diff options
| -rw-r--r-- | .gitattributes | 3 | ||||
| -rw-r--r-- | 17169-8.txt | 8241 | ||||
| -rw-r--r-- | 17169-8.zip | bin | 0 -> 159443 bytes | |||
| -rw-r--r-- | 17169-h.zip | bin | 0 -> 174176 bytes | |||
| -rw-r--r-- | 17169-h/17169-h.htm | 8423 | ||||
| -rw-r--r-- | LICENSE.txt | 11 | ||||
| -rw-r--r-- | README.md | 2 |
7 files changed, 16680 insertions, 0 deletions
diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..6833f05 --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,3 @@ +* text=auto +*.txt text +*.md text diff --git a/17169-8.txt b/17169-8.txt new file mode 100644 index 0000000..2331833 --- /dev/null +++ b/17169-8.txt @@ -0,0 +1,8241 @@ +The Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Der Fall Deruga + +Author: Ricarda Huch + +Release Date: November 27, 2005 [EBook #17169] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA *** + + + + +Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online +Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + + + + + +Der Fall Deruga + +Roman + +von + +Ricarda Huch + +1917 + +Verlag Ullstein & Co, Berlin/Wien + + * * * * * + +Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. +Amerikanisches Copyright 1917 by Ullstein & Co, Berlin. + + + + +=I.= + + +»Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?« fragte +eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, »und warum hat der Angeklagte +zwei Anwälte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaustück.« + +»Wenn der Betreffende ein Anwalt wäre, liebes Kind, würde er einen Talar +tragen,« antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. »Aber wer es ist, kann +ich dir auch nicht sagen.« Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte +sich um und erklärte, der fragliche Herr sei der Angeklagte =Dr.= +Deruga. + +»Ist das möglich?« rief die Dame lebhaft, »wissen Sie das bestimmt?« + +Der alte Herr lachte vergnügt. »So bestimmt wie ich weiß, daß ich der +Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor +wohnt nämlich bei mir.« + +Die Dame machte große Augen. »Läßt man denn einen Mörder frei +herumlaufen?« fragte sie. »Ich dachte, er wäre im Gefängnis. Ist es +Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu +haben?« + +»Ja, sehen Sie, gnädige Frau,« sagte der alte Mann, »der Herr Justizrat +Fein hat ihn bei mir eingeführt, weil er mich schon lange kennt und +seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat +so viel Vertrauen in mich setzt, daß er seine Geigen und Flöten von mir +reparieren und sein Töchterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir +nehmen läßt, so schickt es sich, daß ich auch wieder Vertrauen zu ihm +habe. Und er hat mir seinen Klienten wärmstens empfohlen, der sich bis +jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas +wunderlich.« + +»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind,« sagte der Ehemann, »daß ein +Angeklagter noch kein Verurteilter ist.« + +»Sehr richtig, sehr richtig,« sagte der Musikinstrumentenmacher und +wollte eben allerlei merkwürdige Fälle von Justizirrtümern erzählen, +als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte. + +Sie finde es doch ungehörig, flüsterte die junge Dame ihrem Manne zu, +daß ein des Mordes Verdächtiger sich so frei bewegen dürfe, noch dazu +einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre. + +»Man soll sich hüten, nach dem Äußeren zu urteilen, liebes Kind,« sagte +der Ehemann. »Aber abgesehen davon würde ich auch diesem Menschen nicht +über den Weg trauen. Es ist merkwürdig, wie leichtgläubig und wie +ungeschickt im Auslegen von Physiognomien das Volk ist.« + +Die meisten Zuschauer hatten denselben ungünstigen Eindruck von +=Dr.= Deruga empfangen, der durch Nachlässigkeit in Kleidung und +Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal +durchwanderten, der Majestät und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten +schien. + +»Ich dachte, er hätte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen,« bemerkte +die junge Frau tadelnd gegen ihren Mann. + +»Aber, Kindchen,« entgegnete dieser, »wir haben doch auch nicht alle +blaue Augen und blondes Haar.« + +»Er stammt aus Oberitalien,« mischte sich ein Herr ein, »wo der +germanische Einschlag sich bemerkbar macht.« + +Ein anderer fügte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen +Typus, nämlich den der verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen +Welschen, wie er seit dem frühen Mittelalter in der Vorstellung der +Deutschen gelebt habe. + +Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und +hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er +folgsam tat, um sein Gespräch mit dem Justizrat Fein von dort aus +fortzusetzen. + +»Sehen Sie, da kommt der Jäger vor dem Herrn, =Dr.= Bernburger,« +sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den +Zuschauerraum betrat. »Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren +geheftet, und eine gute Spürnase hat er, wie Sie sehen. Er ist Ihr +gefährlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.« + +Deruga betrachtete =Dr.= Bernburger, der angelegentlichst in seine +Papiere vertieft schien. + +»Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gefährlich wie mir,« sagte er dann mit +freundlichem Spott, die große, bequeme Gestalt des Justizrats +betrachtend. »Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er +nicht ein so gemeiner Charakter wäre.« + +Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Geländer +stützend, das die Anklagebank abschloß: »Bringen Sie mich jetzt nicht +zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein +Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.« + +»Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel,« sagte Deruga, »ein feiner +Kopf, so möchte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht ähnlich?« + +»Benehmen Sie sich ähnlich,« sagte der Justizrat, »und halten Sie Ihre +Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie +glauben. Der Bernburger hat zweifellos Material im Hinterhalt, mit dem +er uns überrumpeln will; also passen Sie auf!« + +»Aber ja,« sagte Deruga ein wenig ungeduldig. »Ihren Kopf behalten Sie +auf alle Fälle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als +mir.« + +Jetzt flogen die Türen im Hintergrunde des Saales auf, und der +Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat =Dr.= Zeunemann, +trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der +Luftzug hob den Talar des rasch Vorwärtsschreitenden, so daß seine +stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er grüßte mit einer +Gebärde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine +angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einflößte. Seine +Persönlichkeit erfüllte den bänglich feierlichen Raum mit einer gewissen +Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts +ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung wäre. Er rieb, nachdem er +sich gesetzt hatte, seine schönen, breiten, weißen Hände leicht +aneinander und ging dann an das Geschäft, indem er die Auswahl der +Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder fühlte sich +von einer wohltätigen Macht an seinen Platz geschoben. + +»Meine Herren Geschworenen,« begann er, »es handelt sich heute um einen +etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz +zusammenfassend vorführen will. + +Am 2. Oktober starb hier in München, infolge eines Krebsleidens, wie man +annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach +ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren +Mädchennamen wiederangenommen. In ihrem Testament, das Anfang November +eröffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, =Dr.= Deruga, +zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich +belaufenden Vermögens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von +denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Kusine, die +nächste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse +zureichende Verdachtsgründe hin, die Ihnen bekannt sind, veranlaßte das +Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, daß die +verstorbene Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines +furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war. + +Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ansässigen =Dr.= Deruga das +Gerücht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren +kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie +nannte, wären, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, daß das +Gericht bereits den Beschluß gefaßt habe, die Anklage auf Mord gegen ihn +zu erheben, und daß er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses +verschieben müsse. Unter diesen besonderen Umständen, da der Angeklagte +sich gewissermaßen selbst gestellt hatte, wurde angenommen, daß +Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen +abgesehen. Verdächtig machte den Angeklagten von vornherein, daß er sich +in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn +die Tatsache, daß er am Abend des 1. Oktober vergangenen Jahres eine +Fahrkarte nach München löste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach +Prag in seine Wohnung zurückkehrte. Einen genügenden Alibibeweis +vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen. + +Dies sind also die Hauptgründe, die das Gericht bewogen haben, die +Anklage auf Totschlag zu erheben. Es wird angenommen, daß Deruga seine +geschiedene Frau aufsuchte, um Geld von ihr zu erbitten, beziehungsweise +zu erpressen, und daß er sie bei dieser Gelegenheit, irgendwie gereizt, +vielleicht durch eine Weigerung, tötete. Allerdings scheint der Umstand, +daß Deruga Gift bei sich gehabt haben muß, für einen überlegten Plan zu +sprechen. Allein das Gericht hat der Möglichkeit Raum gegeben, der +verzweifelte Spieler habe damit sich selbst vernichten wollen, wenn sein +letzter Versuch mißlänge, und nur in einem unvorgesehenen Augenblick der +Erregung davon Gebrauch gemacht.« + +Während des letzten Satzes hatte der Staatsanwalt vergebens versucht, +durch Verdrehungen seines hageren Körpers und Deutungen seines knotigen +Zeigefingers die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich zu lenken. +»Verzeihung,« sagte er, indem er seinem langen, weißen Gesicht einen +süßlichen Ausdruck zu geben suchte, »ich möchte gleich an dieser Stelle +betonen, daß ich persönlich dieser Möglichkeit nicht Raum gebe. Warum +hätte der Mann es denn so eilig mit dem Selbstmorde gehabt? Er amüsierte +sich viel zu gut im Leben, um es so Hals über Kopf wegzuwerfen. + +Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß der Angeklagte auf das +erstmalige Befragen des Untersuchungsrichters die abscheuliche Untat +eingestand, oder, besser gesagt, sich ihrer rühmte, um sie mit ebenso +großer Dreistigkeit hernach zu leugnen.« + +»Jawohl, jawohl, wir kommen darauf zurück,« sagte der Vorsitzende mit +einer Handbewegung gegen den Staatsanwalt, wie wenn ein Kapellmeister +etwa einen vorlauten Bläser beschwichtigt. »Ich will zunächst den +Angeklagten vernehmen.« + +»Sie müssen aufstehen,« flüsterte der Justizrat seinem Klienten zu, der +mit schläfriger Miene den Saal und das Publikum betrachtete. + +»Aufstehen, ich?« entgegnete dieser erstaunt und beinahe entrüstet. +»Nun also auch das. Stehen wir auf,« fuhr er fort, erhob sich langsam +und heftete einen scharf durchdringenden Blick auf den Präsidenten; man +hätte meinen können, er sei ein Examinator und =Dr.= Zeunemann ein +zu prüfender Kandidat. + +»Sie heißen Sigismondo Enea Deruga,« begann der Vorsitzende das Verhör, +die beiden klangvollen Vornamen durch eine ganz geringe Dosis von Pathos +hervorhebend, die genügte, die Zuhörer zum Lachen zu bringen. Deruga +warf einen stechenden Blick in die Runde. »Ist es hier etwa ein +Verbrechen, nicht Johann Schulze oder Karl Müller zu heißen?« sagte er. + +»Beantworten Sie bitte schlechtweg meine Fragen,« sagte =Dr.= +Zeunemann kühl. »Sie heißen Sigismondo Enea Deruga, sind in Bologna +geboren und sechsundvierzig Jahre alt. Stimmt das?« + +»Jawohl.« + +»Sie haben in Bologna, Padua und Wien Medizin studiert und sich erst in +Linz, dann in Wien niedergelassen, nachdem Sie dort das Heimatrecht +erworben hatten. Stimmt das?« + +»Es wäre wirklich eine Schande,« sagte Deruga, »wenn Sie nach vier +Monaten nicht einmal das richtig herausgebracht hätten.« + +»Ich erinnere Sie nochmals, Angeklagter,« sagte der Vorsitzende, den das +sich erhebende Gelächter ein wenig ärgerte, »daß Sie sich an die kurze +und klare Beantwortung der an Sie gerichteten Fragen zu halten haben. Es +ist Ihre Schuld, daß sich die Voruntersuchung so lange hingezogen hat. +Ich ergreife die Gelegenheit, Ihnen einen ernstlichen Vorhalt zu machen. +Sie befolgen augenscheinlich den Grundsatz, das Gericht durch +Ungehörigkeiten und Wunderlichkeiten hinzuhalten und irrezuführen. Sie +verschlimmern dadurch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu erreichen. Die +Untersuchung nimmt ihren sicheren Gang trotz aller Steine, die Sie auf +ihren Weg werfen. Sie stehen unter einer schweren Anklage und täten +besser, anstatt die gegen Sie zeugenden Momente durch ungebärdiges und +zügelloses Betragen zu verstärken, den Gerichtshof und die Herren +Geschworenen durch Aufrichtigkeit in ihrer dornigen Arbeit zu +unterstützen und für sich einzunehmen. Sie befinden sich in einem Lande, +wo die Justiz ihres verantwortungsvollen Amtes mit unerschütterlicher +Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit waltet. Der Höchste und der +Niedrigste findet bei uns nicht mehr und nicht weniger als +Gerechtigkeit. Wir erwarten dagegen vom Höchsten wie vom Niedrigsten +diejenige Ehrfurcht, die einer so heiligen und würdigen Institution +zukommt. Der Gebildete sollte sie uns freiwillig darbringen; aber im +Notfall wissen wir sie zu erzwingen.« + +»Ja, ja,« sagte Deruga gutmütig, »nur zu, ich werde schon antworten.« + +=Dr.= Zeunemann hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen, +und fuhr fort: »Sie verheirateten sich im Jahre 18.. mit Mingo Swieter +aus Lübeck, erzielten aus dieser Ehe ein Kind, eine Tochter, die +vierjährig starb, und kurz darauf, vor jetzt siebzehn Jahren, wurde die +Ehe geschieden. Als Grund ist böswillige Verlassung von seiten der Frau +angegeben, und zwar hat Frau Swieter das Wiener Klima vorgeschützt, +welches sie nicht vertragen könne. In Wirklichkeit sollen Ihr +unverträglicher Charakter und Ihr unberechenbares Temperament, das zu +Gewalttaten neigt, Ihre Frau zu diesem Schritt veranlaßt haben.« + +Da =Dr.= Zeunemann bei diesen Worten fragend zu =Dr.= Deruga +hinübersah, sagte dieser: »Es wird das beste sein, wenn Sie sich +schlechtweg an die in den Akten befindlichen Angaben halten.« + +Der Vorsitzende unterdrückte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen +fort: »Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und +übten dort Ihre Praxis aus, während Frau Swieter sich in München +niederließ, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf +weitere Daten werden wir gelegentlich zurückkommen. Erzählen Sie uns +jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.« + +»Da ich kein Tagebuch führe,« sagte =Dr.= Deruga laut, »noch meine +täglichen Verrichtungen durch einen Kinematographen oder ein Grammophon +aufnehmen lasse, ist es mir leider unmöglich, Ihnen den Verlauf des +Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben +gefrühstückt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach +eine Stunde im Café gesessen haben. Dann werde ich in der Sprechstunde +mehrere Exemplare der mir sehr unsympathischen Gattung Mensch untersucht +haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanständige +Dame zu besuchen. In der Nähe des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen, +der mich fragte, ob ich auch in den ärztlichen Verein ginge. Ich sagte, +ich könne leider nicht, da ich verreisen müsse. Worauf er mich bis zum +Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach München, +weil ich ja sonst meine Lüge hätte zugestehen müssen, und auch weil mir +eingefallen war, daß auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher +wäre, nicht kompromittiert zu werden.« + +»Weigern Sie sich nach wie vor,« fragte =Dr.= Zeunemann, »den Namen +dieser hochanständigen Dame zu nennen?« + +»Ich habe ja schon gesagt, daß mir daran liegt, sie nicht zu +kompromittieren,« antwortete Deruga. + +»Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga,« sagte =Dr.= Zeunemann +warnend, »daß Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen Füßen steht. +Sollte eine Dame zulassen, daß sich ein Freund um ihretwillen in solche +Gefahr begibt? Da möchte man schon lieber annehmen, daß diese Dame gar +nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der +Wahrscheinlichkeit. Daß Sie eine Dame besuchten und Tage und Nächte bei +ihr zubrachten, wäre an sich bei Ihrer Lebensführung nicht unglaublich. +Auch das mag hingehen, daß Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu +kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gewählt haben +wollen, kann man nur als ungeeignet und lächerlich bezeichnen. Jemand, +der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht +zweiunddreißig Mark für eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.« + +»Einunddreißig Mark fünfundsiebzig Pfennig,« verbesserte Deruga. + +»Die Karte von Prag nach München kostet zweiunddreißig Mark,« sagte +=Dr.= Zeunemann scharf. + +»Der umgekehrte Weg ist fünfundzwanzig Pfennige billiger,« beharrte +Deruga. + +»Lassen wir den Wortstreit,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Man wirft auch +einunddreißig Mark und fünfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in +Geldverlegenheiten ist.« + +»Ein verständiger Deutscher wohl nicht,« entgegnete Deruga, »aber ich +habe größere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. Übrigens war +ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.« + +Der Staatsanwalt rang die Hände und wendete die Blicke nach oben, wie +wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte. +Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, daß der Angeklagte +genug Geld für eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt hätte. + +Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll +Geld hervor und zählte: »Sechzig, dreiundsechzig, siebzig, +vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich könnte auf der Stelle nach Prag +reisen, wenn ich es nicht vorzöge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu +bleiben.« + +»Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?« rief +der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen +kreischenden Ton annahm. + +»O, dazu reichte es bei weitem nicht,« lachte Deruga. »Ich hatte nur so +viel, um meine täglichen Bedürfnisse zu befriedigen.« + +Der Vorsitzende erklärte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung +für beendet. »Sie bleiben also dabei, Angeklagter,« fragte er, »daß Sie +zum Schein eine Fahrkarte nach München lösten. Was brachte Sie gerade +auf München?« + +»Das ist eine schwierige Frage,« sagte Deruga. »Hätte ich eine Karte +nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebensogut stellen. +Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante +Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie +gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und +Rachenkrankheiten.« + +»Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gelöst hatten?« fragte der +Vorsitzende weiter. + +»Ich stellte mich an die Barriere,« erzählte Deruga, »ging, als sie +geöffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels +einer vorher gelösten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon +öfters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober +blieb.« + +»Die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich,« sagte =Dr.= Zeunemann. +»Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner +Praxis wegbleiben?« + +»Ich bin der Ansicht,« sagte Deruga, »daß nicht ich für die Praxis da +bin, sondern daß die Praxis für mich da ist.« + +»Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt,« meinte =Dr.= +Zeunemann. + +»Warum?« antwortete Deruga leichthin. »Die meisten Patienten können sehr +gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchten überhaupt nicht zu +kommen. Wichtige Fälle hatte ich damals nicht.« + +»Ihre Patienten waren allerdings nicht verwöhnt,« sagte =Dr.= +Zeunemann. »In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren, +weil sie nachlässig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren. +Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, daß Sie außer der Zeit, ohne +Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen +Aussage, die von Ihrer Haushälterin bestätigt wurde, am 3. Oktober kurz +vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beiläufig sei bemerkt, daß der +von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag +eintrifft. Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten +zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht +auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertrösten lassen. Sie weigerten sich +aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert +gewesen wären, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer +Haushälterin, müde wären und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt +bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame muß also sehr anstrengend +gewesen sein.« + +»Ich finde Frauen immer anstrengend,« sagte Deruga, »besonders wenn sie +dumm sind.« + +»Nehmen wir also an,« sagte der Vorsitzende, während der Staatsanwalt +die Hände rang und seine unter diabolisch geschwänzten Brauen fast +verschwindenden Augen zum Himmel richtete, »daß die Ihnen befreundete +Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen +wichtigen Punkt über! Wollen Sie erzählen, wann und wie Sie von dem +Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die +verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Vermögens einsetzte!« + +»Anfang November,« sagte Deruga, »das Datum habe ich mir nicht gemerkt, +durch die zuständige Behörde.« + +»Sie sollen«, sagte =Dr.= Zeunemann, »Ihr Erstaunen und Ihre Freude +lebhaft geäußert haben. Ich bemerke,« wiederholte er mit Nachdruck +gegen die Geschworenen, »daß andere Personen dies bezeugen: Erstaunen +und Freude.« + +»O, edler Richter, wack'rer Mann,« sagte Deruga lächelnd. + +»Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen,« sagte der Vorsitzende. »Es +ist bereits halb zwölf Uhr, und ich möchte bis zur Mittagspause mit +Ihrem Verhör zu einem vorläufigen Ende kommen. Erzählen Sie uns bitte, +wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu +Ohren kam!« + +»Durch einen sehr anständigen Menschen,« begann Deruga, »sehr anständig +und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinhändler +ist. Der Mann heißt Tommaso Verzielli und kam vor fünfzehn Jahren als +ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine fünfjährige Gefängnisstrafe +verbüßt hatte. Er hatte nämlich einen Polizisten niedergestochen, der +eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem Bäckerladen ein +Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zurück, +denn unter Deutschen, sagte er, würde er doch nicht aus dem Gefängnis +herauskommen, weil er fortwährend Dinge mit ansehen müßte, wobei ihm das +Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein, +und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerreißen +lassen, sie wären einander wert, und es wäre um keinen schade. Er solle +heiraten und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und +außerdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und +anderen Lebensmitteln anzufangen, und schoß ihm ein kleines Kapital dazu +vor. Das hat er mir längst zurückgestellt, denn durch Fleiß und +Intelligenz brachte er sich schnell in die Höhe, aber er widmet mir +immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm täglich neu das Leben +schenkte. + +Dieser Verzielli also kam Mitte November am späten Abend in voller +Aufregung zu mir gelaufen und erzählte mir, der italienische Konsul, +Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei +bei ihm gewesen -- Verzielli hat nämlich jetzt ein sehr feines +Restaurant -- und habe sich unter der Hand nach mir erkundigt und als +tiefstes Geheimnis verraten, daß ich als Mörder meiner geschiedenen Frau +verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war außer sich und bot mir sein +ganzes Vermögen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. 'Deruga und +fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund,' sagte ich und lief +sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte +Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur +Rede, und da ich von ihm keine genügende Auskunft bekam, reiste ich +hierher, um den Ursprung des infamen Gerüchtes kennenzulernen.« + +»Es mußte Ihnen mitgeteilt werden,« fiel =Dr.= Zeunemann ein, »daß +das Gericht bereits beschlossen hätte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu +erheben, und daß Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung +des Prozesses zu verschieben hätten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich +nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit +erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem +Untersuchungsrichter gegenüber in bedenklicher Weise. So haben Sie +zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen wären, die +Antwort verweigert. Dann haben Sie erzählt, Sie wären in der Absicht, +sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt +ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in +eine ganz einsame Gegend gekommen wären. An einem Flusse hätten Sie +lange gelegen und mit sich gekämpft, bis Sie darüber eingeschlafen +wären. Nach vielen Stunden festen Schlafes wären Sie ernüchtert +aufgewacht, hätten sich noch eine Weile herumgetrieben und wären dann +heimgefahren. Schließlich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen +Dame auf. Der Born der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.« + +»Nicht so wie Sie meinen,« sagte Deruga. »Ich wollte nur den +Untersuchungsrichter ärgern und kann wohl sagen, daß mir das gelungen +ist. Er hat beinah Nervenkrämpfe bekommen.« + +=Dr.= Zeunemann ließ eine Pause verstreichen, bis das Gelächter im +Publikum verstummt war, und sagte dann: »Es wundert mich, daß ein Mann +in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch +benehmen mag -- oder so töricht, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen +Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen +und irrezuführen.« + +»Sind Sie schon einmal von einem täppischen Untersuchungsrichter +ausgefragt worden?« fragte Deruga. »Nein, wahrscheinlich nicht. Also +können Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen würden. +Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine +beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie +der gesunde Mensch sein soll. Alle Erschütterungen durch häßliche +Eindrücke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen durch +eine tadellose Verdauung geregelt, so daß Sie sich immer im stabilen +Gleichgewicht befinden; _ich_ dagegen bin unendlich reizbar.« + +=Dr.= Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen, +aber ohne genügenden Nachdruck. »Sie haben wohl auch mehr Ursache +unruhig zu sein als ich,« sagte er jetzt mit leichter Ironie. +»Vielleicht würden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es einmal mit +vollkommener Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre +Winkelzüge zu reizen.« + +»Sie, Herr Präsident, will ich nicht ärgern, darauf können Sie sich +verlassen,« sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden Tone, +wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anschlägt. + + * * * * * + +»Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich,« flüsterte Justizrat +Fein seinem Klienten zu, als gleich darauf die Sitzung aufgehoben wurde. +Von dort aus gingen sie zusammen durch ein rückwärtiges Portal in die +Anlagen, die auf eine stille Straße ohne Geschäftsverkehr führten. Vor +einem mit Gesträuch bewachsenen Hange blieb der Justizrat stehen, +stocherte mit der Spitze seines Regenschirmes in der alten, +feucht-verklebten Blätterdecke und sagte: »Da muß es bald +Schneeglöckchen und Krokus geben; ich will ihnen den Weg ein wenig frei +machen.« + +»Kommen Sie, kommen Sie,« sagte Deruga, den Justizrat am Arm ziehend. +»Die finden ihren Weg ohne Sie. Sagen Sie, kann ich heute nachmittag +während der Sitzung nicht lesen oder noch lieber schlafen? Das Zeug +langweilt mich unbeschreiblich, Sie könnten mir ja einen Stoß geben, +wenn ich mich betätigen muß.« + +»Machen Sie keine Dummheiten,« sagte der Justizrat; »heute nachmittag +wird wahrscheinlich der Hofrat von Mäulchen vernommen, der sehr schlecht +für Sie aussagen wird. Sie müssen also aufpassen, ob Sie ihm nicht +Ihrerseits etwas am Zeuge flicken können.« + + +»Am Zeuge flicken!« rief Deruga aus. »Umbringen möchte ich ihn. Ich +hasse diesen Menschen, vielmehr diesen rosa Wachsguß über einer Kloake.« + +»Hören Sie, Deruga,« sagte der Justizrat. »Ich verstehe Sie öfters +nicht, doch das am wenigsten, wie Sie einem Menschen Geld schuldig +bleiben mochten, den Sie haßten. Sie hätten doch das Geld auch von +anderer Seite haben können, zum Beispiel von dem guten Verzielli.« + +»Wahrscheinlich hätte es Ihr Ehrgefühl verletzt, einem verhaßten +Menschen Geld zu schulden,« sagte Deruga. »Sehen Sie, bei mir ist das +anders. Mir machte es Vergnügen zu sehen, was für Angst er um seine +Taler hatte, und wie er sich quälte, die Angst nicht merken zu lassen, +sondern den Anschein zu wahren, als wäre es ihm ganz gleichgültig. Denn +er will erstens für unermeßlich reich und zweitens für sehr weitherzig +in Geldsachen gelten. Hätte ich Geld im Überfluß gehabt, würde ich ihn +wahrscheinlich doch nicht ausbezahlt haben, um ihn zappeln zu sehen.« + +»Ich glaube, Sie können fürchterlich hassen,« sagte der Justizrat +nachdenklich, indem er den Doktor nicht ohne Bewunderung von der Seite +betrachtete. + +Dieser lachte herzhaft und ausgiebig wie ein Kind. »Das kann ich +allerdings,« sagte er. »Ich möchte manchmal einem ein Messer im Herzen +herumdrehen, nur weil mir seine Mundwinkel nicht gefallen. Ich will mich +aber heute nachmittag Ihnen zuliebe zusammennehmen, so gut ich kann.« + +»Ja, darum bitte ich,« sagte der Justizrat, »ich fühle mich doch etwas +verantwortlich für Sie.« + + * * * * * + +Hofrat von Mäulchen erschien in gewählter Kleidung, in einen +angenehmen, mondänen Duft getaucht, mit dem leichten und sicheren Gang +dessen, den allgemeine Beliebtheit trägt, im Schwurgerichtssaale. Die +Eidesformel, die der Präsident ihm vorsprach, wiederholte er mit +liebenswürdiger Gefälligkeit und einem leicht fragenden Ausklang, so, +als wolle er sich bei jedem Satz vergewissern, ob es dem Vorsitzenden +und dem lieben Gott so auch recht wäre. + +»Der Angeklagte,« begann =Dr.= Zeunemann das Verhör, als alle +Förmlichkeiten abgetan waren, »ist Ihnen seit Mai 19.., also seit fünf +Jahren, sechstausend Mark schuldig. Wollen Sie, bitte, erzählen, wie Sie +den Angeklagten kennenlernten, und wie es kam, daß er das Geld von Ihnen +borgte!« + +»Beides ist schnell getan,« sagte der Hofrat. »Ich lernte Deruga im +ärztlichen Verein kennen, außerdem hat er mich gelegentlich einer +kleinen Wucherung in der Nase behandelt. Kollegen empfahlen ihn mir, +weil er eine besonders leichte Hand habe, was meine eigene Erfahrung +bestätigt hat. Es handelte sich bei mir allerdings um einen sehr +einfachen Fall, aber auch darin kann man ja seine Fähigkeiten beweisen. +Gewisse kleine Originalitäten und Wunderlichkeiten hatte er an sich, zum +Beispiel erinnere ich mich, daß er mich immer in der Erwartung hielt, +als käme etwas außerordentlich Schmerzhaftes, was doch gar nicht der +Fall war. Ich habe sagen hören, daß er nach Belieben, sagen wir nach +Laune, die Patienten ganz schmerzlos oder sehr grob behandelte. Aber das +gehört eigentlich nicht hierher, und so weit meine persönliche Erfahrung +reicht, kann ich ihn als Arzt nur loben. Als ich nun gelegentlich eine +Bemerkung über die schäbige Ausstattung seines Wartezimmers machte, +sagte er mir, er habe kein Geld, um sich so einzurichten, wie er möchte, +worauf ich ihm, einem augenblicklichen Gefühl folgend, so viel anbot, +wie er brauchte. Ich bin vielleicht kein sehr besonnener Rechner,« +schaltete der Hofrat mit einem Lächeln ein, »aber in diesem Falle, einem +Kollegen und tüchtigen Arzt gegenüber, glaubte ich gar nichts zu +riskieren.« + +»Hat der Angeklagte das Geld für eine neue Einrichtung verwendet?« +fragte der Vorsitzende. + +»Darüber kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen,« antwortete der +Hofrat. »Es wurde mir später einmal zugetragen, geschwatzt wird ja viel, +die Sessel seines Wartezimmers würden immer schäbiger; +begreiflicherweise habe ich es aber vermieden, ihn aufzusuchen und mich +darüber zu unterrichten.« + +»Wollen Sie sich dazu äußern?« wendete sich der Vorsitzende gegen +Deruga. »Haben Sie sich für das geliehene Geld Ihr Wartezimmer neu +eingerichtet?« + +»Gehört das hierher?« fragte Deruga. »Ich glaubte immer, man könne sein +Geld verwenden, wie man wolle, einerlei, ob es geliehen oder gestohlen +ist.« + +»Sie verweigern also die Antwort?« + +»Soviel ich mich erinnere,« sagte Deruga mürrisch, »habe ich +Instrumente, moderne Apparate, einen Operationsstuhl und dergleichen +dafür gekauft.« + +»Sie haben,« setzte der Präsident die Zeugenvernehmung fort, »im Laufe +der nächsten Jahre den Angeklagten niemals gemahnt?« + +»Bewahre,« erwiderte der Hofrat. »Einen Kollegen! Überhaupt würde ich +das ohne genügende Gründe niemals tun. Ich hatte das Geld eigentlich +schon verloren gegeben, denn das Gerede ging, als betriebe Deruga seine +Praxis nur nachlässig und führe ein sehr ungeregeltes Leben. Ich habe +übrigens, wie ich gleich vorausschicken will, der Wahrheit dieses +Geredes nicht nachgeforscht und bitte, keine Schlüsse daraus zu ziehen.« + +»So gehen wir ohne weiteres zu dem Anlaß über,« sagte =Dr.= +Zeunemann, »der Sie bewog, das Geld zurückzufordern. Wollen Sie den +Vorgang im Zusammenhang erzählen!« + +»Im September vorigen Jahres,« berichtete der Hofrat, »traf ich mit +Deruga in dem schon erwähnten ärztlichen Verein zusammen, nachdem ich +ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen und das Geld sozusagen vergessen +hatte. Er rief mir über den Tisch hinüber in ziemlich formloser Weise +zu, er wolle eine Patientin, von der er glaube, daß sie ein +Unterleibsleiden habe, zu mir schicken, ich solle sie untersuchen und +nötigenfalls behandeln, aber umsonst, zahlen könne sie nicht. Mehr über +seine Art und Weise als über die Sache selbst verstimmt, erwiderte ich, +wie ich gern glauben will, ein wenig kühl, ich sei mit Arbeit sehr +überhäuft, die Kranke könne ja zu dem in Betracht kommenden Kassenarzt +gehen. Darauf wurde Deruga kreideweiß im Gesicht und überhäufte mich mit +einem Schwall von Beleidigungen, wie, daß ich es nur auf Geldmacherei +abgesehen hätte, der Arzt für Kommerzienrätinnen und fürstliche Kokotten +wäre und dergleichen mehr, was ich nicht wiederholen will. Ich möchte +bemerken, daß ich glaube, wie ungerecht seine Beschuldigungen auch waren +und wie unpassend auch die Form war, wie er sie erhob, er machte sie +=bona fide=. Er hatte die Meinung, ich sei gemütlos und strebte nur +nach klingendem Erfolg und äußerem Glanz, vielleicht weil ihm infolge +einer gewissen volkstümlichen oder zigeunerhaften Veranlagung der Sinn +für geregeltes bürgerliches Leben mit seinen traditionellen Begriffen +von Anstand und Ehre überhaupt abgeht. In jenem Augenblick vermochte ich +mich zu dieser objektiven Ansicht nicht zu erheben, sondern, ich gestehe +es, ich fühlte mich verletzt und im Innersten empört.« + +»Beinah wäre der rosa Wachsguß geschmolzen,« flüsterte Deruga dem +Justizrat zu. + +»Ohne mein entrüstetes Gefühl zu zügeln oder es nur zu wollen, +antwortete ich heftig, er habe am wenigsten Ursache, mir derartige +Vorwürfe zu machen, da ich ihm bereitwillig ausgeholfen und den Verlust +nicht nachgetragen hätte. Ich hätte ihn damals für zahlungsfähig +gehalten, sagte er boshaft, sonst würde ich ihm nichts geborgt haben. +Allerdings, sagte ich, hätte ich einen Kollegen für so ehrenhaft +gehalten, daß er seine Schulden bezahlte, und da er mich nun selbst +herausfordere, solle er es auch tun. Der Streit wurde dann durch mehrere +Kollegen, die sich ins Mittel legten, geschlichtet. Bevor wir uns +trennten, sagte ich zu Deruga, er solle das, was ich vorhin in heftiger +Aufwallung gesagt hätte, nicht so auffassen, als wolle ich ihn drängen. +Erlauben Sie mir bitte, festzustellen, daß ich der ganzen Sache aus +freien Stücken niemals in der Öffentlichkeit Erwähnung getan haben +würde!« + +»Darf ich bitten,« sagte Justizrat Fein, sich an den Zeugen wendend, +»Sie sind nachher mit keinem Wort und mit keiner Andeutung auf die +Geldangelegenheit zurückgekommen?« + +»Nein, durchaus nicht,« antwortete der Hofrat. »Es tat mir im Gegenteil +leid, daß ich mir in der Erregung die Mahnung hatte entschlüpfen +lassen.« + +»Also«, sagte der Justizrat, »war die Lage für =Dr.= Deruga nicht +im mindesten verändert, und es liegt kein Grund zu der Behauptung vor, +er habe sich durchaus Geld verschaffen müssen, um die fällige Schuld zu +bezahlen.« + +»Ich bitte sehr,« rief der Staatsanwalt, »durch den Vorfall im +ärztlichen Verein war das Schuldverhältnis einer ganzen Reihe von +Kollegen bekannt geworden; das ist denn doch eine erhebliche Veränderung +der Lage. So viel Ehrgefühl dürfen wir doch bei einem jeden gebildeten +Manne voraussetzen, daß ihm das nicht gleichgültig war.« + +»Nehmen wir, bitte, =Dr.= Deruga wie er ist, und nicht, wie er nach +der Meinung anderer sein sollte. Da es ihm nichts ausmachte, dem Hofrat +von Mäulchen Geld schuldig zu bleiben, für den er augenscheinlich keine +besondere Vorliebe hatte, lag ihm wahrscheinlich sehr wenig daran, daß +ein paar andere Kollegen, mit denen er, wie es scheint, ganz gut stand, +davon wußten. Jedenfalls, wenn er früher so dickfellig in diesem Punkt +war, wird er nicht plötzlich so empfindlich geworden sein, daß er ein +Verbrechen beging, um sich aus der Klemme zu ziehen.« + +Die gemächliche Grandezza, mit der der Justizrat dastand, die Wucht +seiner massigen Gestalt und seines großgeformten, ruhigen Gesichtes +überzeugten noch wirksamer als seine Worte und brachten seinen +zappeligen Gegner außer Fassung. + +»Ja, wenn der Mensch immer so folgerichtig wäre!« sagte er heftig. +»Dafür, daß Männer lieber Verbrechen begehen, als einen Fleck auf ihrer +sogenannten bürgerlichen Ehre dulden, finden sich viele Beispiele.« + +=Dr.= Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand. + +»Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zunächst noch gar +nicht zugemutet,« sagte er. »Wenn er seine geschiedene Frau um Geld +anging, so war das höchstens taktlos, und es ist um so weniger +auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, daß er diese +Hilfsquelle öfters in Betracht zog. Halten Sie,« wendete er sich an den +Hofrat, »die Schuld für ein Motiv, das stark genug gewesen wäre, den +Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungewöhnliche oder +bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld zu +setzen?« + +»Ich muß sehr bitten,« wehrte der Hofrat ab, »mir die Antwort zu +erlassen. Ich schrecke um so mehr davor zurück, ein Urteil darüber zu +äußern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit +der Psyche Derugas nicht vertraut, könnte mich nur in Phantasien +ergehen, aber selbstverständlich bin ich eher geneigt, Gutes als +Schlechtes von einem Kollegen zu denken.« + +»Sie waren,« fuhr der Vorsitzende fort, »derjenige Kollege, dem der +Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der Nähe des +Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ärztlichen Verein +wolle?« + +»Jawohl,« sagte der Hofrat. »Ich stellte die Frage, weil ich mich nach +dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte. +Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir +ja in der Nähe des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe +fiel mir auf, weil es größer war, als Herren unserer Gesellschaftskreise +solche zu tragen pflegen.« + +Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein +Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei. + +»Ich erlaubte mir allerdings,« sagte Deruga, »als ein armer Teufel, der +sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von +Mäulchen gehören zu wollen, ein Paket zu tragen. Darin wird Wäsche und +dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.« + +Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, daß festgestellt +werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte, +ein Paket bei sich gehabt habe. + +»Die Haushälterin wird gleich vernommen werden,« sagte der Vorsitzende. +»Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und +Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. Können Sie sonst etwas +Sachdienliches mitteilen?« + +»Nein, durchaus nicht,« beteuerte der Hofrat. »Gerüchte und +Schwätzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja +mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten +Fällen nicht in Betracht gezogen werden sollte.« + +»Vielleicht könnten Sie doch sagen,« fragte der Vorsitzende, »was für +einen Ruf =Dr.= Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen genoß?« + +»Ich glaube nicht, daß meine diesbezüglichen Mitteilungen einen +namhaften Wert für Sie hätten,« entschuldigte sich der Hofrat. »Aus +dem, was ich erzählt habe, läßt sich ja schon mancherlei schließen. Den +sicheren Boden der Tatsachen möchte ich nicht verlassen.« + + * * * * * + +Weinhändler Verzielli, der nächste Zeuge, war ein untersetzter, +dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest auf +den Präsidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit +lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete. + +»Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?« fragte +=Dr.= Zeunemann. + +»Befreundet, sehr befreundet,« sagte Verzielli eifrig. + +»Aber nicht verwandt?« wiederholte =Dr.= Zeunemann. + +»Leider nicht,« sagte Verzielli, »aber sehr befreundet. Ich liebe und +bewundere ihn.« + +»Sie fühlten sich ihm zu Dank verpflichtet,« sagte der Vorsitzende +freundlich, »weil er durch einen guten Rat und auch durch eine +Geldsumme, die er Ihnen vorschoß, Ihr Glück begründet hatte?« + +»Ach, Rat und Kapital, das ist nicht die Hauptsache,« rief Verzielli +aus. »Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist +edel und hilfsbereit.« + +»Sie konnten ihm das Geliehene bald zurückgeben,« fuhr der Vorsitzende +fort, »und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld geborgt?« + +»Das ist ja gar nicht der Rede wert,« sagte Verzielli, Kopf und Hand +schüttelnd, »wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. Übrigens hat er +mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedrängt. Er verstand ja +nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.« + +»Hat er Ihnen jemals Geld zurückgezahlt?« + +»O ja,« rief Verzielli stolz, »auch in bezug auf das Rückständige fragte +er mich öfters, ob ich es brauche. Aber wozu hätte ich es brauchen +sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm +immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiedergäbe. +Meine Frau war auch der Meinung, man dürfe ihn nicht drängen.« + +»Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige Schenkungen +oder eine etwaige Erbschaft von seiten seiner geschiedenen Frau +vertröstet?« + +»Zu vertrösten brauchte er mich nicht,« sagte Verzielli ein wenig +gereizt. »Aber natürlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau +und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind sehr +geliebt. Meine Frau und ich haben oft geweint, wenn er davon sprach.« + +Er zog bei diesen Worten ein großes, buntes Taschentuch hervor und fuhr +sich damit über Stirn und Augen, sei es um sich Tränen oder Schweiß +damit zu trocknen. + +»Ich bitte Sie,« sagte =Dr.= Zeunemann freundlich, »genau auf meine +Fragen zu achten und sie kurz und deutlich zu beantworten. Hat der +Angeklagte Ihnen zuweilen von einer Aussicht gesprochen, Geld von seiner +geschiedenen Frau zu erhalten, sei es bei ihren Lebzeiten oder nach +ihrem Tode?« + +»Ich glaube,« sagte Verzielli, sein Taschentuch quetschend, »er sagte +gelegentlich einmal, seine geschiedene Frau sei reich, und er sei +überzeugt, sie würde ihm geben, was er brauchte, wenn er sie darum +bäte.« + +»Erinnern Sie sich, wann er Ihnen das gesagt hat?« + +»Ich glaube,« sagte Verzielli, »daß es in der letzten Zeit nicht gewesen +ist.« + +»Wir kommen jetzt,« sagte der Vorsitzende, nach einem leichten Räuspern +die Stimme hebend, »zu einem sehr wichtigen Punkt, und ich fordere Sie +auf, Herr Verzielli, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Gedächtnis energisch +zusammenzufassen. Denken Sie vor allen Dingen nicht daran, welche Folgen +Ihre Aussagen für den Angeklagten haben könnten, sondern nur daran, daß +Sie einen Eid geschworen haben, die Wahrheit zu sagen!« + +Verzielli richtete sich stramm auf, blickte dem Vorsitzenden fest ins +Auge und umfaßte krampfhaft sein Taschentuch. + +»Erzählen Sie uns genau mit allen Einzelheiten, wie es sich begab, daß +Sie von dem Gerücht, =Dr.= Deruga habe seine Frau ermordet, +erfuhren, und daß Sie ihn davon in Kenntnis setzten!« + +Verzielli schwieg und starrte angelegentlich in einen Winkel, +augenscheinlich bemüht, seine Gedanken zu sammeln. + +»Ich will Ihnen zu Hilfe kommen,« sagte =Dr.= Zeunemann +nachsichtig. »Am Abend des 25. November kam Cavaliere Faramengo, der +italienische Konsul, in Ihr Restaurant, um ein Glas Wein zu trinken, wie +er zuweilen tat. Er fragte Sie nach dem Angeklagten aus, und Sie +erfuhren von ihm, daß von München aus Erkundigungen über ihn eingezogen +wären, und daß er im Verdacht stehe, seine geschiedene Frau, die Anfang +Oktober gestorben war und ihn zum Erben ihres Vermögens eingesetzt +hatte, ermordet zu haben. Außer sich vor Entrüstung liefen Sie sofort zu +dem Angeklagten, erzählten ihm alles und sagten, wenn Sie nur wüßten, +wer der Verleumder wäre, Sie würden ihn töten. Der Angeklagte sagte +lachend: 'Dummkopf, ich habe es ja getan.' Das ist, was der +Untersuchungsrichter nicht ohne Mühe aus Ihnen herausgebracht hat. +Bestätigen Sie es jetzt vor dem versammelten Gericht und vor den +Geschworenen?« + +»Es ist wahr, daß =Dr.= Deruga sagte: 'Dummkopf, ich habe es ja +getan,' aber er hatte nur insofern recht, als er mich einen Dummkopf +nannte, denn er meinte ...« + +»Bleiben Sie bei der Sache!« sagte =Dr.= Zeunemann. »Was +antworteten Sie darauf?« + +»Ich sagte, das wäre nicht möglich, und davon war ich auch überzeugt, +daß es unmöglich wäre; aber in dem Zustand von Aufgeregtheit, in dem ich +mich befand, bat ich ihn, augenblicklich nach Amerika zu fliehen, und +bot ihm mein ganzes Vermögen an, damit er sich dort weiter helfen +könnte.« + +»Guter Mann,« sagte plötzlich Deruga laut. + +Verzielli, der es bisher vermieden hatte, nach der Anklagebank +hinüberzusehen, wandte jetzt den Kopf herum und warf Deruga einen +verzweifelten Blick zu. + +Auch =Dr.= Zeunemann sah ihn an. »Wie erklären Sie es,« sagte er, +»daß Sie im ersten Augenblick der Überraschung Verzielli gegenüber die +Tat zugaben?« + +»Ich wollte sehen, was für ein Gesicht er machte,« sagte Deruga +leichthin, »das ist alles.« + +»Ja, natürlich,« fiel Verzielli rasch ein. »So war er. Das ist ganz er. +O Gott, er hatte recht, mich einen Dummkopf zu nennen. Ja, ein Esel, ein +verwünschter Tölpel war ich, es nicht sofort klar zu durchschauen.« + +»Bei der Sache bleiben,« unterbrach =Dr.= Zeunemann. »Die Stimmung +des Angeklagten schlug unvermittelt um, er geriet in Wut und wollte +sofort zum italienischen Konsul laufen, um zu erfahren, wer ihn +verleumdet hätte. 'Sie haben es also nicht getan,' riefen Sie und +beschworen den Angeklagten, keinen übereilten Schritt zu tun und mit dem +Besuch beim Konsul bis zum folgenden Morgen zu warten. Fürchteten Sie +vielleicht, er würde sich in seiner Wut am Konsul vergreifen?« + +»Gott bewahre!« rief Verzielli entrüstet. »Der Konsul sollte nur nicht +erfahren, daß ich Deruga alles ausgeplaudert hatte. Auch fürchtete ich, +daß =Dr.= Deruga in seinem gerechten Zorne sich allzu heftig äußern +und dadurch den Konsul gegen sich einnehmen würde. Kurz, ich war ein +Dummkopf und war maßlos aufgeregt. Ich wußte nicht, was ich sagte und +was ich tat.« + +Der Staatsanwalt war im Laufe des Verhörs aufgestanden und begleitete +die Antworten des Italieners mit unwillkürlichen Gebärden und hier und +da mit einem höhnischen Lachen oder entrüsteten Ausruf. + +»In Ihrer Aufgeregtheit,« sagte er jetzt, sich vorbeugend, »hatten Sie +jedenfalls den Eindruck, daß der Angeklagte im Ernst sprach, als er +sagte: 'Ich habe es ja getan.' Sonst hätten Sie hernach nicht +ausgerufen: 'Sie haben es also nicht getan!'« + +Verzielli warf einen zornigen und verächtlichen Blick auf den Sprecher +und sagte entschlossen: »Was ich auch gesagt und gedacht habe, ich war +im Unrecht, und der Doktor war im Recht, und wenn er seine Frau getötet +hätte, was er aber nicht getan hat, so hätte er auch recht gehabt.« + +Eine Bewegung, mit Gelächter vermischt, ging durch den Saal. + +»Eigentümliche Auffassung,« sagte der Staatsanwalt, beide Arme in die +Seite stemmend. + +»Ich denke,« nahm der Vorsitzende das Wort, als es wieder still +geworden war, »wir lassen die Auffassungen beiseite und halten uns an +Tatsachen. Wünscht einer der Herren Kollegen oder der Herren +Geschworenen noch eine Frage an den Zeugen zu stellen? Nein? So können +wir zu Fräulein Klinkhart, der Haushälterin oder Empfangsdame des +Angeklagten, übergehen.« + + * * * * * + +Ein Fräulein von etwa fünfunddreißig Jahren trat vor, einfach, aber gut +gekleidet, schwarzhaarig, mit gerader Nase und ruhigen, braunen Augen. +Sie kam mit raschen, sicheren Schritten und sah sich um, als suche sie, +wo es etwas für sie zu tun gäbe; als ihr Blick dabei auf Deruga fiel, +nickte sie ihm freundlich und ermunternd zu. Den Eid leistete sie frisch +und freudig; sie schien zu denken, nun habe sie den Faden in der Hand +und werde den Wust schon entwirren. + +Das Verhör begann folgendermaßen: + +»Wie lange sind Sie in Stellung bei dem Angeklagten?« + +»Zehn Jahre.« Ich kenne ihn also etwas besser als Sie alle, meine +Herren, lag in diesen Worten. + +»Worin besteht Ihre Beschäftigung?« + +»Ich führe das Haus; koche das Essen, mache die Zimmer, empfange die +Patienten, schreibe die Rechnungen und so weiter.« + +»Das ist sehr viel. Standen oder stehen Sie in freundschaftlichen, ich +wollte sagen, in mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu dem +Angeklagten?« Sie runzelte die Brauen und schien eine rasche Antwort +geben zu wollen, besann sich aber und sagte kurz: »Nein.« + +»Wieviel Lohn erhielten Sie?« + +»Achtzig Kronen.« + +»Hatten Sie Nebeneinkünfte?« + +»Nein.« + +»Die Stelle muß offenbar ideelle Annehmlichkeiten haben. Sie waren +vermutlich sehr selbständig? Der Doktor behandelte Sie gut?« + +»Er mich und ich ihn. Wir passen gut zusammen. Übrigens ist es leicht, +mit =Dr.= Deruga gut auszukommen, wer es nicht tut, trägt selbst +die Schuld.« + +»Gut. Erinnern Sie sich an den 1. Oktober des vorigen Jahres? Der +Angeklagte verließ die Wohnung etwa um sechs Uhr. Sagte er Ihnen, wohin +er ginge, und wann er wiederkomme?« + +»=Dr.= Deruga sagte, er käme vielleicht nachts nicht nach Hause und +wisse auch noch nicht, ob er am folgenden Tage zur Sprechstunde wieder +da sein würde. Wenn Patienten kämen, sollte ich sie vertrösten.« + +»Glaubten Sie, daß er verreise?« + +»Ich glaubte gar nichts -- weil es mich nichts anging. Ich pflegte nie zu +fragen, wohin er ginge, nur neckte ich ihn zuweilen, weil ich wußte, daß +ihm die Frauenzimmer nachliefen. Vielleicht habe ich das auch an jenem +Abend getan.« + +»Was hatte der Angeklagte bei sich, als er fortging?« + +»Ein Paket.« + +»Wissen Sie, was der Inhalt des Paketes war?« + +»Nein.« + +»Sie wissen es nicht, aber Sie ahnten es doch vielleicht. Haben Sie ihn +etwas einwickeln sehen? Hat er in Schränken oder Kommoden gekramt?« + +»Ja, ich sah, daß er etwas suchte, und fragte ihn, was es sei. Da sagte +er ärgerlich: 'Wo, zum Teufel, haben Sie den alten Faschingströdel +versteckt?' Ich sagte, es sei alles in der Truhe auf dem Vorplatz, was +überhaupt noch vorhanden sei. Er hatte nämlich verschiedenes verliehen +oder verschenkt.« + +»Was verstehen Sie unter altem Faschingströdel?« + +»Kostüme, die er früher beim Fasching getragen hatte. In den letzten +Jahren hatte er nichts mehr mitgemacht.« + +»Was für Kostüme waren das?« + +»O, das kann ich so genau nicht sagen, was sie bedeuteten. Bauernkleider +und ein Bajazzo und ein Mönch, glaub' ich. Ich kenne mich nicht aus +damit.« + +»Vermutlich boten Sie ihm Ihre Hilfe an?« + +»Ja, aber er sagte: 'Gehen Sie zum Teufel!' Das war nicht böse gemeint, +es war so eine Redensart von ihm. Mir war es ganz recht, denn es war +nach Tisch und ich hatte in der Küche zu tun.« + +Inzwischen war der Staatsanwalt aufgestanden, gestikulierte mit seinen +langen Armen und machte Grimassen. »Mein liebes Fräulein,« sagte er, +»hatte der Angeklagte keine Reisetasche?« + +»Ja, wenn er verreiste, nahm er eine Reisetasche,« sagte Fräulein +Klinkhart. + +»Nun, mein liebes Fräulein,« fuhr der Staatsanwalt mit süßlicher +Liebenswürdigkeit fort, »sollten Sie als Dame und als Haushälterin, +teils aus Neugier und teils aus Ordnungsliebe, nachdem Ihr Brotherr fort +war, nicht nachgesehen haben, was er mitgenommen hatte? Wenn ich mich in +Ihre Lage versetze, so scheint mir, Sie mußten sich Gewißheit zu +schaffen versuchen, wie lange Ihr Brotherr fortbleiben würde. Aus dem, +was er mitgenommen hatte, ließ sich doch manches schließen.« + +Fräulein Klinkhart faltete finster die Brauen und warf einen Blick +unverhohlener Abneigung auf den Staatsanwalt. »Ich sah,« antwortete sie, +»daß in der Truhe alles durcheinandergeworfen war, und machte wieder +Ordnung. Ob etwas fehlte, weiß ich nicht, ich habe nicht darauf +geachtet. Ein Nachthemd hatte er, wie mir schien, nicht mitgenommen.« + +»Sehen Sie, sehen Sie,« rief der Staatsanwalt triumphierend und mit dem +langen Zeigefinger auf sie deutend, »dahin wollte ich Sie bringen! Also +ein Nachthemd hatte er nicht mitgenommen?« + +»Nun, und?« sagte Fräulein Klinkhart finster, »wenn er doch gar nicht +verreiste!« + +»Sehr wohl, mein liebes Fräulein,« sagte der Staatsanwalt mit entzücktem +Lächeln, »wenn nun aber kein Nachtkleid in dem Paket war, was war Ihrer +Meinung nach dann darin?« Fräulein Klinkhart zuckte ärgerlich und +ungeduldig die Achseln und sagte: »Wahrscheinlich war irgendein +Kostümstück zum Verkleiden darin, das er jemandem leihen wollte.« + +»Wollen Sie uns das Rätsel lösen?« wandte sich der Vorsitzende an +Deruga. + +»Es war ein Kimono darin,« sagte Deruga, »den mir einmal ein Patient aus +China mitgebracht hatte, und den ich der Dame, die ich besuchte, leihen +wollte.« + +»Sie sagten ja vorhin, es wäre Wäsche darin gewesen,« sagte =Dr.= +Zeunemann, den Arm auf die Lehne seines Sessels stemmend und sich nach +dem Angeklagten herumwendend. + +»Ja, können Sie sich nicht denken, daß ich das Breittreten der albernen +Kleinigkeiten satt habe?« erwiderte dieser mit einem so wütenden +Ausdruck, daß der Fragende unwillkürlich zurückfuhr. »Ich habe gesagt, +was mir gerade einfiel, und nächstens werde ich überhaupt nichts mehr +sagen. Es war ein Kimono, ein Nachthemd, eine Zahnbürste, ein Revolver +und eine Flasche Gift darin. Das ganze Paket wächst mir zum Halse +heraus.« + +=Dr.= Zeunemann wartete eine Weile und sagte dann ruhig: »Ich frage +Sie nicht aus, weil es mir Vergnügen macht, sondern weil es meine +Pflicht ist. Ich hoffe, Sie sehen das ein und entscheiden sich, was Sie +endgültig als den Inhalt des Pakets angeben wollen.« + +Derugas Züge glätteten sich. »Wahrhaftig,« sagte er mit einem +liebenswürdigen Lächeln, »ich bin ein grober Kerl, entschuldigen Sie +mich. Es war also ein Kimono in dem verwünschten Paket.« + +»Den Sie der bewußten Dame leihen wollten,« fügte =Dr.= Zeunemann +hinzu. + +»Der Fasching beginnt meines Wissens erst im Januar,« bemerkte der +Staatsanwalt. + +Deruga lachte. »Die Dame machte entweder ihre Vorbereitungen sehr früh +oder sie brauchte ihn für einen anderen Anlaß. Ich werde sie +gelegentlich fragen und es Ihnen dann mitteilen.« + +Der Staatsanwalt bebte vor Ärger, um so mehr als er auf dem Gesicht des +Justizrats und auf dem des Vorsitzenden ein belustigtes Lächeln sah, das +der letztere aber schnell unterdrückte. »Gehen wir nun,« sagte er, »zu +der Rückkehr des Angeklagten am 3. Oktober über. Was ging dabei vor? +Besinnen Sie sich noch, Fräulein Klinkhart, was =Dr.= Deruga +sagte?« + +»O ja,« antwortete sie. »Ich sagte: 'Gut, daß Sie kommen, Doktor. Es +warten einige Patienten über zwei Stunden auf Sie.' Der Doktor sagte: +'Desto schlimmer für sie, ich bin sehr müde und will mich sofort zu +Bett legen.' Ich fragte, ob er nicht wenigstens einen Augenblick selbst +mit ihnen sprechen und sie wieder bestellen wollte. Da machte er eine +abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte: 'Ich kann nicht,' und da +wußte ich, daß ich nicht weiter in ihn dringen dürfte.« + +»Fiel Ihnen denn dieses Benehmen nicht auf?« fragte der Vorsitzende. + +»Durchaus nicht,« sagte Fräulein Klinkhart. »Er leidet an Migräne, und +wenn ein Anfall kommt, hat er solche Kopfschmerzen, daß ihm alles +einerlei ist. Er legt sich dann hin, und ich muß ihn in Ruhe lassen. +Gewöhnlich ist es am anderen Morgen vorbei. Er sah auch so fahl aus, wie +er immer tut, wenn er die Migräne hat.« + +»Er ging also in sein Schlafzimmer, und Sie haben ihn bis zum folgenden +Morgen nicht gesehen? Hatte er das Paket bei sich, das er mitgenommen +hatte?« + +»Darauf habe ich nicht geachtet.« + +»Ich erinnere Sie, Fräulein Klinkhart,« sagte =Dr.= Zeunemann +streng, »daß Sie unter Eid aussagen. Es ist glaublich, daß Sie im +ersten Augenblick nicht an das Paket dachten; aber da Sie am anderen +Tage das Zimmer aufräumten, wird es Ihnen doch eingefallen sein?« + +»Das denken Sie, Herr Präsident,« sagte Fräulein Klinkhart mit einem +lebhafteren Feuer ihrer stillen, braunen Augen, »weil Sie einen Argwohn +haben und sich womöglich einbilden, es wäre irgendein Mordinstrument in +dem Paket gewesen. Ich war aber unbefangen, und deshalb fand ich das +Paket gar nicht wichtig, was es auch gewiß nicht war. Aber wenn ein +Kostüm darin gewesen war, das er jemandem geliehen hatte, so konnte er +es ja auch gar nicht wieder mitbringen.« + +»Ja, wenn,« sagte =Dr.= Zeunemann, »das stimmt. Besaß denn der +Angeklagte einen chinesischen Kimono?« + +»Chinesisches Zeug habe ich einmal gesehen,« sagte Fräulein Klinkhart. +»Nebenbei kenne ich aber nicht alles, was der Doktor besitzt. Ich bin +kein Spion.« + +=Dr.= Zeunemann blätterte eine Weile in den Akten und fragte dann: +»Hat der Angeklagte Ihnen sofort Mitteilung davon gemacht, als er die +Nachricht von der Erbschaft bekam, die ihm zugefallen war?