ist etwas wie +Überdruß und Düsterkeit über ihn gekommen. Es ist schwer zu sagen, ob es +die Hitze und Schwüle im Gerichtssaal ist, die ihn bedrückt, oder die +Schuld an dieser schlechten Laune die Beschäftigung mit allen diesen +kleinlichen Zwistigkeiten trägt, die aus keinem andern Grunde entstanden +zu sein scheinen, als um die Händelsucht und Unbarmherzigkeit und +Geldgier der Menschen an den Tag zu bringen.</p> + +<p>Er hat gerade mit einer der letzten Verhandlungen begonnen, die heute +durchgeführt werden sollen. Es handelt sich um die Forderung eines +Erziehungsbeitrages.</p> + +<p>Dieser Fall ist schon am vorigen Gerichtstag verhandelt worden, und das +Protokoll des früheren Prozesses wird eben verlesen. Daraus erfährt man +fürs<span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[Pg 27]</a></span> erste, daß die Klägerin eine arme Dienstmagd ist und der Beklagte +ein verheirateter Mann.</p> + +<p>Weiter geht aus dem Protokoll hervor, daß der Beklagte erklärt hat, die +Klägerin habe ihn zu Unrecht und nur aus Gewinnsucht hierher laden +lassen. Er gibt zu, daß die Klägerin eine Zeitlang auf seinem Hof in +Dienst gestanden hat; er aber habe sich während dieser Zeit in keinerlei +Liebeshändel mit ihr eingelassen, und sie habe kein Recht, irgendwelche +Unterstützung von ihm zu begehren. Die Klägerin jedoch hat an ihrer +Behauptung festgehalten; und nachdem einige Zeugen vernommen waren, ist +dem Beklagten auferlegt worden, einen Eid zu leisten, wenn er nicht +verurteilt werden wolle, der Klägerin die verlangte Unterstützung zu +zahlen.</p> + +<p>Beide Parteien haben sich eingefunden und stehen nebeneinander vor dem +Gerichtstisch. Die Klägerin ist sehr jung und sieht ganz verschüchtert +aus. Sie weint vor Scham und trocknet mühsam ihre Tränen mit einem +zusammengeknüllten Taschentuch; es scheint, als könne sie es nicht +auseinanderfalten. Sie trägt schwarze Kleider, die ziemlich neu und +ungetragen aussehen, aber sie sitzen so schlecht, daß man versucht ist, +zu glauben, sie habe sie sich ausgeliehen, um anständig vor Gericht +erscheinen zu können.</p> + +<p>Was den Beklagten anlangt, so sieht man ihm gleich an, daß er ein +wohlgestellter Mann ist. Er mag etwa vierzig Jahre alt sein und hat ein +zuversichtliches und frisches Aussehen. Wie er da vor dem Richterstuhl +steht, zeigt er eine sehr gute Haltung. Es sieht ja<span class='pagenum'><a name="Page_28" id="Page_28">[Pg 28]</a></span> nicht aus, als +fände er ein besonderes Vergnügen daran, da zu stehen, aber er macht +auch durchaus keinen befangnen Eindruck.</p> + +<p>Als das Protokoll verlesen ist, wendet sich der Richter an den Beklagten +und fragt ihn, ob er an seinem Leugnen festhalte, und ob er bereit sei, +den Eid zu schwören.</p> + +<p>Auf diese Frage antwortet der Beklagte sogleich mit einem raschen Ja. Er +fängt an, in seiner Westentasche zu suchen, und holt ein Zeugnis des +Pfarrers darüber hervor, daß er die Wichtigkeit und Bedeutung des Eides +kenne und kein Hinderungsgrund für ihn vorliege, ihn zu schwören.</p> + +<p>Während dieser ganzen Zeit hat die Klägerin nicht aufgehört zu weinen. +Sie scheint unüberwindlich scheu zu sein und hält die Augen hartnäckig +zu Boden geschlagen. Sie hat den Blick noch nicht so weit erhoben, daß +sie dem Beklagten ins Gesicht sehen könnte.</p> + +<p>Als er nun sein Ja gesagt hat, zuckt sie zusammen. Sie tritt ein paar +Schritte näher an den Richterstuhl heran, als hätte sie etwas +einzuwenden; aber dann bleibt sie stehen. Es sei wohl nicht möglich, +scheint sie zu sich selbst zu sagen, er könne nicht Ja gesagt haben. — +Ich habe nicht recht gehört ...</p> + +<p>Indessen nimmt der Richter das Zeugnis in die Hand und gibt zugleich dem +Gerichtsdiener einen Wink. Der Gerichtsdiener tritt an den Tisch heran, +um die Bibel zu nehmen und sie vor den Beklagten hinzulegen.<span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[Pg 29]</a></span></p> + +<p>Die Klägerin hört, daß jemand an ihr vorbeigeht, und wird unruhig. Sie +zwingt sich, den Blick so weit zu heben, daß sie über den Tisch hinsehen +kann, und da bemerkt sie, daß der Gerichtsdiener die Bibel zurechtlegt.</p> + +<p>Noch einmal sieht es aus, als wollte sie Einspruch erheben. Aber sie +hält sich wieder zurück. — Es ist ja nicht möglich, daß er den Eid +ablegt. Der Richter muß ihn doch daran hindern.</p> + +<p>Der Richter war ein so kluger Mann, und er wußte gar wohl, was die Leute +in seiner Heimat dachten und fühlten. Er müßte doch wissen, wie streng +alle diese Menschen sind, sobald es sich um etwas handelt, was die Ehe +betrifft. Sie kannten keine ärgere Sünde als die, die sie begangen +hatte. Würde sie je so etwas aus sich selbst eingestanden haben, wenn es +nicht wahr gewesen wäre? Der Richter könnte wohl wissen, welche +furchtbare Verachtung sie sich zugezogen hatte. Und nicht nur Verachtung +allein, sondern auch alles mögliche Elend. Niemand wollte sie in Dienst +nehmen. Niemand wollte ihre Arbeit haben. Ihre eignen Eltern duldeten +sie kaum in ihrer Hütte, sondern sprachen jeden Tag davon, sie +hinauszuwerfen. Nein, der Richter müßte wohl begreifen, daß sie keine +Unterstützung von einem verheirateten Mann verlangt hätte, wenn ihr kein +Recht darauf zustünde.</p> + +<p>Der Richter könnte doch nicht glauben, daß sie in einer solchen Sache +lüge, daß sie so furchtbares Unglück auf sich herabbeschworen hätte, +wenn sie einen<span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[Pg 30]</a></span> andern hätte anklagen können als einen verheirateten +Mann. Und wenn er dies wüßte, müßte er den Eid doch verhindern.</p> + +<p>Sie sieht, daß der Richter dasitzt und das Zeugnis des Pfarrers ein +paarmal durchliest. Darum fängt sie zu glauben an, daß er eingreifen +werde.</p> + +<p>Es ist auch richtig, daß der Richter nachdenklich aussieht. Er heftet +seine Blicke ein paarmal auf die Klägerin, aber dabei wird der Ausdruck +des Ekels und des Überdrusses, der auf seinem Gesicht ruht, immer +deutlicher. Es sieht aus, als wäre er ungünstig gegen sie gestimmt. +Selbst wenn die Klägerin die Wahrheit spricht, — sie ist ja doch eine +schlechte Person, und der Richter kann keine Teilnahme für sie +empfinden.</p> + +<p>Es kommt manchmal vor, daß der Richter in einen Prozeß eingreift als ein +guter und kluger Ratgeber, der die Parteien davor behütet, sich ganz und +gar zugrunde zu richten. Aber diesmal ist er müde und unlustig, und er +denkt an nichts andres, als dem gesetzlichen Verfahren seinen Lauf zu +lassen.</p> + +<p>Er legt das Zeugnis hin und sagt dem Beklagten mit ein paar Worten, er +hoffe, daß dieser die verhängnisvollen Folgen eines falschen Schwurs +genau bedacht habe. Der Beklagte hört ihn mit derselben Ruhe an, die er +die ganze Zeit über an den Tag gelegt hat, und antwortet ehrerbietig und +nicht ohne Würde.</p> + +<p>Die Klägerin hört dies mit dem äußersten Schrecken. Sie macht ein paar +heftige Bewegungen und preßt die Hände zusammen. Nun will sie vor dem +Richterstuhl<span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[Pg 31]</a></span> sprechen. Sie kämpft einen furchtbaren Kampf mit ihrer +Scheu und mit dem Schluchzen, das ihr die Kehle zusammenschnürt. Das +Ende ist doch, daß sie kein hörbares Wort hervorbringen kann.</p> + +<p>Der Eid soll also geleistet werden. Er wird ihn ablegen. Niemand wird +ihn hindern, seine Seele zu verschwören.</p> + +<p>Bis dahin hat sie nicht glauben können, daß es geschehen würde. Aber +jetzt packt sie die Gewißheit, daß es unmittelbar bevorsteht, daß es im +nächsten Augenblick geschehen wird. Ein Schrecken, der viel +überwältigender ist als alles, was sie bisher gekannt hat, bemächtigt +sich ihrer. Sie steht wie versteinert, sie weint nicht einmal mehr. Die +Augen erstarren ihr im Kopfe.</p> + +<p>Es ist also seine Absicht, sich um seines Weibes willen freizuschwören. +Aber wenn er auch einen schweren Stand mit ihr haben sollte, — deshalb +darf er doch nicht seiner Seele Seligkeit preisgeben.</p> + +<p>Es gibt nichts Furchtbareres als einen Meineid. Es ist etwas +Geheimnisvolles und Gräßliches um diese Sünde. Es gibt keine Gnade, +keine Vergebung für sie. Die Tore des Abgrundes öffnen sich von selbst, +wenn der Name des Meineidigen genannt wird.</p> + +<p>Wenn sie jetzt die Blicke zu seinem Gesicht erhoben hätte, — sie hätte +gefürchtet, es schon mit irgendeinem Zeichen der Verdammnis gebrandmarkt +zu sehen, ihm aufgeprägt von Gottes Zorn.</p> + +<p>Während sie so dasteht und immer größere Angst<span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[Pg 32]</a></span> sich ihrer bemächtigt, +hat der Richter dem Beklagten gezeigt, wie er die Finger auf die Bibel +zu legen hat. Dann schlägt der Richter im Gesetzbuch nach, um die +Eidesformel zu finden.</p> + +<p>Als sie ihn die Finger auf das Buch legen sieht, macht sie noch einen +Schritt zum Richterstuhl hin; und es sieht aus, als wollte sie sich über +den Tisch beugen und seine Hand fortziehen.</p> + +<p>Aber noch wird sie von einer letzten Hoffnung zurückgehalten. Sie +glaubt, daß er jetzt im letzten Augenblick noch vom Schwur abstehen +werde.</p> + +<p>Der Richter hat die Seite im Gesetzbuch gefunden, nach der er gesucht +hat; und jetzt beginnt er, den Eid laut und deutlich vorzusagen. Dann +macht er eine Pause, damit der Beklagte seine Worte nachsprechen könne. +Und der Beklagte fängt wirklich an, sie nachzusprechen; aber er macht +einen kleinen Fehler, so daß der Richter von vorn anfangen muß.</p> + +<p>Jetzt kann sie keinen Schimmer von Hoffnung mehr haben. Jetzt weiß sie, +daß er falsch schwören, daß er Gottes Zorn für das zukünftige Leben auf +sich herabschwören will.</p> + +<p>Sie steht da und ringt in ihrer Hilflosigkeit die Hände. Und es ist +alles ihre Schuld, weil sie ihn verklagt hat.</p> + +<p>Aber sie war ja ohne Arbeit, sie hatte gehungert und gefroren. Das Kind +lag im Sterben. An wen sonst hätte sie sich um Hilfe wenden sollen?<span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[Pg 33]</a></span></p> + +<p>Nie hätte sie auch geglaubt, daß er eine so schreckliche Sünde begehen +könnte.</p> + +<p>Jetzt hat der Richter den Eid noch ein Mal vorgesprochen. In wenigen +Augenblicken wird die Tat vollbracht sein. Jene Tat, von der es keine +Umkehr gibt, die niemals gutgemacht, niemals ausgelöscht werden kann.</p> + +<p>Gerade als der Beklagte anfängt, den Eid nachzusprechen, stürzt sie vor, +schleudert seine ausgestreckte Hand beiseite und reißt die Bibel an +sich.</p> + +<p>Ein furchtbares Entsetzen hat ihr endlich Mut gegeben. Er darf seine +Seele nicht verschwören. Er darf nicht.</p> + +<p>Der Gerichtsdiener eilt sogleich herbei, sie zur Ordnung zu rufen und +ihr die Bibel abzunehmen. Sie hat ungeheure Angst vor allem, was mit dem +Gericht zusammenhängt, und sie glaubt, daß, was sie jetzt getan hat, sie +auf die Festung bringen werde. Aber sie gibt die Bibel nicht her. Was es +auch kosten möge, er darf den Eid nicht ablegen. Auch er, der schwören +will, läuft herbei, um das Buch zu ergreifen; aber sie leistet auch ihm +Widerstand.</p> + +<p>»Du darfst den Eid nicht schwören!« ruft sie. »Du darfst nicht!«</p> + +<p>Was jetzt vorgeht, erweckt natürlich das größte Staunen. Die +Versammelten drängen zum Richtertisch, die Geschwornen erheben sich, der +Protokollführer springt auf, das Tintenfaß in der Hand, damit es nicht +umgestürzt werde.</p> + +<p>Da ruft der Richter mit lauter, zorniger<span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[Pg 34]</a></span> Stimme: »Ruhe!« und alle die +Menschen bleiben regungslos stehen.</p> + +<p>»Was fällt dir ein? Was hast du mit der Bibel zu schaffen?« fragt der +Richter die Klägerin mit harter und strenger Stimme.</p> + +<p>Nachdem sie ihrer Angst in einer Tat der Verzweiflung Luft gemacht hat, +ist ihre Beklommenheit gewichen, so daß sie antworten kann: »Er darf den +Eid nicht ablegen!«</p> + +<p>»Sei still und gib das Buch zurück!« ruft der Richter.</p> + +<p>Aber sie gehorcht nicht, sondern umklammert das Buch mit beiden Händen.</p> + +<p>»Er darf den Eid nicht ablegen!« ruft sie mit ungezügelter Heftigkeit.</p> + +<p>»Ist es dir so sehr darum zu tun, den Prozeß zu gewinnen?« fragt der +Richter in immer schärferem Ton.</p> + +<p>»Ich will die Klage zurückziehen!« ruft sie mit lauter, schneidender +Stimme. »Ich will ihn nicht zwingen, zu schwören!«</p> + +<p>»Was schreist du da?« fragt der Richter. »Hast du den Verstand +verloren?«</p> + +<p>Sie ringt heftig nach Atem und versucht sich zu beruhigen. Sie hört +selbst, wie sie schreit. Der Richter muß wohl glauben, daß sie toll +geworden sei, weil sie, was sie will, nicht in ruhigen Worten sagen +kann. Noch einmal kämpft sie mit sich selbst, um Macht über ihre Stimme +zu erlangen, und diesmal gelingt es ihr.<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[Pg 35]</a></span> Sie sagt langsam, ernst, laut, +während sie dem Richter gerade ins Gesicht sieht:</p> + +<p>»Ich will die Klage zurückziehen. Er ist der Vater des Kindes. Aber ich +hab ihn noch lieb. Ich will nicht, daß er falsch schwört!«</p> + +<p>Sie steht aufrecht und entschlossen vor dem Richtertisch und sieht dem +Richter gerade in sein strenges Gesicht. Er sitzt da, beide Hände auf +den Tisch gestützt; und lange, lange wendet er den Blick nicht von ihr. +Während der Richter sie betrachtet, geht eine große Veränderung mit ihm +vor. Alle Schlaffheit und Mißvergnügtheit, die in seinen Zügen gelegen +hat, schwindet, und das große, grobe Gesicht wird durch die Rührung +geradezu schön. Sieh da, denkt der Richter, sieh da, so ist mein Volk. +Ich will mich nicht darüber beklagen, wo doch bei einer der Geringsten +so viel Liebe und Gottesfurcht zu finden ist.</p> + +<p>Plötzlich aber spürt der Richter, daß seine Augen sich mit Tränen +füllen, und da zuckt er beinahe beschämt zusammen und wirft einen +raschen Blick um sich. Da sieht er, daß die Schreiber und die +Gerichtsdiener und die ganze lange Reihe der Beisitzer sich vorgebeugt +haben, um das Mädchen anzusehen, das vor dem Richtertisch steht, die +Bibel an die Brust gepreßt. Und er sieht einen Schimmer auf ihren +Gesichtern, als hätten sie etwas richtig Schönes gesehen, das sie bis in +das tiefste Herz erfreut hat.</p> + +<p>Hierauf sieht der Richter auch über das versammelte Volk hin, und ihm +ist, als säßen alle<span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[Pg 36]</a></span> diese Menschen stumm und atemlos da, als hätten sie +gerade jetzt das gehört, wonach sie sich am meisten sehnten.</p> + +<p>Zu allerletzt sieht der Richter den Beklagten an. Jetzt ist er es, der +mit gesenktem Kopf dasteht und zu Boden blickt.</p> + +<p>Der Richter wendet sich abermals an das arme Mädchen. »Es soll so sein, +wie du es willst,« sagt er. »Die Klage wird zurückgezogen,« diktiert er +dem Protokollführer.</p> + +<p>Der Beklagte macht eine Bewegung, als wolle er einen Einwand vorbringen. +»Was denn? Was denn?« schreit ihn der Richter an. »Hast du vielleicht +etwas dagegen?« Der Beklagte läßt den Kopf noch tiefer sinken und sagt +dann kaum hörbar: »Ach nein, es ist wohl am besten so.«</p> + +<p>Der Richter sitzt noch einen Augenblick still, dann schiebt er den +schweren Stuhl zurück, erhebt sich und geht um den Tisch herum zur +Klägerin hin.</p> + +<p>»Ich danke dir,« sagt er und reicht ihr die Hand.</p> + +<p>Sie hat die Bibel jetzt fortgelegt und steht da und weint und trocknet +die Tränen mit dem zusammengerollten Taschentuch.</p> + +<p>»Ich danke dir,« sagt der Richter noch einmal und ergreift ihre Hand so +leicht und behutsam, als wäre sie etwas gar Feines und Kostbares.<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[Pg 37]</a></span></p> + + +<h3>2</h3> + +<p>Niemand darf glauben, daß das Mädchen, das eine so schwere Stunde vor +dem Gerichtstisch durchgemacht hatte, selbst meinte, sie habe etwas +Rühmenswertes getan. Sie meinte im Gegenteil, daß sie vor der ganzen +Gemeinde beschämt sei. Sie begriff nicht die Ehre, die darin lag, daß +der Richter auf sie zugekommen war und ihr die Hand geschüttelt hatte. +Sie glaubte, dies bedeutete nur, daß die Verhandlung zu Ende sei, und +sie ihrer Wege gehen könne.</p> + +<p>Sie sah auch nicht, daß die Leute ihr freundliche Blicke zuwarfen, und +daß ihr mehrere die Hand drücken wollten. Sie schlich sich nur davon und +wollte fort. Aber unten an der Tür herrschte ein großes Gedränge. Der +Thing war zu Ende, und viele wollten wieder ins Freie. Sie drückte sich +an die Wand und war wohl die letzte, die den Thingsaal verließ. Sie +meinte, daß alle andern vor ihr hinausgehen müßten.</p> + +<p>Als sie endlich ins Freie kam, stand Gudmund Erlandssons Wägelchen +angespannt vor der Freitreppe. Gudmund saß darin, die Zügel in der Hand, +und schien auf jemand zu warten. Sowie er ihrer unter allem Volk, das +aus dem Thingsaal strömte, ansichtig wurde, rief er ihr zu: »Komm her, +Helga! Du kannst mit mir fahren, wir haben denselben Weg.«</p> + +<p>Aber obgleich sie ihren Namen hörte, — sie konnte nicht glauben, daß er +sie rief. Es war nicht möglich, daß Gudmund Erlandsson sie kutschieren +wollte. Er war der schmuckste Bursche im ganzen Kirchspiel, jung<span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[Pg 38]</a></span> und +schön und aus gutem Hause und in Gunst bei allen Leuten. Sie konnte +nicht glauben, daß er etwas mit ihr zu tun haben wolle.</p> + +<p>Sie ging, das Kopftuch tief in die Stirn geschoben, und eilte an ihm +vorbei, ohne aufzusehen oder zu antworten.</p> + +<p>»Hörst du nicht, Helga, daß du mit mir fahren kannst?« fragte Gudmund, +und es lag ein so recht freundlicher Ton in der Stimme. Aber sie konnte +es nicht in ihren Kopf hineinbringen, daß Gudmund es gut mit ihr meine. +Sie glaubte, er wolle sie in der einen oder andern Weise verspotten und +wartete nur darauf, die Umstehenden in Kichern und Lachen ausbrechen zu +<ins title="hären">hören</ins>. Sie warf ihm einen erschrocknen und zornigen Blick zu und lief +vom Thingplatz fort, um außer Hörweite zu sein, wenn das Lachen begänne.</p> + +<p>Gudmund war damals noch unverheiratet und wohnte bei seinen Eltern. Der +Vater war ein kleiner Bauer. Er hatte keinen großen Hof und war nicht +vermögend, aber er konnte sorgenfrei leben. Der Sohn war zum Thing +gefahren, um einige Urkunden für seinen Vater zu holen, aber da er noch +eine andre Absicht mit seiner Fahrt verfolgte, hatte er sich sehr fein +hergerichtet. Er hatte das neue Wägelchen genommen, dessen Lackierung +keine Schramme aufwies; das Pferd hatte er gestriegelt, bis es wie Seide +glänzte, und das Sattelzeug fein geputzt. Er hatte eine schmucke, rote +Decke neben sich auf den Sitz gelegt, und sich selbst hatte er mit einem +kurzen Jagdrock, einem kleinen, grauen<span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[Pg 39]</a></span> Filzhut und hohen Stiefeln +geputzt, in die die Hosen hineingesteckt waren. Es war wohl kein +Feiertagsgewand, aber er wußte, daß er männlich und stattlich darin +aussah.</p> + +<p>Als Gudmund am Morgen von daheim fortfuhr, hatte er allein im Wagen +gesessen, aber er war in angenehme Gedanken versunken, und die Zeit war +ihm nicht lang erschienen. Als er ungefähr auf halbem Wege war, fuhr er +an einem armen Mädchen vorbei, das sehr langsam ging und aussah, als +könnte es vor Müdigkeit kaum einen Fuß vor den andern setzen. Es war +Herbst, der Weg war vom Regen aufgeweicht, und Gudmund sah, wie sie bei +jedem Schritt tief in den Schmutz einsank. Er hielt an und fragte, wohin +sie gehe, und als er erfuhr, daß sie zum Thing wolle, bot er ihr an, +mitzufahren. Sie dankte und stieg rückwärts auf den Wagen, auf das +schmale Brett, an dem der Heusack festgebunden war, ganz so, als wagte +sie es nicht, die rote Decke neben Gudmund zu berühren. Es war auch +nicht seine Absicht gewesen, daß sie sich neben ihn setze. Er wußte +nicht, wer sie wäre, aber er vermutete, daß sie die Tochter irgendeines +armen Kleinhäuslers wäre, und fand, es sei wohl genug Ehre für sie, wenn +sie rückwärts aufsitzen dürfte.</p> + +<p>Als sie an einen Hügel kamen und das Pferd den Schritt verlangsamte, +begann Gudmund zu plaudern. Er wollte wissen, wie sie heiße, und wo sie +daheim sei. Als er hörte, daß sie Helga hieß und von einem Waldgütchen +stammte, das man den Moorhof<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[Pg 40]</a></span> nannte, begann er unruhig zu werden. »Bist +du immer daheim gewesen oder warst du im Dienst,« fragte er. Das letzte +Jahr wäre sie daheim gewesen, früher hätte sie einen Dienstplatz gehabt. +»Bei wem denn?« fragte Gudmund sehr hastig. Und es schien ihm, als daure +es lange bis die Antwort kam. »Im Sternhof, bei Per Martensson,« sagte +sie endlich und senkte die Stimme, als wollte sie am liebsten nicht +gehört werden. Aber Gudmund verstand sie doch. »Ja so, du bist also +die,« sagte er, sprach aber den Satz nicht zu Ende. Er wendete sich ab, +richtete sich gerade auf und sprach kein Wort mehr zu ihr.</p> + +<p>Gudmund versetzte dem Pferde einen Hieb nach dem andern, fluchte laut +über den schlechten Weg und schien recht schlechter Laune zu sein. Ein +Weilchen verhielt sich das Mädchen still, aber bald fühlte Gudmund seine +Hand auf seinem Arm. »Was willst du?« fragte er, ohne den Kopf zu +wenden. Ja, er solle halten, damit sie abspringen könne. »Ach, warum +denn?« sagte Gudmund in verächtlichem Tone. »Fährst du nicht gut?« — +»Ja, danke, aber ich gehe doch lieber.« Gudmund kämpfte ein wenig mit +sich selbst. Es war ärgerlich, daß er gerade an diesem Tage eine solche +wie Helga aufgefordert hatte, mitzufahren. Aber er fand doch, daß er +sie, nun er sie einmal in den Wagen genommen hatte, nicht wieder +vertreiben könnte. »Halte, Gudmund,« sagte das Mädchen noch einmal. Sie +sprach sehr bestimmt, und Gudmund zog die Zügel an. — »Wenn sie +durchaus aussteigen will,« dachte<span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[Pg 41]</a></span> er, »brauche ich sie doch nicht zu +zwingen, gegen ihren Willen zu fahren.« Sie war schon unten auf der +Straße, bevor noch das Pferd ganz stehen geblieben war. — »Ich glaubte, +du wußtest, wer ich bin, als du mir sagtest, ich kann mitfahren,« sprach +sie, »sonst wäre ich gar nicht eingestiegen.« Gudmund sagte kurz: »Behüt +Gott!« und fuhr weiter. Sie hatte wohl Grund gehabt, zu glauben, daß er +sie kenne. Er hatte ja das Dirnlein vom Moorhof oftmals als Kind +gesehen; aber sie hatte sich verändert, seit sie herangewachsen war. +Zuerst war er sehr froh, die Reisekameradin los zu sein, aber allmählich +begann er mit sich selbst unzufrieden zu werden. Er hätte kaum anders +handeln können, aber er war nicht gern grausam gegen irgend jemand.</p> + +<p>Ein kleines Weilchen, nachdem Gudmund sich von Helga getrennt hatte, bog +er von der Straße ab, fuhr ein enges Gäßchen hinaus und kam zu einem +prächtigen großen Bauernhof. Als Gudmund vor dem Hause anhielt, öffnete +sich die Eingangstür, und eine der Töchter zeigte sich auf der Schwelle. +Gudmund zog den Hut und grüßte, und dabei huschte eine leichte Röte über +sein Gesicht. »Ich möchte wohl wissen, ob der Herr Amtmann daheim ist,« +sagte er. — »Nein, Vater ist zum Thing gefahren,« antwortete die +Tochter. — »So, so, ist er schon fort?« sagte Gudmund. »Ich bin +hergekommen, um zu fragen, ob der Herr Amtmann nicht mit mir fahren +möchte. Ich will auch zum Thing.« — »Ach, Vater ist immer so +überpünktlich,«<span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[Pg 42]</a></span> klagte die Tochter. — »Es ist ja weiter kein Schade +geschehen,« sagte Gudmund. — »Vater wäre gewiß gern mit einem so +prächtigen Pferd und in einem so schmucken Wagen gefahren,« sagte das +Mädchen freundlich. Gudmund lächelte ein wenig, als er das Lob hörte. +— »Ja, da muß ich also wieder abziehen,« sagte er. — »Du willst nicht +hereinkommen, Gudmund?« — »Danke schön, Hildur, aber ich muß ja zum +Thing. Ich darf nicht zu spät kommen.«</p> + +<p>Gudmund fuhr nun gerades Wegs zum Thinghause. Er war sehr vergnügt und +dachte nicht mehr an seine Begegnung mit Helga. Es war doch schön, daß +gerade Hildur herausgekommen war, und daß sie den Wagen und die Decke +und das Pferd und das Sattelzeug gesehen hatte. Sie hatte wohl alles +bemerkt.</p> + +<p>Es war das erste Mal, daß Gudmund auf einem Thing war. Er fand, daß es +da sehr viel zu hören und zu erfahren gäbe, und blieb den ganzen Tag +dort. Er saß im Thingsaal, als Helgas Sache geführt wurde, und sah, wie +sie die Bibel an sich riß und Gerichtsdienern und Richter standhielt. +Als alles zu Ende war, und der Richter Helga die Hand gedrückt hatte, +stand Gudmund hastig auf und verließ den Saal. Rasch spannte er das +Pferd vor den Wagen und fuhr zur Treppe hin. Er fand, daß Helga sehr +tapfer gewesen war, und nun wollte er sie ehren. Aber sie war so +verschüchtert, daß sie seine Absicht nicht verstand, sondern sich vor +der Ehre, die ihr zugedacht war, flüchtete.<span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[Pg 43]</a></span></p> + +<p>An demselben Tag kam Gudmund spät abends zum Moorhof. Das war ein +kleines Gehöft auf dem Abhang des bewaldeten Hügels, der das Kirchspiel +abschloß. Der Weg, der hinführte, war nur im Winter bei Schlittenbahn +fahrbar, und Gudmund hatte zu Fuß gehen müssen. Es war ihm recht sauer +geworden, vorwärts zu kommen. Fast hätte er sich an Stock und Stein die +Beine gebrochen, auch hatte er Bäche durchwaten müssen, die den Pfad an +mehreren Stellen durchschnitten. Wäre nicht Vollmond gewesen, so hätte +er überhaupt nicht hinfinden können; und er dachte, daß das ein +beschwerlicher Weg wäre, den Helga an diesem Tag hatte gehen müssen.</p> + +<p>Der Moorhof lag an einer ausgerodeten Stelle, etwa auf halber Höhe des +Hügels. Gudmund war noch nie dort gewesen, aber er hatte den Ort oftmals +unten vom Tale aus gesehen und kannte ihn genügend, um zu wissen, daß er +richtig gegangen war.</p> + +<p>Rings um die ausgerodete Stelle zog sich ein Reisigzaun, der sehr dicht +und sehr schwer zu übersteigen war. Er sollte wohl gleichsam eine Wehr +und ein Hort gegen die Wildnis sein, die das Gehöft umgab. Die Hütte +selbst stand am oberen Rand der Einzäunung. Davor breitete sich ein +abschüssiger Hof aus, mit kurzem, grünem Gras bewachsen, und unterhalb +des Hofes lagen ein paar graue Schuppen und ein Keller mit grünem +Torfdach. Es war ein geringes und ärmliches Anwesen, aber es ließ sich +nicht leugnen, daß es dort oben schön war. Das Moor, nach dem<span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[Pg 44]</a></span> das +Gütchen seinen Namen hatte, lag irgendwo in der Nähe und sandte Nebel +empor, die sich im Mondschein prachtvoll und silberglänzend heranwälzten +und einen Kranz um den Hügel bildeten. Der höchste Gipfel ragte noch aus +dem Nebel empor. Und der Kamm, der zackig von Tannen war, zeichnete sich +scharf gegen den Himmel ab. Unten über dem Tal lag der Mondschein so +hell, daß man die Felder und Gehöfte und einen geschlängelten Bach +unterscheiden konnte, über dem der Nebel wie der leichteste Duft +schwebte. Es war nicht weit dort hinunter, aber das Seltsame war, daß +das Tal wie eine fremde Welt dalag, mit der das, was dem Wald angehörte, +nichts gemein hatte. Es war, als wenn die Menschen, die hier auf dem +Waldgut hausten, immer unter diesen Bäumen gehen müßten. Sie konnten +unten im Tale ebensowenig fortkommen wie Auerhähne und Bergeulen und +Luchse und Heidelbeerkraut.</p> + +<p>Gudmund ging über die Wiese auf die Hütte zu. Durch das Fenster drang +Feuerschein, die Scheiben waren nicht verhangen; er warf einen Blick +hinein, um zu sehen, ob Helga in der Hütte wäre. Auf einem Tisch am +Fenster brannte ein kleines Lämpchen, und davor saß der Hausvater und +flickte alte Schuhe. Im Hintergrunde des Zimmers neben dem Herd, auf dem +ein schwaches Feuer brannte, saß die Hausmutter. Sie hatte den +Spinnrocken vor sich, aber hatte zu arbeiten aufgehört, um mit einem +kleinen Kinde zu spielen. Sie hatte es aus der Wiege genommen, und man +hörte es<span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[Pg 45]</a></span> bis zu Gudmund hinaus, wie sie mit ihm lachte und scherzte. +Ihr Gesicht war von vielen Runzeln durchfurcht, und sie sah strenge aus; +aber wie sie sich so über das Kind beugte, bekam ihr Gesicht einen +sanften Ausdruck, und sie lächelte dem Kleinen ebenso zärtlich zu wie +nur seine eigene Mutter.</p> + +<p>Gudmund spähte nach Helga aus, konnte sie aber in keinem Winkel der +Hütte entdecken. Da schien es ihm am besten, draußen zu bleiben, bis sie +käme. Er wunderte sich, daß sie noch nicht zu Hause war. Vielleicht wäre +sie auf dem Heimweg bei Bekannten eingekehrt, sich auszuruhen und einen +Imbiß zu nehmen? Aber bald müßte sie auf jeden Fall kommen, wenn sie vor +Einbruch der Nacht unter Dach sein wollte.</p> + +<p>Gudmund blieb eine Weile mitten im Hof stehen und horchte nach Schritten +aus. Es war ganz ruhig. Kein Lüftchen regte sich. Es kam ihm vor, als ob +ihn nie vorher eine solche Stille umgeben hätte. Es war, als hielte der +ganze Wald den Atem an und stünde da und wartete auf etwas Merkwürdiges.</p> + +<p>Niemand ging durch den Wald. Kein Zweiglein wurde geknickt, und kein +Stein rollte. Helga war wohl noch lange nicht zu erwarten. »Ich möchte +wohl wissen, was sie sagen wird, wenn sie sieht, daß ich hier bin,« +dachte Gudmund. »Sie wird vielleicht schreien und in den Wald laufen und +sich die ganze Nacht nicht heimwagen.«</p> + +<p>Dabei fiel ihm ein, es sei doch recht sonderbar,<span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[Pg 46]</a></span> daß er nun auf einmal +soviel mit dieser Häuslerdirne zu schaffen hatte.</p> + +<p>Als er vom Thing heim kam, war er wie gewöhnlich zu seiner Mutter +hineingegangen, ihr alles zu erzählen, was er während des Tages erlebt +hatte. Gudmunds Mutter war klug und hochsinnig und hatte es immer +verstanden, gegen den Sohn so zu sein, daß er noch ebensoviel Vertrauen +zu ihr hatte wie einst als Kind. Seit mehreren Jahren war sie krank und +konnte nicht gehen, sondern saß den ganzen Tag still in ihrem Lehnstuhl. +Es war immer eine gute Stunde für sie, wenn Gudmund von einer Reise +heimkam und ihr Neuigkeiten brachte.</p> + +<p>Als Gudmund nun von Helga vom Moorhof erzählte, sah er, daß die Mutter +gedankenvoll wurde. Lange saß sie stumm da und sah gerade vor sich hin. +»Es scheint doch ein guter Kern in diesem Mädchen zu stecken,« sagte sie +dann. »Man darf keinen verwerfen, weil er einmal ins Unglück gekommen +ist. Es kann wohl sein, daß sie sich dem, der ihr jetzt beistünde, +dankbar erweisen würde.«</p> + +<p>Gudmund begriff sogleich, woran die Mutter dachte. Sie konnte sich nicht +mehr selbst helfen, sondern mußte beständig jemand um sich haben, der +ihr zu Diensten stand. Aber es war immer schwer, jemand zu finden, der +auf diesem Platz bleiben wollte. Die Mutter war anspruchsvoll und nicht +leicht zu befriedigen, und außerdem wollten alle jungen Mägde lieber +eine andre Arbeit haben, bei der sie mehr Frei<span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[Pg 47]</a></span>heit genossen. Nun war es +sicherlich der Mutter eingefallen, daß sie die Helga vom Moorhof in +Dienst nehmen könnte, und Gudmund fand, daß dies ein guter Vorschlag +sei. Helga würde der Mutter sicherlich sehr ergeben sein. Es wäre wohl +möglich, daß ihnen auf diese Weise für lange geholfen wäre.</p> + +<p>»Am schwersten wird es mit dem Kinde sein,« sagte die Mutter nach einer +Weile, und Gudmund begriff, daß sie ernsthaft an die Sache dachte. — +»Das muß wohl bei den Großeltern bleiben,« sagte Gudmund. — »Es ist +nicht ausgemacht, daß sie sich von ihm trennen will.« — »Sie wird es +sich abgewöhnen müssen, daran zu denken, was sie will und nicht will. +Ich finde, daß sie förmlich verhungert aussieht. Dort oben auf dem +Moorhof ist wohl Schmalhans Küchenmeister.«</p> + +<p>Darauf antwortete die Mutter nichts, sondern begann von etwas anderm zu +sprechen. Man merkte, daß ihr neue Bedenklichkeiten aufstiegen, die sie +verhinderten, einen Entschluß zu fassen.</p> + +<p>Gudmund begann nun zu erzählen, wie er den Amtmann auf Älvåkra +aufgesucht und Hildur getroffen hatte. Er berichtete, was sie über das +Pferd und den Wagen gesagt hatte, und es war leicht zu merken, daß er +sich der Begegnung freute. Auch die Mutter schien sehr vergnügt. Wie sie +so unbeweglich in ihrem Lehnstuhl saß, war es ihre stete Beschäftigung, +Pläne für die Zukunft des Sohnes auszuspinnen; und sie war zuerst auf +den Gedanken verfallen, daß er es versuchen solle, um die schöne +Amtmannstochter zu werben. Das<span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[Pg 48]</a></span> war die prächtigste Heirat, die er +machen konnte. Der Amtmann war ein richtiger Großbauer. Er hatte den +größten Hof im Kirchspiel und viel Macht und viel Geld. Es war +eigentlich töricht, zu hoffen, daß er sich mit einem Eidam begnügen +würde, der kein größeres Vermögen hatte als Gudmund, aber es war +immerhin möglich, daß er sich nach dem richtete, was seine Tochter +wollte. Und daß Gudmund Hildur gewinnen könnte, wenn er es nur wollte, +davon war die Mutter fest überzeugt.</p> + +<p>Dies war das erste Mal, daß Gudmund die Mutter merken ließ, wie der +Gedanke bei ihm Wurzel geschlagen hatte, und sie sprachen nun ein langes +und breites von Hildur und von allen den Reichtümern und Vorteilen, die +dem zufallen würden, der sie einmal bekäme. Aber bald stockte das +Gespräch wieder, weil die Mutter von neuem in ihre Grübeleien versunken +war. »Könntest du diese Helga nicht holen lassen? Ich möchte sie doch +sehen, bevor ich sie in meine Dienste nehme,« sagte sie schließlich. — +»Das ist schön, daß du dich ihrer annehmen willst, Mutter,« entgegnete +Gudmund und dachte bei sich: wenn die Mutter eine Pflegerin bekäme, mit +der sie zufrieden wäre, würde seine Gattin hier daheim ein behaglicheres +Leben führen. »Du wirst sehen, daß du mit dem Mädchen zufrieden sein +wirst,« fuhr er fort. — »Es ist ja auch ein gutes Werk, sich ihrer +anzunehmen,« sagte die Mutter.</p> + +<p>Als es zu dämmern begann, begab sich die Kranke zu Bett, und Gudmund +ging in den Stall, um die<span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[Pg 49]</a></span> Pferde zu striegeln. Es war schönes Wetter, +die Luft war klar, und der ganze Hof lag vom Mondschein übergossen da. +Da fiel es ihm ein, daß er schon heute in den Moorhof gehen und die +Botschaft der Mutter bestellen könne. Wäre morgen schönes Wetter, dann +würde man es so eilig haben, den Hafer einzubringen, daß weder er noch +irgend ein andrer Zeit hätte, hinzugehen.</p> + +<p>Als jetzt Gudmund vor dem Moorhof stand und horchte, hörte er zwar keine +Schritte; doch andre Laute durchschnitten in kurzen Abständen die +Stille. Es war ein stilles Klagen, ein sehr leises und ersticktes +Jammern und dann hie und da ein Aufschluchzen. Gudmund glaubte zu +merken, daß die Laute von dem Schuppen herkämen, und ging auf diesen zu. +Als er sich näherte, hörte das Schluchzen auf; aber es war offenbar, daß +sich drinnen jemand in der Holzkammer regte. Mit einem Male begriff +Gudmund, wer dort drinnen war. »Bist du es, Helga, die da drinnen sitzt +und weint?« rief er und stellte sich in die Türöffnung, damit das +Mädchen nicht entwischen könnte, ehe er mit ihm gesprochen hätte.</p> + +<p>Wieder wurde es ganz still. Gudmund hatte wohl recht geraten: es war +Helga, die da saß und weinte; aber sie versuchte das Schluchzen zu +unterdrücken, damit Gudmund glaubte, er habe sich verhört, und seiner +Wege ginge. Es war stockfinster in dem Schuppen, und sie wußte, daß er +sie nicht sehen konnte.</p> + +<p>Aber Helga war an diesem Abend in solcher Ver<span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[Pg 50]</a></span>zweiflung, daß es ihr +nicht leicht fiel, die Tränen zurückzudrängen. Sie war noch nicht in der +Hütte gewesen und hatte die Eltern noch nicht begrüßt. Sie hatte nicht +den Mut dazu gehabt. Als sie in der Dämmerung den steilen Hügel +hinaufstieg und daran dachte, daß sie den Eltern jetzt sagen müßte, sie +habe keinen Erziehungsbeitrag von Per Martensson zu erwarten, da hatte +sie solche Angst vor den harten und grausamen Worten bekommen, die sie +ihr sagen würden, daß sie es nicht wagte, hineinzugehen. Sie gedachte +draußen zu bleiben, bis sie sich zu Bett gelegt hätten; dann brauchte +sie vielleicht nicht vor dem nächsten Tage von der unglückseligen Sache +zu sprechen. Und so hatte sie sich in dem Holzschuppen versteckt. Aber +während sie so dasaß und fror und hungerte, kam es ihr erst recht zu +Bewußtsein, wie unglücklich und ausgestoßen sie war. Alle Schmach und +Angst, die sie hatte erleiden müssen, und alle Schmach und Angst, die +ihrer noch harrten, stand vor ihr und drückte sie mit Bleischwere zu +Boden. Sie weinte über sich selbst, darüber, daß sie so elend war, und +daß niemand etwas von ihr wissen wollte. Sie erinnerte sich, wie sie +einmal als Kind in einen Morast gefallen und gleich untergesunken war. +Je mehr sie sich gemüht hatte, in die Höhe zu kommen, desto tiefer war +sie gesunken. Alle Büsche und Sträucher, nach denen sie gegriffen, +hatten nachgegeben. So war es auch jetzt. Alles, wonach sie zu greifen +versuchte, um sich aufrechtzuhalten, ließ sie im Stich. Niemand<span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[Pg 51]</a></span> wollte +ihr helfen. Damals, als sie ins Moor versinken wollte, war schließlich +ein Hirtenbub gekommen und hatte sie herausgezogen; jetzt aber kam +niemand, sie zu retten. Jetzt war es gewiß ihre Bestimmung, zugrunde zu +gehen.</p> + +<p>Als Helga das Moor in den Sinn kam, wurde es ihr mit einem Male klar: +das beste, was sie tun konnte, war, dorthin zu gehn, in den Schlamm +hinauszuwandern und sich einsinken und begraben zu lassen. Wenn eine so +elend wäre, daß kein Mensch etwas mit ihr zu tun haben wollte, dann +könnte sie wohl gar nichts Besseres tun als sterben. Es wäre auch für +das Kind das Beste, wenn sie fortginge; denn Helgas Mutter hatte es +gern, obgleich sie es nicht zeigen wollte, wenn Helga daheim war. Aber +wenn Helga einmal für immer aus dem Wege wäre, dann würde sich die +Großmutter des Kindes wohl so annehmen, als wäre es ihr eigenes.</p> + +<p>Sie begriff nicht, daß sie mitten in ihrem größten Elend etwas getan +hatte, wodurch den Leuten eine bessere Meinung über sie gegeben würde. +Ihr wurde mit jedem Augenblick gewisser, daß das Moor der einzige +Zufluchtsort für sie sei. Und je klarer sie dies einsah, desto mehr +weinte sie.</p> + +<p>Es war darum nicht so leicht für sie, die Tränen zu unterdrücken. Es +dauerte nicht lange, so begann sie von neuem zu schluchzen.</p> + +<p>Gudmund war nichts verhaßter, als wenn Weibsleute weinten. Er hatte die +größte Lust, auf und davon<span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[Pg 52]</a></span> zu laufen; aber er sagte sich, wenn er sich +nun einmal die Mühe gemacht hätte, zur Hütte hinaufzuklettern, müßte er +seinen Auftrag auch ausführen.</p> + +<p>»Was ist dir denn?« sagte er in barschem Ton zu Helga. »Warum gehst du +nicht ins Haus?« — »Ach, ich getraue mich nicht,« antwortete Helga, und +ihre Zähne schlugen aufeinander. »Ich getraue mich nicht.«</p> + +<p>»Wovor hast du denn Angst? Du hast dich doch heute morgen gegen +Gerichtsdiener und Richter tapfer gehalten. Da kannst du wohl nicht vor +deinen leiblichen Eltern Angst haben.« — »O ja, o ja, die sind viel +schlimmer als alle andern.« — »Warum sollten sie denn gerade heute so +böse sein?« — »Ich bekomme ja kein Geld.« — »Na, du bist doch ein so +tüchtiges Mädel, daß du für dich und dein Kind das Brot verdienen +kannst.« — »Ja, aber mich will doch niemand nehmen.«</p> + +<p>Plötzlich fiel es Helga ein, daß die Eltern ihre Stimmen hören und +herauskommen und fragen könnten, wer da spräche. Und dann wäre sie +gezwungen, ihnen alles zu erzählen. Dann könnte sie sich nicht in das +Moor retten. Und in ihrem Schrecken sprang sie auf und wollte an Gudmund +vorbeieilen. Aber er kam ihr zuvor. Er packte sie am Arm und hielt sie +fest. — »Nein! Du kommst nicht davon, bis ich nicht mit dir gesprochen +habe.« — »Laß mich gehen,« rief sie und blickte ihn wild an. — »Du +siehst aus, als wenn du ins Wasser gehen wolltest,« sagte er; denn jetzt +stand sie draußen im Mondschein, und<span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[Pg 53]</a></span> er konnte ihr Gesicht sehen. — +»Ja, das würde wohl auch niemand etwas angehen, wenn ich das täte,« +sagte Helga und warf dabei den Kopf zurück und sah ihm gerade in die +Augen. »Heute morgen wolltest du mich nicht einmal rückwärts auf deinem +Wagen mitfahren lassen. Niemand will etwas mit mir zu tun haben. Da mußt +du doch selbst einsehen, daß es für solch ein armes Wurm, wie mich, am +besten ist, wenn ich ein Ende mache.«</p> + +<p>Gudmund wußte nicht, was er beginnen solle. Er wünschte sich weit weg, +aber er fühlte auch, daß er einen Menschen in solcher Verzweiflung nicht +verlassen konnte. »Hör mich jetzt an! Versprich nur, daß du anhörst, was +ich dir zu sagen habe. Dann kannst du gehen, wohin du willst.« — Ja, +das versprach sie. — »Kann man hier nirgends sitzen?«</p> + +<p>»Drüben steht doch der Hackblock.« — »Also geh hin und setze dich und +sei still!« Sie ging ganz gehorsam hin und setzte sich. — »Weine jetzt +nicht mehr!« sagte er; denn es war ihm, als finge er an, Macht über sie +zu gewinnen. Aber das hätte er nicht sagen sollen, denn sie ließ +sogleich den Kopf in die Hände sinken und weinte heftiger denn je.</p> + +<p>»Weine nicht!« sagte er und war nahe daran, mit dem Fuß auf die Erde zu +stampfen. »Es gibt genug Leute, denen es schlechter geht als dir.« — +»Nein, keinem kann es schlechter gehen.« — »Du bist jung und gesund, du +solltest nur wissen, wie es meiner Mutter geht. Sie ist von Schmerzen so +geplagt, daß<span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[Pg 54]</a></span> sie sich nicht rühren kann, aber sie klagt nie.« — »Sie +ist nicht so verlassen von allen wie ich.« — »Du bist auch nicht +verlassen. Ich habe mit Mutter über dich gesprochen, und Mutter hat mich +zu dir geschickt.« Das Schluchzen hörte auf. Man vernahm gleichsam das +große Schweigen des Waldes, als ob der den Atem anhielte und auf etwas +Wunderbares wartete. »Ich soll dir bestellen, daß du morgen zu Mutter +kommst, damit sie dich sieht. Mutter gedenkt dich zu fragen, ob du zu +uns in Dienst gehen willst.« — »Das will sie mich fragen?« — »Ja, aber +zuerst will sie dich sehen.« — »Weiß sie, daß ...?« — »Sie weiß +ebensoviel von dir wie alle andern.«</p> + +<p>Mit einem Schrei des Staunens und der Freude sprang das Mädchen auf, und +im nächsten Augenblick fühlte Gudmund ein paar Arme um seinen Hals. Er +erschrak förmlich, und sein erster Gedanke war, sich loszureißen. Aber +dann faßte er sich und blieb stehen. Er begriff, daß das Mädchen so +außer sich vor Freude war, daß sie nicht wußte, was sie tat; in diesem +Augenblick hätte sie sich dem ärgsten Schurken an den Hals werfen +können, nur um in dem großen Glück, das über sie gekommen war, ein klein +wenig Mitgefühl zu finden.</p> + +<p>»Wenn sie mich bei sich aufnehmen will, dann kann ich ja am Leben +bleiben!« sagte sie und legte den Kopf an Gudmunds Brust und weinte +wieder, aber nicht so heftig wie zuvor. »Ich kann dir jetzt sagen, daß +es mir damit Ernst war, ins Moor zu gehen,« sagte sie.<span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[Pg 55]</a></span> »Ich danke dir, +daß du gekommen bist! Du hast mir das Leben gerettet.« Gudmund hatte +bisher unbeweglich dagestanden, jetzt aber fühlte er, wie sich etwas +warm und zärtlich in ihm zu regen begann. Er hob die Hand und strich ihr +übers Haar. Da zuckte sie zusammen, als hätte er sie aus einem Traum +geweckt, und stellte sich kerzengerade vor ihn hin. »Ich danke dir, daß +du gekommen bist!« sagte sie noch einmal. Sie war flammend rot im +Gesicht geworden, und er errötete auch.</p> + +<p>»Ja, so kommst du also morgen zu uns,« sagte er und streckte die Hand +aus, um ihr Lebewohl zu sagen. — »Ich werde nie vergessen, daß du heute +abend zu mir gekommen bist,« sagte Helga, und die große Dankbarkeit +bekam die Oberhand über ihre Befangenheit. »Ach ja, es ist vielleicht +ganz gut, daß ich da war,« sagte er ruhig, fühlte sich aber doch recht +zufrieden mit sich selbst. — »Jetzt gehst du doch ins Haus?« sagte er. +— »Ja, jetzt werde ich wohl hineingehen.«</p> + +<p>Gudmund hatte plötzlich eine solche Freude an Helga, wie man sie an +einem hat, dem man hat helfen können. Er stand da und zauderte und +wollte nicht gehen. »Ich möchte dich gern unter Dach und Fach sehen, +bevor ich gehe.« — »Ich dachte, sie sollten sich lieber erst +niederlegen, bevor ich hineingehe.« — »Nein, du mußt gleich gehen, +damit du etwas zu essen kriegst und unter Dach kommst,« sagte er und +fand es recht vergnüglich, so für sie zu sorgen.</p> + +<p>Sie ging sogleich auf die Hütte zu, und er kam<span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[Pg 56]</a></span> mit, ganz zufrieden und +stolz, daß sie ihm gehorchte. Als sie auf der Schwelle stand, sagten sie +sich noch einmal Lebewohl. Aber kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, +als sie ihm nachkam. »Bleib hier draußen stehen, bis ich drinnen bin! Es +geht leichter, wenn ich weiß, daß du draußen bist.« — »Ja,« sagte er, +»ich werde hier bleiben, bis du das Ärgste überstanden hast.«</p> + +<p>Nun öffnete Helga die Hüttentür, und Gudmund merkte, daß sie sie leicht +angelehnt ließ. Gleichsam, damit sie sich nicht allzu abgetrennt von dem +Helfer fühle, der dort draußen stand. Er machte sich auch kein Gewissen +daraus, alles zu hören und zu sehen, was drinnen in der Hütte geschah.</p> + +<p>Die Alten nickten Helga, als sie eintrat, freundlich zu. Die Mutter +legte sogleich das Kind in die Wiege, ging dann zum Schrank und holte +einen Laib Brot und eine Schale Milch und stellte sie auf den Tisch.</p> + +<p>»Bist du da? Setz dich jetzt und iß,« sagte sie. Dann ging sie zum Herd +und legte ein Stück Holz nach. »Ich habe das Feuer nicht ausgehen +lassen, damit du dir die Kleider trocknen und dich erwärmen kannst, wenn +du kommst. Aber iß jetzt zuerst! Das hast du wohl am nötigsten.«</p> + +<p>Helga war die ganze Zeit an der Tür stehen geblieben. »Ihr sollt mich +nicht so gut aufnehmen, Mutter,« sagte sie mit leiser Stimme. »Ich +bekomme kein Geld von Per. Ich habe auf die Unterstützung verzichtet.«<span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[Pg 57]</a></span> +»Es ist heute Abend schon jemand dagewesen, der bei dem Thing war und +gehört hat, wie es dir ergangen ist,« sagte die Mutter. »Wir wissen +alles.«</p> + +<p>Helga blieb an der Tür stehen und machte, als wüßte sie weder aus noch +ein.</p> + +<p>Da legte der Vater die Arbeit nieder, schob die Brille auf die Stirn und +räusperte sich, um eine Rede zu halten, die er den ganzen Abend +überdacht hatte. »Es ist nämlich so, Helga,« sagte er: »Mutter und ich, +wir wollten immer anständige und ehrliche Leute sein. Aber dann ist es +uns vorgekommen, als ob du Unehre über uns gebracht <ins title="hätte">hättest</ins>. Es war so, +als hätten wir dich nicht gelehrt, zwischen Gut und Böse zu +unterscheiden. Aber als wir nun hörten, was du heute getan hast, da +sagten wir uns, Mutter und ich, daß die Leute jetzt doch sehen können, +daß du eine ordentliche Erziehung genossen hast, und wir denken, daß wir +vielleicht auch noch Freude an dir erleben können. Und Mutter wollte +nicht, daß wir uns niederlegen, ehe du da bist, damit du doch eine +ordentliche Heimkehr hast.«</p> + +<h3>3</h3> + +<p>Helga vom Moorhof kam jetzt nach Närlunda, und da ging alles gut. Sie +war willig und anstellig und dankbar für jedes freundliche Wort, das man +ihr sagte. Sie fühlte sich immer als die Geringste und wollte sich nie +vordrängen. Es dauerte nicht lange, so hatten Herrschaft und Gesinde sie +lieb gewonnen.<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[Pg 58]</a></span></p> + +<p>In den ersten Tagen sah es aus, als fürchte sich Gudmund, mit Helga zu +sprechen. Er hatte Angst, daß das Mädchen sich etwas einbilde, weil er +ihr zu Hilfe gekommen war. Aber dies war eine unnötige Sorge. Helga +hielt ihn für viel zu herrlich und hoch, als daß sie gewagt hätte, ihre +Blicke zu ihm zu erheben. Und Gudmund merkte auch bald, daß er sie nicht +fernzuhalten brauchte. Sie war vor ihm scheuer als vor irgend jemand.</p> + +<p>In demselben Herbst, da Helga nach Närlunda kam, machte Gudmund viele +Besuche bei der Familie des Amtmanns auf Älvåkra, und es wurde viel +darüber gesprochen, daß er alle Aussicht hätte, dort im Hause +Schwiegersohn zu werden. Volle Gewißheit, daß seine Werbung Erfolg +hatte, erhielten die Leute jedoch erst zu Weihnachten. Da kam der +Amtmann mit Frau und Tochter nach Närlunda, und es war ganz klar, daß +sie nur hierher gefahren waren, um zu sehen, wie es Hildur gehen würde, +wenn sie sich mit Gudmund verheiratete.