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@@ -0,0 +1,1869 @@
+The Project Gutenberg EBook of Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, by
+Ferruccio Busoni
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst
+
+Author: Ferruccio Busoni
+
+Release Date: February 23, 2008 [EBook #24677]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ENTWURF EINER NEUEN ÄSTHETIK ***
+
+
+
+
+Produced by Jana Srna and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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+ [ Anmerkungen zur Transkription:
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+ Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit = markiert.
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+ Schreibweise und Interpunktion wurden übernommen, lediglich
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+
+ Ferruccio Busoni
+
+
+ Entwurf
+ einer neuen Ästhetik
+ der Tonkunst
+
+
+ Zweite, erweiterte Ausgabe
+
+ Im Insel-Verlag zu Leipzig
+
+
+
+
+ Dem Musiker in Worten
+ Rainer Maria Rilke
+ verehrungsvoll und freundschaftlich
+ dargeboten
+
+
+
+
+ »Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?«
+ »Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte!
+ Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will
+ darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort.«
+
+ »Der mächtige Zauberer«.
+
+
+
+
+ »Ich fühlte ... daß ich kein englisches und kein lateinisches Buch
+ schreiben werde: und dies aus dem einen Grund ... nämlich weil die
+ Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken
+ mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische, noch die
+ englische, noch die italienische und spanische ist, sondern eine
+ Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine
+ Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher
+ ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich
+ verantworten werde.«
+
+ Hugo von Hofmannsthal, »Ein Brief«.
+
+
+
+
+Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt, sind
+diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Ergebnis von lange und langsam
+gereiften Überzeugungen.
+
+In ihnen wird ein größtes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit
+aufgestellt, ohne daß der Schlüssel zu seiner letzten Lösung gegeben
+werde, weil das Problem auf Menschenalter hinaus nicht -- wenn überhaupt
+-- lösbar ist.
+
+Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe minderer Probleme, auf
+die ich das Nachdenken derjenigen lenke, die es betrifft. Denn recht
+lange schon hatte man in der Musik ernstlichem Suchen nicht sich
+hingegeben.
+
+Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungswertes, und ich
+stellte mich stets in die erste Reihe, die vorüberziehenden Fahnenträger
+freudig zu begrüßen; aber mir will es scheinen, daß die mannigfachen
+Wege, die beschritten werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht
+-- nach oben.
+
+ * * * * *
+
+Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung, das Menschliche,
+das in ihm ist -- sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an
+Wert; die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten,
+und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoß, sie
+sind vergänglich und rasch alternd.
+
+Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk wie im Menschen;
+technische Errungenschaften, bereitwilligst erkannt und bewundert,
+werden überholt, oder der Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. --
+
+Die vergänglichen Eigenschaften machen das »Moderne« eines Werkes aus;
+die unveränderlichen bewahren es davor, »altmodisch« zu werden. Im
+»Modernen« wie im »Alten« gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und
+Unechtes. Absolut Modernes existiert nicht -- nur früher oder später
+Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer gab es
+Modernes, und immer Altes. --
+
+Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der
+einzelnen Kunstgattung halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen
+Mitteln und Zielen bewahren.
+
+Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen Pupille und auf
+die Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche
+verläßt und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild
+kompliziert; --
+
+die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten
+muß, durch statische Notwendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach
+geben notgedrungen die mittlere und abschließende Ausgestaltung; diese
+Bedingungen sind an ihr bleibend und unverletzbar; --
+
+die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den sie in Worte
+kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die größere
+Unabhängigkeit voraus:
+
+ aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig das eine,
+ nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen
+ Empfindungen.
+
+Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste;
+ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben
+durch Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet,
+regelmäßig ihren Kreis.[1]
+
+ [1] Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenart
+ sich immer wieder verjüngen und erneuern.
+
+Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat,
+aber noch geführt werden muß. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch
+nichts erlebt und gelitten hat.
+
+Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet, der
+Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr schlummern:
+wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben kann,
+schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig
+ausgereift gehalten werden.
+
+ * * * * *
+
+Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum
+vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande der Entwicklung; vielleicht
+im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir
+sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen![2] Spricht doch
+bereits ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von »den
+Alten«.
+
+ [2] »Tradition« ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die --
+ durch den Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker
+ gegangen -- schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr
+ erraten läßt.
+
+Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze
+vorgeschrieben -- -- -- wir wenden die Gesetze der Erwachsenen auf ein
+Kind an, das die Verantwortung noch nicht kennt!
+
+So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm
+schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet.
+Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen,
+weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind -- es
+schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der
+Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist
+durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist
+frei.
+
+ * * * * *
+
+Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch
+gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen.
+
+Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das
+schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß, wie jeder andere, den Regeln
+des Anstandes sich fügen; kaum, daß es hüpfen darf -- indessen es seine
+Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
+Sonnenstrahlen zu brechen.
+
+ * * * * *
+
+Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie
+wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die
+Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht
+ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
+auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen
+sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind --
+welche andere Kunst hat das? --, und ihre Empfindung trifft die
+menschliche Brust mit jener Intensität, die vom »Begriffe« unabhängig
+ist.
+
+Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der
+Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden
+Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen
+Augenblick, eine »Situation« darstellen kann und der Dichter ein
+Temperament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.
+
+Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst;
+somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu
+der Frage nach den Zielen der Tonkunst.
+
+ * * * * *
+
+Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das
+Entfernteste vom Absoluten in der Musik. »Absolute Musik« ist ein
+Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste
+Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik
+entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und
+von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die
+Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte
+Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte
+Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann
+sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen
+wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den
+schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Innern des
+Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken,
+wie die Vorgänge in der Natur.
+
+Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet
+aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und
+Dominante, an Durchführungen und Kodas.
+
+Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht,
+den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen unnötigen Kampf
+auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese
+Musik sollte vielmehr die architektonische heißen, oder die
+symmetrische, oder die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne
+Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen,
+weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die Gesetzgeber haben
+Geist, Empfindung, die Individualität jener Tonsetzer und ihre Zeit mit
+der symmetrischen Musik identifiziert und schließlich -- da sie weder
+den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten --
+die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre
+erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form als das
+geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie entschwebten -- und
+die Gesetzgeber entdecken und verwahren Euphorions auf der Erde
+zurückgebliebene Gewänder:
+
+ »Noch immer glücklich aufgefunden!
+ Die Flamme freilich ist verschwunden,
+ Doch ist mir um die Welt nicht leid.
+ Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
+ Zu stiften Gold- und Handwerksneid;
+ Und kann ich die Talente nicht verleihen,
+ Verborg ich wenigstens das Kleid.«
+
+Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität
+fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, daß man
+ihn -- wenn er wirklich originell wird -- der Formlosigkeit anklagt.
+Mozart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen mit dem
+kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an
+seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas.
+
+ * * * * *
+
+Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen
+Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen Schritt in der Zurückführung
+der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der
+großen Aufgabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz
+absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken
+geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate.
+Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden
+Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am
+nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht
+lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen. Selbst
+einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen Stellen etwas von
+dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst -- man denke an die Überleitung zum
+letzten Satze der D-Moll-Sinfonie --, und Gleiches kann man von Brahms
+und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie behaupten.
+
+Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre
+Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein
+Amtszimmer tritt.
+
+Neben Beethoven ist Bach der »Ur-Musik« am verwandtesten. Seine
+Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken
+Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch Entgegenstehenden), von
+Eingebungen, die man »Mensch und Natur« überschreiben möchte[3]; bei
+ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über seine
+Vorgänger hinwegschritt -- (wenn er sie auch bewunderte und sogar
+benutzte) -- und weil ihm die noch junge Errungenschaft der temperierten
+Stimmung vorläufig unendlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.
+
+ [3] Seine Passions-Rezitative haben das »Menschlich-Redende«, =nicht=
+ »Richtig-Deklamierte«.
+
+Darum sind Bach und Beethoven[4] als ein Anfang aufzufassen und nicht
+als unzuübertreffende Abgeschlossenheiten. Unübertrefflich werden
+wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt
+wiederum das zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die
+Empfindung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts
+einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit
+über die Menge ragen wird.
+
+ [4] Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
+ möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche
+ Empfindung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und
+ eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewiß
+ jenen eines »Klassikers« entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein
+ »Meister« im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben weil seine
+ Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen gewordenen,
+ ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)
+
+ * * * * *
+
+Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform und ihre
+Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den
+irdischen Horizont streifte, der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber
+in ein System brachte (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch
+die selbstgeschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine
+Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst weil er sie zur
+höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die
+selbstgestellte Aufgabe derart war, daß sie von einem Menschen allein
+bewältigt werden konnte. »Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die
+Lösung«, wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beethoven
+eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen --
+wie alles im Weltsystem -- nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von
+solchen Dimensionen, daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade
+Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. -- Ein Kreis
+im großen Kreise.
+
+ * * * * *
+
+Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz
+zu der sogenannten »absoluten« Musik aufgestellt worden, und die
+Begriffe haben sich so verhärtet, daß selbst die Verständigen sich an
+den einen oder an den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer
+und über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist
+die Programmusik ebenso einseitig und begrenzt wie das als absolute
+Musik verkündete, von Hanslick verherrlichte Klang-Tapetenmuster.
+Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika-
+und Dominantverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar
+philosophische Programm als wie eine Schiene sich angeschnürt.
+
+ * * * * *
+
+Jedes Motiv -- so will es mir scheinen -- enthält wie ein Samen seinen
+Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene
+Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben
+voneinander abweichend.[5]
+
+ [5] »_-- -- -- Beethoven, dont les esquisses thématiques ou
+ élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés,
+ semble par cela même en avoir établi tout le développement --_«
+
+ Vincent d'Indy in »César Franck«.
+
+Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt
+und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem
+Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich
+anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen
+Harmonie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.
+
+ * * * * *
+
+Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes birgt die nämlichen
+Bedingungen in sich; es muß aber -- schon bei seiner nächsten
+Entwicklungsphase -- sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach
+dem des »Programmes« formen, vielmehr »krümmen«. Dergestalt, gleich in
+der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege gebracht, gelangt es
+schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel, wohin nicht seine
+Organisation, sondern das Programm, die Handlung, die philosophische
+Idee vorsätzlich es geführt.
+
+Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt es nicht
+mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke -- (sie haben die Veranlassung zu
+dem ganzen Prinzip gegeben) --, aber es sind wenige und kleine Mittel,
+die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste
+von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung von
+Naturgeräuschen: das Rollen des Donners, das Rauschen der Bäume und die
+Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem
+Gesichtssinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
+Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden
+Gehirns verständlich: das Trompetensignal als kriegerisches Symbol, die
+Schalmei als ländliches Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des
+Schreitens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. Zählen wir
+noch das Nationalcharakteristische -- Nationalinstrumente,
+Nationalweisen -- zum vorigen, so haben wir die Rüstkammer der
+Programmusik erschöpfend besichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur,
+Hoch und Tief[6] in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das Inventar.
+Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in einem großen Rahmen, aber
+allein genommen ebensowenig Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen
+sind.
+
+ [6] Vergleiche später die Sätze über die »Tiefe«.
+
+ * * * * *
+
+Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorganges auf
+Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar -- gleichviel ob in
+der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile -- mit jener
+Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?
+
+ * * * * *
+
+Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände schwingen
+zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung, Erstarkung, Ermattung
+(Beethovens letzte Quartette), Entschluß (Wotan), Zögern,
+Niedergeschlagenheit, Ermunterung, Härte, Weichheit, Aufregung,
+Beruhigung, das Überraschende, das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den
+inneren Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstimmungen
+enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen selbst:
+nicht die Freude über eine beseitigte Gefahr, nicht die Gefahr oder die
+Art der Gefahr, welche die Angst hervorruft; wohl einen
+Leidenschaftszustand, aber wiederum nicht die psychische Gattung dieser
+Leidenschaft, ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es,
+moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit, in Töne umzusetzen oder
+gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit, durch sie
+aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie ein armer, doch
+zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der
+seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das
+ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das
+kommt daher, daß »arm« eine Form irdischer und gesellschaftlicher
+Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist. Musik ist
+aber ein Teil des schwingenden Weltalls.
+
+ * * * * *
+
+Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem Fehler, daß sie die
+Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt
+ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden
+Personen während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die Bühne die Illusion
+eines Gewitters vortäuscht, so ist dieses Ereignis durch das Auge
+erschöpfend wahrgenommen. Fast alle Komponisten bemühen sich jedoch, das
+Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige und
+schwächere Wiederholung, sondern zugleich eine Versäumnis ihrer Aufgabe
+ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von dem Gewitter seelisch
+beeinflußt, oder ihr Gemüt verweilt infolge von Gedanken, die es stärker
+in Anspruch nehmen, unbeirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne
+Hilfe der Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen
+vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik verständlich
+machen.
+
+Wiederum gibt es »sichtbare« Seelenzustände auf der Bühne, um die sich
+die Musik nicht zu kümmern braucht. Nehmen wir die theatralische
+Situation[7], daß eine lustige nächtliche Gesellschaft sich singend
+entfernt und dem Auge entschwindet, indessen im Vordergrund ein
+schweigsamer, erbitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die
+Musik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft durch den
+fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen: was die beiden
+vorderen treiben und dabei empfinden, ist ohne jede weitere Erläuterung
+erkennbar, und die Musik darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran
+beteiligen, das tragische Schweigen nicht brechen.
+
+ [7] Aus Offenbachs »_Les contes d'Hoffmann_«.
+
+Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten Oper, welche
+die durch eine dramatisch-bewegte Szene gewonnene Stimmung in einem
+geschlossenen Stücke zusammenfaßte und ausklingen ließ (Arie). -- Wort
+und Gesten vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der
+Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an dem Ruhepunkt
+angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz wieder ein. Das ist weniger
+äußerlich, als man es jetzt glauben machen will. Wieder war es aber die
+versteifte Form der »Arie« selbst, die zu der Unwahrheit des Ausdrucks
+und zum Verfall führte.
+
+Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention bleiben und
+ein Hindernis für alle wahrhaftige Wirkung: aus diesem Konflikt mit
+Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in welcher die Personen
+singend agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre,
+Unwahrscheinliche gestellt sein müssen, auf daß eine Unmöglichkeit die
+andere stütze und so beide möglich und annehmbar werden.
+
+ * * * * *
+
+Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste Prinzip
+ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Verismus für die
+musikalische Bühne als unhaltbar an.
+
+ * * * * *
+
+Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese andere
+Klarheit zu gewinnen: »An welchen Momenten ist die Musik auf der Bühne
+unerläßlich?« Die präzise Antwort gibt diese Auskunft: »Bei Tänzen, bei
+Märschen, bei Liedern und -- beim Eintreten des Übernatürlichen in die
+Handlung.«
+
+Es ergibt sich demnach eine kommende Möglichkeit in der Idee des
+übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der des absoluten »Spieles«,
+des unterhaltenden Verkleidungstreibens, der Bühne als offenkundige und
+angesagte Verstellung, in der Idee des Scherzes und der Unwirklichkeit
+als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens. Dann ist es
+am rechten Platze, daß die Personen singend ihre Liebe beteuern und
+ihren Haß ausladen, und daß sie melodisch im Duell fallen, daß sie bei
+pathetischen Explosionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann
+am rechten Platze, daß sie sich absichtlich anders gebärden als im
+Leben, anstatt daß sie (wie in unseren Theatern und in der Oper zumal)
+unabsichtlich alles verkehrt machen.
+
+Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatürlichen, als der
+allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der
+Empfindungen, sich bemächtigen und dergestalt eine Scheinwelt schaffen,
+die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel
+reflektiert; die bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben
+nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der
+Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Maskenspiel und Spuk
+mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer der anmutigen Lüge auf
+jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem
+Erlebnis.
+
+ * * * * *
+
+So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf
+-- soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen
+Augenblicke einbüßen --, so darf auch der Zuschauer, will er die
+theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen,
+soll nicht der künstlerische Genuß zur menschlichen Teilnahme
+herabsinken. Der Darsteller »spiele« -- er erlebe nicht. Der Zuschauer
+bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen und
+Feinschmecken.
+
+ * * * * *
+
+Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die
+Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte
+ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
+
+Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell
+veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein
+starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches
+ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen
+der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht
+verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die
+begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und
+vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es
+nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an
+demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.
+
+ * * * * *
+
+Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die
+Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie
+zu heben und ihr zu ihrem ursprünglichen »schwebenden« Zustand zu
+verhelfen.
+
+Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein
+ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie
+wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das
+Porträt zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der
+Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. --
+
+Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende die Starrheit der
+Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe für um so vollkommener,
+je mehr sie sich an die Zeichen hält.
+
+Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen
+einbüßt[8], das soll der Vortragende durch seine eigene
+wiederherstellen.
+
+ [8] Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die
+ Phantasie fesselt, wie aus ihr die »Form« sich bildete und aus der
+ Form der »Konventionalismus« des Ausdrucks entstand, das zeigt sich
+ recht eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A.
+ Hoffmann, der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.
+
+ Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
+ Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
+ Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten -- so würde man
+ folgern -- in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst der
+ Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen. Die
+ Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer des
+ Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlafwachenden
+ Bilder -- alles, was er mit dem präzisen Wort schon so eindrucksvoll
+ schilderte, das hätte er -- man sollte denken -- durch die Musik erst
+ völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen Hoffmanns
+ bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literarischen
+ Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein übernommenes
+ System von Taktarten, Perioden und Tonarten -- zu dem noch der
+ landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut -- aus dem Dichter
+ einen Philister machen konnte. -- Wie aber ein anderes Ideal der Musik
+ ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausgezeichneten
+ Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt die
+ folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:
+
+ »Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
+ kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des
+ Lebens bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige,
+ und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles
+ Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
+ alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
+ vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des
+ ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
+ Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
+ in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
+ Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
+ beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
+ unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt.«
+
+ (E. T. A. Hoffmann, »Die Serapionsbrüder«.)
+
+Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie werden es
+ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen
+abgeleitet, -- sie bedeuten nun die Tonkunst selbst.
+
+Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein und dasselbe
+Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß erklingen, sooft, von wem
+und unter welchen Bedingungen es auch gespielt würde.