« + +»Ja, er rief mich herein,« erzählte Fräulein Klinkhart, »denn ich war +gerade in der Küche, und er war sehr erregt und machte allerlei +Zukunftspläne und fragte mich, was ich mir wünschte, aber etwas Schönes +und Kostbares sollte es sein. Ich sagte, ich hätte nur einen einzigen +Wunsch, nämlich ein paar Brillantohrringe. Die versprach er mir, aber er +neckte mich damit, wie es so seine Art war. Wir haben sehr gelacht.« + +»Er freute sich also sehr?« + +»Gewiß,« sagte Fräulein Klinkhart ruhig, »er war geradezu toll vor +Freude. Er litt immer unter der Beschränktheit seiner Mittel und liebte +es, sich auszumalen, daß er reich wäre. Er war wie ein Kind, wenn er in +solchen Vorstellungen schwelgte. Aber oft sagte er schon eine Stunde +nachher, daß er den ganzen Bettel verachte.« + +Zum Beschluß wurden noch ein Schneider und ein Friseur vernommen, +welchen Deruga größere Beträge schuldig war. Die Eleganz des Schneiders +war nicht einschmeichelnd wie die des Hofrats von Mäulchen, sondern +vernichtend, und zwar zermalmte sie weniger die ganz armen Teufel, für +welche sie überhaupt nicht in Betracht kam, als diejenigen, die zwar +Geld hatten, aber nicht genug, oder nicht Geschmack und Erziehung genug, +um sich ihm oder einem ihm ebenbürtigen Kleiderkünstler anzuvertrauen. +Er sagte aus, er habe sehr bald Mißtrauen geschöpft, weil er =Dr.= +Deruga nicht für einen wahrhaft feinen Gentleman hätte halten können. +Er, der Schneider, habe nur hochfeine Kundschaft und sei deshalb in +diesem Punkte nicht leicht zu täuschen. Deruga sei viel zu kordial im +Verkehr mit seinen Angestellten gewesen und habe zuweilen mit ihm, dem +Schneider, Späße gemacht, die er in Gegenwart seiner Angestellten, des +Respekts wegen, nicht gerne angehört hätte. Seine diesbezüglichen +Andeutungen habe Deruga nicht verstanden. Er habe Deruga daher auch +halbjährliche Rechnungen geschickt, während er den feinen Kunden nur +jährliche schickte. Deruga sei ihm seit zweieinhalb Jahren eintausend +Mark schuldig, das sei nicht viel, und er würde einem feinen Kunden +gegenüber kein Aufheben davon machen; es könne ihm aber natürlich nicht +gleichgültig sein, wenn es sich um einen Mann mit zweifelhaftem +Charakter handle. + +Auf die Frage, ob Deruga ihm gegenüber von einer zu erwartenden +Erbschaft oder sonst von Geldquellen gesprochen hätte, die ihm zur +Verfügung ständen, sagte der Schneider mit vornehmer Zurückhaltung, +Deruga habe sehr viel geschwatzt, es könnten auch derartige Worte +gefallen sein; er befolge aber seit Jahren den Grundsatz, die privaten +Mitteilungen, die seine Kunden ihm machten, weder zu wiederholen noch zu +behalten, und sei deshalb gar nicht mehr imstande, sie sich zu merken. +Vollends wären ihm die Redereien Derugas viel zu belanglos vorgekommen, +als daß er sein Gedächtnis damit belastet hätte. + +Der Friseur betonte mit Feuer, daß Deruga ohne Zweifel die ihm +ausstehende Schuld bezahlt haben würde, wenn er ihn jemals gemahnt +hätte. Deruga sei ihm aber viel zu teuer gewesen, ein Mann nach seinem +Herzen, genial und edel, den zu bedienen er sich immer zur Ehre +angerechnet habe. Sein Auge dringe den Menschen bis ins Innerste, er +lasse sich nie durch Scheingrößen blenden, und das Geringste mißachte er +nicht. »Und wenn er mir nie einen Pfennig bezahlte, meine Herren,« rief +der Friseur mit Schwung aus, »ich würde ihm stets meine ganze Kraft +weihen und nie aufhören zu sagen, das ist ein großer Mann.« + +»War Deruga bei Ihnen,« fragte der Vorsitzende, »nachdem er von der +Erbschaft in Kenntnis gesetzt worden war?« + +»Ich darf mir schmeicheln, der erste gewesen zu sein,« sagte der +Friseur, »dem der Herr Doktor sein Herz über dieses Ereignis +ausschüttete. 'Nun werde ich dich königlich belohnen,' sagte er zu mir, +'denn du verdienst es sowohl wegen deiner Kunst wie wegen deiner +anständigen Gesinnung.' Herr Doktor pflegte mir nämlich zuweilen, wenn +er stark in Stimmung war, das trauliche Du zu geben. Ich erwiderte, mit +der Bezahlung solle er es halten, wie er wolle, nur seine Kundschaft +solle er mir nicht entziehen. 'Da kennst du Deruga schlecht!' rief er +aus, 'meinst du, ich unterschätze dein Kabinett, weil es in einem +Seitengäßchen liegt und keine goldenen Spiegel und von denkenden +Künstlern entworfene Stühle darin sind? Und wenn ich Kaiser von China +würde, auf diesem schäbigen, aber bequemen Sessel, von deiner +Meisterhand würde ich mich rasieren lassen. Ich hasse und verabscheue +das Geld, und wenn ich es nicht brauchte, um das Ungeziefer, Menschen +genannt, mir vom Leibe zu halten, würfe ich die ganze Erbschaft in den +nächsten Straßengraben.'« + +Der Staatsanwalt schüttelte mit verzweifeltem Hohnlachen den Kopf. +=Quousque tandem?= stand auf seinem Gesicht geschrieben; schreit +sein Lästern noch nicht genug zum Himmel? + +»Kam der Angeklagte täglich zu Ihnen?« fragte der Vorsitzende. + +»Ich darf wohl sagen, im allgemeinen täglich,« erwiderte der Friseur. +»Sowohl ich selbst wie meine Kunden vermißten ihn aufs schmerzlichste, +wenn er einmal ausblieb.« + +»Erinnern Sie sich, ob er am 2. und 3. Oktober des vorigen Jahres +ausblieb?« + +»Ich erinnere mich,« sagte der Friseur, »daß ich ihn im Spätsommer oder +Herbst einmal ein paar Tage lang nicht sah. Das Datum habe ich mir aber +nicht gemerkt.« + +»Sie erinnern sich auch nicht, was er, als er wiederkam, als Grund +seines Ausbleibens angab? Wie Sie mit ihm standen,« setzte =Dr.= +Zeunemann in etwas strengerem Ton hinzu, »ist anzunehmen, daß Sie ihn +danach fragten?« + +»Ich erinnere mich allerdings,« erwiderte der Gefragte, »daß ich es +unterließ ihn zu fragen, weil er schweigsam und in sich gekehrt war. Ich +bin nach meinem Beruf nur Friseur,« setzte er mit Hoheit hinzu, »aber +mir ist so viel Takt angeboren, daß das Vertrauen eines edlen Menschen +mich nicht zudringlich macht, und daß ich fühle, wann Heiterkeit und +wann Ernst am Platze ist. Gerade den Herrn Doktor habe ich nie +ausgehorcht und zum Reden anzustacheln versucht, wenn er in sich +versunken oder umwölkten Mutes zu sein schien.« + +»Was für Vermutungen,« fragte der Vorsitzende weiter, »hatten Sie denn +bei sich über das Ausbleiben des Angeklagten und über seine ungewöhnlich +ernste Stimmung?« + +»Gar keine,« sagte der Friseur, milde Mißbilligung und Belehrung im Ton, +»ich erlaubte mir gar keine.« + +=Dr.= Zeunemann gab es auf und wollte den Zeugen eben entlassen, +als der Staatsanwalt noch eine Frage an ihn richten zu wollen erklärte. + +»Hat der Angeklagte im Spätsommer des vorigen Jahres oder noch früher +eine Perücke oder einen falschen Bart oder beides bei Ihnen gekauft oder +geliehen?« + +»Ich bedaure,« sagte der Friseur mit höflich schadenfrohem Lächeln, +»aber dergleichen Artikel führe ich nicht. In einem kleinen, +bescheidenen, abgelegenen Geschäft, wie das meinige ist, lohnt sich das +nicht aus.« + +Es war schon eine vorgerückte Abendstunde, und der Vorsitzende hob die +Sitzung auf. Als der Justizrat die Hand auf die Schulter Derugas legte, +der mit aufgestütztem Kopfe dasaß, fuhr dieser herum und sah den anderen +mit blinzelnden Augen unsicher an. + +»Ich glaube, weiß Gott, Sie haben geschlafen?« fragte der Justizrat +zwischen Staunen und Entrüstung. »Ich glaube auch,« sagte Deruga; »das +letzte, was ich sah, war der Kerl, der Schneider. Der ekelte und +langweilte mich so, daß ich die Augen zumachte, und da war ich sofort +weg. Ich habe mir das in meiner Universitätszeit angewöhnt, wo ich oft +sehr müde war. Ich konnte stundenlang während der Vorlesungen schlafen, +ohne daß es jemand merkte, ausgenommen mein Freund Carlo Gabussi, der +neben mir saß. O traurige Jugend und süße Erinnerung!« + + + + +=II.= + + +Die Sitzung des nächsten Tages eröffnete =Dr.= Zeunemann mit der +Erklärung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten, +sofort vernommen zu werden, damit sie möglichst bald zu ihrer Familie +zurückreisen könne. Er habe um so weniger Anstoß genommen, ihrer Bitte +zu willfahren, als er sie nicht für wichtig halte und sie nur auf +Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr +Aufschlüsse über die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen +Frau während der ersten Zeit seiner Ehe erhalten. + +Auf seinen Wink trat eine mittelgroße Dame ein, die mit einer +ziegelroten Schabracke behängt war und auf ihrem brandroten, in vielen +Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen großen, von einem Niagarafall +weißer und blauer Straußenfedern überstürzten Hut trug. Sie trat ein +paar Schritte vorwärts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken +um sich, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Augenscheinlich +hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort +blieb der Blick hängen, ohne zunächst durch das Ergebnis seiner +Forschung befriedigt zu werden. + +Plötzlich indessen stieß sie einen Schrei aus, rief mit kreischender +Stimme: »Dodo!« und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie +hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie +hereingeführt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch +im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten +hatte. + +»Entschuldigen Sie,« sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch +hervorzog, »aber das war zu viel für mich. Dies Wiedersehen nach so viel +Jahren! Die Veränderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, närrische +Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit glühenden Kohlen herstellen, Herr +Präsident, so schwöre ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine +Unschuld zu beweisen!« + +»Die Sache ist leider nicht so einfach,« sagte =Dr.= Zeunemann mit +wohlwollender Überlegenheit. »Hingegen können Sie uns unsere Arbeit sehr +erleichtern und dem Angeklagten nützen, wenn Sie, was Sie zu sagen +haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie heißen Rosine Schmid +geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?« + +»Jawohl,« sagte die Dame, »ich gehöre nicht zu denjenigen Frauen, die +sich ihres Alters schämen. Übrigens tun die Männer auch, was sie können, +um jung zu erscheinen, besonders beim Militär, und würden es noch mehr +tun, wenn so viel für sie davon abhinge wie für uns Frauen.« + +»Frau Hauptmann,« sagte der Vorsitzende, »Sie kennen den Angeklagten +Sigismondo Enea Deruga, sind aber nicht mit ihm verwandt. Wollen Sie so +gut sein und mit Vermeidung alles Überflüssigen erzählen, wann und unter +welchen Umständen Sie ihn kennenlernten?« + +»Mit Vergnügen will ich das,« sagte Frau Hauptmann Schmid lebhaft. +»Alles will ich sagen, was ich weiß, denn dazu bin ich ja hergekommen. +Und wenn ich ans Ende der Welt reisen müßte, sagte ich zu meinem Mann, +ich täte es, um dem Dodo aus der Patsche zu helfen. Das hat er um mich +verdient, so lieb und gut wie er immer war. Und getan hat er es auch +nicht, denn wenn er auch etwas toll und originell war, der Topf voll +Mäuse, gemordet hat er sicherlich keinen Christenmenschen und am +wenigsten die gute Seele, seine Frau.« + +»Wie kommt es, daß Sie den Angeklagten einen Topf voll Mäuse nennen?« +fragte =Dr.= Zeunemann. + +»So nennt man doch,« erklärte Frau Schmid, »die Figur, die bei den +Feuerwerken gewöhnlich zuletzt kommt, wo es so kracht und prasselt, daß +man glaubt, einen feuerspeienden Berg vor sich zu haben. Es war eine Art +Kosenamen, den seine Frau ihm gegeben hatte, weil er zuweilen Anfälle +von Wut bekam, wo er Rauch und Feuer spuckte, so daß sie sich vor ihm +fürchtete.« + +»Sonderbarer Kosename,« meinte der Vorsitzende. + +»Ach, Herr Präsident,« sagte die Frau Hauptmann lachend, »er meinte es +ja im Grunde nicht böse, so wenig wie ein Topf voll Mäuse gefährlich +ist. Darum paßte der Name gerade so gut, und wir nannten ihn alle so, +obgleich es sich für mich, so ein junges Mädchen wie ich war, kaum recht +schickte.« + +»Ich bitte zu beachten,« sagte der Staatsanwalt, »daß nach Aussage der +Zeugin die damalige Frau Deruga sich vor ihrem Mann fürchtete.« + +Frau Hauptmann Schmid drehte sich schnell nach dem Sprecher herum und +sagte, während ihr das Blut ins Gesicht stieg: »Wenn Sie glauben, Sie +hätten damit einen Vorteil über den Herrn Doktor gewonnen, daß ich +gesagt habe, er sei aufbrausend, so sind Sie gewaltig im Irrtum. Die +Aufbrausenden sind die Schlimmsten nicht, und das sagt ja auch das +Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich habe oft zu meinem +Manne gesagt: 'Meinetwegen möchtest du schimpfen und fluchen, ja, sogar +in Gottes Namen zuschlagen, nur das Maulen und Scheelblicken, das +Brummen und Nachtragen, das ist mir zuwider, und ich glaube, daß einer, +dem es nie überläuft, das Herz nicht auf dem rechten Flecke hat.'« + +Der Vorsitzende machte eine abschließende Handbewegung und sagte: »Ihre +Mitteilungen, Frau Hauptmann, sind uns sehr wertvoll. Vielleicht +erzählen Sie uns zunächst, auf welche Weise Sie die Bekanntschaft des +Angeklagten machten!« + +»Sehr gern, sehr gern,« sagte Frau Hauptmann, »ich habe auf der langen +Reise immer an jene Zeit gedacht, darum ist mir alles gegenwärtig, +obschon es jetzt zweiundzwanzig Jahre her sind. Ja, zweiundzwanzig Jahre +ist es her, und einundzwanzig Jahre war ich damals alt. Die Großmutter +hatte gerade viel Geld bei der Lotterie verloren. Denn, obwohl sie sich +einbildete, ein Muster von Vernunft zu sein, konnte sie doch nicht +leben, ohne zu spielen. Und wenn sie sich das Geld hätte zusammenbetteln +müssen, gespielt mußte werden. Weil nun der Großvater ärgerlich war, was +er zwar nicht aussprach, denn das traute er sich nicht, aber er machte +ein langes Gesicht und manchmal eine spöttische Bemerkung, wollte die +Großmutter es wieder einbringen und richtete das alte Lusthäuschen am +Gartenzaun zum Vermieten ein, und es wurde eine Anzeige für die Zeitung +gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie wir abends spät um den Tisch unter +der Lampe saßen und uns abrackerten, um die Sache in richtiges Deutsch +zu bringen. Denn der Großmutter war das Schriftliche nicht geläufig, und +der Großvater wollte nichts damit zu tun haben. Erstens, sagte er, +schicke es sich für den Offiziersstand nicht, Zimmer zu vermieten -- er +war nämlich Hauptmann, aber schon lange nicht mehr im Dienst --, zweitens +möchte er keine Fremden im Hause leiden, und drittens sei es eine +Schande, arglosen Leuten die alte Baracke als Wohnung aufzuschwatzen.« + +»Ihre Großmutter war offenbar keine Deutsche,« schaltete der Vorsitzende +ein, »da ihr das Deutsche nicht geläufig war?« + +»Nein, natürlich nicht,« antwortete Frau Schmid, »sie war ja aus +Bosnien; aber sie war eine sehr schöne Frau und übrigens auch gebildet, +nur nicht in den Wissenschaften.« + +»Und Ihre Eltern?« fragte der Vorsitzende. + +»Ja, meine Eltern waren auch von dorther,« sagte die Frau Hauptmann ein +wenig errötend; »aber sie waren zu früh gestorben, als daß ich mich +ihrer hätte erinnern können, und ich sah eigentlich den Großvater und +die Großmutter als meine Eltern an. Also, um in meiner Erzählung +fortzufahren, als der Großvater das sagte, geriet die Großmutter in eine +Furie und sagte, das Lusthaus hätte der Kaiser Joseph oder Ferdinand +oder Maximilian, das weiß ich nicht mehr, für seine Geliebte gebaut, da +in dieser Gegend noch lauter Wald und Heide gewesen wäre, und es wäre +noch etwas Malerei an der Decke und eine steinerne Vase, wenn auch +zerbrochen, an der Treppe. Außerdem wolle sie es den Leuten gar nicht +aufschwatzen, nur zeigen; sie könnten ja die Augen auftun und mit Gott +wieder heimgehen, wenn es ihnen nicht paßte. Wenn die Großmutter in der +Furie war, sah sie sehr majestätisch aus; sie hatte eine gebogene Nase, +wie ein Papagei, aber schöner, Augen wie Diamanten und dickes weißes +Haar, das wie ein Schneeberg über ihrem Kopfe stand. Um sie zu +begütigen, half der Großvater doch mit bei der Anzeige, und sie lautete +schließlich so: 'Hier ist ein fesches Sommerhaus zu vermieten, auch +winters brauchbar, wenn es beliebt. Es liegt im Grünen und hat einige +Möbel. Besonders geeignet für ein junges Ehepaar.' Die Großmutter wollte +nämlich zuerst schreiben: 'für ein Liebespaar.' Da wurde aber der +Großvater beinahe böse und sagte, die Großmutter würde ihn noch um Ehre +und guten Namen bringen, und sie wäre ärger als eine Zigeunerin. Da gab +die Großmutter nach, denn sie hatte eine große Hochachtung für des +Großvaters Vornehmheit und Weltkenntnis, und es wurde statt dessen das +'junge Ehepaar' gesetzt.« + +»Und auf diese Anzeige hin kamen Herr =Dr.= Deruga und seine Frau?« +fragte der Vorsitzende. »Wann war das?« + +»Vor zweiundzwanzig Jahren, wie ich schon sagte,« antwortete Frau +Schmid; »es mag im Mai gewesen sein.« + +»Juli war es,« sagte Deruga, »denn die Linde, unter der wir abends +saßen, duftete, und der Rosentriumphbogen über der Gartenpforte blühte, +als wir das erstemal hindurchgingen.« + +Alle blickten erstaunt nach dem Angeklagten, dessen wohllautende Stimme +und melodischer Tonfall jetzt erst auffielen; was er sagte, hatte fast +wie ein kleines Lied geklungen. + +Die farbenprächtige Frau zeigte wieder eine Neigung auf ihn zuzulaufen, +unterdrückte sie aber und sagte nur: »Recht haben Sie, es war Juli! Sie +wissen es am besten und könnten überhaupt alles viel besser und schöner +erzählen als ich.« + +»Schräg über unserem Pavillon stand das Sternbild des Wagens,« sagte +Deruga, »und wenn wir nachts Hand in Hand nach Hause kamen, Mingo und +ich, sah ich ihn an und dachte: Wie bald, fliegender Wagen der Zeit, +wirst du uns von diesen schnellen, törichten Augenblicken fortführen in +das namenlose Dunkel.« + +»Ja, etwas Ähnliches muß ich wohl mal von Ihnen gehört haben,« fiel Frau +Schmid lebhaft ein; »denn im folgenden Sommer, wenn der Wagen am Himmel +stand, sah er mir immer so leer aus, und doch hatte ich sonst auch +niemand darin sitzen sehen, natürlich.« + +»Sie haben also noch zuweilen an uns gedacht, Brutta?« fragte Deruga. + +Frau Hauptmann Schmid zog ihr Taschentuch und brach in Tränen aus. + +»Ach,« schluchzte sie, »das greift mir ans Herz, wenn Sie mich bei dem +Namen anreden. Es nennt mich ja seit Jahren niemand mehr so, denn der +Großvater und die Großmutter sind lange tot, und ich möchte gar nicht +wieder hin nach dem alten Hause. Wer weiß, ob der Wagen noch +darübersteht!« + +Der Vorsitzende nahm jetzt den Faden des Verhörs wieder auf, indem er +Frau Schmid bat, sich zu beruhigen, und sie fragte, ob die Eheleute +Deruga den Eindruck eines glücklichen Paares gemacht und ob sie ihren +Großeltern gefallen hätten. + +»Und wie!« sagte Frau Schmid, »besonders der Doktor. Das heißt, dem +Großvater gefiel die Frau besser, aber er hielt sich zurück. Dagegen, +wenn die Großmutter einen leiden mochte, dann merkte man's. Und vom +ersten Augenblick an sagte sie, das wäre ein Mann für mich gewesen.« + +»Wie kam sie darauf?« fragte =Dr.= Zeunemann. »Erwies er Ihnen +Aufmerksamkeiten?« + +»Keine Spur!« sagte Frau Schmid. »Er spaßte nur mit mir, wie das so +seine Art war. Zum Beispiel sagte er mir immer, ich wäre so häßlich, daß +man mich nur mit einem Auge ansehen könnte, sonst hielte man es nicht +aus; und wenn ich ihm in den Weg kam, kniff er ein Auge zu, bald das +eine, bald das andere. Um sie zu schonen, wie er sagte. Die Grimassen, +die er dabei schnitt, waren zu komisch, daß ich nicht aufhören konnte zu +lachen, und die Großmutter lachte auch; aber sie ärgerte sich doch ein +bißchen. Das ließ sie übrigens nie an ihm aus, sondern an mir, wie ich +denn überhaupt, um die Wahrheit zu sagen, viel von ihr ausgestanden +habe; denn sie war rasch und zornig, obwohl sonst eine herrliche Frau, +die ich bis an mein Lebensende lieben und verehren werde.« + +»Empfanden Sie das Benehmen des Angeklagten nicht als unzart?« +erkundigte sich der Vorsitzende. + +»Bewahre!« sagte Frau Schmid. »Wenn einem auf solche Weise gesagt wird, +daß man häßlich ist, glaubt man hübsch zu sein. An Heiraten habe ich nie +gedacht, er hatte ja eine Frau, und noch dazu eine, die ich +schwärmerisch verehrte. Die Großmutter gewann sie erst allmählich lieb, +dann aber war sie fast mehr in sie als in den Doktor verliebt. Anfangs +hatte sie allerlei an ihr auszusetzen: sie wäre zu alt für den +Doktor -- tatsächlich zählte sie ein paar Jahre mehr --, und namentlich +wäre sie nicht feurig genug für einen so hübschen und reizenden Mann. +Ihr Gesicht wäre nicht übel, wenn man genau zusähe, aber ihre Augen +wären zu sanft und dadurch langweilig. Immer gleiche Freundlichkeit wäre +wie Milchbrei; müßte man den täglich essen, würde einem übel. Dagegen +ein gut gepfeffertes und gezwiebeltes Gulasch würde einem nie zuwider. +Nur eins ließ meine Großmutter an ihr gelten; das war ihr Nacken. Die +arme Frau trug nämlich immer den Hals frei, obschon das damals nicht so +in der Mode war wie heutzutage, und wenn sie durch den Garten ging, +leicht, wie wenn sie Flügel an den Füßen hätte, sagte meine Großmutter: +'Übrigens gefällt sie mir nicht, aber ich möchte sie einmal auf den +Nacken küssen.' + +Eines Tages, es muß im Oktober gewesen sein, weil wir die Trauben +abgenommen hatten, war die Großmutter besonders schlechter Laune wie +jedes Jahr bei der Traubenernte. In der Zwischenzeit bildete sie sich +nämlich ein, daß sie süß wären, und kam die Zeit heran, waren sie doch +wieder sauer. Morgens beim Frühstück gab sie mir eine Ohrfeige, weil ich +die Kaffeetasse umgeworfen hatte. Das heißt, sie hatte mir einen Stoß +gegeben, aber sie sagte, das wäre keine Entschuldigung, denn ich hätte +sie dumm angeglotzt. Bei der Gelegenheit sagte sie mir auch, wenn ich +wenigstens gescheit wäre, so möchte es hingehen, aber häßlich und dumm, +da könne es einen nicht wundern, daß der Doktor mich nicht genommen +habe; daß er mich als unverheirateter Mann gar nicht gekannt hatte und +mich aus dem Grunde gar nicht hätte heiraten können, leuchtete ihr +niemals ein. In der Küche stellte ich mich auch an wie ein Tölpel, sagte +sie, und doch hinge vom Kochen das Glück der Ehe ab, und daß sie große +Stücke darauf hielt, danke ich ihr noch tagtäglich, wenn mein Mann sagt, +in den feinsten Hotels von Wien und Prag schmecke es ihm nicht so gut +wie zu Hause, und doch ist er weit herumgekommen und versteht sich +darauf. + +An dem Tage nun wollte ich einen Risotto machen, und weil ich schon +einmal einen unter der Aufsicht der Großmutter gemacht hatte, dachte +ich, dabei würde es mir gewiß nicht fehlen. Ich schnitt also meine +Zwiebeln und Leber und alles und richtete das Zeug an, und plötzlich +fiel mir ein, daß ich Hunger hätte, und daß gewiß noch eine Traube +hängen geblieben wäre, die ich mir holen könnte, ohne daß die Großmutter +es merkte. Ich schüttete noch ein wenig Fleischbrühe nach und dachte, +auf die Art könnte ich es ruhig eine Weile gehen lassen. Eigentlich +nämlich muß der Risotto fortwährend gerührt werden, und das wußte ich +gut genug; aber ein bißchen keck und leichtsinnig war ich schon. Jetzt +kann ich das nicht mehr begreifen, aber in der Jugend kommt man +unversehens von einem aufs andere, wenn man sich die Zukunft ausmalt: +Verehrer, Körbe, Hochzeit und so weiter, und ich vergaß über solchen +Träumereien wahrhaftig das Mittagessen. Auf einmal steht die Großmutter +vor mir, in der Nachtjacke, das Gesicht rot wie ein glühender Ofen, und +schreit: 'Da steht sie und maust, die Dirne, die mir den ganzen Risotto +verbrannt hat!' Wahrhaftig, ich roch es selbst durch das offene +Küchenfenster, unter dem wir standen, und unbegreiflich ist es, daß ich +es nicht vorher bemerkt hatte. Und dann fiel sie über mich her, griff +mit der einen Hand in meine Haare und schlug mit der anderen so auf mich +los, daß mir zumute war, als hätte mich ein Wirbelwind gefaßt, und +drehte sich mit mir im Kreise herum. Weh tat es mir nicht, dazu war ich +zu erstaunt. Aber noch viel mehr erstaunte ich, als plötzlich die +Großmutter ihrerseits von einem Sturmwind erfaßt und zurückgerissen +wurde, und Frau =Dr.= Deruga zwischen uns stand, wie der Engel mit +dem feurigen Schwerte, der Adam und Eva aus dem Paradiese trieb, mit +Augen, die nicht blau wie sonst, sondern schwarz waren und knisterten, +so kam es mir nämlich vor in meiner Erregung. + +'Lassen Sie das Kind los, Sie abscheuliche, gottlose Hyäne!' rief sie so +laut und hart, wie sie mit ihrer weichen Stimme konnte; und nach einer +kleinen Pause sagte sie ein wenig weicher und gelinder: 'Megäre, wollte +ich sagen.' Wie sie das gesagt hatte, kam es ihr wohl selbst ein wenig +komisch vor, daß sie in den Mundwinkeln zu lachen anfing, und dann +lachte die Großmutter geradeheraus, und wie ich das hörte, lachte ich +dermaßen, daß ich ordentlich kreischte, und fiel der Frau Doktor um den +Hals, der die Tränen aus den Augen sprangen vor Lachen.« + +Während dieser Erzählung beobachteten sowohl die Richter wie =Dr.= +Bernburger in unauffälliger Weise den Angeklagten, in dessen Mienen sich +deutlich ausprägte, wie er die wiedererstehende Vergangenheit +miterlebte, seine länglichen, schöngeschnittenen Augen erglänzten wie +die Schuppen eines silbernen Fisches. Er schien seine Lage und Umgebung +vollständig vergessen zu haben und sagte unbefangen zu der alten +Freundin: »Arme Marmotte,« (so nannte er seine Frau) »arme, gute, feige +Person! So hatte sie später ihr Junges gegen mich verteidigt, das +natürlich seine Prügel ebenso verdiente, wie Sie damals, Brutta. Aber +erzählen Sie weiter, erzählen Sie: was tat die Großmutter?« + +»Der Großmutter,« fuhr die Frau Hauptmann fort, »waren die Augen auch +feucht, aber nicht nur vom Lachen, sondern gerührt war sie, gerührt über +die Frau Doktor, und machte kein Hehl daraus; denn obwohl sie, wie schon +gesagt, eher scharf und zornig war, so war sie doch ohne Falsch und +zögerte nicht, ein Unrecht zuzugestehen, wenn sie es nämlich eingesehen +hatte. Sie stemmte die Arme in die Seite und sagte: 'Also so sieht das +stille Wasser aus! Eine richtige Feuerflamme kann herausschlagen! Da bin +ich freilich so dumm wie alt gewesen. Und wenn ich heute unser Herr +Doktor wäre, würde ich Sie morgen vom Fleck weg heiraten, so gut haben +Sie mir eben gefallen. Und nun muß ich Sie auf den Nacken küssen!' Damit +umarmte sie die Frau Doktor und küßte sie nicht nur auf den Nacken, +sondern auch auf beide Backen, und dann sagte sie, der Risotto solle nun +vergeben und vergessen sein, und sie wolle für das Mittagessen sorgen, +denn kochen könne sie besser, als man es von einer gottlosen Hyäne +erwarten würde. In der Tat brachte sie in einer Stunde das feinste Essen +zusammen, nämlich Fleischpastete und Marillenknödel, und ich begreife +heute noch nicht, wie sie es machte, denn das sind Gerichte, zu denen +man seine Zeit braucht. Helfen mußte ich allerdings doch und bekam Püffe +und Kniffe, aber das schadete nicht, weil sie ein vergnügtes Gesicht +dazu machte. Nachher beim Mittagessen, an dem die arme Marmotte, ich +meine die Frau Doktor, auch teilnehmen mußte, sprach die Großmutter viel +über Erziehung, und daß namentlich die Mädchen lernen müßten, nicht so +heikel und empfindlich zu sein, denn bei den Männern wären sie nicht auf +Daunen gebettet, und wenn eine nicht einen Puff vertrüge und sich ihrer +Haut wehren könnte, ginge es ihr schlecht; die Wehleidigen und +Nachgiebigen würden nur verachtet. Eine Frau, die ihnen keinen Vorteil +brächte, sähen die Männer nur als eine Last an, deshalb müßte ein +Mädchen entweder Geld haben oder kochen können. Die arme Marmotte rühmte +ihren Mann, daß er nicht so wäre, aber die Großmutter, die doch bisher +so viel Wesens von ihm gemacht hatte, sagte, da gäbe es keine Ausnahmen. +In diesem Punkte wäre einer wie der andere, und wenn die Liebe einmal +einen uneigennützig machte, haßte er die Frau nachher doppelt, die ihn +so verblendet hätte.« + +»Warum sagen Sie immer 'arme Marmotte'?« fragte der Vorsitzende, der mit +außerordentlicher Geduld zugehört hatte. + +»Nun, weil sie tot ist,« antwortete die Frau Hauptmann nach einer Pause +etwas verblüfft. + +»Ach so,« sagte =Dr.= Zeunemann, »bei ihren Lebzeiten haben Sie +nicht so von ihr gesprochen?« + +»Bewahre,« sagte Frau Schmid, »sie kam mir im Gegenteil beneidenswert +vor. Nun ja, etwas Hilfloses hatte sie an sich, und zuweilen war sie +auch traurig und sah ängstlich aus, und da mag ich sie wohl einmal 'arme +Marmotte' genannt haben.« + +»Wissen Sie, warum sie zuweilen traurig war?« fragte der Vorsitzende. + +»Warum?« fiel Deruga höhnisch ein. »Das kann ich Ihnen sagen. Weil sie +ihren Mann nicht so liebte, wie sie sollte, weil sie an einen anderen +dachte, der besser zu ihr passen würde, und weil sie Angst vor meiner +Eifersucht hatte. Denn wir Italiener haben nicht Milch oder Wasser in +den Adern, sondern Blut, und dann werden unsere Augen blutrot, wenn wir +zornig werden.« + +Frau Hauptmann warf einen erschrockenen und tadelnden Blick auf Deruga +und sagte, zu den Richtern gewendet: + +»Er macht nur Spaß! Er war immer ein Spaßmacher und liebte es, die Leute +zu foppen und zu erschrecken.« Dann wieder zu ihm herüber: »Warum hätte +die arme Marmotte Sie denn geheiratet? Ein Kind konnte ja sehen, wie +lieb sie Sie hatte.« + +Deruga hatte bereits den Kopf wieder auf die Hand gestützt, so daß man +sein Gesicht nicht sah, und gab kein Zeichen des Anteils mehr. + +»Wenn sie sich vor ihm fürchtete,« fuhr Frau Schmid, zu den Richtern +gewendet, fort, »so war das sicherlich nicht seine Schuld, sondern es +kam von ihrer außerordentlichen Furchtsamkeit. Einmal in der Nacht fiel +etwas mit einem Betrunkenen vor. Ich erinnere mich nicht mehr genau +daran, aber ich weiß, wie sie von uns allen damit geneckt wurde.« + +Der Vorsitzende ermunterte Frau Schmid, sich zu besinnen oder zu +erzählen, was sie noch davon wisse. Dann, da ihr nichts einfiel, fragte +er Deruga, ob er sich vielleicht noch daran erinnere. + +Deruga hob den Kopf und sah aus, als habe er keine Ahnung, wovon die +Rede sei. + +»Ach, Sie wissen doch, Doktorchen,« redete ihm Frau Schmid zu. »Es kam +nachts ein Betrunkener am Pavillon vorbei und grölte so laut, daß Ihre +Frau davon aufwachte und dachte, es wäre unter dem Fenster. Es wird im +November gewesen sein, denn es war eine stürmische und regnerische +Nacht, und Sie hatten keine Lust aufzustehen und stellten sich +schlafend, während Ihre Frau fast verging vor Angst. So ungefähr war es, +erinnern Sie sich denn nicht mehr daran?« + +»O ja,« sagte Deruga, »es stellte sich eine ungewöhnliche Zärtlichkeit +bei meiner Frau ein. Ich wachte auf, weil sie sich an mich schmiegte und +ihren Kopf dicht an meinen Hals drückte, und als ich mich noch in dem +Traum wiegte, es habe sie plötzlich eine Leidenschaft für mich +überkommen, flehte sie mich an, ich solle sie vor dem Betrunkenen +schützen. 'Er ist unter dem Fenster,' sagte sie, 'im nächsten Augenblick +wird er hereinkommen. Was fangen wir an, o, was fangen wir an! Schließe +wenigstens das Fenster.' Ich rief: 'Ich werde mich hüten, das zu tun; so +bist du doch einmal zärtlich gegen mich' -- und ich habe es ausdrücklich +ziemlich bösartig gesagt, denn sie ließ mich los und drehte ihr Gesicht +nach der anderen Seite und weinte. Ich sagte noch viel beißender als +vorher, sie solle nicht so dumm sein zu weinen, und übrigens, wenn sie +sich so unglücklich fühle, brauchte sie nicht für das Leben zu zittern. +Und wenn sie zum Sterben unglücklich sei, sagte sie, sie möchte doch +nicht, daß ein ekelhafter, betrunkener Mensch sie anfaßte und erwürgte. +Daß sie gar nicht unglücklich wäre, sagte sie nicht. 'Der Kerl liegt +draußen im Straßengraben und wird singen, bis er einschläft,' sagte ich, +und dann stellte ich mich schlafend, um sie durch die Furcht zu quälen. +Nach einer halben Stunde verstummte das Geheul, und gleich darauf +schlief sie fest und ruhig, während ich wachend neben ihr lag und ihren +hübschen weißen Hals betrachtete und darüber nachdachte, wie leicht ich +ihre Kehle zudrücken könnte, fast ohne daß sie es merkte.« + +Der Staatsanwalt zuckte triumphierend seine geschwänzten Augenbrauen und +streckte, den Mund schon zum Reden geöffnet, den Zeigefinger aus, als +der Justizrat die Hand gegen ihn erhob und gleichgültig, wie man einen +nichtigen Einwand beseitigt, sagte: »Er hat es ja nicht getan. Hunde, +die bellen, beißen nicht, wie unsere Zeugin schon sagte.« + +Ehe noch der Staatsanwalt einen Laut hervorbringen konnte, erklärte +=Dr.= Zeunemann, nachdem er durch einen verbindlichen Blick nach +rechts und links die Zustimmung erbeten, aber nicht abgewartet hatte, +die Sitzung der Mittagspause wegen für geschlossen. Er wollte um drei +Uhr noch einige Fragen an Frau Hauptmann Schmid richten, und wenn seine +Kollegen einverstanden wären, könne sie dann abreisen. Der Nachtzug nach +Wien gehe um acht Uhr. + + + + +=III.= + + +=Dr.= Bernburger hatte der Sitzung in Gesellschaft eines ihm +befreundeten jungen Nervenarztes, des =Dr.= von Wydenbruck, +beigewohnt und verließ mit ihm zusammen das Justizgebäude. + +Die beiden Herren waren außerordentlich verschieden, aber durch das +gemeinsame Interesse für Psychologie, und was damit zusammenhängt, +ziemlich vertraut geworden, besonders seit Bernburger, als er infolge +von Überarbeitung an nervösen Depressionen litt, sich von =Dr.= von +Wydenbruck nach einer eignen Methode hatte behandeln lassen. Während +Bernburger klein war, von verkümmertem Wuchs, mit schwächlichen +Gliedmaßen, dabei aber ein ausdrucksvolles Gesicht und unermüdlich +kluge, aufmerksame Augen hatte, war =Dr.= von Wydenbruck von +großer, schmaler und eleganter Figur und hatte so verfeinerte Züge, daß +sie sich bei scharfer Beobachtung ganz zu verflüchtigen schienen. Sein +Gang hatte etwas Elastisches und Biegsames, als sei er stets bereit, +auszuweichen oder sich anzupassen, aber in Wirklichkeit streckte er nur +höchst bewegliche Fühler aus und blieb auf dem Grunde seines Wesens von +schwerer, glatter Unveränderlichkeit. + +»Da sind wieder einmal ein paar Hysterische zusammengekommen,« sagte er, +als sie die breite, zum Mittelpunkt der Stadt führende Straße +hinuntergingen. + +»Sie halten Deruga doch nicht für hysterisch?« sagte =Dr.= +Bernburger eifrig, an seinem Begleiter hinaufsehend. »Ich beurteile ihn +ganz anders. Daß er den Mord begangen hat, steht mir fest, und zwar hat +er ihn ohne Erregung, mit einer Ruhe ohnegleichen, ja mit einer +Selbstverständlichkeit begangen, die es ihm ermöglicht hat, keinen +Schnitzer zu begehen, der ihn verraten könnte. Die Verbrecher, die mit +sorgfältiger Überlegung zu Werke gehen, machen bekanntlich immer +irgendeinen Fehler, der ihnen zum Verhängnis wird. Deruga hat gemordet, +wie ein anderer seine Suppe auslöffelt, beiläufig, beinah mechanisch, +und darum hat er keine Spur hinterlassen.« + +»Sehr fein bemerkt,« lobte =Dr.= von Wydenbruck. »Nur die +unbewußten Handlungen sind lebendig und fruchtbar und in ihrer Art +fehlerlos und unfehlbar. Ich möchte hinzusetzen, auch tadellos.« + +»An sich meinetwegen, in bezug auf die Zweckmäßigkeit,« entgegnete +Bernburger; »aber das ist jetzt nicht unser Standpunkt. Sonst wäre ja +jeder unmoralische Mensch in seinen unmoralischen Handlungen tadellos.« + +»Ist er denn das nicht?« fragte Wydenbruck. »Aber Deruga,« fuhr er fort, +»gehört nach meinem Dafürhalten nicht dahin. Ich halte ihn und nicht +minder seine Frau für moralisch zurechnungsfähig, aber für hysterisch. +Mord ist in unserer Zeit ein nur den untersten Schichten des Volkes +angemessenes Verbrechen; tritt er in gebildeten Kreisen auf, so deutet +er auf Hysterie oder Perversität.« + +»Das stimmt für uns,« sagte Bernburger, »aber nicht für die Italiener. +Übrigens gibt es auch bei uns Umstände und Leidenschaften, die einen +Gebildeten auf natürlicher Grundlage zum Mörder machen können, zum +Beispiel Eifersucht.« + +»Ich möchte die Eifersucht selbst für das Dämonische erklären,« sagte +der andere. »Jedenfalls glaube ich, daß wir es hier mit einer +hysterischen Mordlust zu tun haben, die nichts als verdrängter +Liebestrieb ist. Obwohl Derugas Frau ihn nach Aussage dieser guten, +komischen Brutta liebte, findet er keine Befriedigung. Um mehr +herauszupressen, erregt er Furcht, ihre Angst verdoppelt seinen Genuß, +aber seine Gier bleibt ungesättigt und wird auch über ihrem Leichnam +nicht erlöschen. Diese Unglücklichen sind die eigentlichen Vampire der +Sage.« + +»Daß es das gibt, bezweifle ich nicht,« sagte =Dr.= Bernburger, +»vielleicht hat sogar jeder Mensch etwas vom Vampir in sich; doch kann +ich Ihre Methode, die äußeren Beweggründe gar nicht in Betracht zu +ziehen, nicht billigen. Sie sind vorhanden und üben ihre Wirkung aus, +so oder so.« + +»Auf Gesunde, ja,« antwortete Wydenbruck, »auf Kranke kaum oder nur, um +willkürlich verwertet zu werden. Auf Hysterie deutet bei Deruga schon +seine höchst merkwürdige Fähigkeit, sich auszuschalten, wann es ihm +paßt. Er ist überaus reizbar, leicht bis zu Tränen ergriffen, und im +nächsten Augenblick ist er wie von Stein. Er ist dann gewissermaßen +nicht mehr da. Wenn er sich darauf legte, könnte er es vielleicht dahin +bringen, sich tatsächlich zu spalten, und wir hätten dann die +Erscheinung der Doppelgängerei.« + +»Und die Frau?« forschte Bernburger; »warum halten Sie die Frau für +hysterisch?« + +»Ihre Furchtsamkeit ist ein hinreichendes Smyptom,« sagte =Dr.= von +Wydenbruck. »Beachten Sie doch, wie Mordlust und Furchtsamkeit +aufeinander eingestellt sind. Es ist höchst merkwürdig, wie solche +Naturen magnetisch zueinander hingezogen werden, um ihre +Wesenseigentümlichkeiten durcheinander aufs höchste zu steigern und ihr +Los zu erfüllen. Alle Schranken durchbrechend offenbart sich der +Selbstvernichtungstrieb als rätselhafte Leidenschaft.« + + * * * * * + +Es war, als hätten sich diese Gedanken dem Justizrat Fein mitgeteilt. +Denn als er seinen Klienten nach beendigter Sitzung traf, sagte er zu +ihm: + +»Hören Sie, Doktor, wenn wir Sie als geisteskrank hinzustellen +versuchten, hätten wir, glaube ich, Aussicht.« + +»Machen Sie das, wie Sie wollen,« sagte Deruga, »ich überlasse ja +ohnehin alles Ihnen. Da ich ein sehr guter Mensch bin und die Dinge sehe +und benenne, wie sie sind, ist es leicht möglich, daß man mich für +verrückt hält.« + +Der Justizrat sprach seine Absicht aus, Deruga zum Mittagessen zu +begleiten. Meister Reichardt werde schon etwas Eßbares haben, soviel er +wisse, führe der Alte sogar einen ganz guten Wein. Ohne einen Schluck +Wein, eine gute Zigarre und eine Tasse guten Kaffee könne er allerdings +um drei Uhr nicht weiterarbeiten. + +»Das ist recht, daß Sie mitkommen,« sagte Deruga, »so können wir noch +ein bißchen miteinander tratschen. Aber hören Sie,« unterbrach er sich +plötzlich, »kommen Sie wirklich aus Teilnahme für mich, oder wollen Sie +mich aushorchen?« + +»Ja, mein Freund,« lachte der Justizrat, »wozu bin ich denn eigentlich +da? Ich vertrete ja Ihre Interessen, und wenn Sie vernünftig wären, +erzählten Sie von vornherein alles mir, anstatt zur Unzeit und zu Ihrem +Schaden damit herauszuplatzen. Mensch, Sie machen einem, weiß Gott, das +Handwerk schwer.« + +»Wenn ich eine alte Freundin nach zwanzig Jahren unverhofft wiedersehe,« +entschuldigte sich Deruga, »komme ich natürlich ins Schwatzen. Sie +hätten mich warnen sollen. Übrigens ist es mir ja gleichgültig.« + +In Derugas kleinem, altmodisch eingerichtetem Stübchen war der Tisch +schon bereit, und es brauchte nur ein zweites Gedeck aufgelegt zu +werden. Nachdem der Justizrat seinen ersten Hunger gestillt hatte, +lehnte er sich behaglich zurück und sagte: »Sie scheinen Ihre Frau aber +doch mordsmäßig geliebt zu haben?« + +»Wieso?« fragte Deruga kühl. »In den Flitterwochen ist das doch +selbstverständlich. Seitdem habe ich Gott weiß wie viele andere +geliebt.« + +»Nun ja,« meinte der Justizrat, »aber man muß doch jedenfalls eine Frau +sehr lieben, um sich ihretwegen in eine solche Klemme zu bringen.« + +»Erstens konnte ich das nicht voraussehen,« sagte Deruga, »und zweitens +täte ich das für jeden Menschen, und es ist schlimm genug, daß das nicht +alle tun. Wenn ein Jäger ein angeschossenes Tier nicht möglichst schnell +vollends tötete, würde man ihn mit Recht einen rohen Kerl nennen. +Menschen dagegen sieht man wochenlang, monatelang Qualen leiden, bevor +sie sterben können, und hilft ihnen nicht. Schöne Nächstenliebe! Als ob +man einem überhaupt ein kostbareres Geschenk machen könnte als den Tod! +Ich wäre dem, der mir das Leben abkürzt, wenn ich nicht mehr dazu tauge, +bedeutend dankbarer als denen, die es mir gegeben.« + +»Das hat denn doch seine zwei Seiten, mein Lieber,« sagte der +Justizrat. »Da könnte schließlich jeder Neffe seinen reichen Erbonkel +umbringen und behaupten, er habe es aus Nächstenliebe getan.« + +Deruga schoß das Blut ins Gesicht. »Was meinen Sie damit?« sagte er. +»Das ist eine gemeine Anspielung, die ich mir verbitte.« + +»Erlauben Sie,« sagte der Justizrat besänftigend, »das war ganz sachlich +geredet, und wenn Sie empfindlich sind, kommen wir nicht weiter. Der +Mensch ist einmal ein Kentaur, und außer guten Antrieben gibt es auch +schlechte. Und wenn einer eine Person tötet, deren Tod ihm Vorteil +bringt, so muß man wenigstens mit der Möglichkeit rechnen, er habe es +mindestens zum Teil des Vorteils wegen getan.« + +»Sie wissen,« sagte Deruga, »daß ich von dem Testament meiner Frau keine +Ahnung hatte.« + +»Das heißt, Sie haben es mir gesagt!« berichtigte der Justizrat +gelassen. + +»Wenn Sie meinen Worten nicht glauben,« rief Deruga außer sich, »so +spreche ich überhaupt nicht mehr mit Ihnen. Was fällt Ihnen ein, meine +Verteidigung zu übernehmen, wenn Sie mich für einen gemeinen Raubmörder +halten? Das ist unanständig gehandelt, ebenso unanständig, wie wenn ich +meine Frau umgebracht hätte, um sie zu beerben. Und unanständig ist es, +unter der Maske des Wohlwollens und der Zuneigung mit mir zu verkehren.« +Er war graubleich im Gesicht geworden und hatte unwillkürlich mit der +schlanken, braunen Hand den Griff seines Messers erfaßt. + +»Ja, hören Sie mal,« sagte der Justizrat gutmütig, »wollen Sie mir +eigentlich zwischen Käse und Kaffee die Kehle durchschneiden? Sie sind +ein rabiater Italiener, und ich sollte mir jedesmal einen Blechpanzer +unterschnallen, bevor ich zu Ihnen gehe.« + +»Bevor Sie mich beleidigen, allerdings,« gab Deruga zurück; »nur würde +Ihnen das wenig nützen.« + +»Ist das eine Beleidigung,« fuhr der Justizrat fort, »wenn ich sage, ich +halte es für möglich, daß Sie von dem Testament Ihrer Frau Bescheid +wußten? Sage ich denn, daß dieser Umstand Sie zur Tat bewog? Ich sage +nur, man muß die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß dieser Umstand +mitwirkte.« + +Deruga ließ das Messer auf den Tisch fallen und lehnte sich müde in +seinen Stuhl zurück. »Die Möglichkeit ist deshalb ausgeschlossen,« sagte +er, »weil die Voraussetzung fehlt. Sie wissen, daß das Testament mich +nicht beeinflussen konnte, weil ich keine Ahnung davon hatte. Sie wissen +das, weil ich es Ihnen sagte und Sie mir glauben müssen. Das sogenannte +Publikum, das dumm ist und mich nicht kennt, braucht mir nicht zu +glauben, aber von Ihnen verlange ich es.« + +Der Justizrat schwieg eine Weile und sagte dann: »Versuchen Sie, mein +Bester, einmal einen Teil der Gerechtigkeit selbst zu üben, die Sie von +anderen in so reichem Maße verlangen! Ich habe erst seit kurzem das +Vergnügen, Sie zu kennen, und zwar lernte ich Sie unter sehr +zweideutigen Umständen kennen. Viel Gutes hört man nicht von Ihnen. Sie +führen ein Lotterleben, arbeiten nur, wenn Sie keinen Pfennig mehr in +der Tasche haben, obwohl Sie einen einträglichen Beruf und viel Verstand +haben. Sie haben sich absichtlich verkommen lassen, sind sozusagen ein +mutwilliger Vagabund. Wäre es nicht leichtfertig oder dumm von mir, wenn +ich Ihnen durch dick und dünn glaubte, auch wo etwa Tatsachen oder +berechtigte Mutmaßungen dagegen sprechen? Wären Sie nicht der erste, +mich allenfalls auszulachen und zu sagen: Der Fein ist ein echter +Deutscher, dumm wie eine Kartoffel?« + +Deruga wandte dem Justizrat mit einem liebenswürdigen Lächeln das +Gesicht wieder zu. »Für einen Deutschen sind Sie wirklich ziemlich +gescheit,« sagte er, »und dabei ein ganz guter Kerl. Aber ich sehe nicht +ein, warum Sie mich nicht die Wahrheit sagen ließen. Dann wäre diese +langweilige und ekelhafte Geschichte schon zu Ende.« + +Der Justizrat sah gedankenvoll in den Rauch seiner Zigarre und +schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen nach bester Überzeugung geraten,« +sagte er. »Daß Sie die Tat aus reinen, edlen Motiven begangen haben, +hätten Sie nicht beweisen können; umgekehrt kann man Ihnen nicht +beweisen, daß Sie sie überhaupt begangen haben, es müßten sonst noch +ganz unvorhergesehene Indizien herauskommen. Ich denke also, wenn Sie +konsequent leugnen, bringe ich Sie durch. Und das ist doch besser als +ein paar Jahre Gefängnis, wenn Sie vielleicht auch einen ganz +gemütlichen Diogenes darin vorgestellt hätten. So wagen wir einen hohen +Einsatz, können aber auch einen hohen Gewinn davontragen; im anderen +Falle bekämen wir auch im besten Falle nur Stückwerk!« + +»Und Sie sind kein Flickschneider, sondern ein Kleiderkünstler,« sagte +Deruga. »Ich gehöre aber eigentlich in die Bude des Flickschneiders.« + +»Ein echter Italiener kann ebensogut den Lazzarone wie den Edelmann +spielen,« sagte der Justizrat. »Wenn Sie erst frei und im Besitze Ihres +Vermögens sind, werden Sie diesen kurzen Schmerz vergessen und womöglich +ein neues Leben anfangen.« + +»Ein neues Leben anfangen?« lachte Deruga. »Mit sechsundvierzig Jahren! +Als ob ich nicht längst genug und übergenug davon hätte!« + +»Na, da will ich Ihnen weiter nicht hineinreden,« sagte der Justizrat. +»Sie können ja auch weiter lumpen. Jedenfalls leuchtete Ihnen mein Rat +damals ein, und Sie haben ihn aus freien Stücken angenommen.« + +»Ich tue alles, was Sie wollen, damit die Baronin Truschkowitz, diese +niederträchtige Person, das Vermögen nicht bekommt,« sagte Deruga. »Wäre +das nicht, ich ließe mich ruhig köpfen oder ins Zuchthaus sperren. Das +Leben ist einen solchen Kampf nicht wert.« + + + + +=IV.= + + +Auf der von unsicheren Frühlingssonnenstrahlen durchflackerten, breiten +Straße, die auf die Front des Justizgebäudes führte, stieß =Dr.= von +Wydenbruck auf den Oberlandesgerichtsrat Zeunemann, stellte sich vor und +sprach seine Bewunderung über die Art aus, wie der Oberlandesgerichtsrat +die Verhandlung führte. Er sei für den Einblick in eine komplizierte +Psyche, der ihm da gewährt würde, sehr erkenntlich, und er sei +überzeugt, =Dr.= Zeunemann werde noch immer mehr in ihre Tiefen und +Untiefen hineinleuchten. + +»Ich pflege meine Fragen so zu stellen,« sagte der +Oberlandesgerichtsrat, »daß alles auf den Fall Bezügliche an äußeren und +inneren Tatsachen von selbst hervorkommt. Nicht mit Hebeln und +Schrauben, wissen Sie, sondern unwillkürlich, wie sich ein Blatt +entrollt.« + +»Ja, ich habe das bemerkt,« sagte =Dr.= von Wydenbruck entzückt, +»es ist wundervoll. Sie schaffen gewissermaßen nur die geeignete +Atmosphäre, und das Spiel des Lebens entfaltet sich. Bisher haben Sie +die Bestrahlung des Tages vorwalten lassen, vielleicht lassen Sie es +auch einmal Nacht werden, lassen die Schatten aus dem Hades der Seele +aufsteigen.« + +»Sie sind Psycholog und wollen Ihre Studien machen?« sagte =Dr.= +Zeunemann. + +»Von Ihrer reichbesetzten Tafel fällt vieles ab,« erwiderte =Dr.= +von Wydenbruck verbindlich. + +Sie blieben auf der breiten Freitreppe stehen, um das Gespräch zu +beenden, während es drei Uhr schlug. »Ich kann dazu nicht so viel tun, +wie Sie glauben,« erklärte der Oberlandesgerichtsrat. »Ohne Seelenkunde +kann allerdings heutzutage kein Kriminalist auskommen, aber ich sage mit +Absicht 'Seelenkunde', um auszudrücken, daß es sich nach meiner Meinung +um keine eigentliche Wissenschaft handelt, sondern um ein angeborenes +Gefühl, man könnte es Genialität nennen. Ich lasse mich weit mehr von +meinem Gefühl als von Berechnung leiten; Sie werden sich wundern, eine +solche Ansicht von einem Juristen zu hören.« + +Während Herr =Dr.= von Wydenbruck Verwunderung und Bewunderung +ausdrückte, hatte sich der Schwurgerichtssaal gefüllt, und einer von den +Geschworenen, Geflügelzüchter Köcherle, fragte den Obmann der +Geschworenen, Kommerzienrat Winkler, neben dem er saß, wer die feine +Dame mit der langgestielten, goldenen Lorgnette in der ersten Reihe des +Zuschauerraums sei. + +»Das ist doch die Baronin Truschkowitz, die die ganze Geschichte in Gang +gebracht hat,« sagte der Kommerzienrat. »Kennen Sie denn die nicht?« + +»So sieht die aus?« rief der andere erstaunt aus. »Die hätte ich mir +sehr schäbig und unterernährt vorgestellt, weil sie von der dürftigen +Lage ihrer Kinder redet, und wie sie sich durchs Leben kämpfen müßten.« + +»Der Adel,« sagte der Kommerzienrat, die Achsel zuckend, »hat eben +andere Begriffe von dem, was man braucht und beanspruchen darf. +Übrigens, wenn einer, der viel hat, noch mehr haben kann, sagt er nie +Nein.« + +Der Geflügelhändler gab das zu, aber er fand es doch geschmacklos, sich +so kostbar zu tragen, wenn man so redete, als wimmerten seine Kinder +nach dem täglichen Brot. + +»Ihre Toilette ist aber geschmackvoll,« bemerkte ein anderer. + +»Und teuer,« setzte der Kommerzienrat hinzu, indem er einen schätzenden +Blick über die Dame gleiten ließ. + +»Der Reiherbusch auf dem Hut etwa hundert Mark, die Brillanten im Stiel +der Lorgnette vielleicht tausend Mark.« + +»Sind es echte Brillanten?« fragte der Geflügelzüchter mit großen Augen. + +»Ja, das Feuer haben nachgeahmte Steine nicht,« sagte der Kommerzienrat +beinahe hitzig. »Wenn man auch dahin kommt, Brillanten künstlich +herzustellen, so stimmt es meinetwegen nach der chemischen Formel, aber +das Feuer der natürlichen Steine ist anders. Das lasse ich mir nicht +abstreiten. Die Natur ist eben doch unerreichbar.« + +»Sind das denn auch Brillanten, die sie auf dem Hut hat?« fragte der +Geflügelzüchter. + +»Bewahre,« antwortete der Kommerzienrat mißbilligend, »dazu weiß eine +solche Dame zu gut Bescheid in Geschmacksfragen. Das ist eine moderne +Phantasieagraffe, die etwa fünfzig Mark gekostet hat. Aber Sie sind ja +das reine Kind in solchen Sachen!« + +»Stimmt,« gab der Geflügelzüchter zu, »wenn meine Frau nicht ein bißchen +nach mir schaute, wäre ich von einem Bauernknecht nicht zu +unterscheiden. Und ich will Ihnen ganz offen sagen, was man so eine +elegante Frau von Welt nennt und eine sogenannte Demimonde-Dame, kenne +ich nicht auseinander.« + +»Was Sie sagen,« rief der Kommerzienrat. »Aber das gibt es ja gar nicht! +Da muß man sich doch auskennen.« + +»Was ist denn zum Beispiel die Truschkowitz für ein Typus?« fragte der +Geflügelzüchter. »Steht das nicht ungefähr auf der Grenze?« + +»Ich bitte Sie,« sagte der Kommerzienrat, vor Schreck und Ärger +errötend, »das ist eine ganz feine Frau von Welt! Der Anzug ist der gute +Ton und die Diskretion selbst.« + +»Na, wissen Sie,« wandte der andere ein, »eine gescheite Demimonde-Dame +sollte das doch nachmachen können. So etwas lernt sich doch bald.« + +»Nein,« beharrte der Kommerzienrat, noch immer rot und erregt. »Ein +gewisses Etwas lernt sich eben nicht. Es läßt sich nicht lernen, weil es +sich nur fühlen läßt. Da gibt ein Atom den Ausschlag.« + +Der eintretende Gerichtshof unterbrach das Zwiegespräch, Frau Hauptmann +Schmid wurde wieder vorgeführt, und nachdem der Vorsitzende sie nochmals +ermahnt hatte, die Wahrheit zu sagen und nichts zurückzuhalten, faßte er +das Ergebnis ihrer bisherigen Aussage zusammen: + +»Bald nach seiner Verheiratung mit seiner um einige Jahre älteren Frau +bezog der Angeklagte eine Sommerwohnung bei Ihren Großeltern in Laibach. +Die Derugas machten den Eindruck eines glücklichen Paares, dessen Glück +immerhin getrübt wurde durch gewisse Eigenheiten des Mannes, namentlich +seine an Jähzorn streifende Heftigkeit und seine Neigung zur Eifersucht. +Soweit Sie wissen, war eine Eifersucht unbegründet. Nicht wahr, ich habe +Sie recht verstanden.« + +»Darüber kann ich doch unmöglich etwas wissen,« sagte Frau Schmid. »Denn +es handelte sich ja um Vergangenes. Daß die arme Marmotte einen anderen +gern gehabt hat, kann ja leicht sein, sie war ja gewiß schon dreißig +Jahre alt, und ich glaube es sogar; denn der Doktor wäre doch närrisch +gewesen, wenn er die Geschichte erfunden hätte, um sie und sich damit zu +plagen.« + +»Sie sagten doch aber heute morgen einmal,« hielt ihr =Dr.= +Zeunemann vor, »Sie hielten es für ausgeschlossen, daß Frau =Dr.= +Deruga sich jemals hätte etwas zuschulden kommen lassen.« + +»Zuschulden kommen lassen,« wiederholte Frau Schmid, »davon ist doch +keine Rede. Mein Gott, man wird doch einmal einen gern haben dürfen, +ohne daß einem gleich daraus der Strick gedreht wird. Ich habe doch +auch unser Doktorchen gern gehabt -- nun, das Gefühl ist im Keime +steckengeblieben --, aber wenn es auch einmal einen Kuß gegeben hätte, +was wäre dabei? Den Allzuzimperlichen traue ich am wenigsten.« + +»Sie haben aber keinen Anhaltspunkt dafür,« sagte =Dr.= Zeunemann, +»daß die damalige Frau Deruga etwaige frühere Beziehungen derzeit noch +fortgesetzt hätte?« + +»Bewahre!« rief Frau Hauptmann Schmid fast schreiend, »was meinen Sie +denn, dann wäre sie ja eine ganz infame Kröte gewesen! Da brauchen Sie +nur Herrn Doktor selbst zu fragen, der wird es Ihnen schon sagen. Ich +glaube, er spränge Ihnen gleich an die Kehle, wenn Sie ihn so etwas +fragten!« + +=Dr.= Zeunemann konnte nicht umhin zu lächeln. »Darum halte ich +mich lieber an Sie,« sagte er. »Sie halten also für möglich, daß Frau +Deruga vor ihrer Verheiratung einmal eine Neigung hatte, sind aber +überzeugt, daß derzeit jede etwaige Beziehung gelöst war. In Anbetracht +des Umstandes, daß der Angeklagte sich als Arzt zuerst in Linz +niederließ, gab er im Dezember die Sommerwohnung bei Ihren Großeltern +auf. Haben Sie später noch im Verkehr mit ihm und seiner Frau +gestanden?« + +»Sie schickten eine Anzeige von der Geburt des kleinen Mädchens,« sagte +Frau Schmid, »das nachher starb. Die Anzeige ließ ich mir von der +Großmutter schenken und habe sie noch. Ich hatte immer das Gefühl, daß +es besondere Menschen wären, und wartete lange darauf, daß sich etwas +Besonderes mit ihnen begeben würde. Daß es so käme, dachte ich freilich +nicht.« + +Nachdem noch einige Fragen über die Besuche, die Derugas empfingen, und +über ihren Geldverbrauch gestellt waren, wurde Frau Hauptmann Schmid +entlassen, und ein eleganter Herr von etwa sechsunddreißig Jahren folgte +ihr. Er sah so überaus tadellos aus, daß er an eine Figur aus dem +Modeblatt erinnerte, und auch sein Gesicht hatte einen dementsprechenden +regelmäßigen Zuschnitt; nur war es nicht glatt und rosig, sondern +blaßgrau, müde und etwas eingefallen. + +Er machte eine Verbeugung, durch welche er dem Gerichtshof den Respekt +zuteilte, den er jeder staatlichen Einrichtung, wie weit er persönlich +auch darüber stehen mochte, zugestand, und ließ unter anderen +Personalien feststellen, daß er Peter Hase heiße und in München wohnhaft +sei. Dann wurde er aufgefordert mitzuteilen, wie er die Bekanntschaft +des Angeklagten gemacht habe. + +»Wir wurden einander im Kavalier-Café, wo er verkehrte, vorgestellt. Es +ist kein Café ersten Ranges, aber ein sehr behagliches Lokal und +ziemlich viel von Künstlern besucht, weil es eigentlich für +Nichtkünstler gegründet wurde. Deruga ist dort sehr bekannt, und ich +hatte öfters von ihm als von einer eigentümlichen Persönlichkeit und +einem guten Gesellschafter sprechen hören, so daß ich mich freute, ihn +kennenzulernen. Er hatte einen bestimmten Platz an einem bestimmten +Tisch, wo sich ein ziemlich gemischter Kreis um ihn zu versammeln +pflegte.« + +»Waren Herren aus der Gesellschaft darunter?« fragte der Vorsitzende. + +»Sowohl solche wie andere,« antwortete Peter Hase, »hauptsächlich aus +der Bohème.« Er sprach das Wort so unbetont aus, daß es unmöglich +gewesen wäre, herauszufühlen, ob er Verachtung oder Sympathie oder sonst +was für den Begriff empfand. Überhaupt hatte er etwas vollkommen +Beziehungsloses; er schien keine Umwelt als leere, weiße Mauern zu +haben. + +»Traten Sie in ein intimeres Verhältnis zu Deruga?« sagte =Dr.= +Zeunemann. + +»Das nicht,« sagte Herr Hase, ohne die Zumutung, er könne zu irgend +jemandem in intimere Verhältnisse treten, im allermindesten zu rügen, +»aber er interessierte mich immer, wenn ich ihn sah.« + +»Darf ich Sie bitten,« sagte der Vorsitzende, »jetzt den Auftritt zu +schildern, der zwischen Ihnen und Deruga in dem erwähnten Café +stattfand?« + +Herr Hase verbeugte sich zustimmend. »Erlauben Sie mir die +Richtigstellung,« begann er, »daß von einem Auftritt zwischen =Dr.= +Deruga und mir insofern nicht die Rede sein kann, als ich mich in keiner +Weise aktiv dabei beteiligt habe. Es hatte damals ein Grubenunglück +stattgefunden, bei welchem eine Anzahl Arbeiter verunglückt waren, und +es wurde für die Hinterbliebenen gesammelt. An jenem Nachmittag kam eine +Dame mit einer Liste für Unterschriften und Beiträge in das Café.« + +»Eine Dame?« fragte der Vorsitzende. + +»Eine Frau, wenn Sie lieber wollen,« sagte Herr Hase, »sie war sehr +dürftig gekleidet. Sie näherte sich unserem Tisch, und da ich zunächst +saß, gab ich ihr durch eine Handbewegung oder ein Kopfschütteln zu +verstehen, sie solle sich nicht bemühen; denn ich finde Sammlungen jeder +Art in Vergnügungslokalen unpassend. =Dr.= Deruga, der im Besitz +einer außerordentlichen Beobachtungsgabe ist, hatte den kleinen Vorgang +bemerkt und rief die Dame oder Frau, die im Begriffe war weiterzugehen, +zurück. 'Warum kommen Sie nicht zu uns, liebes Kind?' sagte er. 'Kommen +Sie, wir möchten auch etwas zeichnen.' Dann überhäufte er mich mit +Vorwürfen, daß ich die Dame eigenmächtig, ohne die Absicht der +Gesellschaft zu kennen, verscheucht hätte. Um der Sache ein Ende zu +machen, griff ich schnell nach der Liste, zeichnete einen Betrag und gab +sie weiter. Als sie an Deruga kam, überlas er die Einträge und ärgerte +sich, wie ich sofort an seinem Gesicht sehen konnte, über ihre +Geringfügigkeit. 'Sehen Sie, liebes Kind,' sagte er zu der Dame, 'diese +Herren hier sind reich und haben infolgedessen, da sie sich Häuser +bauen, Autos halten und Sekt trinken müssen, kein Geld für +Arbeiterfrauen und Arbeiterkinder übrig, deren es ohnehin zu viele gibt. +Ich dagegen bin arm, sollte mich eigentlich aufhängen und brauche +infolgedessen nur einen Strick, der wenig kostet; daher bin ich in der +Lage, dreihundert Mark zu zeichnen, die ich Sie in meiner hier +angegebenen Wohnung abzuholen bitte. Übrigens können Sie einstweilen als +Pfand diese Nadel hier mitnehmen.' Er zog dabei eine eigentümliche, +augenscheinlich sehr wertvolle Nadel aus seiner Krawatte und händigte +sie der Dame ein, die, ohnehin durch sein Benehmen in Verlegenheit +gesetzt, sich weigerte, sie anzunehmen, aber endlich nachgeben mußte. +Ein paar von den Herren, die =Dr.= Deruga besser kannten als ich, +sagten zu ihm, wenn jeder etwa fünf Mark zeichnete, käme genug zusammen; +es sei doch nicht die Absicht, die hinterbliebenen Arbeiterfrauen +reicher zu machen, als man selbst sei. Er solle Vernunft annehmen und +eine seinen Verhältnissen angemessene Summe geben. Dadurch reizten sie +=Dr.= Deruga noch mehr, er wurde wütend und sprudelte im Zorne +allerlei Äußerungen hervor, die ich natürlich nur ganz ungefähr +wiedergeben könnte.