</p> + +<p>Das war das erste Mal, daß Helga das Mädchen, welches Gudmund heimführen +wollte, aus der Nähe sah. Hildur Erikstochter war noch nicht zwanzig +Jahre, aber das Merkwürdige an ihr war, daß niemand sie ansehen konnte, +ohne zu denken, welche stattliche und prächtige Hausmutter einmal aus +ihr werden würde. Sie war hochgewachsen, stark gebaut, blond und schön, +und sah aus, als wenn sie gerne für viele um sich zu sorgen hätte. Sie +war nie scheu oder verschüchtert,<span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[Pg 59]</a></span> sondern sprach viel und schien alles +besser zu wissen als der, mit dem sie sprach. Sie war ein paar Jahre in +der Stadt zur Schule gegangen und trug die schönsten Kleider, die Helga +je gesehen hatte, aber sie machte keinen eiteln oder prunkliebenden +Eindruck. Reich und schön, wie sie war, hätte sie wohl jeden Tag einen +Mann von Stand heiraten können, aber sie sagte immer, sie wolle keine +feine Dame werden und mit den Händen im Schoß dasitzen. Sie wollte einen +Bauer heiraten und ihr Haus selbst versehen wie eine richtige Bäuerin.</p> + +<p>Hildur schien Helga als ein wahres Wunder. Nie hatte sie jemand gesehen, +der so prächtig aufgetreten wäre. Sie hätte nicht geglaubt, daß ein +Mensch in allen Stücken so vollkommen sein könnte. Und es däuchte sie +ein großes Glück, in Zukunft einer solchen Frau zu dienen.</p> + +<p>Bei dem Besuch der Amtmannsfamilie war alles gut abgelaufen; aber wenn +Helga an den Tag zurückdachte, empfand sie eine gewisse Unruhe. Als die +Fremden gekommen waren, war sie herumgegangen und hatte den Kaffee +gereicht. Wie sie nun mit den Kannen hereinkam, hatte die Frau des +Amtmanns sich zu ihrer Herrin vorgebeugt und sie gefragt, ob das nicht +das Mädchen vom Moorhof sei. Sie hatte die Stimme nicht sehr gesenkt, so +daß Helga die Frage deutlich hörte. Mutter Ingeborg hatte Ja gesagt, und +da hatte die andre etwas geantwortet, was Helga nicht hören konnte. Aber +es war so etwas gewesen, als ob sie es wunderlich fände, daß sie eine +solche Person im Hause<span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[Pg 60]</a></span> dulde. Dies bereitete Helga sehr viel Kummer, +aber sie suchte sich damit zu trösten, daß es die Mutter und nicht +Hildur war, die diese Worte gesprochen hatte.</p> + +<p>An einem Sonntag im Vorfrühling fügte es sich, daß Helga und Gudmund +zusammen aus der Kirche kamen. Als sie über den Kirchenhügel wanderten, +waren sie inmitten einer großen Schar von andern Kirchenbesuchern +gegangen; aber bald bog einer nach dem andern ab, und schließlich waren +Helga und Gudmund allein.</p> + +<p>Da fiel es Gudmund ein, daß er seit jenem Abend auf dem Moorhof nicht +mehr mit Helga allein gewesen war, und die Erinnerung daran kam nun in +voller Stärke wieder. Recht oft während des Winters hatte er an ihre +erste Begegnung gedacht und dabei immer gefühlt, wie etwas Süßes und +Wohliges seinen Sinn durchbebte. Wenn er allein bei der Arbeit war, +pflegte er sich die ganze schöne Nacht wieder zurückzurufen: den weißen +Nebel, den starken Mondschein, die schwarze Waldeshöhe, das lichte Tal +und dann das Mädchen, das die Arme um seinen Hals geschlungen und vor +Freude geweint hatte. Je öfter er sich den Vorfall zurückrief, desto +schöner wurde er. Aber wenn Gudmund Helga daheim unter den andern in +Arbeit und Plage umhergehen sah, dann konnte er sich nur schwer +vorstellen, daß sie mit dabei gewesen war. Jetzt aber, wo er allein mit +ihr den Kirchenweg entlang ging, konnte er es nicht lassen, sich zu +wünschen, daß sie für ein Weilchen dieselbe wäre wie an jenem Abend.<span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[Pg 61]</a></span></p> + +<p>Helga begann sogleich von Hildur zu sprechen. Sie rühmte sie sehr, +sagte, daß sie das schönste und klügste Mädchen in der ganzen Umgegend +sei, und beglückwünschte Gudmund dazu, daß er eine so ausgezeichnete +Frau bekäme. »Du mußt ihr sagen, daß sie mich immer auf Närlunda bleiben +läßt,« sagte sie. »Es wird so schön sein, unter einer solchen Frau zu +dienen.«</p> + +<p>Gudmund lächelte über ihren Eifer, gab ihr jedoch nur einsilbige +Antworten, als wären seine Gedanken nicht recht dabei. Aber es war ja +recht, daß ihr Hildur so gut gefiel, und daß sie sich über seine Heirat +so freute.</p> + +<p>»Du bist diesen Winter doch gern bei uns gewesen?« fragte er. — »Ja +gewiß. Ich kann gar nicht sagen, wie gut Mutter Ingeborg und ihr alle +gegen mich wart.« — »Hast du dich nach dem Walde gesehnt?« — »Ach ja, +anfangs wohl, aber jetzt nicht mehr.« — »Ich glaubte, wer im Wald +daheim ist, kann es nicht lassen, sich hinzusehnen.«</p> + +<p>Helga wendete sich halb um und sah ihn an, der auf der andern Seite des +Weges ging. Gudmund war ihr in letzter Zeit ganz fremd geworden, aber +jetzt lag etwas in seinem Tonfall und seinem Lächeln, das sie +wiedererkannte. Ja, er war doch derselbe, der in ihrer höchsten Not +gekommen war und sie gerettet hatte. Obgleich er sich mit einer andern +verheiraten wollte, war sie dessen gewiß, daß er ihr ein guter Freund +und getreuer Helfer bleiben würde.<span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[Pg 62]</a></span></p> + +<p>Es wurde ihr so leicht ums Herz; sie fühlte, daß sie Vertrauen zu ihm +haben könnte wie zu keinem andern, und es war ihr, als müßte sie ihm +alles erzählen, was ihr geschehen war, seit sie zuletzt miteinander +gesprochen hatten. »Ich will dir sagen, daß ich in den ersten Wochen auf +Närlunda eine recht schwere Zeit hatte,« begann sie. »Aber du darfst es +Mutter Ingeborg nicht wiedererzählen.« — »Wenn du willst, daß ich +schweigen soll, so schweige ich.« — »Denk dir nur, daß ich anfangs so +furchtbares Heimweh hatte! Ich war drauf und dran, wieder in den Wald +hinaufzulaufen.« — »Du hattest Heimweh? Ich glaubte, du wärst froh, bei +uns zu sein.« — »Ich konnte nichts dafür,« sagte sie entschuldigend. +»Ich sah wohl ein, welches Glück es für mich war, hier sein zu dürfen. +Ihr wart alle so freundlich gegen mich, und die Arbeit war nicht zu +schwer; aber ich sehnte mich doch. Irgend etwas zog und lockte und +wollte mich in den Wald zurückführen. Es war mir, als verriete ich +einen, der ein Recht auf mich hatte, wenn ich unten im Tale blieb.«</p> + +<p>»Das war vielleicht ...« begann Gudmund, aber er hielt mitten im Satz +inne. — »Nein, es war nicht der Kleine, nach dem ich mich sehnte. Ich +wußte ja, daß es ihm gut ging, und daß Mutter freundlich zu ihm war. Es +war nichts Bestimmtes. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ein wilder +Vogel, den man in einen Käfig gesperrt hat, und ich glaubte, ich müßte +sterben, wenn man mich nicht losließ.«<span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[Pg 63]</a></span></p> + +<p>»Nein, daß es dir so schlecht ging!« sagte Gudmund, und dabei lächelte +er; denn jetzt kam es ihm mit einem Male vor, als ob er sie erst +wiedererkennte. Jetzt war es, als läge nichts zwischen ihnen, sondern +als hätten sie sich erst am vorigen Abend oben auf dem Moorhof +voneinander getrennt. Helga lächelte wieder, sie fuhr jedoch fort, von +ihrer Qual zu sprechen. »Keine Nacht schlief ich,« sagte sie; »kaum +hatte ich mich niedergelegt, so begannen die Tränen zu fließen, und wenn +ich am Morgen aufstand, war das Kopfkissen ganz naß. Am Tag, wenn ich +unter euch andern herumging, konnte ich das Weinen unterdrücken; aber +sowie ich allein war, schossen mir die Tränen in die Augen.«</p> + +<p>»Du hast schon viel geweint in deinem Leben,« sagte Gudmund, aber sah +gar nicht mitleidig aus, als er diese Bemerkung machte. Helga war es, +als ob er die ganze Zeit mit einem unterdrückten Lachen einherginge. — +»Du kannst dir gar nicht denken, wie schlecht es mir ging,« sagte sie +und sprach immer lebhafter, in dem Bestreben, sich ihm verständlich zu +machen. »Es kam eine Sehnsucht über mich, die mich von mir selbst +forttrug. Keinen Augenblick konnte ich mich glücklich fühlen. Nichts war +schön, nichts war vergnüglich, keinen Menschen konnte ich liebgewinnen. +Ihr wart mir alle ebenso fremd wie an dem Tag, als ich zum ersten Male +in die Stube trat.«</p> + +<p>»Aber,« verwunderte sich Gudmund, »sagtest du nicht eben, daß du bei uns +bleiben willst?« — »Ja, gewiß sagte ich das.« — »Du sehnst dich also +jetzt<span class='pagenum'><a name="Page_64" id="Page_64">[Pg 64]</a></span> nicht mehr?« — »Nein, es ist vorübergegangen. Ich bin geheilt. +Warte nur, du wirst schon hören!«</p> + +<p>Als sie dies sagte, kreuzte Gudmund quer über den Weg und ging an ihrer +Seite weiter. Die ganze Zeit lächelte er. Es schien ihm Freude zu +machen, sie reden zu hören; aber er legte dem, was sie erzählte, wohl +nicht viel Gewicht bei. So allmählich kam Helga in dieselbe Stimmung. Es +schien ihr, als ob alles leicht und hell würde. Der Weg von der Kirche +war lang und beschwerlich zu gehen; aber an diesem Tage wurde sie nicht +müde. Irgend etwas schien sie zu tragen. Sie fuhr fort zu erzählen, weil +sie einmal begonnen hatte; aber es war nicht mehr so wichtig für sie, +sich auszusprechen. Sie hätte ebenso vergnügt sein können, wenn sie +stumm neben ihm einhergegangen wäre.</p> + +<p>»Als ich am allerunglücklichsten war, bat ich Mutter Ingeborg eines +Samstagabends, mir zu erlauben, nach Hause zu gehen und über den Sonntag +daheim zu bleiben. Und als ich an diesem Abend die Hügel zum Moor +hinaufwanderte, glaubte ich felsenfest, daß ich nie mehr nach Närlunda +zurückkommen würde. Aber daheim waren Vater und Mutter so froh, daß ich +eine Stelle in einem so angesehenen Hause hatte, daß ich es nicht übers +Herz brachte, ihnen zu sagen, ich hielte es nicht aus, bei euch zu +bleiben. Sobald ich in den Wald hinaufkam, war auch alle Angst und Qual +rein verschwunden. Und es schien mir, als ob das Ganze nur eine +Einbildung gewesen wäre. Und dann war es so schwer mit dem Kind. Mutter +hatte sich<span class='pagenum'><a name="Page_65" id="Page_65">[Pg 65]</a></span> seiner angenommen und es zu dem ihren gemacht. Es gehörte +mir nicht mehr. Und es war ja gut, daß es so war; aber es fiel mir doch +schwer, mich daran zu gewöhnen.«</p> + +<p>»Vielleicht fingst du nun gar an, dich zu uns hinunter zu sehnen?« warf +Gudmund hin. — »Ach nein. Als ich am Montag Morgen erwachte und daran +dachte, daß ich jetzt gehen müßte, kam die Sehnsucht wieder über mich. +Ich lag da und weinte und ängstigte mich, denn das einzige Rechte und +Richtige war doch, daß ich im Dienste blieb; aber ich hatte das Gefühl, +als müßte ich krank werden oder den Verstand verlieren, wenn ich +zurückkehrte. Aber da fiel mir plötzlich ein, was ich einmal gehört +hatte: wenn man ein wenig Asche aus dem Herd in seinem Hause nimmt und +sie dann auf den Herd im fremden Hause streut, dann wird man von seiner +Sehnsucht befreit.« — »Na, das ist ein Heilmittel, das leicht +anzuwenden ist,« sagte Gudmund. — »Ja, wenn es damit nur nicht die +Bewandtnis hätte, daß man sich nachher nirgendwo anders heimisch fühlen +kann. Geht man von dem Hause weg, in das man die Asche getragen hat, +dann sehnt man sich ebensosehr dorthin zurück, als man sich früher von +dort weggesehnt hat.« — »Kann man die Asche nicht wieder dorthin +mitnehmen, wohin man geht?« — »Nein, das kann man nur einmal im Leben +tun. Dann gibt es keine Umkehr. Und darum ist es ja sehr gefährlich, so +etwas zu versuchen.«</p> + +<p>»Ich hätte nie so etwas gewagt,« sagte Gudmund,<span class='pagenum'><a name="Page_66" id="Page_66">[Pg 66]</a></span> und sie hörte sehr +wohl, daß er sie nur neckte. — »Ich hab es doch gewagt,« sagte Helga. +»Es war besser, als vor Mutter Ingeborg und dir, die mir helfen wollten, +als undankbar dazustehen. Ich nahm ein klein wenig Asche von daheim mit, +und wie ich nach Närlunda zurückkam, benützte ich einen Augenblick, wo +niemand in der Stube war, und streute sie auf die Herdplatte.«</p> + +<p>»Und jetzt glaubst du, daß die Asche dir geholfen hat?« — »Warte, du +wirst schon hören, wie es kam! Ich ging gleich an meine Arbeit und +dachte den ganzen Tag nicht mehr an die Asche. Ich sehnte mich ebenso +heftig wie früher, und alles war mir ebenso zuwider wie immer. Es war an +diesem Tage sehr viel drinnen und draußen zu tun; und als ich am Abend +im Stalle fertig war und ins Haus ging, war auf dem Herd schon das Feuer +angezündet.«</p> + +<p>»Jetzt bin ich aber wirklich begierig, zu hören, wie es kam,« sagte +Gudmund. — »Ja, denke nur, schon als ich über den Hof ging, kam es mir +vor, als ob im Feuerschein etwas Wohlbekanntes wäre, und als ich die Tür +öffnete, da hatte ich das Gefühl, daß ich in unsre eigene Stube kam, und +daß Vater und Mutter am Feuer saßen. Ja, dies flog nur an mir vorbei wie +ein Traum. Aber als ich wirklich hineinkam, da war ich ganz erstaunt, +wie schön und traulich es in der Stube war. Nie hatten Mutter Ingeborg +und ihr andern so freundlich ausgesehen wie an diesem Abend, als ihr da +im Feuerschein saßet. Es war ein köstliches Gefühl, hereinzukommen, und +das war sonst nie so ge<span class='pagenum'><a name="Page_67" id="Page_67">[Pg 67]</a></span>wesen. Ich war so erstaunt, daß ich fast laut +aufgeschrieen und in die Hände geklatscht hätte. Es schien mir, als ob +ihr wie verwandelt wäret. Ihr wart mir nicht mehr fremd, sondern ich +konnte mit euch über alles reden. Du kannst dir denken, daß ich mich +freute; aber dabei mußte ich mich doch immer wieder wundern. Ich fragte +mich, ob ich denn verhext wäre, und sieh, da fiel mir plötzlich die +Asche ein, die ich auf die Herdplatte gestreut hatte.«</p> + +<p>»Ja, das ist seltsam,« sagte Gudmund. Er glaubte nicht im geringsten an +Zauber und Hexerei; aber es mißfiel ihm nicht, Helga von solchen Dingen +sprechen zu hören. »Jetzt ist doch die tolle Walddirne wieder zum +Vorschein gekommen,« dachte er. »Kann man begreifen, daß jemand, der so +viel durchgemacht hat, wie sie, noch so kindisch ist?«</p> + +<p>»Ja, gewiß war es seltsam,« sagte Helga. »Und dasselbe hat sich den +ganzen Winter hindurch wiederholt. Sowie das Feuer im Herd brannte, war +es mir ebenso behaglich, als wenn ich daheim gewesen wäre. Aber es ist +auch etwas Seltsames mit dem Feuer. Nicht mit anderm Feuer vielleicht, +aber mit Feuer, das auf einem Herde brennt, und um das sich alle +Hausgenossen Abend für Abend versammeln. Das wird, möcht man sagen, so +vertraut mit einem. Es spielt und tanzt vor einem und prasselt, und +manchmal ist es mürrisch und schlechter Laune. Es ist, als läge es in +seiner Macht, Traulichkeit oder Unbehagen zu verbreiten. Und nun war es +mir, als wäre das Feuer von daheim zu mir<span class='pagenum'><a name="Page_68" id="Page_68">[Pg 68]</a></span> gekommen, und als gäbe es +allem hier denselben traulichen Schein wie daheim.«</p> + +<p>»Aber wenn du nun gezwungen wärest, aus Närlunda fortzugehen?« sagte +Gudmund. — »Dann muß ich mich all mein Lebtag danach sehnen,« erwiderte +sie, und man hörte an ihrer Stimme, daß sie dies im tiefsten Ernst +sagte. — »Ja, ich werde gewiß nicht der sein, der dich vertreibt,« +sagte Gudmund; und obgleich er lachte, lag etwas Warmes in seinem Ton. +— Dann begannen sie kein neues Gespräch, sondern wanderten stumm bis +zum Bauernhofe. Gudmund wendete zuweilen den Kopf und sah sie an, die +neben ihm ging. Sie schien sich von der schweren Zeit, die sie im +vorigen Jahr durchgemacht hatte, erholt zu haben. Jetzt hatte sie etwas +Frisches und Rosiges. Die Züge waren klein und rein, das Haar umgab den +Kopf wie ein Heiligenschein, und aus den Augen konnte man nicht recht +klug werden. Sie ging flink und leicht. Wenn sie sprach, kamen die Worte +rasch hervor, aber dennoch scheu. Sie hatte immer Angst, verlacht zu +werden, doch mußte sie heraussagen, was sie auf dem Herzen hatte.</p> + +<p>Gudmund fragte sich, ob er sich wünsche, daß Hildur so wäre; aber das +wollte er doch nicht. Diese Helga war nichts zum Heiraten. —</p> + +<p>Ein paar Wochen später erfuhr Helga, daß sie im April von Närlunda fort +müsse, weil Hildur Erikstochter nicht mit ihr unter einem Dache hausen +wollte.</p> + +<p>Ihre Herrschaft sagte ihr das nicht gerade heraus.<span class='pagenum'><a name="Page_69" id="Page_69">[Pg 69]</a></span> Aber Mutter Ingeborg +begann davon zu sprechen, sie würden an ihrer neuen Schwiegertochter so +viel Hilfe haben, daß sie sich nicht so viele Dienstleute zu halten +brauchten. Ein andermal sagte sie wieder, sie habe von einer guten +Stelle gehört, wo es Helga viel besser gehen würde als bei ihnen.</p> + +<p>Helga brauchte nicht mehr zu hören: sie verstand, daß sie fort müsse, +und erklärte sogleich, daß sie gehen wolle; aber eine andre Stelle wolle +sie nicht annehmen, sondern sie kehre nach Hause zurück.</p> + +<p>Man merkte wohl, daß sie auf Närlunda Helga nicht aus freiem Willen +kündigten.</p> + +<p>Am Abschiedstage war so viel Essen aufgetischt, daß es ein förmlicher +Schmaus war, und Mutter Ingeborg steckte ihr eine solche Menge Kleider +und Schuhe zu, daß sie, die nur mit einem Bündel unter dem Arm gekommen +war, ihre Besitztümer jetzt kaum in einer Kiste unterbringen konnte.</p> + +<p>»Ich bekomme nie wieder eine so gute Magd wie dich in mein Haus,« sagte +Mutter Ingeborg. »Und denke nun nicht zu schlecht von mir, weil ich dich +ziehen lasse! Du weißt wohl, daß es nicht mit meinem Willen geschieht. +Ich werde dich nicht vergessen. Solange ich noch Macht habe, wirst du +keine Not leiden müssen.«</p> + +<p>Sie machte mit Helga ab, daß sie ihr Laken und Handtücher weben solle. +Und sie gab ihr Arbeit für mindestens ein halbes Jahr.</p> + +<p>Am Abschiedstage stand Gudmund im Schuppen<span class='pagenum'><a name="Page_70" id="Page_70">[Pg 70]</a></span> und hackte Holz. Er kam +nicht herein, ihr Lebewohl zu sagen, obgleich das Pferd schon vor der +Tür stand. Er schien so vertieft zu sein in seine Arbeit, daß er gar +nicht merkte, was vorging. Sie mußte hinausgehen, um ihm Lebewohl zu +sagen.</p> + +<p>Er legte die Axt hin, gab Helga die Hand, sagte etwas hastig: »Ich danke +dir für all die Zeit!« und begann dann wieder zu arbeiten. Helga hatte +sagen wollen, sie sähe ein, daß es unmöglich für ihn sei, sie zu +behalten, und daß alles ihre eigne Schuld sei. Sie selbst hätte es so +für sich eingerichtet. Aber Gudmund schlug zu, daß die Späne rings um +ihn flogen, und da konnte sie sich nicht entschließen, etwas zu sagen.</p> + +<p>Aber das Merkwürdigste an der ganzen Sache war, daß der Bauer selbst, +der alte Erland Erlandsson, Helga zum Moorhof hinauffuhr.</p> + +<p>Gudmunds Vater war ein kleines, trocknes Männchen mit kahlem Scheitel +und schönen, klugen Augen. Er war so verschlossen und schweigsam, daß er +zuweilen den ganzen Tag kein Wort sprach. Solange alles ging, wie es +gehen sollte, bemerkte man ihn gar nicht. Aber wenn etwas nicht klappte, +dann kam er immer und sagte und tat, was gesagt und getan werden mußte, +um alles wieder in Ordnung zu bringen. Er war sehr geschickt im +Rechnungführen und genoß unter den Männern des Kirchspiels großes +Vertrauen. Er bekam auch alle möglichen kommunalen Aufträge und war +angesehener als so mancher, der einen schönen Hof und großen Reichtum +besaß.<span class='pagenum'><a name="Page_71" id="Page_71">[Pg 71]</a></span></p> + +<p>Erland Erlandsson also fuhr Helga auf dem schlechten Wege heim und ließ +nicht zu, daß sie bei irgendeiner steilen Stelle ausstieg. Als sie auf +dem Moorhof angelangt waren, saß er lange in der Hütte und sprach mit +Helgas Eltern und erzählte ihnen, wie zufrieden er und Mutter Ingeborg +mit ihr gewesen waren. Nur weil sie jetzt nicht mehr so viele +Dienstleute brauchten, müßten sie sie nach Hause schicken. Sie hätte +gehen müssen, weil sie die Jüngste wäre. Sie hätten es unrecht gefunden, +jemand fortzuschicken, der schon lange bei ihnen diente.</p> + +<p>Erland Erlandssons Rede machte einen guten Eindruck, und die Eltern +bereiteten Helga einen freundlichen Empfang. Als sie dazu noch hörten, +sie hätte so große Bestellungen erhalten, daß sie sich mit ihrer Weberei +das Brot verdienen könne, waren sie es recht zufrieden, daß sie nun +daheim blieb.</p> + + +<h3><ins title="IV">4</ins></h3> + +<p>Gudmund kam es vor, als ob er Hildur Erikstochter bis zu dem Tage +geliebt hätte, an dem sie ihm das Versprechen abgezwungen, daß Helga aus +Närlunda fort sollte. Wenigstens hatte es bis dahin niemand gegeben, den +er mehr bewundert und geachtet hätte. Kein junges Mädchen schien ihm +Hildur an die Seite gestellt werden zu können, und er war sehr stolz +darauf gewesen, daß er sie gewonnen hatte. Es war ihm auch ein lieber +Gedanke, sich die Zukunft mit ihr zusammen vorzustellen. Sie würden +reich und angesehen sein, und<span class='pagenum'><a name="Page_72" id="Page_72">[Pg 72]</a></span> er hatte das sichere Gefühl, daß es sich +in dem Heim, wo Hildur das Regiment führte, gut leben lassen müßte. Er +dachte auch gern daran, daß er viel Geld haben würde, wenn er mit ihr +verheiratet wäre. Er könnte seine Wirtschaft verbessern, könnte alle +verfallnen Hütten wieder aufbauen und den Hof erweitern, so daß er ein +richtiger Großbauer würde.</p> + +<p>An demselben Sonntag, da er mit Helga von der Kirche heimging, war er +abends nach Älvåkra gefahren. Da hatte Hildur angefangen von Helga zu +sprechen und hatte gesagt, daß sie nicht nach Närlunda kommen wolle, ehe +die Dirne von dort fort sei. Gudmund versuchte zuerst, das Ganze als +einen Scherz fortzulachen. Aber es zeigte sich bald, daß es Hildur ernst +war. Gudmund führte Helgas Sache sehr beredt; er sagte, sie sei noch so +jung gewesen, als sie in den Dienst geschickt wurde, da sei es nicht zu +verwundern, daß sie ins Unglück gekommen wäre, wo sie an einen so +schlechten Menschen geraten war wie Per Martensson. Aber seit seine +Mutter sich ihrer angenommen, hätte sie sich immer gut betragen. »Es +kann nicht Recht sein, sie wieder hinauszustoßen,« sagte er. »Da könnte +sie ja wieder ins Elend kommen.«</p> + +<p>Aber Hildur hatte nicht nachgeben wollen. »Wenn das Mädchen auf Närlunda +bleibt, so komme ich nie hin,« sagte sie. »Ich kann eine solche Person +in meinem Hause nicht dulden.« — »Du weißt nicht, was du tust,« sagte +Gudmund. »Niemand hat Mutter noch so gut gepflegt wie Helga. Wir sind +alle froh, daß sie<span class='pagenum'><a name="Page_73" id="Page_73">[Pg 73]</a></span> zu uns gekommen ist; früher war Mutter oft +verdrießlich und schlechter Laune.« — »Ich zwinge dich ja nicht, sie +fortzuschicken,« sagte Hildur, aber man merkte: sie war, wenn Gudmund +ihr in dieser Sache nicht den Willen täte, entschlossen, die Heirat +aufzugeben. — »Nein, es soll so sein, wie du willst,« sagte Gudmund +schließlich. Er fand, daß er Helgas wegen doch nicht seine ganze Zukunft +aufs Spiel setzen könnte. Aber er sah sehr blaß aus, als er so nachgab, +und war den ganzen Abend schweigsam und verstimmt.</p> + +<p>Diese Sache nun ließ Gudmund befürchten, daß Hildur vielleicht nicht +ganz so sei, wie er sie sich vorgestellt hatte. Es gefiel ihm nicht, daß +sie ihren Willen über den seinen gesetzt hatte; aber das Schlimmste war: +er konnte sich nicht verhehlen, daß sie im Unrecht war. Er sagte sich, +daß er ihr gern nachgegeben hätte, wenn sie sich großherzig gezeigt +haben würde; aber nun schien es ihm, daß sie nur kleinlich und herzlos +gewesen wäre.</p> + +<p>Jedesmal von da an, wenn Gudmund Hildur traf, saß er und suchte und +spähte, ob das, was er in ihr zu finden geglaubt hatte, sich wieder +zeigen würde. Nun sein Mißtrauen einmal geweckt war, dauerte es nicht +lange, und er fand manches, was nicht so war, wie er es sich gewünscht +hätte. »Sie ist wohl so eine, die zu allererst an sich selbst denkt,« +murmelte er jedesmal, wenn er sich von ihr trennte, und er fragte sich, +wie lange wohl ihre Liebe zu ihm standhalten würde, wenn man sie auf die +Probe stellte. Er suchte sich damit zu<span class='pagenum'><a name="Page_74" id="Page_74">[Pg 74]</a></span> trösten, daß alle Menschen +zuerst an sich selbst dächten; aber sogleich fiel ihm Helga ein. Er sah +sie vor sich, wie sie im Thingsaal gestanden und die Bibel an sich +gerissen hatte, er hörte, wie sie rief: »Ich will die Klage +zurückziehen. Ich hab ihn noch lieb. Ich will nicht, daß er falsch +schwört.« So hätte er sich Hildur gewünscht. Helga war ihm ein Maß +geworden, nach dem er die Menschen beurteilte, — wahrlich, es gab nicht +viele, die ein so liebevolles Herz hatten.</p> + +<p>Von Tag zu Tag gefiel ihm Hildur weniger; aber er kam nie auf den +Gedanken, daß er von der Heirat abstehen könnte. Er suchte sich +einzureden, daß sein Mißmut nichts andres sei als leere Grillen. Vor +einigen Wochen erst hatte er sie ja für die Beste gehalten, die es gäbe.</p> + +<p>Wäre er noch am Anfang seiner Werbung gewesen, dann hätte er sich +vielleicht zurückgezogen. Aber jetzt waren sie schon aufgeboten, der +Hochzeitstag war bestimmt, und bei ihm daheim hatten sie bereits große +Ausbesserungen in Angriff genommen. Er wollte auch den Reichtum und die +gute Stellung, die ihn erwarteten, nicht preisgeben. Und welchen Grund +hätte er für einen Bruch anzuführen vermocht? Was er gegen Hildur +einzuwenden hatte, war so unbedeutend, daß es sich auf seinen Lippen in +Luft verwandeln würde, wenn er versuchen wollte, es auszusprechen.</p> + +<p>Aber das Herz war ihm oft schwer, und jedesmal, wenn er im Kirchdorf +oder in der Stadt etwas zu besorgen hatte, ließ er sich Bier oder Wein +geben, um<span class='pagenum'><a name="Page_75" id="Page_75">[Pg 75]</a></span> sich eine gute Laune anzutrinken. Wenn er ein paar Flaschen +geleert hatte, war er wieder stolz auf die Heirat und zufrieden mit +Hildur. Dann begriff er gar nicht, was ihn eigentlich quäle.</p> + +<p>Gudmund dachte oft an Helga und empfand Sehnsucht, sie zu treffen. Aber +er glaubte, daß Helga ihn für einen schlechten Kerl halte, weil er dem +Versprechen, das er ihr freiwillig gegeben hatte, untreu geworden war +und sie hatte ziehen lassen. Er konnte es ihr weder erklären, noch sich +rechtfertigen, und darum vermied er es, mit ihr zusammenzutreffen.</p> + +<p>Doch eines Morgens, als Gudmund gerade über die Straße ging, begegnete +er Helga, die im Tal gewesen war, Milch zu kaufen. Gudmund kehrte um und +schloß sich ihr an. Sie schien über seine Gesellschaft nicht gerade +erfreut zu sein, sondern schritt rasch aus, als wolle sie von ihm +fortkommen, und sagte kein Wort. Auch Gudmund schwieg, weil er nicht +recht wußte, wie er ein Gespräch einleiten solle.</p> + +<p>Da kam vom andern Ende der Straße ein Gefährt heran. Gudmund ging in +Gedanken versunken und bemerkte es nicht, aber Helga hatte es gesehen +und wendete sich nun plötzlich zu ihm. »Es hat keinen Zweck, daß du mit +mir weitergehst, Gudmund; denn wenn ich recht sehe, kommen da Amtmanns +aus Älvåkra gefahren.« Gudmund sah rasch auf, erkannte Pferd und Wagen +und machte eine Bewegung, als ob er umkehren wolle. Im nächsten +Augenblick jedoch richtete er sich auf und ging ruhig an Helgas<span class='pagenum'><a name="Page_76" id="Page_76">[Pg 76]</a></span> Seite +weiter wie zuvor; und sie trennten sich, ohne daß er ihr ein Wort gesagt +hatte. Aber an diesem ganzen Tage war er zufriedener mit sich selbst, +als er seit lange gewesen war.</p> + + +<h3><ins title="V">5</ins></h3> + +<p>Es war bestimmt, daß Gudmund und Hildurs Hochzeit am zweiten +Pfingstfeiertag auf Älvåkra gefeiert werden sollte. Am Freitag vor +Pfingsten fuhr Gudmund in die Stadt, einige Einkäufe für einen +Begrüßungsschmaus zu machen, der am Tage nach der Hochzeit auf Närlunda +stattfinden sollte. In der Stadt traf er mit einigen andern jungen +Burschen aus seinem Kirchspiel zusammen. Sie wußten, daß dies Gudmunds +letzter Stadtbesuch vor der Hochzeit war, und nahmen dies zum Anlaß, ein +großes Trinkgelage zu veranstalten. Alle legten es darauf an, daß +Gudmund trinke, und es gelang ihnen schließlich, ihn ganz bewußtlos zu +machen.</p> + +<p>Am Samstag morgen kam er so spät nach Hause, daß sein Vater und der +Knecht schon zu ihrer Arbeit gegangen waren, und er schlief bis tief in +den Nachmittag. Als er aufstand und sich anziehen wollte, sah er, daß +sein Rock an mehreren Stellen zerrissen war. »Das sieht ja aus, als wenn +ich heute Nacht eine Schlägerei gehabt hätte,« sagte er und versuchte, +sich zu besinnen, was geschehen wäre, erinnerte sich jedoch nur, daß er +gegen elf Uhr in Gesellschaft der andern aus dem Wirtshaus gegangen war, +aber wohin sie sich<span class='pagenum'><a name="Page_77" id="Page_77">[Pg 77]</a></span> dann begeben hätten, das konnte er sich nicht +zurückrufen. Es war, als versuchte er, in eine große Dunkelheit +hineinzustarren. Er wußte nicht, ob sie sich nur auf den Straßen +herumgetrieben hätten, oder ob sie noch irgendwo eingekehrt wären. Er +konnte sich auch nicht erinnern, ob er selbst oder irgendein andrer sein +Pferd eingespannt hätte, und er hatte gar keine Erinnerung an die +Heimfahrt.</p> + +<p>Als er in die Wohnstube trat, war sie der Feiertage wegen gescheuert und +gefegt. Alle Arbeit war beendigt, und das Hausgesinde trank Kaffee. +Niemand sagte etwas über Gudmunds Ausbleiben. Es schien ein +stillschweigendes Übereinkommen zu sein, daß er in diesen letzten Wochen +die Freiheit haben solle, so zu leben, wie es ihm behagte.</p> + +<p>Gudmund setzte sich an den Tisch und bekam seinen Kaffee wie die andern. +Während er so dasaß und ihn aus der Schale in die Untertasse und dann +wieder in die Schale goß, um ihn abkühlen zu lassen, wurde Mutter +Ingeborg mit dem ihren fertig; sie nahm die Zeitung zur Hand, die eben +gekommen war, und begann zu lesen. Sie las Spalte für Spalte vor, und +Gudmund, der Vater und die andern saßen da und hörten zu.</p> + +<p>Unter anderm las sie einen Bericht vor über eine Schlägerei, die in der +vorhergehenden Nacht auf dem großen Marktplatz zwischen einer Schar +betrunkner Bauern und einigen Arbeitern stattgefunden hatte. Sobald die +Polizei sich zeigte, waren die Streitenden<span class='pagenum'><a name="Page_78" id="Page_78">[Pg 78]</a></span> entflohen; nur einer von +ihnen hatte leblos auf dem Marktplatz gelegen. Man trug den Gefallenen +auf die Polizeistation, und da man keine äußere Verletzung an ihm +entdecken konnte, begann man Belebungsversuche zu machen. Alle +Bemühungen waren jedoch vergebens, und schließlich entdeckte man, daß +eine Messerklinge in seinem Kopfe stak. Es war die Klinge eines +ungewöhnlich großen Taschenmessers, die durch die Hirnschale ins Gehirn +eingedrungen und dicht am Kopfe abgebrochen war. Der Mörder war mit dem +Messerschaft entflohen, aber da die Polizei die Leute, die an der +Schlägerei beteiligt waren, genau kannte, bestand die Hoffnung, man +würde ihn bald finden.</p> + +<p>Während Mutter Ingeborg dies las, stellte Gudmund die Kaffeetasse hin, +fuhr mit der Hand in die Tasche, zog sein Messer hervor und warf einen +gleichgültigen Blick darauf. Aber mit einem Mal zuckte er zusammen, +drehte das Messer um und steckte es dann so hastig in die Tasche, als +hätte er sich daran verbrannt. Er rührte den Kaffee nicht mehr an, +sondern blieb lange ganz still mit einem nachdenklichen Ausdruck sitzen. +Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. Es war deutlich zu sehen, daß er +mit aller Macht versuchte, sich über etwas klar zu werden.</p> + +<p>Endlich stand er auf, streckte sich, gähnte und ging langsam auf die Tür +zu. »Ich muß mir ein bißchen Bewegung machen. Ich bin den ganzen Tag +nicht aus dem Hause gewesen,« sagte er und verließ das Zimmer.</p> + +<p>Ungefähr gleichzeitig erhob sich auch Erland Er<span class='pagenum'><a name="Page_79" id="Page_79">[Pg 79]</a></span>landsson. Er hatte seine +Pfeife ausgeraucht und ging nun in die Kammer, sich neuen Tabak zu +holen. Als er da drinnen stand und die Pfeife stopfte, sah er Gudmund +vorübergehen. Die Fenster der Kammer gingen nicht auf den Hof, wie die +der Wohnstube, sondern auf ein kleines Gärtchen, in dem ein paar hohe +Apfelbäume standen. Unterhalb des Gärtchens lag ein Sumpfland wo um die +Frühlingszeit große Wasserpfützen waren, die aber im Sommer fast ganz +austrockneten. Dahin pflegte selten jemand zu gehen. Erland Erlandsson +fragte sich, was Gudmund da wohl zu suchen habe, und folgte ihm mit den +Blicken. Da sah er, wie der Sohn die Hand in die Tasche steckte, einen +Gegenstand herauszog und ihn in den Morast warf. Dann ging er durch das +kleine Gärtchen, sprang über einen Zaun und entfernte sich in der +Richtung nach der Straße.</p> + +<p>Sowie der Sohn außer Sehweite war, verließ Erland ebenfalls das Haus und +begab sich an den Morast. Hier watete er in den Schlamm hinaus, beugte +sich zu Boden und hob etwas auf, woran er mit dem Fuß gestoßen war. Es +war ein großes Taschenmesser, dessen größte Klinge abgebrochen war. Er +drehte es nach allen Seiten und besah es genau, während er noch immer im +Wasser stand. Dann steckte er es in die Tasche, zog es aber noch ein +paarmal heraus und betrachtete es prüfend, ehe er wieder ins Haus +zurückging.</p> + +<p>Gudmund kam erst heim, als sich alle schon nieder<span class='pagenum'><a name="Page_80" id="Page_80">[Pg 80]</a></span>gelegt hatten. Er ging +sofort zu Bett, ohne das Abendbrot zu berühren, das in der Wohnstube +aufgetischt stand.</p> + +<p>Erland Erlandsson und sein Weib schliefen in der Kammer. Um das +Morgengrauen glaubte Erland Schritte vor dem Fenster zu hören. Er stand +auf, zog die Gardinen zurück und sah, daß Gudmund zum Morast +hinunterging. Dort legte er Strümpfe und Schuhe ab, ging ins Wasser +hinaus und wanderte hin und her, wie einer, der etwas sucht. Das tat er +lange, dann ging er wieder an das Ufer, als wollte er seiner Wege gehen, +kehrte aber bald um und suchte weiter. Eine ganze Stunde stand der Vater +da und sah ihm zu, dann begab sich Gudmund ins Haus und legte sich +wieder schlafen.</p> + +<p>Am Pfingsttag sollte Gudmund zur Kirche fahren. Als er das Pferd +einzuspannen begann, kam der Vater über den Hof. »Du hast vergessen, das +Geschirr zu putzen,« sagte er, als er vorbeiging. Denn Geschirr und +Wagen waren schmutzig und ungescheuert. — »Ich hab an andre Dinge zu +denken gehabt,« sagte Gudmund mürrisch und fuhr davon, ohne etwas +dergleichen zu tun.</p> + +<p>Nach dem Gottesdienst begleitete Gudmund seine Braut nach Älvåkra und +blieb den ganzen Tag dort. Es kam eine Menge jungen Volkes zusammen, um +Hildurs letzten Jungfernabend zu feiern, und man tanzte bis tief in die +Nacht hinein. Es gab auch viel zu trinken, aber Gudmund rührte nichts +an. Den<span class='pagenum'><a name="Page_81" id="Page_81">[Pg 81]</a></span> ganzen Abend sprach er kaum ein Wort zu irgend jemand, aber er +tanzte wild und lachte zuweilen laut und schrill auf, ohne daß jemand +wußte, worüber.</p> + +<p>Gudmund kam nicht vor zwei Uhr nach Hause, und sobald er das Pferd in +den Stall geführt hatte, ging er zu dem Sumpf hinter dem Hause. Er +streifte die Schuhe ab, krempelte die Hosen hinauf und watete ins +Wasser. Es war eine helle Sommernacht, und der Vater stand in dem +Kämmerchen hinter der Gardine und sah dem Sohne zu. Er sah, wie er tief +über das Wasser gebeugt einherging und suchte wie in der Nacht zuvor. +Von Zeit zu Zeit ging er wieder an das Ufer, so als verzweifelte er, +etwas zu finden, aber nach einer Weile watete er wieder in das Wasser +hinaus. Einmal ging er in den Stall und holte einen Eimer und begann +Wasser aus den kleinen Pfützen zu schöpfen, als wollte er sie +trockenlegen, aber fand es sicherlich zwecklos und stellte den Eimer +wieder weg. Er versuchte es auch mit einem Sieb. Er durchsuchte den +ganzen Sumpf damit, aber schien nichts andres heraufzubekommen als +Schlamm. Erst um die Morgenstunde kam er herein, als die Leute im Hause +sich schon zu rühren begannen. Da war er so müde und übernächtig, daß er +im Gehen schwankte, und warf sich aufs Bett, ohne die Kleider abzulegen.</p> + +<p>Als die Uhr acht schlug, kam der Vater und weckte ihn. Gudmund lag auf +dem Bett, die Kleider voll Schlamm und Lehm; aber der Vater fragte +nicht, was er angestellt habe, sondern sagte nur, es sei jetzt Zeit<span class='pagenum'><a name="Page_82" id="Page_82">[Pg 82]</a></span> +aufzustehen, und schloß die Tür. Nach einer Weile kam Gudmund in die +Wohnstube herunter, mit den feinen Hochzeitskleidern angetan. Er war +bleich, und die Augen brannten in unruhigem Glanz, aber niemand hatte +ihn je so schön gesehen. Die Züge waren wie von einem inneren Schein +verklärt. Man glaubte einen Menschen zu sehen, der nicht mehr aus +Fleisch und Blut bestünde, sondern nur noch aus Wille und Seele.</p> + +<p>Unten in der Wohnstube sah es festlich aus. Die Mutter hatte ihr +schwarzes Kleid angelegt und einen schönen Seidenschal über die +Schultern gehängt, obgleich sie nicht zur Hochzeit fahren wollte. Auch +alle Dienstleute waren in ihren besten Kleidern. Über dem Herde stak +frisches Birkenlaub, auf dem Tische lag eine schöne Decke, und viele +Schüsseln standen darauf.</p> + +<p>Als sie gegessen hatten, las Mutter Ingeborg einen Psalm und ein Stück +aus der Bibel vor. Dann wendete sie sich an Gudmund, dankte ihm, weil er +ihr ein guter Sohn gewesen war, wünschte ihm Glück für sein zukünftiges +Leben und gab ihm ihren Segen. Mutter Ingeborg wußte ihre Worte gut zu +setzen, und Gudmund war sehr gerührt. Immer wieder traten ihm die Tränen +in die Augen, aber es gelang ihm doch, das Weinen zu unterdrücken. Auch +der Vater sprach ein paar Worte. »Es wird schwer für deine Eltern sein, +dich zu verlieren,« sagte er, und Gudmund war wieder nahe daran, in +Schluchzen auszubrechen. Auch alle Dienstleute traten vor, schüttelten +ihm die Hand und dankten ihm für die Zeit, die nun zu Ende<span class='pagenum'><a name="Page_83" id="Page_83">[Pg 83]</a></span> war. +Beständig hingen Gudmund die Tränen in den Wimpern. Er räusperte sich +und machte ein paar Versuche, zu sprechen, doch brachte er kaum ein Wort +über die Lippen.</p> + +<p>Der Vater sollte ihn in das Haus der Braut begleiten und der Hochzeit +beiwohnen. Er ging in den Hof, spannte das Pferd ein und kam dann +wieder, um zu sagen, daß es Zeit sei, sich auf den Weg zu machen. Als +Gudmund sich in den Wagen setzte, merkte er, daß alles so spiegelblank +war, wie er es selbst immer gern gehabt hatte. Zugleich sah er auch, wie +fein der Hof herausgeputzt war; der Zufahrtsweg war frisch beschottert; +alte Holzhaufen und andres Gerümpel, das Zeit seines Lebens dort +gelegen, waren fortgeschafft. Zu beiden Seiten der Eingangstür standen +ein paar abgehauene Birken als Triumphpforte, an der Wetterfahne hing +ein großer Blumenkranz, und aus allen Fensterluken guckten lichtgrüne +Birkenreiser. Wieder war Gudmund nahe daran, in Tränen auszubrechen. Er +drückte dem Vater, der eben das Pferd in Gang setzen wollte, heftig die +Hand. Es war, als wollte er ihn von der Fahrt abhalten. »Willst du +etwas?« sagte der Vater. — »Ach nein,« sagte Gudmund »Es ist wohl am +besten, wenn wir uns auf den Weg machen.«</p> + +<p>Bevor sie weit vom Hofe waren, mußte Gudmund noch einmal Abschied +nehmen. Es war Helga vom Moorhof, die an der Stelle stand und wartete, +wo der Waldpfad von ihrem Heim her auf den Weg mündete.<span class='pagenum'><a name="Page_84" id="Page_84">[Pg 84]</a></span> Der Vater, der +kutschierte, hielt an, sowie er Helga erblickte. »Ich hab auf euch +gewartet, weil ich Gudmund Glück wünschen möchte,« sagte Helga. Gudmund +beugte sich aus dem Wagen und schüttelte Helga die Hand. Er glaubte zu +sehen, daß sie abgemagert war, ihre Augen waren rot gerändert. Sie lag +wohl nachts und weinte und sehnte sich nach Närlunda. Aber jetzt +trachtete sie, fröhlich auszusehen, und lächelte ihm zu. Er war wieder +sehr gerührt, konnte aber nichts sagen. Der Vater, der ja in dem Rufe +stand, daß er nicht sprach, ehe die Not am höchsten war, fiel ein: »Ich +glaube, über diesen Glückwunsch freut sich Gudmund mehr als über irgend +einen andern.« — »Ja, das ist sicher,« sagte Gudmund. Sie schüttelten +sich noch einmal die Hand, und dann fuhr der Vater weiter. Gudmund +beugte sich aus dem Wagen und sah Helga nach. Als sie von ein paar +Bäumen verdeckt wurde, riß er plötzlich den Fußsack fort und erhob sich, +als wolle er aus dem Wagen springen. — »Willst du Helga noch etwas +sagen?« fragte der Vater. — »Nein, ach nein,« antwortete Gudmund und +setzte sich wieder zurecht.</p> + +<p>Sie fuhren noch eine kleine Strecke. Der Vater fuhr sehr gemächlich. Es +war, als mache es ihm Freude, so mit seinem Sohne neben sich zu fahren. +Er machte keinerlei Anstalten, rasch ans Ziel zu kommen.</p> + +<p>Plötzlich ließ Gudmund den Kopf auf die Schulter des Vaters sinken und +brach in heftiges Schluchzen aus. »Was ist dir?« fragte Erland und zog +die Zügel<span class='pagenum'><a name="Page_85" id="Page_85">[Pg 85]</a></span> so plötzlich an, daß das Pferd mit einem Ruck stehen blieb. +— »Ja, alle sind so gut gegen mich, und ich verdien es nicht.« — »Du +hast doch nichts Böses getan?« — »Doch, Vater, das habe ich.« — »Das +wollen wir doch nicht glauben.« — »Ja, ich hab einen Menschen +erschlagen.«</p> + +<p>Der Vater holte tief Atem. Es klang beinahe wie ein Seufzer der +Erleichterung; Gudmund hob erstaunt den Kopf und sah ihn an. Der Vater +ließ das Pferd wieder in Trab fallen, dann sagte er still: »Ich bin +froh, daß du es selbst gesagt hast.« — »Wußtet Ihr es denn schon, +Vater?« — »Ich sah schon Samstag abend, daß irgend etwas nicht in +Ordnung war. Und dann fand ich dein Messer im Morast.« — »Ach so, Ihr +habt das Messer gefunden!« — »Ich hab es gefunden, und ich sah, daß die +eine Klinge abgebrochen war.«</p> + +<p>»Ja, Vater, ich weiß, daß die Klinge abgebrochen ist. Aber ich kann mir +doch nicht denken, daß ich es getan haben soll.« — »Es ist wohl im +Rausch geschehen.« — »Ich weiß nichts, ich kann mich an nichts erinnern. +Ich sehe es an meinen Kleidern, daß ich bei einer Rauferei war, und ich +weiß, daß die Messerklinge fort ist.« — »Ich verstehe, daß du es +verschweigen wolltest,« sagte der Vater. — »Ich dachte, die andern +waren gewiß ebenso sinnlos betrunken wie ich und können sich an nichts +erinnern. Es liegt vielleicht sonst kein Beweis gegen mich vor als das +Messer, und darum hab ich es fortgeworfen.« — »Ich kann mir denken,<span class='pagenum'><a name="Page_86" id="Page_86">[Pg 86]</a></span> +daß du dir die Sache so zurechtgelegt hast.« — »Ihr versteht, Vater: +ich weiß nicht, wer der Tote ist; ich hab ihn vielleicht nie im Leben +gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich es getan habe. Und da +sagte ich mir, ich brauchte doch nicht für etwas zu leiden, was ich +nicht mit Willen getan habe. Aber bald sah ich ein, daß es eine Tollheit +war, das Messer in den Sumpf zu werfen. Er trocknet doch im Sommer aus, +und da kann es ein jeder finden. Darum wollte ich es gestern Nacht und +heute Nacht suchen.« — »Hast du gar nicht daran gedacht, zu gestehen?« +— »Nein, gestern dachte ich nur, wie ich es geheimhalten könnte, und ich +versuchte zu tanzen und vergnügt zu sein, damit mir niemand etwas +anmerkte.« — »War es deine Absicht, vor den Traualtar zu treten, ohne +zu gestehen? Das ist eine große Verantwortung. Sahst du nicht ein, daß +du Hildur und ihre Familie mit in dein Elend ziehst, wenn man dich +entdeckt?« — »Ich dachte, daß ich sie am besten verschonte, wenn ich +nichts sagte.«</p> + +<p>Sie fuhren im Galopp den Weg entlang. Der Vater schien es jetzt sehr +eilig zu haben, ans Ziel zu kommen. Die ganze Zeit sprach er zu dem +Sohne. Er hatte ihm vorher in seinem ganzen Leben nicht so viele Worte +gesagt.</p> + +<p>»Ich wüßte gerne, wodurch du andrer Meinung geworden bist,« sagte er. — +»Weil Helga kam und mir Glück wünschte. Da brach etwas Hartes in mir. +Ich war so gerührt über sie. Ich war auch heute<span class='pagenum'><a name="Page_87" id="Page_87">[Pg 87]</a></span> morgen über Mutter und +über Euch gerührt, und ich wollte sprechen und sagen, daß ich eure Liebe +nicht verdiene, aber das Harte war damals noch in mir und leistete +Widerstand. Aber als Helga kam, da war es aus und geschehen. Ich meinte, +sie müßte mir eigentlich böse sein, weil ich doch schuld daran bin, daß +sie von daheim fort mußte.«</p> + +<p>»Nun, denke ich, wirst du mit mir einig sein, daß wir dies gleich den +Amtmann wissen lassen müssen,« sagte der Vater. — »Ja,« antwortete +Gudmund mit leiser Stimme. »Ja gewiß,« fügte er gleich darauf lauter und +fester hinzu, »ich will Hildur nicht in mein Unglück hineinziehen. Sie +würde es mir nie verzeihen.« — »Die Älvåkraleute halten ihre Ehre hoch, +sie wie andre,« sagte der Vater, »und das magst du wissen, Gudmund: als +ich heute morgen von daheim fortfuhr, da sagte ich mir, ich muß es dem +Amtmann erzählen, wie es um dich steht, wenn du dich nicht +entschließest, es selbst zu tun. Wie hätte ich schweigend zusehen und +Hildur einen heiraten lassen können, dem jede Stunde eine Anklage wegen +Mordes droht.«</p> + +<p>Er klatschte mit der Peitsche und fuhr in immer rasenderem Galopp. »Das +wird das Schwerste für dich sein,« sagte er. »Wir müssen es so +einrichten, daß es bald überstanden ist. Ich denke, der Amtmann und +seine Familie werden es recht von dir finden, daß du dich selbst +angibst, und sie werden freundlich gegen dich sein.«</p> + +<p>Gudmund antwortete nichts. Er sah immer ge<span class='pagenum'><a name="Page_88" id="Page_88">[Pg 88]</a></span>quälter aus, je mehr sie sich +Älvåkra näherten. Der Vater sprach weiter, um ihm Mut zu machen.</p> + +<p>»Ich habe einmal eine ähnliche Geschichte gehört,« sagte er. »Ein +Bräutigam hatte einen Kameraden auf der Jagd erschossen. Es war nicht +seine Absicht gewesen, und man hatte nicht entdeckt, daß er es war, der +den tödlichen Schuß abgefeuert hatte. Aber ein paar Tage später sollte +er heiraten; und als er in das Hochzeitshaus kam, da ging er zur Braut +und sagte: >Aus der Hochzeit kann nichts werden. Ich will dich nicht in +das Elend hineinziehen, das mich erwartet.< Aber sie stand schon fertig +geschmückt da, in Krone und Schleier, und sie nahm ihn bei der Hand und +führte ihn in den Saal, wo die Gäste versammelt waren und alles für die +Trauung bereit war. Und sie erzählte allen mit lauter Stimme, was ihr +der Bräutigam eben gesagt hatte. >Dies erzähle ich, damit alle wissen, +daß du nicht falsch gegen mich gewesen bist«, sagte sie dann und wendete +sich an den Bräutigam. >Aber jetzt will ich mich gleich mit dir trauen +lassen. Denn du bleibst der, der du bist, wenn du auch ins Unglück +gekommen bist; und was dich auch erwartet, das will ich gemeinsam mit +dir tragen.«</p> + +<p>Als der Vater mit seiner Erzählung zu Ende war, waren sie gerade bei der +langen Gasse angelangt, die nach Älvåkra führte. Gudmund sagte mit einem +wehmütigen Lächeln zu ihm: »So wird es uns nicht ergehen.« — »Wer +weiß,« antwortete der Vater und richtete sich im Wagen auf. Er sah den +Sohn an<span class='pagenum'><a name="Page_89" id="Page_89">[Pg 89]</a></span> und mußte wieder staunen, wie schön der an diesem Tage war. »Es +sollte mich nicht wundern, wenn ihm etwas Großes und Unerwartetes +widerführe,« dachte er.</p> + +<p>Es sollte eine Kirchenhochzeit sein, und eine Menge Leute hatten sich +schon bei den Brauteltern versammelt, um im Hochzeitszuge mitzufahren. +Auch viele Verwandte des Amtmanns waren von weit und breit gekommen. Sie +saßen in ihrem besten Staat auf dem Flur, bereit zur Fahrt in die +Kirche. Wagen und Kutschen standen im Hof, und man hörte, wie die Pferde +im Stalle stampften, während sie gestriegelt wurden. Der Dorfspielmann +saß allein auf der Treppe der Scheuer und stimmte die Fiedel. An einem +Fenster im oberen Stockwerk stand die Braut fertig angekleidet und hielt +Ausschau, um den Bräutigam zu sehen, bevor der sie erspäht hätte.</p> + +<p>Erland und Gudmund stiegen aus dem Wagen und sagten sogleich, daß sie +mit Hildur und ihren Eltern allein sprechen müßten. Bald standen sie +alle in einem kleinen Zimmer, wo der Amtmann sein Schreibpult hatte.</p> + +<p>»Ich denke, Herr Amtmann, Sie haben in den Zeitungen von jener +Schlägerei in der Stadt gelesen, bei der ein Mensch ermordet wurde, in +der Nacht vom Freitag auf Samstag,« sagte Gudmund so rasch, als leiere +er eine Lektion herunter. — »Ja freilich habe ich davon gelesen,« sagte +der Amtmann. — »Ich war nämlich in jener Nacht in der Stadt,« fuhr +Gudmund fort.