+
+Es =ist= aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur des
+göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil. Jeder Tag
+beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. --
+Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden,
+gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück -- wie
+sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten -- und immer nach den gegebenen
+Verhältnissen jener »ewigen Harmonie«.
+
+Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen
+eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.
+
+ * * * * *
+
+»Notation« (»Skription«) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein
+recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige
+Opposition, die ich mit »Transkriptionen« erregte, und die Opposition,
+die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum
+Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig
+darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines
+abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner
+bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den
+Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart.
+Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß,
+bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.
+
+Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmbaren
+Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen
+Augenblick zum Entschluß getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch
+vom Einfall oder vom Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist,
+weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick des Entschlusses an
+zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate
+oder einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder Priester. Das ist ein
+Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten
+Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch
+wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei
+übersieht man, daß eine Transkription die Originalfassung nicht
+zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. --
+
+Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, und auch dieser
+kann -- er mag noch so frei sich gebärden -- niemals das Original aus
+der Welt schaffen.
+
+-- Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem
+es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und
+außer der Zeit, und sein Wesen ist es, das uns eine greifbare
+Vorstellung des sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit
+geben kann.
+
+Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens wie
+Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen
+Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier -- und sinds in gewisser
+Weise auch.
+
+ * * * * *
+
+Merkwürdigerweise steht bei den »Buchstabentreuen« die Variationenform
+in großem Ansehen. Das ist seltsam, weil die Variationenform -- wenn sie
+über ein fremdes Thema aufgebaut ist -- eine ganze Reihe von
+Bearbeitungen gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art
+sie sind.
+
+So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original ändert; und es
+gilt die Veränderung, obwohl sie das Original bearbeitet.[9]
+
+ [9] Eine Einleitung des Verfassers zu einem Berliner Konzerte vom
+ November 1910 enthielt u. a. die folgenden Sätze: »Um das Wesen der
+ 'Bearbeitung' mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung des
+ Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der Nennung
+ Johann Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten Bearbeiter
+ eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von ihm lernte
+ ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große, eine universelle
+ Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ertönen mag.
+ Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene Mittel eine
+ verschiedene -- ihnen eigene -- Sprache haben, in der sie den
+ nämlichen Gehalt in immer neuer Deutung verkünden.« -- »Es kann der
+ Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde
+ vorfindet.« Man bedenke überdies, daß jede Vorstellung einer Oper auf
+ dem Theater, durch Absicht teils und teils durch die Zufälle, die so
+ zahlreiche mitwirkende Elemente hineintragen, zu einer Bearbeitung
+ wird und werden muß. Noch nie erlebte ich von der Bühne aus einen
+ Mozartschen »Don Giovanni«, der dem anderen geglichen hätte. Der
+ Regisseur scheint hier -- wie auch bei der »Zauberflöte« -- seinen
+ Ehrgeiz darin zu finden, die Szenen (und innerhalb der Szenen die
+ Vorgänge) immer wieder zu variieren und umzustellen. Auch hörte ich
+ (leider) niemals, daß die Kritik gegen die Übersetzung des Don
+ Giovanni ins Deutsche sich gewehrt hätte; wenngleich eine Übersetzung
+ überhaupt (bei diesem Meisterwerk des Zusammengusses von Text und
+ Musik nun besonders) als eine der bedenklichsten Bearbeitungen sich
+ herausstellt.
+
+ * * * * *
+
+»Musikalisch« ist ein Begriff, der den Deutschen angehört, und die
+Anwendung des Wortes selbst findet sich in dieser Sinnübertragung in
+keiner anderen Sprache. Es ist ein Begriff, der den Deutschen angehört
+und nicht der allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und
+unübersetzbar. »Musikalisch« ist von Musik hergeleitet, wie »poetisch«
+von Poesie und »physikalisch« von Physik. Wenn ich sage: Schubert war
+einer der musikalischsten Menschen, so ist das dasselbe, als ob ich
+sagte: Helmholtz war einer der physikalischsten. Musikalisch ist: was in
+Rhythmen und Intervallen tönt. Ein Schrank kann »musikalisch« sein, wenn
+er ein »Spielwerk« enthält.[10] Im vergleichenden Sinne kann
+»musikalisch« allenfalls noch wohllautend bedeuten.
+
+ [10] Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte,
+ wären die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise
+ könnte ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man
+ ihn berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen.
+
+»Meine Verse sind zu musikalisch, als daß sie noch in Musik gesetzt
+werden könnten,« sagte mir einmal ein bekannter Dichter.
+
+ »_Spirits moving musically
+ To a lutes well-tuned law_«
+ (»Geister schwebten musikalisch
+ zu der Laute wohlgestimmtem Satz«)
+
+schreibt E. A. Poe; endlich spricht man ganz richtig von einem
+»musikalischen Lachen«, weil es wie Musik klingt.
+
+In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten deutschen
+Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher, der dadurch Sinn für
+Musik bekundet, daß er das Technische dieser Kunst wohl unterscheidet
+und empfindet. Unter Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus,
+die Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die Thematik. Je mehr
+Feinheiten er darin zu hören oder wiederzugeben versteht, für um so
+musikalischer wird er gehalten.
+
+Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestandteile der Tonkunst
+legt, ist selbstverständlich das »Musikalische« von höchster Bedeutung
+geworden. -- Demnach müßte ein Künstler, der technisch vollkommen
+spielt, für den meist musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit
+»Technik« nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint, so
+hat man »technisch« und »musikalisch« zu Gegensätzen gemacht.
+
+Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als »musikalisch« zu
+bezeichnen[11], oder gar von einem großen Komponisten wie Berlioz zu
+behaupten, er wäre es nicht in genügendem Maße. »Unmusikalisch« ist der
+stärkste Tadel; er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum
+Geächteten.
+
+ [11] »Diese Kompositionen sind aber so musikalisch«, sagte mir einmal
+ ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend
+ fand.
+
+In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musikalische Freuden
+allgemein ist, wird diese Unterscheidung überflüssig, und das Wort dafür
+ist in der Sprache nicht vorhanden. In Frankreich, wo die Empfindung für
+Musik nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von den
+übrigen einige »_aiment beaucoup la musique_«, oder »_ils ne l'aiment
+pas_«. Nur in Deutschland macht man eine Ehrensache daraus,
+»musikalisch« zu sein, das heißt, nicht nur Liebe zur Musik zu
+empfinden, sondern hauptsächlich sie in ihren technischen
+Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren Gesetze einzuhalten.
+
+Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewachen wohlmeinend seine
+Schritte, daß es nicht auffliege und so vor einem ernstlichen Fall
+bewahrt bleibe. Aber es ist noch so jung und ist ewig; die Zeit seiner
+Freiheit wird kommen. Wenn es aufhören wird, »musikalisch« zu sein.
+
+ * * * * *
+
+Gefühl ist eine moralische Ehrensache -- wie die Ehrlichkeit es ist --,
+eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen läßt -- die im Leben gilt
+wie in der Kunst. Aber wenn im Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer
+brillanteren Charaktereigenschaft -- wie beispielsweise Tapferkeit,
+Unbestechlichkeit -- noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
+oberste moralische Qualität gestellt.
+
+Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Geschmack und
+Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten auf Geschmack wie auf tiefes
+und wahres Gefühl, und was den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches
+Gebiet. Was übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit
+Rührseligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden muß. Und vor allem
+verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es muß unterstrichen werden,
+auf daß jeder merke, sehe und höre. Es wird vor den Augen des Publikums
+in starker Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so daß es
+aufdringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird ausgeschrien,
+daß es denen, die der Kunst fernstehen, in die Ohren dringe; übergoldet,
+auf daß es den Unbemittelten Staunen entreiße.
+
+Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des Gefühls, in Mienen
+und Worten; seltener und echter ist jenes Gefühl, welches handelt, ohne
+zu reden, und am wertvollsten ein Gefühl, das sich verbirgt.
+
+Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerzlichkeit und
+Überschwenglichkeit des Ausdrucks.
+
+Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume der Empfindung!
+Zurückhaltung und Schonung, Aufopferung, Stärke, Tätigkeit, Geduld,
+Großmut, Freudigkeit und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das
+Gefühl recht eigentlich stammt.
+
+Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt, noch
+ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen des Lebens
+wiederholt: wozu jedoch -- wie ich betonte -- der Geschmack hinzutreten
+muß und der Stil; der Stil, der Kunst vom Leben unterscheidet.
+
+Worum der Laie, der mediokere Künstler sich mühen, ist nur das Gefühl im
+kleinen, im Detail, auf kurze Strecken.
+
+Gefühl im großen verwechseln Laie, Halbkünstler, Publikum (und leider
+auch die Kritik!) mit Mangel an Empfindung, weil sie alle nicht
+vermögen, größere Strecken als Teile eines noch größeren Ganzen zu
+hören. Also ist Gefühl auch Ökonomie.
+
+Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack -- als Stil -- als
+Ökonomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein Drittel des Ganzen. In ihnen
+und über ihnen waltet eine subjektive Dreieinigkeit: das Temperament,
+die Intelligenz und der Instinkt des Gleichgewichtes.
+
+Diese sechs führen einen Reigen von so subtiler Anordnung der Paarung
+und der Verschlingung, des Tragens und des Getragenwerdens, des
+Vortretens und Niederbückens, des Bewegens und des Stillstehens, wie
+kein kunstvollerer erdenkbar ist.
+
+Ist der Akkord der beiden Dreiklänge rein gestimmt, dann darf, soll zum
+Gefühl sich gesellen die Phantasie: Auf jene sechs gestützt, wird sie
+nicht ausarten, und aus dem Vereine aller Elemente ersteht die
+Persönlichkeit. Diese empfängt wie eine Linse die Lichteindrücke, wirft
+sie auf ihre Weise als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das
+richtige Bild.
+
+ * * * * *
+
+Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert dieses -- wie
+alles -- mit den Zeiten seine Ausdrucksformen. Das heißt: eine oder die
+andere Seite des Gefühls wird zu der einen oder der anderen Zeit
+bevorzugt, einseitig gepflegt, besonders herausgekehrt.
+
+So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinnlichkeit an die Reihe
+gekommen: die Form der »Steigerung« im Affekt haben die Komponisten noch
+heute nicht überwunden. Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches
+Aufwärtstreiben. Der darin unersättliche, aber nicht unerschöpfliche
+Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach einem erreichten
+Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um sofort von neuem anzuwachsen.
+
+Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: ihr Gefühl ist eine reflexive
+Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurückgehaltene Sinnlichkeit: den
+bergigen aufsteigenden Pfaden Wagners sind monotone Ebenen von
+dämmernder Gleichmäßigkeit gefolgt.
+
+So bildet sich im Gefühl der »Stil«, wenn der Geschmack es leitet.
+
+ * * * * *
+
+Die »Apostel der Neunten Symphonie« ersannen in der Musik den Begriff
+der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte, zumal im germanischen Land. --
+Es gibt eine Tiefe des Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: -- die
+letztere ist literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben.
+
+Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur der Musik
+durchaus zugehörig.
+
+Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der Tiefe in der Musik eine
+besondere und nicht ganz festumrissene Schätzung.
+
+Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch Schwere zu
+erreichen: sie zeigt sich sodann -- durch Gedankenassoziation -- in der
+Bevorzugung der »tiefen« Register und (wie ich beobachten konnte) auch
+in einem Hineindeuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines
+literarischen.
+
+Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese die
+bedeutsameren.
+
+Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der Philosophie das
+Erschöpfende im Gefühle betrachten: das volle Aufgehen in einer
+Stimmung.
+
+Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Situation griesgrämig
+oder auch nur indifferent herumschleicht, wer nicht von der gewaltigen
+Selbstsatire des Masken- und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit
+über die Gesetze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
+und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl in die Tiefe
+zu senken.
+
+Hier bestätigt es sich wieder, daß die Tiefe des Gefühls in dem
+vollständigen Erfassen einer jeden -- selbst der leichtfertigsten --
+Stimmung ihre Wurzeln hat, -- im Wiedergeben ihre Blüten treibt:
+wohingegen die gangbare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
+des Gefühls im Menschen herausgreift und diese spezialisiert.
+
+In dem sogenannten »Champagnerlied« aus Don Giovanni liegt mehr »Tiefe«
+als in manchem Trauermarsche oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert
+sich auch darin, daß man es nicht an Nebensächlichem und Unbedeutendem
+vergeude.
+
+ * * * * *
+
+Der Schaffende sollte kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben
+hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vornherein als
+Ausnahme betrachten. Er müßte für seinen eigenen Fall ein entsprechendes
+eigenes Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen
+Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem nächsten Werke in
+Wiederholungen zu verfallen.
+
+Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und
+nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein
+Schaffender zu sein.[12]
+
+ [12] Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll Michelangelo gesagt
+ haben. Und über die nützliche Anwendung der »Kopien« äußert sich noch
+ viel drastischer ein italienischer Spruch.
+
+Die Schaffenskraft ist um so erkennbarer, je unabhängiger sie von
+Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die Absichtlichkeit im
+Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffenskraft vortäuschen, noch weniger
+erzeugen.
+
+Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Vollendung. Und indem er
+diese mit seiner Individualität in Einklang bringt, entsteht absichtslos
+ein neues Gesetz.
+
+ * * * * *
+
+Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik-»amte« wird sie
+beansprucht. Daß Routine in der Musik überhaupt existieren und daß sie
+überdies zu einer vom Musiker geforderten Bedingung gemacht werden kann,
+beweist aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine
+bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe
+auf alle vorkommenden Fälle. Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl
+verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art
+Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie
+stünde das Heer der Praktiker hilf- und tatenlos davor: es müßte
+schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt
+den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
+Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im
+Nachbilden. Sie ist die »Poesie, die sich kommandieren läßt«. Weil sie
+der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im
+Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt
+jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
+und fühlet!
+
+Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit
+Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere
+Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und
+ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl
+in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
+Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet
+ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehnstuhl erhebt und nur mehr nach dem
+Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden
+und warten darauf, sich zu offenbaren!
+
+ * * * * *
+
+»Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,« schreibt einmal
+Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des »Tristan« nicht vorwärts
+wollte.
+
+Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor anderen. Er hatte
+zuviel Routine, und seine Kompositionsmaschinerie blieb stecken, sobald
+der Knoten in ihr entstand, der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar
+löste Wagner ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite
+zu lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es ohne
+Bitterkeit behauptet.
+
+Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die richtige
+künstlerische Verachtung für die Routine aus, insofern als er diese ihn
+niedrig dünkende Eigenschaft sich selbst abspricht und vorbeugt, daß
+andere sie ihm zuerkennen. Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich
+ironisch-verzweifelt. Er ist tatsächlich unglücklich, daß die
+Komposition stockt, tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß
+sein Genie über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
+kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich eingesteht, eine
+allgemein geschätzte und dem Handwerk zugehörige Könnerschaft nicht sich
+angeeignet zu haben.
+
+Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit des
+Erhaltungstriebes -- beweist uns aber (und das ist unser Ziel) die
+Geringheit der Routine im Schaffen.
+
+ * * * * *
+
+So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine Ausdrucksform,
+daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv gibt, auf das nicht ein anderes
+bekanntes Motiv paßte, so daß es zu gleicher Zeit mit dem ersten
+gespielt werden könnte. Um nicht mich hier in Spielereien zu
+verlieren[13], enthalte ich mich jedes Beispiels.
+
+ [13] Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
+ scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten
+ Musikstücken nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten
+ Symphonie gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an
+ fünfzehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter
+ welche niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des
+ Finale der »fünften« ein anderes als jenes, womit die »zweite« ihr
+ Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts,
+ diesmal in Moll?
+
+Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung
+der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des
+Komponisten an dem Studium der Partituren. Wenn »Schaffen«, wie ich es
+definierte, ein »Formen aus dem Nichts« bedeuten soll (und es kann
+nichts anderes bedeuten); -- wenn Musik -- (dieses habe ich ebenfalls
+ausgesprochen) -- zur »Originalität«, nämlich zu ihrem eigenen reinen
+Wesen zurückstreben soll (ein »Zurück«, das das eigentliche »Vorwärts«
+sein muß); -- wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes
+Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll; -- diesem Drange
+stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente
+sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten
+festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden
+mitfesseln.
+
+Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den
+allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden
+wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen
+und Geigen stoßen, die eben nicht anders sich gebärden können, als es in
+ihrer Beschränkung liegt[14]; dazu gesellt sich die Manieriertheit der
+Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende
+Überschwang des Violoncells, der zögernde Ansatz des Hornes, die
+befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der
+Klarinette; derart, daß in einem neuen und selbständigeren Werke
+notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und daß
+der unabhängigste Komponist in all dieses Unabänderliche hinein- und
+hinabgezogen wird.
+
+ [14] Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen
+ »modernen« Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
+ nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen
+ »Posaunensatz« geprägt hat, der -- seit ihm -- in den Partituren
+ ständige Wohnung nahm.
+
+Vielleicht, daß noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen
+ausgebeutet wurden -- die polyphone Harmonik dürfte noch manches
+Klangphänomen erzeugen können --, aber die Erschöpftheit wartet sicher
+am Ende einer Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist.
+Wohin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung führt der
+nächste Schritt?
+
+Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur
+tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen zielen, daß ein
+neuer Anfang jungfräulich erstehe.
+
+Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative, die
+verantwortlich-große Aufgabe haben, von allem Gelernten, Gehörten und
+Scheinbar-Musikalischen sich zu befreien; um, nach der vollendeten
+Räumung, eine inbrünstig-aszetische Gesammeltheit in sich zu beschwören,
+die ihn befähigt, den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe
+zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen Giotto eines
+musikalischen Rinascimento wird die Weihe der legendarischen
+Persönlichkeit krönen. Der ersten Offenbarung wird sodann eine Epoche
+religiöser Musikgeschäftigkeit folgen, daran kein Zunftwesen ein Teil
+haben kann, insofern als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar,
+und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem Zeitpunkt
+leuchtet die vollste Blüte, vielleicht die erste in der Musikgeschichte
+der Menschheit. Ich sehe auch, wie die Dekadenz beginnt und die reinen
+Begriffe sich verwirren und wie der Orden entweiht wird ...