« + +Der Vorsitzende bat dies zu tun, soweit es sein Gedächtnis erlaubte. + +Herr Hase verbeugte sich zustimmend. »Er sagte also ungefähr so: 'Meine +Verhältnisse? Was wissen Sie von meinen Verhältnissen? In Ihren Augen +bin ich ein armer Teufel, und Sie glauben deshalb sich über mich zu +amüsieren und mich bevormunden zu können. Sie sehen eine Art Hofnarren +in mir, der dazu da ist, Sie zu unterhalten, übrigens aber keine +Ansprüche zu stellen hat. Ich könnte ebenso wie Sie eine reiche Frau +heiraten und wäre dann in denselben Verhältnissen wie Sie. Übrigens habe +ich das nicht einmal nötig, denn ich kann jederzeit über das Vermögen +meiner geschiedenen Frau verfügen. Nach ihrem Tode werde ich ein reicher +Mann und wahrscheinlich ebenso geizig und habgierig wie Sie jetzt; also +nehmen Sie mein Geld, solange ich noch arm bin, liebes Kind!' Ich bitte +übrigens nochmals zu bedenken,« setzte Herr Hase hinzu, »daß ich +erzähle, was die Erinnerung mir aufbewahrt hat oder mir vorspiegelt. Das +beste wird sein, wenn Sie =Dr.= Deruga selbst befragen, ob er die +von mir wiedergegebenen Worte als die seinigen anerkennt.« + +Der Vorsitzende hatte kaum den Kopf nach Deruga gewendet, als dieser +vergnügt ausrief: »Vorzüglich war die ganze Schilderung und eines so +ausgezeichneten Schriftstellers würdig. Ich mache einen viel besseren +Eindruck darin, als ich für möglich gehalten hätte. Wahrscheinlich habe +ich alles das gesagt, nur hat Herr Hase, anständig wie er ist, alle die +Beschimpfungen weggelassen, die ich ihm persönlich an den Kopf geworfen +habe, über seine Herzlosigkeit, Verlogenheit, Nichtigkeit und so +weiter.« + +»Ich habe weggelassen, was nicht unbedingt zur Sache gehört,« sagte +Herr Hase gegen den Präsidenten gewendet, »allerdings hätte ich seine +Ausfälle gegen mich vielleicht nicht ganz unterdrücken sollen, weil +daraus deutlich wird, wie sehr er im Augenblick der Erregung unter der +Herrschaft seines Temperaments steht, und man nur sehr bedingterweise +Schlüsse aus den Äußerungen ziehen darf, die er in solchen Augenblicken +tut.« + +»Ich bitte um die Erlaubnis,« sagte Justizrat Fein, aufstehend, »dieser +sehr richtigen Bemerkung des Zeugen eine ähnliche hinzuzufügen. Das +Ergebnis der eben vernommenen Aussage ist hauptsächlich, daß man Deruga +überhaupt nicht zu ernst nehmen darf. Man muß in Italien gewesen sein +und die Italiener kennen, um ihn richtig zu beurteilen. Seine Reden +erinnern zuweilen an das Pathos, mit dem ein italienischer Quacksalber +auf dem Markte seine Hühneraugenpflaster anpreist: 'Meine Damen und +Herren, und wenn Ihr leiblicher Bruder hier stünde, er könnte Sie nicht +ehrlicher bedienen, als ich es tue. Nicht um meinetwillen, um +Ihretwillen stehe ich hier, denn was bedeuten die paar Pfennige, die +Sie mir geben, gegen das, was ich Ihnen verschaffe, ein schmerzloses +Dasein, einen sieghaften Gang, die Gunst der Frauen, die Bewunderung der +Männer!'« + +Während im Publikum gelacht wurde, legte =Dr.= Zeunemann seine +Stirn in leichte Falten und sagte: »Man darf immerhin nicht vergessen, +daß die Italiener als schlaue Leute von ihren nationalen +Eigentümlichkeiten sehr guten Gebrauch zu machen wissen, und daß, wer +häufig Masken trägt, deshalb doch ein Gesicht hat, wenn auch mitunter +schwer zu entscheiden sein mag, welches das echte ist. Ich will aber +jetzt nicht Philosophie treiben, sondern Tatsachen feststellen, und da +möchte ich darauf hinweisen, daß uns von dem Angeklagten noch ähnliche +Aussprüche bekannt geworden sind, die er in vollständigem seelischem +Gleichgewicht machte. Ferner möchte ich wissen, ob der Angeklagte damals +die gezeichnete Summe gezahlt hat?« + +Herr Hase bedauerte, darüber keine Auskunft geben zu können. Auf der +vordersten Reihe der Geschworenensitze erhob sich Kommerzienrat Winkler +und sagte: »Die gewünschte Auskunft gibt uns vielleicht die Nadel in der +Krawatte des Angeklagten. Es dürfte die verpfändete sein, die er also +augenscheinlich ausgelöst hat!« + +Deruga bestätigte, daß es die Nadel sei, die er gegen Bezahlung der +genannten Summe zurückerhalten habe, zog sie heraus und bot sie zur +Besichtigung an. + +»Haben Sie denn wirklich die dreihundert Mark gegeben?« fragte der +Justizrat Fein. »Wie hatten Sie denn gleich soviel Geld übrig?« Deruga +zuckte etwas ungeduldig die Schultern. »Glauben Sie denn,« sagte er, +»ich hätte mir nicht jeden Augenblick dreihundert Mark verschaffen +können? Ich brauchte mir zum Beispiel nur einen Vorschuß vom +italienischen Konsulat geben zu lassen für Übersetzungen, Untersuchungen +oder dergleichen. Deruga hat Gehirn im Schädel und keine Kartoffeln.« + +Inzwischen hatte der Vorsitzende die Nadel betrachtet und fragte Herrn +Hase, ob es dieselbe sei, die der Angeklagte an jenem Abend als Pfand +gegeben habe, was Peter Hase, nachdem er einen diskreten Blick darauf +geworfen hatte, bejahte. + +»Es ist ein auffallend schönes Stück,« sagte =Dr.= Zeunemann, in +den Anblick der Nadel versunken, die einen Mohrenkopf mit Turban +darstellte; der Kopf bestand aus einer schwarzen, der Turban aus einer +weißen Perle, und der letztere war reich mit Rubinen und Smaragden +besetzt. + +»Ein Geschenk meiner verstorbenen Frau,« sagte Deruga, indem er die +Nadel wieder in Empfang nahm. »Sie meinte, sie sei wie gemacht für einen +Othello wie mich.« + +Nach diesem Zwischenfall fragte der Vorsitzende den Zeugen, ob er noch +irgend etwas hinzuzufügen habe. Über Herrn Hases unbewegliches Gesicht +ging zum ersten Male ein schwaches Erröten; seine Aufmerksamkeit war +nämlich durch die Baronin Truschkowitz abgelenkt worden, die, in der +ersten Reihe der Zuschauer sitzend, sich weit vorgebeugt und die von dem +Präsidenten gehaltene Nadel mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit +betrachtet hatte. Angeredet, drehte er sich erschreckt um und sagte, +daß er nichts mehr zur Sache mitzuteilen wisse, aber bereit sei, auf +fernere Fragen zu antworten. + +Peter Hase verließ nach Schluß der Sitzung das Gerichtsgebäude nicht, +sondern wartete auf =Dr.= Zeunemann, stellte sich ihm vor und bat, ein +paar Fragen an ihn richten zu dürfen, worauf der Oberlandesgerichtsrat +ihn in sein Zimmer mitnahm. Hauptsächlich wünschte Herr Hase zu wissen, +welche Strafe den Angeklagten etwa treffen könnte, falls er wider +Erwarten verurteilt würde. + +»Ja, sehen Sie, Verehrtester,« antwortete =Dr.= Zeunemann, während +er seinen Talar mit dem Gehrock vertauschte, »bis jetzt geht die Anklage +nur auf Totschlag, und dabei würde er mit ein paar Jahren Zuchthaus +davonkommen. Aber unser Staatsanwalt sieht es eigentlich als Mord an, +und wenn noch irgendein dahinzielendes Indizium auftaucht, kann die +Geschichte bedenklich werden. Wenn zum Beispiel festgestellt würde, daß +der Mann mit dem Inhalt des Testaments bekannt war, ja, dann würde die +Meinung des Staatsanwalts wahrscheinlich durchdringen, und in dem Falle +würden wir auch sofort, so leid es mir tut, zur Verhaftung schreiten +müssen.« + +»Darf ich fragen,« erkundigte sich Herr Hase, »wie Sie persönlich die +Sache beurteilen?« + +»Ich bin zu sehr Psychologe,« sagte =Dr.= Zeunemann, »um nicht +einen gewissen Anteil an problematischen Charakteren zu nehmen. Was für +eine Grundfarbe dieses Chamäleon eigentlich hat, darüber bin ich, um die +Wahrheit zu sagen, noch nicht ins klare gekommen.« + +»Warum sollte er überhaupt eine Grundfarbe haben?« sagte Herr Hase +verhältnismäßig lebhaft. »Der schimmernde Wechsel ist die Natur dieses +fabelhaften Geschöpfes. Ich habe eine große Sympathie für Chamäleons,« +fügte er nach einer Pause hinzu. + +»Ich verstehe, ich verstehe,« erwiderte =Dr.= Zeunemann, »schön, +aber schlüpfrig. Die ästhetische Betrachtungsweise ist sehr verschieden +von der moralischen und diese nicht immer identisch mit der +juristischen.« + +Er war im Begriff, einen breitrandigen Filzhut vom Gestell zu nehmen, +als es klopfte und auf sein unwirsches Herein die Baronin Truschkowitz +auf der Schwelle erschien, der der Staatsanwalt die Tür öffnete. + +»Lieber Präsident,« sagte sie rasch, indem sie ihm ihre in einem weißen, +festanliegenden Lederhandschuh steckende Hand reichte, »ich weiß, daß es +im höchsten Grade zudringlich ist, Sie in Ihrem Heiligtum und noch dazu +um diese Zeit zu überfallen, aber Sie sind zu ritterlich, um mich +hinauszuwerfen, und ich bin zu unedel, um Ihre Höflichkeit nicht +auszunutzen.« + +=Dr.= Zeunemann stieß einen komischen Seufzer aus. »Machen Sie es +wenigstens kurz, Frau Baronin,« sagte er. + +Sie lachte ein helles, jugendliches Lachen, in dem ein girrender Ton +war, der etwas Verführerisches hatte. »Ich mache es schon kurz,« sagte +sie, »wenn nur Sie, Herr Präsident, es nicht in die Länge ziehen. Es +betrifft die Nadel, die Sie heute in der Hand hatten und jenem Menschen +zurückgaben. Ich erkannte sie sofort wieder als ein Erbstück meiner +Urgroßmutter, das heißt, meiner und meiner verstorbenen Kusine +Urgroßmutter. Es ist mir unleidlich, dies kostbare Andenken in den +Händen jenes Menschen zu wissen, und ich möchte Sie bitten zu bewirken, +daß sie mir eingehändigt wird.« + +»Ihnen, Frau Baronin,« sagte =Dr.= Zeunemann erstaunt, »ja, gehört +sie denn Ihnen?« + +»Natürlich,« sagte die Baronin, »ich bin bekanntlich die nächste +Verwandte der Verstorbenen.« + +=Dr.= Zeunemann war so betroffen, daß er sich unwillkürlich setzte, +nicht ohne auch der Baronin durch eine Gebärde einen Stuhl anzubieten. +»Aber die Nadel gehörte ja gar nicht Ihrer Kusine,« sagte er, »sie hatte +für gut befunden, sie zu verschenken.« + +»Leider,« sagte die Baronin, »aber hernach hat sie sich scheiden lassen, +und in solcher Lage geben sich anständige Menschen ihre Geschenke +zurück. Außerdem hat er sie doch umgebracht! Da kann man ihn doch nicht +ihre Nadel tragen lassen.« + +Die ratlosen Blicke, die der Oberlandesgerichtsrat mit dem Staatsanwalt +wechselte, brachten sie durchaus nicht aus der Fassung. »Nun?« fragte +sie mit einem energisch aufmunternden Nicken. »Sie sehen, daß Sie es +sind, der die Sache in die Länge zieht.« + +»Da Sie mir befehlen kurz zu sein,« sagte =Dr.= Zeunemann, der sich +inzwischen gesammelt hatte, »so sage ich Ihnen rund heraus, daß Ihr +Wunsch unerfüllbar ist. Selbst wenn =Dr.= Deruga verurteilt würde, +könnten wir ihm nicht nehmen, was ihm gehört; aber noch ist er nicht +verurteilt und hat einstweilen Ihre verstorbene Frau Kusine so wenig +umgebracht wie -- verzeihen Sie -- wie Sie und ich.« + +»Herr Präsident,« rief die Dame mit einem vorwurfsvollen Blick ihrer +graublauen Augen aus, »verlieren denn wirklich gerade die +Rechtsgelehrten allen Sinn für das natürliche und menschliche Recht?« + +»Ihr Recht wird Ihnen werden, Frau Baronin,« beeilte sich jetzt der +Staatsanwalt zu versichern. »Ich bin überzeugt, daß, wenn es unserer +Einsicht und Arbeit nicht gelingen sollte, die Vorsehung selbst die +Wahrheit ans Licht bringen wird.« + +»Und die Nadel?« fragte die Baronin. »Ich sammle solche Sachen, und das +schönste Stück, auf das ich Erbansprüche habe, soll in den Händen eines +solchen Menschen bleiben?« + +»Dafür machen Sie Ihre Urgroßmutter, aber nicht uns verantwortlich,« +sagte =Dr.= Zeunemann lachend, indem er aufstand und wieder nach +seinem Hute griff. + +»Sie sind ein steinharter, gepanzerter, undurchdringlicher Jurist,« +schmollte die Baronin. + +»Aber ein weicher, für die Reize schöner Damen sehr empfänglicher +Mensch,« fügte =Dr.= Zeunemann versöhnlich hinzu. + +Als sie alle zusammen aufbrachen, bat die Baronin, mit Peter Hase +bekannt gemacht zu werden. »Sie sind mir kein Fremder,« sagte sie +liebenswürdig zu ihm, »da ich Ihre Bücher kenne und bewundere. Es +tröstet mich über den abscheulichen Prozeß, daß ich ihm eine so +wertvolle Begegnung verdanke.« + +Sie forderte ihn auf, sie und ihren Mann im Hotel zu besuchen, falls er +noch einige Zeit hierbleibe, und als sie ihren Wagen warten sah, +verabschiedete sie sich von den beiden anderen Herren, indem sie +lächelnd sagte: »Ich bekomme die Nadel doch noch, das weissagt mir mein +Gefühl.« + +Die Herren gingen noch ein paar Schritte miteinander. »Wie reizend und +anziehend,« sagte =Dr.= Zeunemann, »ist doch der gänzliche Mangel +an Logik und Objektivität an Frauen. Wenigstens für uns Männer.« + +»Und ihre Grausamkeit!« setzte Herr Hase anerkennend hinzu. + +»Ich halte sie mehr für gedankenlos,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Wie +alt schätzen Sie übrigens diese Frau? Sie hat eine erwachsene Tochter, +da muß sie doch schon zweiundvierzig Jahre alt sein.« + +»Eher älter,« sagte Peter Hase, »sie ist sehr gepflegt und sehr +geschickt angezogen.« + +»Natürlich, natürlich,« sagte =Dr.= Zeunemann, »keine Arbeit, keine +Sorgen, das erhält jung.« + +Auch den Kommerzienrat Winkler beschäftigte die Baronin Truschkowitz, +und er suchte eine Gelegenheit, =Dr.= Bernburger ein wenig nach ihr +auszufragen. »Sie hat Charme, Schick, Grazie,« sagte er zu ihm, »aber +gefährlich viel Temperament.« + +»Dazu bin ich ja da, um das zu kontrollieren,« sagte =Dr.= +Bernburger. + +»Ich habe beobachtet,« fuhr der Kommerzienrat fort, »daß sie es +vermeidet, Deruga anzusehen, obschon sie sonst scharf aufpaßt. Sie setzt +sich so, daß er nicht in ihr Gesichtsfeld kommt. Haben früher +irgendwelche Beziehungen zwischen ihnen stattgefunden?« + +»Sie kennt ihn gar nicht,« sagte =Dr.= Bernburger, »aber sie hat +ihn von jeher gehaßt.« + +»Also blinde Voreingenommenheit?« meinte Herr Winkler. + +»Nun ja,« sagte =Dr.= Bernburger, »aber das macht ihn nicht +besser.« + +Der Kommerzienrat lachte. »Wie verhält sich denn ihr Mann dazu?« fragte +er. + +»O, er gibt ihr den Arm und ist neben ihr,« sagte =Dr.= Bernburger. +»Übrigens ist er ein feiner Mensch. Selbst seine Dummheit hat etwas an +sich, daß man unwillkürlich den Hut vor ihr abnimmt.« + +»Dumm sein, mit der Frau!« sagte der Kommerzienrat, »na, ich +gratuliere!« + +»Da können Sie sich täuschen,« entgegnete der Anwalt. »Ob sie Respekt +vor ihm oder Grundsätze hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie eine +kalte Kokette.« + +Der Kommerzienrat schüttelte sich. »Das wäre nichts für mich,« sagte er. +»Ich glaube, da möchte ich noch lieber betrogen werden.« + + + + +=V.= + + +Der Präsident eröffnete die Sitzung mit den Worten, daß die nächsten +Zeugenverhöre sich mit der letzten Lebenszeit der verstorbenen Frau +Swieter beschäftigen würden, und daß er hoffe, es würde von dieser Seite +aus mehr Licht auf die noch nicht völlig aufgeklärten Vorgänge fallen. +Man sei bis jetzt davon ausgegangen, daß der Angeklagte von dem Inhalt +des Testaments keine Kenntnis gehabt habe. Die einzige Person, die darum +gewußt habe, sei die nächste Freundin der Verstorbenen, Fräulein +Kunigunde Schwertfeger. Es sei nicht unmöglich, daß durch deren Aussage, +falls sie nämlich die bisher beobachtete Zurückhaltung aufgäbe, das Bild +erheblich verändert würde. + +Es war für jedermann sichtbar, daß es Fräulein Schwertfeger +Selbstüberwindung kostete, den Saal zu betreten. Sie war einfach und +nicht nach der Mode gekleidet, eine unauffällige Erscheinung, die nur, +wenn man sie eingehend betrachtete, Besonderheit und Reiz verriet. +Beides fand man dann reichlich in den fast zu großen, offenen, grauen +Augen, in der zu kurzen Nase, in dem kleinen, stets etwas geöffneten +Munde und in dem Mienenspiel, das das ohnehin unregelmäßige Gesicht +beständig bewegte. Wahrscheinlich, weil sie sich einer kindlichen +Unfähigkeit zur Verstellung und einer Neigung unbedacht herauszuplaudern +bewußt war, wappnete sie sich unter Fremden gern mit Vorsicht und +Verschwiegenheit, was ihr, verbunden mit der Scheu vor der +Öffentlichkeit, den Ausdruck eines kleinen Tieres im Käfig gab, das +gewohnt ist, geneckt zu werden und sich zur Wehr setzen zu müssen. + +Nachdem =Dr.= Zeunemann ihr den Eid abgenommen hatte, forderte er +sie auf, das zur Aufklärung des Falles Dienliche ohne Vorbehalt zu +sagen. Es gebe Leute, fügte er hinzu, die sich für wahrheitsliebend +hielten und doch unter Umständen ein Verschweigen, eine Lüge für +erlaubt, ja sogar für verdienstlich ansähen. »Gehören Sie zu denen?« +fragte er. + +Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann, indem sie die großen Augen +fest auf ihn richtete: »Ja, das tue ich.« + +Ihre kleinen, verarbeiteten und nicht schön geformten Hände schlangen +sich dabei fest ineinander. + +»Das sind ja gute Aussichten,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Haben Sie, +wenn ich fragen darf, von vornherein die Absicht, uns die Wahrheit nur +in Auszügen und Bearbeitungen zuzuteilen?« + +Sie schüttelte den Kopf und lächelte, ein lustiges Lächeln, das im Nu +ihr ganzes Gesicht überrieselte. »Nein, nein,« sagte sie treuherzig, +»ich habe die Absicht, die Fragen, die Sie an mich richten werden, nach +bestem Wissen und Vermögen wahrheitsgemäß zu beantworten. Es ist ja +nicht gesagt, daß die vorhin erwähnten Umstände hier vorliegen.« + +»Nun das ist brav,« sagte der Vorsitzende. »An die schweren Folgen eines +Meineides brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern. Nur das will ich +sagen, daß wir kurzsichtigen Menschen allemal am besten tun, jede Lüge +schlechthin für Lüge, im häßlichsten und abscheulichsten Sinne, +anzusehen und uns an die Wahrheit zu halten. Die Folgen liegen in Gottes +Hand. Jene Sophismen oder Trugschlüsse, die uns eine Lüge für geboten +erscheinen lassen wollen, können gefährliche Irrlichter sein.« + +Fräulein Schwertfeger nickte ernsthaft. + +»Wollen Sie uns und den Herren Geschworenen zunächst ausführlich +erzählen, was Sie von der Entstehung des Testamentes der verstorbenen +Frau Swieter wissen! Da Sie von früher Jugend an miteinander befreundet +waren, wird sie vor der Aufsetzung des Testamentes mit Ihnen davon +gesprochen, vielleicht Sie um Ihren Rat gefragt haben?« + +»O nein,« antwortete Fräulein Schwertfeger schnell, »sie sagte wohl +immer: 'Was meinst du dazu, Gundel? Soll ich das tun, Gundel?' Aber das +war nur eine Form der Höflichkeit oder Herzlichkeit. In wichtigen Dingen +beanspruchte sie nie Rat und hätte ihn nie angenommen.« + +»Um Rat also hat sie nicht gefragt?« sagte =Dr.= Zeunemann. »Aber +die Beweggründe ihres Willens wird sie doch angegeben haben?« + +»Ja, das hat sie getan,« antwortete Fräulein Schwertfeger. + +»Die Verstorbene war schon seit acht Jahren krebsleidend,« sagte +=Dr.= Zeunemann. »Hat ihr das nicht schon früher, bevor sie das +Testament aufsetzte, Anlaß gegeben, über ihre letztwilligen Verfügungen +zu sprechen?« + +»Mit mir nie,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Und ich glaube, überhaupt +nicht. Die Ärzte suchten sie doch immer über den wahren Charakter ihres +Leidens zu täuschen, und sie kam ihnen darin entgegen, erstens, weil ihr +überhaupt leicht etwas weiszumachen war, und dann, weil sie in diesem +Falle das Bedürfnis hatte, getäuscht zu werden. Sie wollte leben und +hoffen. Dazu kommt, daß sie sich nach einer Operation immer wieder +vollkommen gesund fühlte.« + +»Wie kam es denn,« sagte =Dr.= Zeunemann, »daß sie doch zuletzt an +das Testament dachte?« + +»Nun, das ist klar,« sagte Fräulein Schwertfeger, »weil es damals +wirklich dem Ende zuging und sie das fühlte. Als ihr vor einem Jahre der +schreckliche Anfall kam, nach welchem sie nicht wieder aufgestanden ist, +war sie sehr betroffen und wußte, daß sie nicht wieder gesund werden +würde. Sie sprach es nicht aus, aber ich fühlte oft, daß sie es dachte.« + +Aufgefordert, den Vorgang ausführlich zu schildern, erzählte Fräulein +Schwertfeger: + +»Eines Nachmittags, da ich sie wie gewöhnlich besuchte, empfing sie mich +mit den Worten, ich käme im rechten Augenblick. Sie habe eben +beschlossen, ihr Testament zu machen, und ich müsse ihr dabei behilflich +sein. Wenn sie wieder gesund würde, so mache es ja nichts, aber sie +müsse doch auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie diesmal +nicht davonkäme, und ohnehin sei es leichtfertig von ihr, so alt wie sie +sei, es noch nicht getan zu haben. Es wäre doch zu sinnlos, wenn die +Verwandten ihr Geld bekämen, die ihr fast ganz fremd und die außerdem +reich wären. Ich sagte, sterben würde sie noch lange nicht. Ich sähe sie +schon im Geiste vor mir, frisch und stark und leichtfüßig wie früher. +Darauf antwortete sie nichts, aber in ihren Augen sah ich, was sie +dachte, und sie las wohl dasselbe in meinen.« + +»War sie aufgeregt?« fragte =Dr.= Zeunemann. + +»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger, indem sie mit einer heldenmütigen +Anstrengung die bei der Erinnerung aufsteigenden Tränen verschluckte, +»nicht besonders, nur im Anfang zitterte die Stimme ein wenig. Dann +sagte ich, daß ich nicht gern mit Testamenten und solchen Sachen zu tun +hätte, besonders wenn es sie anginge. Aber sie hätte ganz recht. Wenn +man Vermögen besäße, müsse man ein Testament machen, und sie hätte es +schon längst tun sollen. Was sie denn mit ihrem Gelde vorhätte, wenn +ihre Verwandten es nicht bekommen sollten? Sie wurde darauf sehr +verlegen und machte eine lange Vorrede, ich würde gewiß erstaunt sein +und sie auslachen und sie schelten, bis sie mir endlich sagte, daß sie +=Dr.= Deruga zu ihrem Erben einsetzen wollte.« + +»Bitte, einen Augenblick,« unterbrach =Dr.= Zeunemann. »Ihre +Freundin setzte voraus, daß der Entschluß Sie überraschen würde. Hatte +sie früher einmal andere Pläne geäußert? Wenn man Sie vorher nach den +Absichten Ihrer Freundin gefragt hätte, hätten Sie gar keine Ahnung oder +Meinung gehabt?« + +»Doch, das hätte ich,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Ich hatte immer +geglaubt, sie würde eine Stiftung für arme Kinder machen, zum Andenken +an ihr eigenes verstorbenes Kind, und weil sie überhaupt Kinder so sehr +liebte. Sie pflegte zu sagen, schlecht ernährte, traurige Kinder wären +ein Schandfleck der Gesellschaft. Sie ging darin so weit, daß sie jedes +Kind, das sie zufällig schreien hörte, für ein mißhandeltes hielt. Ich +sagte oft zu ihr, um sie zu trösten: 'Weißt du, das ist wirklich ein +eigensinniger Balg.' Aber im Grunde glaubte sie mir nicht. Wir hatten +auch von Einrichtungen gesprochen, die man zugunsten armer Kinder machen +könnte.« + +»Erinnerten Sie sie denn nicht daran?« fragte =Dr.= Zeunemann, +»oder hielt sie es nicht von selbst für nötig, ihre Sinnesänderung zu +erklären?« + +»Sie sagte, sie hätte bei Stiftungen immer den Verdacht, das Geld käme +gar nicht denen zugute, für die man es bestimmt hätte.« + +Fräulein Schwertfeger stockte, nachdem sie dies erklärt hatte, und war +augenscheinlich ungewiß, ob sie noch was hinzufügen müsse oder +fortfahren dürfe. + +»Und irgendeinen Weg, diese Gefahr zu vermeiden, hatte ihre Freundin nie +ins Auge gefaßt?« ermunterte der Vorsitzende. + +Das Fräulein faßte nach kurzem Kampfe augenscheinlich Mut und sagte: + +»Sie hatte die Absicht gehabt, ihr Vermögen mir zu vermachen, sowohl, +damit ich mein Leben bequemer einrichten könnte -- meine Freundin stellte +sich das Leben einer Zeichenlehrerin nämlich sehr mühsam vor -- und dann, +weil sie wußte, ich würde in ihrem Sinne damit für arme Kinder wirken.« + +»Ja so!« sagte =Dr.= Zeunemann, »Ihnen hatte sie ihr Vermögen +vermachen wollen. Das ist doch aber keine Kleinigkeit, wenn man in einer +solchen Sache plötzlich umschwenkt. Das muß sie Ihnen doch erklärt und +entschuldigt haben?« + +Fräulein Schwertfeger machte ein stolz abwehrendes Gesicht. »Das mußte +sie gar nicht,« sagte sie, »wir waren doch befreundet. Allerdings +bedrückte es sie, und sie wollte mir weitläufig auseinandersetzen, warum +sie so handelte. Sie hätte einmal gehört, daß es =Dr.= Deruga +schlecht ginge, und daß er sehr heruntergekommen wäre, und daran müsse +sie fortwährend denken. Er sei der Vater ihres geliebten Kindes und +hätte sie liebgehabt, und sie könne sich noch immer nicht von dem +Gedanken entwöhnen, daß, was ihr gehöre, eigentlich auch sein sei. Kurz, +sie würde nicht ruhig sterben können, wenn sie ihn nicht durch ihr +Vermögen vor Not geschützt wisse. Natürlich ließ ich sie gar nicht +ausreden, sondern tröstete sie und versicherte sie, daß das Geld mich +nur in Verlegenheit setzen würde, weil ich denken würde, ich müsse es +irgendwie ausgeben und wisse nicht wie, und daß ich mein Leben nicht +anders einrichten möchte, weil ich es einmal so gewöhnt wäre und ich +mich wohl dabei fühlte. Das Geld würde mich nur an ihren Verlust +erinnern und mir dadurch verhaßt werden.« + +»Es ist doch aber sonderbar,« sagte der Vorsitzende, »daß Ihre Freundin +Ihnen nicht wenigstens ein Legat ausgesetzt hat wie ihrem +Dienstmädchen.« + +»Das unterließ sie auf meinen Wunsch,« sagte Fräulein Schwertfeger kurz. + +»Ich bitte einen Augenblick ums Wort,« schaltete plötzlich der +Staatsanwalt ein. »Nach der Darstellung der Zeugin hatte ich den +Eindruck, als habe die von ihr mitgeteilte Unterredung, der sich die +Abfassung des Testamentes anschloß, gleich nach der letzten, schweren +Erkrankung ihrer Freundin, also im März oder April, stattgefunden. +Dagegen ist das vorliegende Testament vom 19. September, also vierzehn +Tage vor dem Tode derselben, datiert.« + +Fräulein Schwertfeger entgegnete nichts, sondern warf nur einen langen, +feindseligen Blick auf den Fragesteller, wie auf einen unberufenerweise +sich Einmischenden, und sah dann wieder den Vorsitzenden an. + +»Wollen Sie uns darüber aufklären, mein Fräulein,« bat dieser +freundlich. + +»Meine Freundin schrieb das Testament zuerst im Frühling,« sagte +Fräulein Schwertfeger, »und am 19. September schrieb sie es noch einmal +ab.« + +»Es blieb also unverändert?« fragte der Vorsitzende. + +»Meine Freundin erhöhte die Summe, die sie der Ursula, ihrem +Dienstmädchen, ausgesetzt hatte,« sagte Fräulein Schwertfeger. + +»Vermutlich,« sagte =Dr.= Zeunemann, »hatte das Mädchen sie während +ihrer schweren Krankheit so gut verpflegt, daß sie ihre Dankbarkeit mehr +zum Ausdruck bringen wollte.« + +Fräulein Schwertfeger nickte und sah den Vorsitzenden herzlich an. +»Dafür,« setzte sie hinzu, »fiel jetzt auf meinen Wunsch das Legat fort, +das in der ersten Fassung mir ausgesetzt war.« + +»Wenn es so weiter geht, wird unvermerkt noch ein ganz neues Testament +aus der unveränderten Abschrift,« bemerkte der Staatsanwalt mit +diabolischem Kichern. + +»Sie hatten also anfänglich nichts gegen das Legat einzuwenden gehabt,« +sagte der Vorsitzende. »Aus welchem Grunde lehnten Sie es jetzt ab? Es +war doch nichts zwischen Sie und Ihre Freundin getreten?« + +»O nein, nein,« beteuerte Fräulein Schwertfeger lebhaft. »Ich gab nur +damals nach, um sie nicht aufzuregen; aber ich beschloß von Anfang an, +das Legat gelegentlich rückgängig zu machen, weil es mir nicht paßte.« +Da sie das spöttisch-ungläubige Lächeln des Staatsanwalts bemerkte, warf +sie mit einer kleinen, trotzigen Gebärde den Kopf zurück und preßte die +Lippen zusammen. + +Nach einer Pause nahm der Vorsitzende das Verhör wieder auf, indem er +fragte: »Ist die Verstorbene in der Folge, ich meine nach der ersten +Abfassung, noch öfters auf das Testament zurückgekommen?« + +»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger entschieden. »Es war kein +angenehmer Gesprächsgegenstand für uns beide.« + +Der Staatsanwalt lachte hörbar, als wolle er sagen, es scheine auch +jetzt keiner für sie zu sein, worauf sie einen vernichtenden Blick nach +der Richtung seines Platzes warf. + +»Hat Frau Swieter Ihnen nie erzählt oder Andeutungen gemacht,« fragte +der Vorsitzende mit freundlicher Dringlichkeit, »ob irgendein besonderer +Anlaß vorlag, der sie bewog, ihr Testament zugunsten des Angeklagten zu +machen? Sie sprach, wie Sie erzählten, davon, daß es ihm schlecht ginge, +daß er heruntergekommen sei. Wie war ihr das zu Ohren gekommen? Hatten +sich vielleicht Gläubiger von ihm an sie gewendet? Oder sollte er selbst +sie um Geld angegangen haben?« + +»Das weiß ich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger, »aber ich glaube es +nicht, weil sie es mir gewiß erzählt haben würde. Sie hätte mir dadurch +ihr Testament ja viel leichter erklären können. Daß es Herrn =Dr.= +Deruga nicht gut ging, wußte sie schon lange; es gibt unzählige Wege, +auf denen einem solche Gerüchte zu Ohren kommen.« + +»Sprach Ihre Freundin zuweilen mit Ihnen über den Angeklagten?« fragte +=Dr.= Zeunemann. + +»Nein, fast nie,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie glaubte, daß ich +kein Verständnis für ihn hätte.« + +»Also,« fiel der Staatsanwalt ein, »konnten sehr wohl Beziehungen +zwischen Ihrer Freundin und ihrem geschiedenen Gatten bestehen, ohne daß +Sie Kenntnis davon hatten.« + +Fräulein Schwertfeger warf den Kopf zurück und kräuselte verächtlich +ihre kurze Oberlippe. + +»Es soll selbstverständlich nichts Nachteiliges über Ihre Freundin +geäußert werden,« sagte der Vorsitzende vermittelnd. »Immerhin könnte +sie Ihnen etwas verschwiegen haben, um nicht ein tadelndes Urteil von +Ihnen hören zu müssen.« + +»Möglich wäre das,« sagte Fräulein Schwertfeger, »aber sehr +unwahrscheinlich. Es liegt jedenfalls kein Grund vor, so etwas +anzunehmen. Ihr Vermögen vermachte sie ihm einfach, weil er der Vater +ihres Kindes war und sie, ihrer Meinung nach, geliebt hatte. Ich +erinnere mich, daß sie früher einmal sagte, die Ehe wäre ihrem Wesen +nach unauflöslich, wenn sie durch Kinder befestigt wäre, und als jemand +widersprach, sagte sie, vielleicht wäre das nicht allgemein gültig, aber +sie hätte die Erfahrung an sich gemacht. Meine Freundin war ihrer +anschmiegenden Natur nach nicht geeignet, alleinzustehen, und vielleicht +hatte sie sich unbewußt diese Theorie gebildet, um sich wenigstens +seelisch noch gebunden zu fühlen.« + +»Wenn ich Sie nicht schon über Gebühr angestrengt habe,« sagte +=Dr.= Zeunemann höflich, »möchte ich Sie bitten, uns zu erklären, +wie es kommt, daß Sie und Frau Swieter, so vertraut sie miteinander +waren, in der Beurteilung des Angeklagten so sehr voneinander abwichen.« + +Fräulein Schwertfeger lachte ein wenig. »Warum ein Mensch einen anderen +liebt, versteht der Dritte selten. Außerdem kann man wohl selbst einem +Menschen das Unrecht verzeihen, das er einem getan hat; die Freunde +aber werden am wenigsten dazu geneigt sein.« + +»Danach sind Sie der Meinung,« sagte der Vorsitzende, »daß der +Angeklagte an dem ehelichen Zerwürfnis schuld war?« + +»Er quälte sie durch sein launisches, maßloses Wesen,« sagte Fräulein +Schwertfeger mit Zurückhaltung. + +»Trotzdem, und da Frau Swieter seinerzeit selbst auf der Scheidung +bestand,« sagte der Vorsitzende, »scheint es, daß sie fortfuhr, an ihrem +geschiedenen Manne zu hängen. Können Sie, als ihre Freundin, uns +vielleicht zum Verstehen dieses Widerspruches helfen?« + +Fräulein Schwertfeger dachte eine Weile nach und sagte dann: + +»Widersprüche gibt es in jedem einzelnen Menschen und um so mehr in den +Beziehungen zwischen zweien. Als meine Freundin noch verheiratet war, +schenkte sie ihrem Manne einmal ein Buch zum Geburtstage; und als er +eine Widmung darin haben wollte, schrieb sie auf das erste Blatt: + + 'Deruga, du bist eben + So schön als wunderlich. + Man kann nicht ohne dich + Und auch nicht mit dir leben.' + +Es ist ein Epigramm, das Lessing auf eine gewisse Klothilde gemacht +hat.« + +Die Zuhörer lachten, aber =Dr.= Zeunemann blieb ganz ernst. »Noch +mit einer Frage möchte ich Sie belästigen,« sagte er. »Frau Swieter soll +außerordentlich furchtsam gewesen sein. Die Furcht vor dem hitzigen +Temperament ihres Gatten soll sie mit zur Scheidung bewogen haben. +Glauben Sie, daß sie sich auch nach der Scheidung noch vor ihm +gefürchtet hat?« + +»O nein, vor Deruga nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger mit Überzeugung. +»Vor ein paar Jahren las sie einmal in der Zeitung, daß ein Mann seiner +von ihm geschiedenen Frau aufgelauert und sie erstochen habe. Mit Bezug +darauf sagte sie, das käme häufig vor, und Frauen, die sich von ihren +Männern trennen wollten oder getrennt hätten, müßten eigentlich +irgendwie geschützt werden. Ich sagte, sie solle doch die dummen +Zeitungen nicht lesen, die Hälfte von allem, was darin stünde, wäre +erlogen. Da lachte sie und sagte, ich meinte wohl, sie fürchtete sich? +Und dann erklärte sie mir, Deruga sei zwar bei den kleinen Reibungen, +die im Zusammenleben unvermeidlich wären, maßlos heftig gewesen und auch +nicht frei von Rachsucht, aber von langer Dauer sei das nie gewesen, und +sie sei gewiß, daß er gegen sie keinen Groll hege. Daher weiß ich +bestimmt, daß sie keinerlei Furcht vor ihm hatte. Im allgemeinen +allerdings war sie sehr furchtsam und bevorzugte zum Beispiel zum Wohnen +den dritten Stock, weil sie da vor Einbrechern am geschütztesten zu sein +glaubte. Sie fürchtete sich auch sehr vor dem Tode, obwohl sie ihn +andererseits als eine Wiedervereinigung mit ihrem Kinde ersehnte.« + +»Vermutlich fürchtete sie nicht den Tod, sondern das Sterben,« sagte der +Vorsitzende, »das sie sich als qualvoll vorstellte.« + +»Ja,« stimmte Fräulein Schwertfeger zu, »sie hatte große Angst vor +Schmerzen und mußte doch so schrecklich aushalten.« + +Der Staatsanwalt fragte, ob die Kranke infolge der Schmerzen jemals +Störungen oder Trübungen des Bewußtseins gehabt hätte. + +»O nein,« sagte Fräulein Schwertfeger mit einem Lächeln, den Blick auf +=Dr.= Zeunemann gerichtet, »sie klagte im Gegenteil zuweilen +darüber, daß ihr Kopf bei den größten Qualen stets klar bleibe. Einmal +fragte sie mich, ob ich sie lieb genug hätte, um ihr ein Gift zu geben, +das sie von ihrem Leiden erlöste. Ich war sehr erschrocken und sagte, +ich hätte sie zu lieb dazu, ich könnte so etwas nicht denken, geschweige +denn es tun. Dann erinnerte ich sie daran, wie sie sich doch des Lebens +wieder freuen könne, sobald ihr besser sei, und daß sie vielleicht +wieder ganz gesund würde, und wie bald dann die Schmerzen vergessen sein +würden, so wie ich sie kennte. Da lachte sie und tröstete mich und +sagte, ich hätte ganz recht, sie hoffe noch einmal zu prahlen mit dem, +was sie so tapfer ausgehalten hätte. Es gab jedenfalls keinen +Augenblick, in dem sie nicht genau gewußt hätte, was sie tat.« + +»Es erübrigt nun noch eine Frage, deren Antwort im verneinenden Sinne +mir zwar schon in Ihren übrigen Aussagen inbegriffen scheint, die ich +aber doch ausdrücklich stellen muß: Hat Frau Swieter ihren geschiedenen +Mann von dem Inhalt ihres Testamentes in Kenntnis gesetzt?« + +»Das weiß ich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Ich glaube es auch +nicht. Wozu sollte sie es getan haben?« + +»Das wollen wir zunächst dahingestellt sein lassen,« sagte der +Vorsitzende. »Gesetzt den Fall, sie hätte es ihm mitteilen wollen, so +hätte sie ihm schreiben müssen. Da sie in jener Zeit nicht mehr +aufstand, geschweige denn ausging, mußte sie den Brief irgend jemandem +zur Besorgung geben. Durch Sie hat sie es also nicht getan?« + +»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger. + +»Hat sie Ihnen überhaupt nie Briefe zur Besorgung mitgegeben?« + +»Vielleicht,« sagte Fräulein Schwertfeger, »ich erinnere mich nicht; +aber keinen an =Dr.= Deruga.« + +»Er konnte vielleicht anders adressiert sein, um Sie irrezuführen?« + +»O nein,« sagte Fräulein Schwertfeger, die Stirn faltend, »das hätte +sie vorher mit ihm verabreden müssen. Solche Schleichwege hätte sie +nicht gewählt, dafür stehe ich ein.« + +»Ich glaube Ihnen, Fräulein Schwertfeger,« sagte der Vorsitzende nach +einer kleinen Pause. »Ich verlasse mich auf Ihre Wahrheitsliebe. Sie +sind Lehrerin, die Jugend ist Ihrem Einfluß anvertraut, Sie genießen die +Liebe und Verehrung Ihrer Schülerinnen sowohl wie der Eltern derselben +und werden das nicht um eines Hirngespinstes willen verschweigen wollen. +Sie haben also weder dem Angeklagten im Auftrage Ihrer Freundin von dem +Inhalte ihres Testamentes Mitteilung gemacht, noch haben Sie einen Brief +Ihrer Freundin besorgt, in welchem diese Mitteilung enthalten war oder +allenfalls hätte enthalten sein können?« + +»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger. + +»Sie sind also überzeugt, daß der Angeklagte von dem Testamente keine +Kenntnis hatte?« + +»Ich bin überzeugt davon,« antwortete sie. + +=Dr.= Zeunemann bedachte sich und sagte, er wolle das Verhör damit +abschließen, sie würde ohnehin ermüdet sein. In der Tat sah sie sehr +blaß aus, so daß ihre großen Augen beinah schwarz schienen. + +»O ja, ich bin sehr müde,« sagte sie, »darf ich gehen?« + +=Dr.= Zeunemann erklärte ihr, daß sie zwar jetzt, da Mittagspause +sei, wie alle anderen gehen dürfe, daß er aber für die Dauer des +Prozesses um ihre Anwesenheit bitten müsse, worauf sie sich durch eine +kurze Neigung des Kopfes verabschiedete. + +»Ein wackeres Altjüngferchen,« sagte Justizrat Fein zu Deruga, »obwohl +sie nicht die beste Meinung von Ihnen hat.« + +»Gute, dumme Gans,« antwortete dieser kurz. Er hatte mit aufgestütztem +Kopf und verdecktem Gesicht dagesessen und richtete sich jetzt auf wie +jemand, der in dem Labyrinth einer dunklen Musik versunken war, wenn sie +plötzlich abreißt. Der stechende Blick, den er durch den Saal gleiten +ließ, blieb zufällig an der Baronin Truschkowitz hängen, die, eben im +Aufstehen begriffen, ihrem einige Plätze von ihr entfernt sitzenden +Anwalt ein Zeichen mit den Augen gab, und er sagte: »Unausstehliche +Person; paßt ganz zu der schmutzigen Sache, die sie vertritt.« + +»Na, wissen Sie,« entgegnete der Justizrat. »Daß die Baronin sich ungern +ein Vermögen entwinden läßt, auf das sie gerechnet hatte, ist +menschlich, und daß sie Ihnen allerhand Böses zutraut, um so eher zu +entschuldigen, als sie Sie nicht kennt.« + +»Halten Sie das für eine Entschuldigung?« sagte Deruga scharf. »Weil sie +selbst gierig ist, kann sie sich auch bei anderen kein anderes Motiv +vorstellen; das ist ihre Menschenkenntnis. Ekelhaft!« + +Die Besprochene war unterdessen auf die Freitreppe des Gerichtsgebäudes +gelangt und blickte durch die Lorgnette ungeduldig um sich. »Ich bin +ganz erregt«, sagte sie zu =Dr.= Bernburger, »über die Art und +Weise, wie man mit diesem Fräulein umgeht. Sie mag ja übrigens ein +anständiges Mädchen sein. Aber es ist klar, daß sie nicht die Wahrheit +sagt, und ich begreife nicht, daß man das so gehen läßt.« + +»Ja, das ist eine heikle Sache, Gnädigste,« sagte =Dr.= +Bernburger, »die Folter ist längst abgeschafft.« + +»Das war eben sehr voreilig,« sagte die Baronin. »Die Alten waren in +vieler Hinsicht klüger als wir und wußten recht gut, warum sie sie +anwendeten. Aber wir müssen doch auch Mittel haben, um die Wahrheit aus +den Leuten herauszubringen. Ich würde ganz anders vorgehen, wenn ich der +Präsident wäre. Aber Sie kommen mir zerstreut vor, Herr Doktor.« + +»Im Gegenteil,« sagte =Dr.= Bernburger, »ich bin vertieft in unser +Problem.« + +»Und haben Sie bemerkt,« fuhr die Baronin fort, »daß sie gerade das +zugab, was sie bestreiten wollte, nämlich daß meine Kusine sich vor +ihrem geschiedenen Mann fürchtete? Und wie interessant, daß die Männer +eine Neigung haben, ihre geschiedene Frau umzubringen! Man muß es sich +doch sehr überlegen, ehe man den Schritt tut.« + +»Ich hoffe, Kind,« sagte der neben ihr stehende Baron gutmütig, »das ist +nicht der einzige Grund, der dich abhält, dich scheiden zu lassen.« + +Sie sah ihn mit einem Lächeln an, in dem ein leichter Spott lag, und +sagte: »Nein, mein Teurer, du bist viel zu ritterlich, als daß ich mich +vor dir fürchten könnte.« + +Gleichzeitig winkte sie dem wartenden Schofför, das Auto näher +heranzulenken, und entließ ihren Anwalt mit flüchtigem Gruß. + +Der Staatsanwalt hatte sich beim Verlassen des Saales an =Dr.= +Zeunemann gehängt und begleitete ihn unter vorwurfsvollen Reden in sein +Zimmer. Es sei klar, sonnenklar, sagte er, daß dies Muster -- er meinte +Fräulein Schwertfeger -- den Brief besorgt habe. Das Muster habe keine +Übung im Lügen. Er wolle gerecht sein, aber gelogen habe sie. Da müsse +eingeschritten werden! Oder ob wieder einmal durch die Gunst der Frauen +ein Elender der verdienten Strafe entzogen werden solle? Dieser Mensch +besitze die Gunst der Frauen, und im Leben wie im Salon hänge ja +heutzutage der Mann von der Gunst der Frauen ab. Ob es denn aber nicht +zum Himmel schreie, wenn auch das Recht durch Weiberlaunen gemacht +würde! + +Der Staatsanwalt rang während dieser Reden die Hände und fuhr sich +durch die langen, dünnen Haare, die verwildert nach allen Seiten hingen. + +»Beruhigen Sie sich, Herr Kollege,« sagte =Dr.= Zeunemann +mißbilligend, »bei Fräulein Schwertfeger trifft Ihre Zwangsvorstellung +von der Gunst der Frauen nicht zu, sie hat offenbar eine Abneigung gegen +ihn.« + +»Worte!« rief der Staatsanwalt verzweifelt. »Worte, Worte! In der Tat +begünstigt sie ihn. Wahrscheinlich hat sie selbst an ihn geschrieben. +Ist es nicht sonnenklar?« wendete er sich an die beiden Beisitzer. + +Diese bestätigten, daß ihnen das Verhalten von Fräulein Schwertfeger +auffallend vorgekommen sei; aber es ließe sich auch anders, zum Beispiel +durch die den Frauen eigentümliche Scheu vor der Öffentlichkeit, +erklären. + +»Ach Gott,« jammerte der Staatsanwalt, »wohin soll das führen, wenn ein +so schäbiges altes Muster schon den Scharfblick bewährter Juristen +trüben kann!« + +»Lieber Herr Kollege,« sagte =Dr.= Zeunemann, nach der Uhr sehend, +»Sie bedürfen ebenso wie wir des Mittagessens und der Mittagsruhe. +Schlafen Sie ein Viertelstündchen! Und künftig bitte ich Sie die Fragen +zu stellen, die Sie für zweckmäßig halten.« + +»Was hilft es, Fragen zu stellen, wenn man mit Lügen abgespeist wird?« +sagte der Staatsanwalt bitter. »Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte, +nämlich daß es sich so verhält, wie ich von Anfang sagte: es war kein +Totschlag, sondern vorbedachter Mord. Als er erfuhr, daß sie ihm ihr +Vermögen vermacht hatte, beschloß er sie zu töten, ehe sie etwa, durch +ihre Verwandten beeinflußt, anderen Sinnes werden und das Testament +umstoßen könnte.« + +»Soll ich Ihnen Ihre Insinuationen zurückgeben,« sagte =Dr.= +Zeunemann, »und den Argwohn äußern, daß Sie die Dinge durch eine von der +Baronin Truschkowitz aufgesetzte Brille ansehen? Vergleicht man ihre +Reize mit denen des Fräuleins Schwertfeger, so erscheint dieser Verdacht +beinahe begründet.« + +Der Staatsanwalt, dem die Neckerei augenscheinlich schmeichelte, mußte +lachen. Indessen, fügte er brummend hinzu, ein Prozeß, bei dem Weiber +beteiligt wären, arte immer in Tratsch aus, es müßten ihm aber alle +bezeugen, daß er von Anfang an der Überzeugung gewesen sei, es handele +sich um Mord. + +Ja, sagte =Dr.= Zeunemann, und er bezeuge freiwillig noch dazu, daß +der Staatsanwalt in seine ersten Überzeugungen verliebt zu sein pflege, +wie eine Mutter in ihr Kind, bis das zweite käme und jenes verdrängte. + + + + +=VI.= + + +»Ursula Züger, achtunddreißig Jahre alt, seit neunzehn Jahren im Dienst +der verstorbenen Frau Swieter,« begann der Präsident. + +Ursula Züger blickte mit überlegenem Lächeln in die Runde. Ihr dampft +vor Gier nach den Tatsachen, die nur ich berichten kann, schien ihre +Miene zu sagen; fallt nur her über die Beute und sättigt euch, ich +denke, sie soll euch schmecken. + +»Sie müssen bei so langem Zusammenleben mit allen Verhältnissen der Frau +Swieter sehr vertraut gewesen sein.« + +»Das will ich meinen,« sagte Ursula, »was meine Gnädige angeht, das weiß +ich von Anfang bis zu Ende, das gibt es nicht anders.« + +»Hat die Verstorbene zuweilen von der Vergangenheit, ich meine, von der +Zeit ihrer Ehe mit dem Angeklagten, mit Ihnen gesprochen?« + +»Hui!« Ursula stieß einen pfeifenden Ton aus, welcher sagen zu wollen +schien, daß dies unzählige Male der Fall gewesen sei. »Namentlich seit +der Zeit, wo sie krank lag, das arme Wurm. Wenn ich dann abends bei ihr +saß, ging das immer: 'Wissen Sie noch dies und das, Urschel? Wissen Sie +noch die Geschichte mit dem Bettler?' Nämlich in der ersten Zeit, als +unser Herr Doktor noch keine Patienten hatte, da kamen ausgerechnet alle +Bettler, die es in der Stadt gab, und einmal ging der Herr Doktor selbst +an die Tür und sagte: 'Sie, guter Freund, ich soll Ihnen was geben? +Also, was haben Sie heute verdient? Na, sagen Sie die Wahrheit: +mindestens eine Mark, mindestens! Sie gehen an der Krücke, haben nur ein +Auge -- schön, sagen wir eine Mark. Ich dagegen nichts. In vier Wochen +habe ich nicht zehn Mark verdient! Aber wenn Sie eine Zigarette wollen +und mir ein bißchen Gesellschaft leisten' -- und da hat er wahrhaftig +einmal einem mit eigener Hand eine Zigarette gedreht, der sah aus, als +ob er geradeswegs aus dem Kehrichtkübel käme, aber sonst ein +verschmitzter, lustiger Kerl, der kam dann alle paar Tage und sagte +gleich, wenn ich die Tür aufmachte, er wolle nichts haben, wolle nur dem +Herrn Doktor ein bißchen Gesellschaft leisten.« + +»So,« sagte der Vorsitzende, »Sie tischten der Kranken also lustige +Erinnerungen auf, um sie zu erheitern.« + +»Versteht sich,« sagte Ursula. »Schmerzen und Kummer hatte sie ohnehin +genug.« + +»Wenn Frau Swieter dem Herrn Doktor nichts nachtrug,« fuhr der +Vorsitzende fort, »sich seiner sogar gern erinnerte, wechselte sie wohl +auch zuweilen Briefe mit ihm?« + +»Das dachte ich doch, daß Sie wieder davon anfingen,« sagte Ursula +triumphierend. »Damit ist es aber ein für allemal nichts. Wo wird sie +denn mit ihrem geschiedenen Mann Briefe gewechselt haben? Da hätten sie +ja ebenso gut zusammenbleiben können.« + +»Das ist doch ein Unterschied,« setzte der Präsident auseinander. »Es +kann vorkommen, daß man sich entfernt sehr gut verträgt, während man +sich unter einem Dach beständig in den Haaren liegt.« + +»Dazu war meine Gnädige eine viel zu feine Dame,« sagte Ursula streng. +»Von In-den-Haaren-liegen war da gar keine Rede und auch nicht von +heimlichen Tuscheleien, nachdem sie einmal auseinander waren. Wenn ich +früher wohl einmal sagte, der Herr Doktor sei doch im Grunde gar kein +schlechter Mensch gewesen, und es sei doch eigentlich schade, wenn er +nun auf eine schiefe Bahn geriete, und auch für uns, weil immer etwas +ging, solange er da war, dann schüttelte meine Gnädige den Kopf und +sagte: 'Wenn wir uns auch heute versöhnten, würden wir doch übers Jahr +wieder auseinandergehen.' Und recht hatte sie, so ein Mann wie der +konnte einmal keine Ruhe geben.« + +»Sie sind also der Meinung,« fragte der Vorsitzende, »daß Frau Swieter +weder an den Angeklagten geschrieben, noch von ihm Briefe empfangen +hat?« + +»Der Meinung!« wiederholte Ursula mit blitzenden Augen. »Von Meinung +brauchen Sie da gar nicht zu reden, Herr Präsident, denn das weiß ich. +Deswegen bilde ich mir nicht zu viel ein, wenn ich sage, daß der liebe +Gott es nicht besser wissen kann. Erstens kenne ich die Handschrift vom +Herrn Doktor, und weil sie vor einem Jahre krank wurde, hat sie keinen +Brief mehr bekommen, der nicht durch meine Hand ging, und geschrieben +hat sie auch nicht mehr, außer was sie mir oder Fräulein Schwertfeger, +aber meistens Fräulein Schwertfeger, diktierte. Wir haben auch ihre +Briefe auf die Post gebracht.« + +»Nun, mein liebes Kind,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Ihre Gnädige war +doch nicht lahm! Wenn sie durchaus wollte, konnte sie auch aufstehen und +sich Schreibzeug holen und schreiben, ohne daß Sie es wußten, und sie +konnte auch zum Beispiel Herrn =Dr.= Kirchner, ihren Arzt, um die +Besorgung eines Briefes bitten.« + +»Ja, das scheint Ihnen so, Herr Präsident,« sagte Ursula nachsichtig, +»weil Sie es nicht besser wissen. Aber daß meine Gnädige hinter meinem +Rücken Briefe schrieb und abschickte, das ist ausgeschlossen. Wenn Sie +die Verhältnisse kennten, würde Ihnen so etwas gar nicht in den Sinn +kommen. Nein, und wenn sie auch nicht lahm war, und das war sie +allerdings nicht, so hätte sie doch solche Zeremonien nicht mit mir +gemacht, wo gar keine Veranlassung dazu da war; denn sie hätte ja nur zu +sagen brauchen: 'Ursula, von dem Brief soll niemand etwas wissen, und +Sie sollen es auch nicht wissen.' Und dem Herrn =Dr.= Kirchner +einen Brief mitgeben, darüber muß man wirklich lachen, wenn man die +Verhältnisse kennt. Da hätte sie ja nicht gewußt, ob er ihn nicht ein +halbes Jahr in der Tasche behielte oder auf der Treppe schon verloren +hätte. Und warum hätte sie denn ihre Geheimnisse fremden Leuten +anvertrauen sollen, wo sie doch Fräulein Schwertfeger und mich hatte, +auf die sie sich verlassen konnte? Also das schlagen Sie sich nur aus +dem Kopfe, Herr Präsident, mit den heimlichen Briefen! Was in unserem +Hause vorgegangen ist, das weiß ich, und da konnte nichts vorgehen, was +ich nicht wußte.« + +»Sie werden doch zuweilen Besorgungen gemacht haben, liebes Fräulein,« +sagte der Präsident, der sich noch nicht für geschlagen erklären +mochte. »Wissen Sie auch, was in der Wohnung vorfiel, wenn Sie nicht da +waren?« + +»Wenn Sie mich damit hereinzulegen denken, wie man so sagt, Herr +Präsident,« antwortete Ursula unerschüttert, »dann sind Sie +ausgerutscht, mit Erlaubnis zu sagen. Wenn ich fort war, konnte am +allerwenigsten etwas vorfallen, weil ich dann nämlich die Wohnungstür +hinter mir abschloß. Meine Gnädige hatte das selbst angeordnet und +gesagt: 'Wissen Sie, Ursula, weil ich doch nicht aufstehen soll, nach +dem, was der Herr Doktor sagt, so ist es am einfachsten, Sie schließen +die Tür ab, damit ich sicher bin, daß niemand hinein kann. Kommt jemand, +so mag er läuten und wiederkommen. Brennen wird es ja nicht gerade, +während Sie fort sind.' Na, was das betrifft, darüber war ich ganz +ruhig, denn wo sollte es brennen, wo ich immer nur in der Frühe oder +nachmittags ausging, wenn kein Feuer im Hause war. Fräulein Schwertfeger +hatte eigens den Wohnungsschlüssel, damit sie zu jeder Zeit hinein +konnte. Also, Herr Präsident, das müssen Sie nun doch einsehen, daß in +meiner Abwesenheit nichts vorfallen konnte.« + +»Nur ist in Ihrer Abwesenheit Ihre Herrschaft ermordet worden,« erhob +sich die kreischende Stimme des Staatsanwalts. + +Ursula verstummte; aber, wie es schien, mehr erstarrt über die +Dreistigkeit, diese Tatsache anzuführen, als von ihrer Beweiskraft +überwunden. »So weit sind wir noch nicht,« sagte sie endlich, sich +aufraffend. »Ich glaube überhaupt nicht an den Mord, weil es unmöglich +ist, daß etwas in der Wohnung vorfiel, solange ich fort war.« + +»Außer wenn Frau Swieter selbst wollte,« warf der Vorsitzende ein. + +»Ja, das werden Sie doch aber selbst nicht glauben, Herr Präsident,« +sagte Ursula, wieder in den früheren Gedankengang einlenkend, »daß die +todkranke Frau aufstand und womöglich drei Treppen herunter auf die +Straße lief, nur um unserem Herrn Doktor einen Brief zu schicken, den +ich ihr jeden Augenblick mit dem größten Vergnügen besorgt hätte.« + +=Dr.= Zeunemann seufzte. »Verreist sind Sie niemals,« begann er +von neuem, »seit Frau Swieter im vorigen Jahre krank wurde und zu Bette +lag?« + +»Nein,« sagte Ursula, »obwohl sie es mir oft angeboten hat und ich ja +auch wußte, daß Fräulein Schwertfeger gerne solange bei ihr gewohnt +hätte, und daß sie ja auch eine Krankenschwester hätte nehmen können. +Aber die hätte doch die Verhältnisse nicht so gekannt wie ich, und wenn +es mir auch leid tat, meine Mutter so lange nicht zu sehen, so habe ich +mir doch gesagt: die Frau hat dich seit neunzehn Jahren nicht verlassen, +so verlasse ich sie auch nicht. Ruhe hätte ich zu Hause auch nicht +gehabt, und ich glaube, ich fände im Grabe keine Ruhe, wenn ich das +arme, kranke Wurm allein gelassen hätte.« + +Ursulas laute Stimme wurde unsicher, und sie fuhr sich mit dem +Taschentuch über das Gesicht. + +Der Vorsitzende wartete ein wenig und forderte sie dann auf, den +Todestag der Frau Swieter, soweit sie sich erinnern könne, vom Anfang +bis zum Ende zu schildern. + +»Gerade an dem Tage,« begann Ursula, »hatte ich gar nichts Böses +vermutet. Die Nacht war nämlich sehr schlecht gewesen, ich hörte sie +stöhnen, lief wohl fünfmal hin und fragte, ob ich den Doktor holen +sollte, aber sie sagte: 'Nein, der hilft mir doch nicht,' und mich +schickte sie auch fort, weil ich es ihr nur schwerer machte. Denn wenn +ich da wäre, sagte sie, müßte sie sich beherrschen. + +Gegen Morgen bin ich wirklich eingeschlafen, denn vier Uhr habe ich es +schlagen hören, aber fünf nicht mehr, und um sieben weckte mich der +Kaminkehrer, der anläutete. Ich war wütend, daß er so laut schellte, und +lief an die Tür und sagte, das sei keine Art, so unversehens +daherzukommen, er habe sich den Tag vorher anzumelden, und jetzt nähme +ich ihn schon gar nicht an; ich mochte den unverschämten Kerl nämlich +ohnehin nicht leiden. Ich dachte, meine Gnädige wäre vielleicht auch +erst vor kurzem eingeschlafen und nun wieder geweckt, und da klingelte +sie mir auch schon und fragte, wer draußen wäre. Ich sagte, der +Kaminfeger, und daß ich ihn geschimpft und wieder weggeschickt hätte, +und da lachte sie und sagte, es habe nichts zu sagen, sie würde schon +wieder einschlafen, es sei ihr jetzt ganz wohl. Aussehen tat sie +freilich, als wenn sie Fieber hätte, aber es blieb ganz ruhig bei ihr, +und da ich um zehn Uhr wieder hereinschaute, lag sie ganz still da, und +die Haare fielen ihr halb übers Gesicht. Ich ging leise heraus und +beeilte mich, so gut ich konnte, und wie ich wieder da war, guckte ich +wieder leise herein, und da lag sie mit offenen Augen und lächelte so +friedlich und sagte: 'Sind Sie da, Urselchen, mir ist ganz wohl, ich +habe gar keine Schmerzen mehr.' Sie sah auch wirklich ganz gut aus, +obgleich sie tiefe Schatten wie breite, schwarze Bänder unter den Augen +hatte, und wie ich sie so betrachtete, kam sie mir sonderbar vor und ich +sagte: 'Gnädige Frau sehen so geheimnisvoll aus.' Meine Seele dachte +aber nicht daran, daß das Geheimnis der Tod war, denn sonst hätte ich es +ja nicht gesagt.« + +»Was antwortete sie darauf?« fragte der Vorsitzende. + +»Sie lächelte noch glücklicher als vorher und sagte: 'Das Geheimnis ist, +daß unser Mingo mich besucht hat.' Mingo hieß unser Kind, das gestorben +ist, und wir nannten es _der_ Mingo, weil wir eigentlich bestimmt +auf einen Buben gerechnet hatten.« + +»Sie hatte also von ihrem verstorbenen Kinde geträumt,« sagte der +Vorsitzende. »Erzählte sie Ihnen davon?« + +»Natürlich,« sagte Ursula, »wenn sie von unserem Mingo geträumt hatte, +sprach sie den ganzen Tag davon. Es war in einem offenen Wagen mit +schönen schwarzen Pferden gekommen und hatte auf dem Rücksitz gesessen, +so wie es sonst zwischen seinen Eltern saß. Ganz gerade und stolz hatte +es dagesessen und ihr mit der kleinen Hand gewinkt, daß sie sich zu ihm +setzen sollte, und plötzlich war es dann kein Wagen mehr gewesen, +sondern eine Art Karussell oder Schaukel, und war nach einer +wunderschönen Musik immer höher und höher geflogen. Es kam ihr so vor, +als ob die Schaukel abgerissen wäre, und wie ihr bange wurde, sagte +unser Mingo ganz ernsthaft: 'Halte dich nur an mir!' Darüber mußte sie +lachen, daß das winzige Geschöpf seiner Mutter eine Stütze sein wollte, +und wachte auf. + +Zwischen dem Kochen ging ich immer wieder herein und schwatzte mit ihr +von unserem Mingo, und dann brachte ich ihr das Mittagessen und setzte +mich zu ihr und redete ihr zu, ordentlich zu essen, weil sie nämlich +immer nur an allem nippte. 'Ach, Urselchen, lassen Sie mich nur, ich +habe heute keinen Hunger,' sagte sie, 'gewiß kommt unser Bettler, der +wird froh sein, wenn er so viel bekommt.' Es war nämlich Donnerstag, und +am Donnerstag kam meistens ein alter Mann, der sagte, in der ganzen +Straße gäbe es keine so gute Köchin, wie ich wäre, und so hatten wir +immer allerlei Spaß miteinander. Indem sie das sagte, läutete es auch +schon an der Tür, es war aber nicht unser Bettler, sondern ein anderer, +so wie ein Slowak sah er aus, die Mausefallen verkaufen. Ich hatte ihm +kaum aufgemacht, da klingelte meine Gnädige so stark, daß es mir +ordentlich durch die Knochen fuhr, und wie ich hinlief, sagte sie, ob es +der Doktor sei. 'Bewahre,' sagte ich, 'um die Zeit kommt der Doktor +nicht, es ist ein Bettler.' 'Dann ist es gut,' sagte sie, 'ich wollte +Ihnen nur sagen, daß Sie den Doktor heute nicht zu mir hereinlassen. Ich +bin zu müde, um mich quälen zu lassen. Sie können ihm sagen, ich hätte +eine schlechte Nacht gehabt und schliefe.'« + +»Ist Ihnen das nicht aufgefallen?« fragte der Vorsitzende. + +»Nein,« sagte Ursula erstaunt, »es ist auch gar nichts Auffallendes +daran. Ich mußte manchmal den Doktor unter irgendeinem Vorwand +fortschicken, zum Beispiel, wenn ich ihr gerade etwas Spannendes +vorlas.« + +»Haben Sie ihr auch an diesem Tage vorgelesen?« fragte der Vorsitzende. + +Ursula schüttelte traurig den Kopf. »Dazu ist es nicht mehr gekommen,« +sagte sie. »Nachdem ich meine Küche gemacht hatte wie alle Tage, fragte +ich sie, ob ich ihr vorlesen sollte, oder ob sie möchte, daß Fräulein +Schwertfeger käme. 'Nein,' sagte sie, 'Gundel kommt gewiß von selbst, +wenn sie Zeit hat, und ich glaube auch, daß ich wieder einschlafen +werde. Da können Sie zur Bank gehen und die Miete bezahlen, weil Sie +gestern nicht dazu gekommen sind,' -- es war ja der 2. Oktober -- 'und auf +dem Rückweg könnten Sie mir eine Flasche griechischen Wein mitbringen, +ich habe solche Lust darauf, und der Doktor hat mir Wein erlaubt.' Dann +trug sie mir noch auf, dem Hausmeister zu sagen, daß er auf den Abend +heizte, damit ich nicht im Kalten säße, weil der Wind so stark auf +meinem Fenster stand. Er hätte nämlich eigentlich schon am Ersten heizen +müssen, aber der Mensch war ja so faul, daß er kaum die trockenen +Blätter im Vorgarten zusammenfegte, und in den Keller gehen und heizen, +das paßte ihm erst recht nicht. Wenn man ihn mahnte, hatte er immer +einen Vorwand, weswegen er nicht dazu gekommen wäre. Er möchte lieber +Heizer in der Hölle sein, als ein Hausmeister mit drei Häusern und +achtzehn Parteien, von denen jede verschieden warm haben wollte; das +war eine beliebte Redensart von ihm. Ich sagte also zu meiner Gnädigen, +lieber wolle ich frieren, als daß ich mich mit dem Mehlwurm von +Hausmeister einließe. Da lachte sie und sagte, nein, ich solle es ihm +nur recht gefährlich ausmalen, wie kalt ich es hätte und wie böse sie +auf ihn wäre. Und das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört +habe.« + +»Als Sie nach Hause kamen,« sagte der Vorsitzende, »war sie tot. Sie +hatten die Tür abgeschlossen und fanden sie geschlossen wieder vor?« + +»Abgeschlossen war die Tür nicht, und das kam daher, weil, kurz bevor +ich kam, Fräulein Schwertfeger dagewesen war, und die dachte gewöhnlich +nicht ans Abschließen.« + +Fräulein Schwertfeger wurde gefragt, ob sie die Tür verschlossen +gefunden habe, und erklärte, daß sie nicht darauf geachtet habe und +deshalb nichts darüber sagen könne. Sie sei auf dem Wege in die +Abendschule und in Eile gewesen, habe eben nur fragen wollen, wie es +ginge. Da es totenstill in der Wohnung gewesen sei, habe sie +angenommen, daß ihre Freundin schliefe, habe leise in das Schlafzimmer +hineingeguckt und sei dann wieder gegangen. Die Tür, die vom +Schlafzimmer ihrer Freundin ins Wohnzimmer geführt habe, sei wie immer +weit offen gewesen. Sie habe beim Fortgehen die Wohnungstür keinesfalls +abgeschlossen, denn sie habe das nie getan. Es sei etwa fünf Minuten vor +sechs Uhr gewesen. + +»Wieviel Uhr war es, als Sie nach Hause kamen?« wendete der Vorsitzende +sich wieder an Ursula. + +»Als ich um die Ecke von unserer Straße bog,« sagte Ursula, »hörte ich +es von der Schloßkirche sechs Uhr schlagen, und von da sind es keine +fünf Minuten mehr, besonders weil ich schnell ging. Ich hatte mich +nämlich mit dem Warten auf der Bank, und weil ich nach dem Wein hatte +laufen müssen, verspätet. Ich ging zuerst in die Küche und legte meine +Pakete ab -- ich hatte sonst noch einiges für den Haushalt eingekauft -- +und meinen Mantel. Dann ging ich leise ins Schlafzimmer; denn daß meine +Gnädige schliefe, nahm ich an, weil sie mich sonst sofort rief, sowie +ich die Tür aufmachte. 