<span class='pagenum'><a name="Page_90" id="Page_90">[Pg 90]</a></span></p> + +<p>Jetzt kam keine Antwort. — Es wurde totenstill. Gudmund war es, als ob +alle ihn mit einem solchen Entsetzen anstarrten, daß er nicht +weitersprechen konnte. Aber der Vater kam ihm zu Hilfe. — »Gudmund war +von ein paar Freunden eingeladen. — Er hat in jener Nacht wohl zu viel +getrunken, denn als er heimkam, wußte er gar nicht, was mit ihm +geschehen war. Aber man merkte es ihm an, daß er bei einer Rauferei +gewesen war, denn seine Kleider waren zerrissen.« Gudmund sah, wie das +Entsetzen, das die andern empfanden, mit jedem Worte zunahm, aber er +selbst wurde ruhiger. Ein Gefühl des Trotzes erwachte in ihm, und er +ergriff wieder das Wort: »Als nun am Samstag abend die Zeitung kam und +ich von der Schlägerei las und von der Messerklinge, die in der +Hirnschale des Mannes stecken geblieben war, da zog ich mein Messer +hervor und sah, daß eine Klinge fehlte.« — »Das sind schlimme +Neuigkeiten, die du da bringst, Gudmund,« sagte der Amtmann. »Es wäre +richtiger gewesen, wenn du uns das gestern gesagt hättest.« — Gudmund +schwieg, und da kam ihm der Vater wieder zu Hilfe. — »Es war nicht so +leicht für Gudmund. Die Versuchung, das Ganze zu verschweigen, war sehr +groß. Er verliert sehr viel durch dieses Geständnis.« — »Ja, wir müssen +noch froh sein, daß er jetzt gesprochen hat, so daß wir nicht in das +Elend hineingezogen werden,« sagte der Amtmann bitter.</p> + +<p>Gudmund hielt seine Augen die ganze Zeit auf Hildur gerichtet. Sie trug +Krone und Schleier; und<span class='pagenum'><a name="Page_91" id="Page_91">[Pg 91]</a></span> nun sah er, wie sie die Hand hob und eine der +großen Nadeln herauszog, die die Krone festhielten. Sie schien dies ganz +unbewußt getan zu haben. Als sie merkte, daß Gudmunds Blicke auf ihr +ruhten, steckte sie die Nadel wieder hinein.</p> + +<p>»Es ist ja noch gar nicht bewiesen, daß Gudmund der Schuldige ist,« +sagte der Vater, »aber ich begreife: Ihr wollt, daß die Hochzeit +aufgeschoben wird, bis wir alles aufgeklärt haben.« — »Es hat wohl +wenig Zweck, von Aufschub zu sprechen,« sagte der Amtmann. »Ich denke, +Gudmund ist seiner Sache recht sicher, und wir könnten uns wohl darüber +einigen, daß es zwischen ihm und Hildur ein für allemal aus ist.«</p> + +<p>Gudmund antwortete nicht gleich. Er ging zu seiner Braut hinüber und +streckte die Hand aus. Sie saß ganz regungslos da und schien ihn nicht +zu sehen. »Willst du mir nicht Lebewohl sagen, Hildur?« Jetzt sah sie +auf, und ihre großen Augen blitzten ihn kalt an. — »Hast du mit dieser +Hand das Messer geführt?« fragte sie. Gudmund antwortete ihr keine +Silbe, sondern wendete sich an den Amtmann. — »Ja, jetzt bin ich meiner +Sache sicher,« sagte er. »Es hat gar keinen Zweck, die Hochzeit +aufzuschieben.«</p> + +<p>Damit war die Unterredung beendet, und Gudmund und Erland gingen ihrer +Wege. Sie hatten durch mehrere Stuben und Kammern zu gehen, ehe sie +hinauskamen, und überall sahen sie Vorbereitungen zur Hochzeit. Die Tür +nach der Küche stand offen, und sie sahen, wie eine Menge Menschen in +eiliger Ge<span class='pagenum'><a name="Page_92" id="Page_92">[Pg 92]</a></span>schäftigkeit durcheinanderliefen. Der Duft von Braten und +Backwerk drang heraus, der ganze Herd war voll kleiner und großer Töpfe, +die Kupferkasserollen, die sonst die Wände schmückten, waren +heruntergenommen und im Gebrauch. »Ach, daß sie alle diese Zurüstungen +für meine Hochzeit machen!« dachte Gudmund, als er vorüberging.</p> + +<p>Er bekam Einblick in den ganzen Reichtum dieses alten Bauernhofes, wie +er so durch das Haus wanderte. Er sah den Eßsaal, wo große Tische mit +langen Reihen von Silberbechern und Kannen gedeckt waren. Er kam durch +die Kleiderkammer, wo auf dem Boden große Truhen standen und an den +Wänden Kleider in unendlicher Reihe hingen. Als er dann in den Hof +hinaustrat, sah er eine Menge alte und neue Wagen, prächtige Pferde +wurden aus dem Stall geführt und schöne Wagendecken in die Kutschen +gelegt. Er sah über ein paar Höfe, die von Scheunen, Ställen, Schuppen, +Vorratskammern und noch vielen andern Gebäuden umgeben waren. »Das alles +hätte mein sein können,« dachte er, als er sich in den Wagen setzte.</p> + +<p>Mit einem Male kam bittre Reue über ihn. Er wäre am liebsten aus dem +Wagen gesprungen und hineingelaufen, um ihnen zu sagen, es sei alles +nicht wahr, was er erzählt hätte. Er hätte ja nur mit ihnen spaßen und +sie erschrecken wollen. Es war doch unerhört töricht von ihm gewesen, zu +bekennen. Was nützte es, daß er gestanden hatte? Dadurch wurde die Sache +für keinen Menschen besser. Der Tote war ja tot.<span class='pagenum'><a name="Page_93" id="Page_93">[Pg 93]</a></span> Nein, dieses +Geständnis hatte nichts andres zur Folge, als daß auch er ins Verderben +gestürzt wurde.</p> + +<p>In den letzten Wochen hatte er diese Heirat nicht mehr so eifrig +gewünscht; aber jetzt, da er darauf verzichten mußte, fühlte er erst, +was sie wert war. Es bedeutete viel, Hildur Erikstochter und alles, was +an ihr hing, zu verlieren. Was hatte es zu sagen, daß sie eigenwillig +und selbstherrlich war! Sie war doch die erste von allen in der +Umgegend, und durch sie wäre er zu großer Macht und Ehre gekommen.</p> + +<p>Er trauerte jetzt nicht nur um Hildur und ihr Hab und Gut, sondern auch +um kleinere Dinge. In diesem Augenblick wäre er zur Kirche gefahren, und +alle, die ihn gesehen, hätten ihn beneidet. Und heute hätte er zu oberst +an der Hochzeitstafel gesessen. Heute wäre er mitten in Tanz und +Fröhlichkeit gewesen. Es war sein großer Glückstag, der ihm nun entging.</p> + +<p>Erland drehte den Kopf ein Mal ums andre dem Sohne zu und sah ihn an. Er +war jetzt nicht so schön und verklärt, wie er am Morgen gewesen war, +sondern saß stumpf und schwerfällig da mit erloschenem Blick. Der Vater +hätte wohl gerne gewußt, ob der Sohn sein Geständnis bereue, und er +wollte ihn danach fragen, hielt es aber doch für richtiger, zu +schweigen.</p> + +<p>»Wohin wollen wir jetzt fahren?« fragte Gudmund nach einer Weile. — +»Wäre es nicht das beste, gleich zu Gericht zu gehen?« — »Du mußt +zuerst nach Hause, damit du ruhen und dich ausschlafen kannst,« sagte +der Vater. »Du hast in den letzten<span class='pagenum'><a name="Page_94" id="Page_94">[Pg 94]</a></span> Nächten wohl nicht viel Schlaf +gefunden.« — »Mutter wird erschrecken, wenn sie uns sieht.« — »Sie +wird nicht so erstaunt sein,« sagte der Vater, »sie weiß ebenso viel wie +ich. Sie wird sich freuen, daß du gestanden hast.« — »Ich glaube, +Mutter und ihr alle miteinander daheim seid froh, mich ins Gefängnis zu +bringen,« sagte Gudmund bitter. — »Wir wissen, daß du viel verlierst, +weil du recht gehandelt hast,« sagte der Vater, »wir können nicht +anders: wir müssen uns freuen, daß du dich selbst überwunden hast.«</p> + +<p>Gudmund glaubte es nicht ertragen zu können, nach Hause zu fahren und +allen den Leuten zuzuhören, die ihn rühmen würden, weil er seine Zukunft +vernichtet hatte. Er suchte einen Vorwand, um niemand treffen zu müssen, +bevor er sich mehr Ruhe erkämpft hätte. Nun fuhren sie an der Stelle +vorüber, wo der Pfad zum Moorhof abbog. »Wollt Ihr hier halten, Vater? +Ich denke, ich gehe zu Helga hinauf und spreche mit ihr.« —</p> + +<p>Der Vater hielt bereitwillig das Pferd an. »Komm nur, sobald du kannst, +nach Hause, damit du dich ausruhst,« sagte er.</p> + +<p>Gudmund schlug den Weg in den Wald ein und war bald zwischen den Bäumen +verschwunden. Er dachte nicht daran, Helga aufzusuchen. Er war nur froh, +allein zu sein, so daß er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte. Er +fühlte eine unvernünftige Wut gegen alles, er stieß Steine fort, die ihm +im Wege lagen, und blieb zuweilen stehen, um einen großen<span class='pagenum'><a name="Page_95" id="Page_95">[Pg 95]</a></span> Ast +abzubrechen, nur weil ein Blatt sein Gesicht gestreift hatte. Er schlug +den Weg zum Moorhof ein, ging aber an der Hütte vorbei und kletterte den +Berg hinauf. Hier wurde es ihm bald schwer, weiter zu kommen. Er hatte +den Pfad verlassen; und um den nächsten Gipfel zu erreichen, mußte er +über ein breites Flußbett voll kantiger Felsblöcke gehen. Es war eine +gefährliche Wanderung über die scharfen Felskanten, und er konnte sich +Arme und Beine brechen, wenn er einen Fehltritt machte. Das wußte er +sehr wohl, aber er ging doch weiter, als mache es ihm Freude, sich einer +Gefahr auszusetzen. »Und wenn ich mich zuschanden falle, so findet mich +hier oben niemand,« dachte er. »Aber was tut das? Ich kann ebensogut +hier liegen und sterben wie jahrelang hinter Gefängnismauern sitzen.«</p> + +<p>Doch alles ging gut ab, und ein paar Minuten später stand er auf der +Höhe. Über den Berg war einmal ein Waldbrand hingegangen. Die oberste +Spitze war noch kahl, und von dort hatte man eine meilenweite Aussicht. +Er sah Täler und Seen, dunkle Wälder und fruchtbare Äcker, Kirchen und +Herrenhöfe, kleine Bauernhütten und große Dörfer. Weit in der Ferne lag +die Stadt, in einen weißen Schleier von Sonnenrauch gehüllt, aus dem ein +paar funkelnde Türme aufragten. Durch die Täler schlängelten sich Wege, +und ein Eisenbahnzug rollte am Waldessaume vorbei. Es war ein ganzes +Reich, was er da sah.</p> + +<p>Er warf sich zu Boden, hielt aber den Blick noch<span class='pagenum'><a name="Page_96" id="Page_96">[Pg 96]</a></span> immer auf die weite +Fernsicht geheftet. Es war etwas Stolzes und Großes in dieser Landschaft +vor ihm, und er empfand sich selbst und seine Sorgen als klein und +unbedeutend.</p> + +<p>Ihm kam eine Erinnerung aus seiner Kindheit. Wenn er damals gelesen +hatte, daß der Versucher Jesus auf einen hohen Berg geführt und ihm alle +Herrlichkeit der Welt gezeigt hätte, so war er immer der Meinung +gewesen, die beiden müßten hier oben auf dem Gipfel gestanden haben ... +Und er sprach die alten Worte vor sich hin: Dies alles will ich dir +geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.</p> + +<p>Da kam es ihm plötzlich vor, als sei ihm selbst in diesen letzten Tagen +eine solche Versuchung entgegengetreten. Wahrlich, hatte ihn nicht der +Versucher auf einen hohen Berg geführt und ihm alle Herrlichkeit der +Macht und des Reichtums gezeigt? »Verschweige nur das Böse, das du getan +hast,« sagte er, »und ich will dir dies alles geben.« Wie Gudmund daran +dachte, kam ein klein wenig Befriedigung über ihn. »Ich habe ja nein +geantwortet,« sagte er; und plötzlich begriff er, worum es sich für ihn +gehandelt hatte. Wenn er geschwiegen hätte, wäre er dann nicht all sein +Lebtag verurteilt gewesen, den Versucher anzubeten? Ein scheuer, +mutloser Mann wäre er geworden, ein Sklave von Hab und Gut. Die Furcht +vor der Entdeckung hätte stets auf ihm gelastet. Nie mehr hätte er sich +als ein freier Mann fühlen können.<span class='pagenum'><a name="Page_97" id="Page_97">[Pg 97]</a></span></p> + +<p>Eine große Ruhe kam über Gudmund. Er wurde ganz glücklich, weil er +einsah, daß er recht gehandelt hatte. Wenn er an die vergangenen Tage +zurückdachte, schien es ihm, daß er in einer großen Dunkelheit getappt +hätte. Es war wunderbar, daß er sich zuletzt doch zurechtgefunden hatte. +Er fragte sich selbst, wie es zugegangen sei, daß er nicht in die Irre +gegangen war. »Ich danke es dem, daß sie daheim alle so gut gegen mich +waren,« dachte er, »und die beste Hilfe war doch, daß Helga kam und mir +Glück wünschte.«</p> + +<p>Er blieb noch eine Weile oben auf dem Gipfel liegen, aber bald sagte er +sich, er müsse zu Vater und Mutter heimgehen und ihnen sagen, daß er den +Frieden mit sich selbst gefunden hätte. Als er nun aufstand, um zu +gehen, bemerkte er, daß ein Stück weiter unten Helga auf einem +Felsenvorsprung saß.</p> + +<p>Sie hatte dort nicht die große weite Aussicht — nur ein kleines +Stückchen des Tales war für sie sichtbar. Es war die Gegend, wo Närlunda +lag, und sie sah vermutlich ein Stück des Hofes. Als Gudmund sie +erblickte, fühlte er, wie sein Herz, das den ganzen Tag mühsam und +ängstlich gearbeitet hatte, leicht und fröhlich zu klopfen begann, und +zu gleicher Zeit durchzuckte ihn ein so starkes Glücksgefühl, daß er +stehen blieb und über sich selbst staunte.</p> + +<p>»Was ist mir denn? Was ist das? Was ist das?« dachte er, während das +Blut durch seinen Körper strömte und das Glück ihn mit solcher Macht +packte, daß er es beinahe schmerzhaft empfand. Endlich sagte<span class='pagenum'><a name="Page_98" id="Page_98">[Pg 98]</a></span> er mit +erstaunter Stimme zu sich selbst: »Aber ich hab ja sie lieb! Nein, daß +ich das bisher gar nicht wußte!«</p> + +<p>Es packte ihn mit der Stärke eines befreiten Wasserfalls. Er war die +ganze Zeit, solange er sie kannte, gebunden gewesen. Alles, was ihn zu +ihr hinzog, hatte er zurückgedrängt. Jetzt erst war er frei von dem +Gedanken, eine andre zu heiraten, hatte er die Freiheit, sie zu lieben.</p> + +<p>»Helga!« rief er und begann zugleich den Abhang zu ihr +hinunterzuklettern. Sie wendete sich mit einem erschrockenen Aufschrei +um. »Hab keine Angst! Ich bin es nur.« — »Aber bist du denn nicht in +der Kirche und wirst getraut?« — »Ach nein, aus der Hochzeit wird +nichts. Sie will mich nicht haben, Helga.«</p> + +<p>Helga richtete sich auf. Sie preßte die Hand aufs Herz und schloß die +Augen. Sie dachte in diesem Augenblick wohl, daß es nicht Gudmund sei, +der da kam. Ihre Augen und Ohren müßten hier im Walde verhext worden +sein. Aber schön und herrlich war es doch, daß er sich zeigte, wenn auch +nur als Traumerscheinung; und sie schloß die Augen und blieb regungslos +stehen, um das Trugbild noch ein paar Augenblicke festzuhalten.</p> + +<p>Aber Gudmund war wild und toll von der großen Liebe, die in ihm +aufgelodert war. Sobald er zu Helga heruntergekommen war, schlang er die +Arme um sie und küßte sie, und sie ließ es geschehen; denn sie war ganz +betäubt und benommen vor Überraschung. Es war ja zu wunderbar, daß er, +der gerade jetzt in der<span class='pagenum'><a name="Page_99" id="Page_99">[Pg 99]</a></span> Kirche stehen sollte, zur Seite seiner Braut, +wirklich hierher in den Wald gekommen war. Dieser Geist oder +Doppelgänger von ihm, der zu ihr gekommen war, mochte sie immerhin +küssen.</p> + +<p>Aber in dem Augenblick, da Gudmund Helga küßte, wachte sie auf und stieß +ihn von sich. Und nun begann sie ihn mit Fragen zu überschütten. Ob er +es wirklich selbst sei? Was er im Walde zu tun hätte? Ob ein Unglück +geschehen? Warum man die Hochzeit aufgeschoben hätte? Ob Hildur krank +sei? Ob den Pfarrer in der Kirche der Schlag gerührt hätte?</p> + +<p>Gudmund wollte mit ihr von nichts anderm auf der Welt sprechen als von +seiner Liebe; aber sie zwang ihn, zu erzählen, wie alles zugegangen war. +Während er sprach, saß sie still da und hörte mit tiefer Andacht zu.</p> + +<p>Sie unterbrach ihn nicht, bis er von der abgebrochnen Klinge erzählte. +Da fuhr sie auf und fragte, ob es sein gewöhnliches Messer sei, das er +gehabt hätte, als sie noch auf Närlunda diente.</p> + +<p>»Ja, gerade das war es,« sagte er. — »Wieviel Klingen waren denn +abgebrochen?« fragte sie. — »Nicht mehr als eine.«</p> + +<p>In Helgas Kopf begann es zu arbeiten. Sie saß mit gerunzelter Stirn da +und suchte sich an etwas zu erinnern. Wie war es doch? Ja gewiß. Sie +entsann sich deutlich, daß sie sich dieses Messer an dem Tage, bevor sie +fortging, von ihm ausgeliehen hatte, um Holz zu spalten; dabei hatte sie +es zerbrochen, aber sie war nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen.<span class='pagenum'><a name="Page_100" id="Page_100">[Pg 100]</a></span> Er +war ihr damals immer ausgewichen und hatte nicht mit ihr sprechen +wollen. Und nun hatte er das Messer wohl seitdem in der Tasche gehabt +und gar nicht bemerkt, daß es zerbrochen war.</p> + +<p>Sie hob den Kopf und wollte ihm dies eben sagen; doch er erzählte weiter +von seinem Besuch heute morgen im Hochzeitshaus, und sie wollte ihn zu +Ende kommen lassen. Als sie hörte, wie er von Hildur geschieden war, +erschien ihr dies als ein so furchtbares Unglück, daß sie ihn mit +Vorwürfen überhäufte. »Das ist deine eigne Schuld,« sagte sie. »Da kommt +ihr, du und dein Vater, angefahren und erschreckt sie zu Tode mit der +furchtbaren Botschaft. So hätte sie nicht geantwortet, wenn sie bei +Sinnen gewesen wäre. Ich will dir eines sagen: ich glaube, sie bereut es +schon in diesem Augenblick.« — »Meinethalben mag sie bereuen, soviel +sie will,« sagte Gudmund. »Ich weiß jetzt, daß sie eine ist, die immer +nur an sich selbst denkt. Ich bin froh, daß ich sie los bin.«</p> + +<p>Helga preßte die Lippen aufeinander, damit ihr das große Geheimnis nicht +entschlüpfe. Sie hatte viel zu denken. Es handelte sich nicht nur darum, +Gudmund von dem Morde reinzuwaschen. Es herrschte ja auch Feindschaft +zwischen Gudmund und seiner Braut. Könnte sie nicht versuchen, die +beiden mit Hilfe dessen, was sie wußte, zu versöhnen?</p> + +<p>Wieder saß sie stumm da und grübelte, bis Gudmund davon zu sprechen +begann, daß er seinen Sinn jetzt ihr zugewandt hätte.<span class='pagenum'><a name="Page_101" id="Page_101">[Pg 101]</a></span></p> + +<p>Aber das erschien ihr als das größte Unglück, das ihm an diesem Tage +widerfahren war. Schlimm war es schon, daß die vorteilhafte Heirat zu +scheitern drohte, noch schlimmer aber, daß er um eine wie sie werben +wollte. »Nein, so etwas darfst du mir nicht sagen,« rief sie und sprang +plötzlich auf. — »Warum soll ich es dir nicht sagen?« fragte Gudmund und +erblaßte. »Ist es mit dir vielleicht gerade so wie mit Hildur? Hast du +Angst vor mir?« — »Nein, nicht deshalb.« Sie wollte ihm erklären, daß +er in sein eigenes Verderben renne, aber er hörte ihr gar nicht zu. — +»Ich habe gehört, daß es früher einmal Frauen gab, die den Männern zur +Seite standen, wenn sie in Not kamen; aber heute trifft man solche +Frauen nicht mehr.« Helga erzitterte. Sie hätte die Arme um seinen Hals +schlingen wollen, aber sie verhielt sich still. Heute mußte sie +vernünftig sein. — »Es ist ja wahr, ich hätte dich nicht an demselben +Tage, wo ich ins Gefängnis soll, bitten dürfen, mein Weib zu werden. +Aber der Gedanke, daß du auf mich warten würdest, bis ich wieder frei +wäre, hätte mich all das Schwere mit leichtem Mut erdulden lassen.« +— »Ich bin es nicht, die auf dich warten soll, Gudmund.« — »Alle +Menschen werden mich jetzt als einen Missetäter betrachten, als einen, +der sich besäuft und mordet. Ach wenn es nur eine gäbe, die mich mit +Liebe ansehen könnte! Das würde mich besser aufrechterhalten als alles +andre.« — »Du weißt, daß ich nie etwas andres als Gutes von dir denken +werde, Gudmund.«<span class='pagenum'><a name="Page_102" id="Page_102">[Pg 102]</a></span></p> + +<p>Helga war sehr still. Gudmunds Bitten wurden fast zu viel für sie. Sie +wußte gar nicht, wie sie ihm entkommen sollte. Aber Gudmund verstand +nichts, sondern begann zu glauben, daß er sich geirrt habe. Sie könnte +nicht dasselbe für ihn empfinden wie er für sie. Er kam ganz dicht an +sie heran und sah sie an, als wollte er mitten durch sie hindurchsehen. +»Sitzest du nicht gerade auf diesem Felsen hier, um nach Närlunda +hinunterzusehen?« — »Ja, das tu ich.« — »Sehnst du dich nicht Tag und +Nacht hin?« — »Ja. Aber ich sehne mich nicht nach einem Menschen.« +— »Und mich magst du gar nicht?« — »O ja, aber ich will dich nicht +heiraten.« — »Wen hast du denn gern?« — Helga schwieg. — »Per +Martensson?« — »Ja, ihm hab ich gesagt, daß ich ihn gern habe,« sagte +sie und war ganz zermartert.</p> + +<p>Gudmund blieb ein Weilchen stehen und sah sie mit ergrimmtem Gesicht an. +»Dann also lebewohl! Jetzt gehen wir getrennte Wege, du und ich,« sagte +er, und damit machte er einen gewaltigen Sprung von dem Stein zum +nächsten Felsabsatz und verschwand unter den Bäumen.</p> + + +<h3>6</h3> + +<p>Kaum war Gudmund verschwunden, als Helga auf einem andern Wege den Berg +hinuntereilte. Sie lief am Moorhof vorbei, ohne stehen zu bleiben und +eilte dann, so rasch sie konnte, über die Waldhügel hinunter auf den +Weg. Im ersten Bauernhof, den<span class='pagenum'><a name="Page_103" id="Page_103">[Pg 103]</a></span> sie erreichte, bat sie die Inwohner, ihr +Pferd und Fuhrwerk zu leihen, damit sie nach Älvåkra fahren könnte. Sie +sagte, es gälte das Leben, daß sie hinkäme, und versprach, dafür zu +zahlen. Die Dorfleute waren schon heimgekommen und hatten von der +unterbliebenen Hochzeit erzählt. Alle waren sehr bewegt und mitleidig, +und man wollte Helga die Hilfe nicht verweigern, da sie eine wichtige +Botschaft für die Leute auf Älvåkra zu haben schien.</p> + +<p>In Älvåkra saß Hildur Erikstochter in einer kleinen Kammer im oberen +Stockwerk, wo sie ihr Brautkleid abgelegt hatte. Die Mutter und ein paar +andre Bäuerinnen waren um sie. Hildur weinte nicht, aber sie war +ungewöhnlich still und blaß; es sah aus, als würde sie jeden Augenblick +krank hinsinken. Die Frauen sprachen die ganze Zeit von Gudmund. Alle +tadelten ihn und schienen es als ein Glück für Hildur anzusehen, daß sie +von ihm befreit war. Einige meinten, Gudmund habe wenig Rücksicht auf +die Schwiegereltern gezeigt. Er hätte ihnen schon am Pfingsttage sagen +müssen, wie es um ihn stand. Andre sagten, wem ein so großes Glück +bevorstünde, der müßte besser auf sich achten. Und einige +beglückwünschten Hildur, daß sie dem Schicksal entging, einen zu +heiraten, der sich so sinnlos betrinken konnte, daß er nicht mehr wußte, +was er tat.</p> + +<p>Mitten unter diesen Reden schien Hildur ungeduldig zu werden; sie stand +auf, um das Zimmer zu verlassen. Sowie sie zur Tür hinaus war, kam<span class='pagenum'><a name="Page_104" id="Page_104">[Pg 104]</a></span> ihre +beste Freundin, ein junges Bauernmädchen, und flüsterte ihr zu: »Unten +ist jemand, der mit dir sprechen will.« — »Ist es Gudmund?« fragte +Hildur, und ein Strahl des Lebens leuchtete in ihren Augen auf. — »Nein, +aber, ich glaube, eine Botschaft von ihm. Sie will, was sie auszurichten +hat, keinem als nur dir selbst sagen.« Nun hatte Hildur den ganzen Tag +dagesessen und gedacht, daß jemand kommen müsse, der diesem Elend ein +Ende machte. Sie konnte es gar nicht begreifen, daß ein so schreckliches +Unglück sie treffen sollte. Sie meinte, es müsse etwas geschehen, das es +ihr möglich machte, Krone und Kranz wieder aufzusetzen, mit dem +Hochzeitszug zur Kirche zu fahren und getraut zu werden. Als sie nun von +einer Botschaft Gudmunds hörte, wurde sie ganz eifrig und lief eilends +zu Helga hinaus, die vor der Küchentür stand und auf sie wartete.</p> + +<p>Hildur wunderte sich wohl, daß Gudmund Helga zu ihr schickte, aber sie +dachte, er hätte vielleicht heute am Feiertag keine andre Botin +gefunden, und begrüßte sie freundlich.</p> + +<p>Sie winkte Helga, ihr in die Milchkammer zu folgen, die drüben auf der +andern Längsseite des Hofes lag. »Ich weiß keinen andern Ort, wo wir +allein sprechen können,« sagte sie. »Wir haben noch das ganze Haus voll +Leute.«</p> + +<p>Sobald sie drinnen waren, trat Helga dicht an Hildur heran und sah ihr +ins Gesicht. »Bevor ich etwas sage, muß ich erst wissen, ob du Gudmund +lieb<span class='pagenum'><a name="Page_105" id="Page_105">[Pg 105]</a></span> hast, Hildur.« Hildur zuckte vor Empörung zusammen. Es war ihr +eine Qual, mit Helga auch nur ein einziges Wort wechseln zu müssen, und +sie hatte wahrlich keine Lust, sie zu ihrer Vertrauten zu machen. Aber +nun war die Not am höchsten, und so zwang sie sich, zu antworten: +»Warum, glaubst du, hätte ich ihn sonst heiraten wollen?« — »Ich meine, +ob du ihn noch lieb hast, Hildur?« — Hildur wurde wie zu Stein, aber +unter dem forschenden Blick der andern konnte sie nicht lügen. — +»Vielleicht habe ich ihn noch nie so lieb gehabt wie heute,« sagte sie, +jedoch so leise, daß man glauben konnte, es täte ihr weh, die Worte +auszusprechen.</p> + +<p>»Dann komm gleich mit mir,« sagte Helga. »Ich habe drunten auf der +Straße einen Wagen stehen. Du brauchst dich nur fertig zu machen, dann +können wir gleich nach Närlunda fahren.« — »Wozu soll es gut sein, daß +ich hinfahre?« fragte Hildur. — »Du mußt hinfahren und sagen, daß du +Gudmund angehören willst, Hildur, was er auch getan haben mag, und daß +du treu auf ihn warten wirst, während er im Gefängnis sitzt.« — »Warum +soll ich das sagen?« — »Damit alles zwischen euch wieder gut wird.« +— »Aber das ist ja unmöglich. Ich will doch keinen heiraten, der im +Gefängnis gesessen hat.«</p> + +<p>Helga prallte ein paar Schritte zurück, so als wäre sie an eine Mauer +gestoßen. Aber sie faßte rasch wieder Mut. Sie konnte ja begreifen, daß, +wer mächtig und reich war wie Hildur, so denken mußte.<span class='pagenum'><a name="Page_106" id="Page_106">[Pg 106]</a></span> »Ich wäre nicht +hierher gekommen und hätte dich nicht gebeten, nach Närlunda zu fahren, +wenn ich nicht wüßte, daß Gudmund unschuldig ist,« sagte sie. Jetzt war +es Hildur, die einen Schritt von Helga forttrat. — »Weißt du das, oder +ist es nur etwas, was du glaubst?« — »Es wäre besser, wenn wir uns +gleich in den Wagen setzten, dann könnte ich es dir unterwegs erzählen, +Hildur.« — »Nein, erst mußt du mir alles sagen. Ich muß wissen, was ich +tue.« Helga war so voll brennenden Eifers, daß sie kaum stillstehen +konnte, aber sie mußte sich doch bequemen, Hildur zu erzählen, woher sie +wüßte, daß nicht Gudmund der Täter sei. »Hast du das Gudmund nicht +gleich gesagt?« — »Nein, ich sage es jetzt dir, Hildur. Kein andrer +weiß es.« — »Und warum kommst du mit dieser Nachricht zu mir?« — +»Damit es zwischen euch wieder gut werde. Auch er wird wohl bald +erfahren, daß er nichts Böses getan hat, aber ich will, daß du wie von +selbst zu ihm kommst, Hildur, und es gut machst.« — »Ich soll nicht +sagen, daß ich von seiner Schuldlosigkeit weiß?« — »Du sollst ganz von +selbst kommen, Hildur, und ihm nie verraten, daß ich mit dir gesprochen +habe. Sonst verzeiht er dir nie, was du ihm heute morgen gesagt hast.«</p> + +<p>Hildur hörte schweigend zu. Es lag etwas in diesen Worten, was ihr noch +nie im Leben begegnet war, und sie war bemüht, es sich klarzumachen. +»Weißt du, daß ich es war, die verlangte, daß du aus Närlunda +fortkommst?« — »Ich weiß wohl, daß es<span class='pagenum'><a name="Page_107" id="Page_107">[Pg 107]</a></span> nicht die Leute auf Närlunda +waren, die mich forthaben wollten.« — »Ich kann gar nicht verstehen, +daß du heute zu mir kommst und mir helfen willst.« — »Wenn du jetzt nur +mitkommst, Hildur, so kann alles gut werden!« Aber Hildur sah Helga an, +noch immer in dieselben Grübeleien versunken. — »Vielleicht hat Gudmund +dich lieb,« warf sie hin. Aber nun riß Helga die Geduld. — »Was hätte +er denn an mir!« sagte sie heftig, »du weißt doch, Hildur, daß ich +nichts andres bin als eine arme Häuslerdirne, und das ist noch nicht +einmal das Allerschlimmste.«</p> + +<p>Die beiden jungen Mädchen schlichen sich unbemerkt aus dem Haus und +saßen bald im Wagen. Helga kutschierte, und sie schonte das Pferd nicht, +sondern ließ es rasch traben. Sie waren beide stumm. Hildur saß da und +sah Helga an. Es war, als könnte sie sich nicht genug über sie wundern, +und als dächte sie mehr an sie als an irgend etwas andres.</p> + +<p>Als sie in die Nähe des Hofes kamen, übergab Helga Hildur die Zügel. +<ins title="Jetzt sollst ... geholt habe">»Jetzt sollst du allein hinfahren, Hildur, und mit Gudmund sprechen. Ich +komme in einer Weile nach und erzähle die Geschichte mit dem Messer. +Aber du darfst Gudmund kein Wort davon sagen, Hildur, daß ich dich +geholt habe.«</ins></p> + +<p>Gudmund saß in der Wohnstube auf Närlunda neben Mutter Ingeborg und +sprach mit ihr. Der Vater saß etwas abseits und rauchte. Er sah +zufrieden aus und sagte kein Wort. Man merkte, er<span class='pagenum'><a name="Page_108" id="Page_108">[Pg 108]</a></span> war der Meinung, +jetzt gehe alles, wie es sollte, so daß er nicht einzugreifen brauchte.</p> + +<p>»Ich wüßte wohl gerne, Mutter, was Ihr gesagt haben würdet, wenn Ihr +Helga als Schwiegertochter bekommen hättet,« sagte Gudmund. Mutter +Ingeborg hob den Kopf und antwortete mit fester Stimme: »Ich werde jede +Schwiegertochter mit Freuden aufnehmen, wenn ich nur weiß, daß sie dich +so lieb hat, wie eine Frau ihren Mann lieb haben soll.«</p> + +<p>Kaum war dies gesagt, als sie Hildur Erikstochter in den Hof einfahren +sahen. Sie kam gleich darauf ins Haus und war ganz anders als sonst. Sie +trat nicht in ihrer gewohnten zuversichtlichen Art in das Zimmer, +sondern es sah fast aus, als wolle sie unten an der Tür stehen bleiben +wie ein armes Bettelmädchen.</p> + +<p>Sie kam jedoch heran und gab Mutter Ingeborg und Erland die Hand. Dann +wendete sie sich an Gudmund. »Mit dir will ich ein paar Worte sprechen.« +Gudmund stand auf, und sie gingen in die Kammer. Er stellte Hildur einen +Stuhl hin, aber sie setzte sich nicht. Sie war ganz rot vor +Verlegenheit, und die Worte kamen langsam und scheu über ihre Lippen: +»Ich war wohl — — ja, es war vielleicht zu hart, was ich heute morgen +sagte.« — »Ach, wir haben dich damit so plötzlich überfallen,« sagte +Gudmund. Sie wurde noch röter und beschämter. »Ich hätte es mir besser +überlegen sollen. Wir könnten — es sollte doch — — « — »Es ist schon +am besten, wie es ist,<span class='pagenum'><a name="Page_109" id="Page_109">[Pg 109]</a></span> Hildur. Darüber ist nichts mehr zu reden; aber +es ist schön, daß du gekommen bist.«</p> + +<p>Sie schlug die Hände vors Gesicht, holte sehr tief Atem, daß es klang +wie ein Schluchzen, hob dann aber den Kopf wieder. »Nein,« sagte sie. +»Es geht nicht. Ich will nicht, daß du mich für besser hältst, als ich +bin. Jemand kam zu mir und sagte, daß du unschuldig bist, und riet mir, +hierher zu eilen und alles wieder gutzumachen. Und ich sollte nicht +sagen, daß ich schon weiß, daß du unschuldig bist. Denn dann würdest du +nicht so viel daran finden, daß ich komme. Jetzt sage ich dir: ich +wünschte, ich wäre selbst auf den Gedanken gekommen. Doch so war es +nicht. Aber ich habe mich den ganzen Tag nach dir gesehnt und gewünscht, +daß es wieder gut zwischen uns werden könnte. Und wie es auch kommen +mag: eins will ich dir sagen, ich freue mich, daß du unschuldig bist.«</p> + +<p>»Wer hat dir denn diesen Rat gegeben, Hildur?« fragte Gudmund. — »Das +darf ich nicht sagen.« — »Ich wundere mich, daß es jemand weiß. Vater +kommt eben jetzt vom Bürgermeister. Er hat in die Stadt telegraphiert. +Und es ist die Antwort gekommen, daß der wahre Täter schon gefunden +ist.«</p> + +<p>Als Gudmund dies sagte, fühlte Hildur, wie die Beine unter ihr +zitterten, und sie setzte sich rasch nieder. Es wurde ihr ganz angst, +weil Gudmund so ruhig und freundlich war, und sie begann zu verstehen, +daß er ganz außerhalb ihrer Macht war. »Ich sehe schon, du kannst es +nicht vergessen, Gudmund, wie ich heute<span class='pagenum'><a name="Page_110" id="Page_110">[Pg 110]</a></span> vormittag gewesen bin.« — »O +doch, das kann ich dir schon verzeihen, Hildur,« sagte er in demselben +ruhigen Ton. »Davon wollen wir nie mehr sprechen.«</p> + +<p>Sie erzitterte, schlug die Augen nieder und saß da, als wartete sie auf +etwas. »Es ist nur ein großes Glück, Hildur,« sagte er und kam heran und +ergriff ihre Hand, »daß es zwischen uns aus ist. Denn heute ist es mir +klar geworden, daß ich eine andre lieb habe. Ich glaube, ich hatte sie +schon lange lieb, aber ich weiß es erst seit heute.« — »Wer ist die, +die du lieb hast, Gudmund,« kam es tonlos von Hildurs Lippen. — »Das +kommt ja auf eins heraus. Ich werde sie nicht heiraten, denn sie hat +mich nicht lieb. Aber eine andre kann ich nicht nehmen.«</p> + +<p>Hildur hob den Kopf. Es war nicht leicht, zu sagen, was in ihr vorging. +Aber sie fühlte in diesem Augenblick, daß sie, die Großbauerntochter, +mit all ihrem Reiz und allem ihrem Hab und Gut nichts für Gudmund +bedeutete. Und sie war stolz und wollte nicht von ihm scheiden, ohne ihm +zu zeigen, daß sie ihren Wert in sich hatte, abgesehen von allem +Äußerlichen.</p> + +<p>»Ich will, Gudmund, daß du mir sagst, ob es Helga vom Moorhof ist, die +du gern hast.«</p> + +<p>Gudmund stand schweigend da. »Denn wenn es Helga ist, dann weiß ich, daß +sie dich lieb hat. Sie kam zu mir und lehrte mich, was ich tun sollte, +damit es zwischen uns wieder gut würde. Sie wußte, daß du unschuldig +bist, aber sie sagte es nicht dir, sondern<span class='pagenum'><a name="Page_111" id="Page_111">[Pg 111]</a></span> ließ es mich zuerst wissen.« +— Gudmund sah ihr fest in die <ins title="Augen«">Augen</ins>. »Findest du darin ein Zeichen, daß +sie eine große Liebe für mich hat?« — »Dessen kannst du sicher sein, +Gudmund. Das kann ich bezeugen. Niemand in der Welt kann dich lieber +haben als sie.« Er ging hastig durch das Zimmer. Dann blieb er vor +Hildur stehen. »Aber du? Warum sagst du mir das?« — »Ich will Helga an +Edelmut nicht nachstehen.« — »Ach, Hildur, Hildur!« sagte er, legte die +Hand auf die Schultern und schüttelte sie, um seiner Rührung Luft zu +machen. »Du weißt nicht, nein, du weißt nicht, wie gut ich dir in diesem +Augenblick bin. Du weißt nicht, wie glücklich du mich gemacht hast — — —«</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Helga saß am Wegrand und wartete. Sie saß da, das Kinn in die Hand +gestützt und sah zu Boden. Sie sah Gudmund und Hildur vor sich und +dachte, wie glücklich sie jetzt sein müßten.</p> + +<p>Während sie so dasaß, kam ein Knecht aus Närlunda vorüber. Als er sie +sah, blieb er stehen. »Du hast doch von Gudmund gehört, Helga?« — Ja, +das hatte sie. — »Die ganze Geschichte ist ja gar nicht wahr. Der +richtige Täter ist schon verhaftet.« — »Ich wußte, daß es nicht wahr +sein konnte,« sagte Helga.</p> + +<p>Dann ging der Mann, aber Helga blieb am Wegrand sitzen wie zuvor. Ja so, +drüben wußten sie es schon. Sie brauchte gar nicht nach Närlunda zu +gehen, um es zu erzählen.<span class='pagenum'><a name="Page_112" id="Page_112">[Pg 112]</a></span></p> + +<p>Sie fühlte sich so wunderlich ausgeschlossen. Vorhin erst war sie so +eifrig gewesen. Sie hatte gar nicht an sich selbst gedacht, nur daran, +daß Gudmunds und Hildurs Hochzeit zustande kommen müsse. Aber jetzt erst +stand es ihr vor Augen, wie einsam sie war. Und es war schwer, für die, +die man lieb hatte, nichts sein zu dürfen. Jetzt brauchte Gudmund sie +nicht, und ihr eigenes Kind hatte ihre Mutter zu dem ihren gemacht. Sie +gönnte ihr kaum, daß sie es ansah.</p> + +<p>Sie dachte daran, daß sie aufstehen und nach Hause gehen müsse. Aber die +Hügel erschienen ihr so steil und schwer zu ersteigen. Sie wußte gar +nicht, wie sie hinaufkommen solle.</p> + +<p>Da kam ein Wagen aus Närlunda. Hildur und Gudmund saßen darin. Jetzt +führen sie wohl nach Älvåkra, um zu sagen, daß sie sich ausgesöhnt +hätten. Und morgen fände dann die Hochzeit statt.</p> + +<p>Als sie Helga erblickten, hielten sie an. Gudmund gab Hildur die Zügel +und sprang heraus. Hildur nickte Helga zu und fuhr weiter.</p> + +<p>Gudmund blieb auf dem Wege vor Helga stehen. »Ich bin froh, daß du hier +sitzest, Helga,« sagte er. »Ich glaubte, ich müßte nach dem Moorhof +hinaufgehen, um dich zu treffen.«</p> + +<p>Er sagte dies heftig, beinahe hart, und dabei hielt er ihre Hand fest +umklammert, und sie sah es seinen Augen an, daß er jetzt wußte, wie es +um sie stand. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entfliehen.<span class='pagenum'><a name="Page_113" id="Page_113">[Pg 113]</a></span></p> + + +<h2><a name="Gottesfriede" id="Gottesfriede"></a>Gottesfriede</h2> + +<p>Es war einmal ein alter Bauernhof, und es war ein Weihnachtsabend mit +grauem Himmel, wie vor einem großen Schneefall, und mit scharfem +Nordwind. Am Nachmittag war es, gerade um die Zeit, wo alle Leute es +eilig hatten, ihre Arbeit zu Ende zu bringen, damit sie dann in der +Badehütte baden konnten. Dort drinnen feuerte man so heftig ein, daß die +Flammen zum Schornstein hinausschlugen und eine Menge Funken und +Rußflocken mit dem Winde flogen und auf die schneebedeckten +Schindeldächer niederfielen.</p> + +<p>Wie die Flamme so aus dem Schornstein der Badehütte aufstieg und sich +gleich einer Feuersäule über den Bauernhof erhob, begannen alle zu +spüren, daß Weihnachten vor der Tür stand. Die Magd, die im Hausflur lag +und scheuerte, fing leise zu singen an obgleich das Scheuerwasser in dem +Kübel neben ihr zu Eis gefror, die Knechte, die im Schuppen standen und +das Weihnachtsholz hackten, begannen zwei Scheite auf einmal zu spalten +und schwangen die Axt so lustig, als wäre die Arbeit nur ein Spiel.</p> + +<p>Aus dem Speicher kam eine alte Frau mit einem<span class='pagenum'><a name="Page_114" id="Page_114">[Pg 114]</a></span> großen Haufen runder +Bierwürzenbrote auf dem Arm. Sie ging langsam über den Hof in das große +rotgestrichne Wohnhaus und trat vorsichtig in die Wohnstube, wo sie die +Brote auf die lange Bank niederlegte. Dann breitete sie ein Tuch auf den +Tisch und legte das Brot in Häufchen, in jedes ein großes und ein +kleines. Sie war eine seltsam häßliche alte Frau, mit rötlichem Haar, +schweren, schlaffen Augenlidern und einem eignen so strammen Zug um Mund +und Kinn, als wären die Halssehnen zu kurz. Aber nun am Weihnachtsabend +war eine solche Freude und ein solcher Friede über ihr, daß man gar +nicht sehen konnte, wie häßlich sie war.</p> + +<p>Einen Menschen aber gab es auf dem Hof, der nicht vergnügt war, und das +war das Mädchen, welches die Birkenruten band, die beim Baden benützt +werden sollten. Sie saß am Herd, einen ganzen Arm voll feiner +Birkenreiser vor sich auf dem Boden, und band; doch hatte sie keine +haltbaren Gerten, um die Zweige zusammenzubinden. Die Wohnstube hatte +ein breites, niedriges Fenster mit kleinen Scheiben, und durch diese +fiel der Schein aus der Badehütte ins Zimmer, spielte auf dem Fußboden +und vergoldete das Birkenreisig. Aber je lustiger das Feuer brannte, +desto unglücklicher wurde das Mädchen. Sie wußte, daß die Rutenbüschel +auseinanderfallen müßten, sobald man sie nur anrührte, und daß sie darum +Spott und Schmach erleiden würde, zum mindesten so lange, bis ein neues +Weihnachtsfeuer in diesem Schornstein flammte.<span class='pagenum'><a name="Page_115" id="Page_115">[Pg 115]</a></span></p> + +<p>Wie sie so dasaß und sich unglücklich fühlte, trat der Mann in die +Stube, vor dem sie die allergrößte Angst hatte. Es war der Hausvater +Ingmar Ingmarson in eigner Person. Sicherlich war er in der Badehütte +gewesen, um sich zu vergewissern, daß der Ofen heiß genug würde; und nun +wollte er sehen, wie es mit den Rutenbüscheln stünde. Er war alt, Ingmar +Ingmarson, und er hielt auf alles, was alt war. Und gerade weil die +Leute es jetzt aufzugeben begannen, in der Badehütte zu baden und sich +mit Birkenreisern peitschen zu lassen, legte er großes Gewicht darauf, +daß es auf seinem Hof geschehe, und ordentlich geschehe.</p> + +<p>Ingmar Ingmarson trug einen alten Schafpelz und Lederhosen und +Pechdrahtstiefel. Er war schmutzig und unbarbiert und kam in seiner +bedächtigen Art so leise herein, daß man ihn ebensogut für einen Bettler +hätte halten können. Er zeigte ungefähr dieselben Züge und dieselbe +Häßlichkeit wie die Frau; sie waren miteinander verwandt, und sie hatte +von altersher gelernt, eine heilige Ehrfurcht vor jedem zu haben, der +dieses Aussehen hatte. Denn es bedeutete viel, dem alten Geschlecht der +Ingmarsöhne anzugehören, das allezeit das vornehmste in der Gegend +gewesen war; aber das Höchste, was ein Mensch sein konnte, war Ingmar +Ingmarson selbst, der Reichste, der Klügste und der Mächtigste im ganzen +Kirchspiel.</p> + +<p>Ingmar Ingmarson kam auf das Mädchen zu, bückte sich, nahm eines der +fertigen Rutenbüschel und<span class='pagenum'><a name="Page_116" id="Page_116">[Pg 116]</a></span> schwang es durch die Luft. Sogleich flogen +die Ruten auseinander; eine landete auf dem Weihnachtstisch und eine +andre im Himmelbett.</p> + +<p>»Hei, min Deern,« sagte der alte Ingmar und lachte, »glaubst du, daß man +solche Ruten brauchen kann, wenn man bei den Ingmarsöhnen badet? Oder +hast du solche heillose Angst um deine Haut?«</p> + +<p>Da der Hausvater es nicht übler aufnahm, faßte das Mädchen Mut und +sagte, sie wolle schon Rutenbüschel binden, die hielten, wenn man ihr +nur Gerten zum Binden gäbe.</p> + +<p>»Dann muß man dir wohl Gerten schaffen, min Deern,« sagte der alte +Ingmar; denn er war in rechter Weihnachtsstimmung.</p> + +<p>Er ging aus der Wohnstube, kletterte über die Magd mit dem Scheuereimer +hinweg und blieb auf der Türschwelle stehen, sich nach jemand umzusehen, +den er in den Birkenhain um Gerten schicken könnte. Die Knechte waren +noch bei dem Weihnachtsholz, der Sohn kam mit dem Weihnachtsstroh aus +der Tenne, die beiden Schwiegersöhne schleppten eben die Arbeitswagen in +die Schuppen, damit der Hof feiertäglich aussähe. Keiner von ihnen hatte +Zeit, sich aus dem Hause zu entfernen.</p> + +<p>Da beschloß der Alte ganz gelassen, sich selbst auf den Weg zu machen. +Er ging schräg über den Hof, als wolle er in den Stall, sah sich um, +sich zu vergewissern, daß niemand auf ihn acht gäbe, und schlüpfte dann +hinter die Stallwand, wo ein halbwegs gebahnter<span class='pagenum'><a name="Page_117" id="Page_117">[Pg 117]</a></span> Weg in den Wald hinauf +führte. Der Alte hielt es nicht für nötig, jemand zu sagen, wohin er +ging, denn sonst hätte es vielleicht dem Sohn oder einem der Eidame +einfallen können, ihn abzuhalten. Und alte Leute wollen nun einmal am +liebsten ihren eignen Willen haben.</p> + +<p>Er schlug den Weg über die Felder durch das kleine Tannenwäldchen ein +und kam zu dem Birkenhain. Hier bog er vom Wege ab und watete in den +Schnee hinauf, um ein paar einjährige Birkenschößlinge zu finden.</p> + +<p>Um diese Zeit hatte der Wind endlich erreicht, woran er den ganzen Tag +gearbeitet hatte: er hatte den Schnee aus den Wolken losgerissen, und +jetzt kam er den Wald heraufgefegt, mit einer langen Schleppe von +Schneeflocken hinter sich.</p> + +<p>Ingmar Ingmarson bückte sich eben, um einen Zweig abzuschneiden, als der +Wind, ganz mit Schnee beladen, heransauste. In dem Augenblick, als der +alte Mann sich aufrichtete, pustete der Wind los und blies ihm einen +Haufen Flocken ins Gesicht. Er bekam die Augen voll Schnee, und der Wind +wirbelte so heftig rings um ihn, daß er sich ein paarmal herumdrehen +mußte.</p> + +<p>Das ganze Unglück kam wohl daher, daß Ingmar Ingmarson alt geworden war. +In seinen Jugendtagen hätte ihn ein Schneesturm wohl kaum schwindelig +gemacht, aber jetzt drehte sich alles im Kreise, als wenn er sich in +einer Weihnachtspolka herumgeschwungen hätte. Und als er heimwärts gehen +wollte, ging er gerade<span class='pagenum'><a name="Page_118" id="Page_118">[Pg 118]</a></span> nach der verkehrten Richtung. Er ging geradewegs +in den großen Tannenwald hinein, der hinter dem Birkenhain anfing, +anstatt zu den Feldern hinunter.</p> + +<p>Die Dunkelheit brach schnell herein, und unter den jungen Bäumen am +Waldessaum trieb das Schneegestöber sein Spiel weiter. Der Alte sah +wohl, daß er zwischen Tannen ging, aber er merkte nicht, daß er fehl +gegangen war; denn auch auf der Seite des Birkenwaldes, die dem Hofe +zugekehrt war, wuchsen Tannen. Aber nun kam er so tief in den Wald +hinein, daß es ganz ruhig und still wurde; von dem Sturm war nichts mehr +zu spüren, und die Bäume wurden hoch und großstämmig. Da sah er, daß er +in die Irre gegangen war, und wollte umkehren.</p> + +<p>Er war ganz traumselig und erregt davon, daß er sich hatte verirren +können; und wie er so mitten in dem weglosen Wald stand, war er nicht +klar genug im Kopfe, um zu wissen, wohin er gehen müßte. Er schlug +zuerst eine Richtung ein und dann wieder eine andre. Endlich kam es ihm +in den Sinn, in seinen eignen Fußstapfen zurückzugehen, dann aber brach +die Dunkelheit herein, und er konnte die Fußstapfen nicht mehr finden. +Und höher und höher wurden die Bäume um ihn. Er mochte gehen, wie er +wollte, — er merkte schon, daß er sich weiter und weiter vom Waldsaum +entfernte.</p> + +<p>Es war rein wie verhext und verzaubert: den ganzen Abend mußte er hier +im Walde herumlaufen und kam gewiß zu spät zum Baden.<span class='pagenum'><a name="Page_119" id="Page_119">[Pg 119]</a></span></p> + +<p>Er drehte die Mütze um und knüpfte sein Strumpfband anders, aber <ins title="er">es</ins> +blieb ihm ebenso wirr im Kopfe wie zuvor, und es wurde ganz dunkel, und +er fing an zu glauben, daß er die Nacht über im Walde bleiben müßte.</p> + +<p>Er lehnte sich an einen Tannenbaum und stand still, um seine Gedanken zu +sammeln. Mit diesem Walde war er doch so wohl vertraut. Er war hier so +viel umhergegangen, daß er fast jeden Baum kannte. Als Knabe war er hier +umhergelaufen und hatte die Schafe gehütet, war er auf Schleichwegen +gegangen und hatte den Waldvögeln Fallen gestellt. In seiner Jugend +hatte er mitgeholfen, den Wald zu fällen. Er hatte ihn abgeholzt +daliegen und er hatte ihn aufs neue wachsen sehen.</p> + +<p>Endlich kam es ihm vor, als ob er wieder wüßte, wo er war, und er +glaubte, wenn er nur so und so ginge, müßte er auf den rechten Weg +kommen. Aber wie er auch ging, — er kam nur tiefer und tiefer in das +Waldesdickicht.</p> + +<p>Einmal fühlte er festen, glatten Boden unter dem Fuß, und da sagte er +sich, daß er nun endlich auf einen Weg gekommen wäre. Den versuchte er +nun weiterzugehen, denn ein Weg mußte doch irgendwohin führen. Aber nun +lief der Weg in eine Waldwiese aus, und da hatte das Schneegestöber +freien Spielraum, da gab es keinen Pfad mehr, — nur Schneehaufen und +Schneegruben. Da sank dem Alten der Mut, und er fühlte sich als ein +armer Wicht, der draußen in der Wildnis sterben müßte.<span class='pagenum'><a name="Page_120" id="Page_120">[Pg 120]</a></span></p> + +<p>Er begann es müde zu werden, sich durch den Schnee zu schleppen; und ein +Mal ums andre setzte er sich auf einen Stein, um auszuruhen. Aber sobald +er sich setzte, wurde er schläfrig, und er wußte, daß er erfrieren +mußte, wenn er einschlummerte. Darum versuchte er zu gehen und zu gehen, +— das war ja das Einzige, was ihn retten konnte.</p> + +<p>Aber wie er so ging, konnte er der Lust nicht widerstehen, zu rasten. Er +dachte, wenn er nur ruhen dürfte, fragte er gar nicht viel danach, ob es +ihn das Leben koste.</p> + +<p>Es bereitete ihm ein solches Wohlgefühl, stillzusitzen, daß der +Todesgedanke ihn gar nicht beängstigte. Er empfand sogar eine Art +Freude, wenn er daran dachte, daß lange Personalien über ihn in der +Kirche verlesen werden würden, wenn er tot wäre. Er erinnerte sich, wie +schön der alte Propst über seinen Vater gesprochen hatte; und sicherlich +würde auch über ihn etwas Schönes gesagt werden. Es würde gesagt werden, +daß er den ältesten Bauernhof im Tale gehabt hätte, und es würde von der +Ehre gesprochen werden, die darin läge, einem so ansehnlichen Geschlecht +zu entstammen. Und auch von der Verantwortung würde die Rede sein.</p> + +<p>Ja, ja. Verantwortung war bei der Sache, das hatte er immer gewußt. Man +mußte bis zum äußersten ausharren, wenn man einer von den Ingmarsöhnen +war.</p> + +<p>Und plötzlich durchzuckte es ihn blitzartig, daß es nicht rühmlich für +ihn wäre, erfroren im wilden Walde<span class='pagenum'><a name="Page_121" id="Page_121">[Pg 121]</a></span> gefunden zu werden. Das wollte er +nicht in seinem Nachruf haben. Und so stand er wieder auf und begann zu +wandern. Doch da hatte er so lange stillgesessen, daß ganze Schneemengen +sich aus seinem Pelze wälzten, als er sich zu rühren begann. Und nach +einem Weilchen saß er wieder da und träumte.</p> + +<p>Jetzt kamen die Todesgedanken noch lockender zu ihm. Er dachte das ganze +Begräbnis durch und alle die Ehren, die seinem toten Leib erwiesen +werden würden. Er sah den großen Gastmahltisch im Festsaal des oberen +Stockwerkes gedeckt, den Propst und die Pröpstin auf dem Hochsitz, den +Richter mit der weißen Krause über der schmalen Brust, die Majorin in +schwarzer Seide, die dicke Goldkette viele Male um den Hals geschlungen. +Er sah alle Gastzimmer weiß bezogen, weiße Laken vor den Fenstern. Weiß +auf allen Möbeln. Tannenreisig auf dem Weg vom Hausflur bis hinab zur +Kirche. Und ein Backen und Schlachten und Brauen zwei Wochen vor dem +Begräbnis. Zwanzig Klafter Holz in vierzehn Tagen verheizt.</p> + +<p>Die Leiche auf einer Bahre im innern Zimmer, Kohlendunst in den +frischgeheizten Stuben. Gesang an der Leiche, wenn der Sargdeckel +zugeschraubt wird, Silberplatten auf dem Sarge. Der Hof voll Gäste. Das +ganze Dorf in Bewegung, um das »Mitgebrachte« zu bereiten, alle +Kirchenhüte gebürstet, der ganze Herbstbranntwein beim Leichenschmaus +ausgetrunken, alle Wege voll von Menschen wie an einem Markttag.<span class='pagenum'><a name="Page_122" id="Page_122">[Pg 122]</a></span></p> + +<p>Wieder fuhr der Alte auf. Er hatte sie beim Leichenschmaus von sich +sprechen hören. »Aber wie konnte er denn in dieser Weise erfrieren?