+
+Es ist das Schicksal der Späteren, und wir -- heute -- sind ihnen
+ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.
+
+ * * * * *
+
+Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am nächsten rückt, sind
+die Pause und die Fermate. Große Vortragskünstler, Improvisatoren,
+wissen auch dieses Ausdruckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße
+zu verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen, in dieser
+Umgebung selbst Musik, läßt weiter ahnen, als der bestimmtere, aber
+deshalb weniger dehnbare Laut vermag.
+
+ * * * * *
+
+»Zeichen« sind es auch, und nichts anderes, was wir heute unser
+»Tonsystem« nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas von jener ewigen
+Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche Taschenausgabe jenes
+enzyklopädischen Werkes; künstliches Licht anstatt Sonne. -- Habt ihr
+bemerkt, wie die Menschen über die glänzende Beleuchtung eines Saales
+den Mund aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal stärkeren
+Mittagssonnenschein. --
+
+Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden als das, was sie
+bedeuten sollen und nur andeuten können.
+
+Wie wichtig ist doch die »Terz«, die »Quinte« und die »Oktave«. Wie
+streng unterscheiden wir »Konsonanzen« und »Dissonanzen« -- da, wo es
+überhaupt Dissonanzen nicht geben kann!
+
+Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander entfernte Stufen
+abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen mußten, und haben unsere
+Instrumente so eingerichtet, daß wir niemals darüber oder darunter oder
+dazwischen gelangen können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser
+Ohr gründlich eingeschult, so daß wir nicht mehr fähig sind, anderes zu
+hören -- als nur im Sinne der Unreinheit. Und die Natur schuf eine
+unendliche Abstufung -- unendlich! wer weiß es heute noch?[15]
+
+ [15] »Die gleichschwebende zwölfstufige Temperatur, welche bereits
+ seit ca. 1500 theoretisch erörtert, aber erst kurz vor 1700
+ prinzipiell aufgestellt wurde (durch Andreas Werkmeister), teilt die
+ Oktave in zwölf gleiche Teile (Halbtöne, daher »Zwölfhalbtonsystem«)
+ und gewinnt damit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein,
+ aber alle leidlich brauchbar intonieren.«
+
+ (Riemann, Musiklexikon.)
+
+ So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesem Werkmeister in der
+ Kunst, das »Zwölfhalbtonsystem« mit lauter unreinen, aber leidlich
+ brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was unrein?
+ Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht »reine
+ und brauchbare« Intervalle entstanden sind, als unrein an. Das
+ diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und doch
+ wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten.
+
+Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir noch eine Folge
+bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der Zahl, und darauf unsere
+ganze Tonkunst gestellt. Was sagte ich, eine Folge? Zwei solche Folgen,
+die Dur- und Moll-Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer
+anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine neue
+Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein gewaltsam beschränktes System
+diese erste Verworrenheit ergab[16], steht in den Gesetzbüchern zu
+lesen: wir wollen es nicht hier wiederholen.
+
+ [16] Man nennt es »Harmonielehre«.
+
+Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden Siebenfolgen,
+aber wir verfügen in der Tat nur über zwei: die Dur-Tonart und die
+Moll-Tonart. Die anderen sind nur Transpositionen. Man will durch die
+einzelnen Transpositionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
+aber das ist Täuschung. In England, wo die hohe Stimmung herrscht,
+werden die bekanntesten Werke um einen halben Ton höher gespielt, als
+sie notiert sind, ohne daß ihre Wirkung verändert wird. Sänger
+transponieren zu ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser
+vorausgeht und folgt, untransponiert spielen.
+
+Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten in drei
+verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke bleiben in allen
+drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.
+
+Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so gilt es gleich, ob
+es vom ersten oder vom dritten Stockwerk herabschaut.
+
+Könnte man eine Gegend, soweit das Auge reicht, um mehrere hundert Meter
+erhöhen oder vertiefen, das landschaftliche Bild würde dadurch nichts
+verlieren noch gewinnen.
+
+ * * * * *
+
+Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die Moll-Tonart, hat man
+die ganze Tonkunst gestellt -- eine Einschränkung fordert die andere.
+
+Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter zugesprochen, man
+hat gelernt und gelehrt, sie als Gegensätze zu hören, und allmählich
+haben sie die Bedeutung von Symbolen erreicht -- Dur und Moll --
+_Maggiore e Minore_ -- Befriedigung und Unbefriedigung -- Freude und
+Trauer -- Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben den
+Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter noch bis heute und
+übermorgen, abgezäunt.[17] Moll wird in derselben Absicht gebraucht und
+übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren.
+Einen Trauermarsch kann man heute nicht mehr »komponieren«, denn er ist
+ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetste Laie weiß, was
+ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch -- irgendwelcher! -- ertönen soll.
+Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und
+Moll-Sinfonie voraus.
+
+ [17] So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben
+ unser Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.
+
+ * * * * *
+
+Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze empfindet. Tragen sie doch
+beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer und ernster; und ein kleiner
+Pinselstrich genügt, eines in das andere zu kehren. Der Übergang vom
+einen zum zweiten ist unmerklich und mühelos -- geschieht er oft und
+rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu flimmern. --
+Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein doppeldeutiges Ganzes und daß
+die »vierundzwanzig Tonarten« nur eine elfmalige Transposition jener
+ersten zwei sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der Einheit
+unseres Tonartensystems. Die Begriffe von verwandt und fremd fallen ab
+-- und damit die ganze verwickelte Theorie von Graden und Verhältnissen.
+Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.
+
+ * * * * *
+
+»Einheit der Tonart.«
+
+-- »Sie meinen wohl 'Tonart' und 'Tonarten' sind der Sonnenstrahl und
+seine Zerlegung in Farben?«
+
+Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes Ton-, Tonart- und
+Tonartensystem ist in seiner Gesamtheit selbst nur der Teil eines
+Bruchteils eines zerlegten Strahls jener Sonne »Musik« am Himmel der
+»ewigen Harmonie«.
+
+ * * * * *
+
+So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit in des Menschen
+Weise und Wesen liegen -- so sehr sind Energie und Opposition gegen
+Bestehendes die Eigenschaften alles Lebendigen. Die Natur hat ihre
+Kniffe und überführt die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen
+widerspenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und ändert
+unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahrnehmbarer Bewegung, daß
+die Menschen nur Stillstand sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt
+ihnen das Überraschende, daß sie die Getäuschten waren.
+
+Deshalb erregt der »Reformator« Ärgernis bei den Menschen aller Zeiten,
+weil seine Änderungen zu unvermittelt und vor allem, weil sie
+wahrnehmbar sind. Der Reformator ist -- im Vergleich zur Natur --
+undiplomatisch, und es ist ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst
+dann Gültigkeit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
+Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt hat. Doch gibt
+es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen Schritt ging, indessen
+die übrigen zurückblieben. Und da muß man sie zwingen und dazu
+peitschen, den Sprung über die versäumte Strecke zu springen. Ich
+glaube, daß die Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
+daß das »Zwölfhalbtonsystem« einen solchen Fall von Zurückgebliebenheit
+darstellen.
+
+Daß schon einige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge
+noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist in vereinzelten
+Momenten bereits bei Liszt und in der heutigen musikalischen
+Vorwärtsbewegung ausgesprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
+die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus. Doch scheints
+mir nicht, daß eine bewußte und geordnete Vorstellung dieser erhöhten
+Ausdrucksmittel sich geformt habe.
+
+Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der
+Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir, durch Erniedrigung und
+Erhöhung der Intervalle 113 verschiedene Skalen festzustellen. Diese 113
+Skalen (innerhalb der Oktave _C_-_C_) begreifen den größten Teil der
+bekannten »24 Tonarten«, außerdem aber eine Reihe neuer Tonarten von
+eigenartigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht erschöpft, denn
+die »Transposition« jeder einzelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch
+offen und überdies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
+solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.
+
+Die Skala _c des es fes ges as b c_ klingt schon bedeutend anders als
+die _des_-Moll-Tonleiter, wenn man _c_ als ihren Grundton annimmt. Legt
+man ihr noch den gewöhnlichen _C_-Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so
+ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe
+Tonleiter abwechselnd, vom _A_-Moll-, _Es_-Dur- und _C_-Dur-Dreiklang
+gestützt, und man wird sich der angenehmsten Überraschung über den
+fremdartigen Wohllaut nicht erwehren können.
+
+Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen _c des es fes g a h c_ |
+_c des es f ges a h c_ | _c d es fes ges a h c_ | _c des e f ges a b c_
+| oder gar: _c d es fes g ais h c_ | _c d es fes gis a h c_ | _c des es
+fis gis a b c_ einreihen mögen?
+
+Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und harmonischen
+Ausdruck dem Ohr öffnen, ist nicht sogleich zu übersehen; eine Menge
+neuer Möglichkeiten ist aber zweifellos anzunehmen und auf den ersten
+Blick erkennbar.
+
+ * * * * *
+
+Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten endgültig
+ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopisches Durcheinanderschütteln
+von zwölf Halbtönen in der Dreispiegelkammer des Geschmacks, der
+Empfindung und der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.
+
+ * * * * *
+
+Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: denn alles verkündet
+eine Umwälzung und einen nächsten Schritt zu jener »ewigen«.
+Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daß in ihr die Abstufung der
+Oktave unendlich ist, und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges
+uns zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die
+Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung. Wer, wie ich es
+getan, damit, wenn auch bescheiden, experimentierte und -- sei es mit
+der Kehle oder auf einer Geige -- zwischen einem Ganzton zwei
+gleichmäßig abstehende Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das
+Treffen übte, der wird zur Einsicht gelangt sein, daß Dritteltöne
+vollkommen selbständige Intervalle von ausgeprägtem Charakter sind, mit
+verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln. Es ist eine verfeinerte
+Chromatik, die uns vorläufig auf der ganztönigen Skala zu basieren
+scheint. Führten wir dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die
+Halbtöne, verlören die »kleine Terz« und die »reine Quinte«, und dieser
+Verlust würde stärker empfunden als der relative Gewinn eines
+»Achtzehndritteltonsystems«.
+
+Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den Halbtönen
+aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton einen Halbton, so erhalten
+wir eine zweite Reihe von Ganztönen, die um einen halben Ton höher steht
+als die erste. Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in
+Drittelteile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren Reihe
+ein entsprechender Halbton in der oberen.
+
+Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und daß auch
+Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können wir vertrauen. Das
+Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll aber vorerst das Gehör mit
+Dritteltönen füllen, ohne auf die Halbtöne zu verzichten.
+
+[Illustration]
+
+Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei Reihen Dritteltöne,
+voneinander um einen halben Ton entfernt, auf; oder: dreimal die übliche
+Zwölfhalbtonreihe im Abstande von je einem Drittelton.
+
+Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten Ton _C_ und
+die beiden nächsten Dritteltöne _Cis_ und _Des_; den ersten Halbton
+(klein-)_c_ und seine folgenden Dritteile _cis_ und _des_; -- die
+vorhergehende Tabelle erklärt alles Fehlende.
+
+Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig und drohend
+ist dagegen die Frage, wie und worauf diese Töne zu erzeugen sind. Es
+trifft sich glücklich, daß ich während der Arbeit an diesem Aufsatz eine
+direkte und authentische Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage
+in einfacher Weise löst. Es ist die Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills
+Erfindung.[18] Dieser Mann hat einen umfangreichen Apparat konstruiert,
+welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom in eine genau
+berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen zu verwandeln. Da die
+Tonhöhe von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede
+gewünschte Zahl zu »stellen« ist, so ist durch diesen die unendliche
+Abstufung der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger
+eines Quadranten korrespondiert.
+
+ [18] _»New Music for an old World. Dr. Thaddeus Cahills Dynamophone,
+ an extraordinary electrical Invention for producing scientifically
+ perfect music by Ray Stannard Baker«. Mc. Clure's Magazine, July 1906.
+ Vol. XXVII, No. 3. --_
+
+ Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des
+ weiteren: ... Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Tongebung bei
+ allen Instrumenten führte Dr. Cahill zum Nachdenken. Material,
+ Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträchtigen die
+ Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die Macht
+ über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an, wo die
+ Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung an der
+ festgehaltenen Note nichts ändern. Dr. Cahill ersann die Idee eines
+ Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über jeden zu
+ erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er nahm sich die
+ Theorien Helmholtz' zum Vorbild, die ihn lehrten, daß die Verhältnisse
+ der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grundton den Ausschlag für
+ den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente geben. Demnach
+ konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton schwingen läßt,
+ eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen jeder einen der
+ Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger Anordnung und Stärke
+ dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer mannigfaltigsten
+ Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das empfindlichste
+ dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pianissimo bis zur
+ unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das Instrument von
+ einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die Fähigkeit bewahrt,
+ der Eigenart eines Künstlers zu folgen.
+
+ Eine Reihe solcher Klaviaturen von mehreren Spielern gespielt, kann zu
+ einem Orchester zusammengestellt werden.
+
+ Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und
+ kostspielig, und sein praktischer Wert müßte mit Recht angezweifelt
+ werden. Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen
+ Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch
+ diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer
+ Zentralstelle aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen,
+ selbst auf große Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu
+ versenden; und gelungene Experimente haben erwiesen, daß auf diesem
+ Wege weder von den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas
+ eingebüßt wird. Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit
+ Klang erfüllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals
+ versagenden Klang, unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht,
+ dem ich diese Nachrichten entnehme, sind authentische Photographien
+ des Apparates beigegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit
+ dieser allerdings fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat
+ sieht aus wie ein Maschinenraum.
+
+Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte
+Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte Material einer
+heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.
+
+ * * * * *
+
+Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellungen erwachen für sie!
+Wer hat nicht schon im Traume »geschwebt«? Und fest geglaubt, daß er
+den Traum erlebe? -- Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen
+zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und
+ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein,
+in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung
+sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie
+des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen
+brechen; sie sei nichts anderes als die Natur in der menschlichen Seele
+abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt; ist sie doch tönende
+Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso
+universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich
+zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an Intensität nachzulassen.
+
+ * * * * *
+
+In seinem Buche »Jenseits von Gut und Böse« sagt Nietzsche:
+
+»Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten.
+Gesetzt, daß man den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine große
+Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige
+Sonnenfülle und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbstherrliches,
+an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich etwas vor
+der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen
+Geschmack zurückverdirbt, ihm die Gesundheit mit zurückverdirbt.
+
+Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach, muß,
+falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der
+Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren,
+vielleicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren haben,
+einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen,
+wollüstigen Meeres und der mittelländischen Himmelshelle nicht
+verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik tut, einer
+übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnenuntergängen der
+Wüste recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
+großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und zu schweifen
+versteht. -- --
+
+Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin
+bestände, daß sie von Gut und Böse[19] nichts mehr wüßte, nur daß
+vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgendwelche goldne Schatten und
+zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst,
+welche von großer Ferne her die Farben einer untergehenden, fast
+unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und
+die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge
+wäre ...«
+
+ [19] Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er
+ vorher von einer vielleicht »böseren« Musik, so denkt er sich jetzt
+ eine Musik, die »von Gut und Böse nichts mehr wüßte«; -- doch war mir
+ bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.
+
+Und Tolstoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Musikempfindung
+werden, wenn er in »Luzern« schreibt:
+
+»Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am Himmel eine einzige
+gerade Linie, eine einzige ungemischte Farbe, ein einziger Ruhepunkt --
+überall Bewegung, Unregelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit,
+unaufhörliches Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem
+die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des Schönen.«
+
+Wird diese Musik jemals erreicht?
+
+»Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von Anfang an begabt,
+alles kennenlernt, was man kennen soll, alles durchlebt, was man
+durchleben soll, verläßt, was man verlassen soll, entwickelt, was man
+entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt
+zum Nirwana.«[20] (Kern, »Geschichte des Buddhismus in Indien«).
+
+ [20] Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
+ d'Indy: »_.... laissant de côté les contingences et les petitesses de
+ la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu'on ne pourra jamais
+ atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher._«
+
+Ist Nirwana das Reich »Jenseits von Gut und Böse«, so ist hier ein Weg
+dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und
+Ewigkeit trennt -- oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene
+einzulassen. Jenseits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.[21] --
+Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um sie zu
+vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdischen Fesseln unterwegs
+sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich das Gitter. --
+
+ [21] Ich glaube gelesen zu haben, daß Liszt seine Dante-Symphonie auf
+ die beiden Sätze »_Inferno_« und »_Purgatorio_« beschränkte, »weil
+ unsere Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht
+ ausreichte.«
+
+
+
+
+ Druck der Piererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg.
+
+
+
+
+[ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
+jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
+steht.
+
+ élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouves,
+ élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés,
+
+Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige nud
+Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige und
+
+ [7] Aus Offenbachs »_Les contes d' Hoffmann_«.
+ [7] Aus Offenbachs »_Les contes d'Hoffmann_«.