'Sind Sie's, Urselchen?' rief sie mit ihrer +weichen Stimme. Sie hatte so eine helle, unschuldige Stimme wie ein +Kind. Durch die offene Türe sah ich, wie sie ganz still dalag, den Kopf +auf der Seite und die Arme über der Decke, und kehrte gleich wieder um, +froh, daß sie so gut schlief. Aber als ich im Wohnzimmer war, fiel mir +auf einmal ein, daß sie sonst ganz anders lag, wenn sie schlief, nämlich +nie flach auf dem Rücken, sondern etwas zur Seite geneigt, und die eine +Hand hatte sie unter dem Gesicht. Wie mir das plötzlich einfiel, wurde +mir so sonderbar zumute, daß mir wahrhaftig die Knie zitterten, und ich +mußte mir ordentlich Mut machen, eh ich wieder hineinging. Und wie ich +ihr leise, leise die Haare vom Gesicht nahm, sah ich, daß sie tot war, +denn so still liegt ja kein lebendiger Mensch.« + +»Trug sie die Haare immer offen?« erkundigte sich =Dr.= Zeunemann. + +»O nein,« antwortete Ursula, mit einem kurzen, geringschätzigen +Lächeln. »Ich frisierte sie jeden Morgen sehr schön und ordentlich, da +fehlte gar nichts, aber in der letzten Nacht hatte es sich aufgelöst bei +dem Herumwälzen wegen der Schmerzen, und weil sie so müde war, hatte ich +sie nicht damit plagen wollen.« + +»Wir wissen durch den Arzt, den das Mädchen sofort rufen ließ,« sagte +der Vorsitzende, »daß der Tod eine bis zwei Stunden vorher eingetreten +war, und zwar, wie der Arzt damals annahm, durch Herzlähmung. Der +Zustand der Kranken hatte durchaus mit einer solchen rechnen lassen, +weshalb von keiner Seite irgendein Argwohn geschöpft wurde.« + +»Zählen Sie, Fräulein Züger, noch einmal im Zusammenhang auf, was für +Personen im Laufe des Tages in der Wohnung gewesen waren!« + +»In der Wohnung war überhaupt niemand,« sagte Ursula mit nachdrücklicher +Mißbilligung. »Angeläutet hatte zuerst in der Frühe der Kaminfeger, den +ich wieder fortschickte. Er kam dann noch einmal wieder, der +zudringliche Mensch, und da sagte ich ihm, in einem ordentlichen +Haushalt ließe man um zehn Uhr keinen Herd mehr putzen, er solle sich +das merken. Nachher war der Postbote da; der warf gewöhnlich die Briefe +nur herein, aber diesmal läutete er an, weil er einen ungenügend +frankierten Brief hatte.« + +»Was für ein Brief war das?« fragte der Vorsitzende hastig. + +»Der Brief war für mich,« antwortete Ursula schnippisch triumphierend, +»von einer Freundin, die eine Stelle in Frankreich angenommen hatte.« + +»Und weiter?« fragte =Dr.= Zeunemann. + +»Danach läutete noch einmal die Gemüsefrau, der ich aber nichts abnahm, +weil der Spinat letztes Mal bitter gewesen war, und am Mittag der +Slowak. Sonst war niemand da, und in der Wohnung ist überhaupt niemand +gewesen.« + +Der Staatsanwalt bat ums Wort. + +»Ich möchte bemerken, daß die Wohnung doch nicht so festungsmäßig +verwahrt war, wie das gute Mädchen es darstellen möchte. Sie hat selbst +erzählt, daß sie, als sie dem sogenannten Slowaken die Tür aufgemacht +hatte, von Frau Swieter durch die Klingel abgerufen wurde. Er hätte also +die Gelegenheit benutzen und eindringen können.« + +Ursula drehte sich ganz nach dem großen, mageren Angreifer um und +stemmte den Arm in die Seite, während sie ihn mit sprühenden Augen von +oben bis unten maß. + +»Hätte er das?« fragte sie höhnend. »Ja, wenn ich ihm nicht die Tür vor +der Nase zugeworfen hätte. Ich schlug die Tür fest zu, ehe ich zu meiner +Gnädigen hineinlief, und sie war auch zu, als ich wiederkam. Den +Slowaken hörte ich noch auf der untersten Treppe. Ich hatte ihm nämlich +einen Teller Suppe gegeben und wollte den leeren Teller wieder +hereinnehmen, aber er hatte sie nicht angerührt. Um Suppe ist es diesen +Vagabunden ja gewöhnlich gar nicht zu tun. Übrigens war es ein ganz +harmloser Mensch und sah auch gar nicht so zerrissen und schmutzig aus +wie die richtigen Strolche.« + +»Glauben Sie bestimmt,« fragte der Vorsitzende, »daß Sie den +Angeklagten in irgendeiner Verkleidung erkannt hätten?« + +Ursula brauchte einige Zeit, um den Sinn dieser Frage zu fassen. + +»Unseren Herrn Doktor?« fragte sie endlich mit immer größer werdenden +Augen. »Meinen Sie, ob unser Herr Doktor der Slowak gewesen sein könnte? +Ja, wissen Sie, Herr Präsident, da könnten Sie mich ebensogut fragen, ob +Sie unser Herr Doktor sein könnten! Unser Herr Doktor! Und der hätte +nicht mit den Augen gezwinkert und gesagt: 'Ursula, kennen Sie mich +nicht, dumme Person?' Überhaupt! Ja, so etwas meinen Sie, Herr +Präsident, weil Sie die Verhältnisse nicht kennen!« + +=Dr.= Zeunemann schnitt die immer schneller strömende Rede durch +eine verzweifelte Handbewegung und einen Seufzer ab. »Bleiben wir bei +der Sache,« sagte er. »Sie halten es für unmöglich, daß jemand in die +Wohnung eindringen konnte?« + +»Ausgeschlossen, einfach ausgeschlossen,« antwortete Ursula. + +»Außer wenn Frau Swieter selbst es wollte,« sagte =Dr.= Zeunemann. + +»Ja, die wird gerade Räuber und Mörder eingelassen haben,« sagte Ursula +mit zorniger Verachtung. + +»Offensichtliche Räuber und Mörder nicht,« rief der Staatsanwalt +dazwischen, »vielleicht aber ihren einstigen Gatten, für den sie leider +noch immer, wie das Testament beweist, ein liebevolles Interesse hatte.« + +»Und sie wird gerade nach siebzehn Jahren,« sagte Ursula fast schreiend, +»am Läuten erkannt haben, daß er es war.« + +»Wenn sie ihn erwartete, mein gutes Kind, war das nicht nötig,« sagte +der Staatsanwalt mit dem beißenden Tone eines schadenfrohen Teufels. + +=Dr.= Zeunemann machte eine warnende Handbewegung gegen Ursula, die +aussah, als ob sie ihrem Gegner an die Kehle springen wollte. »Ich +glaube,« sagte er, die Stimme erhebend, »wir fangen an, uns im Kreise +zu drehen. Der Herr Staatsanwalt geht davon aus, daß eine Verständigung +irgendwelcher Art zwischen den geschiedenen Eheleuten bestanden haben +könnte, was aber noch ganz unbewiesen ist, ja wovon eher die +Unmöglichkeit nachgewiesen ist. Nach meiner Meinung hat die Zeugin +nichts Sachdienliches mehr vorzubringen, und wir könnten zur Vernehmung +des Hausmeisters übergehen, wenn die Herren Kollegen und die Herren +Geschworenen einverstanden sind.« + +Den Kopf steif im Nacken und ein verächtliches Lächeln auf den Lippen, +das dem angekündigten Hausmeister galt, begab sich Ursula auf ihren +Platz neben Fräulein Schwertfeger. + +Der Erwartete glich insofern einem Mehlwurm durchaus nicht, als er rot +im Gesicht mit einem bläulichen Anflug über der Nase war. Er schlenderte +in der bequemen Haltung eines Menschen herein, der dem Leben zu sehr als +Liebhaber gegenübersteht, um jemals Eile zu haben, sah sich gemächlich +um und unterzog zuletzt den langen, grünen Tisch, vor dem er zu stehen +hatte, samt allen darauf befindlichen Gegenständen einer beiläufigen +Untersuchung. Der Vorsitzende vereidigte ihn und forderte ihn auf, die +an ihn gerichteten Fragen nicht nur der Wahrheit gemäß, sondern auch +ohne Zweideutigkeit und Weitschweifigkeit zu beantworten. + +»I warum nicht,« sagte der Hausmeister, »da liegt ja gar nichts dran.« + +»Wo pflegen Sie sich tagsüber aufzuhalten?« lautete die erste Frage. + +»Ja,« sagte der Hausmeister lachend, »da läßt sich freilich nicht so +eins, zwei, drei darauf antworten. Das ist nämlich je nachdem, was ich +gerade zu tun habe. Aber wenn ich sage, daß ich entweder in einem von +meinen drei Häusern bin, weil in einer Wohnung etwas zu richten ist, +oder weil eine Partei mit mir dies oder das reden möchte, oder denn im +Keller bei der Heizung oder im Garten, wo ich so auf und ab spaziere, so +wird das schon ungefähr stimmen. In meiner eigenen Wohnung bin ich am +wenigsten und habe da ja auch nichts zu tun, denn für die Familie +interessiere ich mich nicht so wie für den Beruf.« + +»Sind die Häuser untertags abgeschlossen?« fragte der Vorsitzende. + +»Gott bewahre,« sagte der Hausmeister, »da kann jedermann aus und ein +gehen, wie er will. Nichts Unrechtes kommt ja bei uns sowieso nicht vor, +und für alle Fälle ist vor jeder Wohnung eine besondere Wohnungstür. +Nein, von Abschließen ist bei uns keine Rede. Des Morgens um sechs +schließe ich alle Türen auf, vielmehr meine Frau tut das, und abends um +neun Uhr schließe ich zu, und bei der Methode haben wir uns immer gut +gestanden.« + +»Aber die Keller sind doch abgeschlossen?« fragte =Dr.= Zeunemann. + +»Ja, sehen Sie, Herr Präsident,« antwortete der Hausmeister, »das läßt +sich wieder nicht so eins, zwei, drei beantworten. Bei Nacht sollten sie +wohl eigentlich geschlossen sein, denn am Tage ginge das ja gar nicht +an, schon wegen dem Heizen, und wo die Fräuleins so oft Kohlen und +Kartoffeln und dergleichen heraufholen. Das würde ja ein ewiges Auf- +und Zuschließen. Es geht sowieso den ganzen Tag: 'Herr Hausmeister, ach +helfen Sie mir doch!' 'Herr Hausmeister, bitte, nur einen Augenblick.' +Ich sollte immer an hundert Orten zugleich sein. Nein, es ist für alle +Teile am besten, wenn die Keller ein für allemal offen sind, und daran +hat auch noch niemand etwas auszusetzen gehabt.« + +»Sie sollen aber selbst einmal,« erinnerte der Vorsitzende, »einen Mann +ertappt haben, der sich im Keller eingeschlichen hatte.« + +»So,« sagte der Hausmeister nachdenkend. »Ach so, das hat wohl die +Urschel erzählt?« rief er nach einer Pause belustigt aus. »Ja, vor dem +brauchte niemand Angst zu haben, der sah so grün im Gesicht aus, als ob +er die ganze Nacht unreife Äpfel gegessen hätte. Das war so ein +Obdachloser, oder es kann ihn auch eins von den Mädels versteckt haben, +denn die Jungfern haben doch alle ihre Liebhaber, wenn sie sich auch +noch so zimperlich anstellen.« + +=Dr.= Zeunemann machte ein ernstes Gesicht und fragte streng: + +»Entsinnen Sie sich, wer am 2. Oktober des vergangenen Jahres aus und +ein gegangen ist?« + +»Du lieber Himmel,« seufzte der Hausmeister, »wie soll ich das behalten, +was bei uns täglich ein und aus geht! Stellen Sie sich vor, Herr +Präsident, drei Häuser mit achtzehn Parteien, wobei ich mich noch gar +nicht mal gerechnet habe; in dem einen sind vier Parteien, in den beiden +anderen je sieben. Und wie geht es vollends Anfang Oktober zu, wo die +eine Partei auszieht und die andere einzieht, und die Handwerker, die +das mit sich bringt!« + +»Gerade weil es besondere Tage sind,« beharrte der Präsident, »haben Sie +sie doch vielleicht im Gedächtnis behalten. Auch der plötzliche Tod der +Frau Swieter, die das am meisten zurückliegende Haus bewohnte, hat den +Tag unter den anderen hervorgehoben. Als später der Ihnen bekannte +Verdacht entstand, haben Sie doch sicher in Ihrem Gedächtnis +nachgeforscht, wen Sie an jenem Tag aus und ein gehen gesehen haben.« + +»Ich will tun, was ich kann, um Ihnen gefällig zu sein, Herr +Präsident,« sagte der Hausmeister. »Der Kaminkehrer, der in der Frühe da +war, wird Sie ja wohl nicht interessieren, und der Postbote ebensowenig, +und die Handwerker ging das Haus von der Frau Swieter nichts an, weil +nämlich in dem Hause kein Umzug stattgefunden hatte. An Bettlern hat es +auch nicht gefehlt, und was das betrifft, so war die Frau Swieter selbst +schuld daran. Die anderen Parteien beklagten sich über sie, daß sie die +Bettler herzöge, weil sie ihnen immer etwas gäbe. Übrigens, mir hat sie +auch immer jede Kleinigkeit ordentlich bezahlt, sie gehörte nicht zu +denen, die meinen, unsereiner wäre dazu da, allen alles umsonst zu +machen. Also konnte sie es mit den Bettlern schließlich auch halten, wie +sie wollte. Sie sind ja auch einmal da und müssen in Gottes Namen zu +ihrer Sache kommen.« + +»Denken Sie gut nach,« sagte der Vorsitzende, »ob Sie zwischen vier und +sechs Uhr nachmittags einen Bettler gesehen haben, einen, der Ihnen +unbekannt war, der Ihnen auffiel!« + +»Zwischen vier und sechs Uhr?« sagte der Hausmeister tiefsinnig. »Da +schickte ich gerade meinen Jungen um eine Maß Bier in die Wirtschaft an +der Ecke und wartete an der Gartentür, bis er wiederkam, und dann +stellte ich die Maß auf die Treppe, um ab und zu einen Schluck zu +nehmen. Indem kam gerade die Frau Hofrat im Parterre vom zweiten Hause +und schimpfte, was sie wußte, daß ich nicht geheizt hatte, und ich +sagte: 'Aber Frau Hofrat, bei dem schönen Wetter! Solches Wetter haben +wir ja den ganzen Sommer über nicht gehabt, und das bißchen Wind wird +Ihnen doch nichts machen, es ist ja Südwind,' und so weiter, bis sie es +denn wahrscheinlich einsah und wieder fortging. Ja, und dann kam einer, +der hatte wohl etwas gebracht, einen Hut oder Mantille oder dergleichen, +denn er hatte eine Schachtel, wahrscheinlich für die Pension, da war +damals so eine Modesüchtige; und dann kam der Ulkige. Der hatte mich +erst gar nicht gesehen und wollte an mir vorbeilaufen, als ob ich ein +Laternenpfahl wäre, und ich wich ihm absichtlich nicht aus, weil ich +dachte, ich wollte doch sehen, ob er gegen mich anrennte. Da blieb er +plötzlich dicht vor mir stehen und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer +Gnaden?' und hielt mir eine Zigarette hin. Ich mußte lachen und zog +meine Schwedischen heraus und machte ihm Feuer, und zum Dank nickte er +ein bißchen und faßte an die Mütze. Ein Bettler war das aber nicht, er +hatte allerlei zu verkaufen, Löffel und Quirle, die trug er an einem +Strick an der Hand. Wie er eben aus der Türe gegangen war, warf er die +Zigarette in das Fliedergebüsch an der Pforte, ob sie nun nicht brannte +oder sonst nicht schmeckte, das weiß ich ja nicht, und ich wollte sie +erst auflesen, aber dann dachte ich: Ach laß sie liegen, eine feine wird +es doch nicht sein.« + +»Können Sie eine genaue, zuverlässige Beschreibung dieses Mannes geben?« +fragte der Vorsitzende. + +»Nein, Herr Präsident,« sagte der Hausmeister, indem er lächelnd den +Kopf schüttelte, als wollte er sagen, um in die Falle zu gehen, dazu +wäre er doch zu schlau. »So gern ich Ihnen den Gefallen täte, damit will +ich nichts zu tun haben. Ich glaube, daß er ziemlich lange, schwarze +Haare hatte, und daß er sozusagen träumerisch dahergeschlendert kam. Und +wenn Sie ihn da vor mich hinstellen würden, würde ich ihn ja auch wohl +wiedererkennen. Aber ob nun sein Kittel grau oder grün oder braun war, +und was er für Stiefel anhatte, und ob er Löcher in den Strümpfen hatte, +und was dergleichen mehr ist, das könnte ich wahrhaftig nicht sagen.« + +»Haben Sie gar nicht darüber nachgedacht, was für ein Mann das sein +könnte?« fragte der Vorsitzende. + +»Na, das sah ich ja, Herr Präsident, daß er Löffel verkaufte,« sagte der +Hausmeister, »dabei war nichts nachzudenken. Das nähme meine Zeit doch +viel zu sehr in Anspruch, wenn ich mir über jeden Hausierer Gedanken +machen wollte. Sie müssen sich nur vorstellen, was für Leute bei uns aus +und ein gehen! Da ist zum Beispiel im dritten Hause im zweiten Stock der +Herr Rübsamen, Komponist und Musikschriftsteller, ein schrecklich +nervöser Mensch, und wenn ich nicht so viel Geduld mit ihm hätte, wäre +er längst ausgezogen. Sie müssen nur sehen, was für Leute zu dem +kommen, da stößt man sich nachher an nichts mehr. Herren und Damen +kommen, die ihm was vorsingen oder vorspielen, die reine Zigeunerbande, +und nachher sind es Künstler und feine Leute gewesen. An dem Tage ist +übrigens auch der Klavierstimmer bei ihm gewesen, den hat er +weggeschickt, weil er von der Ursula, dem Mädel, gewußt hat, daß ihre +Gnädige eine schlechte Nacht gehabt hatte und schlafen sollte. Gutmütig +ist er ja, der Herr Rübsamen. Der Klavierstimmer ist aber der mit der +Zigarette nicht gewesen. Denn der hat ein rotes Gesicht und blonde +Haare, den kenne ich, weil er alle Vierteljahre zum Herrn Rübsamen +kommt.« + +»Der Mann ist also aus dem dritten Hause gekommen,« fragte der +Präsident. + +»Aus dem zweiten könnte er auch gekommen sein, wo die Pension drin ist,« +sagte der Hausmeister, »ich sah ihn erst, als er an das vordere +herankam, wo ich stand.« + +»Ich bitte den Hausmeister zu fragen, ob der Angeklagte dem Mann mit der +Zigarette ähnlich sieht,« sagte der Staatsanwalt, indem er mit +imperatorischer Gebärde den Arm ausstreckte. + +»Wollen Sie den Angeklagten daraufhin ansehen!« forderte =Dr.= +Zeunemann den Hausmeister auf. + +Der Hausmeister drehte sich langsam um und betrachtete Deruga, den die +Untersuchung zu belustigen schien, aufmerksam und erstaunt. + +»Da bin ich überfragt, Herr Präsident,« sagte er endlich. »Ich möchte +schwören, daß ich den Herrn da noch nie gesehen habe.« + +»Sie müssen sich ihn mit schwarzer Perücke und mit falschem Bart +vorstellen,« sagte der Vorsitzende. + +»Ausgeschlossen,« rief der Hausmeister mit ungewöhnlicher +Entschiedenheit. »Wenn ich mit solchen Vorstellungen anfange, kenne ich +schließlich keinen mehr vom anderen, und hernach soll ich für das +aufkommen, was ich mir vorgestellt habe, und habe unversehens einen +Meineid auf dem Halse. Denn sehen Sie, Herr Präsident, wenn man anfängt +nachzudenken, wie einer ausgesehen hat, und ihn mit dem und jenem +vergleicht, so hält man zuletzt alles für möglich, und am Ende ist es +doch nur die pure Einbildung gewesen.« + +»Sie haben also«, sagte der Vorsitzende, »kein genaues Erinnerungsbild +von dem Manne, der Sie um Feuer bat. Besinnen Sie sich noch auf andere +Personen, die am 2. Oktober zwischen vier und sechs Uhr in Ihren Häusern +verkehrten?« + +»Ja,« antwortete der Hausmeister. »Ich hatte eben meinem Buben +aufgetragen, den Maßkrug wieder in die Wirtschaft zu tragen, und sah ihm +nach, wie er über die Straße ging, da rief mich einer von rückwärts an +und fragte nach der nächsten Haltestelle für Autodroschken. Der war so +in Eile, daß er kaum abwartete, bis ich ihm ordentlich Bescheid gegeben +hatte, und gab mir einen Puff in die Seite, als er an mir vorbeilief. +Gleich darauf rief mich meine Frau, weil das Leitungsrohr in der Pension +im zweiten Hause wieder einmal verstopft war -- da stecken sie nämlich +immer ihre Knochen und ausgekämmten Haare hinein, als ob der Ausguß die +Drecktonne wäre -- na, und als ich da nachgesehen hatte und wieder in den +Garten kam, sah ich gerade den Doktor ins dritte Haus hineingehen wegen +der Frau Swieter, die unterdessen gestorben war.« + +»Was für einen Eindruck machte der Herr auf Sie?« fragte der +Vorsitzende, »der in so großer Eile war?« + +»Das weiß ich noch,« sagte der Hausmeister, »daß er einen langen, +breiten Mantel trug. Denn ich dachte bei mir, in der jetzigen Mode +tragen die Weiber Männerröcke und die Männer Weiberzeug. Von hinten hat +er wie ein eingemummtes Frauenzimmer ausgesehen. Sonst ist es aber ein +feiner Herr gewesen.« + +Der Staatsanwalt bat, noch einmal auf den Mann mit der Zigarette +zurückkommen zu dürfen. Er wünsche zu wissen, ob er reines Deutsch oder +wie ein Ausländer gesprochen habe. + +»Ja, wissen Sie«, sagte der Hausmeister, »geradeso wie unsereiner reden +ja die wenigsten. Ich habe schon oft gedacht, was redet der für ein +Kauderwelsch daher? und nachher war es doch ein Deutscher und nichts +weiter. 'Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?'« Er wiederholte sich den Satz, +wie um durch die Worte an Klang und Tonfall erinnert zu werden. »Eigen +hat es ja geklungen, aber ganz lieb, ganz spaßig, und gutes Deutsch ist +es doch auch gewesen. Der mit dem Auto dagegen, der hat so geschnauft, +daß ich ihn kaum verstehen konnte, und mich hat er, glaub' ich, auch +nicht gut verstanden, wenigstens lief er zuerst nach der falschen Seite, +obwohl ich es ihm klar auseinandergesetzt hatte. Es kann aber natürlich +auch wegen der großen Eile gewesen sein.« + +»Dieser Herr,« sagte der Vorsitzende, »ist wahrscheinlich derselbe, der +in der Pension nach Zimmern fragte und abschlägig beschieden werden +mußte. Es ist keine Spur von ihm aufzutreiben gewesen, und wir nehmen +an, daß er sich nur vorübergehend hier aufgehalten hat.« + + * * * * * + +Beim Schluß dieser Sitzung waren alle Beteiligten mit Ausnahme von +Deruga abgespannt, gereizt und aufgeregt. Herrn von Wydenbrucks Gedanken +weilten bei dem Traume der verstorbenen Frau, den Ursula geschildert +hatte, und er sprach sich darüber gegen =Dr.= Bernburger aus, als +er neben ihm durch die breiten Gänge des Justizgebäudes ging. + +»Das Kind,« sagte er, »das sie besuchte, war natürlich ein Bild für den +Vater, das Schaukeln deutet auf sinnliche Regungen. Es ist zweifellos, +daß sie ihn erwartete.« + +=Dr.= Bernburger, der sehr blaß aussah, hatte sich eben eine +Zigarre angezündet und begann sich etwas zu erholen. + +»Das ist wahr,« sagte er hastig. »Die Schlüsse von zwei +entgegengesetzten Richtungen treffen sich wie die Bohrer in einem +Tunnel. Er hatte sie um Geld gebeten, das hatte ihre Erinnerungen +belebt. Sie erwartete ihn in einer verliebten oder sentimentalen +Stimmung. Er kam in der Verkleidung eines Hausierers, der hölzerne +Löffel verkauft. Entweder ließ ihn die ins Geheimnis gezogene Ursula +ein, oder er wußte ihre Aufmerksamkeit zu hintergehen, oder Frau Swieter +selbst öffnete ihm. Wäre mir das Ergebnis der Voruntersuchung bekannt +und hätte ich Fragen stellen können, so hätte ich den Tatbestand auf +der Stelle herausgebracht. Ich lag auf der Folter, während dieser +schwerfällige Apparat arbeitete.« =Dr.= Bernburger trocknete seine +Hand mit dem Taschentuch ab, wobei seine dünnen Finger zitterten. + +»Sie glauben also,« fragte =Dr.= von Wydenbruck, »daß der Wunsch +des Wiedersehens von Deruga ausging und seinen Grund in der Geldsorge +hatte?« + +»Das halte ich für wahrscheinlich,« sagte =Dr.= Bernburger. +»Jedenfalls hat der Slowak sie getötet, und der Slowak war Deruga.« + +»Meiner Ansicht nach,« sagte =Dr.= von Wydenbruck, »lag die +magnetische Anziehung zugrunde, die Hysterische verhängnisvoll +zueinander zieht. Wie sich auch der Wunsch eingekleidet haben mag, dies +muß der Kern gewesen sein.« + +»Ob es möglich wäre, daß die weggeworfene Zigarette noch in dem Gebüsche +läge?« sagte Bernburger, seine Gedanken verfolgend. »Aber wieviel Schnee +und Regen ist schon darauf gefallen.« + +»Warum könnte es nicht auch der mit dem Auto gewesen sein?« wandte +=Dr.= von Wydenbruck ein. + +»Er zeigte unbefangen, daß er es eilig hatte. Der andere verlangte +Feuer, um unbefangen zu erscheinen, und warf die Zigarette gleich darauf +fort, weil er gar nicht rauchen wollte. Übrigens haben Raucher meistens +auch Zündhölzer bei sich. Außerdem fühlte ich es, sowie das Mädchen den +Slowaken anführte. Ich sah es wie mit dem zweiten Gesicht.« + +Herr von Wydenbruck betrachtete seinen Freund mit einem neuen Interesse +von der Seite. »Das wäre allerdings ausschlaggebend,« sagte er und +erkundigte sich, ob sein Freund schon öfter solche Erscheinungen an sich +beobachtet hätte. + +In demselben Gange, den die beiden eben durchschritten, stand Deruga mit +dem Justizrat Fein in einer Fensternische im Gespräch, beiläufig die +Vorübergehenden beobachtend. + +»Wenn ich der Präsident wäre,« sagte Deruga, »würde ich einen geladenen +Revolver mit in die Sitzung nehmen und den Zeugen vors Gesicht halten, +und wenn sie sich dann noch nicht entschlössen, vernünftig zu antworten, +schösse ich sie nieder. Der Mann hat eine unbegreifliche Geduld.« + +In diesem Augenblick sah er =Dr.= Bernburger mit seinem Begleiter +herankommen, nahm rasch eine Zigarette aus seinem Etui, trat ein paar +Schritte vor und sagte zu =Dr.= Bernburger: »Haben Sie Feuer, Euer +Gnaden?« Dann, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, stellte er +sich wieder neben den Justizrat, indem er ihm aus ernstem Gesicht +zublinzelte. + +=Dr.= Bernburger war vor Erregung bleich geworden, während er +Deruga schweigend die brennende Zigarre hinhielt. Es ist klar, dachte +er, daß er sich über mich lustig macht. Über wieviel Scharfblick, +Geistesgegenwart, Frechheit und Kaltblütigkeit verfügt dieser Mensch; es +ist ihm alles zuzutrauen. Allerdings, wenn er nicht schuldig wäre, +zeugte sein Benehmen nur von der Sicherheit des Unbeteiligten. Aber die +seine war die Sicherheit des gewiegten zynischen Täters; es war die +Herausforderung eines geistvollen Verbrechers, der sich für +unüberführbar hält. + +=Dr.= Bernburger war zu erregt und zu vertieft, um seine Gedanken +laut zu äußern, er ging hastig, seinem Freund um einige Schritte voraus. + +»Er hat Ihre Gedanken erraten,« sagte dieser. »Das ist wieder ein +Symptom von Hysterie, ebenso wie die Kaltblütigkeit. Man wird doch +zuletzt einsehen müssen, daß es sich um etwas Krankhaftes, um eine Art +Lustmord handelt.« + +»Aber die Frau, die er tötete, war zweiundfünfzig Jahre alt,« sagte +=Dr.= Bernburger ärgerlich. + +»Das ist eben die Perversität,« sagte =Dr.= von Wydenbruck. +»Vielleicht verschmolz sie ihm auch dadurch mit dem Erinnerungsbild +seiner Mutter, wodurch der aus Leidenschaft und Vernichtungslust +zusammengesetzte Hang verhängnisvoll verstärkt wurde.« + +Unterdessen machte der Justizrat seinem Klienten Vorwürfe. »Sie sind +wirklich ein Topf voll Mäuse,« sagte er. »Ich müßte Ihnen ein Schloß +vor den Mund hängen. Was war nun das wieder für eine Eruption?« + +»Ach,« sagte Deruga, »warum sollte ich den beiden jungen Haifischen +nicht einen Knochen zwischen die schiefen Zähne werfen? Sahen Sie nicht, +wie ihm die Augen aus dem Kopfe quollen vor Gier? Es tut mir nur leid, +daß ich nicht zusehen kann, wie sie ihn abnagen.« + +»Mit Haifischen ist nicht zu spaßen,« sagte der Justizrat, »und obwohl +Sie ein nichtsnutziger Italiener sind, möchte ich doch nicht gerade, daß +er Sie zwischen die Zähne bekäme.« + + + + +=VII.= + + +Die Baronin hatte kaum am Arme ihres Mannes den Saal verlassen, als ein +Gerichtsdiener ihr in den Weg trat und sie im Namen des +Oberlandesgerichtsrats Zeunemann bat, ihn zu einer kurzen Unterredung in +seinem Zimmer aufzusuchen. Er sei bereit, setzte der Gerichtsdiener +hinzu, sie sofort hinzuführen. + +»Du begleitest mich doch,« sagte sie, zu ihrem Manne hingewendet, der +sich willig anschloß. Er müsse zwar gestehen, sagte er, daß er Hunger +habe; aber die Herren vom Gericht wären sicher im gleichen Fall, und so +würde es nicht lange dauern. + +Der Oberlandesgerichtsrat, sagte sie in französischer Sprache, wäre ein +ganz angenehmer Mann, etwas kleinbürgerlich eitel, aber gefällig und im +Grunde, glaubte sie, ganz auf ihrer Seite. + +=Dr.= Zeunemann hatte sich bereits umgekleidet und knabberte an +einem Stückchen Schokolade zur Stärkung. »Ich würde die Herrschaften +nicht in diesem Augenblick zurückgehalten haben,« sagte er, ihnen Stühle +anbietend, »wenn es nicht in ihrem eigenen Interesse wäre; mein Wunsch +ist, Ihnen einen Schreck oder eine unangenehme Überraschung, wenn nicht +ganz zu ersparen, so doch zu mildern.« + +»Einen Schreck, Herr Oberlandesgerichtsrat,« rief die Baronin aus, +»jetzt, wo meine Nerven durch den gräßlichen Prozeß ohnehin erregt sind! +Nein, so grausam können Sie nicht sein!« + +»Ich hoffe, das Unangenehme dadurch abzuschwächen,« sagte =Dr.= +Zeunemann, »daß ich Sie persönlich vorbereite. Ich erhielt heute früh +einen Brief Ihres Fräuleins Tochter, in dem sie schreibt, sie habe aus +der Zeitung von dem Prozeß erfahren. Sie sei außer sich, protestiere +dagegen und verlange, daß ihr Protest veröffentlicht werde.« + +»Aber das werden Sie doch nicht tun, Herr Oberlandesgerichtsrat,« rief +die Baronin, der das Blut ins Gesicht stieg. »Sie mag unter der Hand +protestieren, so viel sie will, aber das geht doch die Öffentlichkeit +nichts an. Als ob der Prozeß nicht schon Skandal genug wäre!« + +»Vielleicht ist Ihr Fräulein Tochter aus dem Grunde dagegen gewesen,« +meinte =Dr.= Zeunemann, »daß Sie sich damit befassen?« + +»Aber, lieber Oberlandesgerichtsrat,« sagte die Baronin, »Sie werden +nicht erwarten, daß ich auf die törichten Einwände eines jungen +Mädchens, eines Kindes, achte, wenn es sich um so wichtige Entschlüsse +handelt. Würden Sie das tun?« + +»Jedenfalls,« sagte =Dr.= Zeunemann, »würde ich an Ihrer Stelle +jetzt zu verhindern suchen, daß Ihr Fräulein Tochter irgend etwas in +Szene setzt. Sie scheint in großer Entrüstung und Erregung zu sein, und +zwar zum Teil deshalb, weil Sie, gnädige Frau, den Prozeß in ihrem +Interesse angeregt zu haben behaupten.« + +»O, die Undankbarkeit der Kinder,« seufzte die Baronin. »Hätte ich all +dies Entsetzliche und Skandalöse auf mich genommen, wenn ich es nicht +für meine Pflicht gehalten hätte, meiner Tochter die materiellen +Vorteile zu erkämpfen, die ihr gebühren? Warum sagst du gar nichts, +Botho?« wendete sie sich an ihren Mann. »Ich hoffe, du wirst deine +Autorität gegen Mingo in Anwendung bringen.« + +»Ich werde versuchen, sie von auffallenden Schritten zurückzuhalten,« +sagte der Baron. »Übrigens weißt du ja, liebes Kind, daß Mingo nicht +leicht zu beeinflussen ist.« + +»Sehr leicht sogar,« entgegnete die Baronin, ihre Nasenflügel dehnend, +»man muß nur verstehen, ihr zu imponieren.« + +»Dazu ist sie wohl zu sehr an uns gewöhnt,« entgegnete der Baron ruhig, +»und zu sehr von uns verwöhnt.« + +»Von dir!« berichtigte seine Frau. »Gottlob, daß sie zu weit entfernt +ist, um uns wesentliche Unannehmlichkeiten zu bereiten.« + +»Der Brief, den ich heute erhielt,« sagte =Dr.= Zeunemann, »trägt +den Poststempel Ostende.« + +»Ostende!« rief die Baronin, indem sie von ihrem Stuhl aufstand. »Sie +ist aus England abgereist, ohne uns um Erlaubnis zu fragen! Das darfst +du nicht hingehen lassen, Botho!« + +»Sie hat die Absicht hierherzukommen,« fuhr =Dr.= Zeunemann fort. + +»Ich danke Ihnen, Herr Oberlandesgerichtsrat,« sagte der Baron, sich +gleichfalls erhebend, »daß Sie uns in so rücksichtsvoller Weise gewarnt +haben. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht eine Minute länger in +Anspruch nehmen!« + +Auch die Baronin bedankte sich mit liebenswürdigen Worten und knüpfte +die Bitte daran, von den barocken Einfällen ihrer Tochter nichts bekannt +werden zu lassen. + +In dem großen Vorsaal zu ebener Erde drängte sich das Publikum noch, so +daß das Ehepaar nicht so schnell vorwärts kommen konnte, wie es +wünschte. + +Halb ärgerlich auf ihren Mann, der ihr nicht so oder so die Bahn frei +machte, halb beleidigt durch die Menschen, die nicht von selbst vor ihr +zurückwichen, stand die Baronin still, als plötzlich etwas sie bewog, +den Blick zur Seite zu wenden, und sie ganz in ihrer Nähe das Gesicht +eines Mannes sah, der sie, wie es ihr schien, mit zudringlichem Spott +betrachtete. Indem sie sich zornig abwendete,[TN1] sah sie eine +auffallende Nadel in seiner Krawatte, und es wurde ihr mit einem Male +klar, daß der Mann Deruga war. + +Ein Gefühl von Schwäche und Übelkeit überkam sie. »Warum gehen wir nicht +weiter?« sagte sie heftig zu ihrem Manne, ihn am Arm vorwärts drängend. +Er bemerkte ihre Gereiztheit, verdoppelte seine Anstrengungen, sich +einen Weg durch die Menge zu bahnen, und brachte sie in wenigen Minuten +an das wartende Auto. Mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung warf sie +sich in die Ecke des Rücksitzes. + +»Hast du Deruga gesehen,« sagte sie zu ihrem Manne, der besorgt nach +ihrem Befinden fragte, »und wie frech er mich anstarrte? Es ist +unbegreiflich, daß man diesen Menschen frei herumgehen läßt. So +schrecklich hatte ich ihn mir nicht vorgestellt.« + +»Du hast ihn doch heute nicht zum erstenmal gesehen!« sagte der Baron +verwundert. + +»Ich erkenne niemand ohne Glas,« sagte sie gereizt, »das weißt du doch. +Ich weiß nicht, wie ich mich von diesem Eindruck erholen soll. Ist es +nicht unerhört, daß ich schutzlos der Rache dieses Mannes ausgesetzt +bin? Ich werde mich keinen Augenblick mehr meines Lebens sicher fühlen.« + +Was das anbelangt, meinte der Baron, könne sie ruhig sein; ein +Angeklagter oder Verdächtiger sei immer vorsichtig. + +»Und gewisse Menschen glauben immer das, was am bequemsten ist,« setzte +sie hinzu. + +Sie werde selbst ruhiger denken, wenn sie gegessen hätte, prophezeite +der Baron gutmütig. Sie sei überhungrig, übermüde und durch die +schlechte Luft angegriffen. Dazu sei noch der durch Mingo verursachte +Schreck gekommen. Sie solle sich am Nachmittag ausruhen, anstatt sich +wieder stundenlang in den dumpfen Gerichtssaal einzusperren und sich +widerwärtigen aufregenden Eindrücken auszusetzen. Er sei bereit, +hinzugehen und ihr ausführlichen Bericht zu erstatten; ohnehin würden +die nächsten Vernehmungen nichts Neues bringen. + +Dies verhielt sich in der Tat so. Frau von Liebenburg, die Inhaberin der +Pension im zweiten Hause, erklärte vornehm ablehnend, daß sie nur feines +Publikum habe, daß noch nie etwas mit ihren Pensionären vorgekommen sei, +daß sie nichts den Prozeß Betreffendes aussagen könne. Sie könne +natürlich nicht für jeden einstehen, der bei ihr nach Zimmern frage, und +Buch führen könne sie auch nicht über jeden, der käme, aber sie weigere +sich entschieden, irgend etwas über die bei ihr verkehrenden +Herrschaften zu sagen. Sie bäte dringend, daß die bei ihr wohnenden +feinen Herrschaften nicht mit Fragen und Nachforschungen inkommodiert +würden, die zu keinem Ergebnis führen könnten. + +Nach dieser empfindlichen Dame erschien Frau Rübsamen, die Frau des +Komponisten und Musikschriftstellers im zweiten Stock des dritten +Hauses, und entschuldigte ihren Mann, der leidend sei und überhaupt viel +zu nervös, um als Zeuge auftreten zu können, da schon die Vorstellung, +in einen solchen Prozeß verflochten zu sein, ihn in krankhafte Erregung +versetzt habe. Er habe nun einmal ein künstlerisches Temperament, man +könne mit ihm nicht umgehen wie mit gewöhnlichen Menschen. Er hätte doch +auch nichts nützen können, denn sein Gedächtnis sei schwach, und wenn er +Anstrengungen mache, um sich zu besinnen, bekäme er nervöse Zustände. + +Sie selbst hingegen besänne sich noch wohl auf den 2. Oktober, weil die +Ursula sie am Morgen gebeten habe, wenn möglich, ein wenig Rücksicht zu +nehmen; Frau Swieter habe eine so schlechte Nacht gehabt und könne +vielleicht am Tage ein wenig schlafen. Natürlich nähmen ihr Mann und sie +gern Rücksicht. Frau Swieter wäre ja auch eine angenehme Partei gewesen, +und ihr Mann habe immer gesagt, er könne sie nicht genug schätzen, weil +sie nicht Klavier spielte und auch sonst kein Instrument ausübte; nur +die Krankheit sei ihm peinlich gewesen. Die Vorstellung, einen +Sterbenden oder Toten im Hause zu haben, sei nämlich ganz unerträglich +für ihren Mann. Jetzt wohne eine Familie über ihnen, die turnten alle +miteinander morgens und abends, und ihr Mann sage fast täglich, er würde +noch so gern auf die arme Frau Swieter Rücksicht nehmen, wenn er nur die +Turner nicht über dem Kopfe hätte. Sie hätten also das ihrige getan und +den Klavierstimmer fortgeschickt. Es sei ohnehin die Zeit gewesen, wo +ihr Mann Mittagsruhe zu halten pflegte. + +Eine Stunde später sei dann ein Herr dagewesen, sie hätte ihn aber +eigentlich nicht für einen feinen Herrn angesehen. Der hätte gebeten, +Herr Rübsamen möchte doch seine Stimme prüfen, ob es der Mühe wert sei, +sie ausbilden zu lassen. Sie hätte den Herrn in den Salon geführt und es +ihrem Manne gesagt; der hätte gefragt, was für ein Mann es wäre, worauf +sie gesagt hätte, ihr käme er vor wie ein Kutscher oder höchstens ein +Tapezierer. Solche Leute hörten nämlich oft, daß irgendein armer Teufel +durch seine schöne Stimme sein Glück gemacht hätte, und wenn sie dann so +recht brüllen könnten, daß die Wände zitterten, bildeten sie sich ein, +sie wären für die Kunst geboren. Nun, daraufhin hätte ihr Mann gar +keine Lust dazu gehabt, das Prüfen von Stimmen wäre ohnehin ein +undankbares Geschäft. Wenn man es den Leuten ausreden wollte, würden sie +oft recht grob, und für einen nervösen Mann wie Herrn Rübsamen sei das +Gift. + +Ihre Aufgabe wäre es denn in solchen Fällen, so einen Menschen mit guter +Manier herauszureden, und das hätte sie auch diesmal getan, indem sie +gesagt hätte, ihr Mann sei nicht zu Hause, er möchte ein andermal +wiederkommen. Sie müsse aber sagen, er hätte sich nie wieder blicken +lassen. + +Ob sie den Herrn nach seinem Namen gefragt habe, erkundigte sich +=Dr.= Zeunemann. + +»Nein, nein,« sagte Frau Rübsamen, »ich wollte mich möglichst wenig +einlassen. Nun, nach ein paar Jahren heißt er vielleicht schon Mirabilio +oder Birbanti.« + +»Das führt zu nichts,« sagte =Dr.= Zeunemann leise zu seinem +Nachbarn, der hinter der Hand gähnte. »Ich wußte es vorher.« + +»Schluß, Schluß,« antwortete der Beisitzer ebenso. + +Ob um die Mittagszeit ein Bettler oder Hausierer bei ihr angeläutet +habe, fragte =Dr.= Zeunemann noch, unterbrach aber die Zeugin, da +sie eine Reihe von Möglichkeiten zu erörtern begann, mit der +Aufforderung, nur das mitzuteilen, was sie bestimmt wisse. Etwas +Bestimmtes in bezug darauf zu wissen, wies jedoch Frau Rübsamen mit +Entschiedenheit von der Hand, worauf die Untersuchung über verdächtige +Besucher des Hauses an dem verhängnisvollen Tage einstweilen +abgeschlossen wurde. + + + + +=VIII.= + + +»Das war schön von Ihnen, daß Sie die Kaution für mich hinterlegt +haben,« sagte Deruga zu Peter Hase, indem er ihm die Hand reichte. »Ganz +wie Sie, Gentleman durch und durch. Ich bin Ihr ergebener Diener.« + +Ein Anflug von Röte färbte das blasse Gesicht des Schriftstellers. + +»Man hatte mir fest versprochen, daß mein Name nicht genannt werden +sollte,« sagte er, die Augenbrauen zusammenziehend. »Ich verstehe nicht, +wie man davon abgehen konnte.« + +Deruga lachte. + +»Ich habe Ihnen nur eine Falle gestellt, und Sie sind hineingegangen,« +sagte er. »Also Sie sind es wirklich. Geben Sie zu, daß ich ein +Menschenkenner bin! Wenn ich stillsitzen könnte wie ihr Deutschen, wäre +ich vielleicht auch ein Dichter.« + +»Ein besserer als ich,« sagte Peter Hase ernsthaft. »Sie verstehen es +jedenfalls besser, Ihr Leben zu dichten.« + +»Das fällt bei Ihnen wohl eher trocken aus,« meinte Deruga. +»Gesellschaftslöwe, reiche Frau, Liebling des Publikums, Geheimrat, etwa +noch der persönliche Adel. Etwas schematisch, aber doch ganz behaglich. +Wie? Immer in einer so leicht parfümierten Atmosphäre.« + +»Ich möchte den Abend mit Ihnen zubringen,« sagte Peter Hase ablenkend. +»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben?« + +»Das wäre Bett und Schlaf,« sagte Deruga. »Beides wundervoll, aber ich +kann es immer haben, Sie dagegen vielleicht nur heute. Machen Sie mit, +Justizrat?« wendete er sich an seinen Anwalt. + +Dieser sagte, er müsse sich nach seiner Familie umsehen, ein halbes +Stündchen habe er aber noch Zeit. Er freue sich, sagte er, als sie in +dem abgeseilten Raum einer Restauration beim Essen saßen, Peter Hase +kennenzulernen. Er sei zwar nur ein einfältiger Fachmensch, habe keine +Zeit für die schöne Literatur übrig, doch sei der Ruf von Hases Namen +zu ihm gedrungen. In seiner Jugend habe er sich für einen Kenner und +Feinschmecker in den Künsten gehalten, das sei aber wohl jugendliche +Selbstüberhebung gewesen. + +»Das glaube ich auch,« sagte Deruga. »Ein feines Beefsteak, etwas +blutig, am Rost gebraten, darauf verstehen Sie sich besser.« + +Der Justizrat lächelte gutmütig. »Nun ja,« sagte er, »das zu studieren +hat man auch täglich Gelegenheit, ein gutes Buch ist selten. Und wissen +Sie, wahre Geschichten, die würde ich lesen. Dabei kann man etwas +lernen. Aber mich von fremder Leute Phantasien an der Nase führen zu +lassen, dazu ist mir meine Zeit zu kostbar.« + +»Das Leben ist leider im allgemeinen alltäglich und fade,« sagte Peter +Hase, »und die Dichtung soll ein schöner, bunter Teppich sein.« + +»Ja,« sagte Deruga, »ein purpurnes Meer voller Ungeheuer, Wunder, +Kostbarkeiten und Seltenheiten. Grün wie Glas, süß wie Opal, schwarz wie +Sturm, unerschöpflich, unergründlich, immer von zauberhaften Geburten +gärend und gefräßig nach allem Lebendigen. Aber gerade so ist doch das +Leben.« + +Peter Hase betrachtete Deruga aufmerksam, in dessen schmalen Augen sich +die Vorstellungen zu spiegeln schienen. »Sie sind eben ein Dichter dem +Gefühle nach,« sagte er. »Ihr Gefühl macht es so.« + +»Und im Grunde ist es alles derselbe gemeine Straßendreck,« sagte Deruga +in verändertem Ton. + +»Nun, da gehen Sie wieder zu weit,« sagte der Justizrat. »Betrachten wir +einmal unseren Prozeß! Sie sind mir gerade originell genug, und die +Baronin Truschkowitz ist jedenfalls auch keine gewöhnliche Nummer.« + +»Ich hasse diese Art Weiber,« fiel Deruga schnell ein. »Selbstsüchtig, +habsüchtig, beschränkt, kalt und ewig nach neuen Sensationen lüstern. +Ohne Geld wäre sie eine Dirne.« + +»Aber, aber, Verehrtester,« sagte der Justizrat, gelinde scheltend, »da +scheinen Sie mir doch ein bißchen parteiisch zu sein.« + +»So,« sagte Deruga, sich erhitzend, »finden Sie es anständig, aus +Geldgier einen Unbekannten des Mordes zu verdächtigen? Einen Menschen, +der ihr nichts zuleide getan hat? Was für eine Gesinnung! Ich sollte +eine alternde Frau, die mein Weib war, die Mutter meines einzigen, +meines teuren, heiligen Kindes, töten, weil sie mir kein Geld, oder +nicht genug Geld geben wollte, womöglich, um ein paar Monate früher in +den Besitz ihres Vermögens zu kommen? Ich, das schwöre ich Ihnen, wäre +nie auf einen solchen Gedanken gekommen.« + +»Herrgott,« sagte der Justizrat, »solche Sachen kommen doch aber vor. +Man kann das Leben nicht immer in rosa Beleuchtung sehen. Es sind schon +Menschen um ein paar Taler umgebracht worden. Außerdem vergessen Sie +oder wollen Sie vergessen, daß die Baronin Ihnen dies Motiv nicht +ausdrücklich untergelegt hat, und wenn man Sie für rachsüchtig, hitzig +und tollköpfig hält, tut man Ihnen eigentlich nicht so unrecht.« + +Deruga stützte den Kopf in die Hand und antwortete nicht. + +»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen,« hub Peter Hase nach einer +Pause an, »daß ich der Baronin auf ihre Aufforderung hin einen Besuch +gemacht habe. Sie machte mir den Eindruck einer Dame.« + +»Was für einen Eindruck sollte sie auch sonst machen?« sagte Deruga +scharf. »Einer Straßenputzerin oder eines Stallknechtes? Übrigens ist es +ja einerlei. Sie will vermutlich mit dem berühmten Schriftsteller +kokettieren.« + +»Sie kokettiert nicht mehr, als es jede Dame tut,« sagte Peter Hase. +»Sogar in einer besonders geschmackvollen, ihrem Alter angemessenen Art +und Weise. Es kommt mir eher so vor, als wäre der Wunsch in ihr +aufgetaucht, ich sollte ihre Tochter heiraten. Sie sprach mir immer +wieder von ihrer Tochter.« + +»Nun ja,« sagte Deruga, höhnisch lachend, »Dirne und Kupplerin, das ist +ja fast dasselbe. Nur ist es besonders gemein, die eigene Tochter zu +verkuppeln. Eine Frau, die die Männer kennen muß. Sie werden mir doch +zugeben, meine Herren, wir haben uns alle gehörig im Schlamme gewälzt.« + +»Wir sind allerdings nicht so rein wie ein Mädchen aus guter Familie,« +sagte Peter Hase unverändert ruhig und höflich, »aber ich weiß nicht, ob +das überhaupt zu wünschen wäre. Die Frauen selbst wünschen es +augenscheinlich nicht.« + +»Nein, sie lieben augenscheinlich den Schmutz,« sagte Deruga. »Basta, +wie denken Sie über die kleine Baronesse?« + +»Bevor ich sie gesehen und gesprochen habe,« sagte Peter Hase, »enthalte +ich mich jeder Entscheidung. Da ihr Vermögen nicht außerordentlich ist, +muß sie ungewöhnliche Qualitäten haben, um für eine Heirat in Betracht +zu kommen.« + +»Auf mein Vermögen rechnen Sie also nicht,« sagte Deruga. »Das ist +anständig und auch sehr verständig. Die Deutschen sind zwar gute Hunde, +doch ein italienischer Hirsch, wenn er vielleicht auch nicht so schnell +läuft, ist gewandter und läßt sich nicht fangen.« + +»Sie sind heute verdrießlich, Deruga,« sagte der Justizrat, indem er +aufstand, um sich zu empfehlen, »und in Ihrer Lage wäre ich es +vielleicht auch. Was die deutschen Hunde betrifft, so kann ich zwar +nicht besonders gut laufen, aber leidlich bellen und beißen, und stelle +mich Ihnen in dieser Hinsicht zur Verfügung. Auf Wiedersehen!« + +»Gott sei Dank, erst übermorgen,« sagte Deruga, dem ein Versuch, +liebenswürdig zu lächeln, mißlang. »Morgen ist Sonntag.« + +Er werde doch vielleicht zum Zweck einer kurzen Unterredung vorsprechen, +sagte Fein. + +»Auch gut,« erwiderte Deruga, »ohnehin ist der Sonntag der +Selbstmörderwagen am Zuge des Lebens, Montag ist Totengräber.« + + + + +=IX.= + + +Der Sonntag zeigte sich indessen Deruga unverhofft wohltätig, indem ein +Freund seiner Kindheit und Jugend eintraf, =Dr.= Carlo Gabussi, +Landarzt in einem Dorfe oberhalb Belluno, den Zeitungsberichte über den +Prozeß veranlaßt hatten, nach München zu kommen, um Deruga allenfalls +beizustehen. Die Freunde umarmten und küßten sich wieder und wieder, und +es dauerte eine Weile, bis sie ein zusammenhängendes Gespräch zu führen +imstande waren. + +»Kommst du wirklich meinetwegen, Carlo, lieber Junge?« sagte Deruga. +»Das ist doch der Mühe nicht wert, die Reise, die Kosten und alles das.« + +»Unsinn,« sagte Gabussi, »ich war froh, Gelegenheit zu einer Reise zu +haben. Ich bin ja seit zehn Jahren nicht von meinem gesegneten Dorfe +heruntergekommen. Wenn ich aber etwas für dich tun könnte, wäre ich +allerdings glücklich. Denke dir von den vielen Opfern, die du mir +gebracht hast, einmal etwas wiederzugeben!« + +»Ich dir?« lachte Deruga. »Meinst du, daß du monatelang Tag für Tag bei +mir saßest, als ich krank im Spital lag?« + +»Nun ja,« sagte Gabussi, »du bist zwar nicht mir zuliebe krank geworden, +aber ich konnte doch zu dir kommen und brauchte nicht immer zu Hause zu +sein, wo es so wenig Unterhaltung für mich gab. Du hörtest mir zu, wenn +ich von meiner Angebeteten erzählte, und machtest mir Gedichte für sie.« + +Deruga fragte, wie es ihr gehe, und ob sie noch immer nicht geheiratet +hätten. + +»Nein,« sagte Gabussi mit einem Anflug von Wehmut. »Dadurch, daß meine +Mutter bei mir wohnt, und daß meine arme Schwester lahm ist, kann ich +nicht gut noch eine Frau unterbringen. Geld verdienen könnte sie auf +meinem Dorfe auch nicht, denn eine verheiratete Lehrerin wird nicht +angestellt. Aber ich bin ja so glücklich, daß ich meine Mutter noch +habe! Sie ist jetzt so leicht, daß ich sie auf einem Arme tragen kann, +und ich trage sie jeden Abend ins Bett, obwohl sie sich fürchtet; aber +ich kann es nicht lassen, und im Grunde hat sie es auch gern. Natürlich, +meine Lisa hat jetzt einige weiße Haare in ihren schönen schwarzen +Haaren. Sie sehen mir so aus wie eine Silberspur, die Gottes liebkosende +Hand zurückgelassen hat. Kannst du dir das denken? Und wenn ich sie so +gut und fröhlich zwischen ihren Schulkindern sehe, dann wird mir wohl +das Herz eng, und ich denke: Wenn ihr so unsere Kinder an der Hand +hingen! Aber das ist ja selbstsüchtig und unrecht, wenn ich bedenke, wie +gut es mir geht, zum Beispiel mit dir verglichen, mein Dodo, mein alter, +lieber Junge! Wie konntest du aber nur in solchen höllischen Wirrwarr +verwickelt werden! Nein, sprich jetzt nicht davon, wenn du nicht magst! +Wir haben Zeit, ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.« + +»Die Schweinerei soll mir gesegnet sein,« sagte Deruga, »denn ohne sie +hätte ich dich so bald nicht gesehen, Gabussi! Ein bißchen magerer bist +du geworden, aber sonst ganz das liebe, alte, ehrbare, erschrockene +Gesicht!« + +»Aber du bist mein bronzener David nicht mehr,« entgegnete Gabussi. »Du +siehst grau aus, das kommt vom Mangel an Luft und Bewegung. Laß uns +spazierengehen -- oder, noch besser, ich nehme einen Wagen, und du zeigst +mir die Stadt und die Umgegend.« + +Der Tag war grau und weich, und der offene Wagen fuhr langsam durch die +tauenden Straßen, vom Geriesel der Tropfen wie von einem musikalischen +Geleit begleitet. Deruga saß behaglich zurückgelehnt und gab Antwort auf +die Fragen Gabussis, den die stattlichen Plätze und Gebäude entzückten. +In einer stillen Straße, in die der Kutscher, dessen Gutdünken sie die +Führung überließen, einlenkte, erkannte Deruga plötzlich ein +schmiedeeisernes Tor. Der gepflasterte Weg, der an den Häusern entlang +führte, lag verlassen, und das Fliedergebüsch war noch unbelaubt, nur +eine Weide spannte keimende Zweige in einem feinen Strahlenbogen +hinüber. + +»Was ist dir?« fragte Gabussi, seinen Arm in den des Freundes schiebend, +der sich aufgerichtet hatte. + +»Wir fuhren eben an dem Hause vorüber, wo die arme Marmotte wohnte,« +sagte Deruga. + +Gabussi schwieg. Erst nach einer langen Pause sagte er: »Du warst doch +einmal glücklich, Dodo.« + +»Nein, damals nicht,« erwiderte dieser. »Mein Gemüt war zu ruhelos, mein +Herz zu empfindlich und mein Verstand zu scharf. Ich glaube, ich müßte +ein Gott sein, um mit meinen Gaben glücklich zu sein.« + +»Es ist doch aber auch schön, so begabt zu sein, wie du bist,« sagte +Gabussi. »Weißt du noch, wie oft unser Religionslehrer zu dir sagte: +'Sigismondo, Verstand hast du, Verstand genug. Aber der Verstand ist ein +höllisches Feuer, die Vernunft ist ein göttliches Licht. Und Vernunft +hat mancher alte Besenbinder mehr als du.'« + +Deruga lachte. »Ja, auf den Verstand war er schlecht zu sprechen,« sagte +er. »Und weißt du, wie er dich vor mir warnte und prophezeite, es würde +ein Freimaurer und Atheist aus mir werden, wenn ich nicht etwa gar ein +Heiliger würde.« + +Der Wagen hatte inzwischen die städtischen Anlagen erreicht, und sie +sahen einen schnellen, starken Fluß unter den dicken Stämmen alter +Weiden und Pappeln durch weite Wiesen fließen. Eine schwere Erinnerung +aus naher Vergangenheit vermischte sich in Deruga wunderbar mit den +Erinnerungen der Kindheit und stimmte ihn weich und träumerisch. + +»Damals, als wir Buben waren,« sagte Gabussi, »da warst du doch +glücklich.« + +»Wenn ich nicht tief unter dem Glück immer gefühlt hätte, wie häßlich, +armselig, falsch und ungerecht alles um mich her war,« sagte Deruga. + +»Du, der einen solchen Engel zur Mutter hatte!« rief Gabussi aus. »Und +weißt du, wie gern du bei uns warst, und wie du stillhieltest, wenn +meine Mutter dich auf die Stirn küßte und 'kleiner Fremdling' nannte? +Und wie wir unter dem Dache saßen und unsere Aufgaben lernten und uns +vor jedem Schatten fürchteten?« + +Als die Freunde von der Fahrt zurückkehrten, war eine wohlige +Zufriedenheit über Deruga gekommen. + +»Wenn diese dumme Geschichte vorbei ist,« sagte er zu Gabussi, »werde +ich ein neues Leben anfangen. Was meinst du, wenn ich zu dir in die +Berge käme?« + +»Aber, Dodo,« sagte Gabussi außer sich vor Freude, »das wäre ein +Paradies für mich. Und wie würden meine Mutter und meine Schwester sich +freuen! Und meine Lisa für mich! Das größte Glück für meine Lisa ist, +wenn mir etwas Glückliches begegnet. Zu denken, daß du mich zuzeiten auf +meinen Gängen begleitest und wir plaudern und schwatzen und Erinnerungen +austauschen wie heute!« + +Sie wurden durch ein feines Klopfen unterbrochen, das schon einige Male +ungehört in das laute Gespräch geklungen hatte. Als Gabussi zur Tür ging +und öffnete, sah er ein kleines, zierliches, blondhaariges Mädchen mit +großen, dunkelbraunen Augen, die ihn ängstlich, doch mit Feuer, ansahen. + +»Ich wünsche Herrn =Dr.= Deruga zu sprechen,« sagte eine helle, von +der Erregung etwas gedämpfte und zitternde Stimme. »Sind Sie es?« + +Gabussi schüttelte den Kopf und wies auf seinen Freund, indem er ihn +zugleich mit den Augen fragte, ob er gehen solle. + +»Nein, bleibe,« bat Deruga, die Hand auf seinen Arm legend; und er +fragte das Fräulein, mit wem er die Ehre habe zu sprechen. + +»Ich bin Mingo von Truschkowitz,« sagte die kleine Dame, »und komme, um +Ihnen zu sagen, daß es mir sehr leid tut, daß meine Mutter den Prozeß +gegen Sie angefangen hat, und daß ich nichts, gar nichts damit zu tun +habe. Da meine Tante Ihnen das Vermögen vermacht hat, kommt es Ihnen zu. +Überhaupt hat meine Mutter nicht das mindeste Recht darauf, da sie sich +nie um Frau Swieter bekümmert hat.« + +»Armes Kind,« sagte Deruga, »es muß Ihnen schwer geworden sein, so +allein zu mir zu kommen. So alt wie Sie würde meine kleine Mingo jetzt +auch sein,« setzte er nach einer Pause hinzu, während welcher seine +Augen liebevoll auf ihr geruht hatten. + +»Dasselbe,« sagte Mingo und zögerte einen Augenblick, »sagte Ihre +verstorbene Frau, als sie mich sah.« + +»Haben Sie meine Frau einmal besucht?« fragte Deruga. »Wann war es? +Erzählen Sie mir davon.« + +»Es war vor acht Jahren,« berichtete Mingo. »Ich besuchte sie, weil ich +so vieles von ihr gehört hatte, was mich anzog. Bei uns fand ich alles +herkömmlich und alltäglich und unbedeutend. Ich liebte mir vorzustellen, +daß irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihr bestünde, weil ich so +heiße wie sie. Sie gefiel mir so gut, sie war mir wie ein +geheimnisvolles Märchen; aber sie sagte, ich solle nicht wiederkommen, +wenn es ohne Wissen meiner Eltern geschehen mußte. Vielleicht hatte mein +Besuch sie auch traurig gemacht, weil ich sie an ihr verlorenes Kind +erinnerte.« + +»So lebt doch wenigstens ein kleiner Mingo,« sagte Deruga warm. »Nach +Ihrer Meinung,« fragte er nach einer Pause, »bin ich also mit Unrecht +angeklagt?« + +»Nach dem, was Ihre Frau mir damals von Ihnen erzählte,« sagte sie mit +Nachdruck, »bin ich überzeugt, daß Sie ihr absichtlich nie etwas zuleide +getan haben.« + +»Ich habe ihr viel zuleide getan,« sagte Deruga, »aber aus Liebe.« + +»Das zählt nicht,« sagte Mingo entschieden und fuhr zögernd fort: »Ihre +Frau zeigte mir auch ein Bild von Ihnen.« + +»Es scheint aber nicht, daß es ähnlich war,« sagte Deruga lachend, »oder +ich habe mich seitdem sehr verändert.« + +»Nicht so sehr, wie es mir zuerst schien,« sagte sie. + +Gabussi beteuerte, daß sein Freund sich nur zu seinem Vorteil verändert +habe, und forderte das kleine Fräulein dringend auf, dies Urteil zu +bestätigen. + +»Das weiß ich nicht,« sagte sie, tief errötend, »aber wie ein alter Mann +sieht Herr Deruga nicht aus.« + +»Ihnen gegenüber bin ich sehr alt und weise,« sagte Deruga gütig, »und +vermöge dieser Weisheit gebe ich Ihnen den Rat: Entzweien Sie sich +meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter, wenn sie mir auch unrecht tut! Ein +Kind schuldet seiner Mutter zu viel, um ihr jemals zum Gläubiger werden +zu können. Sprechen Sie es aus, wenn Sie anderer Meinung als sie sind, +aber nicht ohne den Ton zärtlicher Liebe! Versprechen Sie mir das?« + +Er streckte ihr die Hand hin, in die Mingo völlig überwunden ihre kleine +legte. + +Carlo Gabussi umarmte, als das Fräulein gegangen war, seinen Freund mit +Begeisterung, lobte die Kleine und erkundigte sich nach der Mutter, die +eine Teufelin sein müsse. + +»Wenn sie das noch wäre,« sagte Deruga. »Sie ist nur eine glatte, hohle, +genußsüchtige Frau, zu oberflächlich selbst, um lasterhaft zu sein. Ein +Bild unserer Gesellschaft, wo die großen Räuber geehrt und die kleinen +gehangen werden. Äußerlich ist sie nicht unangenehm.« + +»Und warum haßt sie dich so?« fragte Gabussi. + +»Weil ich das Geld bekommen habe, worüber sie bereits zu ihren Gunsten +verfügt hatte,« sagte Deruga. »Übrigens scheine ich ihr gar nicht zu +mißfallen.« + +»Wie meinst du das?« fragte Gabussi. »Hast du denn mit ihr gesprochen?« + +»Bis jetzt nur durch die Augen,« sagte Deruga. »Aber ich verstehe mich +ja gut auf Weiber. Wenn ich darauf einginge, wäre sie sehr geneigt, +eine Liebelei mit mir anzufangen.« + +»Aber, Dodo,« rief Gabussi entrüstet aus, »das ist ja eine abscheuliche +Entartung! Mit einem Manne kokettieren, den man ins Zuchthaus oder etwa +gar auf das Schafott zu bringen im Begriffe ist. Ich verstehe solche +Sachen nicht. Könnte ich dich nur aus den Weibergeschichten +herauswickeln, die die letzte Ursache deines Unglücks sind! Du solltest +wieder heiraten, eine einfache, brave, liebe Frau, und dann zu mir +hinauf in die Berge kommen. Was hast du von dieser heillosen +Schlamperei? Luft, Licht, Sauberkeit, das sind die wichtigsten +Verordnungen der modernen Gesundheitslehre.« + +»Für gesunde Seelen ausgezeichnet,« sagte Deruga. »Aber Kranke brauchen +warmen Dreck und mollige Fäulnis.« + +»Unsinn,« sagte Gabussi in großer Erregung, »der Satz ist Unsinn, und +die Voraussetzung, daß du krank bist, auch. Du bist nur bequem und zu +gutmütig. Versprich mir, daß du nichts Neues anzettelst! Auch nicht aus +Mitleid. Schließlich geraten die Frauen durch die Liebe nur noch tiefer +in den Sumpf. Und versprich mir, sollte diese Baronin wirklich mit dir +kokettieren wollen, daß du ihr die verdiente Abfertigung zuteil werden +läßt!« + +Deruga wollte sich ausschütten vor Lachen über seinen Freund, der, mit +den langen Armen gestikulierend, wie ein Bußprediger vor ihm stand. »Ich +habe höchstens Lust,« sagte er endlich, als er wieder sprechen konnte, +»sie noch mehr zu reizen, um sie hernach desto empfindlicher kränken und +beschämen zu können. Ich verabscheue diese Person.« + +»Ach, Dodo!« seufzte Gabussi, »das ist schlüpfrig und gefährlich. Laß +sie doch gehen, wenn du sie verabscheust! Tu es um der entzückenden +Kleinen willen, wenn du es nicht aus Selbstachtung tust!« + +In Derugas Gesicht kam ein weicher Ausdruck. »Kleine Mingo,« sagte er. +»Ihr möchte ich wirklich nichts zuleide tun.« + +»Siehst du,« sagte Gabussi eifrig. »Es war ein Unglück, daß du deine +Tochter verlieren mußtest. An ihrer Hand wärest du gewiß nur reine, +schöne Wege gegangen.« + +»Oder ich hätte sie mit mir in den Schlamm gezogen,« sagte Deruga, +plötzlich verdüstert. + +»Mensch, führe nicht so verzweifelte Reden!« schalt Gabussi, »sonst +könnte sogar ich an dir irre werden.« + +Deruga umarmte und küßte seinen Freund. »Immer der alte,« lachte er. +»Hast du vergessen, daß man mich nicht so ernst nehmen muß? Ich bin kein +am Spalier gezogener Pfirsich. Man kann meine Worte nicht so ohne +weiteres genießen, es muß erst etwas Schmutz herausgekocht und +abgeschäumt werden. Hast du das vergessen?« + +Auch Gabussi lachte nun. »Du hast recht, ich bin ein schwerfälliger +Dummkopf,« sagte er. »Es ist kein Wunder, wenn dich in deiner +unglücklichen Lage manchmal tolle Launen überkommen. Der muß vor allen +Dingen ein Ende gemacht werden.« + +Der Justizrat, den er befragte, sprach sich ziemlich hoffnungsvoll aus. +Deruga habe zwar nicht durchaus einen guten Eindruck gemacht, und es +bleibe zu vieles im Dunkeln, als daß jeder Verdacht aufgehoben würde, +aber die vorhandenen Indizien genügten seiner Ansicht nach durchaus +nicht, daß gewissenhafte Geschworene daraufhin ein Schuldig aussprechen +könnten. Gabussis freundschaftliche Gefühle waren davon nicht +befriedigt; er bestand darauf, als Zeuge aufzutreten, damit die Menschen +Deruga mit seinen Augen, das heißt, wie er wirklich wäre, sähen und ihn +freisprächen, nicht, weil er nicht überführt werden könnte, sondern von +seiner Schuldlosigkeit überzeugt. + +»Sie sind mit Vorurteilen an dich herangetreten,« sagte er. »Sie haben +nur einen Ausschnitt von dir kennengelernt. Könnte man ein Gemälde +richtig beurteilen, wenn man nur ein millimetergroßes Stückchen davon +betrachtet? Ich will ihnen von deiner Kindheit und deinen Jugendjahren +erzählen, so wie du bist, ohne Übertreibung und künstliche Beleuchtung. +Das ist eine induktive Methode, die den wissenschaftlichen Deutschen +zusagen muß.« + + * * * * * + +Gabussis Erscheinung machte einen günstigen Eindruck. Man fand, daß +seine ehrlichen braunen Augen, sein schlichtes Auftreten und freimütiges +Reden eines Deutschen würdig wären. Da er ein paar Semester in Wien +studiert hatte, sprach er ziemlich gut Deutsch, wenn er langsam und +vorsichtig vorging. Er sei, erzählte er, mit dem Angeklagten seit früher +Kindheit bekannt, sie hätten dieselbe Schule und später dasselbe +Gymnasium besucht. Dodo, wie er genannt wurde, sei in seinem, Gabussis, +elterlichen Hause gern gesehen worden. Man habe bewundert, wie viel er +geleistet, unter wie schwierigen Verhältnissen er sich durchgearbeitet +habe. + +»Worin bestanden die schwierigen Verhältnisse?« fragte der Vorsitzende. + +»Seine Familienverhältnisse waren ungünstig,« erklärte Gabussi. »Er +wurde zu Hause viel beschäftigt, so daß er oft die Nacht zu Hilfe nehmen +mußte, um mit den Schularbeiten fertig zu werden.« + +»Wie kam das?« fragte der Vorsitzende, »was war sein Vater?