« +fragte der Amtsrichter. »Was hatte er denn überhaupt oben im Hochwald zu +tun?« Und da antwortete der Kapitän, das habe wohl das Weihnachtsbier +und der Branntwein gemacht.</p> + +<p>Und dies weckte ihn aufs neue. Die Ingmarsöhne waren nüchterne Leute. Es +sollte nicht von ihm heißen, er wäre in seiner letzten Stunde nicht bei +Sinnen gewesen. Er begann wieder zu gehen und zu gehen. Aber er war so +müde, daß er kaum auf den Füßen stehen konnte. Er war jetzt ganz hoch +oben im Walde, das merkte er; denn es war ein unwegsamer Boden voll von +großen Felsblöcken, wie sie weiter unten nicht zu finden waren. Er blieb +mit dem Fuß zwischen ein paar Steinen hängen, so daß er sich kaum +losmachen konnte; und nun stand er da und jammerte laut. Jetzt war es um +ihn geschehen.</p> + +<p>Und plötzlich fiel er zu Boden in einen großen Reisighaufen. Er fiel +ganz weich auf Schnee und Reisig, so daß ihm kein Leid geschah; aber +jetzt konnte er nicht mehr aufstehen. Er wollte nichts andres mehr auf +dieser Welt als schlafen. Er schob das Reisig ein bißchen beiseite und +kroch hinein, als wäre es ein Fell. Aber wie er so den Körper unter die +Zweige schob, spürte er, daß dort drinnen im Haufen etwas lag, was warm +und weich war. »Hier liegt gewiß ein Bär und schläft,« dachte er.<span class='pagenum'><a name="Page_123" id="Page_123">[Pg 123]</a></span></p> + +<p>Er fühlte, wie das Tier sich rührte, und hörte, wie es rings um sich +witterte. Er lag ganz still. Er dachte, seinethalben könne der Bär ihn +schon auffressen. Er vermochte kein Glied zu regen, um ihm zu entkommen.</p> + +<p>Aber der Bär schien ihm, der in einer solchen Unwetternacht unter seinem +Dach Schutz suchte, nichts zuleide tun zu wollen. Er schob sich etwas +tiefer in seine Höhle, als wolle er dem Gast Platz machen, und gleich +darauf schlief er mit gleichmäßigen, sausenden Atemzügen.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Unterdessen hatten sie unten auf dem alten Ingmarshof nicht viel +Weihnachtsfreude gehabt. Den ganzen heiligen Abend hatten sie Ingmar +Ingmarson gesucht.</p> + +<p>Zuerst waren sie im ganzen Wohnhaus und in allen Wirtschaftsgebäuden +umhergegangen. Sie hatten vom Boden bis zum Keller gesucht, dann waren +sie in die Nachbarhöfe gegangen und hatten dort nach Ingmar Ingmarson +gefragt.</p> + +<p>Als sie ihn nirgends fanden, hatten Söhne und Schwiegersöhne sich auf +die Felder und Äcker hinaus begeben. Die Fackeln, die den +Kirchenwanderern auf dem Weg zur Weihnachtsmette hätten leuchten sollen, +wurden nun angezündet und in dem rasenden Schneegestöber auf allen Wegen +und Stegen umhergetragen. Aber der Wind hatte alle Spuren verweht, und +sein Heulen übertönte den Laut der Stimmen, wenn sie zu rufen<span class='pagenum'><a name="Page_124" id="Page_124">[Pg 124]</a></span> und zu +schreien versuchten. Bis weit über Mitternacht waren sie draußen, aber +endlich sahen sie ein, daß sie bis zum Tagesanbruch warten müßten, wenn +sie den Verschwundenen finden wollten.</p> + +<p>Kaum dämmerte das Morgenrot, so waren alle Leute im Ingmarshof wieder +auf den Beinen, und die Männer standen im Hofe, bereit, in den Wald +hinauszuziehen. Aber ehe sie sich noch aufgemacht hatten, kam die alte +Hausmutter und rief sie in die Wohnstube. Sie hieß sie, sich auf die +langen Bänke in der Stube setzen, und sie selbst setzte sich an den +Weihnachtstisch, mit der Bibel vor sich, und begann zu lesen. Und als +sie nach ihren schwachen Kräften gesucht hatte, was in einer solchen +Stunde angemessen wäre, da hatte sie die Geschichte von dem Manne +gefunden, der von Jerusalem gen Jericho ging und unter die Mörder fiel.</p> + +<p>Sie las langsam und singend von dem armen Manne, dem der barmherzige +Samariter zu Hilfe kam. Söhne und Schwiegersöhne, Töchter und +Enkeltöchter saßen ringsumher auf den Bänken. Sie alle glichen ihr und +einander: groß und schwerfällig, mit häßlichen, altklugen Gesichtern, +denn alle waren sie von dem alten Stamm der Ingmarsöhne. Alle hatten sie +rötliches Haar, eine sommersprossige Haut und lichtblaue Augen mit +weißen Wimpern. Im übrigen konnten sie verschieden genug voneinander +sein, aber alle hatten sie einen strengen Zug um den Mund, schläfrige +Augen und ungelenke Bewegungen, als fiele ihnen alles schwer. Aber jedem +von ihnen konnte man doch ansehen, daß<span class='pagenum'><a name="Page_125" id="Page_125">[Pg 125]</a></span> sie zu den ersten in der Gegend +gehörten und selbst wußten, daß sie vornehmer waren als die andern.</p> + +<p>Alle Ingmarsöhne und Ingmartöchter seufzten bei dem Bibellesen tief. Sie +fragten sich, ob wohl ein Samariter den Hausvater gefunden und sich +seiner erbarmt hätte. Denn für alle Ingmarsöhne war es, als verlören sie +etwas von ihrer eignen Seele, wenn jemand, der zum Stamme gehörte, von +einem Unglück getroffen wurde.</p> + +<p>Die alte Frau las und las und kam zu der Frage: »Welcher dünkt dich, der +unter diesen dreien der nächste sei gewesen, dem, der unter die Mörder +gefallen?«</p> + +<p>Aber ehe sie noch die Antwort lesen konnte, ging die Tür auf, und der +alte Ingmar trat in die Stube.</p> + +<p>»Mutter, Vater ist da,« sagte eine der Töchter, und es wurde nicht mehr +gelesen, daß des Mannes Nächster der gewesen war, der Barmherzigkeit an +ihm getan hatte.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Etwas später am Tage saß die Hausmutter wieder auf demselben Platz und +las in ihrer Bibel. Sie war allein. Die Frauen waren zur Kirche +gegangen, und die Männer waren auf der Bärenjagd im Hochwalde. Sowie +Ingmar Ingmarson gegessen und getrunken hatte, hatte er die Söhne +mitgenommen und war in den Wald auf die Bärenjagd gegangen. Denn es ist +nun einmal so, daß es eines Mannes Pflicht ist, den<span class='pagenum'><a name="Page_126" id="Page_126">[Pg 126]</a></span> Bären zu fällen, wo +und wann er ihm auch begegnet. Es geht nicht an, einen Bären zu schonen; +denn früher oder später findet er doch Geschmack am Fleische und +verschont dann weder Mensch noch Tier.</p> + +<p>Aber seit sie auf die Jagd gegangen waren, war eine große Angst über die +alte Hausmutter gekommen, und sie hatte zu lesen begonnen. Jetzt machte +sie sich daran, was an diesem Tage in der Kirche gepredigt wurde, aber +sie kam nicht weiter als bis zu dem Wort: »Friede auf Erden und den +Menschen ein Wohlgefallen.« Sie blieb sitzen und starrte mit ihren +erlöschenden Blicken diese Worte an, und von Zeit zu Zeit stieß sie +einen tiefen Seufzer aus. Sie las nicht weiter, sondern wiederholte nur +ein Mal ums andre mit langsamer schleppender Stimme: »Friede auf Erden +und den Menschen ein Wohlgefallen.«</p> + +<p>Da kam der älteste Sohn in die Stube, als sie sich gerade aufs neue +durch diese Worte schleppte.</p> + +<p>»Mutter,« sagte er sehr leise.</p> + +<p>Sie hörte ihn, schlug aber die Augen nicht vom Buche auf, als sie +fragte: »Bist du nicht mit im Walde?«</p> + +<p>»Doch,« sagte er noch leiser. »Ich bin dort gewesen.«</p> + +<p>»Komm hierher zum Tisch,« sagte sie, »so daß ich dich sehen kann.«</p> + +<p>Er kam näher, aber als ihr Blick auf ihn fiel sah sie, daß er zitterte. +Er mußte sich auf die Tischkante stützen, um die Hände still halten zu +können.<span class='pagenum'><a name="Page_127" id="Page_127">[Pg 127]</a></span></p> + +<p>»Habt Ihr den Bären erlegt?« fragte sie wieder.</p> + +<p>Jetzt konnte er nicht mehr antworten; er schüttelte nur den Kopf.</p> + +<p>Die Alte stand auf und tat, was sie nicht getan hatte, seit der Sohn ein +Kind gewesen war. Sie ging auf ihn zu, legte liebkosend die Hand auf +seinen Arm, streichelte ihm die Wange und zog ihn auf die Bank. Dann +setzte sie sich neben ihn und hielt seine Hand in der ihren. »Sag mir +jetzt, was geschehen ist, mein Junge.«</p> + +<p>Der Bursche erkannte die Liebkosung wieder, die ihn in den Jahren der +Kindheit getröstet hatte, wenn er unglücklich und hilflos war; und das +rührte ihn so tief, daß er zu weinen anfing. »Ich kann mir denken, daß +es etwas mit Vater ist,« sagte sie.</p> + +<p>»Ja, aber es ist noch schlimmer,« schluchzte der Sohn.</p> + +<p>»Noch schlimmer?«</p> + +<p>Der Bursche weinte immer heftiger; er wußte nicht, wie er Macht über +seine Stimme bekommen sollte. Endlich hob er die grobe Hand mit den +breiten Fingern und wies auf die Stelle, die sie eben gelesen hatte: +»Friede auf Erden.«</p> + +<p>»Hat es etwas damit zu tun?« fragte sie.</p> + +<p>»Ja,« antwortete er.</p> + +<p>»Mit dem Weihnachtsfrieden?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Ihr wolltet heute morgen eine böse Tat tun.«</p> + +<p>»Ja.«<span class='pagenum'><a name="Page_128" id="Page_128">[Pg 128]</a></span></p> + +<p>»Und Gott hat uns gestraft?«</p> + +<p>»Gott hat uns gestraft.«</p> + +<p>Endlich erfuhr sie, wie es zugegangen war. Sie hatten die Bärenhöhle +gesucht, und als sie so nahe waren, daß sie den Reisighaufen sehen +konnten, waren sie stehen geblieben, um die Gewehre in Ordnung zu +bringen. Aber ehe sie noch fertig waren, kam der Bär aus der Höhle +gestürzt, gerade auf sie zu. Er sah weder nach rechts, noch nach links, +er kam gerade auf den alten Ingmar Ingmarson zu und versetzte ihm einen +Schlag auf den Kopf, der ihn zu Boden streckte, als wäre er vom Blitz +getroffen. Aber niemand sonst fiel der Bär an, sondern stürzte an ihnen +vorbei in den Wald hinein.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Am Nachmittag fuhren Ingmar Ingmarsons Frau und Sohn in den Pfarrhof und +meldeten den Todesfall an. Der Sohn führte das Wort. Die alte Hausmutter +saß dabei und hörte zu, mit einem Gesicht, das regungslos war wie ein +Steinbild.</p> + +<p>Der Pfarrer saß in seinem Lehnstuhl am Schreibtisch. Er hatte seine +Bücher hervorgenommen und den Todesfall aufgezeichnet. Er tat das ein +wenig langsam: er wollte Zeit haben, darüber nachzudenken, was er der +Witwe und dem Sohne sagen solle; denn dies war doch ein ungewöhnlicher +Fall. Der Sohn hatte ganz offen erzählt, wie alles sich zugetragen +hatte; doch der Pfarrer wollte gern wissen, wie sie selbst die<span class='pagenum'><a name="Page_129" id="Page_129">[Pg 129]</a></span> Sache +auffaßten. Es waren sehr eigentümliche Menschen, die Leute vom +Ingmarhofe.</p> + +<p>Als nun der Pfarrer das Buch zuschlug, sagte der Sohn: »Wir wollten Euch +auch sagen, Herr Pfarrer, daß wir keine Personalien über Vater verlesen +haben wollen.«</p> + +<p>Der Pfarrer schob die Augengläser auf die Stirn und sah scharf forschend +zu der alten Frau hinüber. Sie saß ebenso regungslos da wie zuvor. Sie +zerknüllte nur das Taschentuch, das sie zwischen den Händen hielt.</p> + +<p>»Wir werden ihn an einem Werktag begraben,« fuhr der Sohn fort.</p> + +<p>»So, so, so, so,« sagte der Pfarrer. Es schwindelte ihm förmlich. Der +alte Ingmar Ingmarson sollte unter die Erde kommen, ohne daß jemand +darum wüßte. Die Dorfbewohner sollten nicht auf dem Hügel stehen und +sehen, mit welchem Staat er zu Grabe getragen würde.</p> + +<p>»Wir werden keinen Leichenschmaus halten. Wir haben es den Nachbarn +mitgeteilt, damit sie kein >Mitgebrachtes< bereiten.«</p> + +<p>»So, so, so, so,« sagte der Pfarrer abermals. Er konnte nichts andres +über die Lippen bringen. Er wußte wohl, was es für solche Leute +bedeutete, vom Leichenschmaus abzustehen. Er hatte gesehen, wie sehr es +Witwen und Vaterlose tröstete, einen stattlichen Leichenschmaus +abzuhalten.</p> + +<p>»Und es wird auch kein Trauerzug sein, nur ich und meine Brüder gehen +mit.«<span class='pagenum'><a name="Page_130" id="Page_130">[Pg 130]</a></span></p> + +<p>Der Pfarrer sah gleichsam Antwort heischend zu der Alten hinüber. Konnte +sie dem wirklich zustimmen? Er fragte sich, ob der Sohn auch ihren +Willen ausspräche. Sie saß ja da und ließ sich alles dessen berauben, +was ihr kostbarer sein mußte als Silber und Gold.</p> + +<p>»Wir wollen kein Glockengeläute haben und keine Silberplatten auf dem +Sarge. Das wollen wir so, Mutter und ich. Aber wir sagen es Euch, Herr +Pfarrer, um zu hören, ob Ihr es als ein Unrecht gegen Vater anseht.«</p> + +<p>Nun ergriff auch die Frau das Wort. »Ja, wir wollen wissen, ob Ihr +meint, Herr Pfarrer, daß es ein Unrecht gegen Vater sein kann.«</p> + +<p>Der Pfarrer schwieg noch immer, und da fuhr die Frau eifrig fort: »Laßt +Euch sagen, Herr Pfarrer: hätte mein Mann sich gegen den König oder den +Vogt vergangen, und hätte ich ihn vom Galgen herunterschneiden müssen, +er würde doch ein ehrliches Begräbnis bekommen haben, wie sein Vater vor +ihm, denn die Ingmarsöhne fürchten niemand, und sie brauchen keinem aus +dem Wege zu gehen. Aber um die Weihnachtszeit hat Gott Friede gesetzt +zwischen Tieren und Menschen, und das arme Tier hielt Gottes Gebot, aber +wir brachen es, und darum sind wir jetzt unter Gottes Strafgericht. Und +es steht uns nicht an, in Prunk und Staat einherzugehen.«</p> + +<p>Der Pfarrer stand auf und ging zu der Alten hin. »Es ist ganz recht, was +Ihr sagt,« antwortete er, »und<span class='pagenum'><a name="Page_131" id="Page_131">[Pg 131]</a></span> Ihr sollt Euern eignen Willen haben.« +Und unwillkürlich fügte er hinzu, vielleicht mehr für sich selbst: »Die +Ingmare sind doch großangelegte Menschen.«</p> + +<p>Bei diesen Worten richtete sich die Alte ein wenig empor. Und der +Pfarrer sah sie für einen Augenblick als das Sinnbild des ganzen +Stammes. Er begriff, was Jahrhundert um Jahrhundert diesen +schwerflüssigen und wortkargen Menschen die Macht gegeben hatte, die +Führer eines ganzen Kirchspiels zu sein.</p> + +<p>»Es kommt den Ingmarsöhnen zu, dem Volke ein gutes Beispiel zu geben,« +sagte sie. »Es ist an uns, zu zeigen, daß wir demütig sind vor Gott.«<span class='pagenum'><a name="Page_132" id="Page_132">[Pg 132]</a></span></p> + +<h2><a name="Der_Luftballon" id="Der_Luftballon"></a>Der Luftballon</h2> + +<p>Vater und die Knaben sitzen an einem regnerischen Oktoberabend in einem +Kupee dritter Klasse, auf der Fahrt nach Stockholm. Vater ist auf seiner +Bank allein. Die Knaben sitzen ihm gegenüber, eng aneinander geschmiegt, +und lesen einen Roman von Jules Verne, der den Titel führt: Sechs Wochen +im Luftballon. Das Buch ist sehr abgegriffen. Die Knaben können es fast +auswendig und haben endlose Diskussionen darüber geführt, aber sie lesen +es immer wieder mit demselben Vergnügen, sie haben alles vergessen, um +den kühnen Luftschiffern quer über Afrika zu folgen, und sie erheben nur +selten den Blick vom Buche, um die schwedischen Landschaften zu +betrachten, die sie durchfahren.</p> + +<p>Die Knaben sehen einander sehr ähnlich. Sie sind von gleicher Größe, +gleich gekleidet — in graue Überröcke und blaue Schulmützen —, sie +haben alle beide große träumerische Augen und kleine Stumpfnasen. Sie +sind immer gut Freund, gehen immer miteinander, kümmern sich nicht um +andre Kinder und sprechen immer von Erfindungen und Entdeckungsfahrten. +Der Begabung<span class='pagenum'><a name="Page_133" id="Page_133">[Pg 133]</a></span> nach sind sie recht verschieden geartet. Lennart, der +ältere, der dreizehn Jahre zählt, kommt in der Schule schwer vorwärts, +und er kann kaum in irgendeinem Gegenstande mit seiner Klasse Schritt +halten. Dafür ist er aber sehr geschickt und unternehmungslustig. Er +will Erfinder werden und beschäftigt sich beständig damit, eine +Flugmaschine zu konstruieren. Hugo ist ein Jahr jünger als Lennart, aber +er begreift leichter und ist schon in derselben Klasse wie der Bruder. +Auch er interessiert sich nicht besonders für das Lernen, hingegen ist +er ein großer Sportsmann: Skiläufer, Radfahrer und Eisläufer. Wenn er +erwachsen ist, will er auf Entdeckungsreisen gehen. Sobald Lennarts +Flugmaschine fertig ist, wird Hugo damit ausfliegen, um zu entdecken, +was von der Welt noch zu entdecken übrig ist.</p> + +<p>Vater ist ein großgewachsener Mann mit eingesunkner Brust, fahlem +Gesicht und schmalen, schönen Händen. Er ist nachlässig gekleidet. Seine +Hemdbrust ist zerknittert, der Rockaufhänger guckt am Halse hervor, die +Weste ist schief geknöpft, und die Strümpfe sind herabgerutscht. Er +trägt das Haar so lang, daß es auf den Rockkragen hängt, dies jedoch +nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Geschmack und Gewohnheit.</p> + +<p>Vater stammt aus einem alten Spielmannsgeschlecht, weit her aus dem +Bauernland, und er hat als sein besondres Erbteil zwei starke Anlagen +mitbekommen. Die eine Anlage ist eine große musikalische Begabung, und +sie trat als Erstes zutage. Er besuchte die Akademie<span class='pagenum'><a name="Page_134" id="Page_134">[Pg 134]</a></span> in Stockholm, +studierte dann ein paar Jahre im Ausland und machte in diesen +Studienjahren so glänzende Fortschritte, daß er selbst und seine Lehrer +erwarteten, es würde ein großer, weltberühmter Violinspieler aus ihm +werden. Er hätte sicherlich Talent genug gehabt, dieses Ziel zu +erreichen, aber es fehlte ihm an Kraft und Ausdauer. Er konnte sich +draußen in der Welt keine Stellung erkämpfen, sondern kam gar bald heim +und nahm einen Organistenposten in einer Provinzstadt an. Anfangs +schämte er sich wohl, daß er allen den in ihn gesetzten Erwartungen +nicht entsprochen hatte; aber er empfand es auch angenehm, einen sichern +Lebensunterhalt zu haben und nicht mehr die Barmherzigkeit fremder Leute +in Anspruch nehmen zu müssen.</p> + +<p>Kurz nachdem er die Stelle bekommen hatte, heiratete er; und einige +Jahre lang war er mit seinem Lose ganz zufrieden. Er hatte ein schönes +kleines Heim, eine frohe und glückliche Frau und zwei kleine Jungen, und +er war der Liebling der ganzen Stadt, überall gesucht und gefeiert. Aber +dann war eine Zeit gekommen, wo dies alles ihn nicht mehr zu befriedigen +schien. Er sehnte sich danach, noch einmal in die Welt hinauszuziehen +und sein Glück zu versuchen, doch fühlte er sich verpflichtet, daheim zu +bleiben, weil er nun Weib und Kind hatte.</p> + +<p>Vor allem war es die Frau, die ihn überredet hatte, von dieser Reise +abzustehen. Sie glaubte, daß es ihm nicht besser glücken werde als das +erste Mal. Sie meinte, sie seien so glücklich, daß er nichts andres<span class='pagenum'><a name="Page_135" id="Page_135">[Pg 135]</a></span> zu +erstreben brauche. Damit beging sie sicher einen Fehler, aber sie mußte +ihn auch schwer genug büßen; denn von der Zeit an kam der zweite +Familienzug bei dem Manne zum Vorschein. Da er seine Sehnsucht nach Ruhm +und Erfolg nicht stillen konnte, suchte er sich mit dem Trinken zu +trösten.</p> + +<p>Und es ging ihm nun so, wie es den Menschen aus seiner Familie zu gehen +pflegte: er trank ohne Besinnung und ohne Maß und kam binnen kurzem ganz +herunter. Er wurde allmählich ein ganz andrer Mensch als zuvor. Er war +nicht mehr liebenswürdig und einnehmend, sondern böse und hart. Und das +größte Unglück war, daß er einen furchtbaren Haß gegen seine Frau faßte +und sie in jeder möglichen Weise quälte, wenn er betrunken war — und +auch sonst.</p> + +<p>Die Knaben hatten also kein gutes Heim gehabt, und ihre Kindheit wäre +sehr unglücklich gewesen, hätten sie sich nicht eine kleine Welt für +sich selbst geschaffen, voll von Maschinenmodellen, Entdeckungsplänen +und Abenteuerbüchern. Die einzige, die zuweilen einen Blick in diese +Welt werfen durfte, war Mutter. Vater hatte nicht einmal eine Ahnung, +daß sie existierte; und auch jetzt vermag er mit den Knaben über nichts +zu sprechen, was sie interessiert. Er stört sie ein Mal ums andre, wenn +er fragt, ob es nicht schön wäre, Stockholm kennen zu lernen, und ob sie +sich nicht freuten, mit Vater zu reisen, und dergleichen mehr. Sie +antworten sehr kurz, um sich augenblicklich wieder in das Buch zu +vertiefen. Vater jedoch fragt weiter. Er glaubt,<span class='pagenum'><a name="Page_136" id="Page_136">[Pg 136]</a></span> daß die Knaben von +seiner Liebenswürdigkeit sehr entzückt sein müßten und nur zu schüchtern +wären, es zu zeigen.</p> + +<p>»Die haben zu lange an Mutters Schürzenband gehangen,« denkt er. »Sie +sind ängstlich und zimperlich geworden. Das wird jetzt anders werden, +wenn sie in meine Hand kommen.«</p> + +<p>Aber Vater täuscht sich. Daß die Knaben ihm so kurze Antworten geben, +kommt nicht von der Schüchternheit, sondern bedeutet nur, daß sie +wohlerzogen sind und ihn nicht verletzen wollen. Wenn es nicht so wäre, +würden sie ganz anders antworten. »Warum sollten wir es schön finden, +mit Vater zu reisen?« würden sie dann sagen. »Vater glaubt freilich, +etwas ganz Besondres zu sein, aber wir sehen ja, daß er nur ein +verkommner Schwächling ist. Und warum sollten wir uns darauf freuen, +Stockholm kennen zu lernen? Wir wissen sehr gut, daß Vater uns nicht +mitgenommen hat, um uns eine Freude zu machen, sondern nur, um Mutter zu +kränken.«</p> + +<p>Es wäre klüger, wenn Vater die Knaben lesen ließe, ohne sie zu stören. +Sie sind niedergeschlagen und ängstlich, und es reizt sie, daß er so +guter Laune ist. »Nur weil er weiß, daß Mutter daheim sitzt und weint, +ist er heute so vergnügt,« flüstern sie einander zu.</p> + +<p>Vaters Fragen bringen es schließlich dahin, daß die Knaben nicht mehr +lesen, obgleich sie noch immer über das Buch gebeugt dasitzen. Anstatt +dessen beginnen ihre Gedanken mit großer Bitterkeit um alles<span class='pagenum'><a name="Page_137" id="Page_137">[Pg 137]</a></span> zu +kreisen, was sie um Vaters willen haben leiden müssen.</p> + +<p>Sie erinnern sich, wie sich Vater einmal am hellichten Tage betrunken +hatte und über die Straße getorkelt kam, von einer Menge Schuljungen +verfolgt, die ihn ausspotteten. Sie rufen sich zurück, wie die andern +<ins title="Jungern">Jungen</ins> sie gehänselt und ihnen Spitznamen gegeben haben, weil sie einen +Vater hatten, der trank.</p> + +<p>Sie haben sich für Vater schämen müssen, sie mußten seinetwegen in +beständiger Angst leben; und sowie sie irgendeinen Spaß hatten, ist er +dazwischen gekommen und hat ihnen das Vergnügen verdorben. Es ist kein +kleines Sündenregister, das sie da aufstellen. Die Knaben sind sehr +sanftmütig und geduldig, aber sie fühlen einen Groll in sich aufsteigen, +der stärker und stärker wird.</p> + +<p>Er hätte doch begreifen müssen, daß sie ihm die große Enttäuschung nicht +verzeihen konnten, die er ihnen gestern bereitet hatte. Das war doch das +Ärgste, was er ihnen noch angetan hatte.</p> + +<p>Die Sache war nämlich die, daß die Mutter der Knaben sich im vorigen +Frühling entschlossen hatte, sich von deren Vater zu trennen. Mehrere +Jahre lang hatte der Mann sie auf jede erdenkliche Art verfolgt und +gepeinigt, doch sie hatte sich nicht von ihm trennen wollen, sondern war +bei ihm geblieben, damit er nicht völlig verkomme. Aber jetzt endlich +wollte sie es um der Knaben willen tun. Sie hatte beobachtet, daß der +Vater sie unglücklich machte; und sie meinte, sie müsse<span class='pagenum'><a name="Page_138" id="Page_138">[Pg 138]</a></span> sie diesem +Elend entziehen und ihnen ein gutes, friedliches Heim schaffen.</p> + +<p>Als das Frühlingssemester zu Ende war, hatte sie die Knaben aufs Land zu +ihren Eltern geschickt und war selbst ins Ausland gereist, um so aufs +einfachste die Scheidung zu erlangen. Es war ihr freilich nicht recht +gewesen, daß es dadurch den Anschein gewann, als ob die Ehe durch ihr +Verschulden gelöst würde; aber dem hatte sie sich unterwerfen müssen. +Noch weniger zufrieden war sie damit, daß die Knaben vom Gerichte dem +Vater zugesprochen wurden, weil sie eine entlaufne Ehefrau wäre. Sie +tröstete sich freilich damit, daß er unmöglich die Absicht haben könnte, +die Kinder zu behalten; aber sie hatte doch keine rechte Ruhe mehr.</p> + +<p>Sobald die Scheidung durchgeführt war, war sie zurückgekommen und hatte +eine Wohnung gemietet, in der sie mit den Knaben leben wollte. Erst vor +zwei Tagen hatte sie alles fertig gehabt, so daß die Knaben zu ihr +übersiedeln konnten. Es war der glücklichste Tag, den die Kinder noch +erlebt hatten. Die ganze Wohnung bestand aus einem großen Zimmer und +einer großen Küche, aber alles war neu und fein, und Mutter hatte es so +außerordentlich behaglich eingerichtet. Das Zimmer sollte Mutter und +ihnen tagsüber als Arbeitsraum dienen, und nachts sollten die Knaben da +schlafen. Die Küche war sehr niedlich und hell. Da würden sie essen. Und +in einem kleinen Verschlag hinter der Küche hatte Mutter ihr Bett.</p> + +<p>Mutter hatte ihnen gesagt, daß sie sehr arm sein<span class='pagenum'><a name="Page_139" id="Page_139">[Pg 139]</a></span> würden. Sie hatte eine +Stelle als Gesanglehrerin an der Mädchenschule bekommen; aber dies war +auch alles: davon mußten sie leben. Sie waren nicht in der Lage, sich +ein Dienstmädchen zu halten, sondern mußten sich allein behelfen. Die +Knaben waren über das Ganze in hellstem Entzücken; vor allem darüber, +daß sie mit angreifen durften. Sie erboten sich, Holz und Wasser zu +tragen. Sie wollten die Schuhe putzen und die Betten machen. Es war ein +rechter Spaß, sich das alles auszudenken.</p> + +<p>Eine Kammer war da, wo Lennart alle seine Maschinen aufheben konnte. Er +selbst sollte den Schlüssel dazu haben, und kein andrer als Hugo und er +sollten sie je betreten dürfen.</p> + +<p>Aber nur einen einzigen Tag durften die Knaben bei Mutter glücklich +sein. Dann hatte ihnen Vater die Freude verdorben, wie er es stets getan +hatte, solange sie sich zurückerinnern konnten. Mutter hatte ihnen +erzählt, sie habe gehört, daß Vater eine Erbschaft von einigen tausend +Kronen gemacht hätte; er habe seine Stellung gekündigt und wolle nun +nach Stockholm ziehen. Mutter und sie hatten sich sehr darüber gefreut, +daß er die Stadt verließ, so daß sie ihm nicht mehr auf der Straße zu +begegnen brauchten. Aber dann war einer von Vaters Freunden mit der +Botschaft zu Mutter gekommen, daß Vater die Knaben nach Stockholm +mitnehmen wolle.</p> + +<p>Mutter hatte geweint und gefleht, ihre Knaben behalten zu dürfen, aber +Vaters Abgesandter hatte<span class='pagenum'><a name="Page_140" id="Page_140">[Pg 140]</a></span> geantwortet, daß Vater fest entschlossen sei, +die Knaben in seine Obhut zu nehmen. Wenn sie nicht gutwillig kämen, +würde er sie durch die Polizei holen lassen. Er sagte, Mutter solle doch +das Scheidungsurteil durchlesen, da stünde es ja deutlich, daß die +Knaben dem Vater gehörten. Und das wußte Mutter ja auch. Das ließ sich +nicht leugnen.</p> + +<p>Vaters Freund hatte viele schöne Dinge gesagt: Vater liebe seine Jungen +und wolle sie deshalb für sich haben ... Aber die Knaben wußten, daß +Vater sie einzig und allein fortschleppte, um Mutter zu quälen. Er hatte +sich das ausgedacht, damit Mutter an der Trennung von ihm keine Freude +hätte. Sie sollte in beständiger Unruhe um die Knaben leben. Das Ganze +war nur Rache und Bosheit.</p> + +<p>Aber Vater hatte seinen Willen durchgesetzt, und hier waren sie nun auf +dem Wege nach Stockholm. Und ihnen gegenüber saß Vater und freute sich, +daß er Mutter unglücklich gemacht hatte. Mit jedem Augenblick, der +verging, wurde ihnen der Gedanke, daß sie bei Vater bleiben und mit ihm +leben müßten, immer widerwärtiger. Waren sie denn völlig in seiner +Gewalt? Gab es keine Rettung?</p> + +<p>Vater hat sich in seine Ecke zurückgelehnt, und nach einem Weilchen +schlummert er ein. Sogleich beginnen die Knaben sehr lebhaft miteinander +zu flüstern. Es wird ihnen nicht schwer, einen Entschluß zu fassen. Den +ganzen Tag haben sie, jeder für sich, nur daran gedacht, +durchzubrennen.<span class='pagenum'><a name="Page_141" id="Page_141">[Pg 141]</a></span></p> + +<p>Sie verabreden, sich auf die Plattform <ins title="schleichen">zu schleichen</ins> und aus dem Zuge zu +springen, wenn er gerade durch einen großen Wald führe. Dann würden sie +sich an einem versteckten Plätzchen im Wald eine Hütte bauen und dort +allein leben, ohne sich irgendeinem Menschen zu zeigen.</p> + +<p>Während die Knaben diese Pläne schmieden, bleibt der Zug an einer +Station stehen, und eine Bäuerin, die ein kleines Kind an der Hand +führt, steigt in das Kupee. Sie ist schwarz gekleidet, trägt ein +Kopftuch und sieht gut und freundlich aus. Sie zieht dem Kleinen das +Überröckchen aus, das vom Regen naß geworden ist, und wickelt ihn in +einen Schal. Dann zieht sie ihm die Schuhe ab, trocknet die kalten +Füßchen, sucht aus einem Bündel Strümpfe und Schuhe hervor und legt sie +ihm an. Schließlich steckt sie ihm ein Bonbon zu und legt ihn auf die +Bank, den Kopf auf ihrem Schoße, damit er einschlafe.</p> + +<p>Bald wirft der eine, bald der andre Knabe einen Blick auf die Bäuerin, +die sich mit ihrem Kinde beschäftigt. Diese Blicke werden immer +häufiger, und plötzlich haben die Knaben, beide zugleich, Tränen in den +Augen. Nun sehen sie nicht mehr auf, sondern halten die Augen hartnäckig +niedergeschlagen.</p> + +<p>Es ist, als wäre zugleich mit der Bäuerin noch jemand anders, der für +alle, außer für die Knaben, unsichtbar und unmerkbar ist, in den Wagen +gekommen. Und dieser andre ist — Mutter. Die Knaben haben das Gefühl, +daß sie gekommen sei und sich zwischen<span class='pagenum'><a name="Page_142" id="Page_142">[Pg 142]</a></span> sie gesetzt und ihre Hände +ergriffen habe, wie sie es noch gestern abend tat, als es sich +entschied, daß sie reisen müßten; und sie spricht ebenso zu ihnen wie +damals: »Ihr müßt mir versprechen, daß ihr Vater meinetwegen nicht gram +sein werdet. Vater hat es mir nie verzeihen können, daß ich ihn +gehindert habe, fortzureisen. Er meint, daß es meine Schuld sei, wenn +nichts aus ihm geworden ist, und wenn er trinkt. Er kann mich nie genug +strafen. Aber ihr dürft ihm deshalb nicht böse sein. Da ihr jetzt mit +Vater leben sollt, müßt ihr mir versprechen, gut gegen ihn zu sein. Ihr +dürft ihn nicht reizen, ihr müßt auf ihn achten, so gut ihr könnt. Das +müßt ihr mir versprechen; sonst weiß ich gar nicht, wie ich euch ziehen +lassen soll.«</p> + +<p>Und die Knaben hatten es versprochen.</p> + +<p>»Ihr dürft euch nicht von Vater fortschleichen! Versprecht mir das!« +hatte Mutter gesagt.</p> + +<p>Das hatten sie auch versprochen.</p> + +<p>Die Knaben sind zuverlässig, und in demselben Augenblick, wo sie daran +denken, daß sie Mutter dieses Versprechen gegeben haben, lassen sie alle +Fluchtgedanken fahren. Vater schläft noch immer, aber sie bleiben +geduldig auf ihren Plätzen sitzen. Mit verdoppeltem Eifer fangen sie +wieder zu lesen an, und ihr Freund, der gute Jules Verne, führt sie bald +aus ihren Sorgen in die Wunderwelt Afrikas.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Weit draußen in der Södervorstadt hatte Vater zwei Zimmer zu ebner Erde +gemietet, mit der Aussicht<span class='pagenum'><a name="Page_143" id="Page_143">[Pg 143]</a></span> in einen engen Hof. Die Wohnung ist schon +lange in Gebrauch, sie ist von einer Familie auf die andre übergegangen, +ohne je instand gesetzt zu werden. Die Tapeten haben eine Unmenge Risse +und Flecken, die Decken sind verrußt, ein paar Fensterscheiben sind +zerbrochen, und der Küchenboden ist so ausgetreten, daß er ganz holperig +geworden ist. Ein paar Dienstmänner haben die Möbel vom Bahnhof geholt, +sie in die Zimmer getragen und sie da kunterbunt stehen <ins title="lassen">lassen.</ins> Vater +und Knaben sind jetzt dabei, auszupacken. Vater steht mit hocherhobner +Axt da, um eine Kiste zu öffnen. Die Knaben packen aus einer andern +Kiste Glas und Porzellan und stellen es in den Wandschrank. Sie sind +geschickt und arbeiten eifrig, aber Vater hört nicht auf, sie zur +Vorsicht zu mahnen, und verbietet ihnen, mehr als ein Glas oder einen +Teller auf einmal zu tragen. Inzwischen geht es mit Vaters eigner Arbeit +nicht recht vorwärts. Seine Hände sind zitterig und kraftlos, und er ist +schon ganz schweißbedeckt, ohne den Deckel von der Kiste losbekommen zu +können. Er legt die Axt nieder, geht um die Kiste herum und fragt sich, +ob sie vielleicht verkehrt stehe. Da nimmt einer der Knaben die Axt und +fängt an, sie anzustemmen, doch Vater stößt ihn fort. Lennart werde doch +nicht glauben, daß er den Deckel aufbringen könne, wenn Vater selbst es +nicht zustande bringe? »Nur ein geübter Arbeiter kann diese Kiste +öffnen,« sagt Vater und nimmt Hut und Rock, um den Hausknecht zu holen.<span class='pagenum'><a name="Page_144" id="Page_144">[Pg 144]</a></span></p> + +<p>Kaum ist Vater zur Türe hinaus, als ihm etwas einfällt. Er begreift +plötzlich, warum er keine Kraft in den Händen hat. Es ist noch früh am +Vormittag, und er hat nichts zu sich genommen, was das Blut in Umlauf +bringt. Wenn er in ein Café ginge und einen Kognak tränke, dann würde er +seine Kraft wiederfinden und könnte sich ohne fremde Unterstützung +behelfen. Das ist viel besser, als den Hausknecht zu holen.</p> + +<p>Vater geht also auf die Straße, um ein Café zu suchen. Als er in die +kleine Hofwohnung zurückkehrt, ist es acht Uhr abends.</p> + +<p>In Vaters Jugend, als er noch auf die Akademie ging, hatte er in der +Södervorstadt gewohnt. Er war damals Mitglied eines Doppelquartetts +gewesen, das hauptsächlich aus Kontoristen und kleinen Kaufleuten +bestand und in einem Keller in der Nähe von Mosebacke seine +Zusammenkünfte abzuhalten pflegte. Vater hatte nun Lust bekommen, +nachzusehen, ob dieser kleine Keller noch existiere. Er war wirklich +noch da, und Vater hatte das Glück gehabt, ein paar von den alten +Freunden zu treffen, die da saßen und frühstückten. Sie hatten ihn mit +größter Freude begrüßt, ihn zum Frühstück eingeladen und seine Ankunft +in Stockholm auf die herzlichste Weise gefeiert. Als die Mahlzeit +schließlich beendet war, hatte Vater heimgehen wollen, um seine Möbel +auszupacken; doch die Freunde hatten ihn überredet, zu bleiben und mit +ihnen zu Mittag zu essen. Und dies hatte sich so lange hinausgezogen,<span class='pagenum'><a name="Page_145" id="Page_145">[Pg 145]</a></span> +daß Vater nicht vor acht Uhr nach Hause gekommen war. Und es hatte ihn +keine geringe Überwindung gekostet, sich zu so früher Stunde von der +lustigen Gesellschaft loszureißen.</p> + +<p>Als Vater heimkommt, sitzen die Knaben in der Dunkelheit, denn sie haben +kein Zündholz. Vater hat ein Zündholzschächtelchen in der Tasche, und +als er ein kleines Kerzenstümpfchen angezündet hat, das glücklicherweise +mitgekommen ist, sieht er, daß die Knaben erhitzt und verstaubt sind, +aber munter und vergnügt und augenscheinlich sehr zufrieden mit ihrem +Tag.</p> + +<p>In den Stübchen stehen die Möbel geordnet, die Kisten sind fortgeräumt, +Stroh und Papierschnitzel fortgekehrt. Hugo macht gerade im ersten +Zimmer die Betten für die Knaben. Das zweite Zimmer soll Vaters +Schlafstube sein, und da steht sein Bett, mit so viel Sorgfalt gemacht, +wie er sichs nur wünschen kann.</p> + +<p>Jetzt geht mit Vater ein eigentümlicher Umschwung vor. Als er heimkam, +war er mit sich selbst unzufrieden gewesen, weil er sich von der Arbeit +davongemacht und die Knaben ohne Speise und Trank zurückgelassen hatte. +Aber jetzt, wo er sieht, daß sie guter Laune sind, und daß ihnen nichts +abzugehen scheint, bereut er es, daß er ihrethalben seine Freunde +verlassen hat; er wird reizbar und streitsüchtig.</p> + +<p>Er sieht wohl, daß die Knaben stolz auf alle die Arbeit sind, die sie +geleistet haben, und daß sie erwarten, von ihm gelobt zu werden; aber +dazu ist er gar nicht geneigt. Er fragt vielmehr, wer dagewesen<span class='pagenum'><a name="Page_146" id="Page_146">[Pg 146]</a></span> sei und +ihnen geholfen habe, und bittet sie, sich gefälligst zu merken, daß man +in Stockholm nichts geschenkt bekomme und der Hausknecht für alles, was +er täte, bezahlt werden müsse. Die Knaben antworten, daß sie keine Hilfe +in Anspruch genommen, sondern alles allein gemacht hätten, aber er hört +nicht auf, zu zanken. Es sei unrecht von ihnen gewesen, die große Kiste +zu öffnen. Sie hätten sich dabei etwas zuleide tun können. Er hätte +ihnen doch verboten, sie zu öffnen. Sie hätten jetzt ihm zu gehorchen. +Er sei für sie verantwortlich.</p> + +<p>Er nimmt die Kerze, geht in die Küche und leuchtet in die Schränke. Der +kleine Vorrat an Glas und Porzellan ist in guter Ordnung auf den +Brettern aufgestellt.</p> + +<p>Er prüft alles haargenau, um Anlaß zu weiterm Tadel zu finden.</p> + +<p>Plötzlich erblickt Vater ein paar Überreste des Abendbrots der Knaben +und beginnt sogleich zu zanken, weil sie Huhn gegessen haben. Woher sie +sich das verschafft hätten? Ob sie wie die Prinzen zu leben gedächten? +Ob sie sein Geld hinauswürfen, um Hühner zu essen?</p> + +<p>Dann fällt ihm ein, daß er ihnen ja kein Geld zurückgelassen hat. Er +fragt, ob sie das Huhn gestohlen hätten, und gerät ganz außer sich.</p> + +<p>Er spricht und ermahnt, zankt und tost, aber jetzt bekommt er von den +Knaben keine Antwort. Sie wollen ihm nicht sagen, woher sie das Huhn +haben,<span class='pagenum'><a name="Page_147" id="Page_147">[Pg 147]</a></span> sondern lassen ihn austoben. Und er hält ganze Reden, ganze +Predigten, er erschöpft seine letzten Kräfte. Schließlich bittet und +bettelt er.</p> + +<p>»Ich beschwöre euch, sagt mir die Wahrheit! Ich will euch alles +verzeihen, was ihr auch begangen haben mögt, wenn ihr mir nur die +Wahrheit sagt.«</p> + +<p>Jetzt können es die Knaben nicht länger aushalten. Vater hört einen +prustenden Laut. Sie werfen die Decken ab und setzen sich auf, und er +merkt, daß sie vor unterdrücktem Lachen ganz rot im Gesicht sind. Und +während sie jetzt ungezügelt herauslachen, sagt Lennart, von beständigem +Kichern unterbrochen: »Mutter hat uns doch ein Hühnchen in den Eßkorb +gelegt, den sie uns auf die Reise mitgegeben hat.«</p> + +<p>Vater richtet sich auf, sieht die Knaben an, will sprechen, findet aber +keine passenden Worte. Er richtet sich noch majestätischer empor, sieht +sie mit tiefster Verachtung an und geht ohne weitres auf sein Zimmer.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Vater hat jetzt herausgebracht, wie geschickt die Knaben sind, und er +benützt dies, um ein Dienstmädchen zu ersparen. Morgens schickt er +Lennart in die Küche und läßt ihn Kaffee kochen, während Hugo den +Frühstücktisch deckt und Brot vom Bäcker holt. Nach dem Frühstück setzt +Vater sich auf einen Stuhl und sieht zu, wie die Knaben die Betten +machen, die Zimmer kehren und die Öfen heizen. Er gibt unaufhörlich +Befehle und kommandiert sie von einer Arbeit<span class='pagenum'><a name="Page_148" id="Page_148">[Pg 148]</a></span> zur andern, nur um seine +Macht zu zeigen. Wenn das Morgenaufräumen vorüber ist, geht er aus und +bleibt den ganzen Vormittag weg. Das Mittagessen läßt er aus einer +benachbarten Kochschule holen. Dann läßt Vater die Knaben für den Abend +allein und verlangt von ihnen nichts andres, als daß sein Bett gemacht +sei, wenn er heimkommt.</p> + +<p>Die Knaben sind so fast den ganzen Tag allein und können sich +beschäftigen, womit sie wollen.</p> + +<p>Eine ihrer wichtigsten Arbeiten besteht darin, an Mutter zu schreiben. +Sie bekommen von ihr jeden Tag einen Brief, und sie schickt ihnen Papier +und Marken, damit sie ihr antworten können.</p> + +<p>Mutters Briefe enthalten hauptsächlich Ermahnungen, artig gegen Vater zu +sein. Sie schreibt immer, wie liebenswert Vater gewesen sei, als sie ihn +kennen lernte, und sie erzählt ihnen, wie hochstrebend und arbeitsam er +im Anfang seiner Laufbahn gewesen sei. Sie sollten zärtlich und +liebevoll gegen ihn sein. Sie dürften nie vergessen, wie unglücklich er +wäre.</p> + +<p>»Wenn Ihr so recht gut gegen Vater seid, dann hat er vielleicht Mitleid +mit Euch und läßt Euch wieder nach Hause zu mir kommen,« schreibt +Mutter.</p> + +<p>Mutter erzählt, daß sie beim Pfarrer und beim Bürgermeister gewesen sei, +um zu fragen, ob es nicht möglich wäre, die Knaben wieder zu bekommen. +Aber alle beide hätten ihr gesagt, daß es keinen Ausweg gebe. Die Knaben +müßten bei ihrem Vater bleiben. Mutter wolle gern nach Stockholm +übersiedeln, um ihre<span class='pagenum'><a name="Page_149" id="Page_149">[Pg 149]</a></span> Jungen wenigstens ab und zu sehen zu können, aber +alle Menschen rieten ihr, sich zu gedulden und noch zu warten. Sie +glaubten, daß Vater die Knaben bald satt bekommen und sie wieder +heimschicken werde. Mutter wisse nicht recht, was sie tun solle. +Einerseits finde sie es schrecklich, daß ihre Knaben in Stockholm ohne +irgend jemand lebten, der sich ihrer annehme; und andrerseits wisse sie: +wenn sie ihr Heim verließe und ihre Anstellung aufgäbe, könnte sie sie +nicht bei sich aufnehmen und versorgen, falls sie frei würden. Aber zu +Weihnachten werde Mutter auf jeden Fall nach Stockholm kommen und nach +ihnen sehen.</p> + +<p>Die Knaben schreiben und erzählen, was sie den ganzen Tag tun, Stunde +für Stunde. Sie lassen Mutter wissen, daß sie Vater das Essen holen und +ihm das Bett machen. Sie begreift, daß sie sich bemühen, ihr zuliebe gut +gegen ihn zu sein, aber sie merkt, daß sie ihn nicht besser leiden +können als früher.</p> + +<p>Ihre kleinen Jungen scheinen immer einsam zu sein. Sie wohnen in einer +großen Stadt, wo es von Menschen wimmelt, aber niemand fragt nach ihnen, +niemand beachtet sie. Und vielleicht ist es noch am besten so. Wer weiß, +in was sie hineingeraten könnten, wenn sie irgendwelche Bekanntschaften +machten!</p> + +<p>Sie bitten sie immer, sich ihrethalben keine Sorgen zu machen. Sie +würden sich schon durchschlagen. Sie erzählen, daß sie sich die Strümpfe +stopfen und die Knöpfe annähen. Sie deuten auch an, daß Lennart<span class='pagenum'><a name="Page_150" id="Page_150">[Pg 150]</a></span> mit +seiner Erfindung sehr weit gekommen sei, und sagen, daß alles gut sein +werde, sowie die fertig wäre.</p> + +<p>Aber Mutter lebt in beständiger Angst. Tag und Nacht sind ihre Gedanken +bei den Knaben. Tag und Nacht betet sie zu Gott, er möge über ihre +kleinen Söhne wachen, die einsam in einer großen Stadt leben, ohne +irgend jemand, der ihre Augen gegen die Lockungen der Verderbnis schützt +und ihre jungen Herzen vor der Lust zum Bösen bewahrt.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Vater und die Knaben sitzen eines Vormittags in der Oper. Einer von +Vaters früheren Kollegen, der der Hofkapelle angehört, hat ihn +eingeladen, der Probe zu einem Symphoniekonzert beizuwohnen, und Vater +hat die Knaben mitgenommen. Als das Orchester einsetzt und das Haus von +den Tonwellen erfüllt wird, gerät Vater in so heftige Bewegung, daß er +sich nicht beherrschen kann, sondern zu weinen anfängt. Er schluchzt, +schneuzt sich geräuschvoll und stöhnt ein Mal um das andre auf. Er legt +sich gar keinen Zwang mehr an, sondern wird so laut, daß die Spielenden +gestört werden. Ein Diener kommt und winkt ihm ab, darauf nimmt Vater +die Knaben bei der Hand und schleicht sich ohne ein Wort des +Widerspruchs hinaus, und den ganzen Heimweg hören seine Tränen nicht auf +zu fließen.</p> + +<p>Vater hat die Hände der Knaben in den seinen behalten und geht mit einem +Jungen an jeder Seite<span class='pagenum'><a name="Page_151" id="Page_151">[Pg 151]</a></span> einher. Ganz plötzlich fangen auch die Knaben zu +weinen an. Sie verstehen nun zum ersten Male, wie Vater seine Kunst +geliebt hat. Es war entsetzlich für ihn gewesen, versoffen und verkommen +dazusitzen und andre spielen zu hören. Es war ein Jammer, daß er nicht +das geworden war, was er hätte werden sollen. Es war für Vater so, wie +es für Lennart wäre, wenn er seine Flugmaschine nie fertigbrächte, oder +für Hugo, wenn er keine Entdeckungsreise machen dürfte. Zu denken, daß +sie einmal als untaugliche Greise dasitzen und sich zu Häupten prächtige +Luftschiffe dahinbrausen sehen sollten, die sie weder erfunden hätten +noch lenken dürften!</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Die Jungen sitzen eines Vormittags daheim und haben ihre Bücher vor +sich. Vater hat eine Notenrolle unter den Arm genommen und ist +ausgegangen. Er hat etwas davon gemurmelt, daß er eine Musiklektion zu +geben hätte, aber die Knaben haben sich keinen Augenblick einreden +lassen, daß dies die Wahrheit sei.</p> + +<p>Vater ist schlechter Laune, wie er so über die Straße geht. Er hat den +Blick bemerkt, den die Knaben wechselten, als er sagte, daß er zu einer +Musiklektion ginge. »Sie werfen sich zum Richter auf über ihren Vater,« +denkt er.</p> + +<p>»Ich bin zu nachsichtig gegen sie. Ich hätte jedem eine Ohrfeige geben +sollen. Sicherlich hetzt ihre Mutter sie gegen mich auf.«<span class='pagenum'><a name="Page_152" id="Page_152">[Pg 152]</a></span></p> + +<p>»Wie wäre es, wenn ich mich ein wenig nach den Herrchen umsähe?« fährt +er fort. »Es könnte gewiß nichts schaden, sich zu überzeugen, wie sie +ihren Studien obliegen.«</p> + +<p>Er kehrt um, geht rasch durch den Hof, öffnet ganz leise die Türe und +steht in dem Zimmer der Knaben, ohne daß einer von ihnen ihn hätte +kommen hören. Und richtig: die Knaben fahren mit ganz roten Köpfen auf, +und Lennart reißt ängstlich ein Bündel Papiere an sich, das er in die +Schreibtischlade wirft.</p> + +<p>Als die Knaben ein paar Tage in Stockholm waren, da hatten sie gefragt, +in welche Schule sie gehen würden, und Vater hatte geantwortet, mit +ihrem Schulbesuch sei es jetzt aus. Er würde versuchen, einen Meister zu +finden, der sie in die Lehre nehmen wollte. Dies hatte er jedoch nie ins +Werk gesetzt, und die Knaben hatten auch nicht weiter von ihrem +Schulbesuch gesprochen. Doch nach kaum einer Woche hing in dem Zimmer +der Knaben ein Stundenplan an der Wand. Schulbücher wurden +hervorgesucht, und jeden Vormittag saßen die Knaben an einem alten +Schreibtisch und machten Aufgaben. Es war offenbar: sie hatten einen +Brief von Mutter bekommen, der sie ermahnte, auf eigne Faust zu +arbeiten, um nicht alles zu vergessen, was sie gelernt hätten.</p> + +<p>Als Vater jetzt so unerwartet zu ihnen hereinkommt, geht er zuerst hin +und studiert den Stundenplan. Er zieht seine Uhr heraus und vergleicht. +Mittwoch von zehn bis elf: Geographie. Dann kommt<span class='pagenum'><a name="Page_153" id="Page_153">[Pg 153]</a></span> er an den Tisch +heran. »Hättet ihr in dieser Stunde nicht eigentlich Geographie?« fragt +er. — »Ja,« antworten die Knaben, flammend rot im Gesicht. — »Aber wo +habt ihr das Geographiebuch und den Atlas?« — Die Knaben werfen einen +Blick auf das Bücherbrett und sehen tödlich verlegen aus. »Wir haben +noch nicht angefangen,« sagt Lennart. — »So, so,« sagt Vater. »Ihr habt +wohl etwas andres vor.« Und er richtet sich ganz vergnügt auf. Er hat +jetzt die Oberhand, und die will er behalten, bis er die Knaben +gründlich an die Wand gedrückt hat.</p> + +<p>Die beiden Knaben schweigen. Seit dem Tage, da sie mit Vater in die Oper +gingen, haben sie Mitleid mit ihm, und es hat ihnen nicht soviel +Überwindung gekostet wie früher, artig gegen ihn zu sein. Aber natürlich +haben sie keinen Augenblick daran gedacht, Vater ins Vertrauen zu +ziehen. Er ist in ihrem Ansehen nicht gestiegen, wenn er ihnen auch leid +tut.</p> + +<p>»Habt ihr einen Brief geschrieben?« fragt Vater mit seiner strengsten +Stimme. — »Nein,« rufen die beiden Knaben wie aus einem Munde. — »Was +habt ihr denn getan?« — »Wir haben nur geplaudert.« — »Das ist nicht +wahr! Ich habe gesehen, wie Lennart etwas in die Schreibtischlade +gesteckt hat.« — Jetzt schweigen die beiden Knaben wieder. — »Nehmt es +heraus!« ruft Vater, rot vor Zorn. Er glaubt, daß die Söhne an seine +Frau geschrieben hätten; und da sie ihm den Brief nicht zeigen wollten, +stünde natürlich etwas Häßliches über ihn darin. Die Knaben rühren<span class='pagenum'><a name="Page_154" id="Page_154">[Pg 154]</a></span> sich +nicht, und Vater hebt die Hand, um nach Lennart zu schlagen, der vor der +Schublade sitzt. — »Rühr ihn nicht an!« ruft Hugo. »Wir haben nur über +etwas gesprochen, was Lennart sich ausgedacht hat.«</p> + +<p>Hugo schiebt Lennart weg, reißt die Lade auf und zieht einen Bogen +Papier hervor, der mit Luftschiffen in den wunderlichsten Formen +vollgekleckst ist. »Lennart hat sich heute nacht ein neues Segel für +sein Luftschiff ausgedacht. Und darüber haben wir gesprochen.«</p> + +<p>Vater will ihm nicht glauben. Er beugt sich hinunter, durchsucht die +Lade, findet aber nichts andres als Bogen Papier, bedeckt mit +Zeichnungen, die Luftballons, Fallschirme, Flugmaschinen und alles andre +vorstellen, was zur Luftschiffahrt gehört.</p> + +<p>Zum größten Staunen der Knaben schleudert Vater dies alles nicht gleich +fort, er lacht auch nicht über ihre Versuche, sondern er betrachtet +Blatt für Blatt genau. Vater hat nämlich auch ein wenig Anlage zur +Mechanik; und er hat sich einstmals, als sein Hirn noch zu etwas taugte, +für solche Dinge interessiert. Bald beginnt er Fragen nach dem Zweck von +diesem und jenem zu stellen; und da seine Worte verraten, daß er großen +Anteil nimmt und das, was er sieht, versteht, bekämpft Lennart seine +Verlegenheit und antwortet ihm zuerst zögernd, doch allmählich mit immer +größerer Bereitwilligkeit.