+
+ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetetste Laie weiß, was
+ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetste Laie weiß, was
+]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Entwurf einer neuen Ästhetik der
+Tonkunst, by Ferruccio Busoni
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ENTWURF EINER NEUEN ÄSTHETIK ***
+
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+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+The Project Gutenberg EBook of Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, by
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+Title: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst
+
+Author: Ferruccio Busoni
+
+Release Date: February 23, 2008 [EBook #24677]
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ENTWURF EINER NEUEN ÄSTHETIK ***
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+Produced by Jana Srna and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+
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+<div id="tnote"><p class="center noindent" style="font-weight: bold;">Anmerkungen zur Transkription:</p>
+<p class="noindent">Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden
+&uuml;bernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.</p>
+<p class="noindent">&Auml;nderungen sind im Text mit einer strichlierten blauen Linie gekennzeichnet, der
+<ins title="so wie hier">Originaltext</ins> erscheint beim &Uuml;berfahren mit der Maus.</p></div>
+
+<p class="center noindent" style="padding-top: 4em;"><big style="font-size: 150%; letter-spacing: 0.15em;">Ferruccio Busoni</big></p>
+
+<h1 style="letter-spacing: 0.1em; margin-bottom: 6em;">Entwurf<br/>
+einer neuen &Auml;sthetik<br/>
+der Tonkunst</h1>
+
+<div class="figcenter" style="width: 90px;">
+<img src="images/emblem.png" width="90" height="88" alt="" title="" />
+</div>
+
+<p class="center noindent" style="letter-spacing: 0.1em;">Zweite, erweiterte Ausgabe</p>
+
+<hr style="width: 18em;"/>
+
+<p class="center noindent"><big style="font-size: 120%; letter-spacing: 0.1em;">Im Insel-Verlag zu Leipzig</big></p>
+
+
+<p class="center noindent" style="padding-top: 8em; line-height: 1.5em; page-break-before: always; page-break-after: always;">Dem Musiker in Worten<br/>
+<big style="font-size: 120%; letter-spacing: 0.15em;">Rainer Maria Rilke</big><br/>
+verehrungsvoll und freundschaftlich<br/>
+dargeboten</p>
+
+
+<div style="width: 22em; margin: auto; padding-left: 10em; padding-top: 8em; page-break-after: always;">
+<p class="noindent">&bdquo;Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?&ldquo;<br/>
+&bdquo;Ich wei&szlig; es nicht; ich will das Unbekannte!<br/>
+Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will<br/>
+dar&uuml;ber noch. Mir fehlt das letzte Wort.&ldquo;</p>
+
+<p class="right noindent">&bdquo;<cite>Der m&auml;chtige Zauberer</cite>&ldquo;.</p>
+</div>
+
+<blockquote style="width: 70%; padding-left: 20%; padding-bottom: 3em; padding-top: 8em;">
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_5">[5]</a></span>
+&bdquo;Ich f&uuml;hlte &hellip; da&szlig; ich kein englisches und kein lateinisches
+Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund &hellip;
+n&auml;mlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben,
+sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben w&auml;re, weder
+die lateinische, noch die englische, noch die italienische und
+spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir
+auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die
+stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher ich vielleicht
+einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten
+werde.&ldquo;</p>
+
+<p class="right"><cite>Hugo von Hofmannsthal, &bdquo;Ein Brief&ldquo;</cite>.</p>
+</blockquote>
+
+<p class="dropcap">Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander
+gef&uuml;gt, sind diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Ergebnis
+von lange und langsam gereiften &Uuml;berzeugungen.</p>
+
+<p>In ihnen wird ein gr&ouml;&szlig;tes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit
+aufgestellt, ohne da&szlig; der Schl&uuml;ssel zu seiner
+letzten L&ouml;sung gegeben werde, weil das Problem auf Menschenalter
+hinaus nicht &ndash; wenn &uuml;berhaupt &ndash; l&ouml;sbar ist.</p>
+
+<p>Aber es begreift in sich eine unaufgez&auml;hlte Reihe minderer
+Probleme, auf die ich das Nachdenken derjenigen
+lenke, die es betrifft. Denn recht lange schon hatte man in
+der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben.</p>
+
+<p>Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungswertes,
+und ich stellte mich stets in die erste Reihe, die vor&uuml;berziehenden
+Fahnentr&auml;ger freudig zu begr&uuml;&szlig;en; aber mir
+will es scheinen, da&szlig; die mannigfachen Wege, die beschritten
+werden, zwar in sch&ouml;ne Weiten f&uuml;hren, aber nicht &ndash; nach
+oben.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Der Geist eines Kunstwerkes, das Ma&szlig; der Empfindung,
+das Menschliche, das in ihm ist &ndash; sie bleiben durch wechselnde
+Zeiten unver&auml;ndert an Wert; die Form, die diese drei aufnahm,
+die Mittel, die sie ausdr&uuml;ckten, und der Geschmack,
+<span class="pagenum"><a name="Page_6">[6]</a></span>
+den die Epoche ihres Entstehens &uuml;ber sie ausgo&szlig;, sie sind
+verg&auml;nglich und rasch alternd.</p>
+
+<p>Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk
+wie im Menschen; technische Errungenschaften, bereitwilligst
+erkannt und bewundert, werden &uuml;berholt, oder der
+Geschmack wendet sich von ihnen ges&auml;ttigt <span class="nowrap">ab. &ndash;</span></p>
+
+<p>Die verg&auml;nglichen Eigenschaften machen das &bdquo;Moderne&ldquo;
+eines Werkes aus; die unver&auml;nderlichen bewahren es
+davor, &bdquo;altmodisch&ldquo; zu werden. Im &bdquo;Modernen&ldquo; wie im
+&bdquo;Alten&ldquo; gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes.
+Absolut Modernes existiert nicht &ndash; nur fr&uuml;her oder sp&auml;ter
+Entstandenes; l&auml;nger bl&uuml;hend oder schneller welkend. Immer
+gab es Modernes, und immer <span class="nowrap">Altes. &ndash;</span></p>
+
+<p>Die Kunstformen sind um so dauernder, je n&auml;her sie sich
+an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner
+sie sich in ihren nat&uuml;rlichen Mitteln und Zielen bewahren.</p>
+
+<p>Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen
+Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn
+sie die darstellende Fl&auml;che verl&auml;&szlig;t und sich zur Theaterdekoration
+oder zum Panoramabild <span class="nowrap">kompliziert; &ndash;</span></p>
+
+<p>die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach
+oben zu schreiten mu&szlig;, durch statische Notwendigkeit vorgeschrieben;
+Fenster und Dach geben notgedrungen die mittlere
+und abschlie&szlig;ende Ausgestaltung; diese Bedingungen
+sind an ihr bleibend und <span class="nowrap">unverletzbar; &ndash;</span></p>
+
+<p>die Dichtung gebietet &uuml;ber den abstrakten Gedanken, den
+sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und
+hat die gr&ouml;&szlig;ere Unabh&auml;ngigkeit voraus:</p>
+
+<blockquote><p class="noindent">aber alle K&uuml;nste, Mittel und Formen erzielen best&auml;ndig
+das eine, n&auml;mlich die Abbildung der Natur und die
+Wiedergabe der menschlichen Empfindungen.</p></blockquote>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_7">[7]</a></span>
+Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und
+reife K&uuml;nste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher
+geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden
+und beschreiben, wie ein Planet, regelm&auml;&szlig;ig ihren Kreis.<a name="FNanchor_1_1" href="#Footnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a></p>
+
+<p>Ihnen gegen&uuml;ber ist die Tonkunst das Kind, das zwar
+gehen gelernt hat, aber noch gef&uuml;hrt werden mu&szlig;. Es ist
+eine jungfr&auml;uliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten
+hat.</p>
+
+<p>Sie ist sich selbst noch nicht bewu&szlig;t dessen, was sie kleidet,
+der Vorz&uuml;ge, die sie besitzt, und der F&auml;higkeiten, die in ihr
+schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel
+Sch&ouml;nes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen
+Gaben allgemein f&uuml;r v&ouml;llig ausgereift gehalten werden.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Die Musik als Kunst, die sogenannte abendl&auml;ndische
+Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande
+der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer
+noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klassikern
+und geheiligten Traditionen!<a name="FNanchor_2_2" href="#Footnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> Spricht doch bereits
+ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von
+&bdquo;den Alten&ldquo;.</p>
+
+<p>Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze
+vorgeschrieben <span class="nowrap">&ndash; &ndash; &ndash;</span> wir wenden die Gesetze der
+Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch
+nicht kennt!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_8">[8]</a></span>
+So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft
+ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen &auml;lteren
+Gef&auml;hrten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft
+wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst
+&uuml;ber den Haufen geworfen w&uuml;rden. Das Kind &ndash; es schwebt!
+Es ber&uuml;hrt nicht die Erde mit seinen F&uuml;&szlig;en. Es ist nicht
+der Schwere unterworfen. Es ist fast unk&ouml;rperlich. Seine
+Materie ist durchsichtig. Es ist t&ouml;nende Luft. Es ist fast die
+Natur selbst. Es ist frei.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie v&ouml;llig begriffen
+noch g&auml;nzlich empfunden haben. Sie k&ouml;nnen sie nicht
+erkennen noch anerkennen.</p>
+
+<p>Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln
+es. Das schwebende Wesen mu&szlig; geziemend gehen, mu&szlig;,
+wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich f&uuml;gen;
+kaum, da&szlig; es h&uuml;pfen darf &ndash; indessen es seine Lust w&auml;re,
+der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
+Sonnenstrahlen zu brechen.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre
+Bestimmung. Sie wird der vollst&auml;ndigste aller Naturwiderscheine
+werden durch die Ungebundenheit ihrer Unmaterialit&auml;t.
+Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unk&ouml;rperlichkeit
+nach; sie kann sich zusammenballen und kann
+auseinanderflie&szlig;en, die regloseste Ruhe und das lebhafteste
+St&uuml;rmen sein; sie hat die h&ouml;chsten H&ouml;hen, die Menschen
+wahrnehmbar sind &ndash; welche andere Kunst hat das? &ndash;, und
+ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensit&auml;t,
+die vom &bdquo;Begriffe&ldquo; unabh&auml;ngig ist.</p>
+
+<p>Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben,
+<span class="pagenum"><a name="Page_9">[9]</a></span>
+mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit
+der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler
+oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick,
+eine &bdquo;Situation&ldquo; darstellen kann und der Dichter ein Temperament
+und dessen Regungen m&uuml;hsam durch angereihte
+Worte mitteilt.</p>
+
+<p>Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das
+Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der
+Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den
+Zielen der Tonkunst.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen,
+ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik.
+&bdquo;Absolute Musik&ldquo; ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm,
+wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber
+gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt,
+die doch den g&ouml;ttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von
+den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde
+endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem
+Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erh&auml;lt eine viereckige
+Abgrenzung; die einmal gew&auml;hlte Zeichnung der
+Wolke steht f&uuml;r immer unver&auml;nderlich da. Die Musik kann
+sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen
+wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt
+bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen T&ouml;ne zu verwenden,
+die in dem Innern des Menschen auf dieselbe
+Taste dr&uuml;cken und denselben Widerhall erwecken, wie die
+Vorg&auml;nge in der Natur.</p>
+
+<p>Absolute Musik ist dagegen etwas ganz N&uuml;chternes, welches
+an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verh&auml;ltnis
+von Tonika und Dominante, an Durchf&uuml;hrungen und Kodas.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_10">[10]</a></span>
+Da h&ouml;re ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart
+tiefer abm&uuml;ht, den gewandteren ersten nachzuahmen, h&ouml;re
+einen unn&ouml;tigen Kampf ausk&auml;mpfen, um dahin zu gelangen,
+wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr
+die architektonische hei&szlig;en, oder die symmetrische, oder
+die eingeteilte, und sie stammt daher, da&szlig; einzelne Tondichter
+ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form
+gossen, weil es ihnen oder der Zeit am n&auml;chsten lag. Die
+Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualit&auml;t
+jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik
+identifiziert und schlie&szlig;lich &ndash; da sie weder den Geist, noch
+die Empfindung, noch die Zeit wiedergeb&auml;ren konnten &ndash; die
+Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre
+erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form
+als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie
+entschwebten &ndash; und die Gesetzgeber entdecken und verwahren
+Euphorions auf der Erde zur&uuml;ckgebliebene Gew&auml;nder:</p>
+
+<div style="width: 19em; margin: auto;">
+&bdquo;Noch immer gl&uuml;cklich aufgefunden!<br />
+Die Flamme freilich ist verschwunden,<br />
+Doch ist mir um die Welt nicht leid.<br />
+Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,<br />
+Zu stiften Gold- und Handwerksneid;<br />
+Und kann ich die Talente nicht verleihen,<br />
+Verborg ich wenigstens das Kleid.&ldquo;</div>
+
+<p>Ists nicht eigent&uuml;mlich, da&szlig; man vom Komponisten in
+allem Originalit&auml;t fordert und da&szlig; man sie ihm in der
+Form verbietet? Was Wunder, da&szlig; man ihn &ndash; wenn er
+wirklich originell wird &ndash; der Formlosigkeit anklagt. Mozart!
+den Sucher und den Finder, den gro&szlig;en Menschen
+mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm
+<span class="pagenum"><a name="Page_11">[11]</a></span>
+h&auml;ngen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
+seinen Durchf&uuml;hrungen und Kodas.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Solche Befreiungslust erf&uuml;llte einen Beethoven, den
+romantischen Revolutionsmenschen, da&szlig; er einen kleinen
+Schritt in der Zur&uuml;ckf&uuml;hrung der Musik zu ihrer h&ouml;heren
+Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der gro&szlig;en Aufgabe,
+einen gro&szlig;en Schritt in seinem eigenen Weg. Die
+ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen
+Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
+Hammerklavier-Sonate. &Uuml;berhaupt kamen die Tondichter
+in den vorbereitenden und vermittelnden S&auml;tzen (Vorspielen
+und &Uuml;berg&auml;ngen) der wahren Natur der Musik am n&auml;chsten,
+wo sie glaubten, die symmetrischen Verh&auml;ltnisse au&szlig;er acht
+lassen zu d&uuml;rfen und selbst unbewu&szlig;t frei aufzuatmen schienen.
+Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen
+Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst
+&ndash; man denke an die &Uuml;berleitung zum letzten Satze der D-Moll-Sinfonie
+&ndash;, und Gleiches kann man von Brahms
+und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie behaupten.</p>
+
+<p>Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
+wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines
+Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.</p>
+
+<p>Neben Beethoven ist Bach der &bdquo;Ur-Musik&ldquo; am verwandtesten.
+Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen)
+haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem
+(dem Architektonisch Entgegenstehenden), von Eingebungen,
+die man &bdquo;Mensch und Natur&ldquo; &uuml;berschreiben m&ouml;chte<a name="FNanchor_3_3" href="#Footnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a>; bei
+<span class="pagenum"><a name="Page_12">[12]</a></span>
+ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch &uuml;ber
+seine Vorg&auml;nger hinwegschritt &ndash; (wenn er sie auch bewunderte
+und sogar benutzte) &ndash; und weil ihm die noch junge
+Errungenschaft der temperierten Stimmung vorl&auml;ufig unendlich
+neue M&ouml;glichkeiten erstehen lie&szlig;.</p>
+
+<p>Darum sind Bach und Beethoven<a name="FNanchor_4_4" href="#Footnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> als ein Anfang
+aufzufassen und nicht als unzu&uuml;bertreffende Abgeschlossenheiten.
+Un&uuml;bertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und
+ihre Empfindung bleiben; und das best&auml;tigt wiederum das
+zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. N&auml;mlich, da&szlig; die Empfindung
+und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert
+nichts einb&uuml;&szlig;en, und da&szlig; derjenige, der ihre h&ouml;chsten H&ouml;hen
+ersteigt, jederzeit &uuml;ber die Menge ragen wird.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Was noch &uuml;berstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform
+und ihre Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese,
+der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die
+Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte
+(Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbstgeschaffenen
+Grenzen nicht weiter steigerungsf&auml;hig. Seine
+Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst weil er
+sie zur h&ouml;chsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte;
+sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, da&szlig;
+sie von einem Menschen allein bew&auml;ltigt werden konnte.
+<span class="pagenum"><a name="Page_13">[13]</a></span>
+&bdquo;Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die L&ouml;sung&ldquo;,
+wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beethoven
+er&ouml;ffnet, k&ouml;nnen nur von Generationen zur&uuml;ckgelegt
+werden. Sie m&ouml;gen &ndash; wie alles im Weltsystem &ndash; nur
+einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,
+da&szlig; der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie
+erscheint. Wagners Kreis &uuml;berblicken wir vollst&auml;ndig. &ndash;
+Ein Kreis im gro&szlig;en Kreise.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Der Name Wagner f&uuml;hrt zur Programmusik zur&uuml;ck.
+Sie ist als ein Gegensatz zu der sogenannten &bdquo;absoluten&ldquo;
+Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so verh&auml;rtet,
+da&szlig; selbst die Verst&auml;ndigen sich an den einen oder
+an den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, au&szlig;er und
+&uuml;ber den beiden liegende M&ouml;glichkeit anzunehmen. In
+Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und
+begrenzt wie das als absolute Musik verk&uuml;ndete, von Hanslick
+verherrlichte Klang-Tapetenmuster. Anstatt architektonischer
+und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und
+Dominantverh&auml;ltnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen
+gar philosophische Programm als wie eine Schiene
+sich angeschn&uuml;rt.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Jedes Motiv &ndash; so will es mir scheinen &ndash; enth&auml;lt wie
+ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen
+treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Bl&auml;ttern,
+Bl&uuml;ten, Fr&uuml;chten, Wuchs und Farben voneinander
+abweichend.<a name="FNanchor_5_5" href="#Footnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a></p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_14">[14]</a></span>
+Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung w&auml;chst an Ausdehnung,
+Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbst&auml;ndig
+geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte
+Form vorbestimmt; jedes einzelne mu&szlig; sich anders entfalten,
+doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Harmonie.
+Diese Form bleibt unzerst&ouml;rbar, doch niemals sich
+gleich.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes
+birgt die n&auml;mlichen Bedingungen in sich; es mu&szlig; aber &ndash;
+schon bei seiner n&auml;chsten Entwicklungsphase &ndash; sich nicht
+nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des &bdquo;Programmes&ldquo;
+formen, vielmehr &bdquo;kr&uuml;mmen&ldquo;. Dergestalt, gleich in
+der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege gebracht,
+gelangt es schlie&szlig;lich zu einem ganz unerwarteten
+Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Programm,
+die Handlung, die philosophische Idee vors&auml;tzlich es
+gef&uuml;hrt.</p>
+
+<p>F&uuml;rwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewi&szlig; gibt
+es nicht mi&szlig;zudeutende, tonmalende Ausdr&uuml;cke &ndash; (sie haben
+die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) &ndash;, aber
+es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen
+Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von
+ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung
+von Naturger&auml;uschen: das Rollen des Donners,
+das Rauschen der B&auml;ume und die Tierlaute; und
+schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichtssinn
+entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
+Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch &Uuml;bertragung
+des reflektierenden Gehirns verst&auml;ndlich: das Trompetensignal
+als kriegerisches Symbol, die Schalmei als l&auml;ndliches
+<span class="pagenum"><a name="Page_15">[15]</a></span>
+Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schreitens,
+der Choral als Tr&auml;ger der religi&ouml;sen Empfindung.