« + +»Sein Vater war damals Obstverkäufer,« antwortete Gabussi. »Er hatte +ein kleines Gewölbe hinter dem alten Rathause.« + +»So,« sagte der Vorsitzende, in den Akten blätternd. »Nach Derugas +Angabe war sein Vater Kaufmann.« + +»Nun ja,« sagte Gabussi, »ein Obstverkäufer ist doch ein Kaufmann.« + +»Übrigens,« setzte er hinzu, indem er einen beunruhigten Blick auf +seinen Freund warf, »hat er nicht immer dieselbe Beschäftigung gehabt. +Er war ein guter, aber ruheloser Mann.« + +Der Vorsitzende bat den Zeugen, Derugas Vater etwas ausführlicher zu +charakterisieren. + +Er habe ihn zu wenig gesehen und gesprochen, um ein maßgebendes Urteil +fällen zu können, sagte Gabussi. Wenn er dagewesen wäre, habe er meist +schwermütig und ohne Anteil zu nehmen in einem Winkel gesessen, nur +selten einmal sei er mutwillig gewesen und habe dann laut gelacht und +gescherzt. + +»Er war also nicht immer da?« sagte =Dr.= Zeunemann. + +»Nein,« sagte Gabussi, »er bekam zuweilen einen Anfall, der ihn zwang, +die Familie zu verlassen und sich irgendwo herumzutreiben. Er blieb dann +oft wochenlang, ja monatelang aus.« + +»Trank er?« fragte der Vorsitzende. + +»O nicht besonders viel,« sagte Gabussi; »er war nur sehr eigentümlich. +Er bekam von Zeit zu Zeit eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas zu +erleben, einen Drang nach Abenteuern. Für das Familienleben war er nicht +geschaffen, und das war für seine Frau und seine Kinder ein Unglück. +Glücklicherweise war seine Frau ein Engel, einfach ein Engel, und Dodo, +der älteste Sohn, nicht weniger. Er war ihr Ebenbild innen und außen.« + +»Es waren also noch mehr Geschwister da?« schaltete der Vorsitzende ein. +»Was ist aus ihnen geworden?« + +»O nichts besonders Gutes,« sagte Gabussi zögernd. »Sie haben des Vaters +unglückliche Sucht nach Abenteuern geerbt.« + +»Und der Älteste hatte nichts davon?« fragte =Dr.= Zeunemann. + +»Im Gegenteil,« sagte Gabussi mit Feuer. »Er war schon als Kind die +Stütze seiner Mutter. Er pflegte die kleinen Geschwister, er half in der +Küche, im Hause und im Geschäft, und sang dazu wie eine Lerche. Auch +seine Mutter war stets heiter und von Dank gegen Gott erfüllt, daß er +ihr einen solchen Sohn gegeben hatte. 'Den holdseligsten seiner Engel +hat er mir geschickt,' pflegte sie zu sagen, 'so daß ich schon auf Erden +in der himmlischen Seligkeit bin.' Verursachte es ihr Kummer, daß er so +angestrengt arbeiten mußte, tröstete sie sich dadurch, daß Gott seinem +Liebling die Kraft geben werde. Während er nachts seine Schularbeiten +machte oder später den Studien oblag, saß sie neben ihm und nähte oder +flickte. So lebten sie in Wahrheit im Paradies, solange der Vater fort +war.« + +»Mißhandelte er Frau und Kinder?« fragte der Vorsitzende. + +»Darüber kann ich nicht viel sagen,« antwortete Gabussi, indem er wieder +einen beunruhigten Blick nach seinem Freunde warf, »denn weder Dodo noch +seine Mutter äußerten sich darüber. Nach ihrem Tode gab es allerdings +zuweilen Auftritte zwischen Vater und Sohn; denn die Arme hatte ihn +stets etwas in Schranken gehalten.« + +»Geschäft und Haushalt kamen vermutlich herunter?« fragte der +Vorsitzende. + +»Mein Freund tat, was möglich war,« erzählte Gabussi. »Er war Vater und +Mutter für seine unerwachsenen Geschwister, obwohl er damals selbst ein +zarter Jüngling war. Er fuhr sogar zuweilen abends, wenn es dunkelte, +Waren auf seinem Karren in die Häuser. Der Vater wurde allerdings mehr +und mehr unzurechnungsfähig. Namentlich reizte er selbst die jüngeren +Kinder zu Unarten und bösen Streichen. Er würde unermeßliches Unheil +angerichtet haben, wenn er sich nicht vor Dodo gefürchtet hätte.« + +»War er hinfällig und gebrechlich geworden?« fragte der Vorsitzende. + +»Durchaus nicht,« sagte Gabussi lebhaft, »er war ein großer, muskulöser +Mann, viel stärker als Dodo. Aber im Zorne schienen sich Dodos Kräfte +zu verhundertfachen. Seine arme Mutter würde gesagt haben, daß Gott ihn +mit seinem Atem erfüllte, um seinen Liebling zu schützen. Ich habe +seinen Vater vor ihm davonschleichen sehen wie einen Hund, der weiß, daß +er Prügel verdient.« + +Langsam richtete sich der Justizrat zu seiner vollen Höhe auf. »Meine +Herren,« sagte er, »ich glaube zu wissen, was viele von Ihnen jetzt +denken: Da sehen wir wieder das unbezähmbare, gefährliche Temperament +dieses Menschen! Wer sich an seinem Vater vergreift, warum sollte der +sich nicht an seiner Frau vergreifen -- und so weiter. Ich, meine Herren, +habe im Gegenteil gedacht: Wieder bricht diese beinahe krankhafte +Heftigkeit hervor, wenn es sich darum handelt, Böses zu verhüten oder zu +bestrafen. Wir haben in Deruga einen ungewöhnlich reizbaren Menschen, +aber was ihn reizt, ist das Schlechte, Häßliche, Unharmonische. Daß er +sich aus selbstsüchtigen Gründen an jemandem vergriffen oder jemandem +unrecht getan habe, dafür liegt bis jetzt kein Beispiel vor.« + +»Eifersucht ist denn doch wohl Selbstsucht,« entgegnete der +Staatsanwalt, »besonders wenn keine Ursache dazu gegeben wird. Auch geht +es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder, +richtiger ausgedrückt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das +reifere und höhere Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir +sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verhängnisvollen Anlagen +mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen +der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau für ihn +bedeutete. Etwas Ähnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der +Trennung von seiner durchaus anständigen, guten Frau beginnt sein Fall.« + +»Sein Fall!« sagte der Justizrat gelassen, »da muß ich protestieren, +oder den Ausdruck dahin präzisieren, daß es sich um ein Abweichen von +der herkömmlichen, ausgetretenen Laufbahn handelt. Es ist allerdings bei +Deruga eine gewisse Vernachlässigung der äußeren Stellung, äußerer +Würden, äußerer Ehren eingetreten. Damit braucht aber der Verfall des +sittlichen Menschen nicht Hand in Hand zu gehen. Es kann sogar eine +größere Verinnerlichung damit zusammenhängen. Als Staatsangehöriger bin +ich allerdings für die bürgerliche Ordnung. Wir dürfen aber doch nicht +vergessen, daß auch der Staat und jede von Menschen geschaffene Form von +Kräften lebt, die ihm von außen, sagen wir meinetwegen aus dem Chaos, +zuströmen.« + +Ein ironisches Lächeln verzerrte das Gesicht des Staatsanwalts. »Das ist +Philosophie,« sagte er, »und mit Philosophie läßt man sich auch die +Notwendigkeit von Massenmördern und Giftmischern beweisen. Wir dagegen +haben es ganz schlechtweg und einfältig mit strafbaren Handlungen zu +tun. Christus durfte sich erlauben, die Zöllner und Sünder zu lieben, +wir müssen uns bescheiden, sie zu strafen.« + +Der Vorsitzende machte die Handbewegung, mit der man Kreidestriche von +einer Tafel löscht. »Das führt zu weit,« sagte er, und dann zum Zeugen +gewendet: »Haben Sie selbst jemals Auftritte mit Ihrem Freunde gehabt?« + +»Ich? Niemals, niemals!« sagte Gabussi lebhaft, »und doch ist gewiß +nicht leicht mit mir auszukommen. Mein phlegmatisches Temperament, das +mir die Natur nun einmal gegeben hat, muß eine feurige Natur, wie mein +Freund ist, schon an sich reizen. Meine Langsamkeit im Auffassen hätte +ihn oft ungeduldig machen können. Anstatt dessen war er stets +opferwillig und hilfsbereit.« + +»Ein Engel,« setzte der Staatsanwalt grinsend hinzu. + +»Hatte der Angeklagte noch viele Freunde außer Ihnen?« fragte =Dr.= +Zeunemann. + +»Er stand mit fast allen gut,« sagte Gabussi, »aber befreundet war er +nur mit mir. Ich bin überzeugt, daß kein einziger sein Inneres so gut +kannte wie ich.« + +»Das ist eigentlich sonderbar,« meinte der Vorsitzende, »bei einem +Menschen, dessen feuriges, geselliges Temperament Sie selbst +hervorheben.« + +»Ja, so möchte man denken,« sagte Gabussi, »und wenn man ihn unter +seinen Schulgefährten und später unter seinen Studiengenossen sah, so +mußte man meinen, er sei mit allen verbrüdert. Ich erinnere mich, daß +ich mich zuerst nicht an ihn heranwagte, weil ich dachte, ich mit meiner +Schwerfälligkeit könne ihm nichts sein, der von so vielen wie von einer +Familie umringt war. Aber diese Umgänglichkeit, die er an sich hatte, +und die jeden anzog, war nur der Schleier, in den er seine Seele hüllte, +um sie unzugänglich zu machen. Niemand ist schwerer zu kennen, als er, +der das Herz auf der Zunge zu haben scheint. Es gibt zurückhaltende +Menschen, die durch Schweigsamkeit oder unnahbares Wesen die anderen von +sich abwehren. Das war seine Art nicht. Er richtete durch Gesprächigkeit +und Vertraulichkeit eine Mauer um sich auf.« + +In dem Maße, wie Gabussi eifriger wurde, um dem Präsidenten seines +Freundes Eigenart zu erklären, wuchs das verständnisvolle Interesse des +Vorsitzenden. »Ich begreife Sie, ich begreife Sie,« sagte er, »das kommt +bei leidenschaftlichen, übermäßig reizbaren Naturen vor. Sie müssen +immer auf der Hut sein, daß sie nicht zu viel von sich verausgaben, und +schaffen doch ihrer Lebhaftigkeit einen gewissen Ausweg.« + +»Ja, ja, so ist es,« bestätigte Gabussi. »Er war im Grunde weich und +leicht verletzlich, schämte sich, das den anderen zu zeigen, die so viel +gleichgültiger und härter waren, und verhüllte sich auf seine Art. Er +war kein Tier, das zu seinem Schutze Stacheln oder Schuppen +hervorbringt, er konnte nur bunte Fäden spinnen und mit solchem +Blendwerk sich unkenntlich machen. Das bewahrte ihn wohl vor der +allzunahen Berührung wesensfremder Menschen, nicht aber vor allen +schmerzhaften Zusammenstößen mit der Außenwelt, die sein Herz bluten +machten. Ach, was für eine Tragik, daß er so oft beschuldigt wurde, +anderen Leid zugefügt zu haben, der immerfort durch andere litt!« + +»Sehr interessant,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Aber worunter litt er +denn so sehr? Nun ja, unter seinem Vater. Dafür hatte er doch aber eine +gute, liebevolle Mutter, er hatte Sie und den Verkehr mit Ihrer +Familie.« + +»Seine Mutter liebte er allerdings unendlich,« erklärte Gabussi, »und +durch sie litt er gewiß nicht, wohl aber durch die Lage, in der er sie +sah. Seine Seele fühlte sich nie heimisch in der Umgebung, in die sie +gepflanzt war. Er hatte einen lebhaften Schönheitssinn, und alles +Geschmacklose, sowohl an den Gegenständen wie an den Menschen, stieß ihn +ab. Da er in ärmlichen oder wenigstens sehr beschränkten Verhältnissen +geboren war und aufwuchs, kam es mir immer wunderbar vor, daß er gegen +alles Kleinliche und Häßliche, und was sie mitbringen, so überaus +empfindlich war. Ich selbst habe das erst allmählich verstehen lernen, +anfangs klangen mir seine darauf bezüglichen Klagen wie Dichtungen in +arabischer oder persischer Sprache. Es bildete oft den Gegenstand +unseres Gesprächs und war ein Punkt, wo wir nie zusammenkamen. Da ich +ihn nicht begriff, war ich oft ungerecht gegen ihn, wenn er zum Beispiel +Reichtum als das Allererstrebenswerteste hinstellte. Ich predigte dann +wie ein rechter Moralphilosoph auf ihn ein, vielmehr an ihm vorüber. +Denn von den Bedürfnissen, die ihn Reichtum ersehnen ließen, hatte ich +keine Ahnung. Meine einfachere, derbere Seele fand sich in jeder +Umgebung zurecht, sie ist gewissermaßen ein Naturlaut, und wenn man sie +nur nicht in einen glänzenden Salon versetzt, so kann sie harmonisch +einstimmen. Mit einer reichen Symphonie ist es anders. Mein Freund +brauchte Schönheit um sich herum, in der sich die unendlich vielen, +daher oft einander widerstrebenden Töne auflösten.« + +»Hier ist also doch ein Punkt, wo Sie voneinander abwichen,« sagte +=Dr.= Zeunemann. + +»Allerdings,« gab Gabussi zu, »aber über freundschaftliche +Meinungsverschiedenheit ging das nie hinaus. Wir ließen uns beide +gelten, und er beneidete mich wohl sogar manchmal, weil ich so viel +leichter zufriedenzustellen bin.« + +»Es wundert mich,« fuhr =Dr.= Zeunemann gemütlich fort, »daß Ihr +Freund bei seinem leichtverletzlichen Schönheitssinn das Studium der +Medizin ergriff, bei dem es so viel Abstoßendes zu überwinden gibt.« + +»O,« sagte Gabussi, »da kam ihm wieder seine Hilfsbereitschaft und +Liebe für alle Kranken und Leidenden zugute. Er hatte insofern eine +geradezu geniale Begabung für seinen Beruf. Dazu kam, daß er auf diesem +Wege am ehesten zu Gelde zu kommen dachte, was sowohl wegen seiner +Familie wünschenswert war, wie er es auch aus den erwähnten Rücksichten +für sich erstrebte.« + +»Und woran liegt es denn Ihrer Ansicht nach,« fragte der Vorsitzende, +»daß es ihm damit doch nicht geglückt ist?« + +»Jedenfalls nicht daran,« sagte Gabussi, »daß er untüchtig gewesen wäre. +Aber ich sagte schon, daß seine Seele reich und vielstimmig war. Er +sehnte sich nach Geld und verachtete es andererseits; er warf zwei Hände +voll weg für eine Handvoll, die er eingenommen hatte. Er arbeitete flink +und gut; aber er träumte noch besser. Er war geboren mit allen Tugenden, +Reichtum auf edle Art zu genießen, mit keiner von denen, die Reichtum +machen. Beim Reichwerden kommt es ebensosehr wie auf die Fähigkeit des +Erwerbens auf die des Festhaltens an, und die hatte er nicht. Es war +jener tragische Zwiespalt in ihm, der meiner Ansicht nach nur dadurch +auszugleichen ist, daß man die Nichtigkeit des Reichtums einsieht und +alles dessen, was der Reichtum verschafft. Auch der Ärmste kann +Schönheit im Überfluß genießen, wenn er sich in die Natur zurückzieht. +Es war der einzige Fehler, den Deruga beging, daß er das nicht von +Anfang an getan hat. In der großen Welt konnten die Konflikte seiner +Seele keine Lösung finden.« + +»Wir haben Ihnen ein sehr feines Bild Ihres Freundes zu verdanken,« +sagte =Dr.= Zeunemann freundlich. »Nicht minder brauchbar, weil von +Freundeshand entworfen.« Dann schloß er das Verhör ab, nachdem er noch +einige belanglose Fragen gestellt hatte. + + * * * * * + +Als der Justizrat mit den beiden Freunden das Haus verließ, war die Zeit +des Feierabends. Die Straßen füllten sich mit Menschen, aber in den +Anlagen hinter dem Gerichtsgebäude war es still wie immer. Mit dem +Lichte schienen die Gegenstände ihr buntes Kleid abgeworfen zu haben +und in sanft schimmernder Nacktheit am Ufer der unendlichen Nacht zu +feiern, bevor sie in das tiefe Bad hinuntertauchten. Gabussi erklärte +sich mit dem Ergebnis seiner Aussagen nicht ganz zufrieden. Es sei alles +anders herausgekommen, sagte er, als er beabsichtigt hatte. Man werde +da, ohne zu wissen wie, von einer Strömung ergriffen, die einen von der +eingeschlagenen Richtung abbrächte. + +»Was du sagtest, war alles schön und gut,« tröstete Deruga. »Es kam mir +nur überflüssig vor, wie wenn man einem Deutschen einen feinen Mailänder +Risotto vorsetzt, der doch nur die Nase dazu rümpft und nach seinen +Kartoffeln verlangt. Was macht das aber? Für mich war es schön, mit dir +von der Vergangenheit zu träumen.« + +»Ja,« sagte der Justizrat, »das vergangene Leiden dient, wie Shakespeare +sagt, zu desto süßerem Geschwätz.« + +»Während umgekehrt nichts weher tut, wie unser Dante sagt, als sich im +Unglück vergangenen Glückes zu erinnern,« fügte Gabussi hinzu. + +Bei dem Abhange, wo jetzt ein erstes Schneeglöckchen die gelbliche +Spitze herausstreckte, blieb Deruga stehen. + +»Da ist eins von den kleinen Geschöpfen,« sagte er, »es guckt wie eine +Maus aus ihrem Loch hervor.« + +»Sehen Sie,« triumphierte der Justizrat. »Sie lachten mich damals aus, +als ich ihm die trockenen Blätter vom Kopf wegstocherte.« + +»Sie hatten auch unrecht,« entgegnete Deruga, »denn nun holt es +wahrscheinlich die Katze.« + +»Meinen Sie den Nachtfrost?« fragte der Justizrat. »Diese frühen +Pflanzen können viel vertragen, sie sind darauf eingerichtet. Hören Sie, +mein Lieber,« setzte er hinzu, indem er seinen Klienten fortzuziehen +suchte, »Sie werden sentimental, das gefällt mir nicht.« + +Deruga rührte sich nicht von der Stelle und starrte versunken auf die +feuchte Erde. Eine Zeile aus einem alten Gedicht lag ihm im Sinn, und er +führte sie an, als er sich darauf besonnen hatte: + +»=La doglia mia cresoe coll' ombra.=« + +»Das klingt wie ein Ton von einer Amati,« sagte der Justizrat, die +Musik des Verses mit sichtlichem Genusse schlürfend. »Was heißt das?« + +»Mein Weh wächst mit den Schatten,« übersetzte Deruga. »Das will also +sagen, mit der wiederaufgehenden Sonne verschwindet es und bedeutet +nicht mehr als eine Abendstimmung.« Er schüttelte sich, als werfe er die +trübe Laune von sich, und wandte sich rasch dem Ausgange zu. + +»Wenn du erst bei mir in meinem Bergdorfe bist,« sagte Gabussi, »werden +dich solche Stimmungen bald ganz verlassen. Das ist der Kohlenstaub der +großen Stadt, den der reine Himmel der Höhen verzehrt.« + +»Ob mir diese Luft wirklich so gut anschlagen würde, wie du meinst?« +sagte Deruga. »Ich bin nun einmal kein Bauer.« + +»Du wirst einer werden,« rief Gabussi lebhaft aus. »Wenn du erst gelernt +hast, dich für nichts als unsere paar Kühe und Ziegen zu interessieren, +dann wirst du gesund sein.« Er forderte den Justizrat zur Bestätigung +seiner Meinung auf. + +»Ein bißchen zu verbauern, täte Ihnen gewiß gut,« sagte dieser +vorsichtig. + +»Sie meinen,« sagte Deruga, »wenn man den verzwickten Kerl in seine +Bestandteile auflösen und einen ganz neuen daraus machen könnte, dann +wäre ihm allenfalls geholfen.« + +Der Justizrat lachte. + +»Aber wenn man den alten Deruga gar nicht mehr herauskennte,« meinte er, +»das wäre doch schade.« + +Als Gabussi mit Deruga allein auf seinem Zimmer war, fuhr er fort, ihm +das Leben auf seinem Dorfe auszumalen. Deruga könne ihn auf seinen +Gängen begleiten, er verstehe ja mit einfachen Leuten umzugehen und +werde bald der Gott der ganzen Gegend sein. Übrigens würden seine Frauen +genug mit ihm zu schwatzen haben, und wenn er außerdem noch eine +Beschäftigung haben müsse, so könne er ja diese oder jene medizinische +Frage bearbeiten. Auch zu handwerklicher Beschäftigung gebe es +Gelegenheit. Die Leute dort oben wären um mehr als hundert Jahre zurück, +hätten Werkzeuge aus der Urwelt. Da wäre ein Feld für seine +Erfindungsgabe und Geschicklichkeit. + +»Ach,« sagte Deruga, »wie wenig du mich kennst! Begreifst du nicht, daß +ich mich nach acht Tagen langweilen und nach vierzehn Tagen dich oder +mich umbringen würde?« + +»Langweilen?« wiederholte Gabussi erstaunt, seine großen Augen noch +weiter öffnend. »Langweilst du dich denn in der Stadt?« + +»Nein, hier geht es an,« sagte Deruga, »dies Gewimmel von Würmern auf +der Fäulnis unterhält mich. Ich verabscheue es, aber ich gebrauche es. +Es ist die Form des Lebens, die ich aufnehmen kann. Deine Berge wirken +wie nasse Knödel auf meinen Magen.« + +»Ich verstehe dich nicht,« sagte Gabussi, sich ereifernd, »das kann dein +Ernst nicht sein. Einem guten Menschen muß das Große und Einfache wohl +tun.« + +»Ach, Gabussi,« erwiderte Deruga ungeduldig, »der Mensch ist kein +Dreieck, worauf man den Pythagoräischen Lehrsatz anwenden kann. Glaube +mir, daß ich schließlich deine gute, alte Schwester verführen würde, +nur um die klare Atmosphäre ein bißchen zu trüben!« + +»Dodo, wenn deine arme Mutter dich so reden hörte!« klagte Gabussi. »Es +sind nur Reden, nur Worte; doch die Worte schon zerreißen mir das Herz.« + +Die Unterredung setzte sich bis tief in die Nacht fort, ohne daß die +Freunde zu einem Verständnis gekommen wären. Gabussi bestand darauf, in +München zu bleiben, bis der Prozeß beendigt wäre, und dann, falls er +nach Wunsch erledigt wäre, Deruga sofort mitzunehmen, wogegen dieser +eine stets wachsende Abneigung ausdrückte. Vielmehr redete er Gabussi +zu, ohne Zeitverlust abzureisen, da er zu Hause von Mutter und Schwester +und von seinen Kranken ungeduldig erwartet würde, hier aber jetzt nichts +nützen könne. Gabussi gab endlich nach, aber er war traurig und +enttäuscht. + +Im Augenblick der Trennung umarmte Deruga ihn mit der alten Herzlichkeit +und mit Tränen in den Augen. »Vergiß das verzweifelte Zeug, das ich +geredet habe,« sagte er, »und glaube nur das eine, daß mein Herz immer +dasselbe ist. Und wenn dich morgen der Schlag trifft und zu einem +schlottrigen Idioten machte, der seinen Mund nicht mehr finden kann, so +würde ich dich zu mir nehmen und dich eigenhändig füttern, solange du +lebtest. Dasselbe laß mich von dir glauben! Was für ein Strudel von +Dreck wäre das Leben, wenn es nicht unwandelbare Herzen gäbe!« + +»Gott sei Dank,« sagte Gabussi, dessen große braune Augen glänzten, »ich +glaube, ich hätte dem Himmel über meinem Kopfe mißtraut, wenn ich den +Glauben an dich verlieren müßte!« + + + + +=X.= + + +Die Baronin saß mit ihrer Tochter vor dem mit Gas geheizten Kamin und +betrachtete ihre auf das Gitter gestützten schmalen Füße, während sie +sagte: + +»Was meinst du, Mingo, wenn ich dir die Erlaubnis zum Studieren gäbe?« + +Mingo stand im Rücken ihrer Mutter am Fensterrand und starrte auf das +nach einem raschen, starken Frühlingsregen schwarzblanke Pflaster, in +dem die eben angezündeten Lichter sich spiegelten. Ihre Stimme klang +schwach und müde zu der Fragenden hinüber, wie sie die Gegenfrage +stellte: »Hast du denn die Absicht, es mir zu erlauben?« + +»Ich habe gedacht,« antwortete die Baronin, »daß ich es doch nie übers +Herz bringen werde, dich zu einer dir unsympathischen Heirat zu zwingen, +und daß also daran gedacht werden muß, was aus dir werden soll, wenn du +spät oder gar nicht heiratest. Glaubst du denn, daß das Studium dich +glücklich machen wird?« + +»Glücklich?« sagte die schwache Stimme vom Fenster her. »Ach, Mama! Aber +es wird mich doch auf eine interessante und nützliche Art beschäftigen.« + +»Früher,« sagte die Baronin erstaunt und fast ein wenig unwillig, »als +du mich mit diesem Wunsche so sehr quältest, tatest du, als ob deine +Seligkeit davon abhinge.« + +Mingo trat vom Fenster weg und kauerte sich in einen Sessel, den sie +neben den ihrer Mutter gerückt hatte. + +»Ob wohl alle Wünsche verblassen?« sagte sie, »wenn sie ihrer +Verwirklichung nahekommen? Aber, Mama, vielleicht kann ich mich nur +heute abend nicht so recht freuen, weil ich müde bin. Wenn du mir jetzt +die Erlaubnis mit ins Bett gibst, werde ich morgen früh ganz glücklich +damit erwachen.« + +Die Baronin warf einen nachdenklichen, freundlichen Blick auf ihre +Tochter. + +»Nein, geh' noch nicht zu Bett, Kleines,« sagte sie. »Ich finde es so +hübsch, mit dir allein zu plaudern. Weißt du, das Heiraten steht dir ja +immer noch frei, aber es ist lange nicht so unterhaltend, wie du es dir +jetzt wohl vorstellst, besonders wenn man nur um des Geldes willen +heiratet.« + +»Hast du Papa um des Geldes willen geheiratet?« fragte Mingo. + +»Nun, nicht in dem Sinne, daß er mir ohne Geld unannehmbar gewesen +wäre,« sagte die Baronin, »im Gegenteil, er gefiel mir gut und zog mich +an. Nur hätte das vielleicht nicht zu einer Heirat geführt, wenn er +nicht so vermögend gewesen wäre.« + +»Gefiel er dir später nicht mehr so gut?« fragte Mingo zaghaft. + +»O, gefallen,« sagte die Baronin, »muß er einem doch. Er ist so +außerordentlich vornehm, nie aufdringlich, nie geschmacklos. Nur +langweilig ist er, kannst du dir das denken?« + +»Ja,« nickte Mingo, »ich kann es mir vorstellen. Aber ich dachte, wenn +man sich liebt!« + +»Ach, kleine Torheit,« lachte die Baronin. »Liebe allein füllt nicht +einen einzigen Abend aus, wenn man einmal verheiratet ist.« + +»Ach,« sagte Mingo und träumte mit ihren großen, dunklen Augen auf die +rotwogende Kupferplatte des Kamins. »Aber man hat doch Kinder,« fuhr sie +nach einer Weile fort. + +Die Baronin lachte ihr junges, anmutiges Lachen. »Du Kind bist mir bald +genug davongelaufen.« + +Mingo fühlte plötzlich eine große Welle von Liebe und Mitleid für die +Mutter in sich aufsteigen, setzte sich mit einem Sprung auf ihren Schoß, +schlang die Arme um sie und küßte sie. »Du, meine Frisur und meine +Spitzen,« rief die Baronin erschreckt; doch war ihr anzumerken, daß sie +sich der Erschütterung dieses Zärtlichkeitsausbruchs nicht ungern +hingab. + +»Siehst du,« sagte Mingo fröhlicher als vorher, »daß es doch besser ist +zu studieren! Das ist nicht langweilig und läuft nicht fort.« + +»Für mich ist es zu spät,« meinte die Baronin; »aber für dich mag es das +Richtige sein!« + +Mingo tröstete, ihre Mutter sei so klug; wenn sie wolle, könne sie es +auch. + +Die Baronin schüttelte den Kopf. »Mein Verstand hat nie geturnt,« sagte +sie, »er kann mit Grazie über einen Bach hüpfen und eine Blume pflücken +und dergleichen, aber nichts, wozu man Muskeln braucht. Anstrengen kann +ich mich in gar keiner Weise mehr. Vielleicht hätte ich es früher +gekonnt, wenn die Notwendigkeit oder sonst ein starker Antrieb dagewesen +wäre.« + +»Mama,« sagte Mingo, die noch immer auf dem Schoße ihrer Mutter saß, +»warst du nie verliebt? Vor deiner Heirat oder nachher?« + +»Nein, so eigentlich verliebt nie,« antwortete die Baronin. »Weißt du, +früher, als ich in deinem Alter war, hielt ich für Liebe das +schmeichlerische Gefühl, das man hat, wenn man angebetet wird. Je besser +einem der gefiel, der einen anbetete, desto angenehmer war es; selbst zu +lieben, hatte ich gar kein Talent oder Bedürfnis. Und als ich +verheiratet war, hatte ich mir vorgenommen, mir nichts Ernstliches +zuschulden kommen zu lassen, und das stand mir immer im Wege.« + +Mingo hatte sich inzwischen zu Füßen ihrer Mutter auf den Boden gekauert +und starrte wieder in den geheimnisvoll wogenden, kupfernen Feuerkessel. +»Dann weißt du gar nicht, wie es ist, von einer Leidenschaft hingerissen +zu sein?« fragte sie. + +»Du scheinst es mir fast vorzuwerfen,« sagte die Baronin mit einem +Anflug von Schärfe im Ton, aber nach einer Weile fuhr sie milder fort: +»Es mag sein, daß ich deswegen nicht schlechter wäre. Übrigens nahm ich +mich nicht eigentlich um deines Vaters willen zusammen, sondern es war +ein Ausfluß meiner Natur. Große Aufregungen und Umwälzungen lagen mir +nicht, und das, was ich einmal gewählt hatte, wollte ich durchführen. +Ich halte das für ein Erfordernis des guten Geschmacks.« + +»Ja, Mama,« sagte Mingo, indem sie auf die gepflegte, mit vielen +kostbaren Ringen allzu belastete Hand ihrer Mutter einen Kuß drückte, +»und Papa und ich haben Ursache, dir dankbar zu sein. Nur für dich +macht es mich fast traurig.« + +»Mach' dir darüber keine Gedanken, mein Kleines,« sagte die Baronin. +»Was einem nicht ansteht, das würde einen auch nicht glücklich machen. +Ich habe mir einen anderen Weg zu meinem Glücke ausgedacht.« + +»Was meinst du, Mama?« fragte Mingo erschreckt. + +Die Baronin errötete, ohne daß es im roten Widerschein der Kaminglut +sichtbar geworden wäre. »Das erzähle ich dir ein andermal, Liebling,« +sagte sie. »Ich höre eben ein Auto vorfahren. Das wird dein Vater sein.« + +»Mama,« sagte Mingo rasch. »Du hast mir noch nicht versprochen, daß du +von dem Prozeß zurücktreten willst. Ohne das kann mich nichts, nichts +glücklich machen. Ich will gern auf das Studium verzichten und immer, so +lange ich lebe, bei dir bleiben, damit du dich nicht langweilst, wenn du +mir nur das zuliebe tust.« + +»Rege dich nicht auf, Mingo,« sagte die Baronin abwehrend, »du weißt, +daß ich das nicht liebe. Nichts in der Welt ist wert, daß man sich +darüber aufregt. Ich habe dir gesagt, daß ich es mit dem Anwalt +besprechen will!« + +»Ach, dein Anwalt,« sagte Mingo, »der hat dich ja gerade hineingehetzt. +Er ist ein widerwärtiger Mensch! Er hat etwas Kriechendes, Schleimiges, +Saugendes, als ob er zum Spion geboren wäre. Ich begreife nicht, daß du +mit einem solchen Menschen verkehren magst.« + +»Das ist doch kein Verkehr,« entgegnete die Baronin. »Ich bediene mich +seiner Gaben, die ihn für diese Arbeit geeignet machen. Wenn er ein +Edelmann wäre, würde er mir vermutlich weniger nützen können. Es mag +sein, daß er auch mich ausnützt, aber er könnte das ja gar nicht, wenn +er nicht meinte, daß ich recht habe, und daß meine Sache Erfolg haben +kann. Du tust, als handle es sich um eine Privatangelegenheit, aber es +handelt sich um ein Verbrechen, an dem die Öffentlichkeit Interesse +hat.« + +»Du sollst die Hand nicht darin haben,« drängte Mingo. »Du hast mir +selbst zugegeben, daß du an deiner Überzeugung von seiner Schuld irre +geworden bist.« + +»Meine Überzeugung ist nicht maßgebend,« sagte die Baronin. »Die +Geschworenen sind dazu da, das Recht zu finden. Es handelt sich einfach +um das Recht. Ich will nichts für mich erzwingen, was nicht dem Rechte +gemäß ist.« + +»O Mama, Mama,« rief Mingo. »Der Schein ist aber auf dir, als wolltest +du dir das Vermögen erzwingen, das dir nun einmal nicht bestimmt war.« + +Die Baronin war sichtlich verletzt. »Ein Kind, das im Überfluß +aufgewachsen ist, pflegt nicht nachzudenken, woher er fließt,« sagte +sie. »Du hast es leicht, das Geld gering zu schätzen. Habe ich ein Recht +darauf, so wäre es lächerlich von mir, darauf zu verzichten. Ob ich das +Recht darauf habe, das heißt, ob Deruga es nicht hat und ich meine +Ansprüche mit einiger Aussicht auf Erfolg werde geltend machen können, +das wird dieser Prozeß ergeben. Dann ist es immer noch Zeit, zu erwägen, +ob ich es mit einer Klage wegen des Vermögens versuchen soll.« + +»Einstweilen könntest du aber doch deinem Anwalt sagen, daß er seine +Nachforschungen aufgibt,« bat Mingo. + +»Ich werde mich mit ihm besprechen,« sagte die Baronin ausweichend, »und +seine Auffassung hören. Hält er Deruga jetzt für unschuldig, so bin ich +die erste, mich darüber zu freuen. Persönliche Wünsche in diesen +Angelegenheiten kommen weder dir noch mir zu.« + + + + +=XI.= + + +Einen Tag nach der Abreise Gabussis besuchte der Justizrat seinen +Klienten, der allein im kalten Zimmer saß. Er hatte das Fenster +geöffnet, weil der kleine eiserne Ofen zu stark heizte, und hatte +vergessen, es wieder zu schließen, nachdem es längst kalt geworden war. + +Zuweilen trieb der Wind einen Regenguß hinein, ohne daß der Einsame, der +verdrossen vor sich hinstarrte, es bemerkte. + +»Ihr Freund ist also abgereist,« sagte der Justizrat. »Das ist schade, +da werden Sie sehr niedergeschlagen sein!« + +»Ich bin froh, daß er fort ist,« entgegnete Deruga. »Gabussi ist mir der +liebste Mensch auf Erden, aber es gibt Zeiten, wo er mir im Wege ist. Er +kann sein Leben lang nüchtern sein, aber ich muß mich zuweilen +betrinken.« + +»So,« sagte der Justizrat, der inzwischen das Fenster geschlossen und +sich gesetzt hatte, »und jetzt ist der Zeitpunkt für Ihre Saturnalien? +Passend gewählt.« + +Deruga zuckte die Achseln. »Ich richte mich dabei nach dem Kalender, +dessen System jeder in seinem Körper trägt.« + +»Wie Sie wollen,« sagte der Justizrat. »Mich hat etwas ganz anderes +hergeführt. Kennen Sie eine Frau Valeska Durich aus Prag?« + +»Ja,« sagte dieser, »ein aus Dummheit und Verliebtheit zusammengesetztes +Wesen. Formel =D_{2} V.=« + +»Sie müssen es wissen,« sagte der Justizrat, »denn sie scheint eben in +Sie verliebt zu sein.« + +»Ich kann wirklich nichts dafür,« sagte Deruga. »Wenn Sie eine halbe +Stunde mit ihr zusammen wären und sie womöglich etwas grob behandelten, +würde sie sich auch in Sie verlieben.« + +»Nun, wir werden sehen,« sagte der Justizrat. »Sie will nämlich +herkommen.« + +Deruga lachte auf und zeigte sich dann geärgert. Was die dumme Person +wolle? Der Justizrat solle ihr schreiben, daß er, Deruga, in +Untersuchungshaft sei und nichts mit ihr zu tun haben könne und wolle. + +»Das käme wohl zu spät,« sagte der Justizrat. »Sie will durchaus +bezeugen, daß Sie vom Abend des 1. Oktober bis zum Nachmittag des +dritten bei ihr gewesen seien. Da hätten wir denn ein Alibi.« + +»Im Ernst?« sagte Deruga aufhorchend. »Das will die dumme Person? Nun, +das ist ja eigentlich sehr angenehm. Besser könnte der Knoten gar nicht +gelöst werden.« + +»Das will ich denn doch nicht gerade sagen,« meinte der Justizrat +bedächtig. »Es ist doch keine Kleinigkeit, wenn einer einen Meineid auf +sich nimmt.« + +»Das ist ihre Sache,« sagte Deruga heftig. »Herrgott, dieser kleinliche +Wortkram! Es gibt Lügen, die einen anständigeren Ursprung haben als +manche Wahrheit. Überhaupt ist das ihre Sache. Ich habe so viele +Belästigungen von ihr ertragen, warum sollte ich nicht auch den Vorteil +annehmen?« + +»Natürlich,« sagte der Justizrat, »wenn es ohne ernstlichen Schaden +ihrerseits geschehen kann.« + +»Es ist merkwürdig, daß Sie auf einmal so bedenklich geworden sind,« +sagte Deruga scharf. »Durch Sie bin ich in diese Lage gekommen. Wäre ich +meiner Regung gefolgt, so wäre es längst so oder so zu Ende. Nun sich +ein Mittel findet, mir den Prozeß in Ihrem Sinne vom Halse zu schaffen, +machen Sie moralische Ausflüchte.« Er war vor Erregung rot geworden und +warf einen wütenden Blick auf den Justizrat, der ihn nachdenklich +betrachtete. + +»Ich mußte mir doch erst Klarheit verschaffen,« sagte dieser, »und +wissen, wie Sie zu der neuen Wendung stehen. Schließlich, wenn Sie +einverstanden sind! Hatten Sie denn wirklich etwas mit der Dame?« + +»Ich mit ihr?« sagte Deruga. »Sie hatte etwas mit mir. Sie quälte mich +mit ihrer Verliebtheit. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie sie als +opfermütige Heldin auffassen. Sie ist zu dumm, um die Folgen ihrer +Handlungen zu übersehen, und so verliebt, daß ihr jedes Mittel recht +ist, um mich zu gewinnen.« + +»Worin sie sich aber verrechnet?« setzte der Justizrat hinzu. + +»Natürlich,« sagte Deruga scharf, »dachten Sie, ich solle sie aus +Dankbarkeit heiraten?« + +»O nein,« entgegnete der Justizrat, »Sie wollen jetzt viel höher +hinaus.« + +»Jetzt?« wiederholte Deruga auffahrend, »was meinen Sie damit? Was +erlauben Sie sich? Meinen Sie, Sie können mich als dummen Jungen +behandeln, weil ich angeklagt und vogelfrei bin? Ich halte mich +allerdings für zu gut, mich an eine solche dumme und ungebildete Person +wegzuwerfen. Die Weiber sind mir überhaupt widerlich.« + +»Mit Ausnahmen,« sagte der Justizrat kühl. + +»Das stimmt,« fuhr Deruga in hitzigem Tone fort. »Zum Beispiel mit +Ausnahme der Baronin Truschkowitz. Sie ist habgierig, eitel, +selbstsüchtig; aber dafür klug, elegant und ganz und gar unmoralisch. So +müssen Frauenzimmer sein, damit man sich gut mit ihnen unterhalten +kann.« + +»Geschmackssache,« sagte der Justizrat. »Einen Meineid würde sie +jedenfalls nicht für Sie schwören.« + +»Nein, sie ist weder einfältig noch hündisch,« sagte Deruga, »und ich +mag die Hunde nicht. Was kümmert Sie die Valeska? Lassen Sie sie +zugrunde gehen, wenn sie will! Sie haben für mich zu sorgen.« + +»Das tue ich,« sagte der Justizrat, »und ich zweifle eben, ob es +ehrenhaft von Ihnen wäre, wenn Sie ein solches Opfer annähmen.« + +Deruga lachte höhnisch. »Eins von diesen pompösen Worten,« sagte er, +»die in eurer Gesellschaft üblich sind. Ehre, Moral, Ideal, Gott, +Unsterblichkeit, lauter gemalte Säulen auf Sackleinewand. Man braucht +euch keine dreißig Silberlinge zu bieten, damit ihr Gott verratet. +Übrigens, wer sagt denn, daß die Valeska einen Meineid schwört? Woher +wissen Sie, daß ich nicht vom 1. bis 3. Oktober bei ihr war?« + +Der Justizrat stand auf, um zu gehen. »Genug für heute,« sagte er; »aber +ich nehme an, daß das nicht Ihr letztes Wort ist.« + +»Und ich bitte Sie,« sagte Deruga, »fangen Sie nicht wieder davon an, +wenn Sie wollen, daß wir gute Freunde bleiben! Weder Sie noch ich sind +Valeskas Hüter. Sie tun am besten, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß +sie leichtsinnig genug war, mich vom 1. bis zum 3. Oktober vorigen +Jahres bei sich zu beherbergen.« + + + + +=XII.= + + +Die Baronin hatte Peter Hase zum Mittagessen eingeladen, damit er ihre +Tochter kennenlerne. Das Diner fand in einem kleinen, behaglichen Salon +ihres Hotels statt, dessen in Weiß, Schwarz und Gold gehaltene Wände mit +Blumenbüschen von ausschweifender Pracht geflammt waren. + +Die Baronin teilte ihrem Gaste lächelnd mit, daß er ihrer Tochter noch +in jeder Beziehung unbekannt sei. + +»Meine Tochter,« sagte sie, »hat von ihrem Vater eine gewisse +Gleichgültigkeit gegen die Literatur geerbt; vielleicht darf ich +gleichbedeutend sagen, einen gewissen Mangel an Phantasie.« + +»Ich möchte es guten Geschmack nennen,« sagte Peter Hase, »denn Jugend +und Bücher gehören nicht zusammen. Auch steht Herr Baron vielleicht auf +dem Standpunkt der Alten, welche die Dichter als Lügner verachteten.« + +»Ich bin zu wenig belesen, um darüber urteilen zu können,« sagte der +Baron, »aber so viel ist richtig, daß ich Zeitungen gerne lese, weil sie +Wahres berichten.« + +»Ach Papa, Zeitungen,« lachte Mingo, »die sollen ja gerade am meisten +lügen.« + +»Die Zeitungen sind vielleicht das interessanteste moderne Epos,« sagte +Peter Hase, »und jedenfalls ist das Leben die schönste Dichtung.« + +Die Baronin wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube,« sagte sie, »auch in +bezug auf das Leben sind die großen Talente unter den Menschen selten. +Wenige leben ein großes, schön geschwungenes Leben. Bei den meisten +fällt es zerfahren, kleinlich, alltäglich und sehr langweilig aus.« + +»Für flüchtige Leser,« sagte Peter Hase, »man muß sich hinein +vertiefen.« + +»Ach, es lohnt nicht,« sagte die Baronin, »und wo es vielleicht lohnte, +ekelt es einen. Die Erfahrung haben Sie vielleicht auch bei der +geheimnisvollen Dame gemacht, die unserem Prozeß plötzlich eine neue +Wendung zu geben scheint.« + +»Die Dame stellte sich allerdings zunächst mehr alltäglich als +geheimnisvoll dar,« sagte Peter Hase. »Ein vegetatives Wesen, gutmütig, +schwach, träge, aber mit einer Anlage zum Heroismus, wie primitive +Frauen sie manchmal haben.« + +Mingo, die bis dahin mit fast unhöflicher Teilnahmlosigkeit dagesessen +hatte, blickte tief errötend auf und sagte hastig: »Wer ist die Dame, +warum war sie da?« + +»Es ist eine Dame, die aussagte, daß Herr Deruga während der +verhängnisvollen Oktobertage bei ihr gewesen sei, also die Tat, der man +ihn verdächtigt, nicht begangen haben könnte,« erklärte Peter Hase. Er +sprach mit Zurückhaltung, da er den Gegenstand für gesellige +Unterhaltung nicht geeignet, ganz besonders aber für eine junge Dame +nicht für passend hielt. + +»Siehst du, Mama,« rief Mingo triumphierend. »Aber wer ist die Dame, daß +er so lange bei ihr war? Ist er mit ihr befreundet?« + +»Nun, unverheiratete Männer haben eben Beziehungen zu gewissen Frauen, +Frauen der unteren Stände,« erklärte die Baronin. »Das ersetzt ihnen das +Familienleben. Und sie bevorzugen ungebildete, anspruchslose Frauen, +weil sie sich ihnen gegenüber gehen lassen können. Sich gehen zu lassen, +ist Männern ein wesentliches Bedürfnis.« + +»Ich möchte es eine Schutzvorrichtung der Natur nennen,« sagte Peter +Hase, »die gerade dem Kulturmenschen als eine Entspannung seiner stets +gespannten Kräfte notwendig ist. Aber es ist eine tragische Verkettung, +daß gerade der Kulturmensch es mehr und mehr verlernt, sich gehen zu +lassen, bis die unterdrückten Triebe sich zuletzt im Wahnsinn Luft +machen.« + +In Mingos Gesicht war zu lesen, daß sie diese Untersuchung weder +verstand noch Interesse dafür hatte. »Wie war die Frau?« fragte sie, +angelegentlich zu Peter Hase hingewendet. »War sie ganz ungebildet? War +sie eine arme Frau?« + +»Nein, das doch nicht,« sagte Peter Hase ernst und schonend. »Sie ist +die Tochter eines Hausmeisters an einem Knabengymnasium, und es +scheint, daß sie dadurch früh bedenklichen Einflüssen ausgesetzt war. +Offenbar sucht sie in rührender Art an dem, was sie für Bildung ansieht, +festzuhalten; sie betonte, wenn immer es möglich war, die Liebe zur +Natur, zu allem Guten, Schönen und Wahren, wie man zu sagen pflegt, und +sie sprach geflissentlich von der Freundschaft, die sie mit Deruga +verbände. Das Wort Liebe oder Liebesverhältnis ließ sie nicht gern +gelten. Ich hatte den Eindruck, daß sie das Bedürfnis hatte, ihrem Leben +einen Hintergrund von Schönheit und Besonderheit zu geben, soweit sie es +versteht.« + +Die Baronin zuckte ungeduldig die Schultern, und der Baron suchte das +Gespräch in eine andere Bahn zu lenken, indem er sagte, ähnliche Züge +fänden sich viel bei den leichtfertigen Frauen der meisten Völker, und +allerlei aus Japan, China, Indien und anderen Ländern erzählte, die er +bereist hatte. Er sei in seiner Jugend weit herumgekommen, sagte er, +aber schließlich habe er gefunden, daß sich in Paris am besten leben +lasse. + +»O, ja, Paris ist stets das mehr oder weniger Gegebene,« sagte die +Baronin mit einem unterdrückten Seufzer und einem verschmitzten +Ausdruck, der sie allerliebst kleidete. + +Er liebe auch Paris, sagte Peter Hase, und sei im Begriff gewesen, zu +einem mehrwöchigen Aufenthalt hinzureisen, als Derugas Prozeß ihn +abgehalten hätte. + +»Dieser Mensch scheint eine ungemeine Anziehungskraft zu besitzen,« +sagte die Baronin. + +Peter Hase warf einen unauffälligen Blick zu Mingo herüber, um zu sehen, +wie das Besprochene sie berührte. Ihre großen Augen hingen mit Spannung +und Anteil an seinem Gesicht. »Man begegnet so selten,« sagte er, +»innerhalb der Kultur einem ganz natürlichen Menschen, wie Deruga ist; +ein Kind, von der Beschaffenheit und in den Verhältnissen eines Mannes.« + +»Sie wollen ihn vielleicht in einem Roman verwerten,« spottete die +Baronin. + +»Kaum,« erwiderte Peter Hase ernsthaft. »Er ist doch wohl +zusammenhanglos für den Bau der Dichtung, wo alles Zweck sein muß und +nirgends eine Fuge klaffen darf.« + +»Unschuldig verurteilt,« fuhr die Baronin fort. »Das wäre doch ein +Titel, der ziehen würde.« + +»Es wird nicht dahin kommen,« sagte Peter Hase, ruhig feststellend. »Die +Sache wird irgendwie im Sande verlaufen. Ich schließe aus Derugas +Charakter, daß er bunte Erlebnisse, aber keine großen, tragischen, +erschütternden haben wird.« + +»Hörst du, Mama?« rief Mingo. »Auch Herr Hase ist von seiner Unschuld +überzeugt. Jeder ist es. Du bist es dir selbst schuldig, nichts mehr +gegen ihn zu unternehmen.« + +»Ich sagte dir schon,« fiel die Baronin ein, »daß ich mit dem Anwalt +sprechen werde. Seine Sache ist eigentlich nicht meine. In der Tat +bedaure ich jetzt, daß ich so schwach war, mich von ihm in diese Sache +hineinziehen zu lassen. Ich kam nicht auf den Gedanken, daß es ihm in +erster Linie daran lag, sich durch einen aufsehenerregenden Prozeß +bekannt zu machen. Er spiegelte mir vor, daß ich berufen sei, ein +Verbrechen ans Licht zu ziehen, und benützte mich als Mittel, um +berühmt zu werden.« + +Die Baronin hatte kaum ausgesprochen, als der Kellner den =Dr.= +Bernburger anmeldete, den sie zu einer Besprechung ins Hotel gebeten +hatte. + +»Das ist ungeschickt,« sagte die Baronin zögernd, und Peter Hase erhob +sich, um nicht zu stören. Nein, sagte sie, er dürfe auf keinen Fall +schon gehen, sie hätten ja noch nicht einmal den Kaffee genommen. Im +Grunde sei es ihr lieb, wenn sie die Unterhaltung nicht allein zu führen +brauche, Geschäftliches sei ihr ohnehin zuwider, diese Angelegenheit +aber vollends verhaßt. + +Den nun eintretenden Anwalt begrüßte sie mit einem hochmütigen +Kopfneigen, dem sie nachträglich eine etwas höflichere Wendung gab, als +sie bemerkte, daß er sie durchschaute und belächelte. Sie erklärte ihm, +daß die Anwesenden von allem unterrichtet wären, und daß ihre Gegenwart +nicht störe, und sagte dann mit einem kalten Blick: + +»Die Sache entwickelt sich anders, Herr Doktor, als Sie mir anfänglich +einredeten.« + +»Ich schätze den selbständigen Charakter der Frau Baronin zu hoch,« +entgegnete =Dr.= Bernburger, »als daß ich wagen möchte, ihr etwas +einzureden.« + +»Nun gut,« sagte die Baronin unwillig, »Sie schilderten mir die Vorgänge +jedenfalls so überzeugend, wie ...« + +»Wie Sie sich nur wünschen konnten,« fiel =Dr.= Bernburger lächelnd +ein. »Ich bin von der Wahrscheinlichkeit der Vorgänge, wie ich sie +damals darstellte, heute noch ebenso überzeugt wie damals.« + +»Und die neue Zeugin?« fragte die Baronin. + +»Eine verliebte Person,« sagte =Dr.= Bernburger wegwerfend, »die +sich ein Verdienst um ihren Angebeteten erwerben möchte. Sie ist +durchaus nicht wichtig und wurde nicht einmal vereidigt, weil der +Gerichtshof sie wegen ihrer Beziehungen zum Angeklagten von vornherein +nicht für glaubwürdig hielt. Übrigens würden sich wohl Zeugen auftreiben +lassen, um die Unwahrheit ihrer Aussage darzutun.« + +»Nein, Mama,« rief Mingo, in lichter Entrüstung aufspringend, »damit +sollst du nichts zu tun haben. Dies Spionieren und Hetzen ist unwürdig. +Ich leide es nicht, daß du dich dazu hergibst.« + +=Dr.= Bernburger betrachtete das junge Mädchen lächelnd durch seine +Brille. »Ginge der Verbrecher nicht dunkle Wege,« sagte er, »brauchte +man ihm nicht auf dunklen Wegen nachzuschleichen. Die Methode des +Verbrechers bestimmt die Methode dessen, der ihn entlarven soll. Wenn +ein Dieb mit Ihrer Börse davonläuft, und Sie wollen ihn wieder haben, +müssen Sie ihm nachspringen; oder einen anderen für sich springen +lassen.« + +»Ich verlange von niemandem, wozu ich mir selbst zu gut bin,« sagte +Mingo feindlich. »Übrigens hat uns niemand unsere Börse genommen.« + +»Mische dich nicht in Dinge, Kind,« sagte die Baronin verweisend, »die +du zu wenig kennst, um sie beurteilen zu können. Ich habe indessen doch +das Gefühl,« wandte sie sich an =Dr.= Bernburger, »daß wir keine +glückliche Rolle in dieser Angelegenheit spielen.« + +»Es kommt auf den schließlichen Erfolg an,« sagte =Dr.= Bernburger, +»und wie ich Ihnen schon sagte, hat sich meine Überzeugung bisher nur +gefestigt. Mir ist es, als hätte ich den Vorgang mit erlebt. Ich könnte +ihn in einem Drama vorführen.« + +»Und warum tun Sie es nicht?« rief die Baronin gereizt aus. »Ich glaube, +die Stimmung wendet sich allgemein dem Angeklagten zu.« + +»Herr =Dr.= Deruga hat augenscheinlich viel Glück bei Frauen,« +sagte =Dr.= Bernburger, »in deren Augen ein Mann überhaupt durch +den Verdacht eines Verbrechens zu gewinnen pflegt. Ferner begehen viele +Menschen den Fehler, zu glauben, ein Verbrecher müsse von der Natur mit +einem besonderen Stempel gezeichnet sein. Müsse roh, brutal, gemein, +entstellt aussehen. Man bedenkt nicht, daß der Grund der meisten +Verbrechen die Schwäche des Täters ist, indem er einem Antriebe nicht +genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und was für eine große +Rolle der Zufall dabei spielt. Es ist nicht ohne Ursache, daß in +früheren Zeiten viele Verbrecher selbst glaubten, der Teufel habe es +ihnen eingeblasen.« + +Der Baron meinte, solche Vorstellungen wären gefährlich, indem sie +einem fast den Mut raubten, den Verbrecher zu verfolgen und zu +bestrafen. + +Der Anwalt zuckte die Schultern. »Hörte man damit auf,« sagte er, »so +gäbe es ja nur noch Antriebe zum Bösen beziehungsweise Verbotenen, und +alle Hemmungen fielen fort. Es ist wohl das beste, daß jeder schlechtweg +das tut, was ihm sein Amt vorschreibt, ohne sich Skrupel über die Folgen +und innersten Gründe zu machen. Justizrat Fein bringt unentwegt neue +Entlastungszeugen vor; er hat jetzt wieder einen Professor ausgespielt, +der eine Zeitlang mit Deruga und seiner Frau dasselbe Haus bewohnte, und +der, wie es scheint, bestätigen soll, was wir längst wissen, daß Deruga +ein sogenannter guter Kerl ist, dem man zwar Übereilungen, aber nicht +überlegte Schlechtigkeiten zutraut. Ich würde meine Pflicht nicht tun, +wenn ich mich nicht bemühte, Beweise für unsere Überzeugung +aufzutreiben, und ich hoffe noch immer, daß es mir gelingen wird, etwas +Abschließendes zu finden. Ich verfolge eine Spur, von der ich aber +schweigen möchte, bis ich selbst vollkommene Klarheit gewonnen habe.« + +Mingo betrachtete =Dr.= Bernburger mit unverhohlenem Abscheu. »Das +geschieht aber nicht für dich, Mama,« sagte sie in flehend befehlendem +Tone, »nicht in deinem Auftrage.« + +»Bitte, mische dich nicht ein,« sagte die Baronin gereizt, »verlasse uns +lieber, wenn du dich nicht beherrschen kannst! Weder du noch ich haben +ein persönliches Interesse an der Angelegenheit, sondern einzig ein +sachliches. Es kann uns nur angenehm sein, wenn die Wahrheit +festgestellt wird.« + +»Ja, ich habe ein persönliches Interesse,« rief Mingo leidenschaftlich +aus. »Ich weiß, daß er schuldlos ist. Allen Beweisen zum Trotz, die etwa +ausspioniert werden, ist er schuldlos und besser als wir alle.« Ihre +Stimme zitterte, die Tränen waren ihr nahe. + +Der Baron und Peter Hase waren gleichzeitig aufgestanden, wie um die +Kleine zu beschützen. Der Baron stellte sich neben sie und schlug einen +Spaziergang vor: man müsse bei den immer noch kurzen Tagen die +Helligkeit benützen. =Dr.= Bernburger hatte das Gefühl, in Ungnade +und mit Verachtung beladen entlassen zu sein. Die Bitterkeit, die in +seinem Innern kochte, verdichtete sich mehr und mehr zum rachsüchtigen +Haß gegen Deruga, während er der Baronin gegenüber nur den inständigen +Wunsch hatte, ihr zu beweisen, daß er recht gehabt habe. + + + + +=XIII.= + + +»Wir wurden mit Deruga dadurch bekannt,« erzählte Professor Vondermühl, +»daß wir im gleichen Hause wohnten. Kurze Zeit nachdem sie eingezogen +waren, bekam meine Frau in der Nacht einen Magenkrampf, und um ihr +möglichst schnell Hilfe zu schaffen, ging ich hinauf und bat Deruga zu +kommen. Er zeigte die liebenswürdigste Bereitwilligkeit, und auch seine +Frau bot ihren Beistand an. Seit der Zeit sahen wir uns häufig und haben +in enger Freundschaft verkehrt, bis Derugas ihr Kind verloren und sich +bald hernach scheiden ließen.« + +»Haben Sie jemals etwas von Mißhelligkeiten zwischen den Ehegatten +bemerkt?« fragte der Vorsitzende. + +»Meine Frau hatte den Eindruck,« sagte der Professor, »daß sie sich zwar +liebhatten, aber nicht zueinander paßten. Deruga hatte trotz seiner +Verträglichkeit ein unstetes, unberechenbares Temperament und hätte +straffer Leitung bedurft; seine Frau vermochte solche nicht auszuüben, +sondern war zärtlich, anschmiegsam, gleichsam eine Pflanze, die im +Schutze einer Mauer hätte wachsen sollen. Die Verschiedenheit trat wohl +nach dem Tode des Kindes, das ein Band zwischen ihnen bildete, schärfer +zutage.« + +»Kam es zuweilen zwischen ihnen zu heftigen Ausbrüchen?« fragte der +Vorsitzende. + +»Eines Abends,« erzählte der Professor, »saßen meine Frau und ich nach +dem Abendessen auf unserem kleinen Balkon, der vom Wohnzimmer nach dem +Garten hinausging. In Derugas Wohnzimmer, das über dem unsrigen lag, +mußte die Tür offenstehen, denn wir konnten ihre Stimmen hören, und wie +ihr Gespräch allmählich in einen Wortwechsel ausartete. Wir lachten +darüber, und meine Frau sagte: 'Der schreckliche Mensch, sein Teufel ist +wieder los' -- was ein Ausdruck von ihr war, um gewisse Launen, denen +Deruga unterworfen war, zu bezeichnen. Sie schlug vor, wir wollten +hineingehen, um der Frau willen den Auftritt zu unterbrechen. Ich +jedoch war dagegen, da mir eine Einmischung in solchem Augenblick +zudringlich erschien, vielleicht auch aus Bequemlichkeit oder sonst +einer egoistischen Regung. Wir waren noch in der Auseinandersetzung +darüber begriffen, als wir Frau Deruga einen unterdrückten Schrei +ausstoßen hörten, einen Schrei des Schreckens, des Schmerzes, der Angst, +wie es schien. Da sprang meine Frau auf und lief, ohne meine Zustimmung +abzuwarten, in das obere Stockwerk hinauf, so daß ich Mühe hatte, mit +ihr Schritt zu halten. Als ich atemlos oben ankam, hatte Ursula, das +Mädchen, meiner Frau schon die Tür geöffnet und begrüßte uns mit +strahlenden Augen. Sie mochte froh sein, daß ihre Herrschaft in diesem +Augenblick nicht allein blieb. + +Deruga empfing uns mit gewohnter Herzlichkeit, von Verlegenheit oder +Mißstimmung war ihm nichts anzumerken, außer daß er ein paar Redensarten +wiederholte wie: 'Ach, die Ehe!' 'Man sollte sich das Heiraten +gründlicher überlegen als das Aufhängen!' und dergleichen. Meine Frau, +die sehr temperamentvoll war und keine Menschenfurcht kannte, sagte +scheltend, indem sie sich vor ihn hinstellte: 'Wir Frauen sollten +allerdings vorsichtiger sein, und zumal die Ihrige hat unüberlegt +gehandelt, als sie sich einem solchen Wüterich anvertraute. Weil Ihre +Frau allzu gut ist, darum machen Sie Radau! Sie haben einen kleinen +Teufel in sich, der Glück und Frieden nicht verträgt, sondern immer +Schwefelgestank und Höllenspektakel um sich haben muß.' Deruga nahm +solche Strafpredigten von meiner Frau gern an, weil er fühlte, daß sie +wahrer Freundschaft entsprangen, und sie ihrerseits lieh auch seinen +Rechtfertigungen Gehör, in welcher Form immer sie gegeben wurden. +Diesmal schien er seine Heftigkeit zu bereuen und sagte in +verhältnismäßig ruhigem Tone: 'Ich gebe zu, daß meine Frau lieb und +sanft ist, aber ich verwünsche, verfluche und hasse dieses Sanftsein. +Wenn sie mich liebte, wie sie sollte und könnte, würde sie mich einmal +anzischen wie eine Schlange und mir sagen, daß ich ein Scheusal wäre, +mich in Haß oder Liebe umschlingen und erwürgen. Wenn ich eine +aussätzige alte Frau oder ein verendender Hund wäre, würde sie mich mit +derselben Liebe und Sanftheit behandeln, die mich zur Wut reizt.' Die +arme Frau sah ihn, wie ich mich gut erinnere, mit großen Augen an und +sagte in ihrer Art zornig: 'Ich sagte dir doch eben, daß du ein Scheusal +wärest,' worüber wir alle lachen mußten. Er umarmte sie und behielt ihre +Hand in der seinen, während er ihr erklärte, daß das doch nicht das +Richtige gewesen sei.« + +»Sie erwähnten vorhin,« unterbrach der Vorsitzende, »daß Frau Deruga +einen Schrei ausgestoßen habe. Erfuhren Sie, ob sie nur aus Angst +geschrien oder ob ihr Mann sie tätlich angegriffen hatte?« + +»Das kam nicht zur Sprache,« sagte der Professor. »Vermutlich hatte er +sie unsanft angepackt. Sie sah bleich und verstört aus. Als wir nach +einer Stunde aufbrechen wollten, fragte meine Frau sie, ob wir sie nun +auch mit dem Unhold allein lassen könnten. Worauf sie lachend erwiderte: +'Für heute hat der Vulkan ausgespien.' Das sagte sie laut und +unbefangen, und auch Deruga lachte. Meine Frau konnte lange nicht +einschlafen, weil es ihr unheimlich war, doch gelang es mir, sie zu +beruhigen, indem ich ihr sagte, sie nähme die Sache zu ernst, Derugas +Liebe zu seiner Frau habe sich gerade eben deutlich gezeigt.« + +»Haben Sie jemals,« fragte der Vorsitzende, »klaren Aufschluß erhalten +über den Grund der Aufwallungen des Angeklagten gegen seine Frau? Oder +lag derselbe nach Ihrer Meinung nur in seinem Temperament und in der +Verschiedenheit der Gatten?« + +»Deruga deutete gelegentlich an,« sagte der Professor, »daß er Ursache +zur Eifersucht habe, und zwar bezog sich dieselbe auf einen Mann, zu dem +seine Frau, bevor sie Deruga heiratete, eine Zuneigung gehabt hatte, den +sie aber, weil er gebunden war, nicht hatte heiraten können. Der +Umstand, daß die alte Frau dieses Mannes starb, scheint seine Eifersucht +und seinen Argwohn so sehr gesteigert zu haben, daß ihr Leben an seiner +Seite unbehaglich wurde. Man war vielfach der Ansicht, sie habe die +Scheidung betrieben, um jenen anderen zu heiraten, was aber die +folgenden Ereignisse nicht bestätigten, denn sie ist bekanntlich ledig +geblieben.« + +»Halten Sie für möglich,« fragte der Vorsitzende, »daß die Furcht vor +dem Angeklagten dabei den Ausschlag gab? Er könnte Drohungen gegen sie +und den Mann ausgestoßen haben, falls sie ihn heiratete?« + +»Für möglich muß ich das halten,« sagte der Professor nach einigem +Besinnen, »aber etwas Bestimmtes kann ich nicht darüber sagen. Meine +Frau würde besser unterrichtet sein, da sie sehr mit Frau Deruga +befreundet und gerade damals viel mit ihr zusammen war. Zwar pflegte sie +mir alles genau zu erzählen; aber ich habe nicht alles genau genug +behalten, um es unter solchen Umständen wiedererzählen zu können. Das +weiß ich sicher, daß Frau Deruga, nachdem sie geschieden war, sich eine +Zeitlang mit der Absicht trug, jenen Mann zu heiraten, daß sie aber +davon abstand. Der Betreffende hat sich dann anderweitig verheiratet, +soll aber unglücklich geworden sein und ist vor einigen Jahren +gestorben.« + +=Dr.= Zeunemann bemerkte, aus den Schilderungen des Professors +scheine hervorzugehen, daß seine Frau diesen Verkehr mehr als er +gepflegt habe; ob etwa zwischen ihm und Deruga keine Sympathie bestanden +habe. + +»Nein, nein,« sagte der Professor, »das wäre kein zutreffender Ausdruck. +Er teilte meine wissenschaftlichen Interessen nicht, und mir ist das +Schweben und Gaukeln über den Tiefen, das Ausspielen von Hypothesen und +Paradoxen, das Phantasieren im Unmöglichen nicht gegeben. Ich war zu +schwerfällig für die oft grotesken Sprünge seines Geistes. Sie +belustigten mich wohl, aber im Grunde wußte ich nichts damit anzufangen. +So kam es, und auch weil ich sehr beschäftigt war, daß meine Frau die +Beziehungen mehr pflegte, wozu sie schon durch ihre Jugend besser paßte. +Sie war bedeutend jünger als ich und mußte doch vor mir sterben.« + +Ob seine Frau nach dem Wegzuge von Frau Deruga mit dieser im +Briefwechsel gestanden habe, fragte der Vorsitzende. + +Es wären allerdings Briefe der Frau Deruga vorhanden gewesen, sagte der +Professor, er hätte sie aber nach dem Tode seiner Frau verbrannt, damit +sie nicht später Unberufenen in die Hände fielen. Er habe darin +geblättert, bevor er sie zerstört hätte, und erinnere sich einer Stelle, +wo sie geschrieben hätte, der Frieden und die Freudigkeit, die sie sich +von der Auflösung ihrer Ehe erwartet hätte, ließe noch immer auf sich +warten. + +»'Ich ertappe mich jetzt oft darauf,' so etwa schrieb sie, 'daß ich +anstatt wie sonst vorwärts, in die Zukunft zu blicken, stehenbleibe und +mich zurückwende. Sollte das die Besinnung des Alters sein? Ach nein, +wie konnte ich auch erwarten, daß ich jemals anderswohin sollte blicken +können als dahin, wo mein Kind war, in die Vergangenheit! Für mich gibt +es keine Zukunft auf Erden mehr.' Diese Stelle ergriff mich, weil ich +damals, nach dem Tode meiner Frau, selbst anfing, nach rückwärts, statt +nach vorwärts zu leben, und sie hat sich mir aus diesem Grunde +eingeprägt.« + +Diese Briefstelle, sagte der Vorsitzende, deute nicht darauf, daß die +Verstorbene eine zweite Heirat ersehnt hätte und nur durch Furcht vor +dem Angeklagten davon zurückgehalten wäre. + +»Dazu möchte ich folgendes bemerken,« sagte der Professor. »Aus anderen +mündlichen oder schriftlichen Äußerungen der Verstorbenen wäre +vielleicht auf jenen Wunsch und jene Furcht zu schließen. Hätte man aber +noch so viele Beweise von Derugas damaligem Geladensein, so scheint es +mir doch fraglich, ob das mit einem so viele Jahre später begangenen +Mord in Verbindung gebracht werden könne. Es ist wahr, daß die +menschlichen Handlungen Ketten sind, deren Glieder ein Götterauge ins +Unendliche muß verfolgen können; aber ob wir Menschen uns in den +labyrinthischen Verzweigungen nicht verirren müssen?« + +Der Vorsitzende blickte schweigend vor sich nieder, während der +Staatsanwalt unter kritischen Grimassen den Kopf wiegte. Dann stellte +=Dr.= Zeunemann die Schlußfrage an den Professor, ob ihm noch +andere Gründe bekannt wären, mit denen die Scheidung der Derugas damals +erklärt worden wäre oder erklärt werden könnte. + +»Meine Frau wußte,« sagte der Professor, »daß Frau Deruga ihren Mann bis +zu einem gewissen Grade für den Tod ihres Kindes verantwortlich machte +und deshalb einen krankhaften Haß auf ihn warf. Es ist das so zu +verstehen, daß Deruga für Abhärtung und Rücksichtslosigkeit in der +körperlichen Erziehung des Kindes war, während seine Frau es eher +verzärtelte. Dieser Gegensatz bildete öfters Anlaß zu Streitigkeiten. +Auf die Dauer konnte die verständige Frau sich aber doch nicht dagegen +verblenden, daß Deruga das Kind, auf seine Art, ebenso wie sie geliebt +hatte und den Verlust ebenso wie sie betrauerte, und sie suchte die +ungerechte Abneigung zu überwinden, worauf auch meine Frau mit der +ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperamentes drang. Ich kann also nicht +glauben, daß diese durch den übermäßigen Schmerz zu erklärende +Gefühlsverkehrung den Entschluß zur Scheidung bewirkt habe, wenn auch +vielleicht das Verhältnis dadurch gelockert wurde.