</p> + +<p>Bald sind Vater und die Knaben in eine tiefsinnige Diskussion über +Luftschiffe und Flugmaschinen<span class='pagenum'><a name="Page_155" id="Page_155">[Pg 155]</a></span> vertieft. Nachdem sie so recht in Zug +gekommen sind, plaudern die Knaben unbefangen und teilen Vater alle ihre +Pläne und Träume mit. Und wenn Vater auch begreift, daß die Knaben mit +den Luftschiffen, die sie jetzt konstruieren, nicht weit fliegen können, +imponiert ihm die ganze Sache doch. Seine kleinen Söhne sprechen von +Aluminiummotoren, Aeroplanen und Gleichgewichtslagen wie von den +selbstverständlichsten Dingen. Er hat sie für rechte Dummköpfe gehalten, +weil sie in der Schule nicht gut vorwärts kamen. Jetzt scheint es ihm +mit einem Male, daß sie ein paar kleine Gelehrte seien.</p> + +<p>Und hochfliegende Gedanken und Hoffnungen, — das versteht Vater besser +als irgend jemand. Er erkennt es wieder: er hat selbst so geträumt und +hat durchaus keine Lust, über solche Träume zu lachen.</p> + +<p>An diesem Vormittag geht Vater nicht mehr aus, sondern bleibt sitzen und +plaudert mit seinen Knaben, bis es Zeit ist, das Mittagessen zu holen +und den Tisch zu decken. Und da sind Vater und die Knaben zu ihrer +großen Überraschung richtig gute Freunde.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Es ist elf Uhr abends, und Vater taumelt durch die Straßen. Die kleinen +Jungen gehen neben ihm. Sie haben ihn im Wirtshaus gesucht und haben +sich dicht an die Tür gestellt, ohne ein Wort zu sagen. Vater saß allein +an einem Tisch, einen großen dunkeln Toddy vor sich, und hörte einer +Damenkapelle zu, die am<span class='pagenum'><a name="Page_156" id="Page_156">[Pg 156]</a></span> andern Ende des Zimmers spielte. Nach einem +Weilchen war er unwillig aufgestanden und zu den Knaben hingegangen. +»Was soll das heißen?« hatte er gefragt. »Warum kommt ihr hierher?« — +»Du solltest doch nach Hause kommen, Vater,« sagten die Knaben. »Es ist +doch der fünfte Dezember. Du hast ja versprochen — — —«</p> + +<p>Da hat sich Vater erinnert, daß Lennart ihm anvertraut hatte, heute sei +Hugos Geburtstag, und daß er versprochen hätte, beizeiten nach Hause zu +kommen. Aber das hatte er ganz vergessen. Hugo erwartete sich wohl ein +Geburtstagsgeschenk von ihm, aber er hatte nicht daran gedacht, eins zu +besorgen.</p> + +<p>Auf jeden Fall ist er mit den Knaben gegangen, und nun wandert er, +unzufrieden mit ihnen und mit sich selbst, die Straße entlang. Als er +heimkommt, steht der Geburtstagstisch gedeckt. Die Knaben haben es +festlich machen wollen. Lennart hat Kuchen gebacken, die jetzt ein paar +Stunden alt sind und wie Lappen aussehen. Sie haben von Mutter ein +bißchen Geld bekommen, und dafür haben sie Nüsse, Mandeln und eine +Flasche Himbeersaft gekauft.</p> + +<p>Alle diese Herrlichkeiten haben sie nicht allein genießen wollen, +sondern haben gewartet, daß Vater heimkomme und sie mit ihnen teile. +Nachdem sie sich nun mit Vater befreundet haben, können sie ein so +großes Fest nicht ohne ihn feiern. Vater versteht das schon. Es +schmeichelt ihm, daß sie sich nach ihm gesehnt haben, und in leidlich +guter Laune läßt er sich<span class='pagenum'><a name="Page_157" id="Page_157">[Pg 157]</a></span> an dem Tisch nieder. Aber halb betrunken, wie +er ist, strauchelt er, als er Platz nehmen will, er hält sich an der +Tischdecke fest, fällt zu Boden und zieht alle Herrlichkeiten mit. Als +er wieder aufsteht, sieht er, wie der Himbeersaft über den Boden strömt +und Backwerk und Konfekt zwischen Scherben von Porzellan und Glas +verstreut liegen.</p> + +<p>Vater wirft einen Blick auf die langen Gesichter der Knaben, läuft zur +Türe hinaus und kommt nicht vor dem Morgengrauen heim.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>An einem Vormittag im Februar gehen die Knaben mit Schlittschuhen über +der Schulter durch die Straße. Sie sind nicht recht dieselben. Sie sind +mager und blaß geworden und sehen ungepflegt und nachlässig aus. Ihr +Haar ist nicht geschnitten, sie sind nicht ordentlich gewaschen, und +Strümpfe und Schuhe zeigen Löcher. Wenn sie miteinander sprechen, +brauchen sie eine Menge Gassenjungenausdrücke, und es kommt auch vor, +daß ein Fluch über ihre Lippen gleitet.</p> + +<p>Es ist ein Umschwung bei den Knaben eingetreten, und dies schreibt sich +von dem Abend her, an dem Vater vergaß, heimzukommen und Hugos +Geburtstag zu feiern. Es war, als hätte sie bis dahin doch die Hoffnung +aufrecht erhalten, daß eine baldige Änderung in ihrem Schicksal +eintreten würde. In der ersten Zeit hatten sie darauf gerechnet, daß +Vater ihrer bald müde werden und sie wieder heimschicken würde.<span class='pagenum'><a name="Page_158" id="Page_158">[Pg 158]</a></span> Dann +hatten sie sich eingebildet, Vater würde sie liebgewinnen und um +ihretwillen zu trinken aufhören. Ja, sie hatten sich gedacht, daß Mutter +und er sich versöhnen könnten, und daß sie alle glücklich sein würden. +Aber an jenem Abend wurde es ihnen klar, daß dies alles unmöglich war. +Vater konnte nichts andres lieben als das Saufen. Wenn er auch ab und zu +einmal gut gegen sie war, so machte er sich doch eigentlich nichts aus +ihnen.</p> + +<p>Und eine schwere Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich der Knaben. Nichts +könnte je anders werden. Sie würden nie von Vater loskommen. Sie hatten +das Gefühl, als wären sie verurteilt, ihr ganzes Leben lang in einem +dunkeln Gefängnis eingeschlossen zu sitzen.</p> + +<p>Nicht einmal ihre großen Pläne konnten sie trösten. Festgekettet, wie +sie hier saßen, könnten sie die ja nie zur Ausführung bringen. Da sie ja +doch nicht einmal etwas lernen durften ...! Sie kannten die Geschichte +der großen Männer gut genug, um zu wissen, daß jeder, der etwas +Bedeutendes leisten will, vor allem Kenntnisse braucht.</p> + +<p>Der härteste Schlag aber war gewesen, daß Mutter zu Weihnachten nicht zu +ihnen gekommen war. Zu Anfang des Dezembers war sie auf der Treppe +gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen, so daß sie während der +Weihnachtsferien im Krankenhaus liegen mußte und nicht nach Stockholm +reisen konnte. Jetzt war Mutter wohl auf, aber jetzt hatte auch ihre +Schule<span class='pagenum'><a name="Page_159" id="Page_159">[Pg 159]</a></span> wieder begonnen. Überdies hatte sie kein Geld zur Reise. Alles, +was sie zusammengespart hatte, war während ihrer Krankheit +draufgegangen.</p> + +<p>Die Knaben fühlten sich von der ganzen Welt verlassen. Es war ganz klar, +daß es ihnen nie besser gehen würde, wie sehr sie sich auch anstrengten; +und darum hatten sie so allmählich aufgehört, sich mit dem zu plagen, +was ihnen langweilig schien. Sie konnten ja ebensogut etwas tun, was +ihnen Spaß machte.</p> + +<p>Manchmal betteten sie ihre Betten tagelang nicht auf, und sie hörten +ganz auf, die Zimmer zu kehren. Es kam ja auf eins heraus. Es besuchte +sie ja doch niemand, um nachzusehen, wie es ihnen ginge.</p> + +<p>Vater kam immer tiefer herunter. Er versuchte manchmal, sich +aufzurütteln und die Knaben zur Ordnung anzuhalten, aber das waren nur +ohnmächtige Anläufe. Er vergaß seine Befehle ebenso rasch, wie er sie +gegeben hatte.</p> + +<p>Die Knaben hatten auch angefangen, die Vormittagsarbeit zu +vernachlässigen. Niemand hörte ihnen die Aufgaben ab; und da hatte es ja +keinen Zweck, daß sie lernten. Es war jetzt seit ein paar Tagen gutes +Eis; so machten sie sich lieber Ferien und liefen Schlittschuh, solang +es Tag war. Auf dem Eise gab es auch immer eine Menge andre Jungen, und +sie hatten mit mehreren Bekanntschaft gemacht, die auch lieber +Schlittschuh liefen als daheim saßen und lernten.<span class='pagenum'><a name="Page_160" id="Page_160">[Pg 160]</a></span></p> + +<p>Heute nun ist ein so wunderschöner Tag, daß sie unmöglich im Zimmer +bleiben können. Es sind nur ein paar Grad Kälte, — stille, hohe Luft +und klarer Sonnenschein. Es ist so herrliches Wetter, daß die Schulen +Eislaufferien gegeben haben. Die ganze Straße ist voll von Kindern, die +daheim waren, um ihre Schlittschuhe zu holen, und jetzt dem Eise +zueilen.</p> + +<p>Wie die Knaben so unter den andern Kindern einhergehen, sehen sie sehr +ernst und schwermütig aus. Kein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ihr +Unglück ist so groß, daß sie es keinen Augenblick vergessen können.</p> + +<p>Als sie aufs Eis kommen, herrscht dort Leben und Bewegung. Das Ufer ist +von einer dichten Menschenmenge umsäumt, weiter draußen schwirren die +Schlittschuhläufer durcheinander wie Ameisen, deren Haufen beschädigt +worden ist; noch weiter weg sieht man einzelne schwarze Punkte, die in +blitzschneller Fahrt dahingleiten.</p> + +<p>Die Knaben schnallen die Schlittschuhe an und mischen sich unter die +übrigen Läufer. Sie laufen sehr gut; und wie sie so in voller Fahrt über +das Eis schießen, bekommen ihre Wangen Farbe und die Augen Glanz, doch +nicht eine Minute sehen sie froh und sorglos aus wie andre Kinder.</p> + +<p>Auf einmal, als sie gerade eine Wendung zum Ufer machen, erblicken sie +etwas sehr Schönes. Ein großer Luftballon kommt aus der Richtung von +Stockholm und treibt zur Ostsee hin. Er ist rot und gelb<span class='pagenum'><a name="Page_161" id="Page_161">[Pg 161]</a></span> gestreift; und +als die Sonne darauf fällt, leuchtet er wie eine Feuerkugel. Die Gondel +ist mit einer Menge bunter Fähnchen geschmückt, und da der Ballon nicht +sehr hoch fliegt, ist das lebhafte Farbenspiel sehr gut zu sehen.</p> + +<p>Als die Knaben den Ballon erblicken, stoßen sie einen Freudenschrei aus. +Es ist das erste Mal in ihrem Leben, daß sie einen großen Ballon durch +die Luft segeln sehen. Er ist viel schöner, als sie ihn sich vorgestellt +haben. Alle die Träume und Pläne, die in so vielen schweren Tagen ihr +Trost und ihre Freude waren, tauchen wieder auf, da sie ihn erblicken. +Sie bleiben stehen, um zu sehen, wie die Stricke und Leinen befestigt +sind, sie bemerken den Anker und die Sandsäcke an der Gondelkante.</p> + +<p>Der Ballon streicht mit scharfer Geschwindigkeit über die vereiste +Bucht. Alle Schlittschuhläufer, groß und klein durcheinander, stürzen +ihm lachend und rufend entgegen, als er sich zeigt, und eilen ihm dann +nach. Sie folgen ihm in einer langen geschwungnen Linie, wie ein +ungeheures Schlepptau. Und die Luftschiffer vergnügen sich damit, eine +Menge Papierchen in verschiednen Farben auszuwerfen, die langsam durch +die blaue Luft flattern.</p> + +<p>Die Knaben sind die vordersten in der langen Reihe, die dem Ballon +nachjagt. Sie eilen voran, den Kopf zurückgeworfen, den Blick nach oben +gerichtet. Zum ersten Male, seit sie von ihrer Mutter getrennt sind, +strahlen ihre Augen von Glück. Sie sind ganz<span class='pagenum'><a name="Page_162" id="Page_162">[Pg 162]</a></span> außer sich vor Entzücken +über das Luftschiff und denken an nichts andres, als ihm solange zu +folgen wie nur möglich.</p> + +<p>Doch der Ballon treibt rasch dahin, und man muß schon ein guter Läufer +sein, um nicht zurückzubleiben. Die Schar, die ihm nachjagt, lichtet +sich, aber an der Spitze deren, die die Verfolgung fortsetzen, sind die +kleinen Knaben. Sie sind so eifrig, daß man auf sie aufmerksam wird. +Später sagten die Leute, es sei etwas eignes über ihnen gewesen. Sie +lachten nicht, sie riefen nicht, aber es ruhte ein Glanz der +Hingerissenheit auf ihren emporgewandten Gesichtern, als sähen sie eine +Vision.</p> + +<p>Der Ballon wirkt auf die Kleinen auch fast so wie ein himmlischer +Wegweiser, der käme, sie auf den rechten Pfad zurückzuführen und sie zu +lehren, ihn mit frischem Mut zu gehen. Wie die Knaben ihn erblicken, +schwellen ihre Herzen vor Sehnsucht danach, wieder an der großen +Erfindung zu arbeiten. Sie sind wieder gewiß, daß es ihnen gelingen +wird. Wenn sie nur ausharren, werden sie sich schon zum Siege +durchringen. Und der Tag wird kommen, da sie ihr eignes Luftschiff +besteigen und in den Raum hinaufschweben werden. Ja, eines Tages werden +sie dort oben hoch über den Menschen fliegen. Und ihr Luftschiff wird +weit vollkommner sein als dieses, das sie jetzt sehen. Es wird sich +lenken und drehen, senken und heben lassen, wird gegen den Wind und ohne +Wind gehen. Es wird sie durch Tage und Nächte tragen, wohin<span class='pagenum'><a name="Page_163" id="Page_163">[Pg 163]</a></span> sie nur +wollen. Sie werden sich auf den höchsten Berggipfeln niederlassen, die +ödesten Wüsten durchfahren, die am schwersten zugänglichen Gegenden +erforschen. Sie werden alle Herrlichkeit der Welt sehen.</p> + +<p>»Wir dürfen es nicht aufgeben, Hugo,« sagt Lennart. »Es wird prächtig +sein, wenn wir nur fertig werden.«</p> + +<p>Vater und sein Unglück, — das ist etwas, was sie gar nichts mehr +angeht. Wer ein so großes Ziel hat wie sie, kann sich wohl nicht von +etwas Erbärmlichem hindern lassen.</p> + +<p>Je weiter der Ballon kommt, desto größer wird seine Geschwindigkeit. Die +Schlittschuhläufer haben nun aufgehört, ihn zu verfolgen. Die einzigen, +die die Jagd fortsetzen, sind die kleinen Knaben. Sie eilen so rasch und +leicht dahin, als hätten sie Flügel an den Füßen.</p> + +<p>Plötzlich entringt sich den Menschen, die auf dem Lande stehen und weit +über die Bucht schauen können, ein Schrei des Entsetzens und der Angst. +Sie sehen, wie der Ballon, noch immer von den zwei Kindern verfolgt, dem +offnen Fahrwasser zugleitet.</p> + +<p>»Draußen ist offnes Wasser! Offnes Wasser!« So rufen die Menschen.</p> + +<p>Die Schlittschuhläufer unten auf dem Eise hören die Rufe und wenden ihre +Blicke der Mündung der Bucht zu. Sie sehen, daß weit draußen ein +Streifen Wasser in der Sonne glitzert. Sie sehen auch, daß zwei kleine +Knaben gerade auf diesen Streifen zu<span class='pagenum'><a name="Page_164" id="Page_164">[Pg 164]</a></span>laufen, den sie <ins title="icht">nicht</ins> bemerken, +weil sie die Augen auf den Ballon geheftet haben, ohne sie auch nur +einen Moment zur Erde zu wenden.</p> + +<p>Man ruft mit aller Macht, man stampft auf das Eis, Schnelläufer eilen +dahin, sie aufzuhalten. Aber die Kleinen merken nichts von alledem, wie +sie so dem Luftschiff nachjagen. Sie wissen nicht, daß sie die einzigen +sind, die es verfolgen: sie hören keine Rufe hinter sich, sie vernehmen +nicht das Wogen und Brausen des offnen Wassers vor sich. Sie sehen nur +den Ballon, der sie gleichsam mitzieht. Schon fühlt Lennart, wie sein +eignes Luftschiff sich unter ihm erhebt, und Hugo schwebt über den +geheimnisvollen Gegenden des Nordpols dahin.</p> + +<p>Die Leute auf dem Eise und am Strande sehen, wie rasch sich die Knaben +dem offnen Wasser nähern. Ein paar Augenblicke herrscht eine so atemlose +Spannung, daß sie weder rufen noch ein Glied rühren können. Es liegt wie +eine Verzauberung über den beiden Kindern, die in ihrem wilden +Dahinstürmen nichts merken, die dem Tode zueilen, einer strahlenden +Himmelserscheinung nach.</p> + +<p>Die Luftschiffer oben im Ballon haben nun auch die kleinen Knaben +bemerkt. Sie sehen, daß sie in Gefahr sind, sie schreien ihnen zu und +machen warnende Gebärden, aber die Knaben verstehen sie nicht. Als sie +sehen, daß die Luftschiffer ihnen Zeichen machen, glauben sie, jene +wollten sie in die Gondel hinaufnehmen. Sie strecken die Arme zu ihnen +empor, über<span class='pagenum'><a name="Page_165" id="Page_165">[Pg 165]</a></span>glücklich in der Hoffnung, ihnen durch den strahlenden Raum +folgen zu dürfen.</p> + +<p>In diesem Augenblick haben die Knaben den Wasserrand erreicht, mit +emporgewendeten, freudestrahlenden Gesichtern und aufgehobnen Armen +gleiten sie ins Meer und verschwinden ohne einen Hilferuf. Die +Schlittschuhläufer, die versucht haben, sie einzuholen, stehen ein paar +Sekunden später an der Eiskante, aber die Strömung hat die Körper unter +das Eis gezogen, und keine helfende Hand kann sie erreichen.<span class='pagenum'><a name="Page_166" id="Page_166">[Pg 166]</a></span></p> + +<h2><a name="Der_erste_im_ersten_Jahr_des_zwanzigsten_Jahrhunderts" id="Der_erste_im_ersten_Jahr_des_zwanzigsten_Jahrhunderts"></a>Der erste im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts</h2> + +<p>Es war am Neujahrsmorgen des Jahres 1900. Die Uhr zeigte fast die neunte +Stunde, aber im Kirchspiel Svartsjö in Wermland war es noch beinah ganz +dunkel. Die Sonne war noch nicht über die langgestreckten niedrigen +Waldfirste emporgestiegen.</p> + +<p>Gerade als die Glocke schlug, öffnete sich die Tür zum Pfarrhofe, und +der Pfarrer trat heraus, um in die Kirche zu gehen. Doch als er die +Treppe hinuntergegangen war, blieb er stehen, um auf jemand zu warten. +Er war ein junger und eifriger Mann; er stand da und stampfte den Schnee +wie ein ungeduldiges Pferd.</p> + +<p>Endlich zeigte sich seine Frau in der Tür. Sie war erstaunt, daß er sich +die Zeit genommen hatte, auf sie zu warten. »Das ist schön, daß du +gewartet hast,« sagte sie. — »Nein,« antwortete der Mann und lächelte, +»das ist nicht schön. Ich möchte mit dir über etwas sprechen.«</p> + +<p>Die Glocken der Svartsjöer Kirchen begannen zu läuten, als er dies +sagte. Er trat näher an die Frau heran und fragte sie, ob sie höre, daß +gerade jetzt die<span class='pagenum'><a name="Page_167" id="Page_167">[Pg 167]</a></span> Glocken in Löfwik am andern Ufer des Sees und dort +oben in Bro auch läuteten?</p> + +<p>»Es ist etwas Schönes um allen diesen Glockenklang,« sagte der Pfarrer. +— »Ja,« sagte sie, »ja, so ist es.« — »Hast du daran gedacht, daß sie +heute Nacht in jeder Kirche in ganz Wermland das neue Jahr eingeläutet +haben? Die großen Erzschlünde haben es in die dunkle Winternacht +hinausgerufen, von den kleinen Kapellchen in Finmarken gerade so wie vom +Domkirchenturm in Karlstad.« — »Ja,« sagte sie, »daran hab ich auch +gedacht.«</p> + +<p>»Aber nicht nur in Wermland ...« sagte der Pfarrer. »In ganz Schweden +sind heute Nacht die Kirchenglocken erklungen, ja, auf einem großen Teil +der Erde.« — »Ja, das wird schon so sein,« sagte die Pastorin und wußte +nicht recht, worauf der Mann hinauswolle.</p> + +<p>»Das neue Jahr, das heute Nacht geboren wurde, hat noch kaum etwas +andres erlebt als dies Glockengeläute,« fuhr der Pfarrer fort. »Zuerst +lag es ein wenig schlaftrunken und verschüchtert oben in den Wolken und +wiegte sich und konnte in der tiefen Finsternis gar nicht sehen, woher +es gekommen wäre. Da begegnete ihm der Glockenklang, der zu ihm +hinaufdrang: stark und volltönig aus den großen Städten, wo die Kirchen +einander nahestehen, schwächer und gleichsam rührend eintönig aus den +kleinen verstreuten Dorfkirchlein. Ich lag heute morgen da und dachte +daran, seit wir von dem Mitternachtsgottesdienste heimkamen.<span class='pagenum'><a name="Page_168" id="Page_168">[Pg 168]</a></span> Als wir +nach der Kirche heimgingen, da hast du etwas gesagt, was mich nicht +schlafen ließ.«</p> + +<p>Die Frau wußte sofort, was er meinte. Auf dem Heimwege hatten sie von +der alten versperrten und versiegelten Truhe gesprochen, die Magister +Eberhard Berggren vor achtzig Jahren in die Svartsjöer Kirche gestellt +hatte, mit der Vorschrift, daß sie nicht vor dem Neujahrstag des Jahres +neunzehnhundert eröffnet werden dürfe. Die Frau hatte gesagt, sie finde +es unrecht, daß sie jetzt hervorgenommen und geöffnet werden solle. +Jedermann wußte ja, daß die Truhe nichts andres enthielt als Schriften +des Unglaubens und der Gottesleugnung.</p> + +<p>Doch der Pfarrer hatte gemeint, wenn das Kirchspiel einmal die Truhe in +seine Obhut genommen und versprochen hätte, Magister Eberhards Willen zu +erfüllen, so könnte man nicht umhin, sie zu eröffnen. Niemand wüßte ja +auch so recht, was eigentlich darin wäre.</p> + +<p>»Ich habe gehört, daß der alte Eberhard ein Gottesleugner war,« hatte +die Frau geantwortet. — Ja, das hatte der Pastor auch gehört. — »Wär +ich du,« beharrte die Pastorin auf ihrer Meinung, »ich würde erwirken, +daß die Gemeinde beschlösse, die Truhe stehen zu lassen, wie sie steht.« +— »Nein, aber Frau,« fiel da der Pfarrer ein, »willst du mich +vielleicht glauben machen, daß dieser alte Ekebykavalier imstande sein +könnte, auch nur einen einzigen Menschen in seinem Gottesglauben zu +erschüttern?<span class='pagenum'><a name="Page_169" id="Page_169">[Pg 169]</a></span>«</p> + +<p>Das hatte die Pastorin zugegeben. Sie glaubte nicht, daß die Schriften +gefährlich seien, aber sie meinte, es sei häßlich, daß sie durch einen +christlichen Geistlichen und seine Gemeinde ans Licht gezogen werden +sollten. Es läge etwas Anstößiges darin. Er könnte seinen Pfarrkindern +doch wenigstens vorschlagen, die Truhe uneröffnet zu lassen.</p> + +<p>»Aber es ist eines toten Mannes Wille,« hatte der Pfarrer geantwortet; +und als die Frau sah, daß sie sich nicht einigen konnten, hatte sie +geschwiegen.</p> + +<p>Als ihr nun der Mann sagte, daß ihre Worte ihn so früh am Morgen geweckt +hätten, da wurde sie sehr froh und fragte sogleich, ob er zu ihrer +Meinung übergegangen sei.</p> + +<p>»Das wird davon abhängen, was ich dich jetzt fragen will.« — »Ja, ich +werde dir gewiß nicht meine Zustimmung geben, diese Truhe zu öffnen.« — +Der Pfarrer lachte. — »Dessen sollst du nicht so gewiß sein,« sagte er.</p> + +<p>»Ich erwachte sehr früh,« fuhr der Pfarrer fort, »und rieb sogleich ein +Zündhölzchen an. Die Glocke schlug drei, und das erste, was ich dachte, +war, daß heute Nacht das neunzehnte Jahrhundert zu Ende <ins title="gegegangen">gegangen</ins> ist, +und daß wir jetzt neunzehnhundert schreiben. Und dabei mußte ich an den +Glockenschlag denken, der die Nacht erfüllte, und an das neugeborne +Jahr, das da lag und lauschte. Wie ich so im Halbschlummer lag, sah ich +deutlich vor mir, daß das alte Jahr irgendwo im fernen Osten auf einem +Scheiterhaufen verbrannt<span class='pagenum'><a name="Page_170" id="Page_170">[Pg 170]</a></span> worden war, und das neue Jahr war aus der +Asche hervorgekrochen und hatte die Flügel ausgebreitet und war +ausgezogen, die Welt in Besitz zu nehmen. Jetzt wiegt es sich wohl in +dem Glockenklange der Klöster und Kirchen Palästinas, dachte ich. Es +braucht die Flügel gar nicht zu bewegen, dachte ich weiter. Es hält sie +nur ausgespannt, und dann kommen die Tonwellen und ergreifen es und +wiegen es von einem Land zum andern. Ja, es liegt nur da und wiegt und +schaukelt sich. In der Dunkelheit weiß es gar nicht, wohin es kommt. +Alles, was es vernimmt, ist Glockenklang, und vielleicht noch +Kirchengesang, Orgelton und die Schritte <ins title="deren">derer</ins>, die zur Christmette +wandern.</p> + +<p>»Das neue Jahr wird fühlen, daß es über heiliger Erde schwebt,« dachte +ich. Und ich fühlte mich ganz gerührt, wie ich da lag. Jetzt ist es über +die Sankt Peterskirche in Rom gewiegt worden, und dann ist es über die +Alpen nach Deutschland hinaufgeflattert. Später am Tage wird es bis zu +uns heraufschweben.</p> + +<p>»Aber während ich so sann, wurde mir ganz weich zumute, und da kamen +deine Worte mir wieder in den Sinn. Wenn also das neue Jahr über +Wermland und Svartsjö geschwebt käme, dann sollte es hier einen Priester +und seine Gemeinde sehen, die eine Truhe mit Schriften des Unglaubens +öffneten. Und es schien mir sehr traurig, daß es so etwas schauen +sollte, nach allem dem Schönen, das es bisher erlebt hat. In Rom bei den +Katholiken hatte es den Papst die heilige Pforte öffnen und das Jubeltor +einweihen sehen,<span class='pagenum'><a name="Page_171" id="Page_171">[Pg 171]</a></span> und hier oben im Norden sollte es uns den Riegel +eröffnen sehen, der Zweifel und Gottesleugnung einschloß. Das neue Jahr +wird eine zu schlechte Meinung von uns bekommen,« sagte ich. »Es geht +einfach nicht an, diese Truhe zu öffnen.«</p> + +<p>»Siehst du wohl! Ich wußte, daß du zu meiner Partei übergehen würdest,« +sagte die Pastorin.</p> + +<p>»Es hat nicht viel daran gefehlt,« sagte der Pfarrer; »aber gleich +darauf stand es mir wieder vor Augen, wie unmöglich es sei, gegen eines +toten Mannes Willen zu handeln. Ja, es war unmöglich, — das eine wie +das andre: die Truhe zu öffnen wie sie geschlossen zu lassen. Und ich +begann mich zu fragen, ob es denn keinen Ausweg gäbe. Wenn man eine +Sache nur lange genug überdenkt, pflegt man schließlich doch +herauszufinden, was das Rechte ist. Ich lag da und grübelte stundenlang. +Ich dachte alles durch, was ich vom Magister Eberhard Berggren wußte, um +Klarheit darüber zu gewinnen, was er in diese Truhe gelegt haben +mochte.«</p> + +<p>»Hast du es also herausgebracht?«</p> + +<p>»Ich glaube wohl, daß ich es herausgebracht habe, aber ich will auch +deine Meinung hören.«</p> + +<p>»Die kennst du schon,« sagte die Frau eigensinnig.</p> + +<p>»Das sollst du nicht so bestimmt sagen,« meinte der Pfarrer. »Du +solltest zuerst versuchen, dich in die Sache hineinzudenken. Du solltest +versuchen, dich in Magister Eberhards Gedanken zu versetzen. Das hab ich +heute morgen getan. Wenn du nun ein alter Mann wärst, sagte ich zu mir +selbst, wenn du Magister Eber<span class='pagenum'><a name="Page_172" id="Page_172">[Pg 172]</a></span>hard Berggren wärst, ein alter gelehrter +Mann, der nicht an Gott glaubte! Ich versuchte mir einzubilden, daß ich +mein ganzes Leben am Schreibtisch verbracht hätte, ohne Unterlaß denkend +und schreibend. Ich dachte mir, ich hätte Jahr für Jahr in einer Ecke +des Kavalierflügels auf Ekeby gesessen, mit Büchern und Papieren rings +um mich, — und Leben und Scherz, Sang und Spiel wären durch die Räume +erbraust, aber ich hätte ganz still und stumm hinter einer Mauer von +Büchern gesessen und gearbeitet.</p> + +<p>»Und dann dachte ich mir weiter, daß ich nach vielen, unendlich vielen +und langen Jahren endlich mit meiner Arbeit fertig geworden wäre. Und +ich hätte ihr alle meine Lebenskräfte geopfert. Ich wäre alt und müde +geworden, und in letzter Zeit hätte ich auch angefangen zu kränkeln. Ich +hätte zuweilen brennende Schmerzen in der rechten Seit gespürt, in der +Gegend der Leber, obgleich ich mir gar nicht die Zeit genommen hätte, +mich darum zu bekümmern. Ja, ich hätte wohl gar nicht daran gedacht, was +das Werk mich gekostet hätte: ich wäre nur glücklich gewesen, es +vollendet zu haben.</p> + +<p>»Ich wäre auch natürlich ganz überzeugt gewesen, daß alles ganz +vollkommen sei, daß nichts fehle. Allen andern Philosophen hätte man +irgendeine Lücke im Gedankengang nachgewiesen, aber so etwas könnte mir +nicht passieren. Ich hätte meine eigne Philosophie gefunden, und die sei +ganz ohne Makel. Sie sei sicher und fest vom Grunde bis zur Turmspitze.<span class='pagenum'><a name="Page_173" id="Page_173">[Pg 173]</a></span></p> + +<p>»Ja, ich versuchte mich noch weiter in die Sache hineinzudenken,« fuhr +der Pfarrer fort. »Wenn ich nun mein Buch fertig hätte, was würde ich +damit anfangen? Es wäre ja das allereinfachste, es gleich in die +Druckerei zu schicken. Aber wenn ich solch ein alter Mann wäre, würde +ich mir die Sache sicherlich überlegen. Ich würde sie mir deshalb +überlegen, weil ich sehr wohl wüßte: sobald meine Philosophie bekannt +würde, könnte niemand ihr widerstehen. Alle Menschen würden dann auf +einmal aufhören, an Gott zu glauben; und die Hoffnung auf ein ewiges +Leben würden sie gleichfalls verlieren. Und ich müßte mir doch sagen, +daß eine ganze Menge von jenen, die ich gekannt und geliebt, dies als +ein großes Unglück empfinden würde. Die Menschen sind schwach, würde ich +mir selbst sagen, sie können die Wahrheit nicht ertragen. Und so +allmählich würde ich dahin kommen, daß ich den Entschluß faßte, mein +Buch zu verwahren und es erst einige Zeit nach meinem Tode an den Tag +kommen zu lassen. Wenn ich es bis zum Jahre neunzehnhundert verwahrte, +dann müßte wohl ein neues Geschlecht herangewachsen sein, das das Licht +der Wahrheit besser ertragen könnte. Ich glaube, es wäre gar nicht +unmöglich, daß ich einen solchen Entschluß fassen würde, wenn ich solch +ein alter Mann wäre,« sagte der Pfarrer und sah seine Frau an, ihrer +Zustimmung gewiß.</p> + +<p>»Ach nein,« antwortete sie, »so ganz unmöglich wäre das wohl nicht.«</p> + +<p>»Wie ich so in der Dunkelheit dalag, glaubte ich<span class='pagenum'><a name="Page_174" id="Page_174">[Pg 174]</a></span> sein Leben ganz zu +durchleben,« fuhr der Pfarrer fort. »Wo sollte ich nun fürs erste das +Manuskript hinterlegen? In einem der Herrenhöfe könnte ich es nicht +aufbewahren. Die sind alle aus Holz; früher oder später könnten sie +verbrennen, und dann wäre meine Arbeit verloren. Und wenn ich es in +einen Keller legte, dann würde die Feuchtigkeit es ebenso sicher +zerstören, wie es nur je das Feuer vermöchte.</p> + +<p>»Nein, der einzige sichere Aufbewahrungsort, den ich mir denken könnte, +wäre wohl eine der Kirchen in Bro oder Svartsjö, die aus Stein erbaut +sind. Nun muß ich sagen: wenn ich ein solcher alter Heide wäre, dann +würde ich wohl eine gewisse Abneigung dagegen empfinden, meine Arbeit in +einer Kirche aufzubewahren. Aber ich würde mich schon bald mit dem +Gedanken trösten: wenn ich so sicher weiß, daß es keinen Gott gibt, kann +ich meine Arbeit schließlich ebenso gut in eine Kirche legen wie in +irgendein andres Gebäude.</p> + +<p>»Ja, den Tag, an dem ich alles fertig hätte, so daß ich meine große +Dokumententruhe in den Schlitten legen und mit ihr nach Svartsjö fahren +könnte, würde ich sicherlich als einen großen Festtag ansehen. Denn ich +glaube, wenn ich ein so alter umsichtiger Mann wäre, würde ich meine +Truhe lieber in Svartsjö verwahren als in Bro, weil der Vikar in +Svartsjö ein viel nachgiebigerer Mann war als der Propst in Bro. Ja, +wahrhaftig, — wäre ich nicht vergnügt an diesem Wintertage, wenn ich +bei guter Schlittenbahn mit einem flinken Pferde von Ekeby fortführe? +Wenn ich auch<span class='pagenum'><a name="Page_175" id="Page_175">[Pg 175]</a></span> in den letzten Tagen jene innerlichen Schmerzen gespürt +hätte, so wüßte ich doch ganz genau, daß sie an einem Tage wie diesem +ganz wie fortgeblasen wären. Ich würde nur dasitzen und denken, welche +Wirkung es haben müßte, wenn mein Buch einmal in die Welt hinauszöge, +und wie berühmt mein Name da auf einmal sein würde. Das ganze Jahr +neunzehnhundert würden die Menschen von niemand anders sprechen als von +Eberhard Berggren.</p> + +<p>»Aber obgleich ich so stolze Gedanken hätte, während ich so über die +Straße kutschierte, würde ich doch einen Wandrer bemerken, der mit dem +Ränzel auf dem Rücken und einem großen Bügeleisen in der Hand am +Wegesrand ginge. Und ich würde zu mir selbst sagen: Sieh da! Da geht der +alte lustige Schneider Lilje! Der arme Teufel muß das Ränzel und das +Bügeleisen schleppen. Ich will ihn doch fragen, ob er nicht ein Stück in +meinem Schlitten fahren will.</p> + +<p>»Und nun stelle ich mir dies vor: wenn Schneider Lilje das Bügeleisen +und das Ränzel in den Schlitten gelegt und sich selbst auf die Kufen +gestellt hätte, würden er und ich bald ins Gespräch kommen.</p> + +<p>Schneider Lilje würde fragen, wohin ich denn mit der schönen Truhe +wolle, und ich würde es nicht lassen können, ihm zu erzählen, was darin +sei. >Sieht er, Lilje,< würde ich wohl sagen, >diese Truhe enthält das +große Buch, das ich geschrieben habe, und jetzt fahre ich damit zur +Svartsjöer Kirche und verwahre es dort. Wir wollen die Truhe versperren +und versiegeln, der<span class='pagenum'><a name="Page_176" id="Page_176">[Pg 176]</a></span> Pfarrer und ich; und niemand darf sie vor dem Jahre +neunzehnhundert öffnen.«</p> + +<p>»Aber nun würde es mir auffallen, daß Lilje die ganze Zeit still bliebe, +und er pflegte doch sonst keine Minute lang schweigen zu können, und +dies würde mich so verwundern, daß ich schließlich fragen müßte: >Was +ist denn in ihn gefahren, Lilje, woran denkt er denn?< Und siehst du, +Frau, wenn Lilje dann antwortete, daß er sich überlege, ob er mich um +etwas bitten dürfte, dann würde ich ihm gleich die Erlaubnis geben, frei +von der Leber weg zu sprechen.</p> + +<p>»Wahrscheinlich hätte ich in diesem Augenblicke nicht sehr auf Liljes +Geschichte aufgepaßt, aber später würde ich mich doch an jedes Wort +davon erinnern können. Ich würde mich erinnern, daß Lilje sagte, er habe +vor ein paar Tagen einen Landstreicher getroffen, der sterbend am +Wegesrande lag. Dieser Mann habe Lilje gebeten, ein kleines Päckchen, +das er ihm reichte, in Verwahrung zu nehmen. Er habe ihm aufgetragen, es +irgendwo aufzuheben, wo niemand es finden könnte. Er dürfte es nicht +vernichten. Und wenn er so alt würde, daß alle, die jetzt lebten, tot +wären, dann dürfte er es öffnen, sonst sollte er es einem andern zur +Aufbewahrung anvertrauen. Und Lilje habe es nicht übers Herz gebracht, +einem Sterbenden seine letzte Bitte abzuschlagen, und habe das Päckchen +entgegengenommen.</p> + +<p>»Nun, wenn mir Lilje all dies erzählt hätte, dann würde ich natürlich +gesagt haben: >Es ist schon<span class='pagenum'><a name="Page_177" id="Page_177">[Pg 177]</a></span> gut, Lilje, ich versteh, wo er hinaus will. +Er darf das Päckchen hier in meine Truhe legen.«</p> + +<p>»Und ich hätte das Pferd angehalten und die Truhe geöffnet, und wir +hätten Liljes Päckchen hineingetan. Ich hätte der Sache so wenig Gewicht +beigelegt, daß ich es kaum angeschaut hätte. Aber nachher würde ich es +wohl oft vor Augen gesehn haben. Es war ein blaues Kuvert ohne Adresse, +ohne ein geschriebnes Wort. Es sah aus, als enthielte es Papiere, aber +sonst konnte man in keiner Weise erraten, was für Geheimnisse es bergen +mochte.</p> + +<p><ins title="Ja">»Ja,«</ins> sagte der Pfarrer, »heute morgen versetzte ich mich in die ganze +Sache hinein und fand es ganz natürlich, daß alles so zugegangen wäre, +und stellte mir auch vor, daß ich, nachdem Lilje bei einem Kreuzweg aus +dem Schlitten gestiegen wäre, wohl gar nicht weiter an ihn gedacht, +sondern nur in Gedanken mein Buch noch ein letztes Mal durchgegangen und +gefunden hätte, daß alles darin makellos und vollendet sei, und daß kein +Wort geändert zu werden brauche.«</p> + +<p>»Ja, wenn ich in Eberhard Berggrens Haut gesteckt hätte, wäre ich auch +nach der Ankunft in Svartsjö und während die Truhe versperrt und +versiegelt wurde, in derselben fröhlichen Laune gewesen. Aber wenn mir +dann der Pfarrer in Svartsjö gesagt hätte, dies könne ja jederzeit +wieder rückgängig gemacht werden, falls es mich reuen sollte, dann hätte +ich vielleicht etwas heftig geantwortet, weil es mich geärgert hätte, +daß er glaubte, ich hätte mir nicht genau überlegt, was ich tat. >Nein,<span class='pagenum'><a name="Page_178" id="Page_178">[Pg 178]</a></span> +Bruder, hier kann keine Reue in Frage kommen,< hätte ich wohl +geantwortet. >Aber eines verspreche ich dir, Bruder: wenn dein Gott mich +zwingen kann, diese Truhe zu öffnen, dann will ich alles vernichten, was +ich gegen ihn geschrieben habe.«</p> + +<p>»Und wenn dann der Pfarrer in Svartsjö mich ermahnt hätte, Ihn nicht +herauszufordern, der stärker sei als ich, dann hätte ich erwidert, daß +ich nur jemand herausforderte, der bloß in der Einbildung der Menschen +existierte.</p> + +<p>»Glaubst du nicht, daß ich ganz so geantwortet hätte, wenn ich der +Magister Eberhard gewesen wäre?« fragte der Pfarrer und sah die Frau +noch einmal Zustimmung heischend an.</p> + +<p>»Ach ja,« antwortete die Frau und nickte, »das glaube ich schon. Du bist +ja schon völlig so wie der alte Eberhard.«</p> + +<p>»Ja, darum handelt es sich eben,« sagte der Pfarrer. »Man muß ganz eins +mit dem Manne sein, den man beurteilen soll. Sonst kann man nicht zur +Klarheit kommen.«</p> + +<p>»Und glaubst du nun nicht,« fuhr er fort, »glaubst du, die du mich +kennst, nicht, daß ich mich, wenn ich Eberhard Berggren gewesen wäre, in +demselben Augenblick, wo ich mich in den Schlitten setzte, um nach Ekeby +zurückzufahren, — daß ich mich da nicht tief unglücklich gefühlt hätte? +Glaubst du nicht, daß ich eine ganz furchtbare Sehnsucht nach meiner +Arbeit empfunden hätte? Obgleich ich mir ja sagen müßte, daß es ein<span class='pagenum'><a name="Page_179" id="Page_179">[Pg 179]</a></span> +Glück sei, fertig zu sein, wäre ich doch furchtbar niedergeschlagen +gewesen. Und glaubst du nicht, daß plötzlich das Alter über mich +gekommen wäre, und daß die Krankheit, die ich bis dahin durch meinen +Willen hatte unterjochen können, mir jetzt so arg zugesetzt hätte, daß +ich mich kaum aufrecht zu erhalten vermochte, bis ich zu Hause anlangte. +Nicht wahr, glaubst du nicht auch, daß es so gekommen wäre?«</p> + +<p>»Ich kann nicht recht wissen, was ich glauben soll,« sagte die Frau, +»aber ich denke schon, daß deine Arbeit dir gefehlt hätte.«</p> + +<p>»Ja,« sagte der Pfarrer, »dies alles stellte ich mir heute morgen so +vor. Ich wußte, daß ich nicht nur mein Buch vermissen, sondern daß ich +auch furchtbar krank werden würde. Das Übel würde mit so furchtbarer +Kraft über mich hereinbrechen, weil solch ein alter Mann, wie ich es +wäre, jetzt gar nichts mehr hätte, womit er es zurückdrängen könnte, +nichts, wofür er leben müßte, und so bliebe mir nichts anderes übrig, +als mich hinzulegen und auf den Tod zu warten.</p> + +<p>»Du wirst wissen, daß es damals hier im Ort keinen Arzt gab; aber +irgendeine weise Frau wäre wohl gerufen worden, und sie hätte die +Krankheit erkannt und gesagt, es sei Krebs. Und merkwürdigerweise wäre +dies fast als ein Glück angesehen worden; denn damals glaubte man gar +nicht, daß diese Krankheit unbedingt zum Tode führen müsse. Es gab +nämlich eine alte Familie — Amnérus hieß sie wohl —, und die besaß ein +Rezept, das den Krebs heilen konnte.<span class='pagenum'><a name="Page_180" id="Page_180">[Pg 180]</a></span> Es wurde als ein großer Schatz +betrachtet, streng geheim gehalten und vererbte sich wie ein Majorat in +der Familie.</p> + +<p>»Und nun kannst du dir wohl denken: Frau, wenn ich ein alter kranker +Mann wäre, würde ich den ersten Tag benützen, an dem mir so wohl wäre, +daß ich in einem Schlitten sitzen könnte, um zu diesen Leuten mit Namen +Amnérus zu fahren, die das Rezept besäßen und Heilung für die +furchtbaren Qualen hätten.</p> + +<p>»Nun denke ich mir also, siehst du, Frau, daß ich bei der Familie +Amnérus angefahren käme. Sie wohnten tief drinnen im Walde. Es gab keine +Felder, keinen Garten, sondern der Wald stand bis dicht ans Haus heran. +Und die Menschen dort waren klein und lichtscheu und trugen +altväterische Kleider und hatten dünne, piepsende Stimmen.</p> + +<p>»Ich denke, es würde mir sogleich auffallen, wie erschrocken sie +aussähen, da sie mich erblickten. Ich würde zuerst gar nicht begreifen, +warum sie davonlaufen zu wollen schienen, wenn ich mein Anliegen +vorbrächte. Aber bald würde die Reihe, Angst zu haben, an mir sein. Denn +ich würde erfahren, daß der Grund ihres Schreckens der sei, daß sie das +Rezept nicht mehr hätten. Ja, was glaubst du, Frau, würde wohl ein armer +Kranker fühlen, wenn er hörte, daß dieses Rezept ihnen von einem Knecht +gestohlen sei, der in ihrem Dienst gestanden hätte, und sich aus +irgendeinem Grunde an ihnen rächen wollte? Was<span class='pagenum'><a name="Page_181" id="Page_181">[Pg 181]</a></span> würde ein Todkranker, +der Linderung und Besserung erwartet hätte, denken, wenn sie die +Geheimlade des Sekretärs herauszögen, wo sie das Rezept zu verwahren +pflegten, und ihm zeigten, daß sie leer sei. Ja, sie sei leer; sie +hätten keine Macht mehr über die Krankheit.</p> + +<p>»Natürlich würde der Kranke sie fragen, ob sie denn die Mischung nicht +so gut kennten, daß sie sie ohne Rezept zu bereiten vermöchten. Aber das +wäre nicht der Fall. Niemand von ihnen kennte das Heilmittel; denn die +Sache wäre so strenge geheimgehalten worden, daß immer nur eine Person +sich hätte damit befassen dürfen. Und die unter den Schwestern, die die +Bereitung des Heilmittels gekannt hätte, wäre an dem Tage, bevor es +gestohlen worden, gestorben. Der Dieb hätte sich gerade diesen Zeitpunkt +ausgewählt, sonst hätte er ja keinen Schaden gestiftet. Aber wo der Dieb +sich jetzt befände, das wüßten sie nicht. Es wäre ein versoffener wilder +Geselle gewesen, vielleicht wäre er schon bei irgendeiner Schlägerei ums +Leben gekommen. Nur eines wüßten sie sicher, daß er das Rezept genommen +hätte. Denn ehe er fortgegangen wäre, hätte er den Mägden ein blaues +Kuvert gezeigt und sich gerühmt, daß die Herrschaft ihn noch vermissen +würde.</p> + +<p>»Und nun weiß ich ganz gewiß: wenn ich solch ein kranker Mann gewesen +wäre, ich würde, wenn ich dies von dem blauen Kuvert gehört hätte, kein +Wort weiter gefragt haben, sondern wäre aus dem Zimmer<span class='pagenum'><a name="Page_182" id="Page_182">[Pg 182]</a></span> gegangen, hätte +mich in den Wagen gesetzt und wäre davongefahren.</p> + +<p>»Ja, nur davongefahren, Frau, um allein zu sein und die Sache mit mir +selbst durchzudenken. Dieses blaue Kuvert, dieses blaue Kuvert, ich +würde natürlich sogleich wissen, wo es wäre. Und ich hätte doch erst +einige wenige Tage zuvor gesagt: >Wenn dein Gott mich zwingen kann, +diese Truhe zu öffnen, dann — —< Nein, nein, es wäre nicht zugänglich, +dieses Rezept, ohne daß meine ganze Lebensarbeit vernichtet würde. Aber +in dieser Arbeit lebte Eberhard Berggren in Jugend und Klarheit; was +sonst auf Erden von ihm übrig wäre, das sei nur ein abgelebter Greis. In +früheren Tagen hätte Eberhard Berggren seine Arbeit höher geschätzt als +Freude und Lust und Liebe. Und dann würde ich wohl die Fäuste ballen und +denken — —«</p> + +<p>Der Pfarrer trat dicht an seine Frau heran. »Du, die du mich kennst, — +was, glaubst du, hätte ich beschlossen, wenn ich solch ein alter Mann +wäre? Bedenke, daß ich felsenfest glauben würde, daß mein Buch das beste +und weiseste Buch sei, das je geschrieben wurde, und bedenke, daß ich +glauben würde, daß das Rezept mich unfehlbar gesund machen könne. Sage, +wie glaubst du, daß ich gehandelt hätte?«</p> + +<p>»Ich glaube wohl, du hättest dich dafür entschieden, für dein Buch zu +sterben,« sagte die Frau.</p> + +<p>»Ja,« sagte der Pfarrer, »ich hätte die Fäuste geballt und gedacht, daß +ich dieses Rezept ja gar nicht<span class='pagenum'><a name="Page_183" id="Page_183">[Pg 183]</a></span> so notwendig brauchte, — ich könnte ja +sterben. Und glaubst du auch, daß ich an meinem Vorsatze festgehalten +hätte?«</p> + +<p>»Ich weiß nicht,« sagte die Pastorin, »ich kenne dich nicht gut genug. +Wenn es sich nur um den Tod gehandelt hätte. Aber nun waren da ja auch +die Schmerzen.«</p> + +<p>»Ich hätte innerlich gekämpft,« sagte der Pfarrer, »und in den ersten +Tagen wäre die Krankheit sogar ein wenig zurückgewichen, weil ich den +festen Entschluß gefaßt hätte, sie ihr Schlimmstes tun zu lassen. Aber +nach ein paar Wochen hätte sie mich mit erneuter Kraft überfallen, und +man hätte mir oben im Kavaliersflügel wieder ein Lager gebettet, und da +hätte ich einsam gelegen, den ganzen Tag lang, und hätte mit den +Schmerzen gekämpft.</p> + +<p>»Und ich glaube wohl, wenn ich solch ein alter, unerschütterlicher Mann +gewesen wäre, dann hätte ich zuweilen ganz gegen meinen Willen die +Vorstellung gehabt, daß ich gegen Gott kämpfte. Ich hätte den Gedanken +von mir gewiesen. Ich hätte gedacht, daß ich nicht mit jemandem kämpfen +könne, der gar nicht da wäre. Es sei doch ein bloßer Zufall, würde ich +sagen, daß ich Lilje mit dem Rezepte begegnet sei. Es sei durchaus keine +lenkende Vorsehung, die ihn mir geschickt hätte. Es gäbe keine +Vorsehung, und so könne sie auch nichts schicken.</p> + +<p>»Aber einmal ums andre würde mir die Vorstellung kommen, daß ich daläge +und mit unserm<span class='pagenum'><a name="Page_184" id="Page_184">[Pg 184]</a></span> Herrgotte ränge. Vielleicht würde es mancher als Milde +und Gnade betrachten, daß du mich wissen ließest, wo das gestohlene +Rezept zu finden sei. Der Dieb hätte es ja ebensogut vernichten können. +Du willst wohl, daß ich es als eine sonderliche Gnade ansehe, daß es in +Liljes Hände kam. Aber ich wünsche, es wäre vernichtet worden. Ich sehe +es nicht als eine Gnade an, daß ich weiß, wo es zu finden ist. Ich +betrachte es — — Ja, und dann würde ich mich wieder erinnern, daß ich +in meinem Buch doch ganz unwiderleglich bewiesen hätte, daß es keinen +Gott gebe, und würde den Zwist abbrechen.</p> + +<p>»Ich denke, es muß eine große Versuchung, eine furchtbare Versuchung für +den alten kranken Magister Eberhard gewesen sein: nur ein Wort an den +Pfarrer in Svartsjö, und er hätte das Heilmittel in seiner Hand! Glaubst +du nicht, daß er um dieser Versuchung willen die Qualen noch tausendmal +verschärft empfand? Es handelte sich um einen furchtbaren Preis; aber +wer wirklich krank ist, fragt wohl nach nichts anderm als nach der +Gesundheit.</p> + +<p>»Doch immerhin — wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, ich hätte +versucht, auszuharren; hätte versucht, Gott und den Menschen zu zeigen, +was Manneskraft vermag.</p> + +<p>»Aber am schlimmsten wäre es an dem Tage gewesen, an dem Schneider Lilje +auf den Hof gekommen wäre. Da wären die Qualen so furchtbar gewesen, daß +ich in jeder Stunde meinen Tod erwartete.<span class='pagenum'><a name="Page_185" id="Page_185">[Pg 185]</a></span> Und da wäre mir wohl der +Gedanke gekommen, daß ich jemand sagen müßte, was in diesem blauen +Kuvert sei. Denn plötzlich hätte mich der Gedanke <ins title="beängstigt daß">beängstigt, daß</ins> ich +ein großes Unrecht gegen meine Mitmenschen beginge, wenn ich nicht +sagte, wo dieses unschätzbare Heilmittel zu finden sei. Ich könnte es ja +so einrichten, daß es erst nach meinem Tode hervorgenommen würde. Dann +hätte nicht ich die Truhe geöffnet, dann könnte ja meine Arbeit +unberührt liegen bleiben.</p> + +<p>»Ich würde mir wohl denken, daß es am sichersten wäre, das Geheimnis +niederzuschreiben, und niemanden vor meinem Tode von dieser Schrift +Kenntnis erlangen zu lassen. Aber siehst du, Frau, es wäre wohl für +einen Todkranken, dem die geringste Bewegung Qualen verursacht, nicht so +leicht, die Feder zu führen.</p> + +<p>»Und schließlich hätte ich wohl Lilje hereingerufen und ihm das +Geheimnis anvertraut und ihm befohlen, das gestohlne Kuvert den +Eigentümern zurückzugeben. Aber zu gleicher Zeit hätte ich ihm streng +verboten, es vor meinem Tode aus der Truhe zu nehmen. Erst wenn ich in +den Kirchhof gebettet wäre, dürfte er zu dem Pfarrer in Svartsjö gehen +und mit ihm sprechen.</p> + +<p>»Du kannst sicher sein, sobald ich mit Lilje gesprochen hätte, würde es +mich wieder gereut haben. Man könnte sich doch auf einen solchen Kerl +nicht verlassen. Es wäre klar, ich hätte jemandem sagen müssen, wo das +Rezept zu finden sei. Aber ich hätte es niederschreiben sollen. Ich +hätte niemanden vor meinem Tode darum wissen lassen dürfen.<span class='pagenum'><a name="Page_186" id="Page_186">[Pg 186]</a></span></p> + +<p>»Und bei alledem hätte ich mit der stummen geheimen Hoffnung dagelegen, +daß Lilje mir ungehorsam sein könnte.</p> + +<p>»Ein paar Tage später würde ich etwas Eignes, Geheimnisvolles an der +Frau bemerken können, die mich pflegte. Ich würde sehen, daß sie eine +ganz besonders frohe und feierliche Miene machte, wenn sie mit einem +warmen Trunke zu mir hereinkäme. Ich würde erschrecken, und ich würde +mir selbst zuflüstern: Hüte dich, trinke nicht! Es kostet dich die +Arbeit deines ganzen Lebens!</p> + +<p>»Aber trotzdem, siehst du, Frau, würde ich wohl den Kopf vorstrecken und +trinken; und mit jedem Tropfen, der über meine Lippen käme, würde ich +Linderung fühlen. Ich würde das Glas von mir schieben wollen, wenn es +halb geleert wäre, aber ich würde es nicht können. Und wenn ich es +geleert hätte, würde ich mich auf einmal ganz gesund fühlen und vor +Freude weinen.</p> + +<p>»Nun will ich dir sagen, wie es mir weiter ergangen wäre, wenn ich der +alte Eberhard gewesen wäre. Am nächsten Tage wären die Schmerzen +wiedergekommen, und da hätte ich wieder von diesem Trank getrunken. Da +hätten die Schmerzen aufgehört und wären in kleinen Zwischenräumen +wieder zum Leben erwacht, aber am dritten Tage wären sie ganz +verschwunden gewesen. Und ich würde sehr wohl wissen, was für einen +Trank man mir gegeben hätte, ich würde begreifen, daß ich eine +Niederlage erlitten hätte,<span class='pagenum'><a name="Page_187" id="Page_187">[Pg 187]</a></span> aber ich wäre allzu glücklich, um weiter +danach zu fragen.