+Z&auml;hlen wir noch das Nationalcharakteristische &ndash; Nationalinstrumente,
+Nationalweisen &ndash; zum vorigen, so haben
+wir die R&uuml;stkammer der Programmusik ersch&ouml;pfend besichtigt.
+Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und
+Tief<a name="FNanchor_6_6" href="#Footnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a> in ihrer herk&ouml;mmlichen Bedeutung erg&auml;nzen das
+Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in
+einem gro&szlig;en Rahmen, aber allein genommen ebensowenig
+Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Und was kann schlie&szlig;lich die Darstellung eines kleinen
+Vorganges auf Erden, der Bericht &uuml;ber einen &auml;rgerlichen
+Nachbar &ndash; gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder
+im angrenzenden Weltteile &ndash; mit jener Musik, die durch
+das Weltall zieht, gemeinsam haben?</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gem&uuml;tszust&auml;nde
+schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung,
+Erstarkung, Ermattung (Beethovens letzte Quartette), Entschlu&szlig;
+(Wotan), Z&ouml;gern, Niedergeschlagenheit, Ermunterung,
+H&auml;rte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das &Uuml;berraschende,
+das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren
+Widerklang &auml;u&szlig;erer Ereignisse, der in jenen Gem&uuml;tsstimmungen
+enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener
+Seelenregungen selbst: nicht die Freude &uuml;ber eine beseitigte
+Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche
+die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber
+wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft,
+<span class="pagenum"><a name="Page_16">[16]</a></span>
+ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische
+Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit, in T&ouml;ne umzusetzen oder
+gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit,
+durch sie aussprechen zu wollen. K&ouml;nnte man denken, wie
+ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben
+w&auml;re? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik
+werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem,
+das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das
+kommt daher, da&szlig; &bdquo;arm&ldquo; eine Form irdischer und gesellschaftlicher
+Zust&auml;nde ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu
+finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden Weltalls.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Der gr&ouml;&szlig;te Teil neuerer Theatermusik leidet an dem
+Fehler, da&szlig; sie die Vorg&auml;nge, die sich auf der B&uuml;hne abspielen,
+wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe
+nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen
+w&auml;hrend jener Vorg&auml;nge zu tragen. Wenn die B&uuml;hne die
+Illusion eines Gewitters vort&auml;uscht, so ist dieses Ereignis
+durch das Auge ersch&ouml;pfend wahrgenommen. Fast alle
+Komponisten bem&uuml;hen sich jedoch, das Gewitter in T&ouml;nen
+zu beschreiben, welches nicht nur eine unn&ouml;tige <ins title="nud">und</ins> schw&auml;chere
+Wiederholung, sondern zugleich eine Vers&auml;umnis ihrer Aufgabe
+ist. Die Person auf der B&uuml;hne wird entweder von
+dem Gewitter seelisch beeinflu&szlig;t, oder ihr Gem&uuml;t verweilt infolge
+von Gedanken, die es st&auml;rker in Anspruch nehmen, unbeirrt.
+Das Gewitter ist sichtbar und h&ouml;rbar ohne Hilfe der
+Musik; was aber in der Seele des Menschen w&auml;hrenddessen
+vorgeht, das Unsichtbare und Unh&ouml;rbare, das soll die Musik
+verst&auml;ndlich machen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_17">[17]</a></span>
+Wiederum gibt es &bdquo;sichtbare&ldquo; Seelenzust&auml;nde auf der
+B&uuml;hne, um die sich die Musik nicht zu k&uuml;mmern braucht.
+Nehmen wir die theatralische Situation<a name="FNanchor_7_7" href="#Footnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a>, da&szlig; eine lustige
+n&auml;chtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge
+entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, erbitterter
+Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Musik
+die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft
+durch den fortzusetzenden Gesang gegenw&auml;rtig halten m&uuml;ssen:
+was die beiden vorderen treiben und dabei empfinden, ist
+ohne jede weitere Erl&auml;uterung erkennbar, und die Musik
+darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das
+tragische Schweigen nicht brechen.</p>
+
+<p>F&uuml;r bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten
+Oper, welche die durch eine dramatisch-bewegte Szene gewonnene
+Stimmung in einem geschlossenen St&uuml;cke zusammenfa&szlig;te
+und ausklingen lie&szlig; (Arie). &ndash; Wort und Gesten
+vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der
+Musik mehr oder weniger d&uuml;rftig rezitativisch gefolgt; an
+dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz
+wieder ein. Das ist weniger &auml;u&szlig;erlich, als man es jetzt
+glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte
+Form der &bdquo;Arie&ldquo; selbst, die zu der Unwahrheit des Ausdrucks
+und zum Verfall f&uuml;hrte.</p>
+
+<p>Immer wird das gesungene Wort auf der B&uuml;hne eine
+Konvention bleiben und ein Hindernis f&uuml;r alle wahrhaftige
+Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen,
+wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren,
+von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahrscheinliche
+gestellt sein m&uuml;ssen, auf da&szlig; eine Unm&ouml;glichkeit
+<span class="pagenum"><a name="Page_18">[18]</a></span>
+die andere st&uuml;tze und so beide m&ouml;glich und annehmbar
+werden.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste
+Prinzip ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Verismus
+f&uuml;r die musikalische B&uuml;hne als unhaltbar an.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Bei der Frage &uuml;ber die Zukunft der Oper ist es n&ouml;tig,
+&uuml;ber diese andere Klarheit zu gewinnen: &bdquo;An welchen Momenten
+ist die Musik auf der B&uuml;hne unerl&auml;&szlig;lich?&ldquo; Die
+pr&auml;zise Antwort gibt diese Auskunft: &bdquo;Bei T&auml;nzen, bei
+M&auml;rschen, bei Liedern und &ndash; beim Eintreten des &Uuml;bernat&uuml;rlichen
+in die Handlung.&ldquo;</p>
+
+<p>Es ergibt sich demnach eine kommende M&ouml;glichkeit in der
+Idee des &uuml;bernat&uuml;rlichen Stoffes. Und noch eine: in der
+des absoluten &bdquo;Spieles&ldquo;, des unterhaltenden Verkleidungstreibens,
+der B&uuml;hne als offenkundige und angesagte Verstellung,
+in der Idee des Scherzes und der Unwirklichkeit
+als Gegens&auml;tze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens.
+Dann ist es am rechten Platze, da&szlig; die Personen singend
+ihre Liebe beteuern und ihren Ha&szlig; ausladen, und da&szlig; sie
+melodisch im Duell fallen, da&szlig; sie bei pathetischen Explosionen
+auf hohen T&ouml;nen Fermaten aushalten; es ist dann am
+rechten Platze, da&szlig; sie sich absichtlich anders geb&auml;rden als
+im Leben, anstatt da&szlig; sie (wie in unseren Theatern und in
+der Oper zumal) unabsichtlich alles verkehrt machen.</p>
+
+<p>Es sollte die Oper des &Uuml;bernat&uuml;rlichen oder des Unnat&uuml;rlichen,
+als der allein ihr nat&uuml;rlich zufallenden Region der
+Erscheinungen und der Empfindungen, sich bem&auml;chtigen und
+dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder
+in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die
+<span class="pagenum"><a name="Page_19">[19]</a></span>
+bewu&szlig;t das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht
+zu finden ist. Der Zauberspiegel f&uuml;r die ernste Oper, der
+Lachspiegel f&uuml;r die heitere. Und lasset Tanz und Maskenspiel
+und Spuk mit eingeflochten sein, auf da&szlig; der Zuschauer
+der anmutigen L&uuml;ge auf jedem Schritt gewahr bleibe und
+nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>So wie der K&uuml;nstler, wo er r&uuml;hren soll, nicht selber ger&uuml;hrt
+werden darf &ndash; soll er nicht die Herrschaft &uuml;ber seine Mittel
+im gegebenen Augenblicke einb&uuml;&szlig;en &ndash;, so darf auch der
+Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese
+niemals f&uuml;r Wirklichkeit ansehen, soll nicht der k&uuml;nstlerische
+Genu&szlig; zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Darsteller
+&bdquo;spiele&ldquo; &ndash; er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungl&auml;ubig
+und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen
+und Feinschmecken.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Auf solche Voraussetzungen gest&uuml;tzt, lie&szlig;e sich eine Zukunft
+f&uuml;r die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und st&auml;rkste
+Hindernis, f&uuml;rchte ich, wird uns das Publikum selbst
+bereiten.</p>
+
+<p>Es ist, wie mich d&uuml;nkt, angesichts des Theaters durchaus
+kriminell veranlagt, und man kann vermuten, da&szlig; die meisten
+von der B&uuml;hne ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb
+fordern, weil ein solches ihren Durchschnittsexistenzen
+fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu
+solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht verlangt.
+Und die B&uuml;hne spendet ihnen diese Konflikte, ohne
+die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend,
+und vor allem: unanstrengend. Denn
+das wei&szlig; das Publikum nicht und mag es nicht wissen, da&szlig;,
+<span class="pagenum"><a name="Page_20">[20]</a></span>
+um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben
+vom Empf&auml;nger selbst verrichtet werden mu&szlig;.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien
+H&ouml;hen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr
+droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem
+urspr&uuml;nglichen &bdquo;schwebenden&ldquo; Zustand zu verhelfen.</p>
+
+<p>Die Notation, die Aufschreibung, von Musikst&uuml;cken ist
+zuerst ein ingeni&ouml;ser Behelf, eine Improvisation festzuhalten,
+um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verh&auml;lt sich aber zu
+dieser wie das Portr&auml;t zum lebendigen Modell. Der Vortragende
+hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzul&ouml;sen
+und in Bewegung zu <span class="nowrap">bringen. &ndash;</span></p>
+
+<p>Die Gesetzgeber aber verlangen, da&szlig; der Vortragende
+die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe
+f&uuml;r um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen
+h&auml;lt.</p>
+
+<p>Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration
+durch die Zeichen einb&uuml;&szlig;t<a name="FNanchor_8_8" href="#Footnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a>, das soll der Vortragende durch
+seine eigene wiederherstellen.</p>
+
+<p>Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste,
+sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst
+wird aus den alten Zeichen abgeleitet, &ndash; sie bedeuten nun
+die Tonkunst selbst.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_21">[21]</a></span>
+L&auml;ge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so m&uuml;&szlig;te ein
+und dasselbe Tonst&uuml;ck stets in ein und demselben Zeitma&szlig;
+erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen
+es auch gespielt w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Es <em class="gesperrt">ist</em> aber nicht m&ouml;glich, die schwebende expansive Natur
+<span class="pagenum"><a name="Page_22">[22]</a></span>
+des g&ouml;ttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil.
+Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch
+immer mit einer Morgenr&ouml;te. &ndash; Gro&szlig;e K&uuml;nstler spielen
+ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie
+im Augenblicke um, beschleunigen und halten zur&uuml;ck &ndash; wie
+sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten &ndash; und immer nach
+den gegebenen Verh&auml;ltnissen jener &bdquo;ewigen Harmonie&ldquo;.</p>
+
+<p>Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den
+Sch&ouml;pfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht,
+beh&auml;lt der Gesetzgeber recht.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>&bdquo;Notation&ldquo; (&bdquo;Skription&ldquo;) bringt mich auf Transkription:
+gegenw&auml;rtig ein recht mi&szlig;verstandener, fast schimpflicher
+Begriff. Die h&auml;ufige Opposition, die ich mit &bdquo;Transkriptionen&ldquo;
+erregte, und die Opposition, die oft unvern&uuml;nftige
+Kritik in mir hervorrief, veranla&szlig;ten mich zum Versuch,
+&uuml;ber diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endg&uuml;ltig
+dar&uuml;ber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription
+eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder
+sich seiner bem&auml;chtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt.
+Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt
+schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel,
+f&uuml;r welche der Komponist sich entscheiden mu&szlig;, bestimmen
+mehr und mehr den Weg und die Grenzen.</p>
+
+<p>Es ist &auml;hnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit
+noch unbestimmbaren Neigungen geboren, entschlie&szlig;t er sich
+oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschlu&szlig;
+getrieben, eine Laufbahn zu w&auml;hlen. Mag auch vom Einfall
+oder vom Menschen manches Originale, das unverw&uuml;stlich
+ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick
+<span class="pagenum"><a name="Page_23">[23]</a></span>
+des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedr&uuml;ckt.
+Der Einfall wird zu einer Sonate oder einem
+Konzert, der Mensch zum Soldaten oder Priester. Das ist
+ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer
+zweiten Transkription ist der Schritt verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig kurz
+und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der
+zweiten Aufhebens gemacht. Dabei &uuml;bersieht man, da&szlig;
+eine Transkription die Originalfassung nicht zerst&ouml;rt, also
+ein Verlust dieser durch jene nicht <span class="nowrap">entsteht. &ndash;</span></p>
+
+<p>Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription,
+und auch dieser kann &ndash; er mag noch so frei sich geb&auml;rden &ndash;
+niemals das Original aus der Welt schaffen.</p>
+
+<p><span class="nowrap">&ndash; Denn</span> das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem
+Ert&ouml;nen und nachdem es vor&uuml;bergeklungen, ganz und unversehrt
+da. Es ist zugleich in und au&szlig;er der Zeit, und
+sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des
+sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealit&auml;t der Zeit
+geben kann.</p>
+
+<p>Im &uuml;brigen muten die meisten Klavierkompositionen
+Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die
+meisten Schumannschen Orchesterwerke wie &Uuml;bertragungen
+vom Klavier &ndash; und sinds in gewisser Weise auch.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Merkw&uuml;rdigerweise steht bei den &bdquo;Buchstabentreuen&ldquo;
+die Variationenform in gro&szlig;em Ansehen. Das ist seltsam,
+weil die Variationenform &ndash; wenn sie &uuml;ber ein fremdes
+Thema aufgebaut ist &ndash; eine ganze Reihe von Bearbeitungen
+gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art sie
+sind.</p>
+
+<p>So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original
+<span class="pagenum"><a name="Page_24">[24]</a></span>
+&auml;ndert; und es gilt die Ver&auml;nderung, obwohl sie das Original
+bearbeitet.<a name="FNanchor_9_9" href="#Footnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a></p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>&bdquo;Musikalisch&ldquo; ist ein Begriff, der den Deutschen angeh&ouml;rt,
+und die Anwendung des Wortes selbst findet sich in
+dieser Sinn&uuml;bertragung in keiner anderen Sprache. Es
+ist ein Begriff, der den Deutschen angeh&ouml;rt und nicht der
+allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und
+un&uuml;bersetzbar. &bdquo;Musikalisch&ldquo; ist von Musik hergeleitet, wie
+&bdquo;poetisch&ldquo; von Poesie und &bdquo;physikalisch&ldquo; von Physik. Wenn
+<span class="pagenum"><a name="Page_25">[25]</a></span>
+ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen,
+so ist das dasselbe, als ob ich sagte: Helmholtz war einer
+der physikalischsten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und
+Intervallen t&ouml;nt. Ein Schrank kann &bdquo;musikalisch&ldquo; sein,
+wenn er ein &bdquo;Spielwerk&ldquo; enth&auml;lt.<a name="FNanchor_10_10" href="#Footnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> Im vergleichenden
+Sinne kann &bdquo;musikalisch&ldquo; allenfalls noch wohllautend bedeuten.</p>
+
+<p>&bdquo;Meine Verse sind zu musikalisch, als da&szlig; sie noch in
+Musik gesetzt werden k&ouml;nnten,&ldquo; sagte mir einmal ein bekannter
+Dichter.</p>
+
+<div style="width: 18em; margin: auto;">
+&raquo;<span lang="en" xml:lang="en" class="antiqua">Spirits moving musically<br />
+To a lutes well-tuned law</span>&laquo;<br />
+(&bdquo;Geister schwebten musikalisch<br />
+zu der Laute wohlgestimmtem Satz&ldquo;)
+</div>
+
+<p class="noindent">schreibt <cite>E.&nbsp;A. Poe</cite>; endlich spricht man ganz richtig von
+einem &bdquo;musikalischen Lachen&ldquo;, weil es wie Musik klingt.</p>
+
+<p>In der angewandten und fast ausschlie&szlig;lich gebrauchten
+deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,
+der dadurch Sinn f&uuml;r Musik bekundet, da&szlig; er das Technische
+dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter
+Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die
+Harmonie, die Intonation, die Stimmf&uuml;hrung und die
+Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu h&ouml;ren oder
+wiederzugeben versteht, f&uuml;r um so musikalischer wird er gehalten.</p>
+
+<p>Bei dem gro&szlig;en Gewicht, das man auf diese Bestandteile
+<span class="pagenum"><a name="Page_26">[26]</a></span>
+der Tonkunst legt, ist selbstverst&auml;ndlich das &bdquo;Musikalische&ldquo;
+von h&ouml;chster Bedeutung geworden. &ndash; Demnach m&uuml;&szlig;te
+ein K&uuml;nstler, der technisch vollkommen spielt, f&uuml;r den meist
+musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit &bdquo;Technik&ldquo;
+nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint,
+so hat man &bdquo;technisch&ldquo; und &bdquo;musikalisch&ldquo; zu Gegens&auml;tzen gemacht.</p>
+
+<p>Man ist so weit gegangen, ein Musikst&uuml;ck selbst als &bdquo;musikalisch&ldquo;
+zu bezeichnen<a name="FNanchor_11_11" href="#Footnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a>, oder gar von einem gro&szlig;en Komponisten
+wie Berlioz zu behaupten, er w&auml;re es nicht in gen&uuml;gendem
+Ma&szlig;e. &bdquo;Unmusikalisch&ldquo; ist der st&auml;rkste Tadel;
+er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum
+Ge&auml;chteten.</p>
+
+<p>In einem Lande wie Italien, wo der Sinn f&uuml;r musikalische
+Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung &uuml;berfl&uuml;ssig,
+und das Wort daf&uuml;r ist in der Sprache nicht vorhanden.