« + +Es entspann sich nun zwischen den Juristen ein Wortwechsel über den vom +Staatsanwalt gestellten Antrag, Fräulein Schwertfeger noch einmal zu +vernehmen, ob sie etwas Aufklärendes über Frau Swieters geplante und +nicht vollzogene Ehe aussagen könne. Justizrat Fein verwarf es als +zeitraubend und überflüssig, welcher Meinung sich =Dr.= Zeunemann +anschloß, der sagte, noch mehr Einzelheiten, wie sie auch ausfielen, +würden den Prozeß nicht weiterbringen. Für die Eigenart Derugas, die +darin bestehe, daß er sich im labilen Gleichgewicht befinde, ließen sich +vermutlich noch zahlreiche Beispiele aufbringen. Es handle sich aber +nicht hier darum, die Geschichte seiner Seele zu erforschen, sondern die +Geschichte seines Lebens vom 1. bis zum 3. Oktober festzustellen. Darauf +bezüglich habe Fräulein Schwertfeger nichts mehr zu sagen. + +»Ich bitte die Herren dringend,« sagte der Justizrat, »sich auf +Tatsachen zu beschränken, damit wir den Knoten nicht noch mehr +verwirren, anstatt ihn aufzulösen.« + +»Was für Tatsachen?« fragte der Staatsanwalt, so plötzlich von seinem +Sitz aufschnellend, daß der Justizrat die Antwort nicht gleich bereit +hatte. + +»Tatsachen, die sich auf den angeblichen Mord beziehen,« entgegnete er +nach einer Pause. »Aus Mangel an Tatsachen werden Alltäglichkeiten +hervorgezerrt und aufgebauscht. Verliebte pflegen den Gegenstand ihrer +Liebe im Falle der Untreue mit dem Tode zu bedrohen, ohne daß der +Gegenstand selbst oder jemand anders darauf Gewicht legt. Dergleichen +hat nicht mehr Bedeutung als die Schwüre der Liebe.« + +»Es kommt darauf an, was nachfolgt,« sagte der Staatsanwalt. »Übrigens +wären uns allen Tatsachen auf der Handfläche lieber; da der Angeklagte, +der es könnte, sie uns aber nicht liefert, so bleibt uns nichts übrig, +als den Grund zu untersuchen, aus dem die Handlungen wachsen, nämlich +das menschliche Gemüt.« + +»Der Angeklagte lieferte sie uns nicht?« begann der Justizrat. Allein +=Dr.= Zeunemann bat, den fruchtlosen Streit zu beenden, und +forderte Fräulein Schwertfeger auf, dem erhobenen Wunsche genug zu tun +und noch einige wenige Fragen zu beantworten. + +Fräulein Schwertfeger, die blasser und elender aussah als am ersten +Tage, ließ das unsichtbare Visier über ihr Gesicht herab und fragte, +indem sie zögernd vortrat, ob sie dazu verpflichtet sei, durchaus +private Angelegenheiten hier an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie könne +sich das nicht denken. + +»Im Staate ist das Private durchgehend mit dem Öffentlichen verknüpft,« +sagte =Dr.= Zeunemann sanft belehrend. »Nur soweit die Öffentlichkeit +Interesse daran hat, bitte ich Sie noch um einige Aufschlüsse über die +Verhältnisse Ihrer verstorbenen Freundin. Frau Swieter hatte vor ihrer +Heirat mit dem Angeklagten freundschaftliche Beziehungen zu einem Manne, +die sie abbrach, da sie zu einer Ehe nicht führen konnten, und die +vermutlich, solange die Ehe mit dem Angeklagten bestand, nicht wieder +angeknüpft wurden.« + +»Natürlich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger hochmütig. »Sie sahen +sich erst wieder, als Frau Swieter hierher übersiedelte.« + +»Dabei lebte die beiderseitige Neigung auf, und die Wiedervereinigten +beschlossen, sich zu heiraten. Ist es nicht so?« fragte =Dr.= +Zeunemann. + +»Ja,« antwortete das Fräulein trocken. + +»Was war die Ursache, daß dieser Beschluß nicht ausgeführt wurde?« +fragte =Dr.= Zeunemann weiter. »Es ist unmöglich, daß Sie, als +nächste Freundin der Verstorbenen, nicht davon unterrichtet sein +sollten.« + +»Es lag nicht in der Natur meiner Freundin, sich bis aufs letzte +auszusprechen,« sagte Fräulein Schwertfeger, »und es liegt nicht in +meiner, Verschwiegenes zu erpressen. Meine Freundin war damals sehr +aufgeregt und äußerte sich ungleich. Einmal sagte sie mir unter Tränen, +ihre alte Liebe sei so stark wie je, wolle sie sich aber an die Brust +des Geliebten werfen, so stehe ihr Mann, das Kind an der Hand +dazwischen, und dieser Schatten ihrer Einbildung sei undurchdringlicher +als eine Mauer.« + +»Haben Sie das so aufgefaßt,« fragte =Dr.= Zeunemann, »als fürchte +sie sich vor ihres Mannes Rache, oder als dränge sich die Erinnerung +zwischen sie und ein neues Glück?« + +»Ich habe es damals so aufgefaßt,« lautete die Antwort, »als sei +=Dr.= Deruga schuld daran, daß meine Freundin den Mann nicht +heiratete, den sie liebte. Es tat mir sehr, sehr leid, daß diese Heirat +nicht zustande kam. Ich kannte diesen Mann viel besser als =Dr.= +Deruga und hatte viel mehr Sympathie für ihn, schon deshalb, weil ich +glaubte, meine Freundin würde es gut bei ihm haben.« + +»Wenn Sie jenen Herrn gut kannten,« sagte =Dr.= Zeunemann, »so +haben Sie vielleicht mit ihm darüber gesprochen und wissen, wie er es +auffaßte?« + +»Er faßte es so auf,« sagte Fräulein Schwertfeger mit sehr bösem +Gesicht, »als fürchte Frau Swieter, Deruga würde ihn töten, wenn er sie +heiratete. Es ist unmöglich, daß sie ihm das gesagt hat, weil ihn das +weniger traurig machen mußte, als wenn er gewußt hätte, welchen Anteil +Deruga an ihrem Gemütsleben hatte. Es kann auch sein, daß er das glauben +wollte, weil es seinen Stolz am wenigsten verletzte. Er war stolz und +herrschsüchtig.« + +»Wenn Ihre Freundin ihn so sehr liebte,« sagte =Dr.= Zeunemann, »so +muß ein starkes Motiv sie abgehalten haben, ihn zu heiraten.« + +»Natürlich,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie hat damals auch sehr +gelitten. Sie überwand es aber verhältnismäßig bald und sagte später +stets, sie glaube, richtig gehandelt zu haben.« + + + + +=XIV.= + + +Es war Abend, als =Dr.= Bernburger müde in seine Wohnung kam. Er +warf sich auf den schäbigen Diwan, den er alt gekauft hatte, und sah +sich fröstelnd nach irgend etwas um, womit er sich zudecken könnte. +Drinnen war es kälter als draußen, aber abgesehen davon, daß er aus +Sparsamkeit am Abend womöglich nicht mehr einheizte, fühlte er sich auch +zu erschöpft und unlustig dazu. Mißvergnügt sah er sich in dem kahlen, +an ein Zimmer in einem Hotel zweiten Ranges erinnernden Raum um und +dachte darüber nach, woher und wozu er diesen Hang nach einer schönen, +behaglichen Umgebung habe, den er vielleicht nie würde befriedigen +können. Um seiner Verstimmung zu entrinnen und sich zu erwärmen, +beschloß er, in ein Café zu gehen. Da fand er vor der Glastür, die seine +Wohnung abschloß, eine kleine, verhutzelte Frau stehen, die schon eine +Weile nach der Klingel gesucht hatte und ihn fragte, ob hier ein Herr +Rechtsanwalt wohne. Der sei er, sagte =Dr.= Bernburger; aber jetzt +werde nicht mehr gearbeitet, sie solle am folgenden Tage in seine +Sprechstunde kommen. Die kleine Frau setzte auseinander, daß sie das +nicht könne, weil sie tagsüber bei den Herrschaften sei, um zu waschen; +ihr Mann habe sie ja verlassen, und sie müsse die Kinder allein +durchbringen. Sie komme auch jetzt von der Arbeit, und zwar komme sie, +weil der Herr Tönepöhl vom Vorderen Anger sie geschickt habe. + +Bei der Nennung dieses Namens durchfuhr den Anwalt ein Gedanke, der ihm +das Blut ins Gesicht trieb und ihn bewog, mit der kleinen Frau in sein +Zimmer zurückzukehren. Während er Licht machte, bat er sie, sich zu +setzen und zu erzählen, was sie herführe, und da sie, als er damit +fertig war, noch immer bescheiden an der Tür stand, nötigte er sie +selbst auf einen Stuhl und nahm ihr den großen Deckelkorb ab, den sie in +der Hand trug. Sie lächelte verlegen und dankbar und begann ihre +Erzählung: + +Vorgestern sei sie zu Herrn Tönepöhl, dem Tändler im Vorderen Anger, +gekommen, um ein Paar Schuhe für ihren Ältesten zu kaufen, und da habe +ihr ein Paar besonders gut gefallen, weil es ungefähr die rechte Größe +gehabt hätte; aber es sei zu teuer gewesen. Da habe sie zu Herrn +Tönepöhl gesagt, sie habe einen Arbeitskittel von ihrem seligen +Mann -- sie sage nämlich immer 'ihr seliger Mann', seit er auf und davon +gegangen sei -- der sähe wie neu aus, ob er den nicht dagegen annehmen +wolle. Herr Tönepöhl habe barsch gesagt, wie er überhaupt sehr +hochfahrend gegen die armen Leute sei, für solches Lumpenzeug habe er +keine Kunden. Da habe seine Frau, die in einem alten Koffer gekramt +habe, dazwischen geschrien, er solle nicht ein solcher Tölpel sein, der +Herr Rechtsanwalt habe ihm doch viel Geld für einen alten Kittel +versprochen, und er, der Mann, habe dem Herrn Rechtsanwalt fest +zugesagt, sich danach umzusehen, und nun sähe man, was für ein +Windbeutel er sei. Darauf habe Herr Tönepöhl seinerseits geschimpft, sie +sei dümmer als ein Hering. Der Herr Rechtsanwalt würde ihm den Kittel +an den Kopf werfen, denn er wolle einen, der auf der Straße gefunden +sei. Nun sei nämlich der alte Anzug, den sie gemeint habe, gar nicht von +ihrem seligen Manne gewesen, sondern sie habe ihn gefunden, aber wegen +der Grobheit des Herrn Tönepöhl habe sie sich nicht getraut, das zu +sagen, damit er nicht eine große Angelegenheit daraus mache und +behaupte, sie habe ihn gestohlen. + +Sie sei also fortgegangen, habe aber an der Türe noch mit Frau Tönepöhl +geschwatzt und sie gefragt, was für ein Herr Rechtsanwalt das sei, und +sie habe ihr alles erzählt und auch, daß es sich um einen großen Prozeß +handle, und daß man ein gutes Stück Geld verdienen könnte, wenn man den +rechten Anzug brächte. Darauf habe sie gedacht, sie wolle den Kittel in +Gottes Namen dem Herrn Rechtsanwalt bringen, er werde ihr ja nichts +Böses antun und sie ins Unglück stürzen, wo sie ja nur komme, weil ihm +so viel daran gelegen sei. + +Nun freilich, sagte =Dr.= Bernburger, er sei ihr sehr dankbar, und +ob er den Anzug brauchen könne oder nicht, er wolle sie für die Mühe +entschädigen. Sie sei eine brave, kleine Frau und solle recht gründlich +erzählen, wie sie zu diesem Kittel gekommen sei. + +Es sei der 3. Oktober gewesen, erzählte die Frau. Sie erinnere sich +deswegen so gut daran, weil sie an dem Tage schon vor fünf Uhr aus dem +Hause gegangen sei. Die Frau Kommerzienrat Steinhäger habe sie nämlich +ersucht, eine Stunde früher zu kommen und eine oder zwei Stunden länger +zu bleiben, damit sie womöglich an einem Tage mit der Wäsche fertig +würde; es habe sich ein auswärtiger Besuch auf den folgenden Tag bei ihr +angemeldet, und das passe so schlecht, wenn Wäsche sei. Weil nun die +Frau Kommerzienrat sonst eine gute Frau wäre, habe sie es ihr zugesagt, +und so sei sie denn schon vor fünf Uhr durch die Bahnhofsanlagen +gekommen, als noch kein Mensch unterwegs gewesen sei. Ein starker Wind +habe geweht, so daß die hohen Bäume sich gebogen hätten, und die dürren +Blätter wären ihr wie Fledermäuse um den Kopf geflogen. + +Auf der Brücke habe sie einen Augenblick stillstehen müssen, so habe +der Wind gegen sie angeblasen, und da habe sie etwa hundert Schritt +weiter am Ufer etwas Schwarzes gesehen. Zuerst habe sie gemeint, es sei +ein Kind oder ein Hund, weil es scheinbar Arme oder Beine ausgestreckt +hätte, und sie sei schnell hingelaufen, anstatt dessen sei es ein mit +Bindfaden umschnürter Anzug gewesen. Offenbar sei er in Papier +eingewickelt gewesen, das habe aber das Wasser größtenteils aufgelöst +und weggerissen. Sie habe den Anzug losgemacht und ausgerungen und +beschlossen, ihn mitzunehmen. Denn der, dem er gehört habe, müsse ihn +doch weggeworfen haben, also sei es kein Unrecht, und vielleicht könne +ihr seliger Mann ihn gebrauchen, wenn er etwa einmal wiederkäme, oder +sonst ihr Ältester, wenn er erwachsen sei. Ob der Herr Rechtsanwalt +meine, daß sie unrecht getan hätte? + +Sie betrachtete ihn ängstlich gespannt aus ihren braunen Augen, die wie +zwei kleine, fleißige Nachtlämpchen aus dem verschrumpften Gesicht +herausleuchteten. + +Aber nein, sagte =Dr.= Bernburger, da könne mancher reiche und +angesehene Mann froh sein, wenn er nicht mehr als das auf dem Gewissen +hätte. Das sei ja herrenloses Gut gewesen. Sie habe recht getan, sie sei +ein wackeres Frauchen. Gewiß habe sie den Kittel in ihrem Henkelkorbe? + +Ja, sagte die kleine Frau erleichtert, sie habe ihn gleich mitgebracht, +um nicht noch einmal kommen zu müssen. Denn es sei ein großer Umweg für +sie, und ihre Kinder pflegten sie abends ungeduldig zu erwarten. + +Sie nahm ein Paket aus dem Korb, und =Dr.= Bernburger faltete den +Anzug auseinander. + +»Wissen Sie,« sagte er, »ich kaufe Ihnen den Anzug ab, ob es nun der +rechte ist oder nicht. Sind Sie zufrieden, wenn ich Ihnen vorderhand +zehn Mark gebe? Sie sollen aber noch mehr bekommen, wenn es sich +herausstellt, daß es der ist, den ich suche.« + +Die kleine Frau wurde rot vor schreckhafter Freude. Nun könne sie ihrem +Ältesten die schönen Schuhe kaufen, sagte sie. + +Aber sie solle Herrn Tönepöhl nichts von dem Geschäft sagen, das sie +miteinander gemacht hätten, rief =Dr.= Bernburger ihr die Treppe +herunter nach. Der brauche nichts davon zu wissen. + +Heiß, fast blind vor Triumph trat =Dr.= Bernburger in das Zimmer +zurück, dessen Kälte und Leere er nicht mehr fühlte. Sein Gedankengang +war also richtig gewesen! Einmal kreuzte doch der Weg des Glückes den +seines Verstandes. Wie würden sie staunen, wenn er ihnen das Rätsel +löste und zugleich das Beweisstück vorlegte! Würde man angesichts dessen +noch zweifeln können? Vielleicht war irgendein Abzeichen an dem Anzuge, +welches die Ermittlung des Geschäftes, wo er gekauft war, erlaubte. Eine +genaue Untersuchung des Anzuges ergab nichts Derartiges, dagegen war +deutlich zu erkennen, daß ein neues gutes Stück vorlag, dem durch +absichtlich eingesetzte Flicken der Schein eines dürftigen, oft +getragenen Arbeitergewandes zu geben versucht worden war. + +Indem =Dr.= Bernburger den Rock hin und her wendete, entdeckte er +eine zugeknöpfte Seitentasche, öffnete sie, griff hinein und zog einen +Briefumschlag heraus, der eine von der Nässe verwischte, aber lesbare +Aufschrift trug. Er las: »Herrn =Dr.= S.E. Deruga,« dann die Stadt +und die Straße. + +Trotzdem dieser Brief ihm nur bestätigte, was er erwartet hatte, war er +nicht nur überrascht, sondern fast erschrocken. Versteinert starrte er +auf den Brief, der da lag wie die Gaukelei erregter Einbildungskraft und +doch Wirklichkeit war, der Zauberschlüssel, der ihm die Pforte zu +Ansehen und Reichtum öffnen würde. Daß der Umschlag einen Brief +enthielt, hatte er gefühlt, aber noch zögerte er ihn herauszunehmen und +zu lesen. Ihm selbst zum Ärger klopfte ihm das Herz. Wozu die Aufregung? +Er zwang sich, die peinliche Spannung zu beendigen, indem er las. Der +Brief lautete: + + »Dodo, lieber Dodo, ich bin todkrank und muß sterben, + aber vorher muß ich schrecklich leiden und habe + niemand, der mir hilft. Du bist der einzige, der mich + lieb genug hat, um mich zu töten. Komm und befreie + Deine arme Marmotte, von der Du weißt, wie sie sich + vor Schmerzen fürchtet. Dies ist das erste Wort, das + ich nach siebzehn Jahren an Dich richte, und es ist + eine Bitte. Ach, Dodo, an kein anderes Herz als an + Deines würde ich eine solche Bitte zu richten wagen. + Komme bald, Du wirst wissen, wie es geschehen kann. Daß + ich Dir geschrieben habe, wird kein Mensch erfahren. + + Deine Marmotte.« + +=Dr.= Bernburger las und las wieder. Es war ihm ernüchtert und +ermüdet zumute. War dieser Brief vielleicht eine List, ein nachträglich +angefertigtes Machwerk, das Deruga oder seine Freunde ihm in die Hände +gespielt hatten? Nachdem er ihn sorgfältig untersucht und eingesehen +hatte, daß ein Betrug ausgeschlossen war, schob er ihn in den Umschlag +und steckte ihn in seine Brusttasche. Dann nahm er Hut und Mantel, um +ins Café zu gehen. Als er nur wenige Schritte von dem Restaurant +entfernt war, wo er zu Abend zu essen pflegte, kehrte er um und suchte +ein anderes Lokal auf, um nicht von Bekannten angesprochen zu werden; +er hatte das Bewußtsein zerstreut zu sein und wollte nicht auffallen. + +Während er aß, mußte er denken, daß ihn nichts abhielte, den Brief in +den kleinen eisernen Ofen zu werfen, der ein paar Schritt von ihm +brannte. In einem Nu würden die hastigen Flammen das verhängnisvolle +Zeugnis vernichtet haben. Er hatte nicht die Absicht es zu tun, aber die +Vorstellung war so lebhaft in ihm, daß ihm angst wurde, er müsse es +dennoch, wie man unter dem Eindruck des Schwindels wohl fürchtet, man +würde sich wider Willen von einer Höhe in den Abgrund werfen. + +Wie dumm, dachte er, daß er der alten Frau, durch die er in eine so +peinliche Lage versetzt war, zehn Mark gegeben hatte! Würde er es über +sich bringen, von dem Mantel Gebrauch zu machen und den Brief zu +verschweigen? Wenn er es tat, so war er der Bewunderung und Dankbarkeit +der Baronin sicher. Welche Genugtuung würde es ihm geben, sie von seinem +Scharfsinn, von der Richtigkeit seiner Auffassung, die er von Anfang an +gehabt hatte, zu überzeugen! Was würde sie dagegen sagen, wenn er ihr +den Brief zeigte: »Sie versprachen mir, Deruga als Verbrecher zu +entlarven, und sie verschaffen ihm einen Heiligenschein! Sie verstehen +es, Wort zu halten!« Wahrscheinlich würde sie ihm verbieten, von dem +Brief Gebrauch zu machen; und das war schließlich für ihn die +glücklichste Lösung, indem sie ihm zur Pflicht machte, was er aus +eigener Verantwortung ungern getan hätte. Und wie würde Deruga sich +verhalten? =Dr.= Bernburger begriff nicht, warum er den wahren +Hergang verschwiegen hatte. Sollte er auch seinem Anwalt nichts davon +gesagt haben? + +Plötzlich überkam ihn der Wunsch, in die Anlagen zu gehen und die Stelle +aufzusuchen, wo die Waschfrau den Anzug gefunden haben wollte; in der +Restauration mochte er ohnehin nicht bleiben, und schlafen hätte er +ebensowenig können. Er hatte fast eine Stunde zu gehen, bis er an die +Brücke kam, die über den Kanal führte. Der Schnee, der in der letzten +Nacht gefallen war, hatte sich aufgelöst und in Schmutz verwandelt, und +er hörte in der Dunkelheit die Nässe unter seinen Füßen klatschen. Die +hölzerne Brücke war schlüpfrig, und das Wasser stand sehr hoch; schwarz +und heimlich-hastig floß es unter ihm fort. Nach einer Weile unterschied +er etwas weiter unten die wild sich bäumenden Wurzeln einer alten Ulme, +die das Ufer umklammerte; dort mochte das Bündel Kleider, das der Fluß +trieb, sich festgehängt haben. + +Lange starrte der späte Wanderer auf die Stelle und ging dann weiter, +bis er nach einigen Schritten vor einer halbkreisförmigen Steinbank +stand, von der aus man in der schönen Jahreszeit einen angenehmen Blick +auf die Wiesen hatte, die sich weithin zwischen dunklen Gebüschen +erstreckten. Vielleicht, dachte er, hatte in der stürmischen +Oktobernacht Deruga dort gesessen und, nachdem er sich umgekleidet, die +Stunde erwartet, wo der Zug abging, mit dem er heimfahren wollte. +Vielleicht war er sehr bewegt und zugleich sehr erschöpft gewesen und +hatte hier ausgeruht, wo niemand ihn beobachtete. Unwillkürlich +durchwatete auch =Dr.= Bernburger die aufgeweichte Erde und setzte +sich auf die steinerne Bank, ohne zu beachten, wie naß sie war. Was +mochte Deruga gefühlt und gedacht haben, nachdem er die Frau, die er +einst geliebt und gehaßt hatte, wiedergesehen und für immer verlassen +hatte? Was für Erinnerungen mochten ihn zusammen mit den raschelnden +Blättern umschwirrt haben? + +Indes er so sann, troff es kalt auf ihn herunter, und plötzlich überlief +ihn ein Schauer, und er stand auf und ging schnell, ohne sich umzusehen, +der Stadt zu. + + + + +=XV.= + + +Am anderen Morgen fühlte =Dr.= Bernburger sich so abgespannt, daß +es ihm erlaubt schien, sich als krank zu entschuldigen, und nachdem er +das telephonisch besorgt hatte, legte er sich wieder zu Bett in der +Hoffnung, noch einmal einschlafen zu können. + +Das Klingeln des Telephons weckte ihn, und mit einem lebhaften Gefühl +des Überdrusses beschloß er zu tun, als gehe es ihn nichts an. Aber als +es von neuem begann, stand er mit einem Seufzer auf, um zu hören, was es +gebe. Er erkannte sofort die Stimme der Baronin, der der Apparat eine +schrille Färbung gab. + +»Sie sind krank?« sagte sie. Das sei allerdings im höchsten Grade +ungeschickt. Sie sei im Begriff abzureisen, und es sei darum gerade +jetzt notwendig, daß er persönlich am Platze sei. + +Er sei nicht zum Vergnügen krank, antwortete Bernburger. Die Krankheit +sei wohl nicht so arg, sagte die Baronin, daß er nicht auf eine +Viertelstunde ins Hotel kommen könne. Sie müsse ihn durchaus vor der +Abreise sprechen. + +Er bedauere, antwortete Bernburger, er läge zu Bett. + +»Aber Herr Doktor, Sie sind ja am Telephon,« sagte die Baronin mit dem +Lachen, von dem er wußte, wie verführerisch es klang, wenn es ihr darauf +ankam. + +»So komme ich in Gottes Namen,« rief er ärgerlich auf sich und sie. + +»Das ist recht, Doktor,« antwortete ihre Stimme, »Sie können sich ja +einen Wagen nehmen.« + +»Sie sehen gar nicht krank aus, Doktor,« so empfing ihn die Baronin. +»Mein Mann und ich haben uns plötzlich entschlossen nach Paris zu +reisen,« fuhr sie fort, »da mich der schreckliche Prozeß, wie ich Ihnen +schon sagte, so sehr angegriffen hat.« + +»Die Stellungnahme Ihres Fräuleins Tochter,« sagte =Dr.= +Bernburger mit absichtlicher Dreistigkeit, »muß sehr erschwerend für Sie +sein.« + +Die Baronin errötete. »Sie wissen,« sagte sie, »daß ich meine Handlungen +durch das Urteil der Jugend nicht beeinflussen lasse. Meine Tochter wird +uns begleiten.« + +»Sie sind um den Aufenthaltswechsel sehr zu beneiden,« sagte =Dr.= +Bernburger. + +»Ja, der Frühling ist in Deutschland unerträglich,« sagte die Baronin. +»Vielleicht wird er gerade deshalb von deutschen Dichtern so besonders +viel besungen; man rühmt ja das, was man nicht kennt.« + +»Sich niemals kennenzulernen wäre also das Geheimnis der glücklichen +Ehe,« erwiderte =Dr.= Bernburger und setzte, sich selbst +verweisend, hinzu: »Aber ich sehe, meine Schwäche macht mich zerstreut +und geschwätzig. Was wünschen Frau Baronin mir zu sagen?« + +»Ich wollte Ihnen den Prozeß auf Herz und Gewissen legen,« sagte sie. +»Als wir uns das letztemal sahen, war ich schwankend geworden; eine +Folge meiner Unklugheit, persönlich anwesend zu sein, wie ich jetzt +eingesehen habe. Die vielen Einzelheiten, die wechselnden Aussagen, alle +die starken Eindrücke machen einen nervös, wenn man nicht daran gewöhnt +ist. Ich will nun, ohne mich persönlich darum zu kümmern, dem Prozeß +seinen Lauf lassen und das Ergebnis erwarten. Daß es gerecht ausfällt, +dafür sind die Anwälte und Richter da.« + +»Jawohl,« sagte =Dr.= Bernburger. + +»Ich kann mich doch auf Sie verlassen?« fragte sie. »Ihre Krankheit wird +doch nicht lange dauern? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir +zuweilen Bericht erstatten wollten. Sie sagten das letztemal, daß Sie +eine entscheidende Entdeckung zu machen hofften.« + +=Dr.= Bernburger hatte die Baronin starr angesehen und fuhr bei +ihren letzten Worten zusammen. »Leider,« stieß er etwas gewaltsam +hervor, »muß ich Ihnen mitteilen, daß ich mich gezwungen sehe, die +Vertretung Ihrer Angelegenheit niederzulegen.« + +Die erste Regung der Baronin bei diesen unerwarteten Worten war +gekränkte Entrüstung, die sie so stark erfüllte, daß sie kaum Fassung +gewinnen konnte, sich zu äußern. + +»Das ist unerhört, das ist unmöglich,« rief sie endlich aus, während ein +kalter, stechender Ausdruck in ihre grauen Augen trat. »Sie wollen sich +aus der Verlegenheit zurückziehen, in die Sie mich verwickelt haben. +Aber ich entlasse Sie nicht. Und diese Krankheit haben Sie nur +vorgeschützt, ich durchschaue es gleich. Es ist der erste Schritt, uns, +mich ehrlos im Stiche zu lassen.« + +=Dr.= Bernburger wurde bleich, aber er blieb bei wachsender +Entschlossenheit ruhig. »Ich fühle mich in der Tat krank,« sagte er, +»und der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Es ist um Ihretwillen, daß ich +zurücktreten will.« + +»Ich danke für Ihr rücksichtsvolles Opfer,« sagte die Baronin spöttisch. +»Aber ich nehme es nicht an. Ich vertraue Ihnen trotz Ihrer Krankheit.« + +Inzwischen hatte die aufgeregte und scharfe Stimme ihrer Mutter Mingos +Aufmerksamkeit erregt, die sich im Nebenzimmer befand. Sie trat ein und +betrachtete die Streitenden mit verwundert fragenden Blicken. Ohne daß +er sich dessen bewußt wurde, flößte ihre Anwesenheit dem jungen +Rechtsanwalt Mut ein. + +»Wenn ich Ihnen den Namen und die Art meiner Krankheit nenne, Frau +Baronin,« sagte er, »werden Sie mich besser begreifen. Sie besteht +darin, daß ich anderer Überzeugung geworden bin.« + +»So plötzlich?« fragte die Baronin. »Noch vor zwei oder drei Tagen +sprachen Sie sich ganz anders aus.« + +»Es kommt vor, daß einem die Augen ganz plötzlich geöffnet werden,« +sagte =Dr.= Bernburger. + +Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Mingo seine heiße, feuchte Hand +ergriff, deren Berührung sie sonst vermieden hatte, und ausrief: »O, +Herr Doktor, sagen Sie uns alles! Ich danke Ihnen, Mama freut sich +ebenso wie ich, wenn Sie es auch nicht gleich zugibt! Wie gut von Ihnen, +daß Sie Ihren Irrtum eingestehen!« + +Sie hielt seine Hand noch immer mit leidenschaftlichem Druck fest, und +ihre Augen standen voll Tränen, während ihre Lippen zitterten. Auch in +dem Gesicht der Baronin lösten sich die gespannten Mienen, obwohl sie +Zurückhaltung und Überlegenheit zu bewahren suchte. + +»Seien Sie aufrichtig gegen mich, Herr Doktor,« sagte sie mit gemäßigter +Strenge. »Das wenigstens darf ich von Ihnen verlangen. Beruht Ihre +Sinnesänderung auf psychischen Eindrücken oder auf neuen Tatsachen, die +Sie erfahren haben?« + +Erst jetzt forderte sie ihn durch eine Handbewegung auf, sich zu setzen, +und da er einen Stuhl nehmen wollte, bot sie ihm mit lächelnder +Anspielung auf seine Krankheit einen Sessel an. »Auch ein Glas Wein +müssen Sie trinken,« fügte sie hinzu, indem sie Mingo durch einen Blick +bedeutete zu klingeln. »Sie sehen wirklich angegriffen aus. Ich glaube, +ich war vorhin zu hart gegen Sie, aber Sie haben es selbst durch Ihre +Unaufrichtigkeit und vor allem durch Ihre Zweifel verschuldet. Ich +glaube, wenn Sie die schlechte Meinung in Rechnung ziehen, die Sie von +mir hatten, bin ich Ihnen nichts mehr schuldig.« + +Als =Dr.= Bernburger seine Erzählung beendet hatte, war Mingos +blasses Gesicht von Tränen überströmt, die zu verbergen sie keinen +Versuch machte; zu sprechen war sie nicht imstande. Ihrer Mutter war es +nicht anzusehen, daß sie bewegt war. + +»Erklären Sie mir nun, Herr Doktor, in welcher Weise sich durch Ihren +Fund die Lage verändert hat,« sagte sie. »Was werden die Folgen sein?« + +»Die Lage hat sich nur verändert, wenn Sie wollen,« sagte =Dr.= +Bernburger. »Wenn Sie es verlangen, habe ich die Pflicht, meinen Fund zu +verschweigen.« + +»Das kommt natürlich nicht in Frage,« rief die Baronin schnell aus. »Ich +habe nie etwas anderes gewollt, als daß ein Verbrechen gesühnt würde. +Was Herr Deruga getan hat, halte ich eher für eine großmütige Tat. Ich +weiß aber nicht, wie die Justiz sich dazu stellt.« + +»Durch den Brief,« erklärte der Anwalt, »ist einwandfrei festgestellt, +daß =Dr.= Deruga seine geschiedene Frau auf ihre Bitte getötet hat, +und seine Tat fällt demnach unter eine Rubrik, die 'Tötung auf +Verlangen' betitelt ist. Vermutlich wird er zu einigen Jahren Gefängnis +verurteilt. Wird er aber auch freigesprochen, so haben Sie, Frau +Baronin, mit einem Versuch, ihm die Erbschaft streitig zu machen, doch +kaum noch Aussicht auf Erfolg.« + +Ein schnelles, tiefes Rot flog über das Gesicht der Baronin. »Davon ist +nicht mehr die Rede,« sagte sie mit einer abwehrenden Handbewegung. +»Jetzt begreife ich die Verfügung meiner verstorbenen Kusine vollkommen. +Alles, was ich getan habe, ging aus vollkommener Verkennung der +Verhältnisse hervor. Ihrem Eifer, lieber Herr Doktor, habe ich es zu +verdanken, daß ich noch rechtzeitig meinen Irrtum einsehen konnte.« Sie +reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen führte. + +Mingo vermochte immer noch nicht zu sprechen. Erst als =Dr.= +Bernburger fortgegangen war, rief sie, indem sie ihrer Mutter um den +Hals fiel: »Was für ein guter Mensch, dieser unscheinbare Bernburger! +Wie unrecht habe ich ihm getan! Und was für schöne traurige Augen hat er +hinter der Brille!« + +Die Baronin küßte Mingo auf die Stirn und sagte: »Süßliche Augen, gut, +daß die Brille davor ist.« + + + + +=XVI.= + + +=Dr.= Zeunemann eröffnete die nächste Sitzung durch eine +überraschende Mitteilung: =Dr.= Bernburger, der von der Baronin +Truschkowitz mit Nachforschungen über den Tod ihrer Kusine betraut +gewesen sei, habe einige Tatsachen gesammelt, die geeignet wären, dem +Prozeß eine andere Wendung zu geben. Nachdem er die Genehmigung der +Baronin erhalten habe, bitte er dieselben dem Gericht vorlegen zu +dürfen. + +Das unvorhergesehene Ereignis schreckte selbst Deruga aus seiner bisher +beobachteten schläfrigen Haltung. Unwillkürlich spannten seine Muskeln +sich wie zu einem Kampfe, als =Dr.= Bernburger vortrat, von dem er +sich eines tückischen Angriffs aus dem Hinterhalt versah. + +»Meine Herren Richter und Geschworenen,« begann =Dr.= Bernburger, +»ich habe einen wichtigen Fund gemacht, den ich Ihnen keine Stunde +vorenthalten zu sollen glaube, da er den dunklen Fall, der Sie +beschäftigt, mit einem Schlage ins klare Licht setzt. Meine Herren, ich +ging von der Überzeugung aus, daß Deruga den Mord an Frau Swieter +begangen haben müsse, weil er erstens der einzige war, der ein Interesse +an ihrem Tode hatte, und zweitens der einzige, dessen Schicksal mit dem +ihrigen eng und in tragischster Weise verflochten gewesen war; sodann, +weil es mir schien, daß ohne den Willen der Frau Swieter oder ihres +Dienstmädchens oder beider niemand ihre Wohnung hätte betreten können. +Diese meine Ansicht wurde durch die Zeugenaussagen bestärkt und darin +verändert, daß ich von Frau Swieters Dienstmädchen absah und sie allein +für diejenige ansah, die den Mörder eingelassen hatte. + +Ich stellte mir den Vorgang so vor, daß entweder Frau Swieter ihren +geschiedenen Gatten zu sich gerufen habe, um von ihm Abschied zu nehmen, +oder aber, was ich für wahrscheinlicher hielt, daß er sie aufgesucht +habe, um Geld von ihr zu erbitten; und daß irgendeine unvorhergesehene +Wendung des Gesprächs ihn zum Mörder gemacht habe. In beiden Fällen ließ +sich das durch die besonderen Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden +hatten, sowie durch Derugas unbezähmbares Temperament erklären. Ich nahm +an, daß er sich angemeldet oder sich durch irgendein ihnen beiden aus +früherer Zeit bekanntes Zeichen bemerkbar gemacht habe. Er brauchte ja +nur unter ihrem Fenster ihren Namen zu rufen, eine Melodie zu singen +oder zu pfeifen, um von ihr erkannt zu werden. + +Als die wackere Ursula von dem Slowaken erzählte, der um die Mittagszeit +angeläutet hatte und nachher verschwunden war, stand es bei mir fest, +daß dies Deruga gewesen sei. Ich stellte mir vor, daß er irgendwo im +Hause, vermutlich im Keller, die Zeit erwartet hatte, wo Ursula ausging, +dann von Frau Swieter eingelassen wurde und das Haus verließ, kurz bevor +Ursula zurückzuerwarten war. Auf dem Wege zum Gartentor begegnete er dem +Hausmeister, der ihn neugierig betrachtete und dadurch, oder nur durch +seine Anwesenheit, das Bewußtsein des begangenen Frevels und die Gefahr +der Entdeckung in ihm rege machte. Er wollte sich unbefangen stellen, +und es fiel ihm nichts Besseres ein, als eine Zigarette aus der Tasche +zu ziehen und zu fragen: 'Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?' Da er aber +nicht in der Stimmung war, zu rauchen, und zu aufgeregt, um folgerichtig +zu handeln, beging er eine Unvorsichtigkeit und warf die eben +angezündete Zigarette in das Gebüsch am Gartentor.« + +Die Zuhörer folgten der Erzählung mit einer Spannung, als ob sie die +angeführten Ereignisse zum ersten Male hörten. Die Aufmerksamkeit war +zwischen =Dr.= Bernburger und Deruga geteilt, der nicht daran +dachte, sein Gesicht wie sonst den Blicken zu entziehen, indem er es in +der Hand verbarg. + +»Meine Überzeugung, daß der Slowak Deruga gewesen sein müsse,« fuhr +=Dr.= Bernburger fort, »war so stark, daß ich sagen kann, ich wußte +es. Ich verfolgte nun alle seine Schritte von dem Augenblick an, wo er +am Bahnhof in Prag die Fahrkarte, wie ja festgestellt war, löste. Er +trug damals einen gewöhnlichen Anzug, vermutlich einen Gehrock, denn +wenn er im Kittel seine Wohnung verlassen hätte, wäre es aufgefallen und +gemerkt worden; den Kittel hatte er im Paket bei sich. Die Frage war +nun, wo er sich umgekleidet hatte. Geschah es im Eisenbahnzuge? Irgendwo +in den Bahnhofsräumen? Oder etwa des Nachts im Freien? Er mußte einen +solchen Ort wählen, wo er sich nicht nur umkleiden, sondern auch den +gewöhnlichen Anzug zurücklassen, später wiederfinden und gegen den +Kittel vertauschen konnte. Den Kittel hatte er entweder im Paket mit +nach Hause genommen oder, wahrscheinlicher, unterwegs weggeworfen oder +versteckt. War das letztere der Fall, so konnte er gefunden und an einen +Trödler verkauft worden sein, und trotz der schwachen Aussicht auf +Erfolg, die eine darauf gerichtete Nachforschung haben konnte, machte +ich mir die Mühe, in einer großen Reihe derartiger Geschäfte +nachzufragen. + +Ich erhielt keine irgendwie brauchbare Auskunft und hatte bereits die +Hoffnung, auf diesem Wege eine Spur zu finden, aufgegeben, als sich eine +alte Frau bei mir meldete, die zufällig in dem Laden eines Trödlers von +meinem Wunsche Kunde erhalten hatte. Diese Frau, eine Wäscherin, war am +Morgen des 3. Oktober bald nach fünf Uhr morgens durch die +Bahnhofsanlagen gegangen und hatte von der Brücke herunter, die über den +Kanal führt, etwas Dunkles im Wasser gesehen, das sie zuerst für etwas +Lebendiges hielt. Als sie es näher untersuchte, ergab sich, daß es ein +Anzug war, in der Art, wie Arbeiter ihn tragen, der sich an der Wurzel +eines Baumes festgehängt hatte, und nachdem sie ihn ausgerungen hatte, +nahm sie ihn als herrenloses Gut mit.« + +Bei diesen Worten trat =Dr.= Bernburger an den Tisch, legte das +Paket, das er unter dem Arm gehalten hatte, auf den Tisch, wickelte es +auf und breitete den Anzug auseinander, über den die Richter und der +Rechtsanwalt, von ihren Sitzen aufstehend, sich beugten. + +»Der Anzug,« fuhr =Dr.= Bernburger fort, »würde nur eben eine Spur +gewesen sein. Den Beweis, daß er dem Angeklagten gehörte, erbrachte mir +ein Brief, den ich in einer zugeknöpften Seitentasche des Kittels fand. +Er ist trotz der stellenweise verwischten Schrift vollkommen lesbar, und +ich bitte um die Erlaubnis, ihn vorlesen zu dürfen.« + +Im Laufe seines Berichtes hatte sich die Erregung des Erzählers mehr und +mehr verraten. Beim Lesen des Briefes überschlug sich seine Stimme +mehrere Male, und als er ihn zum Schlusse auf den Tisch legte, zitterte +seine Hand. + +»Donnerwetter!« + +Mit diesem Ausdruck des Erstaunens unterbrach Justizrat Fein zuerst die +eingetretene Stille. + +=Dr.= Zeunemann hatte inzwischen den Brief ergriffen, hielt ihn +dicht vor die Augen, prüfte sorgfältig die Schrift, den Poststempel und +das Papier und fragte: »Wie mag er denn befördert worden sein?« + +»Darüber wird uns wohl Fräulein Schwertfeger Auskunft geben können,« +sagte =Dr.= Bernburger. + +Nach einer neuen Pause wendete sich der Vorsitzende langsam zu Deruga +mit der Frage, ob er etwas zu der Mitteilung des =Dr.= Bernburger +zu bemerken habe. + +Deruga schüttelte stumm den Kopf, ohne aufzublicken. + +»Wir möchten gern eine Bestätigung von Ihnen hören,« begann =Dr.= +Zeunemann von neuem, »daß die Darstellung des =Dr.= Bernburger +zutreffend ist, oder eine Richtigstellung.« + +Bevor er jedoch den Satz vollendet hatte, unterbrach ihn der +Staatsanwalt, mit seinen langen Armen gestikulierend und auf Deruga +deutend. »Sehen Sie denn nicht, Herr Kollege,« sagte er, »daß der Mann +krank geworden ist? Lassen Sie ihm doch jetzt Ruhe, das muß ja den +stärksten Magen angreifen! Ein Glas Wasser! Schnell!« winkte er dem +nächsten Gerichtsdiener, ihn mit drohenden Blicken zur Eile antreibend. + +Justizrat Fein hatte inzwischen seinen Arm um Derugas Schulter gelegt +und auf ihn eingeredet. Dann wandte er sich gegen den Richtertisch und +sagte: »Mein Klient fühlt sich nicht wohl und bittet um die Erlaubnis, +sich zurückziehen zu dürfen. Er wird morgen alle wünschbaren Erklärungen +geben.« + +Die beiden verließen zusammen den Saal, und als sie draußen waren, sagte +der Justizrat: »Hören Sie, Doktor, ich komme mir zum erstenmal in meinem +Leben wie ein gemeiner Kerl vor.« + +»Da seien Sie froh,« erwiderte Deruga mit seinem gewinnenden Lächeln. +»In Ihrem Alter könnte es leicht das zehnte oder hundertste Mal sein. +Übrigens hatten Sie ganz recht, die Menschen sind dumme, schwache Tiere. +Warum hätten Sie mir glauben sollen?« + +Der Justizrat schüttelte den Kopf. »Ein alter Praktiker wie ich«, sagte +er, »müßte unterscheiden können. Aber, daß ich Sie von Anfang an gern +leiden mochte, Deruga, das haben Sie hoffentlich bemerkt.« + +»Ja, obwohl Sie mich nebenbei für einen Hundsfott hielten,« sagte +Deruga. + +Der Justizrat musterte ihn mit liebevollen Blicken. + +»Sie sehen schlecht aus. Trinken wir eine Flasche Wein zusammen!« + +Deruga entschuldigte sich mit starken Kopfschmerzen. + +»Ich weiß nicht, was mich so mitgenommen hat,« sagte er. »Ich glaube, es +war das Gefühl, wie dieser Herr mir Schritt für Schritt nachgeschlichen +ist.« + +»Eigentlich,« sagte der Justizrat, sich besinnend, »habe ich der +Kanaille unrecht getan. Er hat sich wie ein anständiger Mensch +benommen.« + +»Schade, nicht?« sagte Deruga, worauf sie sich trennten. + +Im Gerichtsgebäude standen die am Prozeß beteiligten Juristen noch +zusammen, um =Dr.= Bernburger geschart, den sie nach verschiedenen +Einzelheiten ausfragten. Der Staatsanwalt schüttelte ihm zum dritten +Male beide Hände und lobte seinen Eifer. Seine dünnen Haare waren +zerzaust, und seine hellen Augen blinkten feucht unter den +fuchsschwänzigen Augenbrauen. + +»Ich gelte für scharf,« sagte er, »und das bin ich auch und will es +bleiben. Aber diesem Italiener gegenüber mag man gern einmal Mensch +sein. Der ist durch und durch Mensch, ohne gemein zu sein, das gefällt +mir an ihm.« + +»Sie sind durch und durch Staatsanwalt, ohne gemein zu sein,« sagte +=Dr.= Zeunemann. »Das ist vielleicht noch schwerer.« + +»Was ist seltener, Schönheit im Kostüm oder Schönheit bei nacktem +Leibe?« sagte der Staatsanwalt gedankenvoll. »Nun, ich will jedenfalls +das Kostüm nicht ganz abreißen, sondern juristisch-menschlich sein, +indem ich alle die von =Dr.= Bernburger beigebrachten Tatsachen +ignoriere und, als wäre nichts geschehen, die Anklage auf Totschlag +aufrechterhalte.« + +»Vorzüglich, vorzüglich,« sagte =Dr.= Bernburger. »Sonst hätte ich +ihm am Ende einen schlechten Dienst geleistet.« + +»Auf die Art ginge Feins Plan durch,« sagte =Dr.= Zeunemann. +»Etwas willkürlich finde ich es aber bei der Lage der Dinge.« + +»Wieso, mein Bester?« rief der Staatsanwalt lebhaft aus. »Wie ist denn +die Lage der Dinge eigentlich? Allerdings, wir wissen jetzt, daß die +gute Frau Swieter ihre Leiden durch den Tod abzukürzen wünschte, daß sie +ihren geschiedenen Mann bat, ihr diesen Dienst zu leisten, und daß +Deruga sie daraufhin tötete. Aber wissen wir denn, ob er es wirklich aus +Mitleid getan hat? Ob er nicht eigennützige Nebenabsichten hatte? Wissen +wir, ob er ihren Tod nicht längst herbeiwünschte? Ob er nicht über den +Brief frohlockte, der ihm die gewünschte Handhabe bot? Dergleichen wäre +nicht zum ersten Male vorgekommen. Vergegenwärtigen Sie sich nur die +Geschwindigkeit, mit der er den heiklen Auftrag übernahm! Das Gift hatte +er augenscheinlich schon bereit.« + +»Hören Sie auf,« unterbrach =Dr.= Zeunemann lachend. »Wenn das so +weiter geht, erheben Sie die Anklage auf Mord.« + +»Juristisch wäre es vielleicht richtiger,« meinte der Staatsanwalt +nachdenklich, »aber ich habe mir vorgenommen, menschlich zu urteilen, +und außerdem liefe ich, glaub' ich, Gefahr, von den Mänaden zerrissen zu +werden, wenn ich ihren Liebling angreife.« + +»Im anderen Falle werden sie Sie aus Dankbarkeit zerreißen,« sagte +=Dr.= Zeunemann. »Ein Opfer der Frauen zu sein, ist nun einmal Ihr +Los!« + + + + +=XVII.= + + +Nachmittags ließ sich die Baronin bei Deruga melden. Er erhob sich aus +dem unbequemen Sofa, auf dem er gelegen und geschlafen hatte, und +blinzelte verdrossen gegen das Licht. »Lieber Doktor,« sagte sie, indem +sie ihm die Hand entgegenstreckte, »ich komme, mir Ihre Verzeihung zu +holen. Dem reuigen Sünder vergibt selbst Gott. Sie werden nicht +unerbittlicher sein.« + +»Ich maße mir nicht an, mit Gott vergleichbar zu sein,« sagte Deruga, +»aber es kommt nichts darauf an, da ich Ihnen nichts zu verzeihen habe. +Sie verfolgten ja nicht mich, sondern traten für das vermeintliche Recht +ein.« + +»Sie weichen einer Versöhnung aus,« sagte die Baronin. »Ich verstehe Sie +wohl; aber ich lasse mich nicht so leicht abweisen. Von einem Manne, der +so lieben kann wie Sie, erträgt man wohl auch Haß und noch Schlimmeres. +Welche Frau gäbe nicht alles hin, was sie hat, um einmal so geliebt zu +werden, wie Sie geliebt haben!« + +»Wahrhaftig!« rief Deruga, »von Ihnen will das, glaub' ich, etwas +sagen.« + +»Das klingt boshaft,« sagte die Baronin, »und doch kränkt es mich nicht, +weil ich fühle, daß Sie es nicht böse meinen. Es ist wahr, ich wüßte +nicht, wie ich ohne Geld und sogar ohne ziemlich viel Geld sollte leben +können. Mein Gott, jeder hat seine Gewohnheiten. Aber habsüchtig bin ich +nicht, am Gelde an und für sich liegt mir nichts. Und wissen Sie, warum +ich so außer mir war, daß die Erbschaft mir entging? Ich war sehr +erpicht auf das Geld gewesen, das leugne ich nicht, und Ihnen, nur Ihnen +will ich sagen, warum. Ich habe mich in meiner Ehe unbeschreiblich +gelangweilt.« + +»Ja, die Langeweile ist das größte Problem und die größte Gefahr des +Lebens,« sagte Deruga. »Aber Ihr Mann scheint eine liebe, feine Person +zu sein.« + +»Natürlich,« stimmte die Baronin zu, »man kann sich nichts Angenehmeres +denken. Er ist wie reine Luft, man spürt ihn gar nicht, und ich bildete +mir auch fast ein, ihn ein wenig zu lieben, als ich ihn heiratete. Aber +ich habe mich in seiner Gesellschaft so gelangweilt, daß ich ihm +wahrscheinlich untreu geworden wäre, wenn sich das mit meinen +Grundsätzen vertragen hätte. Da es sich aber um den einzigen Grundsatz +handelt, zu dem ich mich bekenne, habe ich daran festgehalten.« + +»Sie hatten doch eine Tochter,« wandte Deruga ein. + +»Sie fand es vermutlich bei uns ebenso langweilig wie ich,« sagte die +Baronin, »denn seit sie herangewachsen war und mir eine Gesellschafterin +hätte sein können, ergriff sie jede Gelegenheit, um von Hause fort zu +sein. Inzwischen verkürzte ich mir die Zeit mit einem Zukunftsplane: +dem, mich von meinem Manne freizumachen, sobald meine Tochter versorgt, +das heißt, verheiratet wäre.« + +In Derugas Mienen malte sich aufrichtiges Erstaunen. + +»Sie denken wirklich daran, sich jetzt noch scheiden zu lassen?« sagte +er. + +Ein reizendes Lächeln, das sie jung machte, glitt über das Gesicht der +Baronin. + +»In meinem Alter, wollen Sie sagen? Solange ich den Wunsch habe, bin ich +offenbar jung genug dazu,« entgegnete sie. + +»Und dann wollen Sie einen amüsanteren Mann heiraten?« fragte Deruga. + +»O, heiraten!« wiederholte sie. »Darauf kommt es mir nicht an, auch +nicht auf förmliche Scheidung, nur darauf, frei zu sein und die +Atmosphäre der Langenweile zu verlassen.« + +Deruga zuckte die Schultern. »Im Grunde herrscht auf der ganzen Erde +dasselbe Klima,« sagte er. + +»Nein, nein,« rief sie lebhaft, »ich kann mir zum Beispiel nicht denken, +wie man sich in Ihrer Gesellschaft je langweilen sollte!« Sie hatte so +eine freie Art, die Dinge naiv wie ein Kind herauszusagen, daß selbst +Deruga, der sich für einen Kenner der Frauen hielt, nicht unterscheiden +konnte, ob die Blüte echt oder künstlich war. + +»Das hat auch seine Kehrseite,« antwortete er gutmütig. »Erinnern Sie +sich nicht an den Vers, den mir die arme Marmotte in ein Buch schrieb: + + 'Deruga, du bist eben + So schön als wunderlich; + Man kann nicht ohne dich + Und auch nicht mit dir leben.'« + +Die Baronin errötete ein wenig, vermochte aber noch mit leidlicher +Unbefangenheit zu sagen: »Nun ja, das tägliche Sich-an-einander-Reiben, +das die Ehe mit sich bringt, das würde ich freilich wohl nicht wieder +auf mich nehmen, und ich halte es auch für verderblich und gemein. Aber +nun,« setzte sie hinzu, indem sie aufstand, »geben Sie mir zum Abschied +einen Versöhnungshändedruck!« + +»Gern, Baronin,« sagte er, indem er ihr die Hand reichte. »Ihre Strafe +haben Sie ja ohnehin, indem das Geld Ihnen entgangen ist.« + +»Ja, das Geld,« sagte sie wehmütig, »das mir den Käfig öffnen sollte. +Wir waren vorhin davon abgekommen: Einzig der Umstand, daß ich kein +eigenes Vermögen habe und nicht wußte, wovon ich leben sollte, wenn ich +meinen Mann verließe, stand vor der Erfüllung meines Wunsches. Das Erbe +meiner armen, kranken Kusine sollte mir das neue Leben geben! Nun aber +genug von mir! Erlauben Sie mir, Ihnen dies Zimmer, für die Zeit, wo Sie +es noch bewohnen werden, ein wenig zu erheitern? Mit Blumen?« + +»Wenn es Ihnen Freude macht,« sagte er. + +Während sie zögernd auf der Schwelle stand, ruhten ihre Augen auf seiner +wohlgeformten braunen Hand, die sie immer noch hielt, und dann ging sie +mit einem Lächeln. + +Ihr war zumute, wie sie die etwas abgelegene, düstere Straße entlang +ging, als habe sie sich noch nie, in ihrem ganzen Leben nie, in einer +solchen das ganze Leben durchglühenden Aufregung befunden. Es war eine +prickelnde, zugleich ängstigende und wohltuende Empfindung, in der sich, +so schien es ihr, alle ihre Kräfte steigerten und veredelten. Freilich, +noch ein wenig mehr, so könnte es unbehaglich werden, ja, schon jetzt +lief ein leises Angstgefühl mit unter, das jedoch die Wonne des +allgemeinen Aufruhrs noch übertönte. + +Die Baronin beschloß, einen Spaziergang zu machen. Es war noch nicht +spät, die Lichter auf den Straßen und in den Schaufenstern wurden +allmählich entzündet und loderten wie feuergelbe Tupfen in das +Durcheinander der dämmerblassen Farben. Langsam und lächelnd ging sie +ziellos weiter. Wie reizend war es, sich so jung zu fühlen und wie ein +verliebtes Mädchen verbotene Wege zu gehen! Ja, es war fast, als ginge +sie zu einem Stelldichein. Als sie an einem Blumengeschäft vorbeikam, +das das Aussehen eines pompösen Urwaldes hatte, fiel es ihr ein, etwas +für Derugas Zimmer auszusuchen. Sie wählte lange und fragte kaum nach +den Preisen, die sie sonst, besonders wenn es sich um Geschenke +handelte, durchaus nicht unberücksichtigt ließ. Zufällig erblickte sie +in einem Spiegel ihre Gestalt: schlank, tadellos, voll natürlicher +Eleganz. Ein frohes Gefühl von Glück und Stolz durchzuckte sie. War sie +auch keine frische, im Morgentau glitzernde Blume, so ersetzte den +fehlenden Schmelz und das Farbenprangen die sichtbar gewordene Form und +ein Parfüm, das erst die Dämmerung entwickelt. Sie fühlte, daß sie noch +anziehen, noch bezaubern konnte; und hätte sie selbst nicht lieben +können sollen? Sie hatte ja noch nie geliebt. + +Sie kämpfte mit sich, ob sie am folgenden Morgen zur Sitzung gehen +sollte, denn es war ihr, als könne es Deruga mißfallen, und als liege +überhaupt etwas Geschmackloses und Gefühlswidriges darin, wenn sie sich +jetzt auf dem Platze zeigte, den sie früher aus Neugier und dem +ungeduldigen Wunsche eingenommen hatte, ihre Sache triumphieren zu +sehen. Doch war es ihr unmöglich, dem Drange zu widerstehen, der sie in +Derugas Nähe trieb, sei es auch nur, um sich Gewißheit über sein +Befinden zu verschaffen. + +»Hat man unrecht gehabt,« sagte sie beim Frühstück zu ihrem Mann und +ihrer Tochter, »so muß man es dadurch wieder gutmachen, daß man es +eingesteht. Ich möchte nicht nach Paris reisen, ehe ich weiß, was aus +Deruga wird, und was wir etwa für ihn tun können.« + +Der Baron war derselben Meinung, und Mingo errötete vor Freude. + +»Liebe Mama,« sagte sie, »ich bin froh, daß du doch ein guter Mensch +bist.« + +»Aber Mingo,« sagte die Baronin verweisend, indem sie sich doch nicht +enthalten konnte, zu lachen. + +»Darf ich mitgehen, Mama?« bat sie, die aufgesprungen war und ihre +Mutter umarmt hatte. »Du weißt, wie ich darunter gelitten habe, nun +möchte ich auch dabei sein, nachdem es sich so schön gewendet hat. Er +wird doch sicher freigesprochen?« + +»Daran ist wohl nicht zu zweifeln,« sagte der Baron, indes die Baronin +sich von Mingos Umarmung freimachte und ein peinliches Gefühl von +Eifersucht, das plötzlich in ihr aufstieg, zu unterdrücken suchte. Ihr +Blick glitt schnell prüfend über Mingo hin, deren Dasein sie plötzlich +als Einengung und Hemmung empfand. Aber sie wollte ja studieren, sagte +sie sich, und das war ja ein gutes, richtiges Gefühl von ihr, daß sie +noch an sich arbeiten und sich entwickeln wollte. Die Berührung der +frischen Lippen war doch unsäglich lieblich. Die Baronin legte ihre Hand +liebkosend unter das noch kinderrunde Gesicht ihrer Tochter und sagte: + +»Ich werde Deruga gelegentlich erzählen, daß du von Anfang an sein +tapferer, kleiner Ritter gewesen bist.« + +Mingo leuchtete vor Stolz. »Und ich stecke mein Schwert nicht ein, bis +er frei ist,« sagte sie. + + + + +=XVIII.= + + +Die Ungeduld des auf die Aussage Derugas gespannten Publikums wurde +nicht sofort befriedigt, da als erste Zeugin Fräulein Gundel +Schwertfeger vernommen wurde. Der Vorsitzende legte ihr den Brief der +verstorbenen Frau Swieter an Deruga vor und fragte sie, ob er ihr +bekannt sei. + +»Ja,« sagte Fräulein Schwertfeger, kaum einen flüchtigen Blick darauf +werfend, »es ist derselbe, den ich einige Tage vor Mingos Tode zur Post +gegeben habe.« + +=Dr.= Zeunemann räusperte sich ein wenig und sah vor sich auf den +Tisch. »Sie haben uns das im Beginn des Prozesses verschwiegen,« sagte +er. + +»Nein, ich habe gelogen,« sagte Fräulein Schwertfeger mit trotziger +Tapferkeit, während ihre großen, grauen Augen sich verdunkelten. »Es war +das erstemal in meinem Leben, und ich mußte es tun, weil ich sonst +meiner verstorbenen Freundin das Wort gebrochen hätte. Dazu konnte ich +mich nicht entschließen, gerade weil sie tot ist.« + +»Wollen Sie uns jetzt vielleicht,« sagte =Dr.= Zeunemann sanft, +»kurz erzählen, was sich wegen des Briefes zwischen Ihnen begab?« + +»Meine Freundin fragte mich, ob ich ihr etwas zuliebe tun wolle. Ich +sagte, ich würde alles tun, was in meinen Kräften stände, die leider +gering wären. Sie küßte mich und sagte, es wäre nicht viel an sich, aber +für mich bedeutete es vielleicht viel: ich sollte nämlich einen Brief an +Deruga besorgen, ohne daß es jetzt oder später jemand erführe. Ich +versprach zu tun, was sie wünschte, und fragte, ob sie mir sagen könnte, +was sie ihm schriebe, und warum es niemand erfahren dürfte. Sie sagte, +sie habe das Bedürfnis, ihm für den Fall, daß sie nicht lange mehr leben +sollte, Lebewohl zu sagen, und daß sie das heimlich halten wolle, +entspringe nur der vielleicht törichten Furcht, man würde sie nicht +verstehen und lächerlich finden.« + +»Haben Sie sich damals,« fragte der Vorsitzende, »gar keine Gedanken +gemacht, ob es sich wirklich so verhalte?« + +»Damals dachte ich,« sagte Fräulein Schwertfeger, »sie habe ihm +vielleicht geschrieben, sie wünsche ihn noch einmal zu sehen, bevor sie +stürbe, und habe sich gescheut, mir das zu sagen. Als dann die Anklage +gegen Deruga erhoben wurde, sah ich ein, wie gefährlich der Brief für +ihn werden könne, sei es, daß sie ihn gebeten hatte zu kommen, oder daß +sie ihn von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt hatte; und +ich nahm mir vor, lieber zu lügen, als ihn ins Unglück zu bringen, da +ich wußte, welchen Schmerz das meiner Freundin bereitet hätte.« + +»Steht vielleicht damit im Zusammenhang,« sagte =Dr.= Zeunemann, +»daß Sie das Vermächtnis Ihrer Freundin ausschlugen und später sogar die +Ihnen vermachten Wertsachen verschenkten?« + +Fräulein Schwertfeger wurde dunkelrot. + +»Es schien mir allerdings nun so auszusehen,« sagte sie, »als wolle +meine Freundin mich für mein Stillschweigen belohnen. Später vollends, +als der Verdacht gegen Deruga aufkam, den ich teilte, wäre ich mir +selbst vorgekommen wie eine Bestochene und wie eine Helfershelferin bei +der abscheulichen Tat, wenn ich das Geringste von den Kostbarkeiten +meiner Freundin behalten hätte.« + +»Es ist Ihnen also niemals,« fragte der Vorsitzende, »die Möglichkeit +des Zusammenhangs aufgetaucht, so wie sie sich jetzt dargestellt hat? +Ihre Freundin hat Ihnen doch selbst einmal gesagt, wie Sie gelegentlich +erwähnten, daß sie demjenigen dankbar sein würde, der ihrem Leiden ein +Ende bereitete, indem er sie tötete?« + +»Ich hielt das nur für eine augenblickliche Regung,« sagte Fräulein +Schwertfeger. »Jetzt erst habe ich eingesehen, wie sehr sich meine +Freundin im allgemeinen beherrschte, wenn ich bei ihr war. Dazu kommt, +daß ich Deruga nichts Gutes, aber wohl Schlechtes zutraute. Ich habe ihm +sehr unrecht getan.« + +»Aber das bedachten Sie nie,« sagte =Dr.= Zeunemann mit mildem +Vorwurf, »daß der Gerechtigkeit dadurch Abbruch geschähe, wenn Deruga +seine geschiedene Frau gemordet hätte und unbestraft bliebe?« + +»Ich dachte,« sagte Fräulein Schwertfeger trotzig, »ich wollte tun, was +mein Gewissen mich hieße, und das übrige Gott überlassen.« + +»Als Mensch,« sagte =Dr.= Zeunemann nach einer Pause, »kann ich +Ihre Handlungsweise nicht tadeln, obwohl sie nicht als Muster für andere +Fälle gelten dürfte.« + +Nachdem Fräulein Schwertfeger entlassen war, kam Derugas Vernehmung. Um +von den Geschworenen besser verstanden zu werden, wurde er aufgefordert, +die Anklagebank zu verlassen und sich auf den für die Zeugen bestimmten +Platz zu begeben. + +Er sah blaß, gleichgültig, verdrossen und verschlossen aus, fast als +habe er es auf eine abstoßende Wirkung abgesehen und empfinde Genugtuung +darüber. + +»Sie haben zugestanden,« begann der Vorsitzende ernst, »Ihre geschiedene +Gattin getötet zu haben, was Sie bis jetzt leugneten. Sie reisten zu +diesem Zwecke und mit dahinzielender Absicht von Prag ab?« + +»Ich weiß nicht,« sagte Deruga unmutig, »warum Sie mich noch einmal mit +Fragen behelligen. Sie wissen, daß meine Frau sich sehnte, von +unerträglichen Leiden befreit zu werden, und daß sie sich an mich +wendete, weil sie das Zutrauen zu mir hatte. Ich fühlte menschlich +genug, um ihre Bitte zu erhören. Die Ärzte im allgemeinen haben den Mut +zu einer so vernünftigen Tat nicht. Ich reiste sofort hin und tat es. +Das sollte genügen.« + +»Es kommt uns nicht nur darauf an, die Tat zu wissen,« sagte =Dr.= +Zeunemann, »sondern auch die Absichten kennenzulernen, die den Täter +leiteten.« + +»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Deruga heftig auf. »Was für Absichten +könnte ich gehabt haben, außer der armen Person zu helfen? Daß ich von +der Erbschaft nichts wußte, geht aus ihrem Briefe hervor.« + +»Aus dem Brief geht allerdings hervor,« sagte der Vorsitzende mit +gelassener Würde, »daß Sie mit Ihrer geschiedenen Frau seit Ihrer +Scheidung in keiner Verbindung standen, daß Sie also damals von der +Erbschaft nichts wußten.« + +»Damals!« rief Deruga. »Wollen Sie damit sagen, daß ich hingereist wäre, +um meiner Frau anzubieten, ich wolle ihr den Gefallen tun, wenn sie mir +soundso viel Geld dafür gäbe? Und um den Preis ihres Vermögens hätte ich +mich kaufen lassen? Ich weiß nicht, nach was für einem Maßstab Sie die +Menschen beurteilen. Ekelhafte Welt, wo Menschen richten, die nur +gemeine Triebe zu kennen scheinen!« + +»Ich muß Sie bitten,« sagte der Vorsitzende, »Ihre Ausdrücke zu mäßigen. +Die gefallenen Worte lasse ich deshalb hingehen, weil ich eine +krankhafte Erregung bei Ihnen voraussetze. Nachdem ich Sie aber gewarnt +habe, würde ich mich im Wiederholungsfalle zu ernsten Maßregeln +gezwungen sehen.« + +Inzwischen war Justizrat Fein aufgestanden und bat, ein paar Worte mit +seinem Klienten reden zu dürfen. + +»Aber, liebster Doktor,« sagte er halblaut, indem er ihn am Rock faßte, +»was für Geschichten machen Sie? Es hängt jetzt alles davon ab, daß Sie +einen guten Eindruck machen. Nachher ist alles vorüber. Nehmen Sie sich +doch zusammen, tun Sie es mir zuliebe! Bilden Sie sich ein, Sie +erzählten die ganze Begebenheit mir! Der arme Teufel tut am Ende nur +seine Pflicht, wenn er alle Möglichkeiten ins Auge faßt. Sie könnten ja +auch ein Schweinehund sein, wie es viele gibt.« + +»Ich weiß nicht, warum sich mein Blut empört,« entgegnete Deruga, »wenn +ich diesen Areopag von Stallhammeln sehe, die über hungrige Wölfe zu +Gericht sitzen. Wäre ich doch ein Raubmörder oder Brandstifter! Hier +schäme ich mich, ein anständiger Mensch zu sein.« + +»Das sind Sie ja gar nicht,« sagte der Justizrat beruhigend, »das heißt, +nicht in dem Sinne, wie Sie es eben meinten. Und haben Sie denn gar kein +Gefühl für das wackere alte Jüngferchen auf der Zeugenbank? Erzählen Sie +der die Geschichte! Denken Sie, wie froh sie sein wird, wenn sie Sie +für keinen Bösewicht mehr zu halten braucht.« + +»Dumme, eigensinnige Gans,« brummte Deruga, aber sein Blick war +freundlicher geworden, und er erklärte sich bereit, die Fragen, die man +an ihn richten würde, zu beantworten. + +»Als Sie den Brief Ihrer geschiedenen Frau erhielten,« begann =Dr.= +Zeunemann von neuem, »faßten Sie da sofort den Beschluß, ihren Wunsch zu +erfüllen?« + +»Als ich ihre Handschrift sah,« sagte Deruga in ruhig erzählendem Tone, +»die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und die ganz unverändert +war, so daß ich sie sofort erkannte, da erfaßte mich sofort das Gefühl +von Unruhe, Wut und Haß, das mich immer überkommen hatte, wenn ich +zufällig einmal an sie erinnert wurde, was aber in den letzten Jahren +nur sehr selten geschehen war. Was kann sie von mir wollen? dachte ich. +Will sie mir sagen, es tue ihr leid, daß sie mein Leben zerstört habe? +Bildet sie sich ein, es bestehe noch irgendein Band zwischen uns? Bildet +sie sich ein, ich könne je vergessen, was ich durch sie gelitten habe? +So ungefähr. Als ich den Brief gelesen hatte, war das alles +verschwunden, und ich empfand nur Mitleid und Liebe. Ich empfand, was +ich noch nie zuvor empfunden hatte: reine, große, ungetrübte Liebe für +das leidende Geschöpf, das ich soviel gequält hatte, eine Liebe, die nur +in dem Wunsche bestand, sie zu trösten und ihr zu helfen. Ich erinnerte +mich an ihre Angst vor Schmerzen, und wie oft sie mich gefragt hatte, ob +ich sie lieb genug haben würde, sie zu töten, wenn sie einmal von einer +sehr schmerzhaften Krankheit befallen werden sollte, wie dankbar sie mir +war, wenn ich es versprach, und wie dann ihre Sicherheit und +Überlegenheit verschwand und sie wie ein Kind sich an mich schmiegte. Es +war alles ausgelöscht, was mich einst an Eifersucht, Empfindlichkeit und +Rachsucht gegen sie verbittert hatte, vor dem einen Gefühl, daß sie mich +nicht vergeblich angerufen haben sollte, und daß ich sie von ihren +Leiden befreien wollte, wenn ich sie nicht etwa heilen könnte.