</p> + +<p>»Dann würde ich wieder umhergehen und mich ganz gesund fühlen. Aber ich +würde mich wohl hüten, jemand zu fragen, woher der Trank gekommen wäre, +der mich geheilt hätte. Und ich glaube ganz gewiß nicht, daß mir jemand +sagen würde, daß man die Truhe eröffnet und das Rezept herausgenommen +hätte. Niemand würde es sagen, aber ich würde es doch wissen. Ich würde +nach Svartsjö fahren und mir die Truhe ansehen, und sie würde versperrt +und versiegelt in der Kirche stehen, aber ich würde doch wissen, daß sie +eröffnet worden wäre. Und dann — —«</p> + +<p>»Würdest du dich dann für <ins title="verflichtet">verpflichtet</ins> halten, dein Buch zu vernichten?« +fragte die Pastorsfrau.</p> + +<p>»Ich glaube wohl, daß ich versuchen würde, Schlupfwinkel und Ausflüchte +zu finden, aber ich würde nicht leugnen können, daß ich, wenn ich ein +Ehrenmann sein wollte, mein Buch vernichten müßte.«</p> + +<p>»Und würdest du es auch tun?«</p> + +<p>»Ja, was glaubst du? Bedenke jetzt auch recht, was dieses Buch für mich +bedeuten würde! Wäre es vernichtet, so wäre auch mein Name und mein Ruhm +vernichtet.«</p> + +<p>Die Pastorin sah mit einem warmen Blick zu ihrem Mann auf.</p> + +<p>»Ja, du hast es vernichtet,« sagte sie, »du hast es vernichtet!«</p> + +<p>»Ich danke dir,« sagte der Pastor.<span class='pagenum'><a name="Page_188" id="Page_188">[Pg 188]</a></span></p> + +<p>Eine Weile ging er schweigend weiter.</p> + +<p>»Nun aber: was denkst du jetzt von der Truhe?« fragte die Frau.</p> + +<p>»Ich denke, daß es nicht gefährlich sein kann, sie zu öffnen. Du hast +meine Frage jetzt so beantwortet, wie ich es wünschte.«</p> + +<p>»Du und Magister Eberhard, ihr seid nicht eine und dieselbe Person,« +sagte die Frau.</p> + +<p>»Liebes Kind,« sagte der Pfarrer. »Wir wissen ja, daß der alte Eberhard +alles, was ich jetzt erzählt habe, durchgemacht hat, und daß man die +Truhe öffnen mußte, um das Rezept herauszunehmen, das ihn heilte. Aber +wir dürfen nicht glauben, daß Magister Eberhard ein schlechterer Mann +gewesen sei als irgendeiner von uns. Es ist, seit ich nun die Sache +durchdacht habe, mein fester Glaube, daß er in aller Heimlichkeit die +Schrift aus der Truhe genommen hat, und daß das große Buch des +Unglaubens längst, längst vernichtet ist.«</p> + +<p>»Aber die Truhe steht doch noch mit allen ihren Siegeln da.«</p> + +<p>»Ja, siehst du,« sagte der Pastor lächelnd, »allzuviel darfst du von +einem alten Philosophen nicht verlangen. Du kannst nicht von ihm +verlangen, daß er alle Menschen wissen lasse, daß er gezwungen war, +nachzugeben. Ich glaube wohl, es war das Natürlichste, daß er die Truhe +auf alle Fälle stehen ließ, wie sie stand. Er konnte es wohl nicht +ertragen, daß alle Bekannten zu ihm kämen und sagten, jetzt müsse er +wohl bekehrt sein und an Gott glauben.«<span class='pagenum'><a name="Page_189" id="Page_189">[Pg 189]</a></span></p> + +<p>Die Frau grübelte ein wenig nach, und dann sagte sie: »Ja, das werden +wir jetzt bald sehen, denn nun willst du sicherlich die Truhe öffnen.«</p> + +<p>»Ja, jetzt öffne ich sie mit frohem Mut,« sagte der Pastor.</p> + +<p>Und wenn das junge Jahr so um die Mittagszeit des Neujahrtags +neunzehnhundert in den Wolken über der Svartsjöer Kirche geschwebt +hätte, da hätte es den Pfarrer und die angesehensten Männer des +Kirchspiels um eine schöne alte Mosaiktruhe versammelt gesehen. Und als +sie feierlich eröffnet wurde, da enthielt sie ein paar Pakete: alte +Gerichtsverhandlungen und Zeitungen.</p> + +<p>Aber von gottesleugnerischer, himmelstürmender Philosophie, — nicht +eine Zeile.<span class='pagenum'><a name="Page_190" id="Page_190">[Pg 190]</a></span></p> + +<h2><a name="Die_Legende_von_der_Christrose" id="Die_Legende_von_der_Christrose"></a>Die Legende von der Christrose</h2> + +<p>Die Räubermutter, die in der Räuberhöhle oben im Göinger Walde hauste, +hatte sich eines Tages auf einen Bettelzug in das Flachland hinunter +begeben. Der Räubervater selbst war ein friedloser Mann und durfte den +Wald nicht verlassen, sondern mußte sich damit begnügen, den +Wegfahrenden aufzulauern, die sich in den Wald wagten; doch zu der Zeit, +als der Räubervater und die Räubermutter sich in dem Göinger Wald +aufhielten, gab es im nördlichen Schoonen nicht allzuviel Reisende. Wenn +es sich also begab, daß der Räubervater ein paar Wochen lang Pech mit +seiner Jagd hatte, dann machte sich die Räubermutter auf die +Wanderschaft. Sie nahm ihre fünf Kinder mit, und jedes der Kleinen hatte +zerfetzte Fellkleider und Holzschuhe und trug auf dem Rücken einen Sack, +der gerade so lang war wie es selbst. Wenn die Räubermutter zu einer +Haustüre hereinkam, dann wagte niemand, ihr das zu verweigern, was sie +verlangte, denn sie bedachte sich keinen Augenblick, in der nächsten +Nacht zurückzukehren und das Haus anzuzünden, in dem man sie nicht +freundlich aufgenommen hatte.<span class='pagenum'><a name="Page_191" id="Page_191">[Pg 191]</a></span> Die Räubermutter und ihre +Nachkommenschaft waren ärger als die Wolfsbrut, und gar mancher hatte +Lust, ihnen seinen guten Speer nachzuwerfen, aber dies geschah niemals; +denn man wußte, daß der Mann dort oben im Walde hauste und sich zu +rächen wissen würde, wenn den Kindern oder der Alten etwas zuleide +geschähe.</p> + +<p>Wie nun die Räubermutter so von Hof zu Hof zog und bettelte, kam sie +eines schönen Tages nach Öved, das zu jener Zeit ein Kloster war. Sie +klingelte an der Klosterpforte und verlangte etwas zu essen, und der +Türhüter ließ ein kleines Schiebfensterchen herab und reichte ihr sechs +runde Brote, eines für sie und eines für jedes Kind.</p> + +<p>Aber während die Räubermutter so still vor der Klosterpforte stand, +liefen ihre Kinder umher. Und nun kam eines von ihnen heran und zupfte +sie am Rocke, zum Zeichen, daß es etwas gefunden hätte, was sie sich +ansehen sollte, und die Räubermutter ging auch gleich mit ihm.</p> + +<p>Das ganze Kloster war von einer hohen, starken Mauer umgeben, aber der +kleine Junge hatte es zustande gebracht, ein kleines Hintertürchen zu +finden, das angelehnt stand. Als die Räubermutter hinkam, stieß sie +sogleich das Pförtchen auf und trat, ohne erst viel zu fragen, ein, wie +es eben bei ihr der Brauch war.</p> + +<p>Aber das Kloster Öved wurde zu jener Zeit von Abt Johannes regiert, der +ein gar pflanzenkundiger<span class='pagenum'><a name="Page_192" id="Page_192">[Pg 192]</a></span> Mann war. Er hatte sich hinter der +Klostermauer einen kleinen Lustgarten angelegt, und in diesen drang nun +die Räubermutter ein.</p> + +<p>Im ersten Augenblick war sie so erstaunt, daß sie regungslos stehen +blieb. Es war Hochsommerzeit, und der Garten des Abtes Johannes stand so +voll von Blumen, daß es einem blau, und rot und gelb vor den Augen +flimmerte, wenn man hineinsah. Aber bald zeigte sich ein vergnügtes +Lächeln auf dem Gesicht der Räubermutter, und sie begann einen schmalen +Gang hinunterzugehen, der zwischen vielen kleinen Blumenbeeten +durchlief.</p> + +<p>Im Garten stand der Laienbruder, der Gärtnergehilfe war, und jätete das +Unkraut aus. Er war es, der die Tür in der Mauer halb offen gelassen +hatte, um Queckengras und Melde auf den Kehrichthaufen davor werfen zu +können. Als er die Räubermutter mit ihren fünf Bälgern hinter sich her +in den Lustgarten treten sah, stürzte er ihnen sogleich entgegen und +befahl ihnen, sich zu trollen. Aber die alte Bettlerin ging weiter, als +sei nichts geschehen. Sie ließ die Blicke hinauf und hinab wandern, sah +bald die starren weißen Lilien an, die sich auf einem Beet ausbreiteten, +und bald den Efeu, der die Klosterwand hoch emporkletterte, und +bekümmerte sich nicht im geringsten um den Laienbruder.</p> + +<p>Der Laienbruder dachte, sie hätte ihn nicht verstanden. Da wollte er sie +am Arm nehmen, um sie nach dem Ausgang umzudrehen. Aber als die +Räuber<span class='pagenum'><a name="Page_193" id="Page_193">[Pg 193]</a></span>mutter seine Absicht merkte, warf sie ihm einen Blick zu, vor dem +er zurückprallte. Sie war unter ihrem Bettelsack mit gebeugtem Rücken +gegangen, aber jetzt richtete sie sich zu ihrer vollen Höhe auf. — »Ich +bin die Räubermutter aus dem Göinger Wald,« sagte sie, »rühr mich nur +an, wenn du es wagst.« Und es sah aus, als ob sie nach diesen Worten +ebenso sicher wäre, in Frieden von dannen zu ziehen, als hätte sie +verkündet, daß sie die Königin von Dänemark sei.</p> + +<p>Aber der Laienbruder wagte es dennoch, sie zu stören, obgleich er jetzt, +wo er wußte, wer sie war, recht sanftmütig zu ihr sprach. — »Du mußt +wissen, Räubermutter,« sagte er, »daß dies ein Mönchskloster ist, und +daß es keiner Frau im Lande verstattet wird, hinter diese Mauer zu +kommen. Wenn du nun nicht deiner Wege gehst, dann werden die Mönche mir +zürnen, weil ich vergessen habe, das Tor zu schließen, und sie werden +mich vielleicht von Kloster und Garten verjagen.«</p> + +<p>Doch solche Bitten waren an die Räubermutter verschwendet. Die ging +weiter durch die Rosenbeete und guckte sich den Ysop an, der mit +lilafarbnen Blüten bedeckt war, und das <ins title="Kaprifoliuum">Kaprifolium</ins>, das voll rotgelber +Blumentrauben hing.</p> + +<p>Da wußte sich der Laienbruder keinen andern Rat, als in das Kloster zu +laufen und um Hilfe zu rufen.</p> + +<p>Er kam mit zwei handfesten Mönchen zurück, und die Räubermutter sah +sogleich, daß es nun Ernst wurde. Sie stellte sich breitbeinig in den +Weg und begann mit<span class='pagenum'><a name="Page_194" id="Page_194">[Pg 194]</a></span> gellender Stimme herauszuschreien, welche furchtbare +Rache sie an dem Kloster nehmen würde, wenn sie nicht im Lustgarten +bleiben dürfte, solange sie wollte. Aber die Mönche meinten, daß sie sie +nicht zu fürchten brauchten, und sie dachten nur daran, sie zu +vertreiben. Da stieß die Räubermutter schrille Schreie aus, stürzte sich +auf sie und kratzte und biß, und ebenso machten es alle ihre Sprossen. +Die drei Männer merkten bald, daß sie ihnen überlegen war. Es blieb +ihnen nichts andres übrig, als in das Kloster zu gehen und Verstärkung +zu holen.</p> + +<p>Wie sie über den Pfad liefen, der in das Kloster führte, begegneten sie +dem Abt Johannes, der herbeigeeilt war, um zu sehen, was für ein Lärm +das wäre, den man vom Lustgarten hörte. Da mußten sie gestehen, daß die +Räubermutter aus dem Göinger Walde in das Kloster gedrungen war; sie +hätten nicht vermocht, sie zu vertreiben, und wollten sich nun Entsatz +schaffen.</p> + +<p>Aber Abt Johannes tadelte sie, daß sie Gewalt angewendet hätten, und +verbot ihnen, um Hilfe zu rufen. Er schickte die beiden Mönche zu ihrer +Arbeit zurück, und obgleich er ein alter, gebrechlicher Mann war, nahm +er nur den Laienbruder mit in den Garten.</p> + +<p>Als Abt Johannes dort anlangte, ging die Räubermutter wie zuvor zwischen +den <ins title="Beeten">Beeren</ins> umher. Und er konnte sich nicht genug über sie wundern. Er +war ganz sicher, daß die Räubermutter nie zuvor in ihrem Leben einen +Lustgarten erblickt hätte. Aber wie dem<span class='pagenum'><a name="Page_195" id="Page_195">[Pg 195]</a></span> auch sein mochte, — sie ging +zwischen allen den kleinen Beeten umher, die jedes mit einer andern Art +fremder und seltsamer Blumen bepflanzt waren, und betrachtete sie, als +wären es alte Bekannte. Es sah aus, als hätte sie schon öfters Immergrün +und Salbei und Rosmarin gesehen. Einigen lächelte sie zu, und über andre +wieder schüttelte sie den Kopf.</p> + +<p>Abt Johannes liebte seinen Garten mehr als alle andern Dinge, die +irdisch und vergänglich sind. So wild und grimmig die Räubermutter auch +aussah, so konnte er es doch nicht lassen, Gefallen daran zu finden, daß +sie mit drei Mönchen gekämpft hatte, um ihn in Ruhe zu betrachten. Er +ging auf sie zu und fragte sie freundlich, ob ihr der Garten gefalle.</p> + +<p>Die Räubermutter wendete sich heftig gegen Abt Johannes, denn sie war +nur auf Hinterhalt und Überfall gefaßt, aber als sie seine weißen Haare +und seinen gebeugten Rücken sah, da antwortete sie ganz freundlich: »Als +ich ihn zuerst erblickte, da schien es mir, als ob ich nie etwas +Schöneres gesehen hätte, aber jetzt merke ich, daß er sich mit einem +andern nicht messen kann, den ich kenne.«</p> + +<p>Abt Johannes hatte sicherlich eine andre Antwort erwartet. Als er hörte, +daß die Räubermutter einen Lustgarten kennte, der schöner wäre, als der +seine, bedeckten sich seine runzeligen Wangen mit einer schwachen Röte.</p> + +<p>Der Gärtnergehilfe, der daneben stand, begann auch sogleich die +Räubermutter zurechtzuweisen.<span class='pagenum'><a name="Page_196" id="Page_196">[Pg 196]</a></span>»Dies ist Abt Johannes, Räubermutter,« +sagte er, »der selber mit großem Fleiß und Mühe von fern und nah die +Blumen für seinen Garten gesammelt hat. Wir wissen alle, daß es im +ganzen schoonischen Land keinen reicheren Lustgarten gibt, und es steht +dir, die du das ganze liebe Jahr im wilden Walde hausest, wahrlich übel +an, sein Werk meistern zu wollen.«</p> + +<p>»Ich will niemand meistern, weder ihn, noch dich,« sagte die +Räubermutter, »ich sage nur, wenn ihr den Lustgarten sehen könntet, an +den ich denke, dann würdet ihr jegliche Blume, die hier steht, ausraufen +und sie als Unkraut fortwerfen.«</p> + +<p>Aber der Gärtnergehilfe war kaum weniger stolz auf die Blumen als Abt +Johannes selbst, und als er diese Worte hörte, begann er höhnisch zu +lachen. — »Ich kann mir wohl denken, daß du nur so schwätzest, +Räubermutter, um uns zu reizen,« sagte er, »das wird mir ein schöner +Garten sein, den du dir unter Tannen und Wacholderbüschen im Göinger +Walde eingerichtet hast! Ich wollte meine Seele verschwören, daß du +überhaupt noch nie hinter einer Gartenmauer gewesen bist.«</p> + +<p>Die Räubermutter wurde rot vor Ärger, daß man ihr also mißtraute, und +sie rief: »Es mag wohl sein, daß ich niemals vor heute hinter einer +Gartenmauer gestanden habe, aber ihr Mönche, die ihr heilige Männer +seid, solltet wohl wissen, daß der große Göinger Wald sich in jeder +Weihnachtsnacht in einen Lustgarten verwandelt, um die Geburtsstunde +unseres Herrn und<span class='pagenum'><a name="Page_197" id="Page_197">[Pg 197]</a></span> Heilands zu feiern. Wir, die wir im Walde leben, +haben dies nun jedes Jahr geschehen sehen, und in diesem Lustgarten habe +ich so herrliche Blumen geschaut, daß ich es nicht wagte, die Hand zu +erheben, um sie zu brechen.«</p> + +<p>Da lachte der Laienbruder noch lauter und stärker: »Es ist gar leicht +für dich, dazustehen und mit derlei zu prahlen, was kein Mensch sehen +kann. Aber ich kann nicht glauben, es könnte etwas andres als Lüge sein, +daß der Wald Christi Geburtsstunde an einer solchen Stelle feiern +sollte, wo so unheilige Leute wohnen, wie du und der Räubervater.« — +»Und das, was ich sage, ist doch ebenso wahr,« entgegnete die +Räubermutter, »wie daß du es nicht wagen würdest, in einer +Weihnachtsnacht in den Wald zu kommen, um es zu sehen.« Der Laienbruder +wollte ihr von neuem antworten, aber Abt Johannes bedeutete <ins title="ihn">ihm</ins> durch +ein Zeichen, stillzuschweigen. Denn Abt Johannes hatte schon seit seiner +Kindheit erzählen hören, daß der Wald sich in der Weihnachtsnacht in ein +Feierkleid hülle. Er hatte sich oft danach gesehnt, es zu sehen, aber es +war ihm niemals gelungen. Nun begann er die Räubermutter gar eifrig zu +bitten und anzurufen, sie möge ihn um die Weihnachtszeit in die +Räuberhöhle kommen lassen. Wenn sie nur eins ihrer Kinder schickte, ihm +den Weg zu zeigen, dann wolle er allein hinaufreiten, und er würde sie +nie und nimmer verraten, sondern sie im Gegenteil so reich belohnen, wie +es nur in seiner Macht stünde.<span class='pagenum'><a name="Page_198" id="Page_198">[Pg 198]</a></span></p> + +<p>Die Räubermutter weigerte sich zuerst, denn sie dachte an den +Räubervater und an die Gefahr, der sie ihn preisgab, wenn sie Abt +Johannes in ihre Höhle kommen ließe; aber dann wurde doch der Wunsch, +ihm zu zeigen, daß der Lustgarten, den sie kannte, schöner sei als der +seinige, in ihr übermächtig, und sie gab nach.</p> + +<p>»Aber mehr als einen Begleiter darfst du nicht mitnehmen,« sagte sie. +»Und du darfst uns keinen Hinterhalt und keine Falle stellen, so gewiß +du ein heiliger Mann bist.«</p> + +<p>Dies versprach Abt Johannes, und damit ging die Räubermutter. Aber Abt +Johannes befahl dem Laienbruder, niemand zu verraten, was nun vereinbart +worden war. Er fürchtete, daß seine Mönche, wenn sie von seinem Vorhaben +etwas erführen, einem alten Mann, wie er es war, nicht gestatten würden, +hinauf in die Räuberhöhle zu ziehen.</p> + +<p>Auch er selbst wollte den Plan keiner Menschenseele verraten. Aber da +begab es sich, daß Erzbischof Absalon aus Lund gereist kam und eine +Nacht in Öved verbrachte. Als nun Abt Johannes ihm seinen Garten zeigte, +fiel ihm der Besuch der Räubermutter ein; und der Laienbruder, der dort +umherging und arbeitete, hörte, wie der Abt dem Bischof vom Räubervater +erzählte, der nun so viele Jahre vogelfrei im Walde gehaust hätte, und +um einen Freibrief für ihn bat, damit er wieder ein ehrliches Leben +unter andern Menschen führen könnte. — »Wie es jetzt geht,« sagte Abt +Johannes, »wachsen seine Kinder zu ärgeren Misse<span class='pagenum'><a name="Page_199" id="Page_199">[Pg 199]</a></span>tätern heran, als er +selbst einer ist, und Ihr werdet es dort oben im Walde bald mit einer +ganzen Räuberbande zu tun bekommen.«</p> + +<p>Doch Erzbischof Absalon erwiderte, daß er den bösen Räuber nicht auf die +ehrlichen Leute im Lande loslassen wolle. Es sei für alle am besten, +wenn er dort oben in seinem Walde bliebe.</p> + +<p>Da wurde Abt Johannes eifrig und begann dem Bischof vom Göinger Wald zu +erzählen, der sich jedes Jahr rings um die Räuberhöhle in +Weihnachtsschmuck kleide. »Wenn diese Räuber nicht schlimmer sind, als +daß Gottes Herrlichkeit sich ihnen zeigen will,« sagte er, »so können +sie wohl auch nicht zu schlecht sein, um die Gnade der Menschen zu +erfahren.«</p> + +<p>Aber der Erzbischof wußte Abt Johannes zu antworten. — »Soviel kann ich +dir versprechen, Abt Johannes,« sagte er und lächelte, »an welchem Tage +immer du mir eine Blume aus dem Weihnachtsgarten im Göinger Walde +schickst, will ich dir einen Freibrief für alle Friedlosen geben, für +die du mich bitten magst.«</p> + +<p>Der Laienbruder sah, daß Bischof Absalon ebensowenig wie er selbst an +die Geschichte der Räubermutter glaubte, aber Abt Johannes merkte nichts +davon, sondern dankte Absalon für sein gütiges Versprechen und sagte, +die Blume wollte er ihm schon schicken.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_200" id="Page_200">[Pg 200]</a></span></p> + +<p>Abt Johannes setzte seinen Willen durch, und am nächsten Weihnachtsabend +saß er nicht daheim in Öved, sondern war auf dem Wege nach Göinge. Einer +der wilden Jungen der Räubermutter lief vor ihm her, und zum Geleit +hatte er den Knecht, der im Lustgarten mit der Räubermutter gesprochen +hatte.</p> + +<p>Abt Johannes hatte sich den ganzen Herbst über schon sehr danach +gesehnt, diese Fahrt anzutreten, und freute sich nun sehr, daß sie +zustande gekommen war. Aber ganz anders stand es mit dem Laienbruder, +der ihm folgte. Er hatte Abt Johannes von Herzen lieb und würde es nicht +gern einem andern überlassen haben, ihn zu begleiten und über ihn zu +wachen, aber er glaubte keineswegs, daß sie einen Weihnachtsgarten zu +Gesicht bekommen würden, er dachte nichts andres, als daß das Ganze eine +Falle sei, die die Räubermutter mit großer Schlauheit Abt Johannes +gelegt hätte, damit er ihrem Mann in die Hände falle.</p> + +<p>Während Abt Johannes nordwärts zur Waldgegend ritt, sah er, wie überall +Anstalten getroffen wurden, das Weihnachtsfest zu feiern. In jedem +Bauerndorf machte man Feuer in der Badehütte, damit sie zum +nachmittägigen Bade warm sei. Aus den Vorratskammern wurden große Mengen +von Fleisch und Brot in die Hütten getragen, und aus den Tennen kamen +die Burschen mit großen Strohgarben, die über den Boden gestreut werden +sollten.</p> + +<p>Als er an dem kleinen Dorfkirchlein vorüberritt, sah er, wie der +Priester und seine Küster vollauf damit beschäftigt waren, sie mit den +<span class='pagenum'><a name="Page_201" id="Page_201">[Pg 201]</a></span> +besten Geweben zu behängen, die sie nur hatten auftreiben können; und +als er zu dem Wege kam, der nach dem Kloster Bosjö führte, sah er die +Armen des Klosters mit großen Brotlaiben und langen Kerzen daherwandern, +die sie an der Klosterpforte bekommen hatten.</p> + +<p>Als Abt Johannes alle diese Weihnachtszurüstungen sah, da spornte er zur +Eile an. Denn er dachte daran, daß seiner ein größeres Fest harre, als +irgendeiner der anderen feiern sollte.</p> + +<p>Doch der Knecht jammerte und klagte, als er sah, wie sie sich auch in +der kleinsten Hütte anschickten, das Weihnachtsfest zu feiern. Und er +wurde immer ängstlicher und bat und beschwor Abt Johannes, umzukehren +und sich nicht freiwillig in die Hände der Räuber zu geben.</p> + +<p>Aber Abt Johannes ritt weiter, ohne sich um seine Klagen zu kümmern. Er +hatte bald das Flachland hinter sich und kam nun hinauf in die einsamen, +wilden Wälder. Hier wurde der Weg schlechter. Er war eigentlich nur noch +ein steiniger, nadelbestreuter Pfad, und nicht Brücke nicht Steg halfen +ihnen über Flüsse und Bäche. Je länger sie ritten, desto kälter wurde +es, und tief drinnen im Walde war der Boden mit Schnee bedeckt.</p> + +<p>Es war ein langer und beschwerlicher Ritt. Sie schnitten auf steilen und +schlüpfrigen Seitenpfaden den Weg ab und zogen über Moor und Sumpf, +drangen durch Windbrüche und Dickicht. Gerade als der Tag<span class='pagenum'><a name="Page_202" id="Page_202">[Pg 202]</a></span> zur Neige +ging, führte der Räuberjunge sie über eine Waldwiese, die von hohen +Bäumen umgeben war, von nackten Laubbäumen und von grünen Nadelbäumen. +Hinter der Wiese erhob sich eine Felswand, und in der Felswand sahen sie +eine Tür aus rohen Planken. Nun merkte Abt Johannes, daß sie am Ziel +waren, und er stieg vom Pferde. Das Kind öffnete ihm die schwere Tür, +und er sah in eine ärmliche Berggrotte mit nackten Steinwänden. Die +Räubermutter saß an einem Blockfeuer, das mitten auf dem Boden brannte, +an den Wänden standen Lagerstätten aus Tannenreisig und Moos, und auf +einer von ihnen lag der Räubervater und schlief. — »Kommt herein, ihr +dort draußen!« rief die Räubermutter, ohne aufzustehen. »Und nehmt die +Pferde mit, damit sie nicht draußen in der Nachtkälte zugrunde gehen!«</p> + +<p>Abt Johannes trat nun kühnlich in die Grotte, und der Laienbruder folgte +ihm. Da sah es gar ärmlich und dürftig aus, und nichts war geschehen, um +das Weihnachtsfest zu feiern. Die Räubermutter hatte weder gebraut, noch +gebacken, sie hatte weder gefegt, noch gescheuert. Ihre Kinder lagen auf +der Erde rings um einen Kessel, aus dem sie aßen; aber darin war nichts +besseres als dünne Wassergrütze.</p> + +<p>Doch die Räubermutter war ebenso stolz und selbstbewußt wie nur +irgendeine wohlbestallte Bauersfrau. — »Setze dich nun hier ans Feuer, +Abt Johannes, und wärme dich,« sagte sie, »und wenn du Wegzehrung +mitgebracht hast, so iß, denn was wir hier im Walde<span class='pagenum'><a name="Page_203" id="Page_203">[Pg 203]</a></span> kochen, wird dir +wohl nicht munden. Und wenn du vom Ritt müde bist, kannst du dich auf +eine dieser Lagerstätten ausstrecken und ruhen. Du brauchst keine Angst +zu haben, daß du dich verschlafen könntest. Ich sitze hier am Feuer und +wache, und ich will dich schon wecken, damit du zu sehen bekommst, +wonach du ausgeritten bist.«</p> + +<p>Abt Johannes gehorchte der Räubermutter in allen Stücken und nahm seinen +Schnappsack hervor. Aber er war nach dem Ritt so müde, daß er kaum zu +essen vermochte; und sowie er sich auf dem Lager ausgestreckt hatte, +schlummerte er ein.</p> + +<p>Dem Laienbruder ward auch eine Ruhestatt angewiesen, aber er wagte +nicht, zu schlafen, weil er ein wachsames Auge auf den Räubervater haben +wollte, damit dieser nicht etwa aufstünde und Abt Johannes fesselte. +Allmählich jedoch erlangte die Müdigkeit auch über ihn solche Gewalt, +daß er einschlummerte. Als er erwachte, sah er, daß Abt Johannes sein +Lager verlassen hatte und jetzt am Feuer saß und mit der Räubermutter +Zwiesprach pflog. Der Räubervater saß daneben. Er war ein +hochaufgeschossener magerer Mann und sah schwerfällig und trübsinnig +aus. Er kehrte Abt Johannes den Rücken, und es sah aus, als wolle er +nicht zeigen, daß er dem Gespräch zuhörte.</p> + +<p>Abt Johannes erzählte der Räubermutter von allen den +Weihnachtszurüstungen, die er unterwegs gesehen hatte, und er erinnerte +sie an die Weihnachtsfeste und die fröhlichen Weihnachtsspiele, die wohl +auch<span class='pagenum'><a name="Page_204" id="Page_204">[Pg 204]</a></span> sie in ihrer Jugend mitgemacht hätte, als sie noch in Frieden +unter den Menschen lebte. — »Es ist ein Jammer, daß eure Kinder nie +verkleidet auf der Dorfstraße umhertollen oder im Weihnachtsstroh +spielen dürfen,« sagte Abt Johannes. Die Räubermutter hatte ihm zuerst +kurz und barsch geantwortet, aber so allmählich wurde sie kleinlauter +und lauschte eifrig. Plötzlich wendete sich der Räubervater gegen Abt +Johannes und hielt ihm die geballte Faust vor das Gesicht. — »Du +elender Mönch, bist du hierhergekommen, um Weib und Kinder von mir +fortzulocken? Weißt du nicht, daß ich ein friedloser Mann bin und diesen +Wald nicht verlassen darf?« Abt Johannes sah ihm unerschrocken gerade in +die Augen. — »Mein Wille ist es, dir einen Freibrief vom Erzbischof zu +verschaffen,« sagte er. Kaum hatte er dies gesagt, als der Räubervater +und die Räubermutter ein schallendes Gelächter aufschlugen. Sie wußten +nur zu wohl, welche Gnade ein Waldräuber vom Bischof Absalon zu erwarten +hatte. — »Ja, wenn ich einen Freibrief von Absalon bekomme,« sagte der +Räubervater, »dann gelobe ich dir, nie mehr auch nur soviel wie eine +Gans zu stehlen.«</p> + +<p>Den Gärtnergehilfen verdroß es sehr, daß das Räuberpack sich vermaß, Abt +Johannes auszulachen; aber dieser selbst schien es ganz zufrieden zu +sein. Der Knecht hatte ihn kaum je friedvoller und milder unter seinen +Mönchen auf Öved sitzen sehen, als er ihn jetzt unter den wilden +Räuberleuten sah.<span class='pagenum'><a name="Page_205" id="Page_205">[Pg 205]</a></span></p> + +<p>Aber plötzlich sprang die Räubermutter auf.</p> + +<p>»Du sitzest hier und plauderst, Abt Johannes,« sagte sie, »und wir +vergessen ganz, nach dem Wald zu sehen. Jetzt höre ich bis in unsere +Höhle, wie die Weihnachtsglocken läuten.«</p> + +<p>Kaum war dies gesagt, als alle aufsprangen und hinausliefen; aber im +Walde war noch dunkle Nacht und grimmiger Winter. Das einzige, was man +vernahm, war ferner Glockenklang, der von einem leisen Südwind +hergetragen wurde.</p> + +<p>Wie soll dieser Glockenklang den toten Wald wecken können? dachte Abt +Johannes. Denn jetzt, wo er mitten im Waldesdunkel stand, schien es ihm +viel unmöglicher als früher, daß hier ein Lustgarten erstehen könnte.</p> + +<p>Aber als die Glocke ein paar Augenblicke geläutet hatte, zuckte +plötzlich ein Lichtstrahl durch den Wald. Gleich darauf wurde es ebenso +dunkel wie zuvor, aber dann kam das Licht wieder. Es kämpfte sich wie +ein leuchtender Nebel zwischen den dunkeln Bäumen durch. Und soviel +vermochte es, daß die Dunkelheit in schwache Morgendämmerung überging.</p> + +<p>Da sah Abt Johannes, wie der Schnee vom Boden verschwand, als hätte +jemand einen Teppich fortgezogen; und die Erde begann zu grünen. Das +Farrnkraut streckte seine Triebe hervor, eingerollt wie Bischofstäbe. +Die Erika, die auf der Steinhalde wuchs, und der Porsch, der im Moor +wurzelte, kleideten sich rasch in frisches Grün. Die Mooshügelchen +schwollen und hoben sich, und die Frühlingsblumen schossen mit +schwellenden<span class='pagenum'><a name="Page_206" id="Page_206">[Pg 206]</a></span> Knospen auf, die schon einen Schimmer von Farbe hatten.</p> + +<p>Abt Johannes klopfte das Herz heftig, als er die ersten Zeichen sah, daß +der Wald erwachen wollte. — Soll nun ich alter Mann ein solches Wunder +schauen! dachte er. Und die Tränen wollten ihm in die Augen treten.</p> + +<p>Nun wurde es wieder so dämmerig, daß er fürchtete, die nächtliche +Finsternis könnte aufs neue Macht erlangen. Aber sogleich kam eine neue +Lichtwelle hereingebrochen. Die brachte das Murmeln von Bächlein und das +Rauschen der eisbefreiten Bergströme mit. Da schlugen die Blätter der +Laubbäume so rasch aus, als wären grüne Schmetterlinge herangeflattert +und hätten sich auf den Zweigen niedergelassen. Und nicht nur die Bäume +und Pflanzen erwachten. Die Kreuzschnäbel begannen über die Zweige zu +hüpfen. Die Spechte hämmerten an die Stämme, daß die Holzsplitter nur so +flogen. Ein Zug Stare, der das Land hinanflog, ließ sich in einem +Tannenwipfel nieder, um zu ruhen. Es waren prächtige Stare. Die Spitze +jedes kleinen Federchens leuchtete glänzend rot, und wenn die Vögel sich +bewegten, glitzerten sie wie Edelsteine.</p> + +<p>Wieder wurde es für ein Weilchen still, aber bald begann es von neuem. +Ein starker, warmer Südwind blies und säte über die Waldwiese alle die +Samen aus südlichen Ländern, die von Vögeln und Schiffen und Winden in +das Land gebracht worden waren und auf seinem kargen Boden nirgend +anders blühen konnten;<span class='pagenum'><a name="Page_207" id="Page_207">[Pg 207]</a></span> und sie schlugen Wurzel und schossen Triebe in +demselben Augenblick, da sie den Boden berührten.</p> + +<p>Als die nächste Welle kam, fingen Blaubeeren und Preißelbeeren zu blühen +an. Wildgänse und Kraniche riefen hoch oben in der Luft, die Buchfinken +bauten ihr Nest, und die Eichhörnchen begannen in den Baumzweigen zu +spielen.</p> + +<p>Alles ging nun so rasch, daß Abt Johannes gar nicht Zeit hatte, zu +überlegen, welches Wunder gerade geschah. Er hatte nur Zeit, Augen und +Ohren weit aufzumachen. Die nächste Welle, die herangebraust kam, +brachte den Duft frischgepflügter Felder. Aus weiter Ferne hörte man, +wie die Hirtinnen die Kühe lockten, und wie die Glöckchen der Lämmer +klingelten. Tannen und Fichten bekleideten sich so dicht mit kleinen +roten Zapfen, daß die Bäume wie Seide leuchteten. Der Wacholder trug +Beeren, die jeden Augenblick die Farbe wechselten. Und die Waldblumen +bedeckten den Boden, daß er ganz weiß und blau und gelb war.</p> + +<p>Abt Johannes beugte sich zur Erde und brach eine Erdbeerblüte. Und +während er sich aufrichtete, reifte die Beere. Die Füchsin kam aus ihrer +Höhle mit einer großen Schar von schwarzbeinigen Jungen hinter sich her. +Sie ging auf die Räubermutter zu und rieb sich an ihrem Rock, und die +Räubermutter beugte sich zu ihr hinunter und lobte ihre Jungen. Der Uhu, +der eben seine nächtige Jagd begonnen hatte, kehrte wieder nach Hause +zurück, ganz erstaunt über das Licht, suchte seine Schlucht auf und +legte sich schlafen.<span class='pagenum'><a name="Page_208" id="Page_208">[Pg 208]</a></span> Der Kuckuck rief, und das Kuckucksweibchen +umkreiste mit einem Ei im Schnabel die Nester der Singvögel.</p> + +<p>Die Kinder der Räubermutter stießen zwitschernde Freudenschreie aus. Sie +aßen sich an den Waldbeeren satt, die groß wie Tannenzapfen an den +Sträuchern hingen. Eines von ihnen spielte mit einer Schar junger Hasen, +ein andres lief mit den jungen Krähen um die Wette, die aus dem Nest +gehüpft waren, ehe sie noch flügge waren, das dritte hob die Natter vom +Boden und wickelte sie sich um Hals und Arm. Der Räubervater stand +draußen auf dem Moor und aß Brombeeren. Als er aufsah, ging ein großes +schwarzes Tier neben ihm einher. Da brach der Räubervater einen +Weidenzweig und schlug dem Bären auf die Schnauze. — »Bleib du, wo du +hingehörst,« sagte er. »Das ist mein Platz.« Da machte der Bär kehrt und +trabte nach seiner Seite fort.</p> + +<p>Immer wieder kamen neue Wellen von Wärme und Licht, und jetzt brachten +sie Entengeschnatter vom Waldmoor her. Gelber Blütenstaub von den +Feldern schwebte in der Luft. Schmetterlinge kamen, so groß, daß sie wie +fliegende Lilien aussahen. Das Nest der Bienen in einer hohlen Eiche war +schon so voll von Honig, daß er am Stamm hinuntertropfte. Jetzt begannen +auch die Blumen sich zu entfalten, deren Samen aus fremden Ländern +gekommen waren. Die Rosenbüsche kletterten um die Wette mit den +Brombeeren die Felswand hinan, und oben auf der Waldwiese sprossen +Blumen, so groß wie ein Menschengesicht.<span class='pagenum'><a name="Page_209" id="Page_209">[Pg 209]</a></span> Abt Johannes dachte an die +Blume, die er für Bischof Absalon pflücken wollte, aber eine Blume wuchs +herrlicher heran als die andre, und er wollte die allerschönste wählen.</p> + +<p>Welle um Welle kam, und jetzt war die Luft so von Licht durchtränkt, daß +sie glitzerte. Und alle Lust und aller Glanz und alles Glück des Sommers +lächelte rings um Abt Johannes. Es war ihm, als könnte die Erde keine +größere Freude bringen als die, die ihn über den plötzlichen Anbruch der +schönen Jahreszeit erfüllte, und er sagte zu sich selbst: »Jetzt weiß +ich nicht, was die nächste Welle, die kommt, noch an Herrlichkeit +bringen kann.«</p> + +<p>Aber das Licht strömte noch immer zu, und jetzt däuchte es Abt Johannes, +daß es etwas aus einer unendlichen Ferne bringe. Er fühlte, wie +überirdische Luft ihn umwehte, und er begann zitternd zu erwarten, es +würde nun, nachdem die Freude der Erde gekommen war, des Himmels +Herrlichkeit anbrechen.</p> + +<p>Abt Johannes merkte, wie alles still wurde: die Vögel verstummten, die +jungen Füchslein spielten nicht mehr, und die Blumen ließen ab, zu +wachsen. Die Seligkeit, die nahte, war von der Art, daß einem das Herz +stillstehen wollte; das Auge weinte, ohne daß es darum wußte, die Seele +sehnte sich, in die Ewigkeit hinüberzufliegen. Aus weiter, weiter Ferne +hörte man leise Harfentöne und überirdischen Gesang. Abt Johannes +faltete die Hände und sank in die Kniee. Sein Gesicht strahlte von +Seligkeit. Nie hatte er erwartet,<span class='pagenum'><a name="Page_210" id="Page_210">[Pg 210]</a></span> daß es ihm beschieden sein würde, +schon in diesem Leben des Himmels Wonne zu kosten und die Engel +Weihnachtslieder singen zu hören.</p> + +<p>Aber neben Abt Johannes stand der Gärtnergehilfe, der ihn begleitet +hatte. Er sah den Räuberwald voll Grün und Blumen, und er wurde zornig +in seinem Herzen, weil er sah, daß er einen solchen Lustgarten nie und +nimmer schaffen könnte, wie er sich auch mit Hacke und Spaten mühte. Und +er vermochte nicht zu begreifen, warum Gott solche Herrlichkeit an das +Räubergesindel verschwende, das seine Gebote mißachtete.</p> + +<p>Gar dunkle Gedanken zogen durch seinen Kopf. »Das kann kein rechtes +Wunder sein,« dachte er, »das sich bösen Missetätern zeigt. Das kann +nicht von Gott stammen, das ist aus Zauberei entsprungen. Es ist von des +Teufels arger List hierher gesandt. Es ist die Macht des bösen Feindes, +die uns verhext und uns zwingt, das zu sehen, was nicht ist.«</p> + +<p>In der Ferne hörte man Engelsharfen klingen, und Engelgesang ertönte, +aber der Laienbruder glaubte, daß es die böse Macht der Unholde sei, die +nahe. »Sie wollen uns locken und verführen,« seufzte er, »nie kommen wir +mit heiler Haut davon, wir werden betört und dem Abgrund verkauft.«</p> + +<p>Jetzt waren die Engelscharen so nahe, daß Abt Johannes ihre +Lichtgestalten zwischen den Stämmen des Waldes schimmern sah. Und der +Laienbruder sah dasselbe wie er, aber er dachte nur, welche Arglist +darin<span class='pagenum'><a name="Page_211" id="Page_211">[Pg 211]</a></span> läge, daß die bösen Geister ihre Künste gerade in der Nacht +betrieben, in der der Heiland geboren war. Dies geschah ja nur, um die +Christen um so sicherer ins Verderben zu stürzen.</p> + +<p>Die ganze Zeit über hatten die Vögel Abt Johannes Haupt umschwärmt, und +er hatte sie zwischen seine Hände nehmen können. Aber vor dem +Laienbruder hatten sich die Tiere gefürchtet: kein Vogel hatte sich auf +seine Schulter gesetzt, und keine Schlange spielte zu seinen Füßen. Nun +war da eine kleine Waldtaube. Als sie merkte, daß die Engel nahe waren, +nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und flog dem Laienbruder auf die +Schulter und schmiegte das Köpfchen an seine Wange. Da vermeinte er, daß +der Zauber ihm nun völlig auf den Leib rücke, ihn in Versuchung zu +führen und zu verderben. Er schlug mit der Hand nach der Waldtaube und +rief mit lauter Stimme, so daß es durch den Wald hallte:</p> + +<p>»Zeuch du zur Hölle, von wannen du kommen bist!«</p> + +<p>Gerade da waren die Engel so nahe, daß Abt Johannes den Hauch ihrer +mächtigen Fittiche fühlte, und er hatte sich zur Erde geneigt, sie zu +grüßen. Aber als die Worte des Laienbruders ertönten, da verstummte +urplötzlich ihr Gesang, und die heiligen Gäste wendeten sich zur Flucht. +Und ebenso floh das Licht und die milde Wärme in unsäglichem Schreck vor +der Kälte und Finsternis in einem Menschenherzen. Die Dunkelheit sank +auf die Erde hinab wie eine Decke, die Kälte kam, die Pflanzen auf dem +Boden schrumpften<span class='pagenum'><a name="Page_212" id="Page_212">[Pg 212]</a></span> zusammen, die Tiere enteilten, das Rauschen der +Wasserfälle verstummte, das Laub fiel von den Bäumen, prasselnd wie +Regen.</p> + +<p>Abt Johannes fühlte, wie sein Herz, das eben vor Seligkeit gezittert +hatte, sich jetzt in unsäglichem Schmerz zusammenkrampfte. Niemals kann +ich dies überleben, dachte er, daß die Engel des Himmels mir so nahe +waren und vertrieben wurden, daß sie mir Weihnachtslieder singen wollten +und in die Flucht gejagt wurden.</p> + +<p>In demselben Augenblick erinnerte er sich an die Blume, die er Bischof +Absalon versprochen hatte, und er beugte sich zur Erde und tastete unter +dem Moos und Laub, um noch im letzten Augenblick etwas zu finden. Aber +er fühlte, wie die Erde unter seinen Fingern gefror, und wie der weiße +Schnee über den Boden geglitten kam.</p> + +<p>Da ward sein Herzeleid noch größer. Er konnte sich nicht erheben, +sondern mußte auf dem Boden liegen bleiben.</p> + +<p>Aber als die Räubersleute und der Laienbruder sich in der tiefen +Dunkelheit zur Räuberhöhle zurückgetappt hatten, da vermißten sie Abt +Johannes. Sie nahmen glühende Scheite aus dem Feuer und zogen aus, ihn +zu suchen, und sie fanden ihn tot auf der Schneedecke liegen.</p> + +<p>Und der Laienbruder hub an zu weinen und zu klagen, denn er erkannte, +daß er es war, der Abt Johannes getötet hatte, weil er ihm den +Freudenbecher entrissen, nach dem er gelechzt hatte.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_213" id="Page_213">[Pg 213]</a></span></p> + +<p>Aber als Abt Johannes nach Öved hinuntergebracht worden war, sahen die, +die sich des Toten annahmen, daß er seine rechte Hand hart um etwas +geschlossen hielt, was er in seiner Todesstunde umklammert haben mußte. +Und als sie die Hand endlich öffnen konnten, fanden sie, daß, was er mit +solcher Stärke festhielt, ein paar weiße Wurzelknollen waren, die er aus +Moos und Laub hervorgerissen hatte. Und als der Laienbruder, der Abt +Johannes geleitet hatte, diese Wurzeln sah, nahm er sie und pflanzte sie +in des Abtes Garten in die Erde.</p> + +<p>Er pflegte sie und wartete das ganze Jahr, daß eine Blume daraus +erblühe, doch er wartete vergebens den ganzen Frühling und Sommer und +Herbst. Als endlich der Winter anbrach und alle Blätter und Blumen tot +waren, hörte er auf zu warten. Als aber der Weihnachtsabend kam, da +überkam ihn die Erinnerung an Abt Johannes so mächtig, daß er in den +Lustgarten hinausging, seiner zu gedenken. Und siehe, wie er nun an der +Stelle vorbeikam, wo er die kahlen Wurzelknollen eingepflanzt hatte, da +sah er, daß üppige grüne Stengel daraus emporgesproßt waren, die schöne +Blumen mit silberweißen Blättern trugen.</p> + +<p>Da rief er alle Mönche von Öved zusammen; und als sie sahen, daß diese +Pflanze am Weihnachtsabend blühte, wo alle andern Blumen tot waren, da +erkannten sie, daß sie wirklich von Abt Johannes aus dem +Weihnachtslustgarten im Göinger Wald gepflückt war.<span class='pagenum'><a name="Page_214" id="Page_214">[Pg 214]</a></span></p> + +<p>Aber der Laienbruder sagte den Mönchen, <ins title="nun">da nun</ins> ein so großes Wunder +geschehen sei, sollten sie einige von den Blumen dem Bischof Absalon +schicken.</p> + +<p>Als nun der Laienbruder vor Bischof Absalon hintrat, reichte er ihm die +Blumen und sagte: »Dies schickt dir Abt Johannes. Es sind die Blumen, +die er dir aus dem Weihnachtslustgarten im Göinger Walde zu pflücken +versprochen hat.«</p> + +<p>Und als Bischof Absalon die Blumen sah, die in dunkler Winternacht der +Erde entsprossen waren, und als er die Worte hörte, wurde er so bleich, +als wäre er einem Toten begegnet. Eine Weile saß er schweigend da, dann +sagte er: »Abt Johannes hat sein Wort gut gehalten; so will auch ich das +meine halten.« Und er ließ einen Freibrief für den wilden Räuber +ausstellen, der von Jugend an friedlos im Walde gelebt hatte.</p> + +<p>Er übergab dem Laienbruder den Brief, und dieser zog damit von dannen, +hinauf in den Wald und suchte den Weg zur Räuberhöhle. Als er am +Weihnachtstage dort eintrat, da eilte ihm der Räuber mit erhobner Axt +entgegen. — »Ich will euch Mönche niederschlagen, so viele euer auch +sind!« rief er. »Sicherlich hat sich um euretwillen der Göinger Wald in +dieser Nacht nicht in sein Weihnachtskleid gehüllt.«</p> + +<p>»Es ist einzig und allein meine Schuld,« sagte der Laienbruder, »und ich +will gerne dafür sterben. Aber zuerst muß ich dir eine Botschaft von Abt +Johannes bringen.« Und er zog den Brief des Bischofs heraus und +verkündete ihm, daß er nicht mehr vogelfrei sei, und zeigte<span class='pagenum'><a name="Page_215" id="Page_215">[Pg 215]</a></span> ihm das +Siegel Absalons, das an dem Pergamente hing. — »Fortab sollst du mit +deinen Kindern im Weihnachtsstroh spielen, und ihr sollt das Christfest +unter den Menschen feiern, wie es der Wunsch des Abtes Johannes war,« +sagte er.</p> + +<p>Da blieb der Räubervater stumm und bleich stehen, aber die Räubermutter +sagte in seinem Namen: »Abt Johannes hat sein Wort getreulich gehalten, +so wird auch der Räubervater das seine halten.«</p> + +<p>Doch als der Räubervater und die Räubermutter aus der Räuberhöhle +fortzogen, da zog der Laienbruder hinein und hauste dort einsam im Walde +unter unablässigem Gebet, daß sein hartes Herz ihm verziehen werde.</p> + +<p>Und niemand darf ein strenges Wort über einen sagen, der bereut und sich +bekehrt hat, wohl aber kann man wünschen, daß seine bösen Worte ungesagt +geblieben wären, denn nie mehr hat der Göinger Wald die Geburtsstunde +des Heilands gefeiert, und von seiner ganzen Herrlichkeit lebt nur noch +die Pflanze, die Abt Johannes dereinst gepflückt hat. Man hat sie +Christrose genannt, und jedes Jahr läßt sie ihre weißen Blüten und ihre +grünen Stengel um die Weihnachtszeit aus dem Erdreich sprießen, als +könnte sie nie und nimmer vergessen, daß sie einmal in dem großen +Weihnachtslustgarten erwachsen ist.<span class='pagenum'><a name="Page_216" id="Page_216">[Pg 216]</a></span></p> + +<h2><a name="Der_Wechselbalg" id="Der_Wechselbalg"></a>Der Wechselbalg</h2> + +<p>Die Trollin kam durch den Wald geschlichen, ihr Junges hatte sie in +einer Rindenbutte, die sie auf dem Rücken trug. Es war groß und häßlich, +mit Haaren wie Borsten, nadelscharfen Zähnen und einer Kralle am kleinen +Finger; aber die Trollin glaubte natürlich, daß es gar kein schöneres +Kind geben könne.</p> + +<p>Wie die Trollin so einherging, kam sie zu einer Stelle, wo der Wald sich +ein wenig lichtete. Ein Weg lief hier durch, holperig und schlüpfrig von +Baumwurzeln, die sich darüber schlangen wie ein geknüpftes Netz. Und +über den Weg kamen ein Bauer und sein Weib geritten.</p> + +<p>Zuerst wollte die Trollin wieder in den Wald fliehen, damit niemand sie +zu Gesicht bekomme, aber plötzlich bemerkte sie, daß die Bäuerin ein +Kind auf dem Arme trug, und da wurde sie andern Sinnes. Sie schlich sich +näher zum Weg heran und versteckte sich hinter einem Haselstrauch. »Ich +will doch sehen, ob das Menschenkind ebenso schön sein kann wie meines,« +dachte die Trollin.<span class='pagenum'><a name="Page_217" id="Page_217">[Pg 217]</a></span></p> + +<p>Aber in ihrem Eifer streckte sie sich zu weit aus dem Busch vor, und als +die Reitenden sich näherten, erblickten die Pferde den großen schwarzen +Trollkopf. Sie erschraken, stellten sich auf die Hinterbeine, scheuten +und gingen durch. Fast wären der Bauer und sein Weib abgeworfen worden. +Sie stießen einen Schrei aus, beugten sich vor, um die Zügel anzureißen, +und waren im nächsten Augenblick verschwunden.</p> + +<p>Die Trollin grinste vor Wut. Jetzt hatte sie das Menschenkind kaum zu +Gesicht bekommen. Aber plötzlich wurde sie wieder seelenvergnügt, denn +da lag ja das Kind gerade vor ihr auf der Erde. Es war der Bäuerin aus +dem Arm gefallen, als die Pferde durchgingen.</p> + +<p>Das Kind lag auf einem Haufen dürrer Blätter und war ganz unversehrt. Es +schrie laut vor Schrecken über den Fall; aber als die Trollin sich +darüber beugte, schien es so belustigt über den erstaunlichen Anblick, +daß es verstummte und lächelte und das Händchen ausstreckte, um sie an +ihrem schwarzen Bart zu zupfen.</p> + +<p>Aber die Trollin stand ganz verblüfft da und betrachtete das +Menschenkind. Sie sah die kleinen Händchen an mit den rosenroten Nägeln, +die klaren blauen Äuglein und das kleine Mündchen. Sie befühlte das +weiche Haar, strich über die Wangen und wußte sich vor Staunen gar nicht +zu fassen, daß ein Kind so rosig und weich und fein sein könnte.</p> + +<p>Plötzlich riß die Trollin ihre Rindenbutte vom Rücken, holte ihr eignes +Junges heraus und setzte es<span class='pagenum'><a name="Page_218" id="Page_218">[Pg 218]</a></span> neben das Menschenkind. Und, als sie nun +sah, welcher Unterschied zwischen den beiden war, konnte sie es nicht +lassen, vor Wut laut aufzuheulen.</p> + +<p>Unterdessen hatten der Bauer und sein Weib ihre Pferde wieder gebändigt, +und sie kamen nun zurück, um ihr Kind zu suchen. Als die Trollin sie +herankommen hörte, kamen ihr fast die Tränen, denn sie hatte sich noch +lange nicht an dem Menschenkind satt gesehen. Sie blieb sitzen, bis die +Reitenden fast in Sehweite waren, da faßte sie einen raschen Entschluß. +Sie ließ ihr Junges am Wegesrand liegen, aber das Menschenkind steckte +sie in ihre Rindenbutte und lief damit in den Wald.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Kaum war die Trollin in den Wald verschwunden, als der Bauer und seine +Frau zum Vorschein kamen.</p> + +<p>Es waren prächtige Bauersleute, reich und geachtet und mit einem schönen +Hof am Fuße des Waldhügels. Sie waren schon viele Jahre verheiratet, +aber sie hatten nur dieses einzige Kindchen. Man kann sich also denken, +wie sehr ihnen am Herzen lag, es wieder zu finden.</p> + +<p>Die Frau war dem Manne um ein paar Pferdelängen voraus und erblickte +zuerst das Kind, das am Wegesrand lag. Es schrie aus Leibeskräften, um +die Trollin zurückzurufen, und die Bäuerin hätte schon an dem Geheul +merken können, was für ein Kind das war. Aber sie hatte solche Angst +ausgestanden, daß der Kleine<span class='pagenum'><a name="Page_219" id="Page_219">[Pg 219]</a></span> sich im Fallen erschlagen haben könnte, +daß sie bei dem Geschrei nur dachte: Gott sei Dank, daß er am Leben ist. +»Da liegt das Kind,« rief sie dem Manne zu und glitt aus dem Sattel und +lief auf das Trolljunge zu.</p> + +<p>Als der Bauer zur Stelle kam, saß die Frau am Wegesrand und drehte das +Kind hin und her und sah aus wie jemand, der seinen Sinnen nicht trauen +kann. »Mein Kind hatte doch nicht Zähne wie die Stacheln,« sagte sie, +und ihre Stimme drückte immer größeren und größeren Schrecken aus; »mein +Kind hatte doch nicht Haare wie Schweinsborsten, mein Kind hatte doch +keine Kralle am kleinen Finger.«</p> + +<p>Der Bauer konnte nichts andres glauben, als daß sein Weib verrückt +geworden sei, und sprang nun auch vom Pferde. »Sieh das Kind an und sag, +ob du begreifen kannst, wie es sich so verändert hat,« sagte die Frau +und reichte es ihm. Er nahm es aus ihren Händen, aber kaum hatte er +einen Blick darauf geworfen, als er dreimal ausspuckte und es von sich +schleuderte. »Das ist doch ein Trolljunges,« rief er. »Das ist nicht +unser Kind.« Die Frau saß noch immer am Wegesrand. Sie war nicht rasch +von Gedanken und konnte nicht erraten, was sich begeben hätte. »Aber was +tust du denn mit dem Kinde?« fragte sie. »Ja, merkst du denn nicht, daß +das ein Wechselbalg ist?« sagte der Mann. »Die Trolle haben die +Gelegenheit benutzt, als unsere Pferde durchgingen. Sie haben unser Kind +gestohlen und eines von ihren eignen<span class='pagenum'><a name="Page_220" id="Page_220">[Pg 220]</a></span> dafür hingelegt.« — »Aber wo ist +denn dann jetzt mein Kind?« fragte die Frau. — »Das ist eben bei den +Trollen,« antwortete der Mann.