+In Frankreich, wo die Empfindung f&uuml;r Musik
+nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von
+den &uuml;brigen einige &raquo;<span lang="fr" xml:lang="fr" class="antiqua">aiment beaucoup la musique</span>&laquo;, oder
+&raquo;<span lang="fr" xml:lang="fr" class="antiqua">ils ne l'aiment pas</span>&laquo;. Nur in Deutschland macht man eine
+Ehrensache daraus, &bdquo;musikalisch&ldquo; zu sein, das hei&szlig;t, nicht
+nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern haupts&auml;chlich sie
+in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren
+Gesetze einzuhalten.</p>
+
+<p>Tausend H&auml;nde halten das schwebende Kind und bewachen
+wohlmeinend seine Schritte, da&szlig; es nicht auffliege
+und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es
+<span class="pagenum"><a name="Page_27">[27]</a></span>
+ist noch so jung und ist ewig; die Zeit seiner Freiheit wird
+kommen. Wenn es aufh&ouml;ren wird, &bdquo;musikalisch&ldquo; zu sein.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Gef&uuml;hl ist eine moralische Ehrensache &ndash; wie die Ehrlichkeit
+es ist &ndash;, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen
+l&auml;&szlig;t &ndash; die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im
+Leben Gef&uuml;hllosigkeit zugunsten einer brillanteren Charaktereigenschaft
+&ndash; wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestechlichkeit
+&ndash; noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
+oberste moralische Qualit&auml;t gestellt.</p>
+
+<p>Gef&uuml;hl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gef&auml;hrten:
+Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten
+auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gef&uuml;hl, und was
+den Stil anbelangt, so ist er k&uuml;nstlerisches Gebiet. Was
+&uuml;brigbleibt, ist eine Vorstellung von Gef&uuml;hl, das mit R&uuml;hrseligkeit
+und Geschwollenheit bezeichnet werden mu&szlig;. Und
+vor allem verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es
+mu&szlig; unterstrichen werden, auf da&szlig; jeder merke, sehe und
+h&ouml;re. Es wird vor den Augen des Publikums in starker
+Vergr&ouml;&szlig;erung auf die Leinwand projektiert, so da&szlig; es aufdringlich
+und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird
+ausgeschrien, da&szlig; es denen, die der Kunst fernstehen, in
+die Ohren dringe; &uuml;bergoldet, auf da&szlig; es den Unbemittelten
+Staunen entrei&szlig;e.</p>
+
+<p>Denn auch im Leben &uuml;bt man mehr die &Auml;u&szlig;erungen des
+Gef&uuml;hls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist
+jenes Gef&uuml;hl, welches handelt, ohne zu reden, und am wertvollsten
+ein Gef&uuml;hl, das sich verbirgt.</p>
+
+<p>Unter Gef&uuml;hl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerzlichkeit
+und &Uuml;berschwenglichkeit des Ausdrucks.</p>
+
+<p>Was schlie&szlig;t nicht noch alles in sich die Wunderblume
+<span class="pagenum"><a name="Page_28">[28]</a></span>
+der Empfindung! Zur&uuml;ckhaltung und Schonung, Aufopferung,
+St&auml;rke, T&auml;tigkeit, Geduld, Gro&szlig;mut, Freudigkeit
+und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das Gef&uuml;hl
+recht eigentlich stammt.</p>
+
+<p>Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt,
+noch ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen
+des Lebens wiederholt: wozu jedoch &ndash; wie ich betonte &ndash;
+der Geschmack hinzutreten mu&szlig; und der Stil; der Stil,
+der Kunst vom Leben unterscheidet.</p>
+
+<p>Worum der Laie, der mediokere K&uuml;nstler sich m&uuml;hen, ist
+nur das Gef&uuml;hl im kleinen, im Detail, auf kurze Strecken.</p>
+
+<p>Gef&uuml;hl im gro&szlig;en verwechseln Laie, Halbk&uuml;nstler, Publikum
+(und leider auch die Kritik!) mit Mangel an Empfindung,
+weil sie alle nicht verm&ouml;gen, gr&ouml;&szlig;ere Strecken als
+Teile eines noch gr&ouml;&szlig;eren Ganzen zu h&ouml;ren. Also ist Gef&uuml;hl
+auch &Ouml;konomie.</p>
+
+<p>Demnach unterscheide ich: Gef&uuml;hl als Geschmack &ndash; als
+Stil &ndash; als &Ouml;konomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein
+Drittel des Ganzen. In ihnen und &uuml;ber ihnen waltet eine
+subjektive Dreieinigkeit: das Temperament, die Intelligenz
+und der Instinkt des Gleichgewichtes.</p>
+
+<p>Diese sechs f&uuml;hren einen Reigen von so subtiler Anordnung
+der Paarung und der Verschlingung, des Tragens
+und des Getragenwerdens, des Vortretens und Niederb&uuml;ckens,
+des Bewegens und des Stillstehens, wie kein kunstvollerer
+erdenkbar ist.</p>
+
+<p>Ist der Akkord der beiden Dreikl&auml;nge rein gestimmt, dann
+darf, soll zum Gef&uuml;hl sich gesellen die Phantasie: Auf jene
+sechs gest&uuml;tzt, wird sie nicht ausarten, und aus dem Vereine
+aller Elemente ersteht die Pers&ouml;nlichkeit. Diese empf&auml;ngt
+wie eine Linse die Lichteindr&uuml;cke, wirft sie auf ihre Weise
+<span class="pagenum"><a name="Page_29">[29]</a></span>
+als Negativ zur&uuml;ck, und dem H&ouml;rer erscheint das richtige
+Bild.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Insoweit der Geschmack an dem Gef&uuml;hle teilhat, &auml;ndert
+dieses &ndash; wie alles &ndash; mit den Zeiten seine Ausdrucksformen.
+Das hei&szlig;t: eine oder die andere Seite des Gef&uuml;hls wird
+zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig gepflegt,
+besonders herausgekehrt.</p>
+
+<p>So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinnlichkeit
+an die Reihe gekommen: die Form der &bdquo;Steigerung&ldquo;
+im Affekt haben die Komponisten noch heute nicht &uuml;berwunden.
+Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches Aufw&auml;rtstreiben.
+Der darin uners&auml;ttliche, aber nicht unersch&ouml;pfliche
+Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach
+einem erreichten H&ouml;hepunkte wieder leise anzusetzen, um
+sofort von neuem anzuwachsen.</p>
+
+<p>Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: ihr Gef&uuml;hl
+ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zur&uuml;ckgehaltene
+Sinnlichkeit: den bergigen aufsteigenden Pfaden
+Wagners sind monotone Ebenen von d&auml;mmernder Gleichm&auml;&szlig;igkeit
+gefolgt.</p>
+
+<p>So bildet sich im Gef&uuml;hl der &bdquo;Stil&ldquo;, wenn der Geschmack
+es leitet.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Die &bdquo;Apostel der Neunten Symphonie&ldquo; ersannen in der
+Musik den Begriff der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte,
+zumal im germanischen Land. &ndash; Es gibt eine Tiefe des
+Gef&uuml;hls und eine Tiefe des Gedankens: &ndash; die letztere ist
+literarisch und kann keine Anwendung auf Kl&auml;nge haben.</p>
+
+<p>Die Tiefe des Gef&uuml;hls ist hingegen seelisch und der Natur
+der Musik durchaus zugeh&ouml;rig.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_30">[30]</a></span>
+Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der
+Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festumrissene
+Sch&auml;tzung.</p>
+
+<p>Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch
+Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann &ndash; durch Gedankenassoziation
+&ndash; in der Bevorzugung der &bdquo;tiefen&ldquo; Register
+und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hineindeuten
+eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines literarischen.</p>
+
+<p>Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
+die bedeutsameren.</p>
+
+<p>Unter Tiefe des Gef&uuml;hls d&uuml;rfte jedoch jeder Freund der
+Philosophie das Ersch&ouml;pfende im Gef&uuml;hle betrachten: das
+volle Aufgehen in einer Stimmung.</p>
+
+<p>Wer mitten in einer echten, gro&szlig;en karnevalischen Situation
+griesgr&auml;mig oder auch nur indifferent herumschleicht,
+wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken-
+und Fratzentums, der Macht der Unb&auml;ndigkeit &uuml;ber die Gesetze,
+dem freigelassenen Rachegef&uuml;hl des Witzes mitgerissen
+und mitergriffen wird, der zeigt sich unf&auml;hig, sein Gef&uuml;hl
+in die Tiefe zu senken.</p>
+
+<p>Hier best&auml;tigt es sich wieder, da&szlig; die Tiefe des Gef&uuml;hls
+in dem vollst&auml;ndigen Erfassen einer jeden &ndash; selbst der
+leichtfertigsten &ndash; Stimmung ihre Wurzeln hat, &ndash; im
+Wiedergeben ihre Bl&uuml;ten treibt: wohingegen die gangbare
+Vorstellung vom tiefen Gef&uuml;hle nur eine Seite
+des Gef&uuml;hls im Menschen herausgreift und diese spezialisiert.</p>
+
+<p>In dem sogenannten &bdquo;Champagnerlied&ldquo; aus <span lang="it" xml:lang="it">Don Giovanni</span>
+liegt mehr &bdquo;Tiefe&ldquo; als in manchem Trauermarsche
+oder Notturno: Tiefe des Gef&uuml;hls &auml;u&szlig;ert sich auch darin,
+<span class="pagenum"><a name="Page_31">[31]</a></span>
+da&szlig; man es nicht an Nebens&auml;chlichem und Unbedeutendem
+vergeude.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Der Schaffende sollte kein &uuml;berliefertes Gesetz auf Treu
+und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem
+gegen&uuml;ber von vornherein als Ausnahme betrachten. Er
+m&uuml;&szlig;te f&uuml;r seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes
+Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen
+Anwendung wieder zerst&ouml;ren, um nicht selbst bei einem n&auml;chsten
+Werke in Wiederholungen zu verfallen.</p>
+
+<p>Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen,
+und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen
+folgt, h&ouml;rt auf, ein Schaffender zu sein.<a name="FNanchor_12_12" href="#Footnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a></p>
+
+<p>Die Schaffenskraft ist um so erkennbarer, je unabh&auml;ngiger
+sie von &Uuml;berlieferungen sich zu machen vermag. Aber die
+Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffenskraft
+vort&auml;uschen, noch weniger erzeugen.</p>
+
+<p>Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Vollendung.
+Und indem er diese mit seiner Individualit&auml;t in
+Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Routine wird sehr gesch&auml;tzt und oft verlangt; im Musik-&bdquo;amte&ldquo;
+wird sie beansprucht. Da&szlig; Routine in der Musik
+&uuml;berhaupt existieren und da&szlig; sie &uuml;berdies zu einer vom Musiker
+geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist
+aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine
+bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen
+und Kunstgriffe auf alle vorkommenden F&auml;lle.
+<span class="pagenum"><a name="Page_32">[32]</a></span>
+Demnach mu&szlig; es eine erstaunliche Anzahl verwandter F&auml;lle
+geben. Nun ertr&auml;ume ich mir gern eine Art Kunstaus&uuml;bung,
+bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme
+w&auml;re! Wie st&uuml;nde das Heer der Praktiker hilf- und tatenlos
+davor: es m&uuml;&szlig;te schlie&szlig;lich den R&uuml;ckzug antreten und
+verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
+um in eine Fabrik. Sie zerst&ouml;rt das Schaffen. Denn
+Schaffen hei&szlig;t: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber
+gedeiht im Nachbilden. Sie ist die &bdquo;Poesie, die sich kommandieren
+l&auml;&szlig;t&ldquo;. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
+sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
+Man m&ouml;chte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal,
+als ob ihr nie begonnen h&auml;ttet, wisset nichts, sondern denkt
+und f&uuml;hlet!</p>
+
+<p>Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ert&ouml;nen werden,
+sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im &Auml;ther
+und mit ihnen andere Millionen, die niemals geh&ouml;rt werden.
+Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Bl&uuml;te, einen
+Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
+meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
+Stube erf&uuml;llt, und immer wieder nach dem n&auml;mlichen: so
+bequem werdet ihr, da&szlig; ihr euch kaum mehr vom Lehnstuhl
+erhebt und nur mehr nach dem Allern&auml;chsten greift.
+Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
+warten darauf, sich zu offenbaren!</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>&bdquo;Das ist mein Ungl&uuml;ck, da&szlig; ich keine Routine habe,&ldquo;
+schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition
+des &bdquo;Tristan&ldquo; nicht vorw&auml;rts wollte.</p>
+
+<p>Damit t&auml;uschte sich Wagner und maskierte sich vor anderen.
+Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositionsmaschinerie
+<span class="pagenum"><a name="Page_33">[33]</a></span>
+blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand,
+der nur mit Inspiration zu l&ouml;sen war. Zwar l&ouml;ste Wagner
+ihn schlie&szlig;lich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu
+lassen; h&auml;tte er aber wirklich keine besessen, so h&auml;tte er es
+ohne Bitterkeit behauptet.</p>
+
+<p>Immerhin dr&uuml;ckt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die
+richtige k&uuml;nstlerische Verachtung f&uuml;r die Routine aus, insofern
+als er diese ihn niedrig d&uuml;nkende Eigenschaft sich
+selbst abspricht und vorbeugt, da&szlig; andere sie ihm zuerkennen.
+Er lobt sich selbst damit und geb&auml;rdet sich ironisch-verzweifelt.
+Er ist tats&auml;chlich ungl&uuml;cklich, da&szlig; die Komposition stockt,
+tr&ouml;stet sich aber reichlich mit dem Bewu&szlig;tsein, da&szlig; sein Genie
+&uuml;ber der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
+kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich eingesteht,
+eine allgemein gesch&auml;tzte und dem Handwerk zugeh&ouml;rige
+K&ouml;nnerschaft nicht sich angeeignet zu haben.</p>
+
+<p>Der Satz ist ein Meisterst&uuml;ck der instinktiven Schlauheit
+des Erhaltungstriebes &ndash; beweist uns aber (und das ist
+unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine
+Ausdrucksform, da&szlig; es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv
+gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv pa&szlig;te, so
+da&szlig; es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden k&ouml;nnte.
+Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren<a name="FNanchor_13_13" href="#Footnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a>, enthalte
+ich mich jedes Beispiels.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_34">[34]</a></span>
+Pl&ouml;tzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: da&szlig;
+die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten
+scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Studium
+der Partituren. Wenn &bdquo;Schaffen&ldquo;, wie ich es definierte,
+ein &bdquo;Formen aus dem Nichts&ldquo; bedeuten soll (und es
+kann nichts anderes bedeuten); &ndash; wenn Musik &ndash; (dieses
+habe ich ebenfalls ausgesprochen) &ndash; zur &bdquo;Originalit&auml;t&ldquo;,
+n&auml;mlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zur&uuml;ckstreben soll
+(ein &bdquo;Zur&uuml;ck&ldquo;, das das eigentliche &bdquo;Vorw&auml;rts&ldquo; sein mu&szlig;);
+&ndash; wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes
+Gewand ablegen und in sch&ouml;ner Nacktheit prangen soll;
+&ndash; diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zun&auml;chst
+im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,
+ihre Klangart und ihre Ausf&uuml;hrungsm&ouml;glichkeiten festgekettet,
+und ihre hundert Ketten m&uuml;ssen den Schaffenwollenden
+mitfesseln.</p>
+
+<p>Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten
+sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen
+der n&auml;chsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigent&uuml;mlichkeiten
+der Klarinetten, Posaunen und Geigen sto&szlig;en,
+die eben nicht anders sich geb&auml;rden k&ouml;nnen, als es in ihrer
+Beschr&auml;nkung liegt<a name="FNanchor_14_14" href="#Footnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a>; dazu gesellt sich die Manieriertheit
+der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes;
+der vibrierende &Uuml;berschwang des Violoncells, der
+<span class="pagenum"><a name="Page_35">[35]</a></span>
+z&ouml;gernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit
+der Oboe, die prahlhafte Gel&auml;ufigkeit der Klarinette; derart,
+da&szlig; in einem neuen und selbst&auml;ndigeren Werke notgedrungen
+immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt
+und da&szlig; der unabh&auml;ngigste Komponist in all dieses
+Unab&auml;nderliche hinein- und hinabgezogen wird.</p>
+
+<p>Vielleicht, da&szlig; noch nicht alle M&ouml;glichkeiten innerhalb
+dieser Grenzen ausgebeutet wurden &ndash; die polyphone Harmonik
+d&uuml;rfte noch manches Klangph&auml;nomen erzeugen
+k&ouml;nnen &ndash;, aber die Ersch&ouml;pftheit wartet sicher am Ende einer
+Bahn, deren l&auml;ngste Strecke bereits zur&uuml;ckgelegt ist. Wohin
+wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung
+f&uuml;hrt der n&auml;chste Schritt?</p>
+
+<p>Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen
+Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin m&uuml;ssen alle
+Bem&uuml;hungen zielen, da&szlig; ein neuer Anfang jungfr&auml;ulich
+erstehe.</p>
+
+<p>Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative,
+die verantwortlich-gro&szlig;e Aufgabe haben, von allem Gelernten,
+Geh&ouml;rten und Scheinbar-Musikalischen sich zu befreien;
+um, nach der vollendeten R&auml;umung, eine inbr&uuml;nstig-aszetische
+Gesammeltheit in sich zu beschw&ouml;ren, die ihn bef&auml;higt,
+den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe
+zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen
+Giotto eines musikalischen Rinascimento wird die Weihe
+der legendarischen Pers&ouml;nlichkeit kr&ouml;nen. Der ersten Offenbarung
+wird sodann eine Epoche religi&ouml;ser Musikgesch&auml;ftigkeit
+folgen, daran kein Zunftwesen ein Teil haben kann, insofern
+als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar,
+und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem
+Zeitpunkt leuchtet die vollste Bl&uuml;te, vielleicht die erste in
+<span class="pagenum"><a name="Page_36">[36]</a></span>
+der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die
+Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren
+und wie der Orden entweiht <span class="nowrap">wird &hellip;</span></p>
+
+<p>Es ist das Schicksal der Sp&auml;teren, und wir &ndash; heute &ndash;
+sind ihnen &auml;hnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am
+n&auml;chsten r&uuml;ckt, sind die Pause und die Fermate. Gro&szlig;e
+Vortragsk&uuml;nstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Ausdruckswerkzeug
+im h&ouml;heren und ausgiebigeren Ma&szlig;e zu
+verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei S&auml;tzen,
+in dieser Umgebung selbst Musik, l&auml;&szlig;t weiter ahnen, als der
+bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>&bdquo;Zeichen&ldquo; sind es auch, und nichts anderes, was wir heute
+unser &bdquo;Tonsystem&ldquo; nennen. Ein ingeni&ouml;ser Behelf, etwas
+von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine k&uuml;mmerliche
+Taschenausgabe jenes enzyklop&auml;dischen Werkes; k&uuml;nstliches
+Licht anstatt Sonne. &ndash; Habt ihr bemerkt, wie die Menschen
+&uuml;ber die gl&auml;nzende Beleuchtung eines Saales den Mund
+aufsperren? Sie tun es niemals &uuml;ber den millionenmal
+st&auml;rkeren <span class="nowrap">Mittagssonnenschein. &ndash;</span></p>
+
+<p>Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden
+als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Wie wichtig ist doch die &bdquo;Terz&ldquo;, die &bdquo;Quinte&ldquo; und die
+&bdquo;Oktave&ldquo;. Wie streng unterscheiden wir &bdquo;Konsonanzen&ldquo;
+und &bdquo;Dissonanzen&ldquo; &ndash; da, wo es &uuml;berhaupt Dissonanzen
+nicht geben kann!</p>
+
+<p>Wir haben die Oktave in zw&ouml;lf gleich voneinander entfernte
+Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen
+mu&szlig;ten, und haben unsere Instrumente so eingerichtet, da&szlig;
+<span class="pagenum"><a name="Page_37">[37]</a></span>
+wir niemals dar&uuml;ber oder darunter oder dazwischen gelangen
+k&ouml;nnen. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser
+Ohr gr&uuml;ndlich eingeschult, so da&szlig; wir nicht mehr f&auml;hig sind,
+anderes zu h&ouml;ren &ndash; als nur im Sinne der Unreinheit.
+Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung &ndash; unendlich!
+wer wei&szlig; es heute noch?<a name="FNanchor_15_15" href="#Footnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a></p>
+
+<p>Und innerhalb dieser zw&ouml;lfteiligen Oktave haben wir noch
+eine Folge bestimmter Abst&auml;nde abgesteckt, sieben an der
+Zahl, und darauf unsere ganze Tonkunst gestellt. Was sagte
+ich, eine Folge? Zwei solche Folgen, die Dur- und Moll-Skala.
+Wenn wir dieselbe Folge von Abst&auml;nden von einer
+anderen der zw&ouml;lf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine
+neue Tonart, und sogar eine fremde! Was f&uuml;r ein gewaltsam
+beschr&auml;nktes System diese erste Verworrenheit ergab<a name="FNanchor_16_16" href="#Footnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a>,
+steht in den Gesetzb&uuml;chern zu lesen: wir wollen es
+nicht hier wiederholen.</p>
+
+<p>Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zw&ouml;lfmal die beiden
+Siebenfolgen, aber wir verf&uuml;gen in der Tat nur &uuml;ber zwei:
+<span class="pagenum"><a name="Page_38">[38]</a></span>
+die Dur-Tonart und die Moll-Tonart. Die anderen sind
+nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Transpositionen
+einen verschiedenen Charakter entstehen h&ouml;ren:
+aber das ist T&auml;uschung. In England, wo die hohe
+Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um
+einen halben Ton h&ouml;her gespielt, als sie notiert sind, ohne da&szlig;
+ihre Wirkung ver&auml;ndert wird. S&auml;nger transponieren zu
+ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vorausgeht
+und folgt, untransponiert spielen.</p>
+
+<p>Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten
+in drei verschiedenen H&ouml;hen der Notation heraus; die St&uuml;cke
+bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die n&auml;mlichen.</p>
+
+<p>Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so
+gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk
+herabschaut.</p>
+
+<p>K&ouml;nnte man eine Gegend, soweit das Auge reicht, um
+mehrere hundert Meter erh&ouml;hen oder vertiefen, das landschaftliche
+Bild w&uuml;rde dadurch nichts verlieren noch gewinnen.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die
+Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt &ndash; eine
+Einschr&auml;nkung fordert die andere.</p>
+
+<p>Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter
+zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegens&auml;tze
+zu h&ouml;ren, und allm&auml;hlich haben sie die Bedeutung von
+Symbolen erreicht &ndash; Dur und Moll &ndash; <em lang="it" xml:lang="it" class="antiqua">Maggiore e Minore</em>
+&ndash; Befriedigung und Unbefriedigung &ndash; Freude und Trauer
+&ndash; Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben
+den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter
+<span class="pagenum"><a name="Page_39">[39]</a></span>
+noch bis heute und &uuml;bermorgen, abgez&auml;unt.<a name="FNanchor_17_17" href="#Footnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a> Moll wird
+in derselben Absicht gebraucht und &uuml;bt dieselbe Wirkung auf
+uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauermarsch
+kann man heute nicht mehr &bdquo;komponieren&ldquo;, denn er
+ist ein f&uuml;r allemal schon vorhanden. Selbst der <ins title="ungebildetetste">ungebildetste</ins>
+Laie wei&szlig;, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch
+&ndash; irgendwelcher! &ndash; ert&ouml;nen soll. Selbst der Laie f&uuml;hlt
+den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie
+voraus.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Seltsam, da&szlig; man Dur und Moll als Gegens&auml;tze empfindet.
+Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig
+heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich gen&uuml;gt, eines
+in das andere zu kehren. Der &Uuml;bergang vom einen zum
+zweiten ist unmerklich und m&uuml;helos &ndash; geschieht er oft und
+rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu
+flimmern. &ndash; Erkennen wir aber, da&szlig; Dur und Moll ein
+doppeldeutiges Ganzes und da&szlig; die &bdquo;vierundzwanzig Tonarten&ldquo;
+nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei
+sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewu&szlig;tsein der
+Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von verwandt
+und fremd fallen ab &ndash; und damit die ganze verwickelte
+Theorie von Graden und Verh&auml;ltnissen. Wir
+haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr d&uuml;rftiger Art.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>&bdquo;Einheit der Tonart.&ldquo;</p>
+
+<p><span class="nowrap">&ndash; &bdquo;Sie</span> meinen wohl &sbquo;Tonart&lsquo; und &sbquo;Tonarten&lsquo; sind der
+Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?&ldquo;</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_40">[40]</a></span>
+Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes
+Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamtheit
+selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten
+Strahls jener Sonne &bdquo;Musik&ldquo; am Himmel der &bdquo;ewigen
+Harmonie&ldquo;.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>So sehr die Anh&auml;nglichkeit an Gewohntes und Tr&auml;gheit
+in des Menschen Weise und Wesen liegen &ndash; so sehr sind
+Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften
+alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und &uuml;berf&uuml;hrt
+die Menschen, die gegen Fortschritt und &Auml;nderungen widerspenstigen
+Menschen; die Natur schreitet best&auml;ndig fort und
+&auml;ndert unabl&auml;ssig, aber in so gleichm&auml;&szlig;iger und unwahrnehmbarer
+Bewegung, da&szlig; die Menschen nur Stillstand
+sehen. Erst der weitere R&uuml;ckblick zeigt ihnen das &Uuml;berraschende,
+da&szlig; sie die Get&auml;uschten waren.</p>
+
+<p>Deshalb erregt der &bdquo;Reformator&ldquo; &Auml;rgernis bei den
+Menschen aller Zeiten, weil seine &Auml;nderungen zu unvermittelt
+und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator
+ist &ndash; im Vergleich zur Natur &ndash; undiplomatisch, und es ist
+ganz folgerichtig, da&szlig; seine &Auml;nderungen erst dann G&uuml;ltigkeit
+erlangen, wenn die Zeit den eigenm&auml;chtig vollf&uuml;hrten
+Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt
+hat. Doch gibt es F&auml;lle, wo der Reformator mit der Zeit
+gleichen Schritt ging, indessen die &uuml;brigen zur&uuml;ckblieben.
+Und da mu&szlig; man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung
+&uuml;ber die vers&auml;umte Strecke zu springen. Ich glaube, da&szlig; die
+Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverh&auml;ltnis,
+da&szlig; das &bdquo;Zw&ouml;lfhalbtonsystem&ldquo; einen solchen Fall von Zur&uuml;ckgebliebenheit
+darstellen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_41">[41]</a></span>
+Da&szlig; schon einige empfunden haben, wie die Intervalle
+der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden
+k&ouml;nnen, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und
+in der heutigen musikalischen Vorw&auml;rtsbewegung ausgesprochener
+zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
+die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus.
+Doch scheints mir nicht, da&szlig; eine bewu&szlig;te und geordnete Vorstellung
+dieser erh&ouml;hten Ausdrucksmittel sich geformt habe.</p>
+
+<p>Ich habe den Versuch gemacht, alle M&ouml;glichkeiten der
+Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir,
+durch Erniedrigung und Erh&ouml;hung der Intervalle 113 verschiedene
+Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (innerhalb
+der Oktave <span class="note">C</span>&ndash;<span class="note">C</span>) begreifen den gr&ouml;&szlig;ten Teil der
+bekannten &bdquo;24 Tonarten&ldquo;, au&szlig;erdem aber eine Reihe neuer
+Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der
+Schatz nicht ersch&ouml;pft, denn die &bdquo;Transposition&ldquo; jeder einzelnen
+dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und &uuml;berdies
+die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
+solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.</p>
+
+<p>Die Skala <span class="note">c des es fes ges as b c</span> klingt schon bedeutend
+anders als die <span class="note">des</span>-Moll-Tonleiter, wenn man <span class="note">c</span> als ihren
+Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gew&ouml;hnlichen
+<span class="note">C</span>-Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine
+neue harmonische Empfindung. Man h&ouml;re aber dieselbe Tonleiter
+abwechselnd, vom <span class="note">A</span>-Moll-, <span class="note">Es</span>-Dur- und <span class="note">C</span>-Dur-Dreiklang
+gest&uuml;tzt, und man wird sich der angenehmsten &Uuml;berraschung
+&uuml;ber den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren
+k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Wohin aber w&uuml;rde ein Gesetzgeber die Tonfolgen <span class="note">c des
+es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges
+a h c | c des e f ges a b c |</span> oder gar: <span class="note">c d es fes g </span>
+<span class="pagenum"><a name="Page_42">[42]</a></span>
+<span class="note">ais h c | c d es fes gis a h c | c des es fis gis a b c</span>
+einreihen m&ouml;gen?</p>
+
+<p>Welche Reicht&uuml;mer sich damit f&uuml;r den melodischen und
+harmonischen Ausdruck dem Ohr &ouml;ffnen, ist nicht sogleich
+zu &uuml;bersehen; eine Menge neuer M&ouml;glichkeiten ist aber
+zweifellos anzunehmen und auf den ersten Blick erkennbar.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Mit dieser Darstellung d&uuml;rfte die Einheit aller Tonarten
+endg&uuml;ltig ausgesprochen und begr&uuml;ndet sein. Kaleidoskopisches
+Durcheinandersch&uuml;tteln von zw&ouml;lf Halbt&ouml;nen in der
+Dreispiegelkammer des Geschmacks, der Empfindung und
+der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange:
+denn alles verk&uuml;ndet eine Umw&auml;lzung und einen n&auml;chsten
+Schritt zu jener &bdquo;ewigen&ldquo;. Vergegenw&auml;rtigen wir uns noch
+einmal, da&szlig; in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist,
+und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges uns
+zu n&auml;hern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an
+die Pforte, und wir &uuml;berh&ouml;ren noch immer seine Meldung.
+Wer, wie ich es getan, damit, wenn auch bescheiden, experimentierte
+und &ndash; sei es mit der Kehle oder auf einer
+Geige &ndash; zwischen einem Ganzton zwei gleichm&auml;&szlig;ig abstehende
+Zwischent&ouml;ne einschaltete, das Ohr und das Treffen &uuml;bte,
+der wird zur Einsicht gelangt sein, da&szlig; Drittelt&ouml;ne vollkommen
+selbst&auml;ndige Intervalle von ausgepr&auml;gtem Charakter
+sind, mit verstimmten Halbt&ouml;nen nicht zu verwechseln.
+Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorl&auml;ufig auf
+der ganzt&ouml;nigen Skala zu basieren scheint. F&uuml;hrten wir
+dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die Halbt&ouml;ne,
+verl&ouml;ren die &bdquo;kleine Terz&ldquo; und die &bdquo;reine Quinte&ldquo;, und dieser
+<span class="pagenum"><a name="Page_43">[43]</a></span>
+Verlust w&uuml;rde st&auml;rker empfunden als der relative Gewinn
+eines &bdquo;Achtzehndritteltonsystems&ldquo;.</p>
+
+<p>Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den
+Halbt&ouml;nen aufzur&auml;umen. Behalten wir zu jedem Ganzton
+einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganzt&ouml;nen,
+die um einen halben Ton h&ouml;her steht als die erste.
+Teilen wir diese zweite Reihe von Ganzt&ouml;nen in Drittelteile
+ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren
+Reihe ein entsprechender Halbton in der oberen.</p>
+
+<p>Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und
+da&szlig; auch Sechstelt&ouml;ne einstmals reden werden, darauf k&ouml;nnen
+wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll
+aber vorerst das Geh&ouml;r mit Drittelt&ouml;nen f&uuml;llen, ohne auf
+die Halbt&ouml;ne zu verzichten.</p>
+
+<div class="figcenter" style="width: 600px; margin-top: 1.5em; margin-bottom: 1.5em;">
+<img class="music" src="images/music.png" width="600" height="228" alt="" title="" />
+</div>
+
+<p>Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei
+Reihen Drittelt&ouml;ne, voneinander um einen halben Ton entfernt,
+auf; oder: dreimal die &uuml;bliche Zw&ouml;lfhalbtonreihe im
+Abstande von je einem Drittelton.</p>
+
+<p>Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten
+Ton <span class="note">C</span> und die beiden n&auml;chsten Drittelt&ouml;ne <span class="note">Cis</span> und <span class="note">Des</span>;
+den ersten Halbton (klein-)<span class="note">c</span> und seine folgenden Dritteile
+<span class="pagenum"><a name="Page_44">[44]</a></span>
+<span class="note">cis</span> und <span class="note">des</span>; &ndash; die vorhergehende Tabelle erkl&auml;rt alles
+Fehlende.</p>
+
+<p>Die Frage der Notation halte ich f&uuml;r nebens&auml;chlich. Wichtig
+und drohend ist dagegen die Frage, wie und worauf diese
+T&ouml;ne zu erzeugen sind. Es trifft sich gl&uuml;cklich, da&szlig; ich w&auml;hrend
+der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische
+Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher
+Weise l&ouml;st. Es ist die Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills
+Erfindung.<a name="FNanchor_18_18" href="#Footnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> Dieser Mann hat einen umfangreichen Apparat
+konstruiert, welcher es erm&ouml;glicht, einen elektrischen Strom
+<span class="pagenum"><a name="Page_45">[45]</a></span>
+in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen
+zu verwandeln. Da die Tonh&ouml;he von der Zahl der Schwingungen
+abh&auml;ngt und der Apparat auf jede gew&uuml;nschte Zahl
+zu &bdquo;stellen&ldquo; ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung
+der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem
+Zeiger eines Quadranten korrespondiert.</p>
+
+<p>Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine
+fortgesetzte Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte
+Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst
+gef&uuml;gig machen.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>Welch sch&ouml;ne Hoffnungen und traumhafte Vorstellungen
+erwachen f&uuml;r sie! Wer hat nicht schon im Traume
+<span class="pagenum"><a name="Page_46">[46]</a></span>
+&bdquo;geschwebt&ldquo;? Und fest geglaubt, da&szlig; er den Traum erlebe? &ndash;
+Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen
+zur&uuml;ckzuf&uuml;hren; befreien wir sie von architektonischen, akustischen
+und &auml;sthetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung
+und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen
+und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind
+nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der
+Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die
+Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als
+die Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von
+ihr wieder zur&uuml;ckgestrahlt; ist sie doch t&ouml;nende Luft und &uuml;ber
+die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso universell
+und vollst&auml;ndig wie im Weltenraum; denn sie kann
+sich zusammenballen und auseinanderflie&szlig;en, ohne an
+Intensit&auml;t nachzulassen.</p>
+
+<hr class="tb"/>
+
+<p>In seinem Buche &bdquo;<cite>Jenseits von Gut und B&ouml;se</cite>&ldquo; sagt
+Nietzsche:</p>
+
+<blockquote>
+<p>&bdquo;Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht
+f&uuml;r geboten. Gesetzt, da&szlig; man den S&uuml;den liebt, wie ich
+ihn liebe, als eine gro&szlig;e Schule der Genesung, im Geistigsten
+und Sinnlichsten, als eine unb&auml;ndige Sonnenf&uuml;lle
+und Sonnenverkl&auml;rung, welche sich &uuml;ber ein selbstherrliches,
+an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich
+etwas vor der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil
+sie, indem sie seinen Geschmack zur&uuml;ckverdirbt, ihm die Gesundheit
+mit zur&uuml;ckverdirbt.</p>
+
+<p>Ein solcher S&uuml;dl&auml;nder, nicht der Abkunft, sondern dem
+Glauben nach, mu&szlig;, falls er von der Zukunft der Musik
+tr&auml;umt, auch von einer Erl&ouml;sung der Musik vom Norden
+tr&auml;umen und das Vorspiel einer tieferen, m&auml;chtigeren, vielleicht
+<span class="pagenum"><a name="Page_47">[47]</a></span>
+b&ouml;seren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren
+haben, einer &uuml;berdeutschen Musik, welche vor dem Anblick
+des blauen, woll&uuml;stigen Meeres und der mittell&auml;ndischen
+Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verbla&szlig;t, wie es alle
+deutsche Musik tut, einer &uuml;bereurop&auml;ischen Musik, die noch
+vor den braunen Sonnenunterg&auml;ngen der W&uuml;ste recht beh&auml;lt,
+deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
+gro&szlig;en, sch&ouml;nen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und
+zu schweifen <span class="nowrap">versteht. &ndash; &ndash;</span></p>
+
+<p>Ich k&ouml;nnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
+darin best&auml;nde, da&szlig; sie von Gut und B&ouml;se<a name="FNanchor_19_19" href="#Footnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a> nichts mehr
+w&uuml;&szlig;te, nur da&szlig; vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgendwelche
+goldne Schatten und z&auml;rtliche Schw&auml;chen hier und
+da &uuml;ber sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von gro&szlig;er Ferne
+her die Farben einer untergehenden, fast unverst&auml;ndlich
+gewordenen moralischen Welt zu sich fl&uuml;chten s&auml;he, und die
+gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher sp&auml;ten
+Fl&uuml;chtlinge <span class="nowrap">w&auml;re &hellip;&ldquo;</span></p>
+</blockquote>
+
+<p>Und Tolstoi l&auml;&szlig;t einen landschaftlichen Eindruck zu Musikempfindung
+werden, wenn er in &bdquo;<cite>Luzern</cite>&ldquo; schreibt:</p>
+
+<blockquote>
+<p>&bdquo;Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am
+Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte
+Farbe, ein einziger Ruhepunkt &ndash; &uuml;berall Bewegung, Unregelm&auml;&szlig;igkeit,
+Willk&uuml;r, Mannigfaltigkeit, unaufh&ouml;rliches
+Ineinanderflie&szlig;en von Schatten und Linien, und in allem
+die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des
+Sch&ouml;nen.&ldquo;</p>
+</blockquote>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Page_48">[48]</a></span>
+Wird diese Musik jemals erreicht?</p>
+
+<blockquote>
+<p>&bdquo;Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von
+Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen
+soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verl&auml;&szlig;t, was
+man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll,
+verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum
+Nirwana.&ldquo;<a name="FNanchor_20_20" href="#Footnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a> (<cite>Kern, &bdquo;Geschichte des Buddhismus in
+Indien&ldquo;</cite>).</p>
+</blockquote>
+
+<p>Ist Nirwana das Reich &bdquo;Jenseits von Gut und B&ouml;se&ldquo;,
+so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte.
+Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt &ndash;
+oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jenseits
+der Pforte ert&ouml;nt Musik. Keine Tonkunst.<a name="FNanchor_21_21" href="#Footnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a> &ndash;
+Vielleicht, da&szlig; wir erst selbst die Erde verlassen m&uuml;ssen, um
+sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdischen
+Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewu&szlig;t, &ouml;ffnet sich
+das <span class="nowrap">Gitter. &ndash;</span></p>
+
+<p class="center" style="padding-top: 6em;"><small style="font-size: 0.9em;">Druck der Piererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg.</small></p>
+
+<div class="footnotes">
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_1_1" href="#FNanchor_1_1" class="label">[1]</a> Dessenungeachtet k&ouml;nnen und werden an ihnen Geschmack und
+Eigenart sich immer wieder verj&uuml;ngen und erneuern.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_2_2" href="#FNanchor_2_2" class="label">[2]</a> &bdquo;Tradition&ldquo;
+ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die &ndash; durch den
+Lauf vieler Jahre und die H&auml;nde ungez&auml;hlter Handwerker gegangen &ndash;
+schlie&szlig;lich ihre &Auml;hnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten l&auml;&szlig;t.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_3_3" href="#FNanchor_3_3" class="label">[3]</a> Seine Passions-Rezitative haben das &bdquo;Menschlich-Redende&ldquo;, <em class="gesperrt">nicht</em>
+&bdquo;Richtig-Deklamierte&ldquo;.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_4_4" href="#FNanchor_4_4" class="label">[4]</a> Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Pers&ouml;nlichkeit
+m&ouml;chte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Empfindung
+(aus welcher seine revolution&auml;re Gesinnung entspringt) und
+eine Vorverk&uuml;ndung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind
+gewi&szlig; jenen eines &bdquo;Klassikers&ldquo; entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven
+kein &bdquo;Meister&ldquo; im Sinne Mozarts oder des sp&auml;teren Wagner, eben
+weil seine Kunst die Andeutung einer gr&ouml;&szlig;eren, noch nicht vollkommen
+gewordenen, ist. (Man vergleiche den n&auml;chstfolgenden Absatz.)</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_5_5" href="#FNanchor_5_5" class="label">[5]</a> <span lang="fr" xml:lang="fr" class="antiqua"><span class="nowrap">&raquo;&ndash; &ndash; &ndash; Beethoven,</span> dont les esquisses th&eacute;matiques ou &eacute;l&eacute;mentaires
+sont innombrables, mais qui, sit&ocirc;t les th&egrave;mes <ins title="trouves">trouv&eacute;s</ins>, semble par cela
+m&ecirc;me en avoir &eacute;tabli tout le <span class="nowrap">d&eacute;veloppement &ndash;&laquo;</span></span></p>
+<p class="right">Vincent d'Indy in &bdquo;<cite>C&eacute;sar Franck</cite>&ldquo;.</p>
+</div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_6_6" href="#FNanchor_6_6" class="label">[6]</a> Vergleiche sp&auml;ter die S&auml;tze &uuml;ber die &bdquo;Tiefe&ldquo;.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_7_7" href="#FNanchor_7_7" class="label">[7]</a> Aus Offenbachs &raquo;<cite lang="fr" xml:lang="fr" class="antiqua">Les contes <ins title="d' Hoffmann">d'Hoffmann</ins></cite>&laquo;.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_8_8" href="#FNanchor_8_8" class="label">[8]</a> Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflu&szlig;t, die Phantasie
+fesselt, wie aus ihr die &bdquo;Form&ldquo; sich bildete und aus der Form
+der &bdquo;Konventionalismus&ldquo; des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht
+eindringlich, das r&auml;cht sich in tragischer Weise an E.&nbsp;T.&nbsp;A. Hoffmann,
+der mir hier als ein typisches Beispiel einf&auml;llt.</p>
+
+<p>Dieses merkw&uuml;rdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
+Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
+Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, h&auml;tten &ndash; so w&uuml;rde
+man folgern &ndash; in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst
+der T&ouml;ne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden m&uuml;ssen.
+Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer
+des &Uuml;bernat&uuml;rlichen, die d&auml;mmerigen Unbestimmtheiten der schlafwachenden
+Bilder &ndash; alles, was er mit dem pr&auml;zisen Wort schon so
+eindrucksvoll schilderte, das h&auml;tte er &ndash; man sollte denken &ndash; durch die
+Musik erst v&ouml;llig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen
+Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schw&auml;chsten seiner literarischen
+Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein &uuml;bernommenes
+System von Taktarten, Perioden und Tonarten &ndash; zu dem
+noch der landl&auml;ufige Opernstil der Zeit das Seinige tut &ndash; aus dem
+Dichter einen Philister machen konnte. &ndash; Wie aber ein anderes Ideal
+der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausgezeichneten
+Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schlie&szlig;t
+die folgende der Denkungsart dieses B&uuml;chleins am engsten sich an:</p>
+<blockquote>
+<p>&bdquo;Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
+kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens
+bewegten, wieder: aber ewig, unverg&auml;nglich ist das Wahrhaftige, und
+eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band
+um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
+alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Ges&auml;nge: nur nicht
+vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Ger&auml;usch des ausgelassenen
+wilden Treibens, das &uuml;ber uns einbrach. Mag die Zeit der
+Erf&uuml;llung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
+in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kr&auml;ftig ihre
+Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
+beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
+unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt.&ldquo;</p>
+<p class="right">(<cite>E.&nbsp;T.&nbsp;A. Hoffmann, &bdquo;Die Serapionsbr&uuml;der&ldquo;.</cite>)</p>
+</blockquote>
+</div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_9_9" href="#FNanchor_9_9" class="label">[9]</a> Eine Einleitung des Verfassers zu einem Berliner Konzerte vom
+November 1910 enthielt u.&nbsp;a. die folgenden S&auml;tze: &bdquo;Um das Wesen
+der &sbquo;Bearbeitung&lsquo; mit einem entscheidenden Schlage in der Sch&auml;tzung
+des Lesers zu k&uuml;nstlerischer W&uuml;rde zu erh&ouml;hen, bedarf es nur der
+Nennung Johann Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten
+Bearbeiter eigener und fremder St&uuml;cke, namentlich als Organist. Von
+ihm lernte ich die Wahrheit erkennen, da&szlig; eine gute, gro&szlig;e, eine universelle
+Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ert&ouml;nen
+mag. Aber auch die andere Wahrheit: da&szlig; verschiedene Mittel eine
+verschiedene &ndash; ihnen eigene &ndash; Sprache haben, in der sie den n&auml;mlichen
+Gehalt in immer neuer Deutung verk&uuml;nden.&ldquo; &ndash; &bdquo;Es kann der Mensch
+nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde vorfindet.&ldquo; Man
+bedenke &uuml;berdies, da&szlig; jede Vorstellung einer Oper auf dem Theater,
+durch Absicht teils und teils durch die Zuf&auml;lle, die so zahlreiche mitwirkende
+Elemente hineintragen, zu einer Bearbeitung wird und werden
+mu&szlig;. Noch nie erlebte ich von der B&uuml;hne aus einen Mozartschen &bdquo;<cite lang="it" xml:lang="it">Don
+Giovanni</cite>&ldquo;, der dem anderen geglichen h&auml;tte. Der Regisseur scheint hier
+&ndash; wie auch bei der &bdquo;<cite>Zauberfl&ouml;te</cite>&ldquo; &ndash; seinen Ehrgeiz darin zu finden,
+die Szenen (und innerhalb der Szenen die Vorg&auml;nge) immer wieder
+zu variieren und umzustellen. Auch h&ouml;rte ich (leider) niemals, da&szlig; die
+Kritik gegen die &Uuml;bersetzung des Don Giovanni ins Deutsche sich
+gewehrt h&auml;tte; wenngleich eine &Uuml;bersetzung &uuml;berhaupt (bei diesem
+Meisterwerk des Zusammengusses von Text und Musik nun besonders)
+als eine der bedenklichsten Bearbeitungen sich herausstellt.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_10_10" href="#FNanchor_10_10" class="label">[10]</a> Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, w&auml;ren
+die S&auml;nger, weil sie selbst erklingen k&ouml;nnen. In derselben Weise k&ouml;nnte
+ein Clown, der durch einen Trick T&ouml;ne von sich gibt, sobald man ihn
+ber&uuml;hrt, ein nachgemachter musikalischer Mensch hei&szlig;en.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_11_11" href="#FNanchor_11_11" class="label">[11]</a> &bdquo;Diese Kompositionen sind aber so musikalisch&ldquo;, sagte mir einmal
+ein Geiger von einem vierh&auml;ndigen Werkchen, das ich zu unbedeutend
+fand.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_12_12" href="#FNanchor_12_12" class="label">[12]</a> Der einem nachgeht, &uuml;berholt ihn nicht, soll Michelangelo gesagt
+haben. Und &uuml;ber die n&uuml;tzliche Anwendung der &bdquo;Kopien&ldquo; &auml;u&szlig;ert
+sich noch viel drastischer ein italienischer Spruch.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_13_13" href="#FNanchor_13_13" class="label">[13]</a> Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
+scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikst&uuml;cken
+nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Symphonie
+gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an f&uuml;nfzehn
+Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche
+niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der
+&bdquo;f&uuml;nften&ldquo; ein anderes als jenes, womit die &bdquo;zweite&ldquo; ihr Allegro ansagt?
+Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll?</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_14_14" href="#FNanchor_14_14" class="label">[14]</a> Und das ist das Siegreiche in Beethoven, da&szlig; er von allen &bdquo;modernen&ldquo;
+Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
+nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, da&szlig; Wagner einen &bdquo;Posaunensatz&ldquo;
+gepr&auml;gt hat, der &ndash; seit ihm &ndash; in den Partituren st&auml;ndige
+Wohnung nahm.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Footnote_15_15" href="#FNanchor_15_15" class="label">[15]</a>
+&bdquo;Die gleichschwebende zw&ouml;lfstufige Temperatur, welche bereits seit
+ca. 1500 theoretisch er&ouml;rtert, aber erst kurz vor 1700 prinzipiell aufgestellt
+wurde (durch Andreas Werkmeister), teilt die Oktave in zw&ouml;lf
+gleiche Teile (Halbt&ouml;ne, daher &bdquo;Zw&ouml;lfhalbtonsystem&ldquo;) und gewinnt damit
+Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein, aber alle leidlich
+brauchbar intonieren.&ldquo;</p>
+
+<p class="right">(<cite>Riemann, Musiklexikon.</cite>)</p>
+
+<p>So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesem Werkmeister in
+der Kunst, das &bdquo;Zw&ouml;lfhalbtonsystem&ldquo; mit lauter unreinen, aber leidlich
+brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was unrein?
+Unser Ohr h&ouml;rt ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht
+&bdquo;reine und brauchbare&ldquo; Intervalle entstanden sind, als unrein an.
+Das diplomatische Zw&ouml;lfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und
+doch wachen wir &uuml;ber die Wahrung seiner Unvollkommenheiten.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_16_16" href="#FNanchor_16_16" class="label">[16]</a> Man nennt es &bdquo;Harmonielehre&ldquo;.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_17_17" href="#FNanchor_17_17" class="label">[17]</a> So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser
+Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_18_18" href="#FNanchor_18_18" class="label">[18]</a> <cite lang="en" xml:lang="en" class="antiqua">&raquo;New Music for an old World. Dr. Thaddeus Cahills Dynamophone,
+an extraordinary electrical Invention for producing scientifically
+perfect music by Ray Stannard Baker&laquo;. Mc. Clure's Magazine,
+July 1906. Vol. XXVII, <span class="nowrap">No. 3. &ndash;</span></cite>
+</p><p>
+&Uuml;ber diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des
+weiteren: &hellip; Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Tongebung
+bei allen Instrumenten f&uuml;hrte Dr. Cahill zum Nachdenken.
+Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zust&auml;nde beeintr&auml;chtigen
+die Zuverl&auml;ssigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die
+Macht &uuml;ber den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an,
+wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung
+an der festgehaltenen Note nichts &auml;ndern. Dr. Cahill ersann die Idee
+eines Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle &uuml;ber
+jeden zu erzeugenden Ton und &uuml;ber dessen Ausdruck gew&auml;hrte. Er
+nahm sich die Theorien Helmholtz' zum Vorbild, die ihn lehrten, da&szlig;
+die Verh&auml;ltnisse der Zahl und der St&auml;rke der Obert&ouml;ne zum Grundton
+den Ausschlag f&uuml;r den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente
+geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton
+schwingen l&auml;&szlig;t, eine Anzahl supplement&auml;rer Apparate, von welchen
+jeder einen der Obert&ouml;ne erzeugt, und konnte solche in beliebiger Anordnung
+und St&auml;rke dem Grundton zuh&auml;ufen. So ist jeder Klang einer
+mannigfaltigsten Charakterisierung f&auml;hig, sein Ausdruck auf das empfindlichste
+dynamisch zu regeln, die St&auml;rke vom fast unh&ouml;rbaren Pianissimo
+bis zur unertr&auml;glichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das
+Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die
+F&auml;higkeit bewahrt, der Eigenart eines K&uuml;nstlers zu folgen.
+</p><p>
+Eine Reihe solcher Klaviaturen von mehreren Spielern gespielt, kann
+zu einem Orchester zusammengestellt werden.
+</p><p>
+Der Bau des Instrumentes ist au&szlig;erordentlich umfangreich und kostspielig,
+und sein praktischer Wert m&uuml;&szlig;te mit Recht angezweifelt werden.
+Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom
+und der Luft w&auml;hlte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch
+diesen gl&uuml;cklichen Einfall ist es m&ouml;glich geworden, von einer Zentralstelle
+aus nach allen den mit Dr&auml;hten verbundenen Pl&auml;tzen, selbst auf gro&szlig;e
+Entfernungen hin, die Kl&auml;nge des Apparates zu versenden; und gelungene
+Experimente haben erwiesen, da&szlig; auf diesem Wege weder von
+den Feinheiten noch von der Macht der T&ouml;ne etwas eingeb&uuml;&szlig;t wird.
+Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang erf&uuml;llt,
+einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang,
+unsichtbar, m&uuml;helos und unerm&uuml;dlich. Dem Bericht, dem ich diese Nachrichten
+entnehme, sind authentische Photographien des Apparates beigegeben,
+welche jeden Zweifel &uuml;ber die Wirklichkeit dieser allerdings
+fast unglaublichen Sch&ouml;pfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie
+ein Maschinenraum.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_19_19" href="#FNanchor_19_19" class="label">[19]</a> Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; tr&auml;umt er
+vorher von einer vielleicht &bdquo;b&ouml;seren&ldquo; Musik, so denkt er sich jetzt eine
+Musik, die &bdquo;von Gut und B&ouml;se nichts mehr w&uuml;&szlig;te&ldquo;; &ndash; doch war mir
+bei der Anf&uuml;hrung um den letzteren Sinn zu tun.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_20_20" href="#FNanchor_20_20" class="label">[20]</a> Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
+d'Indy: &raquo;<span lang="fr" xml:lang="fr" class="antiqua"><span class="nowrap">.&hellip; laissant</span> de c&ocirc;t&eacute; les contingences et les petitesses de
+la vie pour regarder constamment vers un id&eacute;al, qu'on ne pourra jamais
+atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.</span>&laquo;</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_21_21" href="#FNanchor_21_21" class="label">[21]</a> Ich
+glaube gelesen zu haben, da&szlig; Liszt seine Dante-Symphonie auf die
+beiden S&auml;tze &raquo;<cite lang="it" xml:lang="it" class="antiqua">Inferno</cite>&laquo; und &raquo;<cite lang="it" xml:lang="it" class="antiqua">Purgatorio</cite>&laquo; beschr&auml;nkte, &bdquo;weil unsere
+Tonsprache f&uuml;r die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.&ldquo;</p></div>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Entwurf einer neuen Ästhetik der
+Tonkunst, by Ferruccio Busoni
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ENTWURF EINER NEUEN ÄSTHETIK ***
+
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+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
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+
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+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
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+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
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+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
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