« + +Die Pause, die Deruga machte, benützte der Staatsanwalt, um durch +weitausholende Gestikulationen und im Flüsterton gezischte Anweisungen +einen Diener zu beauftragen, daß er dem Angeklagten, der angegriffen zu +sein scheine, einen Sessel brächte. + +Nachdem er sich bedankt hatte, fuhr Deruga fort: + +»Meine Regung war, sofort abzureisen, aber ich überlegte mir, was für +höchst bedenkliche Folgen die Tat für mich haben könnte, und ich +beschloß, dieselben, wenn möglich, abzuwenden. Die Art und Weise +betreffend, wie ich Mingo töten wollte, beschloß ich, es durch Curare zu +tun, wovon ich zufällig eine genügende Dosis besaß. Chloroform, das in +gewisser Beziehung vorzuziehen gewesen wäre, schloß ich deshalb aus, +weil der Geruch es sofort verraten hätte. Allerdings hätte man gerade +dabei am ersten auf Selbstmord geschlossen, außer wenn sich feststellen +ließ, daß kein Chloroform im Hause gewesen war; sicherer erschien es +mir, auf alle Fälle ein Gift zu wählen, das im Augenblick keine Spur +hinterließ, damit der Verdacht eines gewaltsamen Endes überhaupt nicht +aufkam. + +Da meine Frau nicht geschrieben hatte, wie ich zu ihr gelangen könnte, +dachte ich, zuerst deswegen bei ihr anzufragen, unterließ es jedoch, +weil ich mir sagte, der Brief würde vielleicht einer Dienerin oder +Pflegerin in die Hände fallen, die voraussichtlich nicht in das +Geheimnis gezogen werden durfte. Nachdem ich vielerlei geplant und +verworfen hatte, entschloß ich mich, als Vagabund oder Hausierer +verkleidet in ihrer Wohnung vorzusprechen und die Gelegenheit +auszukundschaften; ich traute mir zu, daß ich auf diese Art irgendeinen +Weg ausfindig machen würde, und rechnete auf die glücklichen Einfälle, +die dem Unternehmenden gewöhnlich zu Hilfe kommen. Darauf brachte mich +auch der Umstand, daß ich vor Jahren einmal auf einem Maskenballe als +Mausefallenverkäufer aufgetreten und nicht nur von niemandem erkannt, +sondern von verschiedenen sogar für einen echten, zum Spaß +eingeschmuggelten Slowaken gehalten worden war. Ich wickelte den Anzug, +den ich aufgehoben hatte, in ein Papier ein und nahm ihn als einziges +Gepäck mit, um mich entweder in der Eisenbahn oder im Bahnhof +umzukleiden. + +Unterwegs überlegte ich mir, daß der Kleiderwechsel im Zuge bemerkt +werden und Verdacht erregen könnte, wodurch ich vielleicht aufgehalten +würde, und im Bahnhof fand ich keine Gelegenheit. Da es noch sehr früh, +etwa halb sechs Uhr war, nahm ich an, daß ich in den Bahnhofsanlagen +vollkommen unbeobachtet sein würde. In der Tat war es rings öde und +still, und als ich die halbrunde, steinerne Bank sah, die uns Herr +=Dr.= Bernburger beschrieben hat, schien mir das der geeignete Ort +zu sein, wo ich mich umkleiden und meinen bürgerlichen Anzug, den ich ja +zur Heimreise brauchte, verbergen könnte. Nachdem ich den +Vagabundenkittel angezogen hatte, wickelte ich den anderen Anzug ein und +verbarg ihn unter der Bank. Zum Überfluß häufte ich noch welkes Laub +darüber, das überall verstreut war. + +Zunächst ging ich in ein kleines Café in der äußeren Stadt und +frühstückte, weniger um mich zu erfrischen, als um den Eindruck zu +prüfen, den ich machte, und ich stellte fest, daß ich durchaus für das +genommen wurde, was ich vorstellen wollte. Bis zum Mittag trieb ich mich +herum, dann begab ich mich in die Gartenstraße. Ich war durchaus nicht +aufgeregt, außer daß ich mich sehnte, die Marmotte wiederzusehen. An den +Zweck, der mich hergeführt hatte, dachte ich kaum noch, nur daran, +wieviel wir uns zu erzählen haben würden. + +Als Ursula mir die Tür öffnete, wurde es mir schwer, mich nicht zu +verraten, denn ich freute mich, sie wiederzusehen; ich hätte sie gern +begrüßt und gefragt, ob sie mich denn nicht erkennte. Als Mingo läutete +und Ursula im Weglaufen die Tür zuschlug, steckte ich rasch einen der +hölzernen Löffel, die ich als Verkaufsgegenstände bei mir hatte, +dazwischen. Es war eine Eingebung des Augenblicks, der ich vielleicht +nicht gefolgt wäre, wenn ich Zeit zur Überlegung gehabt hätte, denn das +Wagnis konnte leicht mißglücken. Immerhin traute ich mir zu, mich mit +Ursula, wenn sie mir auf die Spur käme, auf irgendeine Weise zu +verständigen. Ich stellte den Teller Suppe, den Ursula mir gebracht +hatte, auf die Treppe und ging aufs Geratewohl in die nächste Zimmertür; +sie führte in das Fremdenzimmer, das unbenutzt war. Von dort aus hörte +ich, wie Ursula wiederkam, die Wohnungstür öffnete und brummte, als sie +draußen den vollen Teller fand. Nachdem sie in der Küche verschwunden +war, ging ich vorsichtig weiter und erblickte durch die offenstehende +Tür des Nebenzimmers Mingos Bett. Ich sagte leise: 'Marmotte, da ist +Dodo!' und sie antwortete ebenso: 'Dodo! Warte, bis Ursula fort ist.' + +Während ich allein in dem Fremdenzimmer saß und wartete, habe ich die +Seligkeit des Himmels genossen. Mehrere Stunden lang fühlte ich die mit +nichts auf Erden vergleichbare Wonne, die vielleicht gemarterte Heilige +empfunden haben, wenn der Schmerz aufhörte und Engel mit der Krone des +ewigen Lebens sich aus den Wolken auf sie niederließen. Mein Herz war +ganz und gar voll von der göttlichen Liebe, die nichts will als das +Glück des Geliebten. Ich hatte sie nun wiedergesehen, die Frau, deren +bloßer Name früher einen Ausbruch von Leidenschaften, Liebe, Haß, +Rachsucht in mir entfesselt hatte. Was ist noch an uns von dem Kinde, +das wir vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren einmal waren? Unser ganzer +Körper hat sich seitdem erneuert, wir haben vielleicht keinen Gedanken +und keine Empfindung mehr von denen, die wir damals hatten, und doch, +daß wir es sind, ist das Sicherste, was wir wissen. Ach, von der +Marmotte, die ich einmal mein genannt hatte, war nichts mehr da, und +doch hatte ich in dem einzigen Augenblick in ihrem von den Jahren und +der Krankheit zerstörten Gesicht dasselbe Gesicht gesehen, das ihr als +Kind schon eigen gewesen sein mochte: aus Unschuld, Liebe und Güte +zusammengezaubert. Es war nur als eine geistige Erscheinung da, und ich +weiß nicht, mit was für Augen ich es gesehen habe. Das Körperliche war +das einer alternden, todkranken Frau, einer Pflanze ähnlich, die, vom +Nachtfrost überrascht, mumienhaft im Sonnenschein steht. Es war nichts +mehr an meiner armen Marmotte, was die Leidenschaft irgendeines Mannes +hätte erregen können, aber sie war mir so teuer, so kostbar und heilig, +daß ich nicht gezögert hätte, mein Leben hinzugeben, wenn ich ihr Glück +damit hätte erkaufen können. Armes, ohnmächtiges Geschöpf, dachte ich, +du sollst nicht mehr leiden! Was es mich auch kosten mag, wie hart die +Folgen für mich sein mögen, ich will dir Frieden bringen. Und wenn alle +deine Qualen auf mich übergingen, so wollte ich sie annehmen und mich +freuen, daß du statt dessen ruhen könntest. + +Vorher hatte ich gedacht, ich müsse mir erst Gewißheit über den +Charakter und Grad ihrer Krankheit verschaffen, aber ihr Anblick zeigte +mir überflüssig, wie fortgeschritten sie war. Sowie ich Ursula die Tür +hinter sich schließen und die Treppe hinuntergehen hörte, erhob ich +mich, und gleichzeitig rief mich auch die Marmotte. Ich setzte mich auf +den Rand ihres Bettes und sagte, wie ich mich gefreut hätte, daß Ursula +noch bei ihr wäre, und wie ich kaum hätte unterlassen können, sie +auszulachen, weil sie mich nicht erkannt hätte. 'Ich hätte dich gleich +erkannt,' sagte sie, und dann schwatzten wir von der Vergangenheit und +tauschten kleine Erinnerungen aus. Auch von ihrer Krankheit, ihren +Operationen, und wie sie behandelt wurde, erzählte sie mir auf mein +Befragen. Ihre Stimme war unverändert, nur fast süßer als früher. Sie +klang so, wie man wohl des Abends im Gebirge ein entferntes Alphorn +hört, in dem die rosigen, grünen und grauen Farben des dämmernden +Horizontes mitzutönen scheinen. Während wir sprachen, hielt sie eine +meiner Hände fest zwischen den ihren, und einmal küßte sie sie und +sagte: 'Du liebe, gute, schöne Hand, ich habe oft an dich gedacht, und +daß du mich erlösen würdest!' + +Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da sah ich in ihrem Gesicht, +daß ein Anfall von Schmerzen im Anzuge war, Und ich dachte, nun sei der +Augenblick gekommen. Ich hätte etwas mitgebracht, um ihr die Schmerzen +zu vertreiben, sagte ich, und wolle es jetzt in der Küche +zurechtmachen, damit wir ungestört weiterplaudern könnten. 'Wird es weh +tun?' fragte sie, indem sie mich ängstlich ansah, und ihre Mundwinkel +zitterten. Arme, kleine, furchtsame Marmotte! Trotzdem sie den Tod +herbeiwünschte, fürchtete sie sich vor ihm. Ich lachte und sagte: 'Was +denkst du, so schnell geht es nicht. Erst will ich dich ein wenig +beobachten, denn vielleicht kannst du durch verständige Behandlung noch +einmal gesund gemacht werden.' Mit den Worten ging ich in die Küche, +suchte mir ein Glas und mischte das Gift so mit Limonade und Zucker, daß +man seine Bitterkeit nicht schmeckte. Als ich zurückkam, hatte sie +starke Schmerzen, und während ich sie aufrichtete, um sie trinken zu +lassen, erzählte sie mir, daß sie in der letzten Nacht von unserm Mingo +geträumt hatte. 'Wie sehne ich mich danach, sie wiederzusehen,' sagte +sie, 'und später, wenn du auch kommst, stehen wir Hand in Hand und +warten auf dich.' Ich nickte, stützte sie mit meinem Arm und setzte das +Glas an die Lippen. Sie sah mich dankbar an und trank begierig. + +Ich wartete, bis sie gestorben war, dann legte ich sie nieder, küßte +sie auf die Stirn und sagte: 'Adieu, liebe, süße Marmotte.' Dann stellte +ich in den beiden Zimmern alles so, wie es vorher gewesen war, ging in +die Küche, reinigte das Glas, vertilgte überhaupt jede Spur meiner +Anwesenheit und ging fort. Im Hause begegnete mir niemand, aber auf dem +gepflasterten Wege, der zum Gartentor führte, sah ich den Hausmeister +stehen. Bis dahin war ich vollkommen ruhig gewesen oder hatte geglaubt, +es zu sein. Aber als ich den Hausmeister sah, kam es mir vor, als müsse +ich ihm auffallen und müsse irgend etwas tun, um unbefangen zu +erscheinen. Unwillkürlich faßte ich in die Tasche und zog eine Zigarette +heraus, stellte mich vor ihn hin und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer +Gnaden?' Als ich einen Zug getan hatte, ekelte es mich, und ich warf die +Zigarette ins Gebüsch, ohne in dem Augenblick daran zu denken, daß das +auffallen könnte. + +Der nächste Zug nach Prag ging in der Frühe, und es war erst halb sechs +Uhr nachmittags. Ich schlenderte wieder in die äußeren Stadtteile und +setzte mich dort in ein Café. Als es Nacht wurde, begab ich mich in die +Bahnhofsanlagen. Es schien mir noch zu früh zu sein, um mich +umzukleiden. Da ich jedoch nicht mehr gehen mochte, setzte ich mich auf +die steinerne Bank, unter der ich meinen Anzug verborgen hatte, um die +Dunkelheit zu erwarten. Die himmlischen Gefühle, die mich bei Marmotte +gehoben hatten, waren verschwunden, ich war schrecklich ernüchtert, und +mich fror. Ich hatte den ganzen Tag nichts zu mir genommen als etwas +schwarzen Kaffee, und ich war so schwach und abgespannt, daß ich kaum +wußte, wozu ich eigentlich dasaß. Ich kam mir abgeschmackt und +lächerlich vor. + +Gegen Mitternacht erhob sich ein starker Wind, der mich bis in die +Knochen schaudern machte und die trübe Erstarrung, in die ich versunken +war, durchbrach. Da weit und breit Totenstille herrschte, stand ich auf, +zog das Paket unter den welken Blättern hervor, mit denen ich es bedeckt +hatte, und kleidete mich um. Den Arbeitskittel wollte ich nicht +mitnehmen und dachte erst daran, ihn wieder unter die Bank zu legen. Da +fiel mir plötzlich ein, daß ich ihn, um ihn aus der Welt zu schaffen, +noch besser in den Kanal werfen könnte. + +Ich stand schon auf der Brücke, als ich an mein Geld dachte, das noch in +dem Kittel war. Auf dem Wege zum Bahnhof malte ich mir aus, wie +verhängnisvoll es für mich hätte werden können, wenn ich ohne Geld +geblieben wäre, und dabei fiel mir endlich ein, daß ich auch Mingos +Brief bei mir gehabt hatte für den Fall, daß ich ihre Wohnung vergäße. +Es tat mir leid, den Brief verloren zu haben, aber ich war zu müde und +zu gleichgültig, um umzukehren und einen Versuch zu machen, ob ich das +Paket noch aus dem Wasser fischen könnte, was ohnehin unwahrscheinlich +war. Auch graute mir, obwohl ich solchen Stimmungen sonst nicht +unterworfen bin, vor der verlassenen Stelle, und es war mir zumute, als +würde ich mich selbst auf der weißen Bank vor dem schwarzen Wasser +sitzen sehen, wenn ich zurückkehrte. Im Eisenbahnwagen schlief ich +sofort ein und schlief fest, bis ich zu Hause ankam. Ich hatte den +Eindruck, daß niemand mich kommen sah und niemandem meine Abwesenheit +aufgefallen war.« + +»Warum haben Sie den Sachverhalt nicht sofort der Wahrheit gemäß +dargestellt?« fragte der Vorsitzende, der während der langen Erzählung +mit seinem Bleistift gespielt hatte und in den Anblick desselben +versunken schien. »Das hätte Ihnen von vornherein eine andere Stellung +gesichert.« + +»Ja, wenn man mir geglaubt hätte!« sagte Deruga. »Den einzigen Beweis, +den ich beibringen konnte, den Brief meiner Frau, hatte ich verloren, +und ich dachte nicht an die Möglichkeit, ihn wiederzufinden. Freilich +war ich überzeugt, selbst wenn sich der Kittel herbeischaffen ließe, +würde das Wasser den Brief zerstört haben.« + +»Sonderbare Geschichte das!« sagte =Dr.= Zeunemann nach der Sitzung +zu den übrigen Herren. »Ich gestehe, der Mensch hat mich beinahe +gerührt. Ein derartiges gegenseitiges Wohlwollen findet man selten bei +Eheleuten.« + +»Die waren ja auch geschieden,« sagte der Staatsanwalt listig. + +Alle Herren lachten. »Übrigens,« sagte =Dr.= Zeunemann, »für ein +bißchen nervös und empfindsam halte ich unseren Italiener doch. Ich +hatte nicht unrecht, wenn ich ihn mit einem Chamäleon verglich.« + +Das wurde zugegeben. Aber es sei schließlich kein Verbrechen, ein +Chamäleon zu sein. Viele fänden es sogar reizvoll. + +»Ein Spielzeug für Damen,« sagte der Staatsanwalt vergnügt, »und um der +Damen willen muß er freigesprochen werden. Ich hoffe, unsere +Geschworenen vergessen nicht, daß es die Damen sind, die im öffentlichen +wie im privaten Leben den Ausschlag geben.« + +»Besonders vergessen Sie hoffentlich nicht,« sagte =Dr.= Zeunemann, +»daß es Frauen gibt, die weder im öffentlichen noch im privaten Leben +hervortreten und doch tapferer sind als unser starkes Geschlecht.« + +Man wollte allerseits an dem Vorsitzenden eine Vorliebe für Fräulein +Gundel Schwertfeger bemerkt haben und neckte ihn damit. + +Ja, er sähe auf den Kern, rechtfertigte sich =Dr.= Zeunemann, lasse +sich nicht durch Schein und Schimmer verblenden wie der ewig junge +Staatsanwalt. + +»Sie hat gelogen wie eine Heilige,« sagte dieser, »und mir ist es recht, +wenn das Gericht ihr eine Aureole statt der Strafe zuerkennt, denn das +Martyrium hat sie schon hinter sich. Hernach werde ich aber mit +verdoppelter Kraft den Buchstaben des Gesetzes schwingen.« + + + + +=XIX.= + + +Es dämmerte schon, als Mingo ins Hotel kam, wo ihre Mutter am Kamin saß +und in einem Buch blätterte. + +»Wo warst du denn?« fragte sie mißbilligend, indem sie das Buch in den +Schoß legte. »Ich habe mich deinetwegen beunruhigt.« + +»Aber Mama,« sagte Mingo erstaunt, »das habe ich nicht vorausgesetzt. +Wenn wir getrennt sind, hast du doch keine Ahnung, wann ich nach Hause +komme, und sorgst dich nie um mich.« + +»Das ist etwas anderes, Mingo,« antwortete die Baronin gereizt. »Ich +wäre nicht mehr am Leben, wollte ich mir Gedanken um dich machen, wenn +du anderswo bist. Hier mußt du dich nach mir und den herrschenden Sitten +richten. Ein junges Mädchen aus guter Familie darf in der Dunkelheit +nicht allein durch die Straßen laufen.« + +»Daran dachte ich nicht,« entschuldigte sich Mingo kleinlaut, »weil ich +es so gewöhnt bin. Ich war so glücklich, Mama.« + +»Glücklich? Warum?« fragte die Baronin. »Weil wir nach Paris reisen, +oder weil Peter Hase uns begleitet? Oder weil du studieren darfst?« + +»Ach nein, Mama,« antwortete Mingo, »weil der schreckliche Prozeß nun +bald zu Ende ist, und weil er freigesprochen wird. Er wird doch +freigesprochen?« + +»Ich glaube bestimmt,« sagte die Baronin. + +Mingo, die sich inzwischen auf ein Kissen zu Füßen ihrer Mutter gekauert +hatte, rief aus: »Aber seine Unschuld ist doch sonnenklar!« + +»Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist er doch nicht unschuldig,« sagte +die Baronin. + +Mingos Gesicht drückte ängstlichen Zweifel aus, allmählich verzog es +sich, so daß es kläglich und hilflos wie das eines kleinen Kindes +aussah, und in Tränen ausbrechend umklammerte sie mit beiden Armen die +Knie ihrer Mutter. »O Mama, das ertrüg' ich nicht, das ertrüg' ich +nicht,« schluchzte sie. + +Die Baronin schob sie sacht mit den Händen zurück und fragte befremdet, +fast tadelnd: »Was ist dir? Was hast du, Kind?« während sie sich eines +stechenden Schmerzes zu erwehren suchte, der ihr Herz zusammenzog. + +»Stoß' mich doch nicht fort, Mama,« schluchzte Mingo, ihre Mutter fest +umklammernd, »ich kann ja nichts dafür, daß es so ist! Hilf mir doch, +ich habe ja nur dich! Ich kann nicht ohne ihn leben.« + +Die Baronin beugte sich herab, zog die kleine Gestalt auf ihren Schoß +und preßte das tränenüberströmte Gesicht an ihres. »Meine kleine Mingo,« +sagte sie zärtlich, »so sehr liebst du ihn?« + +Noch schluchzend drängte sich das Mädchen dicht an ihre Mutter. »Ich +wollte gern sterben, wenn ich ihn damit glücklich machen könnte,« sagte +sie leise. + +Die Baronin streichelte sie und drückte sie fest an sich. »Meine liebe +Kleine,« sagte sie besänftigend, »es ist natürlich, daß er in dieser +Lage einen starken Eindruck auf dein liebevolles, phantastisches Gemüt +gemacht hat. Er übt einen großen Zauber aus, das ist wahr. Aber glaube +mir, das ist nicht der Mann, der dich beglücken könnte, ganz abgesehen +davon, daß sein Alter und seine Stellung im Leben den Gedanken an eine +Heirat mit dir von vornherein ausschließen.« + +»Seine Stellung im Leben,« rief Mingo, sich entrüstet aufrichtend. »O +Mama, und wenn er ein Straßenkehrer wäre, er stände hoch, hoch über mir +und allen Männern, die ich kenne. O Mama, ich kann es nicht ertragen, +daß du so kleinlich denkst oder sprichst. Und was frage ich nach seinem +Alter? Will ich denn etwas von ihm? Wenn meine Jugend sein Herz einen +Augenblick erfreuen könnte, wie man sich an einer Blume erfreut, so wäre +ich glücklich, sie ihm hingeben zu dürfen.« + +Plötzlich brach sie ab, da sie sah, daß die schönen grauen, +schwarzumsäumten Augen ihrer Mutter feucht und daß auf ihren blassen +Wangen Tränenspuren waren. Sie nahm das kleine, spitzenbesetzte +Taschentuch, das die Baronin in der Hand hielt, trocknete damit behutsam +ihr Gesicht und fragte nachdenklich: »Sind das meine Tränen?« + +»Wessen wohl sonst?« fragte die Baronin lächelnd. + +»Aber du hast ja auch Tränen in den Augen,« fuhr Mingo fort. »Ach Mama, +was für ein böses Kind bin ich, dir solchen Kummer zu machen! Aber ich +kann ja nichts dafür, es ist ganz gewiß stärker als ich! Alles, alles, +was ich habe, wollte ich geben, wenn er mich nur ein bißchen liebhaben +könnte! Wenn er mich wenigstens um sich leiden möchte! Ich weiß nicht, +was aus mir werden soll ohne ihn.« + +»Meine süße, kleine Mingo,« begann die Baronin. + +»Sage: mein süßer, kleiner Mingo,« bat Mingo. + +»Mein süßer, kleiner Mingo,« wiederholte die Baronin, »kühle vor allen +Dingen dein Gesicht, denn du möchtest gewiß nicht gern, daß dein Vater, +der jeden Augenblick kommen kann, dich so überraschte. Ich fürchte, er +würde wenig Verständnis für deine Gefühle haben. Und dann laß uns +zunächst ruhig das Urteil erwarten! Sollte er nicht freigesprochen +werden, so kann er weitergehen; wir brauchen also selbst im schlimmsten +Falle die Hoffnung nicht aufzugeben. Was dann wird, hängt nicht von uns +ab. Dich zu lieben, können wir ihn nicht zwingen, aber ich glaube, daß +er schon um seiner verstorbenen Tochter willen Sympathie für dich hat.« + +»Glaubst du?« fragte Mingo, während sie sich das erhitzte Gesicht mit +einem nassen Tuche betupfen ließ. Die ungewohnte mütterliche +Zärtlichkeit hatte etwas lieblich Einwiegendes, und sie hielt +unwillkürlich die Mutter fest umarmt, als wolle sie die wohltätige +Anwandlung verhindern, einem Traume gleich zu verschwinden. + +»Du scheinst plötzlich wieder ein kleines Kind geworden zu sein,« sagte +die Baronin, »und zu denken, wie kleine Kinder tun: Mama wird mir Sonne +und Mond geben, wenn ich will.« + +Mingo sah die Baronin mit großen, wundergläubigen Augen an und nickte. +»Das kommt, weil du so gut zu mir bist,« sagte sie. + +Erst gegen Morgen schlief die Baronin ein und erwachte mit müdem, +unfrohem Herzen. Mingos zärtliche Begrüßung, kleine Aufmerksamkeiten +und verstohlene Blicke ermunterten sie doch allmählich. + +»Nun, Mingo,« sagte sie, »ich nehme dich heute nur mit in die Sitzung, +wenn du brav sein willst. Auftritte sind mir verhaßt, besonders in der +Öffentlichkeit.« Mingo versprach es und wurde auf keine zu schwere Probe +gestellt. Denn die Reden waren kurz, und die Geschworenen lehnten nach +kaum halbstündiger Beratung die Schuldfrage ab. + + * * * * * + +In der allgemeinen Bewegung, die entstand, erschien nur Deruga +gleichgültig; einzig als er, nachdem die Baronin ihn beglückwünscht +hatte, Mingos Auge voll Sorge und Liebe auf sich gerichtet sah, wurden +seine Mienen weich. + +»Kleiner Mingo,« sagte er, indem er ihr zunickte, »sind Sie nun +zufrieden? Sehen Sie, die Menschen sind gar nicht so böse!« + +Im ersten Augenblick überwältigte sie das Glück dieser Anrede; aber als +sie neben ihrer Mutter im Wagen saß und alles Erlebte wieder +durchträumte, schien es, als habe der bewunderte Mann sie doch recht +karg abgespeist. Mit wem mochte er seinen Triumph jetzt so recht +ausgiebig feiern? War er überhaupt froh? Es hatte so viel Widerwillen +und Verachtung in dem Gesicht gelegen, das doch so innig lächeln konnte. +Ob er glücklicher sein würde, wenn er wüßte, wie ganz und gar sie ihm +ergeben war? + +»Mingo,« sagte die Baronin am Nachmittag, als sie allein miteinander +waren, »ich werde jetzt Deruga aufsuchen, um zu erfahren, welches seine +Absichten für die nächste Zukunft sind, und ihn bitten, daß er mich als +seine Verwandte betrachtet. Dich nehme ich nicht mit, weil du sehr wenig +imstande bist, deine Empfindungen zu beherrschen, und es nicht +schicklich ist, wie du auch finden wirst, wenn ein Mädchen sich einem +Manne anträgt.« + +Mingo war nicht der Meinung. Sich diesem einzigen Manne gegenüber hinter +Schicklichkeitsregeln zu verschanzen, schien ihr unwürdig, das einzig +Natürliche und Richtige vielmehr, ihm zu sagen: Ich bin dein, nimm mich +hin. Da sie aber wußte, daß sie ihre Mutter für diese Auffassung nicht +würde gewinnen können, und da sie sich außerdem vor einer Begegnung mit +Deruga ebensosehr fürchtete, wie sie sie herbeisehnte, erklärte sie sich +dankbar einverstanden. + +»Aber ich darf ihn doch grüßen lassen,« fragte sie. Die Baronin lächelte +und küßte sie. »Geh' inzwischen mit deinem Vater spazieren,« sagte sie, +»daß dir die Zeit nicht lang wird.« + + + + +=XX.= + + +Als die Baronin bei Deruga eingetreten war, der an einem Tische saß und +schrieb, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte dann: »Sie sehen +nicht aus wie ein Sieger. Mir entfällt der Mut, Ihnen Glück zu +wünschen.« + +»Sie irren sich,« antwortete Deruga, »ich habe soeben einen Entschluß +gefaßt, um dessentwillen ich zu beglückwünschen bin: Ich will den +Schauplatz, der mir nicht gefällt, verlassen.« + +»Das habe ich vorausgesetzt,« sagte die Baronin. »Hätten Sie nicht Lust, +uns nach Paris zu begleiten?« + +»Nein, ich will weiter, viel weiter fort,« sagte Deruga. + +»Nun, das ist auch gut,« meinte die Baronin. »In der Ferne werden Sie +die häßlichen Eindrücke, die Sie hier gehabt haben, vergessen, und wenn +Sie wissen, daß Sie in dem trüben Wust einen kostbaren Schatz gewonnen +haben, nämlich ein reines, warmes, treues Herz, so wird Sie das +allmählich zurückziehen.« + +»Ich bin nicht so verwegen, mir einzubilden, ich hätte Ihr Herz +gewonnen, Frau Baronin,« sagte Deruga, gutmütig spottend, »auf das Ihre +Schilderung auch wohl so ganz nicht paßt.« + +»Nein, nicht so ganz,« sagte die Baronin, indem sie mit wehmütiger +Koketterie den Kopf wiegte, »immerhin dachte ich an eines, das dem +meinigen nah, sehr nah verwandt ist.« + +»Kleiner Mingo,« sagte Deruga träumerisch, und dann rascher, zu seinem +Gast gewendet: »Ach, glauben Sie denn, Baronin, ich könnte es ertragen, +ein Wesen an meiner Seite zu haben, das mich immer an meinen kleinen +Mingo erinnerte, den ich verloren habe? Wenn Sie das für möglich halten, +so wissen Sie nicht, was Elternliebe ist.« + +»O doch, ich habe es erfahren,« sagte die Baronin, indem sie langsam den +verschleierten Blick auf ihn richtete. + +»Ich glaube Ihnen,« sagte Deruga, »aber vielleicht können Sie sich +nicht in meine Lage denken.« + +»Es ist natürlich,« sagte die Baronin, »daß ich zunächst die meine und +die meines Kindes empfinde. Daß eine Mutter ihre Tochter nicht gern +einem um so viel älteren Manne gibt, das versteht sich doch wohl von +selbst. Wenn ich trotzdem mich entschlossen habe, Ihnen von dieser +Neigung zu sprechen, so geschah es, weil ihre Stärke und unschuldige +Zuversicht mich rührten und mir den Glauben erweckten, es könne doch +vielleicht -- wie man so sagt -- Gottes Wille sein. Dazu kommt freilich, +daß ich mich davor fürchte, das Kind leiden zu sehen.« + +»Wirkliches Leiden,« sagte Deruga, »würde ihr die Erfüllung ihres +Wunsches bringen. Sie kennt mich nicht. Und auch Sie, Baronin, kennen +mich offenbar nicht genügend.« + +»Die Natur will nicht, daß wir Frauen die Männer ganz kennen,« sagte die +Baronin leicht errötend. »Hat sie uns nicht blind gemacht, so müssen wir +uns wohl oder übel die Augen verbinden. Aber von Ihnen, gerade von +Ihnen glaubte ich, daß es nur von Ihrem Willen abhinge, wenn nicht ein +großer, so doch ein sehr guter Mensch zu sein.« + +»Wenn das wahr wäre,« sagte Deruga, »so wäre ich es ja. Mein Wille hängt +aber nicht von mir ab, sondern von meinem Blut, von meinen Nerven, von +den Eindrücken, die ich empfange, von tausenderlei Strömungen und +Stockungen, über die ich nicht Herr bin. Ich habe Augenblicke gehabt, wo +es mir vor mir selbst ekelte, und ich will verhindern, daß sie +wiederkommen, nachdem ich einmal hoch über allen irdischen Niedrigkeiten +war.« + +»Und könnten Sie das nicht am besten dadurch verhindern,« sagte die +Baronin, liebevoll dringend, »daß Sie Ihr Leben mit einem jungen, +reinen, vertrauenden verbänden?« + +»Wenn ich stark wäre, ja,« sagte Deruga. »Aber da ich schwach bin, +bleibt mir doch nur der andere Weg, daß ich fortgehe.« + +Etwas in seinen Mienen oder im Ton seiner Worte machte, daß die Baronin +ihn plötzlich richtig verstand. Ihre Hand, die auf der Lehne seines +Stuhles lag, zitterte, und sie wurde bleich. Eine schreckliche Angst, er +könne jetzt gleich, ihr gegenüber Hand an sich legen, befiel sie, und +zugleich durchzitterte sie der Gedanke, daß dies die beste Lösung für +sie wäre. + +»Es ist entsetzlich, mir das zu sagen,« stöhnte sie, die Augen +schließend und den Kopf zurücklehnend. + +»Nicht so sehr,« sagte Deruga, »ich hätte es nicht gesagt, wenn ich +nicht wüßte, wie verständig Sie sind. Ich will Ihnen gestehen, als mich +Ihre Augen zum ersten Male mit einem Blick trafen, der aus Abneigung und +plötzlich erregter Zuneigung gemischt war, wurde eine starke Begierde zu +leben in mir wach, wie ich sie jahrelang nicht empfunden hatte. Denn +eigentlich lebte ich nur so hin, weil ich einmal da war, ohne daß etwas +mich sonderlich reizte. Der Trieb, den Sie in mir entzündeten, war +nichts Hohes oder Schönes, es war ein Durcheinander von Genußsucht, +Eitelkeit und Selbstliebe, was eben bei uns Männern der Leidenschaft +hauptsächlich zugrunde liegt. Der Reichtum, der mir in den Schoß +gefallen war, bekam plötzlich doppelten Wert für mich. Von ihm getragen, +wollte ich leben um jeden Preis, was für Opfer es auch kosten möchte, +leben, um ungeschränkt zu genießen. Wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn +der gute =Dr.= Bernburger nicht den Brief von meiner armen Marmotte +gefunden hätte!« + +»Da verblaßte die neue vor der alten Liebe,« sagte die Baronin leise. + +»Sie mögen es immerhin so ausdrücken,« sagte Deruga. »Vom Finger der +Erinnerung berührt, stieg die göttliche Zeit vor mir auf, die mir einmal +geschenkt war. Ich sah, wie flach, zerbrechlich, alltäglich und ekelhaft +alles das war, was mich glänzend und genußreich umgaukelt hatte, +verglichen mit der Seligkeit, die ich empfand, als ich meiner armen, +kranken Marmotte den Tod gab. Ja, ich würde reicher und angesehener +sein, es würden mir feinere, höher gestellte Frauen zu Verfügung stehen +als früher, aber ich würde mit jedem Schritt tiefer in den Schlamm der +Alltäglichkeit versinken und mich weiter von jenem Götterglück +entfernen, bis ich meine Fähigkeit dazu endlich vergessen und verloren +hätte.« + +»Man kann nicht immer auf den Höhen verweilen,« wandte die Baronin +zaghaft ein. + +»Ich wenigstens kann es nicht,« sagte Deruga. »Aber ich war doch einmal +begnadet, in ätherischer Luft zu atmen. Mir schmeckt eure Zeit nicht +mehr nach jenen ewigen Augenblicken.« + +»Vielleicht,« sagte die Baronin zögernd, »könnte Mingo Sie umstimmen, +wenn sie zu Ihnen käme.« + +»Das wäre zum Unglück für uns beide,« sagte Deruga. »Lassen Sie dem +Kinde eine schöne, heilige Erinnerung, die vielleicht einmal dunkle +Stellen des Lebens verklären kann. Mich beglückt der Gedanke, daß sie +ein unbeflecktes Bild von mir in liebevollem Herzen festhält. +Versprechen Sie mir, es nicht zu zerstören, Baronin!« + +»Es ist ja mir so teuer wie ihr,« sagte sie mit erstickter Stimme. Sie +drückte das Taschentuch an die Augen und saß ihm lange stumm gegenüber. +Plötzlich kam ihr inmitten verworrener Gefühle und Gedanken ein +Einfall, dem nachgebend sie sich schnell aufrichtete und fragte: »Und +die verhängnisvolle Erbschaft? Was wird aus der, wenn Sie -- fortgehen?« + +Deruga lachte. »Wahrhaftig, Baronin,« sagte er, »wenn Gundel +Schwertfeger nicht wäre, würde ich sie Ihnen von Herzen gönnen. Aber, +sehen Sie, Gundel Schwertfeger kommt das Geld eigentlich zu, weil die +Marmotte es ihr zugedacht hatte, und weil sie es in ihrem Sinne anwenden +wird. Und um mich hat sie es verdient, das treue, tapfere Herz, obwohl +ich ihr einmal böse war, weil sie mich zu hart beurteilte. Im Grunde +galt mein Zorn nur ihrer Unbestechlichkeit.« + +»Ach,« sagte die Baronin schmollend, »Sie und das Fräulein Schwertfeger +gehören zu den Leuten, die nur ein Herz für die Leiden der Armen haben. +Glauben Sie mir, verhältnismäßig bin ich ärmer als die ärmste +Taglöhnersfrau.« + +»Ja, aber nur verhältnismäßig,« lachte Deruga. + +»Nun, lassen wir das,« sagte die Baronin, »nur um eines bitte ich Sie: +Lassen Sie die Nadel, den Mohrenkopf, den Sie in der Krawatte tragen, +nicht in fremde Hände fallen!« + +»Sie sollen ihn als Andenken erhalten,« sagte Deruga, »wenn ich meine +Reise antrete. Machen Sie sich aber niemals Gedanken, Baronin, als +hätten Sie den Aufbruch verschuldet! Schon oft, lange vor diesem Prozeß, +habe ich die Absicht gehabt, diese öde Station zu verlassen, wo ich mich +ebenso langweilte wie Sie in Ihrer Ehe. Vielleicht erinnern Sie sich, +daß ich einmal im Anfang der Verhandlungen erzählte, wie ich fortgereist +und aufs Geratewohl querfeldein gegangen sei, um irgendwo draußen in der +Einsamkeit wie ein Tier zu sterben. Das war keine Erfindung, wenn es +auch nicht gerade an dem Tag vorgefallen war.« + +Die Baronin war aufgestanden und hielt ihm zögernd die Hand hin. »Lieber +Doktor,« sagte sie, »alles, was Sie nur eben sagten, war der Ausdruck +einer Stimmung, die nach den vorausgegangenen Eindrücken erklärlich ist, +die aber vorübergehen wird. Ihre zahlreichen Freunde werden darauf +hinzuwirken suchen, und ich bin überzeugt, schon morgen werden Sie +irdischer, menschlicher empfinden. Ich wäre nicht imstande Ihnen +Lebewohl zu sagen, wenn ich nicht fest darauf rechnete.« + +»Küß die Hand, Baronin, und grüßen Sie Mingo!« + +Auf der Treppe zog die Baronin einen Spitzenschleier aus der kleinen +Handtasche, die sie in der Hand trug, und band ihn vor ihr Gesicht, über +das unaufhaltsame Tränen flossen. Erst nachdem sie eine Zeitlang in den +entlegenen, einsamen Straßen dieser Gegend auf und ab gegangen war, +versiegten sie und vermochte sie sich zu fassen. Nach Hause zu gehen, +fühlte sie sich immerhin noch nicht fähig und beschloß, auf Umwegen in +die innere Stadt, wo die eleganten Geschäfte waren, zurückzukehren und +einige für die Abreise notwendige Einkäufe zu machen. + +Der Gedanke an Paris hatte etwas Befreiendes für sie. Auf der neuen +Szene, dachte sie, würden neue Auftritte mit neuen Eindrücken kommen und +sie heilen; denn sie bedürfte es doch mehr als Mingo. Ja, für Mingo war +es gut so, das fühlte sie mit jedem Augenblick deutlicher. Eine kurze +Zeit leidenschaftlicher Wonne hätte sie vermutlich, wenn sie Deruga +geheiratet hätte, mit einem Leben voll Enttäuschungen und mannigfacher +Bitterkeit erkauft; denn was für Schätze sein Herz auch bergen mochte, +ihr gegenüber wäre er bald der alternde, launenhafte, überdrüssige, +erloschene Mann geworden. Der Schmerz hingegen, den sie jetzt erfuhr, +würde sich bald, wie Deruga vorausgesagt hatte, in eine heilig behütete +Erinnerung verwandeln, bei der man gern in Träumen verweilt. Vielleicht +war sie infolge der Erregungen, die sie durchgemacht hatte, gerade in +der rechten Verfassung, um für Peter Hases Werbung empfänglich zu sein, +der sie begleitete, oder es würde einem anderen gelingen, sie zu +interessieren. Dies Erlebnis hatte den Boden ihrer Seele erst lockern +müssen, der sich bisher vor der Liebe verschlossen hatte. Es lag jetzt +nur an ihr, sich eine reiche Ernte für die Zukunft zu sichern. + +Sie dagegen, so dachte die Baronin, hatte einen dürren Herbst und einen +öden Winter zu erwarten. Es schauderte sie, und sie zog das +Pelzgehänge, das sie an den kühlen Frühlingstagen noch trug, dicht um +sich zusammen. Gab es denn irgendwo auf Erden die göttliche Zeit, das +himmliche Klima, wovon Deruga gefabelt hatte? Ach, mit was für +fremdartigen Gedanken hatte er sie gestört! Nein, das Verstiegene und +Überschwängliche hatte sie sich immer fern gehalten und wollte es auch +ferner tun, das ihrem guten Geschmack widerstrebte. Das Leben war reich +an heiteren, reizenden Augenblicken; die Kunst, diese Schmetterlinge +einzufangen, sich an ihrem Schmelz zu erfreuen, ohne sie zu betasten, +wollte sie sich immer mehr zu eigen machen. Konnte sie dazu eine bessere +Gelegenheit finden als in Paris, in Gesellschaft ihrer Tochter und Peter +Hasens? War nicht endlich auch ihr Mann ein schätzbarer Begleiter? +Ansehnlich, elegant, zuvorkommend, eben durch seine langweilige +Farblosigkeit bequem? Ihr Schritt wurde immer elastischer und ihre +Mienen heiterer. Als sie im Hotel ankam, strömte ihr Wesen einen so +frischen Reisemut aus, daß ein wenig davon auf Mingo überging. + +Ein paar Tage später erhielt sie in Paris ein Paketchen, in dem Derugas +Nadel mit dem Mohrenkopf war. Ihre Augen wurden feucht, aber sie verbarg +das Kleinod schnell in einer Schatulle, wo sie ihre Kostbarkeiten zu +verschließen pflegte, um es erst dann wieder hervorzunehmen, wenn ihr +Herz ganz still und sicher geworden wäre. + + * * * * * + +Die Ankündigungen auf den folgenden Seiten werden freundlicher Beachtung +empfohlen + + * * * * * + + +----------------------------------------------------------+ + | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ | + +----------------------------------------------------------+ + | Der Stein der Weisen | + | | + | von Max Geißler | + | | + | Die letzten fünfundzwanzig Jahre deutschen Lebens | + | umfaßt Max Geißlers neuer Roman, der ganz eingesponnen | + | ist in den Frieden des Bergwaldes. Durchs Wettertal | + | fährt im Juli 1890 der Doktor Valerius Degenhart aus | + | Frankfurt am Main, der Träumer, der aus der | + | zerrüttenden Berufsarbeit sich nach der großen Stille | + | sehnt. Im Wettertal läßt er, als seine unmoderne | + | Reisekutsche verunglückt, zu dauernder Rast sich | + | nieder. Zwischen Himmel und Erde, vor einer Natur von | + | unsagbarer Schönheit baut er sich sein Haus, die | + | Streitburg. Wenig Äußeres geschieht in diesem Buch. | + | Doch es hat eine Melodie tiefinnerster Seligkeit, die | + | im Herzen nachklingt wie der Glanz endloser Sommertage. | + | | + | | + | Die Arche | + | | + | von Werner Scheff | + | | + | In diesem utopischen Roman eines neuen Autors ist die | + | stolzeste Tat vorhergeahnt, die im Weltkrieg der Geist | + | der deutschen Technik verwirklichte, und mit | + | schöpferischer Phantasie übertragen auf ferne Zukunft. | + | Noch wußten nur die Eingeweihten vom Bau der | + | »Deutschland«, als Werner Scheff seine »Arche« schrieb, | + | die mit der Taufe des großen Untersee-Passagierbotes, | + | der »Gloria«, im August 1947 beginnt. Hammerhart, voll | + | nüchternen Zweckbewußtseins, bis in die letzten Dinge | + | der Konstruktion durchdacht ist seine Gestaltung des | + | kühnen Ingenieurtraums. Mit ungeheuersten Möglichkeiten | + | des Weltenschicksals, mit einem Weltuntergang, ist sie | + | verbunden. Aber rein und trostvoll in ihrem milden | + | Glauben an die Ewigkeit der Kultur ist die Stimmung des | + | Schlusses. | + +----------------------------------------------------------+ + | _Jeder Band 3 Mark_ | + +----------------------------------------------------------+ + + * * * * * + + +----------------------------------------------------------+ + | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ | + +----------------------------------------------------------+ + | Lotte Hagedorn | + | | + | von Felix Philipp. | + | | + | In das Erleben einer früheren Generation trägt Felix | + | Philipps neues Werk zurück. Mit einem Spaziergang nach | + | den Linden, den am Himmelfahrtstag 1869 der | + | Kommissionsrat Schlegel unternimmt, setzt die | + | Geschichte der Lotte Hagedorn ein. An jenem Junitage | + | des Jahres 1871 endet sie, an dem durch das | + | Brandenburger Tor die aus Frankreich heimkehrenden, | + | kranzgeschmückten Truppen umjubelt einzogen. Stimmungen | + | von altväterischem Reiz begleiten diesen zarten und | + | rührenden Roman eines Frauenherzens. Den Zusammenbruch | + | eines Bankhauses in der Jägerstraße, dessen Inhaber | + | elegant und frivol ist wie die Bankiers des | + | napoleonischen Paris, schildern die stärksten Kapitel. | + | Sie bringen in diese Welt der bürgerlichen Sparsamkeit | + | etwas wie eine erste Vorahnung der Gründerjahre. | + | | + | | + | Candida | + | | + | von Albert von Trentini | + | | + | Das neue Werk Trentinis hat ein Motiv von großer | + | Kühnheit: die Zerstörung einer glühenden Leidenschaft | + | durch einen Unfall, der das Antlitz der Geliebten jäh | + | entstellt. In einer Sprache voll feierlichen Glanzes | + | gibt der junge österreichische Dichter den Kampf zweier | + | Menschen wieder, des Mannes, dessen Gefühl erstarrt, | + | der Frau, die stolz und einsam dem selbstgewollten | + | Schicksal entgegenschreitet, bis über Stolz und | + | Einsamkeit die zitternde Liebe der Seelen triumphiert. | + | Rom, seine Gärten und Tempel, die nachtdunkle | + | Steinwüste des Kolosseums sind der Schauplatz des | + | ersten Teils; in der unberührten Natur der Tiroler | + | Alpen, in Berlin und München geht die Handlung zu Ende. | + +----------------------------------------------------------+ + | _Jeder Band 3 Mark_ | + +----------------------------------------------------------+ + + * * * * * + + +----------------------------------------------------------+ + | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ | + +----------------------------------------------------------+ + | Schüsse vor Warschau | + | | + | von Christian Bouchholtz | + | | + | Der weiße polnische Winter ist in diesem Roman eines | + | jungen Berliner Schriftstellers, der als Kanonier an | + | der Bzura lag, einen Tagemarsch vor Warschau, und bei | + | Brochow, Chopins Geburtsort. In kecken Skizzen malt er | + | die Straßen von Lowicz, die Typen des polnischen | + | Bauernvolks, die rohgezimmerten Panjehütten, die | + | dumpfen Stuben mit der goldglänzenden, schwarzen | + | Madonna von Czenstochau, Bäuerinnen und Burschen, die | + | den Krakowiak tanzen, den Brand einer zerschossenen | + | Zuckerfabrik. Ein Spionagefall ist das erregende Moment | + | der Handlung und trägt in sie die Gegenwart von Verrat | + | und Tod. Eine Mädchenfigur, schön, künstlich, | + | lasterhaft, steht mitten in dieser romantischen | + | Atmosphäre des Werkes. | + | | + | | + | Variété | + | | + | von Joachim Delbrück | + | | + | Ein Kenner des Variétés, seines Glanzes und seiner | + | Not, seines internationalen Marktes, seiner | + | unerbittlich harten Auslese, seiner tragischen und | + | seiner grotesken Züge, hat diesen Roman verfaßt. Doch | + | nicht die überraschend wahre Darstellung des | + | Artistentums ist das Entscheidende, sondern die | + | künstlerische Note des Werkes. Ein impressionistisches | + | Gemälde von starkem Farbenreiz wird alles, was Joachim | + | Delbrück schildert: die lichtstrotzende Rampe der | + | Skala, eine goldflimmernde Akrobatentruppe, dänische | + | Garde in Scharlachrot, Kopenhagens Freiluftstimmungen | + | aus silbergrauer Herbstzeit. Die Seele vieler Städte | + | ist in Delbrücks feinem und buntem Roman, mit dem eine | + | neue, persönliche Begabung sich durchsetzt. | + +----------------------------------------------------------+ + | _Jeder Band 3 Mark_ | + +----------------------------------------------------------+ + + * * * * * + + +----------------------------------------------------------+ + | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ | + +----------------------------------------------------------+ + | Das Reich von morgen | + | | + | von Karl Figdor | + | | + | Der Roman von Karl Figdor ist ein farbiges und | + | spannendes Werk, das der erzählenden Literatur Neuland | + | erobert. Nach Mesopotamien führt er, dem zukunftsvollen | + | Gebiet zwischen den beiden Riesenströmen, und an die | + | Strecke der deutschen Bagdadbahn. Ein deutscher | + | Ingenieur, Sektionsleiter beim Bau der Brücke von | + | Dscherablus, und ein blondes deutsches Mädchen, deren | + | Schicksal nach einer großen Lebenskrise vereinigt wird, | + | stehen im Vordergrund des Romans. Der Höhepunkt des | + | ersten Teiles ist die dramatische Schilderung einer | + | Meuterei arabischer und kurdischer Arbeiter. Dann trägt | + | die Handlung mitten hinein in die Tage des Krieges, | + | zurück nach Berlin, zurück in die deutsche Heimat. | + | | + | | + | Die neuen Weiber von Weinsberg | + | | + | von Karin Michaelis | + | | + | Aus inniger Liebe zu unserem Volke ist dieses Werk der | + | Dänin Karin Michaelis geboren. Deutschlands und | + | Österreichs Antlitz im Frieden läßt es uns schauen, in | + | den Jahren des Glückes, und zeigt es uns verwandelt in | + | schwerer Kriegszeit. Mit einem Wahrheitsmut, der ihr | + | tiefe Dankbarkeit sichert, stellt Karin Michaelis | + | unsere und unserer Bundesgenossen Leistung dar. Mit | + | schwesterlichem Gefühl, jubelnd und klagend, | + | verherrlicht sie die Willensmacht, die duldende und | + | hoffende Größe der deutschen Frauen. Voll zarter und | + | gewaltiger Stimmungen ist dieser Roman, der als ein | + | dichterisches Zeugnis für die Reinheit des deutschen | + | Wesens über unsere Tage hinaus dauern wird. | + +----------------------------------------------------------+ + | _Jeder Band 3 Mark_ | + +----------------------------------------------------------+ + + * * * * * + + +----------------------------------------------------------+ + | Romane aus dem Verlag Ullstein & Co | + +----------------------------------------------------------+ + | Auf eigener Erde von _Max Dreyer_ | + | * | + | Die Spur des Ersten von _Fedor von Zobeltitz_ | + | * | + | Fasching von _Paul Oskar Höcker_ | + | * | + | Der Eid des Stephan Huller von _Felix Hollaender_ | + | * | + | Ein Augenblick im Paradies von _Ida Boy-Ed_ | + | * | + | Die Streiche der schlimmen Paulette | + | von _Karl Hans Strobl_ | + | * | + | Pantherkätzchen von _Marie Madeleine_ | + | * | + | Das Bataillon Sporck von _Richard Skowronnek_ | + | * | + | Kleine Mama von _Paul Oskar Höcker_ | + | * | + | Zu Befehl! von _Heinz Tovote_ | + | * | + | Eine Frau wie du! von _Ida Boy-Ed_ | + | * | + | Peter Voß, der Millionendieb | + | von _Ewald Gerhard Seeliger_ | + | * | + | Der Katzentisch von _Viktor von Kohlenegg_ | + | * | + | Die Glücksfalle von _Fedor von Zobeltitz_ | + | * | + | Die Meisterin von Europa von _Paul Oskar Höcker_ | + | * | + | Die Belowsche Ecke von _Georg Hirschfeld_ | + +----------------------------------------------------------+ + | _Jeder Band 3 Mark_ | + +----------------------------------------------------------+ + + * * * * * + + +----------------------------------------------------------+ + | Romane aus dem Verlag Ullstein & Co | + +----------------------------------------------------------+ + | Tschun von _Elisabeth von Heyking_ | + | * | + | Das Geschlecht der Schelme von _Fedor von Zobeltitz_ | + | * | + | Die Sieger von _Felix Philippi_ | + | * | + | Moj von Hans von _Hoffensthal_ | + | * | + | Der Rächer von _Stefan Zeromski_ | + | * | + | Vor der Ehe von _Ida Boy-Ed_ | + | * | + | Der heilige Haß von _Richard Voß_ | + | * | + | Die klingende Schelle von _Felix Salten_ | + | * | + | Die junge Exzellenz von _Paul Oskar Höcker_ | + | * | + | Die Treppe von _Viktor von Kohlenegg_ | + | * | + | Blockade von _Meta Schoepp_ | + | * | + | Der gewürzige Hund von _Helene Böhlau_ | + | * | + | Ein Kriegsurlaub | + | von _Friedrich Werner van Destéren_ | + | * | + | Das Buch der Liebe von _Marie Eugenie delle Grazie_ | + | * | + | Das Tor der Wünsche von _Friedel Merzenich_ | + | * | + | Frauenschneider Gutschmidt von _Otto von Gottberg_ | + +----------------------------------------------------------+ + | _Jeder Band 3 Mark_ | + +----------------------------------------------------------+ + + * * * * * + + + + +ANMERKUNGEN ZUR TRANSKRIPTION: + +Stellen im Text, die nicht in Fraktur, sonder in Antigua gedruckt sind, +sind mit = (=Antigua=) gekennzeichnet. + +[ANMERKUNG TN1: Korrektur des Originals, im Original ist hier +abwendetete zu finden] + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA *** + +***** This file should be named 17169-8.txt or 17169-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/6/17169/ + +Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online +Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose +such as creation of derivative works, reports, performances and +research. They may be modified and printed and given away--you may do +practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is +subject to the trademark license, especially commercial +redistribution. + + + +*** START: FULL LICENSE *** + +THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE +PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK + +To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free +distribution of electronic works, by using or distributing this work +(or any other work associated in any way with the phrase "Project +Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project +Gutenberg-tm License (available with this file or online at +https://gutenberg.org/license). + + +Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm +electronic works + +1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm +electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to +and accept all the terms of this license and intellectual property +(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all +the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy +all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. +If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project +Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the +terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or +entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. + +1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be +used on or associated in any way with an electronic work by people who +agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few +things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works +even without complying with the full terms of this agreement. See +paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project +Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement +and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic +works. See paragraph 1.E below. + +1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" +or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project +Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the +collection are in the public domain in the United States. If an +individual work is in the public domain in the United States and you are +located in the United States, we do not claim a right to prevent you from +copying, distributing, performing, displaying or creating derivative +works based on the work as long as all references to Project Gutenberg +are removed. Of course, we hope that you will support the Project +Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by +freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of +this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with +the work. You can easily comply with the terms of this agreement by +keeping this work in the same format with its attached full Project +Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. + +1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern +what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in +a constant state of change. If you are outside the United States, check +the laws of your country in addition to the terms of this agreement +before downloading, copying, displaying, performing, distributing or +creating derivative works based on this work or any other Project +Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning +the copyright status of any work in any country outside the United +States. + +1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: + +1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate +access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently +whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the +phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project +Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, +copied or distributed: + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + +1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived +from the public domain (does not contain a notice indicating that it is +posted with permission of the copyright holder), the work can be copied +and distributed to anyone in the United States without paying any fees +or charges. If you are redistributing or providing access to a work +with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the +work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 +through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the +Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or +1.E.9. + +1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted +with the permission of the copyright holder, your use and distribution +must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional +terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked +to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the +permission of the copyright holder found at the beginning of this work. + +1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm +License terms from this work, or any files containing a part of this +work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. + +1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this +electronic work, or any part of this electronic work, without +prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with +active links or immediate access to the full terms of the Project +Gutenberg-tm License. + +1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, +compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any +word processing or hypertext form. However, if you provide access to or +distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than +"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version +posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org), +you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a +copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon +request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other +form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm +License as specified in paragraph 1.E.1. + +1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, +performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works +unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9. + +1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing +access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided +that + +- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from + the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method + you already use to calculate your applicable taxes. The fee is + owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he + has agreed to donate royalties under this paragraph to the + Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments + must be paid within 60 days following each date on which you + prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax + returns. Royalty payments should be clearly marked as such and + sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the + address specified in Section 4, "Information about donations to + the Project Gutenberg Literary Archive Foundation." + +- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies + you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he + does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm + License. You must require such a user to return or + destroy all copies of the works possessed in a physical medium + and discontinue all use of and all access to other copies of + Project Gutenberg-tm works. + +- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any + money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the + electronic work is discovered and reported to you within 90 days + of receipt of the work. + +- You comply with all other terms of this agreement for free + distribution of Project Gutenberg-tm works. + +1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm +electronic work or group of works on different terms than are set +forth in this agreement, you must obtain permission in writing from +both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael +Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the +Foundation as set forth in Section 3 below. + +1.F. + +1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable +effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread +public domain works in creating the Project Gutenberg-tm +collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic +works, and the medium on which they may be stored, may contain +"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or +corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual +property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a +computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by +your equipment. + +1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right +of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project +Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project +Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all +liability to you for damages, costs and expenses, including legal +fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT +LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE +PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE +TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE +LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR +INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH +DAMAGE. + +1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a +defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can +receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a +written explanation to the person you received the work from. If you +received the work on a physical medium, you must return the medium with +your written explanation. The person or entity that provided you with +the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a +refund. If you received the work electronically, the person or entity +providing it to you may choose to give you a second opportunity to +receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy +is also defective, you may demand a refund in writing without further +opportunities to fix the problem. + +1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth +in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER +WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO +WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE. + +1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied +warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages. +If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the +law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be +interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by +the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any +provision of this agreement shall not void the remaining provisions. + +1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the +trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone +providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance +with this agreement, and any volunteers associated with the production, +promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, +harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, +that arise directly or indirectly from any of the following which you do +or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm +work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any +Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. + + +Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm + +Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of +electronic works in formats readable by the widest variety of computers +including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at https://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. To +SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any +particular state visit https://pglaf.org + +While we cannot and do not solicit contributions from states where we +have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition +against accepting unsolicited donations from donors in such states who +approach us with offers to donate. + +International donations are gratefully accepted, but we cannot make +any statements concerning tax treatment of donations received from +outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. + +Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation +methods and addresses. Donations are accepted in a number of other +ways including including checks, online payments and credit card +donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/17169-8.zip b/17169-8.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..cdc8f78 --- /dev/null +++ b/17169-8.zip diff --git a/17169-h.zip b/17169-h.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..d8b5846 --- /dev/null +++ b/17169-h.zip diff --git a/17169-h/17169-h.htm b/17169-h/17169-h.htm new file mode 100644 index 0000000..a2b895e --- /dev/null +++ b/17169-h/17169-h.htm @@ -0,0 +1,8423 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch. + </title> + <style type="text/css"> +/*<![CDATA[ XML blockout */ +<!