</p> + +<p>Nun begriff die Frau endlich das ganze Unglück. Sie erbleichte, und der +Mann glaubte, daß sie auf der Stelle ihren Geist aufgeben würde.</p> + +<p>»Unser Kind kann ja nicht weit fort sein,« sagte der Mann und versuchte +sie zu beschwichtigen, obgleich er selbst nicht viel Hoffnung hatte. +»Wir wollen in den Wald gehen und es suchen.« Damit band er die Pferde +an einen Baum und begab sich in das Dickicht. Die Frau stand auch auf, +um ihm zu folgen, als sie bemerkte, daß das Trolljunge auf dem Boden lag +und jeden Augenblick von den Pferden totgetrampelt werden könnte, die +über seine Gegenwart unruhig schienen und einmal ums andre wild nach +hinten ausschlugen. Sie schauderte bei dem Gedanken, den Wechselbalg +anrühren zu müssen, aber sie schob ihn doch so, daß die Pferde ihn nicht +zertreten konnten.</p> + +<p>»Hier liegt die Schelle, die unser Kind in der Hand hatte, als du es +fallen ließest,« rief der Bauer aus dem Wald. »Jetzt weiß ich, daß ich +auf der rechten Spur bin.« Die Frau eilte ihm nach, und sie gingen in +den Wald und suchten lange und eifrig. Aber sie fanden weder Kind noch +Troll; und als die Dämmrung einbrach, mußten sie zu ihren Pferden +zurückkehren.</p> + +<p>Die Frau weinte und rang die Hände. Der Mann ging mit +aufeinandergepreßten Lippen und sagte nicht ein Wort, um sie zu trösten. +Er war aus altem<span class='pagenum'><a name="Page_221" id="Page_221">[Pg 221]</a></span> gutem Stamm, der erloschen wäre, wenn er nicht einen +Sohn bekommen hätte. Er ging jetzt einher und zürnte der Frau, weil sie +das Kind hatte zu Boden fallen lassen. Sie hätte es doch vor allem +andern festhalten müssen. Aber als er sah, wie betrübt sie war, brachte +er es nicht übers Herz, sie zu tadeln.</p> + +<p>Der Bauer hatte der Frau in den Sattel geholfen, als ihr der Wechselbalg +einfiel. »Was sollen wir aber mit dem Trolljungen anfangen?« rief sie. +— »Ja, wo ist denn das hingekommen?« sagte der Mann. — »Es liegt dort +unter dem Busch.« — »Da liegt es ja ganz gut,« sagte der Mann und +lächelte bitter. — »Wir müssen es aber doch mitnehmen. Wir können es +doch nicht hier in der Wildnis lassen.« — »Doch, das können wir sehr +gut,« sagte der Bauer und setzte den Fuß in den Steigbügel.</p> + +<p>Die Frau fand, daß der Mann eigentlich ganz recht hätte. Sie brauchten +sich doch nicht des Trollkindes anzunehmen. So ließ sie das Pferd ein +paar Schritte machen. Aber sie war von weicher und warmherziger +Gemütsart, und plötzlich war es ihr ganz unmöglich, weiterzureiten. +»Nein, es ist ja doch ein Kind,« sagte sie. »Ich kann es nicht hier +lassen, den Wölfen zum Fraße. Du mußt mir den Jungen reichen.« — »Das tu +ich nicht,« sagte der Mann. »Er liegt ganz gut, wo er liegt.« — »Wenn +du ihn mir nicht jetzt bringst, so muß ich heute abend wieder herkommen +und ihn holen,« sagte die Frau. — »Mir scheint, es ist nicht genug, daß +die Trolle mir meinen Knaben ge<span class='pagenum'><a name="Page_222" id="Page_222">[Pg 222]</a></span>stohlen haben,« sagte er, »sie haben +auch noch meinem Weibe den Kopf verdreht.« Aber dabei hob er doch das +Kind auf und reichte es der Frau, denn er hatte eine große Liebe zu ihr +und war es gewohnt, ihr in allem zu Willen zu sein.</p> + +<p>Am nächsten Tage war das Unglück im ganzen Kirchspiel bekannt, und alle, +die alt und klug waren, eilten in die Hütte des Bauern, um gute +Ratschläge zu geben. »Wer einen Wechselbalg im Hause hat, muß ihm jeden +Tag mit einem derben Stecken Schläge geben,« sagte eine der Alten. +»Warum soll man denn so übel mit ihm umgehen?« fragte die Bäuerin. +»Freilich ist er häßlich, aber er hat doch nichts Böses getan.« — »Ja, +wenn man das Junge schlägt, bis das Blut fließt, dann kommt schließlich +die Trollin herangesaust, wirft einem das eigne Kind zu und nimmt ihres +mit. Ich weiß viele, die es so gemacht haben, um ihr Kind wieder zu +bekommen.« — »Aber diese Kinder sind dann nicht lange am Leben +geblieben,« sagte eine der alten Frauen; und die Bäuerin dachte bei sich +selbst, daß sie dieses Mittel nicht anwenden könnte. Das wäre ihr +unmöglich gewesen.</p> + +<p>Gegen Abend, als die Bäuerin mit dem Wechselbalg allein in der Stube +war, begann sie sich auf einmal so heftig nach ihrem eignen Kinde zu +sehnen, daß sie gar nicht wußte, wo aus noch ein. »Vielleicht sollte ich +doch das versuchen, was sie mir geraten haben,« dachte sie, aber sie +konnte sich doch nicht entschließen.<span class='pagenum'><a name="Page_223" id="Page_223">[Pg 223]</a></span></p> + +<p>In demselben Augenblick kam der Mann mit einem Stock in der Hand in die +Stube und fragte nach dem Wechselbalg. Da sah die Frau, daß der Mann den +Rat der klugen Frauen befolgen und das Trollkind prügeln wollte, um sein +eignes zurückzubekommen. »Es ist gut, daß er es tut,« dachte sie. »Ich +bin zu dumm. Ich könnte nie ein unschuldiges Kind schlagen.«</p> + +<p>Aber kaum hatte der Mann dem Trollkind einen Hieb versetzt, als die Frau +herbeistürzte und ihn am Arm packte. »Nein, schlag nicht, schlag nicht!« +bat sie. — »Du willst wohl dein eignes Kind nicht wieder haben?« sagte +der Mann und versuchte sich loszumachen. — »Freilich will ich es wieder +haben, aber nicht auf diese Art,« sagte die Frau. Der Mann erhob den Arm +zu einem neuen Schlag, aber ehe er fiel, hatte sich die Frau auf das +Kind geworfen, so daß der Hieb ihren Rücken traf. »Gott schütze mich,« +sagte der Mann, »jetzt sehe ich, du willst dich so anstellen, daß unser +Kind all sein Lebtag bei den Trollen bleiben muß.« Er blieb stehen und +wartete, aber die Frau blieb vor ihm liegen und schützte das Kind. Da +warf der Mann den Stock fort und ging unmutig aus der Stube. Er wunderte +sich später, daß er seinen Vorsatz nicht seinem Weibe zum Trotz +durchgeführt hatte, aber wenn sie da war, bezwang ihn irgend etwas: er +konnte ihr nicht zuwiderhandeln.</p> + +<p>Ein paar Tage vergingen in Schmerz und Trauer. Was die Bäuerin am +meisten quälte und ihren Kummer<span class='pagenum'><a name="Page_224" id="Page_224">[Pg 224]</a></span> verdoppelte, war, daß sie für dieses +Trollkind zu sorgen hatte. Um seinetwillen hatte sie so bitter zu +leiden, daß es ihr fast die Kraft nahm, ihr eignes Kind zu betrauern.</p> + +<p>»Ich weiß rein nicht, was ich dem Wechselbalg zu essen geben soll,« +sagte sie eines Morgens zu ihrem Mann. »Er will nichts kosten, was ich +ihm vorsetze.« — »Das ist nicht zu verwundern,« sagte der Mann. »Du +wirst doch schon gehört haben, daß die Trolle nichts anderes essen als +Frösche und Mäuse.« — »Aber du kannst doch nicht verlangen, daß ich zum +Froschsumpf gehe und ihm dort das Essen hole,« sagte die Frau. — »Nein, +ich verlange nichts dergleichen,« antwortete der Bauer. »Ich finde, es +wäre am besten, wenn er verhungern würde.«</p> + +<p>Die ganze Woche verging, ohne daß die Bäuerin imstande war, das +Trolljunge zu bewegen, irgend etwas zu sich zu nehmen. Es schrie nur, +wie es da in seiner Wiege lag, und wurde so elend und mager, daß kaum +noch etwas von ihm übrig blieb. Rings um ihn stellte die Bäuerin alles +mögliche gute Essen auf, das sie nur bereiten konnte; aber der +Wechselbalg fauchte und spuckte nur, wenn sie ihn überreden wollte, +etwas von den Leckerbissen zu kosten.</p> + +<p>Eines Abends, als das Trollkind so aussah, als sollte es Hungers +sterben, kam die Katze mit einer Maus zwischen den Zähnen in die Stube +gelaufen. Da riß die Bäuerin der Katze die Maus aus dem Rachen, warf sie +dem Kind hin und verließ hastig<span class='pagenum'><a name="Page_225" id="Page_225">[Pg 225]</a></span> die Stube, um nicht sehen zu müssen, +wie das Trolljunge aß.</p> + +<p>Aber als der Bauer merkte, daß die Frau wirklich anfing, Frösche und +Spinnen für den Wechselbalg zu sammeln, da begann er einen solchen +Abscheu vor ihr zu empfinden, daß er ihn kaum verbergen konnte. Er +konnte sich nicht überwinden, ihr ein freundliches Wort zu sagen; und +wäre nicht jene wunderliche Macht gewesen, die sie über ihn besaß, so +hätte er sie sogleich verlassen.</p> + +<p>Auch die Dienstleute begannen der Bäuerin Ungehorsam und +Unehrerbietigkeit zu zeigen, ohne daß der Bauer sich darum kümmerte.</p> + +<p>Die Frau merkte bald: wenn sie fortführe, den Wechselbalg in Schutz zu +nehmen, würde sie es mit ihrem Manne, dem Gesinde und den Nachbarn sehr +schwer haben; aber sie war nun einmal so: wenn es jemand gab, den alle +andern haßten, mußte sie ihre äußerste Kraft aufbieten, um einen solchen +armen Wicht zu schützen. Und je mehr sie um des Wechselbalgs willen litt +und sich quälte, desto getreulicher wachte sie darüber, daß ihm nichts +Böses widerfahre.</p> + +<p>Ein paar Jahre später an einem Vormittag saß die Bäuerin allein in der +Stube und nähte Flicken um Flicken auf ein kleines Kinderkleid. »Ach +ja,« dachte sie, während sie so nähte, »der hat keine guten Tage, der +für ein fremdes Kind sorgen muß.«</p> + +<p>Sie nähte und nähte, aber die Löcher waren so groß und so zahlreich, daß +ihr die Tränen in die Augen<span class='pagenum'><a name="Page_226" id="Page_226">[Pg 226]</a></span> kamen, wenn sie sie ansah. »Aber so viel +weiß ich,« dachte sie, »wenn ich meines eignen Sohnes Kittelchen +flickte, da wollte ich die Löcher nicht zählen.«</p> + +<p>»Ich habe es doch gar zu schwer mit dem Wechselbalg,« dachte die +Bäuerin, als sie ein neues Loch entdeckte. »Das Beste wäre schon, wenn +ich ihn tief in den Wald führte, so tief, daß er nicht mehr heimfinden +könnte, und ihn dort zurückließe.«</p> + +<p>»Obgleich ich mir gar nicht so viele Mühe zu geben brauchte, um ihn los +zu werden,« fuhr sie nach einem Weilchen fort. »Ich brauchte ihn nur +einen Augenblick ohne Aufsicht zu lassen, dann würde er schon im Brunnen +ertrinken oder im Herde verbrennen oder vom Hunde gebissen oder von den +Pferden gestoßen oder von den Knechten erschlagen werden. Ja, es wäre +ein Leichtes, ihn los zu werden, denn ausgelassen und schlimm ist er, +und es gibt keinen, der ihn nicht haßte. Ich glaube, wenn ich ihn nicht +beständig um mich hätte, würde gleich jemand die Gelegenheit benützen +und ihn umbringen.«</p> + +<p>Sie ging hin und sah das Kind an, das in einer Ecke der Stube lag und +schlief. Es war sehr gewachsen und sah nun noch viel häßlicher aus, als +da sie es zum ersten Male erblickt hatte. Es hatte große, wulstige +Lippen, die Augenbrauen waren wie zwei steife Bürsten, und die Haut war +ganz braun.</p> + +<p>»Deine Kleider flicken und über dich wachen, ginge wohl noch an,« dachte +sie. »Wenn ich deinetwegen nicht schlimmere Sorgen hätte. Es ist ja +fast, als<span class='pagenum'><a name="Page_227" id="Page_227">[Pg 227]</a></span> hätte ich den Verstand verloren, daß ich so viel um dich +leide, wo du doch nichts andres bist als ein widerwärtiger Troll. Mein +Mann verabscheut mich, die Knechte verachten mich, die Mägde höhnen +mich, die Katze faucht mich an, der Hund knurrt, wenn er mir begegnet; +und an dem allen bist du nur schuld.«</p> + +<p>»Aber daß Tiere und Menschen mich hassen, ist noch nicht das +Schlimmste,« fuhr sie nachdenklich fort. »Das Schlimmste ist, daß ich +mich jedesmal, wenn ich dich ansehe, um so mehr nach meinem eignen Sohn +sehne. O, mein liebes Kind, mein allerliebstes Goldkind, wo bist du +jetzt? Schläfst du jetzt bei der Trollin auf Moos und Reisig?«</p> + +<p>Da ging die Tür auf, und die Frau begab sich wieder zum Tisch und setzte +sich zu ihrer Näherei. Es war ihr Mann, der eintrat. Er hatte ein +lächelndes Gesicht und sprach mit freundlicherer Stimme als seit langer +Zeit.</p> + +<p>»Heute ist im Nachbardorf Jahrmarkt,« sagte er. »Wie wär es, wenn wir +hingingen?«</p> + +<p>»Ach, das wollte ich gar so gerne,« sagte die Frau und wurde sehr froh.</p> + +<p>»Nun, dann mach dich rasch fertig,« sagte der Mann. »Wir müssen zu Fuß +gehen, denn die Pferde sind bei der Arbeit. Aber wir kommen noch +zurecht, wenn wir den Weg über den Hügel nehmen.«</p> + +<p>Ein kleines Weilchen später stand die Frau in Feiertagskleidern auf der +Schwelle. Das war das Freudigste, was ihr nun schon seit Jahren begegnet +war,<span class='pagenum'><a name="Page_228" id="Page_228">[Pg 228]</a></span> und sie hatte das Trollkind völlig vergessen. »Aber,« dachte sie +ganz plötzlich, »vielleicht will mein Mann mich nur fortlocken, damit +einer der Knechte das Trollkind erschlagen kann, während ich nicht +daheim bin.« Sogleich ging sie in die Stube und kam mit dem großen +Trolljungen auf dem Arm zurück.</p> + +<p>»Kannst du den Wechselbalg nicht daheim lassen?« fragte der Mann, aber +er lachte dabei und war ganz sanft. — »Nein, ich traue mich nicht, von +ihm fortzugehen,« sagte sie. »Ja, das ist deine Sache,« sagte der Bauer, +»aber es wird dir schwer werden, solch' einen Bengel den Hügel +hinaufzuschleppen.«</p> + +<p>Sie begannen nun ihre Wanderung, aber es ging steil aufwärts, man mußte +einen hohen Gebirgsgrat erklimmen, ehe man in das benachbarte Dörfchen +kam.</p> + +<p>Die Frau wurde schließlich so müde, daß sie kaum mehr einen Fuß vor den +andern setzen konnte. Einmal ums andre suchte sie den großen Burschen zu +überreden, selbst zu gehen, aber er wollte nicht.</p> + +<p>Der Mann war die ganze Zeit über vergnügt und so freundlich, wie er noch +nie gewesen war, seit sie ihr Kind verloren hatten. »Jetzt mußt du mir +aber den Wechselbalg geben,« sagte er, »ich werde ihn ein Weilchen +tragen.« — »Ach nein, ich kann schon,« sagte die Frau, »ich will nicht, +daß du von diesem Trollzeug Beschwerden hast.« — »Warum sollst du dich +allein damit abplagen,« sagte er und nahm den Wechselbalg.</p> + +<p>Als der Bauer das Kind nahm, war der Weg gerade am allersteilsten. Er +führte ganz schmal und<span class='pagenum'><a name="Page_229" id="Page_229">[Pg 229]</a></span> schlüpfrig am Rande eines Abgrundes vorbei, und +es war kaum Platz, um den Fuß aufzusetzen. Die Frau ging hinter ihm, und +sie bekam plötzlich große Angst, daß dem Mann etwas geschehen könnte, +wie er da ging und das Kind trug. »Geh hier vorsichtig,« rief sie. Sie +meinte, wenn er so rasch und unachtsam ginge, müßte er stürzen. Gleich +darauf glitt er auch wirklich aus und hätte fast das Trolljunge in den +Abgrund fallen lassen.</p> + +<p>»Nein, wenn das Kind jetzt gefallen wäre, dann wären wir es für alle +Zeit los gewesen,« dachte sie. Aber in demselben Augenblicke stand es +ihr klar vor Augen, daß es die Absicht des Mannes war, das Kind hier +hinunterzuwerfen und dann zu tun, als wäre ein Unglück geschehen. — +Ach, ach, dachte sie, ist es so?! Er hat das alles nur so eingerichtet, +um das Kind zu beseitigen, ohne daß ich merke, daß er es mit Absicht +tut. Ja, wäre es nicht am besten, wenn ich ihm seinen Willen ließe?</p> + +<p>Wieder rutschte der Mann auf einem lockern Stein aus, wieder wäre ihm +das Kind fast aus dem Arm gefallen. »Gib mir das Kind, du fällst damit,« +sagte die Frau. — »Nein,« sagte der Mann, »ich werde schon aufpassen.« +— »Du sollst es mir geben,« rief die Frau, »du bist schon zweimal +ausgeglitten.«</p> + +<p>In demselben Augenblick rutschte der Mann zum drittenmal aus. Er +streckte die Arme nach einem Baumast, um sich daran festzuhalten, und +das Kind fiel. Die Frau kam dicht hinterdrein, und obgleich sie eben +noch<span class='pagenum'><a name="Page_230" id="Page_230">[Pg 230]</a></span> gedacht hatte, daß es schön wäre, den Wechselbalg loszuwerden, +stürzte sie nun vor, packte einen Zipfel des Kittelchens und zog das +Kind daran wieder auf den Weg. Da wendete sich der Mann zu ihr. Sein +Gesicht war jetzt häßlich und wie verwandelt. »Als du unser Kind im +Walde fallen ließest, warst du nicht so flink,« sagte er zornig.</p> + +<p>Die Frau antwortete nichts. Sie saß auf der Erde und weinte darüber, daß +die Freundlichkeit des Mannes nur gespielt gewesen war. »Warum weinst +du?« sagte er hart. »Es wäre wohl kein so großes Unglück gewesen, wenn +ich den Balg hätte fallen lassen. Komm jetzt, es wird spät.« — »Ich +glaube, ich hab keine Lust mehr, auf den Markt zu gehen,« sagte sie. — +»Na ja, mir ist die Lust auch vergangen,« sagte er. »Ich will lieber +nach Hause,« sagte die Frau. »Ja, warum sollten wir auch hin, wenn es +uns keine Freude macht,« sagte der Mann und war einig mit ihr.</p> + +<p>Auf dem Heimwege ging der Mann einher und fragte sich, wie lange er es +noch mit seinem Weibe aushalten könnte. Wenn er nun von seiner Macht +Gebrauch machte und ihren Willen zwänge, dann könnte ja noch alles +zwischen ihnen wieder gut werden, meinte er; aber so, wie es jetzt war, +wollte er am liebsten von ihr befreit sein. Er war nahe daran, Gewalt +gegen sie anzuwenden und das Kind an sich zu reißen, aber gerade da +begegnete er dem Blick des Weibes, der so schwermütig und traurig auf +ihm ruhte, daß er es nicht vermochte, hart gegen sie zu verfahren.<span class='pagenum'><a name="Page_231" id="Page_231">[Pg 231]</a></span> Um +ihrer Trauer willen tat er sich Gewalt an, wie er es bisher getan hatte, +und alles blieb, wie es gewesen war.</p> + +<p>Wieder vergingen ein paar Jahre, und es kam eine Sommernacht, wo im +Bauernhof eine Feuersbrunst ausbrach. Als die Leute aufwachten, waren +Stube und Kammer voll Rauch, und der ganze Dachboden war ein Feuermeer. +Es war gar nicht daran zu denken, zu löschen oder zu retten; man konnte +nur hinausstürmen, um nicht zu verbrennen.</p> + +<p>Der Bauer ging in den Hof hinaus und stand da und sah das brennende Haus +an. »Eins möchte ich wissen, wer mir das angetan hat?« — »Wer? Nun, wer +sollte es wohl anders sein als der Wechselbalg?« sagte ein Knecht. »Es +war schon lange immer sein Spiel, Scheiterhaufen aus Reisig zu machen +und sie anzuzünden.« — »Gestern hat er einen großen Haufen trockne +Zweige auf den Dachboden getragen,« sagte die Magd. »Er wollte sie eben +anzünden, als ich kam und ihn bemerkte.« — »Gewiß hat er sie gestern +Abend in Brand gesteckt,« sagte der Knecht. »Ihr könnt ganz sicher sein, +daß er das Unglück verursacht hat.«</p> + +<p>»Wenn er nur wenigstens verbrennen wollte,« sagte der Bauer, »dann +wollte ich nicht klagen, daß meine alte Hütte durch ihn in Flammen +aufgegangen ist.« Wie er das eben sagte, trat die Frau aus dem Hause und +schleppte das Kind hinter sich her. Da stürzte der Bauer heran, entriß +ihr das Kind, hob es<span class='pagenum'><a name="Page_232" id="Page_232">[Pg 232]</a></span> hoch in die Luft und warf es wieder in das Haus +zurück. Das Feuer schlug gerade zum Dach und zu den Fenstern heraus, und +die Hitze war fürchterlich. Einen Augenblick sah die Frau den Mann an, +leichenblaß vor Schrecken, dann kehrte sie um und eilte in das Haus +zurück, dem Kinde nach.</p> + +<p>»Es macht mir gar nichts, wenn du mit verbrennst,« rief ihr der Bauer +nach. Sie kam jedoch wieder heraus und hatte das Kind in den Armen. Ihre +Hände waren arg verbrannt, und das Haar war fast abgesengt. Niemand +sagte ein Wort zu ihr, als sie herauskam. Sie ging zum Brunnen, löschte +ein paar Funken, die an ihrem Rocksaum glühten, und setzte sich dann auf +den Boden. Das Trollkind lag auf ihrem Schoß und schlummerte bald ein, +doch sie saß hochaufgerichtet und wach da und starrte mit traurigen +Augen vor sich hin. Eine ganze Menge Menschen eilten herbei, um zu +löschen, aber niemand sprach zu ihr. Es sah aus, als meinten alle, daß +sie etwas Häßliches und Unheimliches an sich hätte, das Schrecken und +Abscheu errege.</p> + +<p>Bei Tagesanbruch, als das Feuer gelöscht war, kam der Bauer auf sie zu. +»Ich halte es nicht länger aus, ich kann nicht mit Trollen +zusammenleben, obgleich ich dich ungern verlasse. Ich gehe jetzt meiner +Wege und komme nie wieder.«</p> + +<p>Als die Frau diese Worte hörte und sah, wie der Mann sich gleich darauf +abwendete, um seiner Wege zu gehen, da fuhr ein Zucken durch sie, als +wollte sie<span class='pagenum'><a name="Page_233" id="Page_233">[Pg 233]</a></span> ihm nacheilen, aber das Trollkind lag schwer auf ihrem +Schoß. Sie schien nicht Kraft genug zu haben, es abzuschütteln, sondern +blieb sitzen.</p> + +<p>Aber kaum war der Bauer in den Wald gekommen, als ihm ein kleiner Knirps +in vollem Lauf über die Hügel entgegenkam. Er war schön wie ein junges +Bäumchen, so schmal und schlank, das Haar war seidenweich, und die Augen +leuchteten wie blauer Stahl. »Ach ja, so wäre mein Sohn jetzt, wenn ich +ihn hätte behalten dürfen,« dachte der Bauer. »Einen solchen Erben hätte +ich gehabt. Das wäre freilich ein ander Ding gewesen als das schwarze +Ungetüm, das meine Frau mir ins Haus gebracht hat.«</p> + +<p>»Grüß Gott,« sagte der Bauer, »wohin gehst du denn?« — »Grüß Gott,« +sagte das Bürschchen und reichte ihm die Hand. »Wenn du erraten kannst, +wer ich bin, sollst du erfahren, wohin ich gehe.«</p> + +<p>Als der Bauer die Stimme hörte, wurde er ganz blaß.</p> + +<p>»Ich kenne diese Stimme,« sagte er. »Wenn mein Sohn nicht bei den +Trollen wäre, würde ich sagen, daß du es bist.« — »Ja, jetzt habt Ihr +recht geraten, Vater,« sagte das Bürschchen und lachte. »Und weil Ihr +recht geraten habt, sollt Ihr auch wissen, daß ich auf dem Wege zur +Mutter bin.« — »Du sollst nicht zur Mutter gehen,« sagte der Bauer. +»Sie fragt gar nicht nach dir. Sie hat für niemand ein Herz, als für ein +großes garstiges Trolljunges.« — »Meint Ihr das, Vater?« sagte der +Knabe und sah dem Vater tief in die Augen.<span class='pagenum'><a name="Page_234" id="Page_234">[Pg 234]</a></span> »Dann ist es vielleicht +besser, wenn ich fürs erste bei Euch bleibe.«</p> + +<p>Der Bauer war so froh über das Kind, daß ihm die Tränen in die Augen +kamen. »Ja, bleib du nur bei mir,« sagte er und nahm den Knaben in seine +Arme und küßte ihn. Er hatte förmlich Angst, ihn aufs neue zu verlieren, +und wagte es nicht, ihn wieder auf den Boden zu stellen, sondern +wanderte mit dem Kinde im Arme weiter.</p> + +<p>Als er ein paar Schritte gegangen war, begann der Kleine zu plaudern. +»Das ist gut, daß Ihr mich nicht so tragt, wie Ihr den Wechselbalg +getragen habt,« sagte der Knabe. »Was meinst du damit?« fragte der +Bauer. »Ja, die Trollin ging auf der andern Seite der Kluft mit mir, und +jedesmal, wenn Ihr mit dem Kinde ausglittet, Vater, glitt sie mit mir +<ins title="aus">aus.«</ins> »Ach was, ihr gingt auf der andern Seite der Kluft?« sagte der +Bauer und wurde plötzlich ganz nachdenklich. »Nie habe ich solche Angst +gehabt,« sagte das Bürschchen. »Als Ihr das Trollkind in die Schlucht +warft, wollte mich die Trollin hinterherwerfen. Wäre Mutter nicht so +geschwind gewesen und hätte den andern gerettet —«</p> + +<p>Der Bauer begann langsamer zu gehen, während er dem Kleinen Fragen +stellte. »Du mußt mir doch erzählen, wie es dir bei den Trollen ergangen +ist.« »Manchesmal recht schlimm,« sagte der Kleine, »aber wenn Mutter +nur gut gegen das Trolljunge war, dann war die Trollin auch gut gegen +mich.«</p> + +<p>»Pflegte sie dich vielleicht zu schlagen?« fragte<span class='pagenum'><a name="Page_235" id="Page_235">[Pg 235]</a></span> der Bauer. »Sie +schlug mich nicht öfter, als Ihr das andre Kind schlugt.« — »Was +kriegtest du denn zu essen?« fragte der Bauer. »Jedesmal, wenn Mutter +dem Wechselbalg Spinnen und Mäuse gab, bekam ich Butterbrot. Aber wenn +ihr dem Trolljungen Kuchen und Fleisch vorsetztet, dann setzte mir die +Trollin Schlangen und Kröten vor. In der ersten Zeit wäre ich fast +verhungert. Wenn Mutter dann nicht mehr Barmherzigkeit bewiesen hätte +als ihr andern, so hätte ich wohl ins Gras beißen müssen.«</p> + +<p>Als das Kind dies sagte, machte der Bauer Kehrt und ging rasch in das +Tal hinab, seinem Hofe zu. »Ich weiß nicht, woher das kommt,« sagte er, +»aber es ist mir, als spürte ich einen Brandgeruch, wenn ich dich +anrühre, und dein Haar sieht aus, als ob es vom Feuer versengt wäre.« +»Das ist doch nicht zu verwundern,« sagte das Kind. »Ich wurde doch +heute Nacht ins Feuer geworfen, als Ihr das Trollkind in die brennende +Hütte schleudertet. Und wenn Mutter das Trolljunge nicht gerettet hätte, +so wäre ich wohl auch verbrannt.«</p> + +<p>Der Bauer schien nun solche Eile zu haben, daß er fast lief, um in sein +Heim und zu seinem Weibe zurückzukommen. Aber plötzlich blieb er stehen. +»Jetzt mußt du mir aber sagen, woher es kommt, daß die Trolle dich +freigegeben haben?« sagte er. — »Als Mutter das opferte, was ihr mehr +ist als das Leben, hatten die Trolle keine Macht mehr über mich und +ließen mich ziehen,« sagte das Kind. — »Hat sie geopfert,<span class='pagenum'><a name="Page_236" id="Page_236">[Pg 236]</a></span> was ihr mehr +ist als das Leben?« fragte der Bauer. »Ja, das hat sie wohl, als sie +Euch ziehen ließ, ohne einen Versuch zu machen, Euch zurückzuhalten,« +sagte das Kind.</p> + +<p>Die Frau saß noch immer auf demselben Fleck am Brunnen. Sie schlief +nicht, aber sie schien wie versteinert. Sie vermochte sich nicht zu +rühren; und was rings um sie vorging, das bemerkte sie ebensowenig, als +wenn sie tot gewesen wäre. Da hörte sie die Stimme ihres Mannes nach ihr +rufen, und ihr Herz begann wieder zu pochen, und das Leben erwachte in +ihr. Sie schlug die Augen auf und sah sich wie eine Schlaftrunkne um. Es +war hellichter Tag, die Sonne schien, und die Vögel sangen, und es +schien ihr ganz unmöglich, daß sie an einem so schönen Morgen noch ihr +Unglück zu tragen haben sollte. Aber gleich darauf sah sie die +verkohlten Balken, die noch umherlagen, wo einst die Hütte gestanden +hatte, und eine Menge Menschen mit geschwärzten Händen und berußtem +Gesicht, und da kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie zu einem schwereren +Unglück erwachte als je zuvor; aber dennoch hatte sie das Gefühl, als ob +es nun zu Ende sein müßte. Sie sah sich nach dem Wechselbalg um. Er lag +nicht mehr auf ihrem Schoße und war auch nicht in der Nähe zu sehen. +Wäre alles wie sonst gewesen, sie wäre aufgesprungen und hätte nach ihm +gesucht, aber jetzt empfand sie gar keine Unruhe um ihn. Sie hörte ihren +Mann aus weiter Ferne rufen. Er kam aus dem Walde, zum<span class='pagenum'><a name="Page_237" id="Page_237">[Pg 237]</a></span> Hofe hinunter, +und alle die fremden Menschen, die beim Löschen geholfen hatten, liefen +ihm entgegen und umringten ihn, so daß sie ihn nicht sehen konnte. Sie +hörte nur, wie er unaufhörlich rief: »Mutter, Mutter! komm doch und +sieh, komm und sieh!« Und die Stimme brachte Kunde von einer großen +Freude, aber sie blieb dennoch regungslos sitzen. Sie wagte ihm nicht +entgegenzugehen. Endlich kam die ganze Menschenschar auf sie zu, und der +Mann trennte sich von den andern und kam heran und legte ein schönes +Kind in ihre Arme.</p> + +<p>»Hier ist unser Sohn, er ist zu uns zurückgekehrt,« sagte der Mann. »Und +du — und kein andrer — hast ihn gerettet.«<span class='pagenum'><a name="Page_238" id="Page_238">[Pg 238]</a></span></p> + +<h2><a name="Der_Spielmann" id="Der_Spielmann"></a>Der Spielmann</h2> + +<p>Ein Spielmann geht eines Sonnabends spät nachts mit seiner Fiedel unterm +Arme einher. Er ist sehr munter und fröhlich, denn er kommt von einem +Feste, wo er mit seinem Spiel alt und jung zum Tanzen verlockt hat.</p> + +<p>Wie er nun so geht, denkt er just daran, wie niemand sich stille halten +konnte, solange sein Bogen im Gange war. Ein so wilder Tanz hatte durch +die Stube gewirbelt, daß es ihm ein paarmal gewesen war, als tanzten +Tische und Stühle mit.</p> + +<p>— »Ich glaube doch sicherlich, daß sie niemals einen solchen Spielmann +wie mich an diesem Orte gehabt haben,« sagte er zu sich selbst.</p> + +<p>— »Aber recht schwer habe ich es gehabt, bis ich ein so tüchtiger Kerl +wurde,« fährt er fort. »Das war kein Spaß, als ich noch ein Kind war und +die Eltern mir befahlen, Schafe und Kühe zu hüten, und ich alles vergaß +und nur dasaß und an meiner Geige zupfte. Ja, und nicht einmal eine +richtige Geige wollten sie mir daheim geben. Ich hatte nichts andres +zum<span class='pagenum'><a name="Page_239" id="Page_239">[Pg 239]</a></span> Spielen als eine alte Holzkiste, über die ich Saiten gespannt +<ins title="hatte.">hatte.«</ins></p> + +<p>»Am Tage, wenn ich allein im Walde sein durfte, ging es mir ja ganz gut, +aber es war kein Spaß, am Abend heimzukommen, wenn die Herde sich mir +verirrt hatte. Da bekam ichs unzählige Male von Vater und Mutter zu +hören, daß ich ein Taugenichts sei, und daß nie etwas aus mir werden +würde.«</p> + +<p>In dem Teil des Waldes, den der Spielmann durchwandert, bahnt sich ein +kleiner Bergstrom seinen Weg. Da ist der Boden steinig und hügelig, und +dem Strom macht es große Beschwerden, vorwärts zu kommen. Er windet sich +hin und her, stürzt sich über kleine Fälle und scheint doch nicht vom +Fleck zu kommen. Der Weg hingegen, den der Spielmann wandert, versucht +so schnurgerade zu gehen wie nur möglich. Er trifft so immer wieder mit +dem sich schlängelnden Bergstrom zusammen und springt jedesmal auf einem +kleinen Brücklein hinüber. Der Spielmann muß daher einmal ums andre den +Strom überschreiten; und das macht ihm Freude. Es ist ihm so, als hätte +er nun im Walde Gesellschaft gefunden.</p> + +<p>Er geht durch die helle Sommernacht. Die Sonne ist noch nicht +aufgestanden, aber es hat nicht viel zu sagen, daß sie sich ferne hält, +denn es herrscht doch auf jeden Fall volles Licht. Aber richtig so wie +am Tage ist es doch nicht.</p> + +<p>Alles hat eine andre Farbe. Der Himmel ist ganz weiß, die Bäume und die +hohen Kräuter im Grase<span class='pagenum'><a name="Page_240" id="Page_240">[Pg 240]</a></span> sind glänzend grau. Aber alles ist ebenso +deutlich erkennbar wie am Tage, und als der Spielmann auf einer der +vielen Brücken stehen bleibt und in den Strom hinabblickt, kann er jedes +Bläschen unterscheiden, das durch das Wasser perlt.</p> + +<p>»Wenn ich solch einen Strom in der Wildnis sehe, muß ich mich an mein +eignes Leben erinnern,« denkt der Spielmann. »Ebenso halsstarrig wie er +habe ich mir meine Straße gebahnt, vorbei an allem, was sich mir in den +Weg stellte. Da war Vater: er stellte sich mir entgegen wie ein harter +Fels. Und da war Mutter: sie suchte mich still zu halten und mich +gleichsam zwischen Mooshügelchen einzubetten. Aber ich schlich mich an +Vater und Mutter vorbei, und hinaus in die Welt ging es.«</p> + +<p>»Haha, jaja, ich denke, Mutter sitzt daheim und weint noch um mich; aber +was kümmert das mich! Sie hätte doch verstehen können, daß aus mir etwas +werden mußte, und hätte nicht versuchen sollen, mir entgegen zu sein.«</p> + +<p>Ungeduldig reißt er ein paar Blätter von einem Busch ab und wirft sie in +den Strom.</p> + +<p>— »So habe ich mich von allem daheim losgerissen,« sagt er, als er +sieht, wie das Wasser die Blätter forttreibt.</p> + +<p>— »Möchte doch gerne wissen, ob Mutter erfahren hat, daß ich nun der +beste Spielmann in ganz Värmland bin?« sagt er, während er weiter +wandert.<span class='pagenum'><a name="Page_241" id="Page_241">[Pg 241]</a></span></p> + +<p>Er geht mit rüstigen Schritten vorwärts, bis er wieder zu einem Steg +kommt. Da bleibt er abermals stehen und sieht in den Strom hinab. Unter +der Brücke schäumt der Strom in reißendem Fall und macht ein +erschreckliches Getöse. Da es Nacht ist, hört man ganz andre Laute als +am Tage, und der Spielmann wundert sich gar sehr, wie er stehen bleibt +und lauscht. Da ist kein Vogelgesang im Walde und kein Spiel in den +Nadeln und kein Rascheln im Laube. Keine Wagenräder knarren auf dem +Wege, und keine Kuhschellen klingeln. Man hört nur den Bergstrom, aber +gerade darum hört man ihn wohl umsoviel besser und anders als am Tage. +Es klingt, als wenn alles Denkbare und Undenkbare in der Tiefe des +Stromes wäre. Vor allem klingt es, als wenn jemand dort unten säße und +zwischen großen Steinen Korn mahlte, aber zuweilen klingt es so, wie +wenn Becher bei einem Trinkgelage aneinander stoßen, und manchmal hört +man ein Murmeln, wie wenn die Gemeinde aus der Kirche kommt und nach dem +Gottesdienst in eifrigem Gespräch auf dem Kirchenhügel steht.</p> + +<p>— »Das hier ist wohl auch eine Art Musik,« denkt der Spielmann, +»obschon ich nicht finden kann, daß es besonders weit damit her ist. Ich +sollte doch meinen, daß die Weise, die ich jüngst gesetzt habe, mehr +wert ist, daß man auf sie horche.«</p> + +<p>Aber je länger der Spielmann steht und dem Wasserfall lauscht, desto +besser und besser gefällt ihm dessen Lied.<span class='pagenum'><a name="Page_242" id="Page_242">[Pg 242]</a></span></p> + +<p>— »Ich glaube wirklich, du nimmst dich zusammen,« sagt er zum +Wasserfall. »Du mußt wohl merken, daß der beste Spielmann von ganz +Värmland da steht und dir zuhört.«</p> + +<p>In demselben Augenblick, wo er dies sagt, vermeint er, aus der Tiefe ein +paar metallklare Laute zu vernehmen, wie wenn jemand an einer Saite +zupft, um zu prüfen, ob sie stimme.</p> + +<p>»Sieh da, nun ist der Wassermann selbst zur Stelle gekommen; ich höre, +wie er an seiner Fiedel zupft,« sagt der Spielmann und lacht. »Aber ich +kann doch nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben und darauf warten, +daß du anfängst,« ruft er gleich darauf ins Wasser hinab. »Nun muß ich +weiter gehen, aber ich verspreche dir, daß ich auch auf der nächsten +Brücke stehen bleiben und horchen will, ob du zu spielen begonnen hast.«</p> + +<p>Er wandert weiter, und während der Strom auf seinem geschlängelten Wege +in den Wald hineinläuft, fängt er wieder an, an seine Heimat zu denken.</p> + +<p>— »Ich möchte wohl wissen, wie es mit dem kleinen Bächlein steht, das +an unserm Gehöft vorbeifließt; das wollte ich gerne wieder einmal sehen. +Ich sollte doch einmal heimgehen, um zu sehen, ob die Mutter dürftige +und schwere Zeit hat, seit Vater tot ist, — wenn ich nur die Zeit +finden könnte. Aber ich bin so beschäftigt; da ist es fast unmöglich. +Ich kann zu nichts anderm Zeit finden als für meine<span class='pagenum'><a name="Page_243" id="Page_243">[Pg 243]</a></span> Fiedel; es gibt ja +kaum einen Abend in der Woche, an dem ich frei wäre.«</p> + +<p>Nach einem kleinen Weilchen trifft er den Strom wieder, und damit kommt +er allsogleich auf andre Gedanken. Bei diesem Übergang kommt der +Bergstrom nicht in einem donnernden Wasserfall herangestürzt, sondern er +fließt ganz sacht vorbei. Tiefschwarz und blank liegt er unter den +nächtig grauen Bäumen des Waldes und trägt noch hier und dort einen +schneeweißen Schaumkamm von den obern Fällen.</p> + +<p>Als der Spielmann auf das Brücklein kommt und keinen andern Laut vom +Strome hört als hie und da ein leises Plätschern, fängt er abermals zu +lachen an.</p> + +<p>— »Ich konnte es mir ja denken, daß der Neck sich nicht bequemen würde, +zum Stelldichein zu kommen,« rief er. »Freilich habe ich immer gehört, +daß er ein tüchtiger Spielmann sein soll, aber gar so weit her kann es +doch nicht mit ihm sein, wenn er immer ganz still im Bach liegt und nie +etwas Neues zu hören bekommt. Er weiß schon, daß hier einer steht, der +die Sache besser versteht als er, und darum will er sich nicht hören +lassen.«</p> + +<p>Damit geht er weiter und verliert den Strom wieder aus den Augen.</p> + +<p>Er kommt in eine Gegend des Waldes, die ihn immer unheimlich und +gruselig zu durchwandern däuchte. Da ist der Boden von Steinen und +Geröll bedeckt, und verkrümmte Tannenwurzeln schlängeln sich da<span class='pagenum'><a name="Page_244" id="Page_244">[Pg 244]</a></span>zwischen +durch. Wenn es etwas Verhextes oder Gefährliches im Walde gäbe, sollte +man wohl meinen, daß es sich gerade hier verborgen halten müßte.</p> + +<p>Als der Spielmann zwischen die wilden Steinblöcke kommt, überläuft ihn +ein Schauder, und er fängt an zu bedenken, ob es nicht unklug von ihm +gewesen sei, sich vor dem Neck zu rühmen.</p> + +<p>Es dünkt ihn, daß die großen Tannenwurzeln Gebärden gegen ihn machten, +als wollten sie ihm drohen.</p> + +<p>— »Hüte dich, du, der du mehr sein willst als der Wassermann!« scheinen +sie zu sagen.</p> + +<p>Der Spielmann fühlt, wie das Herz sich ihm vor Angst zusammenschnürt. +Eine solche Last legt sich ihm auf die Brust, daß er kaum atmen kann, +und seine Hände werden eiskalt. Er bleibt mitten auf dem Wege stehen und +sucht sich selbst Vernunft zuzusprechen.</p> + +<p>— »Es gibt doch keinen Spielmann im Wasserfall!« sagt er. »Das ist nur +Aberglaube und Ammenmärchen. Darum ist es ganz gleichgültig, was ich von +ihm gesagt habe oder nicht gesagt habe.«</p> + +<p>Wie er so spricht, sieht er sich im Walde um, als wollte er bekräftigt +finden, daß es sich so verhalte, wie er gesagt. Wenn es Tag gewesen +wäre, so hätte wohl jedes Blättchen ihm zugeblinkt, daß es im Walde +nichts Gefährliches gäbe; aber jetzt bei Nacht stehen alle Bäume +verschlossen und stumm da und sehen aus, als bärgen sie gefährliche +Heimlichkeiten.<span class='pagenum'><a name="Page_245" id="Page_245">[Pg 245]</a></span></p> + +<p>Der Spielmann wird auch immer ängstlicher. Was ihm am meisten Schrecken +einflößt, ist, daß er noch einmal über den Strom gehen muß, bevor der +und der Weg sich trennen und nach verschiednen Seiten ziehen. Er weiß +nicht, was der Wassermann ihm tun wird, wenn er über die letzte Brücke +geht. Vielleicht wird er eine große schwarze Hand aus den Fluten +emporrecken und ihn in die Tiefe ziehen.</p> + +<p>Er hat sich solche Angst eingejagt, daß er ernstlich daran denkt, +umzukehren. Aber dann würde er ja wieder den Strom treffen. Und wenn er +vom Wege abwiche und tiefer in den Wald hineinginge, dann müßte er ihm +wohl auch begegnen, wie der sich krümmte und schlängelte.</p> + +<p>Er fühlt solche Angst, daß er nicht weiß, was er anfangen soll. Er ist +von dem Strome verstrickt, gebunden und gefangen und sieht keine +Möglichkeit des Entrinnens.</p> + +<p>Aber nun fängt er zu laufen an, so rasch ihn die Beine tragen wollen, +denn es ist ihm etwas eingefallen:</p> + +<p>»Gerade hier macht der Strom eine weite Biegung in den Wald hinaus. Der +Wassermann hat bis zur nächsten Brücke einen viel weitern Weg als ich. +Vielleicht kann ich ihn überholen, ehe er noch ans Ziel gekommen ist.«</p> + +<p>Und er läuft, er läuft.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_246" id="Page_246">[Pg 246]</a></span></p> + +<p>Endlich sieht er den letzten Steg vor sich. Gerade gegenüber auf der +andern Seite des Bergstroms liegt eine alte Mühle, die schon so manches +liebe Jahr verlassen dasteht. Das große Mühlrad hängt regungslos über +dem Wasser, die Schleuse vermodert oben auf der Erde, die Wasserrinnen +sind mit Moos bewachsen, und in den leeren Dachluken wuchern Steinwurz +und Moosflechte.</p> + +<p>— »Wenn es noch wäre wie früher und es hier Menschen gäbe,« denkt der +Spielmann, »dann wäre ich nun aus aller Gefahr erlöst.«</p> + +<p>Aber es beruhigt ihn doch, ein Haus zu sehen, das ein Überbleibsel von +Menschenwerk ist, und als er den Strom überschreitet, hat er beinahe +keine Angst mehr. Es geschieht ihm auch gar nichts Gefährliches. Der +Wassermann scheint ihm nichts anhaben zu wollen. Der Spielmann wundert +sich nur über sich selbst, daß er sich wegen rein gar nichts solche +Furcht hat einjagen lassen.</p> + +<p>Er fühlt sich ganz fröhlich und geborgen, und noch froher wird er, als +die Tür der Mühle sich öffnet und ein junges Mägdlein ihm entgegenkommt.</p> + +<p>Sie sieht ganz aus wie eine gewöhnliche Bauerndirne. Sie hat ein +Baumwolltuch auf dem Kopfe, ein kurzes Röckchen und ein weites Leibchen, +aber die Füße sind bloß.</p> + +<p>Sie geht auf den Spielmann zu und sagt ihm ohne Umschweife:</p> + +<p>— »Willst du mir eins spielen, so will ich dir eins tanzen.«<span class='pagenum'><a name="Page_247" id="Page_247">[Pg 247]</a></span></p> + +<p>— »Ja, freilich,« sagt der Spielmann, der bei guter Laune ist, weil er +seine Angst abgeschüttelt hat, »das will ich wohl. Hab doch noch nie +einem schönen Mädchen, das tanzen wollte, Nein gesagt.«</p> + +<p>Er setzt sich auf einen Stein neben dem Mühldamm, lehnt die Fiedel ans +Kinn und hebt an zu spielen.</p> + +<p>Das Mädchen macht ein paar Schritte im Takt zu seinem Spiel, aber dann +bleibt es stehen.</p> + +<p>— »Was ist denn das für eine Polka, die du da spielst?« sagt sie. »Da +liegt ja keine Kraft darin.«</p> + +<p>Der Spielmann ändert die Melodie, er versucht es mit einer, in der mehr +Schwung ist. Die Dirne bleibt mißmutig stehen.</p> + +<p>— »Nach einer solchen Schleppolka kann ich nicht tanzen,« sagt sie.</p> + +<p>Da stimmt der Spielmann die wildeste Weise an, die er kennt.</p> + +<p>— »Bist du mit der nicht zufrieden,« sagt er, »dann mußt du einen +Spielmann rufen, der es besser kann als ich.«</p> + +<p>Wie er das sagt, fühlt er, daß eine Hand seinen Arm gerade am Ellenbogen +packt und den Bogen zu führen und den Takt zu befeuern anfängt.</p> + +<p>Da entströmt der Geige eine Weise, wie er ihresgleichen niemals zuvor +gehört hat. Es ist ein so hurtiger Takt darin, daß es ihn bedünken will, +ein rollendes Rad könnte ihr nicht folgen.<span class='pagenum'><a name="Page_248" id="Page_248">[Pg 248]</a></span></p> + +<p>— »Ja, das nenn ich eine Polka,« sagt die Dirne und beginnt sich im +Kreise zu drehen.</p> + +<p>Aber der Spielmann sieht sie nicht an. Er ist so erstaunt über die +Weise, die er spielt, daß er die Augen schließt, um besser zu hören.</p> + +<p>Als er sie nach einer Weile wieder aufschlägt, ist das Mädchen +verschwunden, aber er denkt nicht weiter daran.</p> + +<p>Er spielt weiter und immer weiter, denn nie zuvor hat er ein solches +Geigenspiel gehört.</p> + +<p>— »Aber nun mag es wohl Zeit sein, aufzuhören«, denkt er schließlich +und will den Bogen niederlegen.</p> + +<div class="center"><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">* *</span><br/> +<span style="letter-spacing: 2em;">*</span></div> + +<p>Aber der Bogen regt sich weiter. Er kann ihn nicht zum Stehen bringen. +Er gleitet auf und nieder über die Saiten und reißt die Hand und den Arm +mit. Und die Hand, die den Geigenhals umfaßt und auf den Saiten fingert, +die kann auch nicht loskommen.</p> + +<p>Der kalte Schweiß tritt dem Spielmann auf die Stirn, und er erschrickt +nun wirklich.</p> + +<p>— »Wie soll dies enden? Soll ich bis zum jüngsten Tage hier sitzen und +spielen?« fragt er sich in Verzweiflung.</p> + +<p>Der Bogen jagt dahin und zaubert eine Weise nach der andern hervor; +stets ist es etwas Neues und so schön, daß der Arme denken muß:</p> + +<p>— »Der auf meiner Geige spielt, der versteht<span class='pagenum'><a name="Page_249" id="Page_249">[Pg 249]</a></span> die Kunst. Aber ich bin +all mein Lebtag ein elender Stümper gewesen. Jetzt erst lerne ich, wie +Musik klingen soll.«</p> + +<p>Für ein paar Augenblicke kann ihn die Musik so hinreißen, daß er sein +unglückseliges Schicksal vergißt. Aber dann fühlt er seine Arme vor +Müdigkeit schmerzen, und er wird aufs neue von Verzweiflung erfaßt.</p> + +<p>— »Diese Geige darf ich nicht von mir legen, bis ich mich zu Tode +gespielt habe. Ich merke, daß der Neck sich nicht früher zufrieden +gibt.«</p> + +<p>Er fängt an, über sich selbst zu weinen, während er immer weiter spielt.</p> + +<p>— »Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich daheim in dem kleinen +Hüttchen bei Mutter geblieben wäre. Was ist aller Ruhm wert, wenn dies +das Ende sein soll!«</p> + +<p>Da sitzt er nun Stunde um Stunde. Es wird Morgen, die Sonne geht auf, +und die Vögel singen rings um ihn her. Aber er spielt, er spielt ohne +Unterlaß.</p> + +<p>Da es ein Sonntag ist, der anbricht, bleibt er ganz allein an der alten +Mühle sitzen. Kein Mensch wandert in den Wald. Sie gehen alle zur Kirche +unten im Tal, und in die Dörfer, die die große Landstraße einsäumen.</p> + +<p>Es wird Vormittag, die Sonne steigt immer höher. Die Vögel verstummen, +aber es beginnt in den langen Nadeln der Tannen zu rauschen.<span class='pagenum'><a name="Page_250" id="Page_250">[Pg 250]</a></span></p> + +<p>Er läßt sich von der Hitze des Sommertages nicht aufhalten. Er spielt, +er spielt. Es wird endlich Abend, die Sonne sinkt zur Ruh, aber sein +Bogen braucht keine Ruhe, und sein Arm fährt fort sich zu regen.</p> + +<p>— »Es ist ganz gewiß, daß dies mein Tod ist,« sagt er. »Und es ist eine +gerechte Strafe für meinen Übermut.«</p> + +<p>In tiefer Nacht kommt der erste Mensch, den er den ganzen Tag lang +gesehen hat, durch den Wald gewandert. Es ist ein altes armes Mütterchen +mit gebeugtem Rücken und grauem Haar und einem Gesichte, das von vielen +Sorgen vergrämt ist.</p> + +<p>— »Das ist seltsam,« denkt der Spielmann. »Es ist mir, als wenn ich das +alte Weiblein kennen müßte. Kann es möglich sein, daß das Mutter ist? +Kann es möglich sein, daß Mutter so alt und grau geworden ist?«</p> + +<p>Er ruft sie laut und bittet sie.</p> + +<p>— »Mutter, Mutter, komm her zu mir!« sagt er. Sie bleibt wie unwillig +stehen.</p> + +<p>— »Ich höre, daß du der beste Spielmann in Värmland bist,« sagt sie. +»Was hast du mit einem armen alten Weibe wie mir zu schaffen?«</p> + +<p>— »Mutter, Mutter, geh nicht an mir vorbei,« ruft der Spielmann, »komm +her und sieh mich an!«</p> + +<p>Da kommt sie näher und sieht, wie er da sitzt und spielt. Das Gesicht +ist bleich wie bei einem Toten, das Haar trieft von Schweiß, und das +Blut perlt unter seinen Nagelwurzeln hervor.<span class='pagenum'><a name="Page_251" id="Page_251">[Pg 251]</a></span></p> + +<p>— »Mutter,« sagt der Spielmann, »nun habe ich mich bald zu Tode +gespielt, aber sage mir vorher noch, ob du mir verzeihen kannst, daß ich +dich in deinem Alter einsam und arm hausen ließ?«</p> + +<p>— »Ja, gewiß, in Gottes, des Erlösers, Namen verzeih ich dir,« sagt die +Mutter.</p> + +<p>Aber wie sie dies sagt, bleibt der Bogen stehen, die Fiedel fällt aus +den erstarrten Fingern zu Boden, und der Spielmann steht erlöst und +gerettet auf. Denn der Zauber ist gebrochen, weil seine alte Mutter zu +ihm gekommen ist und Gottes Namen über ihn ausgesprochen hat.<span class='pagenum'><a name="Page_252" id="Page_252">[Pg 252]</a></span></p> + +<h2><a name="Noch_ein_Stuck_Lebensgeschichte" id="Noch_ein_Stuck_Lebensgeschichte"></a>Noch ein Stück Lebensgeschichte</h2> + +<h4>(Geschrieben zu meinem fünfzigsten Geburtstag)</h4> + +<h3>Die erste Prophezeiung</h3> + +<p>Es läßt sich denken, daß es auf dem alten Herrenhof Morbacka am +zwanzigsten November des Jahres 1858 recht unruhig zugegangen ist. Ein +Kind ist an diesem Tage zu ziemlich später Abendstunde geboren worden, +und so etwas bringt ja immer Verwirrung und Aufregung mit sich, selbst +an einem Ort, wo man die Gewohnheit hat, das Leben ruhig zu nehmen und +nicht mehr Wesens von einer Sache zu machen, als sie wirklich verdient.</p> + +<p>Am dunkeln Abend, so gegen neun Uhr, kommt die Pastorin, die im +Nachbarhause wohnt, und steckt den Kopf zur Küchentür herein. Es ist +eine kleine, alte Frau, eine Verwandte und gute Freundin, die von allen +Menschen Tante Wennervik genannt wird. Sie hat es zu Hause nicht +aushalten können, sondern hat einen Schal über den Kopf geworfen, eine +Laterne in die Hand genommen und sich auf dem schmalen Abkürzungsweg, +der hinter dem Garten läuft, herübergetappt, um zu hören, wie es stehe.<span class='pagenum'><a name="Page_253" id="Page_253">[Pg 253]</a></span></p> + +<p>Die Pastorin wird gleich in die Kammer neben der Küche geführt. Dort +wohnt die alte Frau Lagerlöf, die Witwe des Regimentsschreibers +Lagerlöf, noch heute, so wie sie ihr ganzes Leben lang da gewohnt hat, +als junges Mädchen und als verheiratete Frau. Sie sitzt, siebzigjährig +und weißhaarig, in ihrer Sofaecke und strickt den Enkelkindern Strümpfe, +ganz wie immer. Drinnen bei ihr ist alles ruhig, und sie selbst ist +ruhig, denn der Sohn, Leutnant Lagerlöf, der nach seines Vaters Tode das +Gut übernommen hat, ist eben hier gewesen und hat ihr gesagt, daß das +Ärgste überstanden und das Kind zur Welt gekommen sei.</p> + +<p>So spät am Tage es auch ist, die Haushälterin stellt doch gleich die +Kaffeemaschine aufs Feuer, und bald kommt sie mit einem wohlbesetzten +Kaffeebrett in die Kammer. Nun sitzen Tante Wennervik und die alte Frau +Lagerlöf da und trinken ganz allein Kaffee. Tante Wennervik erfährt, daß +das jüngste Enkelkind ihrer alten Freundin ein Mädchen sei, und die +beiden Alten, die die Grenze des Lebens erreicht haben, sitzen da und +sprechen davon, wie es der Neugeborenen, die ihr Leben gerade begonnen +hat, einst ergehen werde.</p> + +<p>»Es wird ihr so ergehen, wie sie es verdient, weder besser, noch +schlechter,« sagt die alte Frau Lagerlöf.</p> + +<p>»Es kommt auch aufs Glück an, will ich dir sagen, Schwester,« meint +Tante Wennervik.</p> + +<p>Während die Pastorin diese Bemerkung macht, beugt sich die alte Frau +Lagerlöf vor und fühlt das<span class='pagenum'><a name="Page_254" id="Page_254">[Pg 254]</a></span> große Ridikül an, das Tante Wennervik immer +am Arm trägt. Es sind tausend Dinge darin, denn Tante Wennervik ist +eine, die für alles Rat weiß und darum beständig zu Hilfe gerufen wird. +Sie hat sich erst auf ihre alten Tage mit dem alten Pastor Wennervik +verheiratet, der Frau Lagerlöfs Bruder ist; und früher, ehe sie sich +verheiratete, ist sie Wirtschafterin auf vielen großen Gütern gewesen. +Darum versteht sie sich auf alles, nicht nur darauf, die feinsten Gewebe +aufzuziehen und die größten Hochzeitsschmäuse auszurichten, sondern auch +darauf, Kranke zu heilen und junge Bauernmädchen zu tüchtigen +Hausmüttern zu erziehen.</p> + +<p>Als die alte Frau Lagerlöf das Ridikül befühlt, merkt sie bald, daß +außer den Augengläsern und dem Nähzeug und der Medikamentenflasche und +dem Riechsalz und dem Webebuch und den Brustpastillen und dem +Schlüsselbund noch ein harter, viereckiger Gegenstand darin liegt.</p> + +<p>»Ich merke, daß du die Karten mithast, Schwester,« sagte sie.</p> + +<p>Tante Wennerviks welke Wangen werden ein wenig rot. Sie kann +prophezeien, und sie schlägt nie die Karten auf, ohne daß alles, was sie +voraussagt, eintritt. Es ist ihre kleine Schwäche, sich zu freuen, wenn +man ihre Kunst in Anspruch nimmt; aber das will sie nie zugestehen. Sie +beteuert, nicht die geringste Ahnung gehabt zu haben, daß sie die Karten +mit hat. Sie könne gar nicht begreifen, wie sie in das Ridikül gekommen +seien.<span class='pagenum'><a name="Page_255" id="Page_255">[Pg 255]</a></span></p> + +<p>»Aber wenn sie nun einmal da sind, kannst du sie doch für das arme Ding, +das heute abend geboren worden ist, aufschlagen,« sagt die alte Frau +Lagerlöf.</p> + +<p>Tante Wennervik ziert sich ein wenig, aber sie ist nicht sehr schwer zu +erweichen; und nun wird das Kaffeebrett beiseite gerückt, und die alte +Pastorin beginnt, die Karten zu legen. Sie hantiert mit großer Übung und +Fertigkeit, und wie die alte Frau Lagerlöf dasitzt und sie ansieht, kann +sie sich des Gedankens nicht erwehren, daß ihre alte Schwägerin wie eine +richtige Wahrsagerin aussehe. Sie hat einen dunkeln Teint und spielende +schwarze Augen und eine lange Hakennase. Auf dem Kopfe trägt sie eine +große schwarze Mütze, die mit einer scharfen Schnebbe in die Stirne +fällt, und an jeder Schläfe liegen drei Korkzieherlocken. Sie hat kein +einziges graues Haar und nicht ein Fleckchen in ihrem Gesicht, das noch +nicht von Runzeln übersponnen wäre.</p> + +<p>Tante Wennervik legt die Karten in vier Reihen: neun Karten in jeder +Reihe; und als dies geschehen ist, legt sie den Zeigefinger auf die +erste Karte und beginnt zu zählen: eins, zwei, drei, vier — bis +sechzehn. Sie zählt hinauf und hinunter, von rechts und von links, und +bewegt den Finger, während sie zählt, von einer Karte zur andern. +Endlich bleibt sie sitzen und murmelt in sich hinein, als wäre sie nicht +recht zufrieden.</p> + +<p>»Nun, was siehst du, Schwester?« fragte die alte Frau Lagerlöf.<span class='pagenum'><a name="Page_256" id="Page_256">[Pg 256]</a></span></p> + +<p>»Kränklichkeit folgt ihr,« antwortete Tante <ins title="Wennervik">Wennervik.</ins> »Damit muß sie +sich all ihr Lebtag abplagen.«</p> + +<p>»Ein jeder muß sein Kreuz tragen,« sagt die alte Frau Lagerlöf, »sonst +wird nichts Rechtes aus einem. Da wird es wohl ein stilles Leben führen, +dieses Kind, wenn es kränklich sein wird; und das ist ja ohnehin das +Beste für den Menschen.«</p> + +<p>Tante Wennervik legt den Zeigefinger wieder auf die Karten und beginnt +von neuem zu zählen. »Es liegen viele und lange Reisen vor diesem +Mädchen,« sagt sie. »Und viele Male muß sie übersiedeln und ihren +Wohnort wechseln.«</p> + +<p>»Ein rollender Stein deckt sich nicht mit Moos,« sagt die alte Frau +Lagerlöf. Sie ist nicht recht zufrieden damit, daß die Sohnestochter so +eine werden soll, die in Land und Reich herumzieht. »Ich verstehe: wenn +sie kränklich ist, dann wird sie auch arm sein und zu den Verwandten +herumgeschickt werden,« fährt sie fort. »Der hat es schlimm, der nicht +arbeiten und sich nützlich machen kann.«</p> + +<p>»Sie wird all ihr Lebtag arbeiten und sich plagen müssen,« sagt Tante +Wennervik nach einer neuen Rechnung. »Darüber brauchst du dir keine +Sorgen zu machen, Schwester.«</p> + +<p>»Ja so, dann kommt es wohl so, daß sie ihr Brot bei Fremden verdienen +und oftmals die Herrschaft wechseln muß,« sagt die alte Frau Lagerlöf +und seufzt; denn es scheint ihr, die ihr ganzes Leben lang auf dem +eignen Hof gesessen hat, daß ein Leben bei<span class='pagenum'><a name="Page_257" id="Page_257">[Pg 257]</a></span> Fremden das Allerärgste sein +müsse. Aber da sie es von jeher gewohnt ist, alles zum Besten zu wenden, +erhellt sich ihr Gesicht bald. »Es hat dir ja auch nur Segen gebracht, +Schwester, bei Fremden zu sein,« sagt sie. »Wenn sie ein ebenso +tüchtiger Mensch werden kann, dann hat es keine Not.«</p> + +<p>»Sie wird in ihrem ganzen Leben kein Gewebe aufziehen,« sagt Tante +Wennervik, die Nase in den Karten und so davon ausgefüllt, die Zukunft +zu erforschen, daß sie sich kaum klarmacht, was sie prophezeit. »Sie +wird viel mit Büchern und Papieren zu tun haben.«</p> + +<p>Die alte Frau Lagerlöf beugt sich über die Karten, wie um einen +Leitfaden in all dieser Wirrnis zu finden. »Sie wird viel mit Büchern zu +tun haben? Du meinst vielleicht, Schwester, daß sie einen armen +Geistlichen heiraten wird, der von einem Kirchspiel ins andre ziehen muß +und nie zur Ruhe kommt,« warf sie hin. »Aber wenn es nur ein +ordentlicher Mann ist, der sie gut behandelt ...«</p> + +<p>Tante Wennervik erhebt den Zeigefinger gerade in die Luft und +unterbricht sie. »Willst du, Schwester, daß ich dir sage, wie es ist?« +fragt sie.</p> + +<p>»Gewiß will ich das,« antwortet die alte Frau Lagerlöf.</p> + +<p>»Sie wird nie heiraten.«</p> + +<p>»So, so, sie wird nie heiraten ... Na ja, dann bleiben ihr vielleicht +viele Sorgen erspart. Aber weißt du, das ist gerade keine gute +Prophezeiung, die du<span class='pagenum'><a name="Page_258" id="Page_258">[Pg 258]</a></span> mich heute abend hören läßt, Schwester. Aber du +kannst mir doch wenigstens sagen, ob sie ein braver, guter Mensch wird?«</p> + +<p>»Gut und freundlich wird sie sein,« sagte Tante Wennervik und guckt +wieder in die Karten, um nachzusehen, was sie ihr noch weiter zu sagen +haben. Aber die alte Frau Lagerlöf unterbricht sie etwas trocken:</p> + +<p>»Ich glaube, Schwester, du legst die Karten jetzt zusammen. Ich bin +froh, daß ich wenigstens weiß, daß ein ordentlicher Mensch aus ihr wird. +Das ist eigentlich das einzige, was man zu wissen braucht.«</p> + +<h3>Oceola</h3> + +<p>Es gibt ein Buch, das Oceola heißt. Obgleich es möglich sein kann, das +ich mich nicht recht erinnre, und daß es irgendeinen andern prächtigen +exotischen Namen führt. Es ist ein Indianerbuch, wie man heutzutage +sagt, aber es ist wohl ursprünglich nicht für Kinder geschrieben, +sondern war bestimmt, von großen Leuten gelesen zu werden. Ich weiß +nicht, wer es verfaßt hat, ich weiß auch nicht, wann es geschrieben +wurde, aber es ist wohl recht alt, da es mehr als vierzig Jahre her ist, +seit ich es zum ersten Male gesehen habe.</p> + +<p>Ich kann auch nicht sagen, wie es kommt, daß das Buch seinen Weg in mein +Heim dort oben in Värmland fand. Es gehörte nicht zu dem Bücherschatz +des Hauses, der hauptsächlich aus Versdichtungen bestand und nur ganz +wenige Romane umfaßte. Vielleicht hatte es ein Besucher mitgebracht, +oder auch hatte<span class='pagenum'><a name="Page_259" id="Page_259">[Pg 259]</a></span> es sich meine Tante, die eine große Romanvertilgerin +war, von irgendeinem der Nachbarn ausgeliehen. Aber wie dem auch sein +mag, — eines ist sicher, daß es an einem schönen Tage, als ich etwa +sieben, acht Jahre alt bin, daheim auf einem Tische liegt, und daß meine +Augen darauf fallen.</p> + +<p>Ich lese gerne. Ich pflege jeden Tag auf einem Schemelchen neben Mutter +zu sitzen, wenn sie an ihrer Näherei arbeitet, und ihr aus Nösselts +»Weltgeschichte für Frauenzimmer« vorzulesen. Wir sind durch alle sieben +Teile gekommen, aber am besten verstehe ich den ersten Teil mit den +vielen Sagen. Ich kann nie aufhören, mich zu freuen, wenn Odysseus +heimkehrt und die Freier totschießt; aber Hektors und Andromaches +Abschied übergehe ich am liebsten, weil ich ihn nicht lesen kann, ohne +zu weinen.</p> + +<p>Die Frithjofsage und Andersens Märchen und Fähnrich Ståls Erzählungen +sind auch meine guten Freunde, aber einen Roman habe ich noch nie zu +lesen versucht. Ich beabsichtige auch garnicht, mich durch dieses dicke +Buch durchzuarbeiten. Es kommt mir vor, als müßte man mehrere Jahre +brauchen, um es zu Ende zu lesen; ich will nur hineingucken. Aber das +Glück will es, daß ich es gerade an der Stelle aufschlage, wo die Heldin +des Buches, die junge, schöne Tochter eines Plantagenbesitzers, beim +Bade von einem Alligator überrascht wird. Ich lese, wie sie entflieht +und verfolgt wird und in Todesgefahr schwebt. Nie zuvor hat mich ein +Buch in solche Spannung versetzt.<span class='pagenum'><a name="Page_260" id="Page_260">[Pg 260]</a></span> Ich stehe atemlos und lese, bis der +junge heldenmütige Indianer zu ihrer Rettung herbeieilt und nach einem +furchtbaren Kampf mit dem Alligator diesem sein Messer in das Herz +stößt.</p> + +<p>Nun lese ich Seite um Seite, solange man mich in Frieden läßt. Und sowie +ich wieder frei bin (denn ich bin ja viele Stunden des Tages damit +beschäftigt, bei einer Lehrerin Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen), +kehre ich zu dem Tisch zurück, wo der Roman noch immer liegt, und lese +darin.</p> + +<p>Ich bin ganz benommen, ganz bezaubert. Tag und Nacht denke ich nur an +das Buch. Es ist eine neue Welt, die sich mir ganz plötzlich eröffnet +hat. Der ganze Reichtum des Lebens strömt mir zu. Da sind Liebe, +Heldenmut, schöne, edle Menschen, niedrige Schurken, Gefahren und +Freuden, Glück und Schmerz. Da sind kunstvoll verschlungne Ereignisse, +die mich in Spannung und Schrecken versetzen. Da ist alles mögliche, +wovon ein kleines, siebenjähriges Kind, das auf einem stillen Herrenhof +in Värmland aufgewachsen ist, nie zuvor hat reden hören. Man versetze +einen der erwachsenen Bewohner der Erde auf einen Stern im Weltenraume. +Ich glaube kaum, daß er diese neue Welt mit glühenderem Eifer +untersuchen könnte, mit größerem Interesse, mit einem stärkeren Gefühl, +wie wunderbar glücklich er sei, weil er all dies Ungeahnte kennen lernen +dürfe.</p> + +<p>Fortab lese ich alle Romane, die mir in die Hände fallen. Es läßt sich +schwer sagen, wieviel ich von ihnen<span class='pagenum'><a name="Page_261" id="Page_261">[Pg 261]</a></span> verstand, aber ein unerhörtes +Vergnügen bereiteten sie mir. Jetzt sind sie meiner Erinnerung +entschwunden, die allermeisten wenigstens.</p> + +<p>Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, wundert es mich wohl, daß man mich +alles lesen ließ, was ich nur fand. Aber ich begreife, daß es Vater und +Mutter schwer fiel, mir etwas abzuschlagen. Jene Kränklichkeit, die +Tante Wennervik mir prophezeit hatte, war schon eingetreten. Das eine +Bein war schwach, und lange Zeit hindurch konnte ich gar nicht gehen. +Man fand es nicht zuträglich für mich, daß ich mich mit körperlichen +Übungen und Spielen belustigte wie andre Kinder; sondern die Eltern +sahen es am liebsten, wenn ich mich still verhielt. Und da sie nun +merkten, daß ich mich glücklich fühlte, wenn ich nur ein Buch in der +Hand hatte, waren sie froh, daß ich mich auf diese Weise zerstreuen +konnte.</p> + +<p>Aber für mich wurde die Bekanntschaft mit diesem Indianerbuche Oceola +entscheidend für das ganze Leben. Es erweckte in mir die tiefe, starke +Sehnsucht, einmal etwas ebenso Herrliches schaffen zu können. Dieses +Buch bewirkte, daß ich von den frühesten Kindheitsjahren an wußte, daß, +was ich in kommenden Tagen am liebsten tun wollte, Romane schreiben war.</p> + +<p>Ich hatte wohl durch Geschwister und Dienstleute gehört, was die alte +Tante Wennervik mir an dem Abend, an dem ich geboren wurde, über meine +Zukunft prophezeit hatte. Niemand wurde der Weissagung froh; nur ich +selbst, — ich war zufrieden, weil sie mir ver<span class='pagenum'><a name="Page_262" id="Page_262">[Pg 262]</a></span>sprach, daß ich viel mit +Büchern und Schreiben zu tun haben würde. Nach etwas anderm fragte ich +damals nicht. — — —</p> + +<p>Ich will auch erzählen, daß es sich vor einigen Jahren, als ich schon +ein paar Bücher geschrieben hatte, zutrug, daß ich in dem Bücherstand +einer Eisenbahnstation ein kleines, dickes Büchlein erblickte, das +»Oceola« hieß. Es war schlecht gedruckt, auf häßlichem grauem +Zeitungspapier und in einen schäbigen braunen Umschlag geheftet; es +wurde für einen geringen Preis feilgeboten. Ich kaufte es, und als ich +im Zuge saß, begann ich darin zu lesen, um zu sehen, ob es wirklich das +Wunderbuch meiner Kindheit wäre, das ich hier wiedergefunden hatte. Ich +entdeckte auch die Szene mit den Alligator, — es mußte also dasselbe +Buch sein.</p> + +<p>Aber es war es doch nicht. Dies war ein armseliges, langweiliges, +schlecht übersetztes, veraltetes Buch. Es war etwa so, wie wenn man den +Geliebten seiner Jugend als hinfälligen Kranken wiedersieht. Ich hatte +Angst davor, Angst, daß es das Bild der rechten, der strahlenden Oceola +verdunkeln könnte. Ich hatte die größte Lust, es zum Kupeefenster +hinauszuwerfen.</p> + +<p>Aber das konnte ich doch nicht tun. Es ging nicht an, dieses Buch zum +Fenster hinauszuwerfen. Genau bedacht, war etwas Rührendes darin, daß +mir ein solches Buch damals soviel Freude hatte schenken können.</p> + +<p>Es durfte mit nach Hause kommen, aber dann steckte ich es ganz tief +unten in den Bücherschrank, und ich wage es nie mehr anzusehen.<span class='pagenum'><a name="Page_263" id="Page_263">[Pg 263]</a></span></p> + +<h3>Meine Rose im Walde</h3> + +<p>Als ich neun Jahre alt bin, geht eine andre von den bösen Prophezeiungen +der Pastorin Wennervik in Erfüllung. Da mache ich eine lange Reise. Ich +werde nach Stockholm geschickt, um Heilung für mein krankes Bein zu +suchen, und es wird mir verordnet, eine Kur im gymnastischen Institut +durchzumachen. Ich bleibe einen ganzen Winter in Stockholm, und die +Behandlung tut mir sehr gut. Als ich im Frühling heimkomme, bin ich +ebenso gesund wie andre Kinder, und man merkt es beinahe gar nicht, daß +ich hinke.</p> + +<p>Ich wohne bei nahen Verwandten, die sehr gut gegen mich sind, aber das +kann nicht hindern, daß ich mich ein wenig nach Hause sehne. Es fällt +mir schwer, mich an das Stadtleben zu gewöhnen. Es ist mir eine Last, +daß ich jedesmal, wenn ich ausgehe, Hut und Mantel anziehen muß. Ich mag +diese Welt von Steinstraßen nicht, wo die Kinder ebenso ordentlich und +still wie die Erwachsenen ihrer Wege gehen müssen. Ich verstehe mich +auch nicht auf die Spiele der stockholmer Kinder. Ich kann nicht in +ihren kleinen Schlitten fahren, und ich mache mir nichts daraus, mit +Puppen zu spielen. Ich fühle mich dumm und ungeschickt in Gesellschaft +dieser niedlichen und lebhaften Kinder, und ich habe große Angst, +ausgelacht zu werden, weil ich mit värmländischem Akzent spreche.</p> + +<p>Aber es gibt Dinge in der Hauptstadt, die über alle Beschreibung +herrlich sind und für alle Unan<span class='pagenum'><a name="Page_264" id="Page_264">[Pg 264]</a></span>nehmlichkeiten Ersatz bieten. So zum +Beispiel hat mein Onkel alle Romane von Walter Scott in seinem +Bücherschrank, und er leiht sie mir, so daß ich im Laufe des Winters die +ganze Sammlung durchlesen kann. Und dann das Theater!</p> + +<p>Bei meinen Verwandten wohnt eine alte treue Dienerin, die dem Haushalt +meines Onkels vorgestanden hat, bevor er sich verheiratete. Sie ist zu +alt, um an irgendwelchen Arbeiten teilzunehmen; sie sitzt tagaus, tagein +in einem schönen Lehnstuhl in ihrem eignen Zimmerchen und strickt und +häkelt. Onkel ist sehr gut gegen sie. Er ist besorgt, daß ihr die Zeit +zu einförmig werden könnte, und steckt ihr nicht selten eine +Theaterkarte zu. Aber wenn die Alte ins Theater geht, darf ich +mitkommen. Meine Verwandten haben schon entdeckt, welches ungeheure +Vergnügen mir dies bereitet, und sie sind vielleicht auch ein klein +wenig ängstlich, die Alte ganz allein fortzulassen. Meine Theaterbesuche +kosten überdies nichts. Die alte Ursula sagt dem Theaterdiener nur ein +gutes Wort, und ich darf mit hinein. Ich bekomme keinen Sitzplatz, +sondern muß vor ihr stehen, aber das hat nichts zu bedeuten. Im Theater +vergeht die Zeit so rasch, daß ich gar nicht müde werde, ehe alles schon +vorbei ist.</p> + +<p>Es gibt wohl noch heute Menschen, die sich an die ausgetretnen Stufen +und die schmalen Gänge im alten Opernhaus erinnern. Und es gibt auch +wohl noch den einen oder andern, der sich entsinnt, wie es in den +Korridoren roch. Ich komme manchmal im<span class='pagenum'><a name="Page_265" id="Page_265">[Pg 265]</a></span> Ausland in irgendein altes +Schauspielhaus, wo derselbe Theatergeruch noch herrscht. Und wenn ich +ihn spüre, dann werde ich von der Seligkeit der Erwartung erfüllt. Es +kommt mir vor, als ob ich wieder als ein kleines Kind vor der Logentür +stünde und darauf wartete, daß der Diener komme und aufschließe.</p> + +<p>Ulla und ich, wir sitzen stets in der ersten Reihe der zweiten Galerie. +Wir gehen übrigens nicht immer in die Oper, sondern wir gehen auch in +das dramatische Theater, aber auch dort haben wir denselben Platz.</p> + +<p>Auf diese Weise sehen wir »Die Afrikanerin«, »Robert den Teufel«, den +»Freischütz«, »Die Värmländer«, »Die schöne Helena«, »Die Frauenschule«, +»Die Blumen im Treibhaus«, »Meine Rose im Walde«. Das ist wieder eine +neue bunte Welt, in die ich geführt werde. Es ist wirklich gut, daß ich +am Nähtisch meiner Mutter gesessen und Nösselts Weltgeschichte gelesen +habe. Wie hätte ich mich sonst zurechtfinden können!</p> + +<p>Aber eigentlich ist sie nicht ganz neu. Es ist ja meine ganze Romanwelt, +die so illustriert und mir in lebenden Bildern vorgeführt wird. So also +sehen sie aus, meine edeln Wilden, meine geharnischten Ritter. So geht +ein König gekleidet. So nimmt sich ein Klosterhof aus. In solchen +langen, grauen Mänteln wandeln Mönche und Nonnen umher. Ich lerne +sturmgepeitschte Meere, leuchtende Rittersäle und tropische Landschaften +kennen. Und ich nehme natürlich alles blutig <ins title="ernst">ernst.</ins> Ich verstehe nicht, +daß die schöne Helena ein einziger<span class='pagenum'><a name="Page_266" id="Page_266">[Pg 266]</a></span> großer Scherz ist. Ich glaube, daß +es wirklich so zugegangen sei, als Helena von Paris geraubt wurde, +obgleich Nösselt es zu erzählen vergessen hat.</p> + +<p>Wir haben ganz denselben Geschmack, die Alte und ich. Wir lieben +prächtige Dekorationen, prächtige Kostüme und große Szenen, wo es auf +der Bühne von Menschen wimmelt. Und natürlich kümmern wir uns +hauptsächlich um die Handlung. Vom Gesang und von der Musik verstehen +wir nicht viel. Wir werden eher davon belästigt, weil es uns schwer +fällt, die Worte zu hören, und weil wir den Zusammenhang verlieren.</p> + +<p>Aus einfachen Stücken, in denen keine Könige und Ritter auftreten, +machen wir uns nicht viel, obgleich ich für meinen Teil ein Volksstück +wie »Die Värmländer« sehr gerne habe, weil es mich an die Heimat +erinnert. Aber die alte Ulla ist unzufrieden, wenn sie nur Bauern auf +der Bühne sieht. Sie kränkt mich tief durch die Bemerkung, daß die +schöne Helena mit ihrer großen Königsschar doch etwas ganz andres sei. +Ich fühle mich für meine Landsleute verletzt, aber im tiefsten Grunde +bin ich eigentlich ihrer Meinung.</p> + +<p>Inzwischen geht der Winter zu Ende, und ich darf nach Hause reisen. Und +natürlich verfolgt mich die Erinnerung an alles, was ich gesehen habe, +und ich erzähle es meinen Geschwistern wieder und wieder.</p> + +<p>Eines Tages, als wir aus dem einen oder andern Anlaß keine Schularbeiten +haben, fällt es uns ein, daß wir Theater spielen und eines der Stücke +aufführen könnten, die ich in Stockholm gesehen habe. Wir ent<span class='pagenum'><a name="Page_267" id="Page_267">[Pg 267]</a></span>scheiden +uns für »Meine Rose im Walde«. Nicht weil es das hübscheste ist, was ich +gesehen habe, aber es ist das einfachste, das einzige, das wir uns +darstellen zu können getrauen.</p> + +<p>Es wird ein anstrengender Tag für mich. Ich bin es, die die Rollen +einstudiert und die Auftretenden unterweist, was sie sagen und tun +sollen. Wir haben kein Textbuch, sondern alles muß so gemacht werden, +wie ich es in der Erinnerung habe. Ich verwandle mit Hilfe von Decken +und Tüchern die Kinderstube in eine Bühne. Ich wähle die Kostüme aus, +ich erkläre, wie die Mitwirkenden frisiert und geschminkt sein müssen. +Ich bin ja die einzige, die einige Erfahrung in allen diesen Dingen hat.</p> + +<p>Noch vor dem Abend ist alles fertig, und das Schauspiel geht in Szene. +Zuschauer sind Vater, Mutter, Tante, die Erzieherin, die Haushälterin +und ein paar Dienstmädchen. Sie sitzen alle in einer engen Türöffnung +und können nicht viel von der Bühne sehen. Aber das macht nichts. Sie +unterhalten sich doch unbeschreiblich gut.</p> + +<p>Wir haben ein junges Mädchen als Pensionärin im Hause. Sie ist sehr +reizend und geht in einem alten Ballkleid meiner Mutter umher und spielt +die Liebhaberin: »Meine Rose im Walde«. Meine älteste Schwester, die +auch zwölf Jahre alt ist, hat sich mit Vaters allerältester Uniformjacke +herausstaffiert und spielt den Liebhaber. Sie ist ganz unbeschreiblich +niedlich. Sie hat wirklich Anlagen für den schauspielerischen<span class='pagenum'><a name="Page_268" id="Page_268">[Pg 268]</a></span> Beruf. +Unsere Kammerjungfer gibt die Rolle der Haushälterin, und ich selbst +habe es übernommen, einen siebzigjährigen Greis zu spielen. Es muß ein +Greis mit langem, weißem Haar im Stücke vorkommen, und ich wähle diese +Rolle, weil mein Haar sehr lang und ganz weiß ist.</p> + +<p>Wir haben einen großen, großen Erfolg. Ich möchte wissen, was der alte +Franz Hedberg gesagt haben würde, wenn er sein Stück auf diese Weise +aufgeführt gesehen hätte, aber auch er wäre vielleicht mit uns zufrieden +gewesen.</p> + +<p>Doch von diesem Tage an träume ich nicht nur davon, Romane zu schreiben. +Jetzt will ich auch Theaterstücke verfassen. Ich sehne mich danach, +erwachsen zu sein, damit ich nicht mehr am Schultisch sitzen und meine +Zeit mit Lektionen und Aufgaben vergeuden muß.</p> + +<h3>Wie dunkel ist es doch unter der Linde</h3> + +<p>Es ist ein schöner Frühlingsabend, und ich gehe in dem kleinen Hain +hinter dem Garten auf und ab. Sowie ich auf einem der geschlängelten +Pfade an die Grenze des Haines komme, schlägt mir das blendendste Licht +entgegen. Weite Fluren breiten sich vor mir aus, und der Sonnenschein +zittert in dem feuchten Dunst, der von den frischgepflügten Feldern +aufsteigt. Auf einer Seite leuchtet die Luft wie Purpur, auf der andern +sieht es aus, als wäre sie von Goldstaub erfüllt.<span class='pagenum'><a name="Page_269" id="Page_269">[Pg 269]</a></span></p> + +<p>Drinnen unter den Bäumen ist es jedoch merkwürdig finster. Sie haben +sich erst ganz kürzlich belaubt, ich bin das grüne Dunkel noch nicht +gewohnt, das im Sommer unter ihnen zu herrschen pflegt. Ganz plötzlich, +gerade als ich aus dem Licht vor dem Hain wieder unter die Bäume trete, +kommen mir ein paar Reime auf die Lippen:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Wie dunkel ist es doch unter der Linde,<br /></span> +<span class="i0">Wie ängstlich still wehen die Winde.<br /></span> +</div></div> + +<p>Was nun? Was war das? Ich stehe da und wage kaum zu atmen. Das sind ja +Reime. Das ist ja ein Vers. Kann ich Verse machen?</p> + +<p>Ich bin fünfzehn Jahre, und ich habe alle Dichter gelesen, die wir zu +Hause haben: Tegnèr, Runeberg, Frau Lengren, Stagnelius, Vitalis, +Bellman, Wallin, Dahlgren. Aber nie zuvor ist es mir eingefallen, daß +ich Verse schreiben könnte. Verse machen, — das ist ja etwas Hohes und +Heiliges. Seine Gedanken in Reim und Metrum niederschreiben zu können, +— das ist eine Gabe, die nur den Auserwählten der Menschheit beschieden +ist.</p> + +<p>Aber jetzt habe auch ich ein paar gereimte Zeilen zusammengestellt. Ich +wiederhole sie mir einmal ums andre. Ich spreche sie halblaut. Ich singe +sie leise. Aber ich versuche nicht, weitere Zeilen hinzuzufügen. Ich bin +viel zu erstaunt darüber, was mir widerfahren ist.</p> + +<p>Stelle dir vor, daß du als armes Bettelkind auf<span class='pagenum'><a name="Page_270" id="Page_270">[Pg 270]</a></span>gewachsen bist und ganz +plötzlich die Gewißheit erlangst, ein Königskind zu sein!</p> + +<p>Stelle dir vor, daß du blind warst und plötzlich sehend wirst, daß du +bettelarm gewesen und auf einmal reich bist, daß du ausgestoßen und +freudlos warst und ganz unvermutet einer großen, warmen Liebe begegnest! +Stelle dir was du willst an großem unerwartetem Glück vor, und du wirst +dir doch kein größeres denken können, als das ich in diesem Augenblick +empfand.</p> + +<p>Ich konnte reimen. Ich konnte Verse machen. Ich hatte dieselbe Gabe wie +Tegnèr, Runeberg, Wallin. Ich würde werden wie einer von ihnen.</p> + +<p>Ich hatte ja schon lange daran gedacht, Romane und Theaterstücke zu +schreiben. Aber das ist lange nicht so merkwürdig wie Verse schreiben. +Das ist nur hübsch und vergnüglich; aber Verse, — das ist das Hohe und +Edle. Das ist das Ruhmvolle und Anbetungswürdige. Das ist das +Allerwunderbarste.</p> + +<p>Ich verschweige den Meinen die große Entdeckung. Aber ich gehe den +ganzen Tag wie im Taumel umher, höre garnichts, was man mir sagt, +sondern antworte ganz verkehrt.</p> + +<p>Ich sehe uns noch alle an jenem Tag beim Abendbrot vor mir. Da sitzen +Vater und Mutter. Da sind meine Schwestern, die Tante, die Erzieherin. +Und da bin ich selbst, klein und blaß, mit langem Haar, ganz wie alle +andern Kinder. Vater führt wie gewöhnlich das Wort. Er scherzt mit der +Tante und der Erzieherin. Es geht fröhlich und munter her, aber das<span class='pagenum'><a name="Page_271" id="Page_271">[Pg 271]</a></span> +Gespräch bewegt sich um die alleralltäglichsten Dinge. Was würden sie +sagen, die anderen, wenn sie eine Ahnung von den wilden Hoffnungen +hätten, die in meinem Kopfe stürmen!</p> + +<p>Was mich beunruhigt, ist Tante Wennerviks Weissagung. Darin kam nichts +davon vor, daß ich etwas Großes und Merkwürdiges werden solle. Aber wer +Verse schreibt, der ist doch eine Größe, der ist fast noch mehr als ein +König. Ich bekomme Angst, daß ich mich geirrt haben könnte, daß ich doch +nicht die Göttergabe hätte.</p> + +<p>Da wiederhole ich mir selbst den kleinen Reim, und wieder fühle ich mich +unendlich stolz, unendlich glücklich.</p> + +<p>Als es endlich Nacht wird, will ich versuchen, was diese neue Gabe +vermag; und ich beginne ganz getrost, ein Poem zu verfassen. Ich liege +bis zum Morgen wach und binde und knüpfe Wort an Wort. Ich füge +Verszeile an Verszeile und habe bis zum Morgen eine Menge Strophen +fertig.</p> + +<p>Aber das Gedicht ist nicht das Merkwürdige für mich. Das Merkwürdige +ist, daß ich die Gabe habe, zu reimen, daß ich zu den Auserwählten +gehöre.</p> + +<p>In den nächsten Jahren schreibe ich zur Zeit und zur Unzeit, früh und +spät, Tag und Nacht Verse. Der größte Teil von diesen Dichtungen ist +vernichtet; und das wenige, was übrig blieb, ist recht schwach.</p> + +<p>Von dieser ganzen Schriftstellerei gibt es nur ein kleines Stückchen, an +dem ich meine Freude habe, und<span class='pagenum'><a name="Page_272" id="Page_272">[Pg 272]</a></span> das ich mir zuweilen selbst wiederhole, +wenn ich unter dem Dunkel der Bäume stehe und das Licht der Abendsonne +über Flur und Tal lodern sehe:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Wie dunkel ist es doch unter der Linde<br /></span> +<span class="i0">Wie ängstlich still wehen die Winde.<br /></span> +</div></div> + +<h3>Die Aufnahmeprüfung</h3> + +<p>Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und befinde mich wieder in Stockholm, +in demselben freundlichen Heim, das mich aufnahm, als ich ein +neunjähriges Kind war. Ich bin in die Hauptstadt gekommen, um Aufnahme +in dem Höheren Lehrerinnenseminar zu finden. Ich habe die Prüfung +gemacht; gestern war der letzte Tag, und nun sitze ich da und warte +darauf, zu hören, ob ich durchgekommen sei, ob ich in die Anstalt +aufgenommen würde.</p> + +<p>Das ist ein langer Tag. Es ist fast unmöglich, ihn zu Ende zu bringen. +Wir sind beinahe eine ganze Woche geprüft worden, und das war nicht so +schlimm, wie ich befürchtet hatte. Es waren Tage voll starker Spannung, +aber es ist doch immer etwas vorgegangen. Es war Kampf und Wettbewerb, +und bisweilen ist es sogar ganz lustig gewesen. Die Prüfer waren äußerst +wohlwollend und haben keine übertriebnen Ansprüche gestellt. Im großen +und ganzen glaube ich, daß ich bei den Prüfungen ganz gut bestanden +habe. Aber unglücklicherweise genügt es nicht, wenn man gut besteht, — +man muß es auch noch besser machen als viele andre.<span class='pagenum'><a name="Page_273" id="Page_273">[Pg 273]</a></span></p> + +<p>Nicht mehr als fünfundzwanzig Schülerinnen können jedes Jahr ins Seminar +eintreten; und es sind neunundvierzig, die Aufnahme suchen. Darin liegt +das Schreckliche. Wir sind in <ins title="kleine">kleinen</ins> Gruppen von drei und drei geprüft +worden; und darum weiß ich nicht, wie die andern die Probe bestanden +haben. Aber ich denke mir, daß diese andern in ordentliche Schulen in +Städten gegangen sein würden. Sie hätten nicht ihr ganzes Leben lang auf +dem Lande gewohnt und ihre ganze freie Zeit dazu verwendet, unnütze +Verse zu schreiben. Es sei nur natürlich, wenn sie alle viel besser +beschlagen wären als ich.</p> + +<p>Dieses ganze letzte Jahr habe ich in Stockholm verbracht und habe einen +Kurs absolviert, mich für diese Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Aber es +ist ja nur ein Jahr, in dem ich ordentlich studiert habe. Die andern +haben große achtklassige Schulen durchgemacht ...</p> + +<p>Wir sollen unser Schicksal erst spät am Nachmittag erfahren. Zu denen, +die die Prüfung nicht bestanden haben, kommt ein Diener mit einem Brief, +der ihnen mitteilt, daß sie in diesem Jahre nicht in das Seminar +aufgenommen werden könnten. Bin ich hingegen glücklich durch, so bekomme +ich keinen Brief, gar keine Nachricht. Dann kann ich am nächsten Morgen +ganz ruhig zum Seminar hinaufwandern und meine Studien beginnen. Aber +noch ist es mitten am Tage. Es müssen noch viele Stunden hingehen, ehe +ich ernstlich den Diener mit dem gefürchteten Brief erwarten kann.<span class='pagenum'><a name="Page_274" id="Page_274">[Pg 274]</a></span></p> + +<p>Die Verwandten haben Mitleid mit mir; aber was können sie tun, mir zu +helfen! Es gibt nichts, was meine Unruhe zerstreuen könnte. Wir sitzen +da und plaudern, aber ich kann nicht recht folgen. Die Gedanken kehren +immer zu der Frage zurück, ob ich nicht die mathematische Aufgabe ganz +falsch gelöst, und ob ich bei der mündlichen Prüfung im Schwedischen +nicht am Ende sehr schlecht bestanden hätte.</p> + +<p>Ich hoffe und bete, daß ich durchkomme, nicht weil ich genug weiß und +kann, sondern weil ich es nötiger brauche als irgendeine andre.</p> + +<p>Davon bin ich ganz überzeugt. Es ist nicht möglich, daß irgendeine von +allen denen, die Aufnahme suchen, diese drei Jahre kostenlosen +Unterricht, die das Seminar bietet, ebenso notwendig brauchte wie ich. +Wenn es mir jetzt mißlingt, dann ist es aus mit mir, dann muß ich mir +eine kleine Gouvernantenstelle mit ein paar hundert Kronen Lohn suchen, +oder ich muß auch nach Hause zurückfahren und in der Wirtschaft +mitarbeiten. Ich muß etwas lernen, sonst kann ich das Ziel meines Lebens +nicht erreichen. Ich bin jetzt nicht mehr so kindisch. Ich glaube nicht, +daß man etwas werden kann, wenn man nur umhergeht und wünscht und +träumt. Ich weiß, daß ich Kenntnisse brauche, um Schriftstellerin werden +zu können.</p> + +<p>Ich weiß auch, daß ich Kenntnisse brauche, um leben zu können. Wir sind +daheim in letzter Zeit so arm geworden. Ich weiß, daß ich es lernen muß, +mir<span class='pagenum'><a name="Page_275" id="Page_275">[Pg 275]</a></span> selbst mein Brot zu verdienen, wenn ich nicht ins Elend kommen +soll.</p> + +<p>Alle die andern, die Aufnahme suchen, handeln wohl kaum dem Willen ihres +Vaters zuwider, sie haben sich sicherlich nicht die Erlaubnis erzwingen +müssen, von daheim fortzufahren. Bei ihnen zu Hause hat man vielleicht +nicht mehr den alten Aberglauben, daß ein Mädchen es nicht nötig habe, +etwas Ordentliches zu können. Und wenn es ihnen heute schlecht ergeht, +so dürfen sie es vielleicht nächstes Jahr noch einmal versuchen. Aber +ich darf das nicht. Wenn es mir jetzt mißlingt, bekomme ich niemals die +Erlaubnis von Vater, es noch einmal zu versuchen.</p> + +<p>Die andern sind vielleicht nicht so arm wie ich. Sie können vielleicht +von andrer Seite Unterstützung für das Studium finden. Aber für mich ist +das unmöglich. Vater kann mir kein Geld geben; und wohl größtenteils +deshalb hat er soviel Einwände dagegen, daß ich in die Welt hinausziehe. +Aber komme ich nur in das Seminar, dann habe ich eine gesicherte +Laufbahn vor mir, dann macht es nicht soviel, daß ich kein Geld habe, +dann leiht man mir vielleicht etwas, so daß ich mich während der Kurse +in Stockholm erhalten kann. Wenn ich aber nicht hineinkomme, — wer +sollte mir dann helfen wollen!</p> + +<p>Wie langsam die Zeit an diesem Tage vergeht! Ich weiß rein nicht, womit +ich mich beschäftigen soll. Ich wage nicht auszugehen; denn man denke: +wenn der Brief käme, während ich fort bin! Ich kann mich<span class='pagenum'><a name="Page_276" id="Page_276">[Pg 276]</a></span> auch nicht +hinsetzen und lesen. Die Prüfung ist zu Ende, es kann mir nichts mehr +helfen, was ich auch studiere. Es bleib mir nichts übrig, als still zu +sitzen und zu warten.</p> + +<p>Mein ganzes früheres Lebenlang habe ich gewartet, aber in andrer Weise. +Ich habe darauf gewartet, entdeckt zu werden, gewartet, daß jemand komme +und meine Schauspiele, meine Romane, meine Verse lese und sie +außerordentlich schön und genial finde. Jedesmal, wenn ich sie einem +zeigte, habe ich gehofft, daß dieses Wunder geschehen würde.</p> + +<p>Und einmal war es auch sehr nahe daran. Bei einem unserer Nachbarn fand +eine Hochzeit statt, und ich war Brautjungfer. Beim Mittagessen brachte +einer der Brautführer ein Gedicht auf die Kranzeljungfern zum Vortrag, +und ich hielt die Rede auf die Brautführer, auch in Versen. Wir hatten +natürlich alle beide großen Erfolg. Man hat ja immer Erfolg, wenn man +Gelegenheitsverse vorträgt.</p> + +<p>Aber ein Weilchen nach dem Mittagessen kam Mutter zu mir und sagte, daß +Eva Fryxell mit mir sprechen wollte.</p> + +<p>Eva Fryxell war die Tochter des großen Historikers Anders Fryxell, der +Probst in der Nachbargemeinde war. Sie war selbst Schriftstellerin und +dazu eine hochgebildete Dame. Sie pflegte die Winter in Stockholm zu +verbringen, wo sie in den literarischen Kreisen jener Zeit verkehrte.</p> + +<p>Sie hatte mich die Verse sprechen hören, und nun wollte sie mit mir +reden.<span class='pagenum'><a name="Page_277" id="Page_277">[Pg 277]</a></span></p> + +<p>Sie fragte mich, ob ich zu schriftstellern pflegte, und ob ich schon +viele Gedichte geschrieben hätte. Sie forderte mich auf, ihr meine +besten Sachen zu schicken. Sie wolle versuchen, sie in einer Zeitung +unterzubringen.</p> + +<p>Sie war sehr freundlich, und sie machte mich sehr, sehr glücklich.</p> + +<p>Aber dann verging der ganze Herbst, der ganze Winter, ohne daß ich etwas +von ihr hörte. Endlich im Frühling kam ein großer Brief von Eva Fryxell. +Sie schickte mir alle meine Gedichte zurück: keine Zeitschrift hätte sie +annehmen wollen. Aber sie schrieb nicht nur davon. Sie schrieb, ich +müsse es so einrichten, daß ich in die Welt hinauskomme. Ich müsse +arbeiten, etwas lernen, sonst könne nie etwas aus mir werden.</p> + +<p>Und wohl hauptsächlich auf ihre Ratschläge hin hatte ich mich vor einem +Jahre von daheim losgerissen. Das ganze letzte Jahr hatte ich kaum eine +Zeile gedichtet, sondern nur studiert, nur gearbeitet, all das +nachzuholen, was mir fehlte.</p> + +<p>Und die Liebe zu den Studien war in mir erwacht. Ich sehnte mich nach +diesen drei Jahren auf dem Seminar, nach diesen drei Jahren der starken +intensiven Arbeit und des Fortschreitens.</p> + +<p>Ab und zu klingelt es draußen, dann schrecke ich auf und frage mich, ob +das der Diener mit dem furchtbaren Brief sei. Man hat mir gesagt, er +könne nicht vor fünf Uhr nachmittag kommen, aber — wer weiß! <span class='pagenum'><a name="Page_278" id="Page_278">[Pg 278]</a></span>— es +wäre ja möglich, daß die Entscheidung in diesem Jahre früher fiele.</p> + +<p>Die Hoffnung sinkt mit jedem Augenblick. Natürlich wüßten alle die +andern mehr als ich. Und natürlich hätte ich oft unrichtig geantwortet, +wenn ich es auch selber nicht bemerkt hätte.</p> + +<p>Es schlägt drei Uhr. Noch zwei Stunden, ehe man ernstlich eine +Entscheidung erwarten kann ...! Da läutet es wieder.</p> + +<p>Die kommt, ist eine Verwandte und Kollegin von mir. Sie will auch heuer +in das Seminar eintreten; so wie ich; und wir sind bei der Prüfung in +derselben Gruppe gewesen.</p> + +<p>Sie kommt ganz glücklich und atemlos, um zu berichten, daß wir alle +beide durchgekommen sind, sie und ich. Sie hat es von wohlunterrichteter +Seite. Sie will nicht sagen, woher sie es weiß, aber sicher sei es. Ich +solle es niemand sagen, — sie sei eben nur geschwind heraufgelaufen, +damit ich mich nicht länger beunruhigte.</p> + +<p>Ich weiß nicht, was ich sage oder tue. Ich weiß nicht, ob ich ihr danke. +Ich stürze nur fort, ans äußerste Ende der Wohnung, um allein zu sein.</p> + +<p>Es ist nun ganz vorbei mit meiner Selbstbeherrschung. Ich zittre und +bebe und kann mich nicht stillhalten. Und die Tränen stürzen mir aus den +Augen.</p> + +<p>Ich fühle, daß ich das Ärgste überwunden habe. Ich bin nicht mehr +hilflos und abhängig. Ich habe eine Laufbahn vor mir. Ich werde imstande +sein, mir<span class='pagenum'><a name="Page_279" id="Page_279">[Pg 279]</a></span> selbst mein Brot zu verdienen. Ich werde selbst über mein Tun +und Lassen bestimmen. Künftighin hängt es von mir allein ab, ob ich das +erreichen werde, was ich erreichen will.</p> + +<p>»Sie wird all ihr Lebtag arbeiten und sich plagen müssen,« hatte Tante +Wennervik gesagt, und ich freue mich darüber und hoffe, daß es +eintreffe.</p> + +<h3>Die zweite Prophezeiung</h3> + +<p>Es ist im Grand Hotel in Jerusalem, an einem Märzabend des Jahres +neunzehnhundert. Ich bin von unserm syrischen Dragoman aus meinem Zimmer +gerufen worden, einen Gast zu empfangen. Aber dieser Gast kann nicht in +mein Zimmer geführt werden, auch nicht in den großen Empfangssalon. +Jemil, der Dragoman, glaubt ihn nicht weiter führen zu dürfen als bis in +die Vorhalle des Hotels; und ich muß mich dorthin begeben, ihn zu +begrüßen.</p> + +<p>Das ist auch nicht zu verwundern, denn mein Gast hat kein einnehmendes +Aussehen. Es ist ein alter Neger von einer furchtbar häßlichen Rasse. +Mit seinen wulstigen Lippen, den langen Affenarmen, seinem großen +plumpen Körper, seiner groben, rindenähnlichen Haut, seinen starken, +angeschwollnen Muskeln macht er den Eindruck, als gehöre er jener +Menschenwelt an, die vor der Sintflut da war. Und dieser abstoßende +Mensch ist nicht in etwas gehüllt, was man Kleider nennen könnte. Er ist +in lange, schmutzigweiße Tücher gerollt und gewickelt. Die Füße sind +nackt, und über<span class='pagenum'><a name="Page_280" id="Page_280">[Pg 280]</a></span> den Kopf hängt ihm ein Zipfel desselben Tuches, das um +den Körper geschlungen ist.</p> + +<p>Vor einigen Tagen hat Jemil mich und meine Reisegenossin, Frau Sophie +Elkan, durch die ehrwürdige alte Moschee El Aksa in Jerusalem geführt, +und wir wunderten uns damals, in der Fensternische eines Seitenganges +eine schmutzige, zerfetzte Decke ausgebreitet zu sehen. Jemil erklärte +uns, daß sich in dieser Fensternische ein Wahrsager aufzuhalten pflege, +der den Besuchern Aufklärungen über ihre künftigen Schicksale gebe. Ich +bedauerte, daß er nicht auf seinem Platze war. Ich hätte mir gerne von +einem richtigen Wahrsager prophezeien lassen, in einem Tempel, der auf +demselben Grund errichtet war wie der Salomos.</p> + +<p>Und nun hat der Dragoman den Wahrsager aufgesucht und ihn in das Hotel +gebracht, damit ich mir wirklich in Jerusalem prophezeien lassen könne.</p> + +<p>Es ist nicht so feierlich, sich in der Vorhalle des Hotels wahrsagen zu +lassen, wo Diener und Reisende hinaus- und hereinströmen, als es in El +Aksa gewesen wäre; aber ich habe keine Wahl. Wir gehen alle drei zu +einem Tisch, der in einer Ecke steht. Der Wahrsager zieht einen Beutel +hervor, den er unter seinen Tüchern verborgen gehalten hat, knüpft ihn +auf und schüttet eine ziemlich dicke Lage grauweißen Sand auf den Tisch, +zweifelsohne eine Art Meersand, denn ich sehe, daß eine Menge zerbrochne +Muscheln darin sind.</p> + +<p>Während ich so stehe und die Vorbereitungen betrachte, muß ich +unwillkürlich an die alte Tante<span class='pagenum'><a name="Page_281" id="Page_281">[Pg 281]</a></span> Wennervik und ihre Wahrsagekunst +denken; und ich bin gespannt, ob dieser schmutzige Neger sich ihr +überlegen zeigen werde.</p> + +<p>Sowie der Sand ausgebreitet ist, sagt der Wahrsager ein paar Worte auf +Arabisch, die der Dragoman ins Englische übersetzt.</p> + +<p>»Er bittet die Lady, an etwas zu denken, worüber sie Aufklärung wünscht. +Die Lady soll nicht sagen, woran sie denkt, sondern es nur eine Zeitlang +in Gedanken festhalten, dann wird sie Antwort bekommen.«</p> + +<p>Einen Augenblick stehe ich verdutzt da. Liegt nicht eine unüberbrückbare +Kluft zwischen mir und diesem Negerwahrsager? Wir haben in verschiednen +Welten gelebt, sind auf verschiednen Pfaden gewandelt. Was sollte ich +denken können, das innerhalb seiner Gedankensphäre läge! Während meines +ganzen Aufenthalts in Jerusalem habe ich nur an eine einzige Sache +gedacht. Ich habe die ganze Reise hierher in das Morgenland einzig und +allein unternommen, um schwedische Bauern zu besuchen, die hierher +ausgewandert sind und gemeinsam mit einigen Amerikanern eine Kolonie +gegründet haben. Ich habe sie hier draußen sehen wollen, um ein Buch +über sie zu schreiben.</p> + +<p>Und ich bin mehrere Male bei ihnen gewesen, habe an ihrem Tisch +gegessen, ihre Schulen besucht, sie in ihren Werkstätten und Küchen +arbeiten sehen, ich bin in ihren selbstverfertigten Wagen gefahren, bin +auf Teppichen gegangen und habe auf Stühlen gesessen, die sie selbst +gemacht haben. Ich habe sie von ihrer<span class='pagenum'><a name="Page_282" id="Page_282">[Pg 282]</a></span> Lehre sprechen hören. Ich habe +nichts an ihnen gefunden, was nicht gut, ehrlich und aufrichtig gewesen +wäre.</p> + +<p>Ich war so froh, als ich hier draußen im Morgenlande ihre guten, +schwedischen Gesichter erblickte und ihre treuherzigen, schwedischen +Worte hörte, daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich habe ihrem +schönen Gottesdienste beigewohnt, ich habe sie ihre Abschiedslieder an +uns, ihre schwedischen Gäste, singen hören. Ich habe sie einig, +glücklich, geduldig gefunden, und ich brenne vor Sehnsucht, ein Buch +über sie zu schreiben.</p> + +<p>Aber zugleich läßt mich vieles befürchten, daß ich nie imstande sein +würde, dieses Buch zu schreiben. Jeden Tag kommen mir neue Zweifel und +Besorgnisse. Nicht nur, daß der Stoff für meine Kräfte zu schwer ist, — +noch eine Menge andre Dinge machen mir Angst. Ich gehe in einem Zweifel, +einer Unentschlossenheit umher, die beinahe qualvoll geworden ist.</p> + +<p>Es handelt sich für mich um etwas Ernstes. Diese ganze lange Reise wäre +vergebens gewesen, wenn ich dieses Buch nicht schreiben könnte. Zeit, +Mühe und Geld nutzlos vergeudet ... Das ist kein Spaß.</p> + +<p>Mich selbst frage ich alle Tage: Wird daraus ein Buch werden können? +Wird es je geschrieben werden? Wird irgendein Mensch es lesen wollen?</p> + +<p>Aber kann man diesem Neger solche Frage stellen? Hat solch ein +Urzeitwesen je ein Buch gesehen? Hat es eine Ahnung davon, was überhaupt +ein Roman ist?<span class='pagenum'><a name="Page_283" id="Page_283">[Pg 283]</a></span></p> + +<p>Aber da es ja doch nichts andres gibt, was ich in diesem Augenblick +wissen wollte, entschließe ich mich, einen Versuch zu machen. Und ich +hefte meinen Gedanken auf dieses: »Wird es mir gelingen, ein Buch über +die Schweden hier draußen in Jerusalem zu schreiben?«</p> + +<p>Der Wahrsager erhebt seine Hand über den Sand, den er vor sich +ausgebreitet hat. Er streckt einen dicken Zeigefinger aus, an dem ein +Nagel sitzt, der einer Tierkralle gleicht, und macht einige Linien und +Löcher, die er dann sehr eingehend betrachtet. Es dauert ziemlich lange, +bevor er zu sprechen anfängt. Aber plötzlich wendet er sich an den +Dragoman und spricht eine Menge unverständliche Worte.</p> + +<p>»Er sagt, daß die Lady an etwas denkt, was sie auf ein Papier schreiben +will,« übersetzt Jemil. »Er bittet die Lady, sich nicht zu beunruhigen. +Was sie zu tun gedenkt, wird ihr gelingen.«</p> + +<p>Ich bin wirklich ein wenig erstaunt. Das sieht aus, als könnte er +Gedanken lesen, dieser schmutzige alte Neger.</p> + +<p>Er betrachtet mich abwartend, und ich bitte den Dragoman, ihm zu +erklären, daß er eine richtige Antwort gegeben habe, und daß ich sehr +zufrieden sei.</p> + +<p>Sogleich fährt er über den Sand, so daß er wieder ganz glatt daliegt, +und bittet mich dann, noch eine stumme Frage zu stellen.</p> + +<p>Diesmal besinne ich mich nicht lange. Wir wollen Jerusalem am nächsten +Tage verlassen, um nach<span class='pagenum'><a name="Page_284" id="Page_284">[Pg 284]</a></span> Nazareth, Tiberius, Damaskus zu reisen. Ich +frage nur: »Werden wir eine gute Reise haben? Werden wir alles sehen, +was wir zu sehen wünschen?«</p> + +<p>Es dauert nicht lange, so beginnt der Wahrsager wieder zu sprechen. Aber +er gibt keine Antwort auf meine Frage, sondern bittet mich, ihm meine +Hände zu zeigen, meine beiden Hände.</p> + +<p>Ich strecke die Hände mit den Handflächen nach oben aus. Der Wahrsager +betrachtet sie, macht einen Schritt zurück und erhebt die Arme zum +Himmel. Die Worte stürzen über seine Lippen. Er ist offenbar erregt.</p> + +<p>»Was gibt es? Was sagt er?« frage ich den Dragoman.</p> + +<p>»Er sagt, daß die Lady an einen Weg denkt, der vor ihr liegt,« antwortet +dieser, »und er versichert, daß die Lady eine gute Reise haben wird. Er +sagt weiter, daß diese Lady Sultan Ibrahim il Kalils und Sultan Solimans +Zeichen auf ihren Händen hat. Er sagt, daß dieser Lady alles gelingen +wird. Diese Lady hat einen sehr starken Stern.«</p> + +<p>Ich bitte den Dragoman, ihm zu versichern, daß ich sehr erfreut über +seine Antwort sei, und ich frage nicht weiter, sondern bezahle ihm +seinen Frank. Nun ich erfahren habe, daß ich Abrahams und Salomos +Zeichen in meinen Händen trage, muß ich ja wohl zufrieden sein.</p> + +<p>Während ich in mein Zimmer zurückkehre, denke ich an Tante Wennervik und +frage mich, was sie dazu sagen würde.<span class='pagenum'><a name="Page_285" id="Page_285">[Pg 285]</a></span></p> + +<p>In demselben Augenblick ist es mir, als wenn eine harte und klare Stimme +mir im traulichsten Värmländisch ins Ohr sagte:</p> + +<p>»Das mußt du doch wissen, Kind, daß sich diese Orientalen, auch wenn sie +in Fetzen gehen und häßlich wie die Affen sind, doch besser darauf +verstehen, zu schmeicheln und schöne Dinge zu sagen als wir andern, +namentlich wenn es sich darum handelt, ein paar Groschen zu verdienen. +Aber auf meine Prophezeiung kannst du dich verlassen. Die ist nicht +bezahlt. Reisen wirst du machen, Arbeit wirst du haben, und Bücher +schreiben wirst du, und so richtig gesund wirst du nie. Und so wird dein +Leben hingehen.«</p> + +<p>»Ja, das ist wahr,« antworte ich, »aber du verstehst den Sinn seiner +Worte nicht. Er will nur sagen, daß, wem sich in reifen Jahren seine +Kindheitsträume erfüllen, das Glück der alten Weisen besitzt und von +einem guten Stern geleitet wird.«</p> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of Project Gutenberg's Ein Stück Lebensgeschichte, by Selma Lagerlöf + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EIN STÜCK LEBENSGESCHICHTE *** + +***** This file should be named 29957-h.htm or 29957-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/2/9/9/5/29957/ + +Produced by Norbert H. Langkau, Jens Nordmann and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + http://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + + +</pre> + +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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