-- + p { margin-top: .75em; + text-align: justify; + margin-bottom: .75em; + } + h1,h2,h3,h4,h5,h6 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both; + } + hr { width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: auto; + margin-right: auto; + clear: both; + } + + table {margin-left: auto; margin-right: auto;} + + body{margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + } + + .pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: smaller; + text-align: right; + } /* page numbers */ + + .linenum {position: absolute; top: auto; left: 4%;} /* poetry number */ + .blockquot{margin-left: 5%; margin-right: 10%;} + .sidenote {width: 20%; padding-bottom: .5em; padding-top: .5em; + padding-left: .5em; padding-right: .5em; margin-left: 1em; + float: right; clear: right; margin-top: 1em; + font-size: smaller; color: black; background: #eeeeee; border: dashed 1px;} + + .bb {border-bottom: solid 2px;} + .bl {border-left: solid 2px;} + .bt {border-top: solid 2px;} + .br {border-right: solid 2px;} + .bbox {border: solid 2px;} + + .center {text-align: center;} + .smcap {font-variant: small-caps;} + .u {text-decoration: underline;} + .tt {font-family: Arial, sans-serif; } + + .caption {font-weight: bold;} + + .figcenter {margin: auto; text-align: center;} + + .figleft {float: left; clear: left; margin-left: 0; margin-bottom: 1em; margin-top: + 1em; margin-right: 1em; padding: 0; text-align: center;} + + .figright {float: right; clear: right; margin-left: 1em; margin-bottom: 1em; + margin-top: 1em; margin-right: 0; padding: 0; text-align: center;} + + .footnotes {border: dashed 1px;} + .footnote {margin-left: 10%; margin-right: 10%; font-size: 0.9em;} + .footnote .label {position: absolute; right: 84%; text-align: right;} + .fnanchor {vertical-align: super; font-size: .8em; text-decoration: none;} + .comment {margin-left: 2%; margin-right: 2%;} + + .poem {margin-left:10%; margin-right:10%; text-align: left;} + .poem br {display: none;} + .poem .stanza {margin: 1em 0em 1em 0em;} + .poem span.i0 {display: block; margin-left: 0em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + .poem span.i2 {display: block; margin-left: 2em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + .poem span.i4 {display: block; margin-left: 4em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + // --> + /* XML end ]]>*/ + </style> + </head> +<body> + + +<pre> + +The Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Der Fall Deruga + +Author: Ricarda Huch + +Release Date: November 27, 2005 [EBook #17169] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA *** + + + + +Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online +Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + +<hr style="width: 65%;" /> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_1" id="Page_1">[1]</a></span></p> +<h1><a name="Der_Fall_Deruga" id="Der_Fall_Deruga"></a>Der Fall Deruga</h1> +<hr style="width: 65%;" /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_2" id="Page_2">[2]</a></span> +<br /> +<br /> +<br /> +<br /></p> +<h1>Der Fall Deruga</h1><p><br /><span class='pagenum'><a name="Page_3" id="Page_3">[3]</a></span></p> +<p><br /></p> +<h4>Roman</h4> +<p class="center">von</p> +<h3>Ricarda Huch</h3> +<p><br /> +<br /> +<br /> +<br /></p> +<p class="center">1917<br /> +<br /></p> +<h3>Verlag Ullstein & Co, Berlin/Wien</h3> +<p><br /></p> +<hr style='width: 45%;' /> +<p><br /><br /> +Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.<br /><span class='pagenum'><a name="Page_4" id="Page_4">[4]</a></span> +Amerikanisches Copyright 1917 by Ullstein & Co, Berlin.<br /> +</p> + +<hr style="width: 65%;" /> + +<h2>Inhalt</h2> + +<div style="margin-left: 20%;"> +<a href="#I"><b>Kapitel I.</b></a><br /> +<a href="#II"><b>Kapitel II.</b></a><br /> +<a href="#III"><b>Kapitel III.</b></a><br /> +<a href="#IV"><b>Kapitel IV.</b></a><br /> +<a href="#V"><b>Kapitel V.</b></a><br /> +<a href="#VI"><b>Kapitel VI.</b></a><br /> +<a href="#VII"><b>Kapitel VII.</b></a><br /> +<a href="#VIII"><b>Kapitel VIII.</b></a><br /> +<a href="#IX"><b>Kapitel IX.</b></a><br /> +<a href="#X"><b>Kapitel X.</b></a><br /> +<a href="#XI"><b>Kapitel XI.</b></a><br /> +<a href="#XII"><b>Kapitel XII.</b></a><br /> +<a href="#XIII"><b>Kapitel XIII.</b></a><br /> +<a href="#XIV"><b>Kapitel XIV.</b></a><br /> +<a href="#XV"><b>Kapitel XV.</b></a><br /> +<a href="#XVI"><b>Kapitel XVI.</b></a><br /> +<a href="#XVII"><b>Kapitel XVII.</b></a><br /> +<a href="#XVIII"><b>Kapitel XVIII.</b></a><br /> +<a href="#XIX"><b>Kapitel XIX.</b></a><br /> +<a href="#XX"><b>Kapitel XX.</b></a><br /> +</div> + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_5" id="Page_5">[5]</a></span></p> +<h2><a name="I" id="I"></a><tt>I.</tt></h2> + + +<p>»Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?« fragte +eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, »und warum hat der Angeklagte +zwei Anwälte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaustück.«</p> + +<p>»Wenn der Betreffende ein Anwalt wäre, liebes Kind, würde er einen Talar +tragen,« antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. »Aber wer es ist, kann +ich dir auch nicht sagen.« Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte +sich um und erklärte, der fragliche Herr sei der Angeklagte <tt>Dr.</tt> +Deruga.</p> + +<p>»Ist das möglich?« rief die Dame lebhaft, »wissen Sie das bestimmt?«</p> + +<p>Der alte Herr lachte vergnügt. »So bestimmt wie ich weiß, daß ich der +Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor +wohnt nämlich bei mir.«</p> + +<p>Die Dame machte große Augen. »Läßt man denn einen Mörder frei<span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6">[6]</a></span> +herumlaufen?« fragte sie. »Ich dachte, er wäre im Gefängnis. Ist es +Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu +haben?«</p> + +<p>»Ja, sehen Sie, gnädige Frau,« sagte der alte Mann, »der Herr Justizrat +Fein hat ihn bei mir eingeführt, weil er mich schon lange kennt und +seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat +so viel Vertrauen in mich setzt, daß er seine Geigen und Flöten von mir +reparieren und sein Töchterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir +nehmen läßt, so schickt es sich, daß ich auch wieder Vertrauen zu ihm +habe. Und er hat mir seinen Klienten wärmstens empfohlen, der sich bis +jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas +wunderlich.«</p> + +<p>»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind,« sagte der Ehemann, »daß ein +Angeklagter noch kein Verurteilter ist.«</p> + +<p>»Sehr richtig, sehr richtig,« sagte der Musikinstrumentenmacher und +wollte eben allerlei merkwürdige Fälle von Justizirrtümern erzählen,<span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[7]</a></span> +als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte.</p> + +<p>Sie finde es doch ungehörig, flüsterte die junge Dame ihrem Manne zu, +daß ein des Mordes Verdächtiger sich so frei bewegen dürfe, noch dazu +einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre.</p> + +<p>»Man soll sich hüten, nach dem Äußeren zu urteilen, liebes Kind,« sagte +der Ehemann. »Aber abgesehen davon würde ich auch diesem Menschen nicht +über den Weg trauen. Es ist merkwürdig, wie leichtgläubig und wie +ungeschickt im Auslegen von Physiognomien das Volk ist.«</p> + +<p>Die meisten Zuschauer hatten denselben ungünstigen Eindruck von +<tt>Dr.</tt> Deruga empfangen, der durch Nachlässigkeit in Kleidung und +Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal +durchwanderten, der Majestät und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten +schien.</p> + +<p>»Ich dachte, er hätte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen,« bemerkte +die junge Frau tadelnd gegen ihren Mann.</p> + +<p>»Aber, Kindchen,« entgegnete dieser, »wir haben doch auch nicht alle<span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[8]</a></span> +blaue Augen und blondes Haar.«</p> + +<p>»Er stammt aus Oberitalien,« mischte sich ein Herr ein, »wo der +germanische Einschlag sich bemerkbar macht.«</p> + +<p>Ein anderer fügte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen +Typus, nämlich den der verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen +Welschen, wie er seit dem frühen Mittelalter in der Vorstellung der +Deutschen gelebt habe.</p> + +<p>Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und +hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er +folgsam tat, um sein Gespräch mit dem Justizrat Fein von dort aus +fortzusetzen.</p> + +<p>»Sehen Sie, da kommt der Jäger vor dem Herrn, <tt>Dr.</tt> Bernburger,« +sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den +Zuschauerraum betrat. »Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren +geheftet, und eine gute Spürnase hat er, wie Sie sehen. Er <span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[9]</a></span>ist Ihr +gefährlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.«</p> + +<p>Deruga betrachtete <tt>Dr.</tt> Bernburger, der angelegentlichst in seine +Papiere vertieft schien.</p> + +<p>»Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gefährlich wie mir,« sagte er dann mit +freundlichem Spott, die große, bequeme Gestalt des Justizrats +betrachtend. »Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er +nicht ein so gemeiner Charakter wäre.«</p> + +<p>Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Geländer +stützend, das die Anklagebank abschloß: »Bringen Sie mich jetzt nicht +zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein +Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.«</p> + +<p>»Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel,« sagte Deruga, »ein feiner +Kopf, so möchte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht ähnlich?«</p> + +<p>»Benehmen Sie sich ähnlich,« sagte der Justizrat, »und halten Sie Ihre +Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie +glauben. Der Bernburger hat zweifellos <span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[10]</a></span>Material im Hinterhalt, mit dem +er uns überrumpeln will; also passen Sie auf!«</p> + +<p>»Aber ja,« sagte Deruga ein wenig ungeduldig. »Ihren Kopf behalten Sie +auf alle Fälle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als +mir.«</p> + +<p>Jetzt flogen die Türen im Hintergrunde des Saales auf, und der +Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat <tt>Dr.</tt> Zeunemann, +trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der +Luftzug hob den Talar des rasch Vorwärtsschreitenden, so daß seine +stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er grüßte mit einer +Gebärde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine +angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einflößte. Seine +Persönlichkeit erfüllte den bänglich feierlichen Raum mit einer gewissen +Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts +ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung wäre. Er rieb, nachdem er +sich gesetzt hatte, seine schönen, breiten, weißen Hände leicht +aneinander und ging dann an das Geschäft, indem <span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[11]</a></span>er die Auswahl der +Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder fühlte sich +von einer wohltätigen Macht an seinen Platz geschoben.</p> + +<p>»Meine Herren Geschworenen,« begann er, »es handelt sich heute um einen +etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz +zusammenfassend vorführen will.</p> + +<p>Am 2. Oktober starb hier in München, infolge eines Krebsleidens, wie man +annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach +ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren +Mädchennamen wiederangenommen. In ihrem Testament, das Anfang November +eröffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, <tt>Dr.</tt> Deruga, +zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich +belaufenden Vermögens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von +denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Kusine, die +nächste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse +zureichende Verdachtsgründe hin, die <span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[12]</a></span>Ihnen bekannt sind, veranlaßte das +Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, daß die +verstorbene Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines +furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war.</p> + +<p>Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ansässigen <tt>Dr.</tt> Deruga das +Gerücht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren +kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie +nannte, wären, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, daß das +Gericht bereits den Beschluß gefaßt habe, die Anklage auf Mord gegen ihn +zu erheben, und daß er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses +verschieben müsse. Unter diesen besonderen Umständen, da der Angeklagte +sich gewissermaßen selbst gestellt hatte, wurde angenommen, daß +Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen +abgesehen. Verdächtig machte den Angeklagten von vornherein, daß er sich +in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn +die Tatsache, daß er am Abend des 1. Oktober <span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[13]</a></span>vergangenen Jahres eine +Fahrkarte nach München löste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach +Prag in seine Wohnung zurückkehrte. Einen genügenden Alibibeweis +vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen.</p> + +<p>Dies sind also die Hauptgründe, die das Gericht bewogen haben, die +Anklage auf Totschlag zu erheben. Es wird angenommen, daß Deruga seine +geschiedene Frau aufsuchte, um Geld von ihr zu erbitten, beziehungsweise +zu erpressen, und daß er sie bei dieser Gelegenheit, irgendwie gereizt, +vielleicht durch eine Weigerung, tötete. Allerdings scheint der Umstand, +daß Deruga Gift bei sich gehabt haben muß, für einen überlegten Plan zu +sprechen. Allein das Gericht hat der Möglichkeit Raum gegeben, der +verzweifelte Spieler habe damit sich selbst vernichten wollen, wenn sein +letzter Versuch mißlänge, und nur in einem unvorgesehenen Augenblick der +Erregung davon Gebrauch gemacht.«</p> + +<p>Während des letzten Satzes hatte der Staatsanwalt vergebens versucht, +durch Verdrehungen seines hageren Körpers und Deutungen seines <span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[14]</a></span>knotigen +Zeigefingers die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich zu lenken. +»Verzeihung,« sagte er, indem er seinem langen, weißen Gesicht einen +süßlichen Ausdruck zu geben suchte, »ich möchte gleich an dieser Stelle +betonen, daß ich persönlich dieser Möglichkeit nicht Raum gebe. Warum +hätte der Mann es denn so eilig mit dem Selbstmorde gehabt? Er amüsierte +sich viel zu gut im Leben, um es so Hals über Kopf wegzuwerfen.</p> + +<p>Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß der Angeklagte auf das +erstmalige Befragen des Untersuchungsrichters die abscheuliche Untat +eingestand, oder, besser gesagt, sich ihrer rühmte, um sie mit ebenso +großer Dreistigkeit hernach zu leugnen.«</p> + +<p>»Jawohl, jawohl, wir kommen darauf zurück,« sagte der Vorsitzende mit +einer Handbewegung gegen den Staatsanwalt, wie wenn ein Kapellmeister +etwa einen vorlauten Bläser beschwichtigt. »Ich will zunächst den +Angeklagten vernehmen.«</p> + +<p>»Sie müssen aufstehen,« flüsterte der Justizrat seinem Klienten zu, der +mit schläfriger Miene den Saal und das Publikum betrachtete.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[15]</a></span>»Aufstehen, ich?« entgegnete dieser erstaunt und beinahe entrüstet. +»Nun also auch das. Stehen wir auf,« fuhr er fort, erhob sich langsam +und heftete einen scharf durchdringenden Blick auf den Präsidenten; man +hätte meinen können, er sei ein Examinator und <tt>Dr.</tt> Zeunemann ein +zu prüfender Kandidat.</p> + +<p>»Sie heißen Sigismondo Enea Deruga,« begann der Vorsitzende das Verhör, +die beiden klangvollen Vornamen durch eine ganz geringe Dosis von Pathos +hervorhebend, die genügte, die Zuhörer zum Lachen zu bringen. Deruga +warf einen stechenden Blick in die Runde. »Ist es hier etwa ein +Verbrechen, nicht Johann Schulze oder Karl Müller zu heißen?« sagte er.</p> + +<p>»Beantworten Sie bitte schlechtweg meine Fragen,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann kühl. »Sie heißen Sigismondo Enea Deruga, sind in Bologna +geboren und sechsundvierzig Jahre alt. Stimmt das?«</p> + +<p>»Jawohl.«</p> + +<p>»Sie haben in Bologna, Padua und Wien Medizin studiert und sich erst in +Linz, dann in <span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[16]</a></span>Wien niedergelassen, nachdem Sie dort das Heimatrecht +erworben hatten. Stimmt das?«</p> + +<p>»Es wäre wirklich eine Schande,« sagte Deruga, »wenn Sie nach vier +Monaten nicht einmal das richtig herausgebracht hätten.«</p> + +<p>»Ich erinnere Sie nochmals, Angeklagter,« sagte der Vorsitzende, den das +sich erhebende Gelächter ein wenig ärgerte, »daß Sie sich an die kurze +und klare Beantwortung der an Sie gerichteten Fragen zu halten haben. Es +ist Ihre Schuld, daß sich die Voruntersuchung so lange hingezogen hat. +Ich ergreife die Gelegenheit, Ihnen einen ernstlichen Vorhalt zu machen. +Sie befolgen augenscheinlich den Grundsatz, das Gericht durch +Ungehörigkeiten und Wunderlichkeiten hinzuhalten und irrezuführen. Sie +verschlimmern dadurch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu erreichen. Die +Untersuchung nimmt ihren sicheren Gang trotz aller Steine, die Sie auf +ihren Weg werfen. Sie stehen unter einer schweren Anklage und täten +besser, anstatt die gegen Sie zeugenden Momente durch ungebärdiges und +zügelloses Betragen zu verstärken, <span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[17]</a></span>den Gerichtshof und die Herren +Geschworenen durch Aufrichtigkeit in ihrer dornigen Arbeit zu +unterstützen und für sich einzunehmen. Sie befinden sich in einem Lande, +wo die Justiz ihres verantwortungsvollen Amtes mit unerschütterlicher +Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit waltet. Der Höchste und der +Niedrigste findet bei uns nicht mehr und nicht weniger als +Gerechtigkeit. Wir erwarten dagegen vom Höchsten wie vom Niedrigsten +diejenige Ehrfurcht, die einer so heiligen und würdigen Institution +zukommt. Der Gebildete sollte sie uns freiwillig darbringen; aber im +Notfall wissen wir sie zu erzwingen.«</p> + +<p>»Ja, ja,« sagte Deruga gutmütig, »nur zu, ich werde schon antworten.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen, +und fuhr fort: »Sie verheirateten sich im Jahre 18.. mit Mingo Swieter +aus Lübeck, erzielten aus dieser Ehe ein Kind, eine Tochter, die +vierjährig starb, und kurz darauf, vor jetzt siebzehn Jahren, wurde die +Ehe geschieden. Als Grund ist böswillige Verlassung von seiten der Frau +angegeben, und zwar hat <span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[18]</a></span>Frau Swieter das Wiener Klima vorgeschützt, +welches sie nicht vertragen könne. In Wirklichkeit sollen Ihr +unverträglicher Charakter und Ihr unberechenbares Temperament, das zu +Gewalttaten neigt, Ihre Frau zu diesem Schritt veranlaßt haben.«</p> + +<p>Da <tt>Dr.</tt> Zeunemann bei diesen Worten fragend zu <tt>Dr.</tt> Deruga +hinübersah, sagte dieser: »Es wird das beste sein, wenn Sie sich +schlechtweg an die in den Akten befindlichen Angaben halten.«</p> + +<p>Der Vorsitzende unterdrückte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen +fort: »Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und +übten dort Ihre Praxis aus, während Frau Swieter sich in München +niederließ, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf +weitere Daten werden wir gelegentlich zurückkommen. Erzählen Sie uns +jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.«</p> + +<p>»Da ich kein Tagebuch führe,« sagte <tt>Dr.</tt> Deruga laut, »noch meine +täglichen Verrichtungen durch einen Kinematographen oder ein Grammophon +<span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[19]</a></span>aufnehmen lasse, ist es mir leider unmöglich, Ihnen den Verlauf des +Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben +gefrühstückt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach +eine Stunde im Café gesessen haben. Dann werde ich in der Sprechstunde +mehrere Exemplare der mir sehr unsympathischen Gattung Mensch untersucht +haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanständige +Dame zu besuchen. In der Nähe des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen, +der mich fragte, ob ich auch in den ärztlichen Verein ginge. Ich sagte, +ich könne leider nicht, da ich verreisen müsse. Worauf er mich bis zum +Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach München, +weil ich ja sonst meine Lüge hätte zugestehen müssen, und auch weil mir +eingefallen war, daß auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher +wäre, nicht kompromittiert zu werden.«</p> + +<p>»Weigern Sie sich nach wie vor,« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »den Namen +dieser hochanständigen Dame zu nennen?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[20]</a></span>»Ich habe ja schon gesagt, daß mir daran liegt, sie nicht zu +kompromittieren,« antwortete Deruga.</p> + +<p>»Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann +warnend, »daß Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen Füßen steht. +Sollte eine Dame zulassen, daß sich ein Freund um ihretwillen in solche +Gefahr begibt? Da möchte man schon lieber annehmen, daß diese Dame gar +nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der +Wahrscheinlichkeit. Daß Sie eine Dame besuchten und Tage und Nächte bei +ihr zubrachten, wäre an sich bei Ihrer Lebensführung nicht unglaublich. +Auch das mag hingehen, daß Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu +kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gewählt haben +wollen, kann man nur als ungeeignet und lächerlich bezeichnen. Jemand, +der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht +zweiunddreißig Mark für eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.«</p> + +<p>»Einunddreißig Mark fünfundsiebzig Pfennig,« verbesserte Deruga.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[21]</a></span>»Die Karte von Prag nach München kostet zweiunddreißig Mark,« sagte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann scharf.</p> + +<p>»Der umgekehrte Weg ist fünfundzwanzig Pfennige billiger,« beharrte +Deruga.</p> + +<p>»Lassen wir den Wortstreit,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Man wirft auch +einunddreißig Mark und fünfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in +Geldverlegenheiten ist.«</p> + +<p>»Ein verständiger Deutscher wohl nicht,« entgegnete Deruga, »aber ich +habe größere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. Übrigens war +ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt rang die Hände und wendete die Blicke nach oben, wie +wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte. +Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, daß der Angeklagte +genug Geld für eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt hätte.</p> + +<p>Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll +Geld hervor <span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[22]</a></span>und zählte: »Sechzig, dreiundsechzig, siebzig, +vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich könnte auf der Stelle nach Prag +reisen, wenn ich es nicht vorzöge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu +bleiben.«</p> + +<p>»Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?« rief +der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen +kreischenden Ton annahm.</p> + +<p>»O, dazu reichte es bei weitem nicht,« lachte Deruga. »Ich hatte nur so +viel, um meine täglichen Bedürfnisse zu befriedigen.«</p> + +<p>Der Vorsitzende erklärte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung +für beendet. »Sie bleiben also dabei, Angeklagter,« fragte er, »daß Sie +zum Schein eine Fahrkarte nach München lösten. Was brachte Sie gerade +auf München?«</p> + +<p>»Das ist eine schwierige Frage,« sagte Deruga. »Hätte ich eine Karte +nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebensogut stellen. +Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante +Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie +gefühls<span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[23]</a></span>betont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und +Rachenkrankheiten.«</p> + +<p>»Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gelöst hatten?« fragte der +Vorsitzende weiter.</p> + +<p>»Ich stellte mich an die Barriere,« erzählte Deruga, »ging, als sie +geöffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels +einer vorher gelösten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon +öfters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober +blieb.«</p> + +<p>»Die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. +»Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner +Praxis wegbleiben?«</p> + +<p>»Ich bin der Ansicht,« sagte Deruga, »daß nicht ich für die Praxis da +bin, sondern daß die Praxis für mich da ist.«</p> + +<p>»Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt,« meinte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann.</p> + +<p>»Warum?« antwortete Deruga leichthin. »Die meisten Patienten können sehr +gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchten überhaupt <span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[24]</a></span>nicht zu +kommen. Wichtige Fälle hatte ich damals nicht.«</p> + +<p>»Ihre Patienten waren allerdings nicht verwöhnt,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann. »In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren, +weil sie nachlässig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren. +Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, daß Sie außer der Zeit, ohne +Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen +Aussage, die von Ihrer Haushälterin bestätigt wurde, am 3. Oktober kurz +vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beiläufig sei bemerkt, daß der +von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag +eintrifft. Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten +zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht +auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertrösten lassen. Sie weigerten sich +aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert +gewesen wären, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer +<span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[25]</a></span>Haushälterin, müde wären und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt +bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame muß also sehr anstrengend +gewesen sein.«</p> + +<p>»Ich finde Frauen immer anstrengend,« sagte Deruga, »besonders wenn sie +dumm sind.«</p> + +<p>»Nehmen wir also an,« sagte der Vorsitzende, während der Staatsanwalt +die Hände rang und seine unter diabolisch geschwänzten Brauen fast +verschwindenden Augen zum Himmel richtete, »daß die Ihnen befreundete +Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen +wichtigen Punkt über! Wollen Sie erzählen, wann und wie Sie von dem +Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die +verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Vermögens einsetzte!«</p> + +<p>»Anfang November,« sagte Deruga, »das Datum habe ich mir nicht gemerkt, +durch die zuständige Behörde.«</p> + +<p>»Sie sollen«, sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »Ihr Erstaunen und Ihre Freude +lebhaft geäußert haben. Ich bemerke,« wiederholte er mit Nachdruck +<span class='pagenum'><a name="Page_26" id="Page_26">[26]</a></span>gegen die Geschworenen, »daß andere Personen dies bezeugen: Erstaunen +und Freude.«</p> + +<p>»O, edler Richter, wack'rer Mann,« sagte Deruga lächelnd.</p> + +<p>»Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen,« sagte der Vorsitzende. »Es +ist bereits halb zwölf Uhr, und ich möchte bis zur Mittagspause mit +Ihrem Verhör zu einem vorläufigen Ende kommen. Erzählen Sie uns bitte, +wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu +Ohren kam!«</p> + +<p>»Durch einen sehr anständigen Menschen,« begann Deruga, »sehr anständig +und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinhändler +ist. Der Mann heißt Tommaso Verzielli und kam vor fünfzehn Jahren als +ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine fünfjährige Gefängnisstrafe +verbüßt hatte. Er hatte nämlich einen Polizisten niedergestochen, der +eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem Bäckerladen ein +Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zurück, +denn unter Deutschen, sagte er, würde er doch nicht <span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[27]</a></span>aus dem Gefängnis +herauskommen, weil er fortwährend Dinge mit ansehen müßte, wobei ihm das +Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein, +und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerreißen +lassen, sie wären einander wert, und es wäre um keinen schade. Er solle +heiraten und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und +außerdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und +anderen Lebensmitteln anzufangen, und schoß ihm ein kleines Kapital dazu +vor. Das hat er mir längst zurückgestellt, denn durch Fleiß und +Intelligenz brachte er sich schnell in die Höhe, aber er widmet mir +immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm täglich neu das Leben +schenkte.</p> + +<p>Dieser Verzielli also kam Mitte November am späten Abend in voller +Aufregung zu mir gelaufen und erzählte mir, der italienische Konsul, +Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei +bei ihm gewesen — Verzielli hat nämlich jetzt ein sehr feines +Restaurant — und habe sich unter der Hand <span class='pagenum'><a name="Page_28" id="Page_28">[28]</a></span>nach mir erkundigt und als +tiefstes Geheimnis verraten, daß ich als Mörder meiner geschiedenen Frau +verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war außer sich und bot mir sein +ganzes Vermögen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. 'Deruga und +fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund,' sagte ich und lief +sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte +Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur +Rede, und da ich von ihm keine genügende Auskunft bekam, reiste ich +hierher, um den Ursprung des infamen Gerüchtes kennenzulernen.«</p> + +<p>»Es mußte Ihnen mitgeteilt werden,« fiel <tt>Dr.</tt> Zeunemann ein, »daß +das Gericht bereits beschlossen hätte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu +erheben, und daß Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung +des Prozesses zu verschieben hätten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich +nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit +erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem +Untersuchungsrichter gegenüber in <span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[29]</a></span>bedenklicher Weise. So haben Sie +zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen wären, die +Antwort verweigert. Dann haben Sie erzählt, Sie wären in der Absicht, +sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt +ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in +eine ganz einsame Gegend gekommen wären. An einem Flusse hätten Sie +lange gelegen und mit sich gekämpft, bis Sie darüber eingeschlafen +wären. Nach vielen Stunden festen Schlafes wären Sie ernüchtert +aufgewacht, hätten sich noch eine Weile herumgetrieben und wären dann +heimgefahren. Schließlich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen +Dame auf. Der Born der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.«</p> + +<p>»Nicht so wie Sie meinen,« sagte Deruga. »Ich wollte nur den +Untersuchungsrichter ärgern und kann wohl sagen, daß mir das gelungen +ist. Er hat beinah Nervenkrämpfe bekommen.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann ließ eine Pause verstreichen, bis das Gelächter im +Publikum verstummt war, und sagte dann: »Es wundert mich, daß ein <span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[30]</a></span>Mann +in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch +benehmen mag — oder so töricht, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen +Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen +und irrezuführen.«</p> + +<p>»Sind Sie schon einmal von einem täppischen Untersuchungsrichter +ausgefragt worden?« fragte Deruga. »Nein, wahrscheinlich nicht. Also +können Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen würden. +Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine +beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie +der gesunde Mensch sein soll. Alle Erschütterungen durch häßliche +Eindrücke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen durch +eine tadellose Verdauung geregelt, so daß Sie sich immer im stabilen +Gleichgewicht befinden; <i>ich</i> dagegen bin unendlich reizbar.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen, +aber ohne genügenden Nachdruck. »Sie haben wohl auch mehr Ursache +unruhig zu sein als ich,« sagte er jetzt mit leichter <span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[31]</a></span>Ironie. +»Vielleicht würden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es einmal mit +vollkommener Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre +Winkelzüge zu reizen.«</p> + +<p>»Sie, Herr Präsident, will ich nicht ärgern, darauf können Sie sich +verlassen,« sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden Tone, +wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anschlägt.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich,« flüsterte Justizrat +Fein seinem Klienten zu, als gleich darauf die Sitzung aufgehoben wurde. +Von dort aus gingen sie zusammen durch ein rückwärtiges Portal in die +Anlagen, die auf eine stille Straße ohne Geschäftsverkehr führten. Vor +einem mit Gesträuch bewachsenen Hange blieb der Justizrat stehen, +stocherte mit der Spitze seines Regenschirmes in der alten, +feucht-verklebten Blätterdecke und sagte: »Da muß es bald +Schneeglöckchen und Krokus geben; ich will ihnen den Weg ein wenig frei +machen.«</p> + +<p>»Kommen Sie, kommen Sie,« sagte Deruga, den Justizrat am Arm ziehend. +»Die finden <span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[32]</a></span>ihren Weg ohne Sie. Sagen Sie, kann ich heute nachmittag +während der Sitzung nicht lesen oder noch lieber schlafen? Das Zeug +langweilt mich unbeschreiblich, Sie könnten mir ja einen Stoß geben, +wenn ich mich betätigen muß.«</p> + +<p>»Machen Sie keine Dummheiten,« sagte der Justizrat; »heute nachmittag +wird wahrscheinlich der Hofrat von Mäulchen vernommen, der sehr schlecht +für Sie aussagen wird. Sie müssen also aufpassen, ob Sie ihm nicht +Ihrerseits etwas am Zeuge flicken können.«</p> + + +<p>»Am Zeuge flicken!« rief Deruga aus. »Umbringen möchte ich ihn. Ich +hasse diesen Menschen, vielmehr diesen rosa Wachsguß über einer Kloake.«</p> + +<p>»Hören Sie, Deruga,« sagte der Justizrat. »Ich verstehe Sie öfters +nicht, doch das am wenigsten, wie Sie einem Menschen Geld schuldig +bleiben mochten, den Sie haßten. Sie hätten doch das Geld auch von +anderer Seite haben können, zum Beispiel von dem guten Verzielli.«</p> + +<p>»Wahrscheinlich hätte es Ihr Ehrgefühl verletzt, einem verhaßten +Menschen Geld zu schulden,« <span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[33]</a></span>sagte Deruga. »Sehen Sie, bei mir ist das +anders. Mir machte es Vergnügen zu sehen, was für Angst er um seine +Taler hatte, und wie er sich quälte, die Angst nicht merken zu lassen, +sondern den Anschein zu wahren, als wäre es ihm ganz gleichgültig. Denn +er will erstens für unermeßlich reich und zweitens für sehr weitherzig +in Geldsachen gelten. Hätte ich Geld im Überfluß gehabt, würde ich ihn +wahrscheinlich doch nicht ausbezahlt haben, um ihn zappeln zu sehen.«</p> + +<p>»Ich glaube, Sie können fürchterlich hassen,« sagte der Justizrat +nachdenklich, indem er den Doktor nicht ohne Bewunderung von der Seite +betrachtete.</p> + +<p>Dieser lachte herzhaft und ausgiebig wie ein Kind. »Das kann ich +allerdings,« sagte er. »Ich möchte manchmal einem ein Messer im Herzen +herumdrehen, nur weil mir seine Mundwinkel nicht gefallen. Ich will mich +aber heute nachmittag Ihnen zuliebe zusammennehmen, so gut ich kann.«</p> + +<p>»Ja, darum bitte ich,« sagte der Justizrat, »ich fühle mich doch etwas +verantwortlich für Sie.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[34]</a></span>Hofrat von Mäulchen erschien in gewählter Kleidung, in einen +angenehmen, mondänen Duft getaucht, mit dem leichten und sicheren Gang +dessen, den allgemeine Beliebtheit trägt, im Schwurgerichtssaale. Die +Eidesformel, die der Präsident ihm vorsprach, wiederholte er mit +liebenswürdiger Gefälligkeit und einem leicht fragenden Ausklang, so, +als wolle er sich bei jedem Satz vergewissern, ob es dem Vorsitzenden +und dem lieben Gott so auch recht wäre.</p> + +<p>»Der Angeklagte,« begann <tt>Dr.</tt> Zeunemann das Verhör, als alle +Förmlichkeiten abgetan waren, »ist Ihnen seit Mai 19.., also seit fünf +Jahren, sechstausend Mark schuldig. Wollen Sie, bitte, erzählen, wie Sie +den Angeklagten kennenlernten, und wie es kam, daß er das Geld von Ihnen +borgte!«</p> + +<p>»Beides ist schnell getan,« sagte der Hofrat. »Ich lernte Deruga im +ärztlichen Verein kennen, außerdem hat er mich gelegentlich einer +kleinen Wucherung in der Nase behandelt. Kollegen empfahlen ihn mir, +weil er eine besonders leichte Hand habe, was meine eigene Erfahrung +be<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[35]</a></span>stätigt hat. Es handelte sich bei mir allerdings um einen sehr +einfachen Fall, aber auch darin kann man ja seine Fähigkeiten beweisen. +Gewisse kleine Originalitäten und Wunderlichkeiten hatte er an sich, zum +Beispiel erinnere ich mich, daß er mich immer in der Erwartung hielt, +als käme etwas außerordentlich Schmerzhaftes, was doch gar nicht der +Fall war. Ich habe sagen hören, daß er nach Belieben, sagen wir nach +Laune, die Patienten ganz schmerzlos oder sehr grob behandelte. Aber das +gehört eigentlich nicht hierher, und so weit meine persönliche Erfahrung +reicht, kann ich ihn als Arzt nur loben. Als ich nun gelegentlich eine +Bemerkung über die schäbige Ausstattung seines Wartezimmers machte, +sagte er mir, er habe kein Geld, um sich so einzurichten, wie er möchte, +worauf ich ihm, einem augenblicklichen Gefühl folgend, so viel anbot, +wie er brauchte. Ich bin vielleicht kein sehr besonnener Rechner,« +schaltete der Hofrat mit einem Lächeln ein, »aber in diesem Falle, einem +Kollegen und tüchtigen Arzt gegenüber, glaubte ich gar nichts zu +riskieren.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[36]</a></span>»Hat der Angeklagte das Geld für eine neue Einrichtung verwendet?« +fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Darüber kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen,« antwortete der +Hofrat. »Es wurde mir später einmal zugetragen, geschwatzt wird ja viel, +die Sessel seines Wartezimmers würden immer schäbiger; +begreiflicherweise habe ich es aber vermieden, ihn aufzusuchen und mich +darüber zu unterrichten.«</p> + +<p>»Wollen Sie sich dazu äußern?« wendete sich der Vorsitzende gegen +Deruga. »Haben Sie sich für das geliehene Geld Ihr Wartezimmer neu +eingerichtet?«</p> + +<p>»Gehört das hierher?« fragte Deruga. »Ich glaubte immer, man könne sein +Geld verwenden, wie man wolle, einerlei, ob es geliehen oder gestohlen +ist.«</p> + +<p>»Sie verweigern also die Antwort?«</p> + +<p>»Soviel ich mich erinnere,« sagte Deruga mürrisch, »habe ich +Instrumente, moderne Apparate, einen Operationsstuhl und dergleichen +dafür gekauft.«</p> + +<p>»Sie haben,« setzte der Präsident die Zeugen<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[37]</a></span>vernehmung fort, »im Laufe +der nächsten Jahre den Angeklagten niemals gemahnt?«</p> + +<p>»Bewahre,« erwiderte der Hofrat. »Einen Kollegen! Überhaupt würde ich +das ohne genügende Gründe niemals tun. Ich hatte das Geld eigentlich +schon verloren gegeben, denn das Gerede ging, als betriebe Deruga seine +Praxis nur nachlässig und führe ein sehr ungeregeltes Leben. Ich habe +übrigens, wie ich gleich vorausschicken will, der Wahrheit dieses +Geredes nicht nachgeforscht und bitte, keine Schlüsse daraus zu ziehen.«</p> + +<p>»So gehen wir ohne weiteres zu dem Anlaß über,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann, »der Sie bewog, das Geld zurückzufordern. Wollen Sie den +Vorgang im Zusammenhang erzählen!«</p> + +<p>»Im September vorigen Jahres,« berichtete der Hofrat, »traf ich mit +Deruga in dem schon erwähnten ärztlichen Verein zusammen, nachdem ich +ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen und das Geld sozusagen vergessen +hatte. Er rief mir über den Tisch hinüber in ziemlich formloser Weise +zu, er wolle eine Patientin, von der er <span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[38]</a></span>glaube, daß sie ein +Unterleibsleiden habe, zu mir schicken, ich solle sie untersuchen und +nötigenfalls behandeln, aber umsonst, zahlen könne sie nicht. Mehr über +seine Art und Weise als über die Sache selbst verstimmt, erwiderte ich, +wie ich gern glauben will, ein wenig kühl, ich sei mit Arbeit sehr +überhäuft, die Kranke könne ja zu dem in Betracht kommenden Kassenarzt +gehen. Darauf wurde Deruga kreideweiß im Gesicht und überhäufte mich mit +einem Schwall von Beleidigungen, wie, daß ich es nur auf Geldmacherei +abgesehen hätte, der Arzt für Kommerzienrätinnen und fürstliche Kokotten +wäre und dergleichen mehr, was ich nicht wiederholen will. Ich möchte +bemerken, daß ich glaube, wie ungerecht seine Beschuldigungen auch waren +und wie unpassend auch die Form war, wie er sie erhob, er machte sie +<tt>bona fide</tt>. Er hatte die Meinung, ich sei gemütlos und strebte nur +nach klingendem Erfolg und äußerem Glanz, vielleicht weil ihm infolge +einer gewissen volkstümlichen oder zigeunerhaften Veranlagung der Sinn +für geregeltes bürgerliches Leben mit seinen <span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[39]</a></span>traditionellen Begriffen +von Anstand und Ehre überhaupt abgeht. In jenem Augenblick vermochte ich +mich zu dieser objektiven Ansicht nicht zu erheben, sondern, ich gestehe +es, ich fühlte mich verletzt und im Innersten empört.«</p> + +<p>»Beinah wäre der rosa Wachsguß geschmolzen,« flüsterte Deruga dem +Justizrat zu.</p> + +<p>»Ohne mein entrüstetes Gefühl zu zügeln oder es nur zu wollen, +antwortete ich heftig, er habe am wenigsten Ursache, mir derartige +Vorwürfe zu machen, da ich ihm bereitwillig ausgeholfen und den Verlust +nicht nachgetragen hätte. Ich hätte ihn damals für zahlungsfähig +gehalten, sagte er boshaft, sonst würde ich ihm nichts geborgt haben. +Allerdings, sagte ich, hätte ich einen Kollegen für so ehrenhaft +gehalten, daß er seine Schulden bezahlte, und da er mich nun selbst +herausfordere, solle er es auch tun. Der Streit wurde dann durch mehrere +Kollegen, die sich ins Mittel legten, geschlichtet. Bevor wir uns +trennten, sagte ich zu Deruga, er solle das, was ich vorhin in heftiger +Aufwallung gesagt hätte, nicht so auffassen, als wolle ich ihn drängen. +<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[40]</a></span>Erlauben Sie mir bitte, festzustellen, daß ich der ganzen Sache aus +freien Stücken niemals in der Öffentlichkeit Erwähnung getan haben +würde!«</p> + +<p>»Darf ich bitten,« sagte Justizrat Fein, sich an den Zeugen wendend, +»Sie sind nachher mit keinem Wort und mit keiner Andeutung auf die +Geldangelegenheit zurückgekommen?«</p> + +<p>»Nein, durchaus nicht,« antwortete der Hofrat. »Es tat mir im Gegenteil +leid, daß ich mir in der Erregung die Mahnung hatte entschlüpfen +lassen.«</p> + +<p>»Also«, sagte der Justizrat, »war die Lage für <tt>Dr.</tt> Deruga nicht +im mindesten verändert, und es liegt kein Grund zu der Behauptung vor, +er habe sich durchaus Geld verschaffen müssen, um die fällige Schuld zu +bezahlen.«</p> + +<p>»Ich bitte sehr,« rief der Staatsanwalt, »durch den Vorfall im +ärztlichen Verein war das Schuldverhältnis einer ganzen Reihe von +Kollegen bekannt geworden; das ist denn doch eine erhebliche Veränderung +der Lage. So viel Ehrgefühl dürfen wir doch bei einem jeden <span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[41]</a></span>gebildeten +Manne voraussetzen, daß ihm das nicht gleichgültig war.«</p> + +<p>»Nehmen wir, bitte, <tt>Dr.</tt> Deruga wie er ist, und nicht, wie er nach +der Meinung anderer sein sollte. Da es ihm nichts ausmachte, dem Hofrat +von Mäulchen Geld schuldig zu bleiben, für den er augenscheinlich keine +besondere Vorliebe hatte, lag ihm wahrscheinlich sehr wenig daran, daß +ein paar andere Kollegen, mit denen er, wie es scheint, ganz gut stand, +davon wußten. Jedenfalls, wenn er früher so dickfellig in diesem Punkt +war, wird er nicht plötzlich so empfindlich geworden sein, daß er ein +Verbrechen beging, um sich aus der Klemme zu ziehen.«</p> + +<p>Die gemächliche Grandezza, mit der der Justizrat dastand, die Wucht +seiner massigen Gestalt und seines großgeformten, ruhigen Gesichtes +überzeugten noch wirksamer als seine Worte und brachten seinen +zappeligen Gegner außer Fassung.</p> + +<p>»Ja, wenn der Mensch immer so folgerichtig wäre!« sagte er heftig. +»Dafür, daß Männer lieber Verbrechen begehen, als einen Fleck auf <span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[42]</a></span>ihrer +sogenannten bürgerlichen Ehre dulden, finden sich viele Beispiele.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand.</p> + +<p>»Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zunächst noch gar +nicht zugemutet,« sagte er. »Wenn er seine geschiedene Frau um Geld +anging, so war das höchstens taktlos, und es ist um so weniger +auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, daß er diese +Hilfsquelle öfters in Betracht zog. Halten Sie,« wendete er sich an den +Hofrat, »die Schuld für ein Motiv, das stark genug gewesen wäre, den +Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungewöhnliche oder +bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld zu +setzen?«</p> + +<p>»Ich muß sehr bitten,« wehrte der Hofrat ab, »mir die Antwort zu +erlassen. Ich schrecke um so mehr davor zurück, ein Urteil darüber zu +äußern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit +der Psyche Derugas nicht vertraut, könnte mich nur in Phantasien +ergehen, aber selbstverständlich bin ich eher geneigt, <span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[43]</a></span>Gutes als +Schlechtes von einem Kollegen zu denken.«</p> + +<p>»Sie waren,« fuhr der Vorsitzende fort, »derjenige Kollege, dem der +Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der Nähe des +Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ärztlichen Verein +wolle?«</p> + +<p>»Jawohl,« sagte der Hofrat. »Ich stellte die Frage, weil ich mich nach +dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte. +Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir +ja in der Nähe des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe +fiel mir auf, weil es größer war, als Herren unserer Gesellschaftskreise +solche zu tragen pflegen.«</p> + +<p>Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein +Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei.</p> + +<p>»Ich erlaubte mir allerdings,« sagte Deruga, »als ein armer Teufel, der +sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von +Mäulchen gehören zu wollen, ein Paket zu tragen. <span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[44]</a></span>Darin wird Wäsche und +dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, daß festgestellt +werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte, +ein Paket bei sich gehabt habe.</p> + +<p>»Die Haushälterin wird gleich vernommen werden,« sagte der Vorsitzende. +»Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und +Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. Können Sie sonst etwas +Sachdienliches mitteilen?«</p> + +<p>»Nein, durchaus nicht,« beteuerte der Hofrat. »Gerüchte und +Schwätzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja +mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten +Fällen nicht in Betracht gezogen werden sollte.«</p> + +<p>»Vielleicht könnten Sie doch sagen,« fragte der Vorsitzende, »was für +einen Ruf <tt>Dr.</tt> Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen genoß?«</p> + +<p>»Ich glaube nicht, daß meine diesbezüglichen Mitteilungen einen +namhaften Wert für Sie <span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[45]</a></span>hätten,« entschuldigte sich der Hofrat. »Aus +dem, was ich erzählt habe, läßt sich ja schon mancherlei schließen. Den +sicheren Boden der Tatsachen möchte ich nicht verlassen.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Weinhändler Verzielli, der nächste Zeuge, war ein untersetzter, +dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest auf +den Präsidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit +lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete.</p> + +<p>»Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?« fragte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Befreundet, sehr befreundet,« sagte Verzielli eifrig.</p> + +<p>»Aber nicht verwandt?« wiederholte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Leider nicht,« sagte Verzielli, »aber sehr befreundet. Ich liebe und +bewundere ihn.«</p> + +<p>»Sie fühlten sich ihm zu Dank verpflichtet,« sagte der Vorsitzende +freundlich, »weil er durch einen guten Rat und auch durch eine +Geldsumme, die er Ihnen vorschoß, Ihr Glück begründet hatte?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[46]</a></span>»Ach, Rat und Kapital, das ist nicht die Hauptsache,« rief Verzielli +aus. »Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist +edel und hilfsbereit.«</p> + +<p>»Sie konnten ihm das Geliehene bald zurückgeben,« fuhr der Vorsitzende +fort, »und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld geborgt?«</p> + +<p>»Das ist ja gar nicht der Rede wert,« sagte Verzielli, Kopf und Hand +schüttelnd, »wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. Übrigens hat er +mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedrängt. Er verstand ja +nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.«</p> + +<p>»Hat er Ihnen jemals Geld zurückgezahlt?«</p> + +<p>»O ja,« rief Verzielli stolz, »auch in bezug auf das Rückständige fragte +er mich öfters, ob ich es brauche. Aber wozu hätte ich es brauchen +sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm +immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiedergäbe. +Meine Frau war auch der Meinung, man dürfe ihn nicht drängen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[47]</a></span>»Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige Schenkungen +oder eine etwaige Erbschaft von seiten seiner geschiedenen Frau +vertröstet?«</p> + +<p>»Zu vertrösten brauchte er mich nicht,« sagte Verzielli ein wenig +gereizt. »Aber natürlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau +und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind sehr +geliebt. Meine Frau und ich haben oft geweint, wenn er davon sprach.«</p> + +<p>Er zog bei diesen Worten ein großes, buntes Taschentuch hervor und fuhr +sich damit über Stirn und Augen, sei es um sich Tränen oder Schweiß +damit zu trocknen.</p> + +<p>»Ich bitte Sie,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann freundlich, »genau auf meine +Fragen zu achten und sie kurz und deutlich zu beantworten. Hat der +Angeklagte Ihnen zuweilen von einer Aussicht gesprochen, Geld von seiner +geschiedenen Frau zu erhalten, sei es bei ihren Lebzeiten oder nach +ihrem Tode?«</p> + +<p>»Ich glaube,« sagte Verzielli, sein Taschentuch quetschend, »er sagte +gelegentlich einmal, seine <span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[48]</a></span>geschiedene Frau sei reich, und er sei +überzeugt, sie würde ihm geben, was er brauchte, wenn er sie darum +bäte.«</p> + +<p>»Erinnern Sie sich, wann er Ihnen das gesagt hat?«</p> + +<p>»Ich glaube,« sagte Verzielli, »daß es in der letzten Zeit nicht gewesen +ist.«</p> + +<p>»Wir kommen jetzt,« sagte der Vorsitzende, nach einem leichten Räuspern +die Stimme hebend, »zu einem sehr wichtigen Punkt, und ich fordere Sie +auf, Herr Verzielli, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Gedächtnis energisch +zusammenzufassen. Denken Sie vor allen Dingen nicht daran, welche Folgen +Ihre Aussagen für den Angeklagten haben könnten, sondern nur daran, daß +Sie einen Eid geschworen haben, die Wahrheit zu sagen!«</p> + +<p>Verzielli richtete sich stramm auf, blickte dem Vorsitzenden fest ins +Auge und umfaßte krampfhaft sein Taschentuch.</p> + +<p>»Erzählen Sie uns genau mit allen Einzelheiten, wie es sich begab, daß +Sie von dem Gerücht, <tt>Dr.</tt> Deruga habe seine Frau ermordet, +erfuhren, und daß Sie ihn davon in Kenntnis setzten!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[49]</a></span>Verzielli schwieg und starrte angelegentlich in einen Winkel, +augenscheinlich bemüht, seine Gedanken zu sammeln.</p> + +<p>»Ich will Ihnen zu Hilfe kommen,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann +nachsichtig. »Am Abend des 25. November kam Cavaliere Faramengo, der +italienische Konsul, in Ihr Restaurant, um ein Glas Wein zu trinken, wie +er zuweilen tat. Er fragte Sie nach dem Angeklagten aus, und Sie +erfuhren von ihm, daß von München aus Erkundigungen über ihn eingezogen +wären, und daß er im Verdacht stehe, seine geschiedene Frau, die Anfang +Oktober gestorben war und ihn zum Erben ihres Vermögens eingesetzt +hatte, ermordet zu haben. Außer sich vor Entrüstung liefen Sie sofort zu +dem Angeklagten, erzählten ihm alles und sagten, wenn Sie nur wüßten, +wer der Verleumder wäre, Sie würden ihn töten. Der Angeklagte sagte +lachend: 'Dummkopf, ich habe es ja getan.' Das ist, was der +Untersuchungsrichter nicht ohne Mühe aus Ihnen herausgebracht hat. +Bestätigen Sie es jetzt vor dem versammelten Gericht und vor den +Geschworenen?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[50]</a></span>»Es ist wahr, daß <tt>Dr.</tt> Deruga sagte: 'Dummkopf, ich habe es ja +getan,' aber er hatte nur insofern recht, als er mich einen Dummkopf +nannte, denn er meinte ...«</p> + +<p>»Bleiben Sie bei der Sache!« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Was +antworteten Sie darauf?«</p> + +<p>»Ich sagte, das wäre nicht möglich, und davon war ich auch überzeugt, +daß es unmöglich wäre; aber in dem Zustand von Aufgeregtheit, in dem ich +mich befand, bat ich ihn, augenblicklich nach Amerika zu fliehen, und +bot ihm mein ganzes Vermögen an, damit er sich dort weiter helfen +könnte.«</p> + +<p>»Guter Mann,« sagte plötzlich Deruga laut.</p> + +<p>Verzielli, der es bisher vermieden hatte, nach der Anklagebank +hinüberzusehen, wandte jetzt den Kopf herum und warf Deruga einen +verzweifelten Blick zu.</p> + +<p>Auch <tt>Dr.</tt> Zeunemann sah ihn an. »Wie erklären Sie es,« sagte er, +»daß Sie im ersten Augenblick der Überraschung Verzielli gegenüber die +Tat zugaben?«</p> + +<p>»Ich wollte sehen, was für ein Gesicht er machte,« sagte Deruga +leichthin, »das ist alles.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[51]</a></span>»Ja, natürlich,« fiel Verzielli rasch ein. »So war er. Das ist ganz er. +O Gott, er hatte recht, mich einen Dummkopf zu nennen. Ja, ein Esel, ein +verwünschter Tölpel war ich, es nicht sofort klar zu durchschauen.«</p> + +<p>»Bei der Sache bleiben,« unterbrach <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Die Stimmung +des Angeklagten schlug unvermittelt um, er geriet in Wut und wollte +sofort zum italienischen Konsul laufen, um zu erfahren, wer ihn +verleumdet hätte. 'Sie haben es also nicht getan,' riefen Sie und +beschworen den Angeklagten, keinen übereilten Schritt zu tun und mit dem +Besuch beim Konsul bis zum folgenden Morgen zu warten. Fürchteten Sie +vielleicht, er würde sich in seiner Wut am Konsul vergreifen?«</p> + +<p>»Gott bewahre!« rief Verzielli entrüstet. »Der Konsul sollte nur nicht +erfahren, daß ich Deruga alles ausgeplaudert hatte. Auch fürchtete ich, +daß <tt>Dr.</tt> Deruga in seinem gerechten Zorne sich allzu heftig äußern +und dadurch den Konsul gegen sich einnehmen würde. Kurz, ich war ein +Dummkopf und war maßlos <span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[52]</a></span>aufgeregt. Ich wußte nicht, was ich sagte und +was ich tat.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt war im Laufe des Verhörs aufgestanden und begleitete +die Antworten des Italieners mit unwillkürlichen Gebärden und hier und +da mit einem höhnischen Lachen oder entrüsteten Ausruf.</p> + +<p>»In Ihrer Aufgeregtheit,« sagte er jetzt, sich vorbeugend, »hatten Sie +jedenfalls den Eindruck, daß der Angeklagte im Ernst sprach, als er +sagte: 'Ich habe es ja getan.' Sonst hätten Sie hernach nicht +ausgerufen: 'Sie haben es also nicht getan!'«</p> + +<p>Verzielli warf einen zornigen und verächtlichen Blick auf den Sprecher +und sagte entschlossen: »Was ich auch gesagt und gedacht habe, ich war +im Unrecht, und der Doktor war im Recht, und wenn er seine Frau getötet +hätte, was er aber nicht getan hat, so hätte er auch recht gehabt.«</p> + +<p>Eine Bewegung, mit Gelächter vermischt, ging durch den Saal.</p> + +<p>»Eigentümliche Auffassung,« sagte der Staatsanwalt, beide Arme in die +Seite stemmend.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[53]</a></span>»Ich denke,« nahm der Vorsitzende das Wort, als es wieder still +geworden war, »wir lassen die Auffassungen beiseite und halten uns an +Tatsachen. Wünscht einer der Herren Kollegen oder der Herren +Geschworenen noch eine Frage an den Zeugen zu stellen? Nein? So können +wir zu Fräulein Klinkhart, der Haushälterin oder Empfangsdame des +Angeklagten, übergehen.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ein Fräulein von etwa fünfunddreißig Jahren trat vor, einfach, aber gut +gekleidet, schwarzhaarig, mit gerader Nase und ruhigen, braunen Augen. +Sie kam mit raschen, sicheren Schritten und sah sich um, als suche sie, +wo es etwas für sie zu tun gäbe; als ihr Blick dabei auf Deruga fiel, +nickte sie ihm freundlich und ermunternd zu. Den Eid leistete sie frisch +und freudig; sie schien zu denken, nun habe sie den Faden in der Hand +und werde den Wust schon entwirren.</p> + +<p>Das Verhör begann folgendermaßen:</p> + +<p>»Wie lange sind Sie in Stellung bei dem Angeklagten?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[54]</a></span>»Zehn Jahre.« Ich kenne ihn also etwas besser als Sie alle, meine +Herren, lag in diesen Worten.</p> + +<p>»Worin besteht Ihre Beschäftigung?«</p> + +<p>»Ich führe das Haus; koche das Essen, mache die Zimmer, empfange die +Patienten, schreibe die Rechnungen und so weiter.«</p> + +<p>»Das ist sehr viel. Standen oder stehen Sie in freundschaftlichen, ich +wollte sagen, in mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu dem +Angeklagten?« Sie runzelte die Brauen und schien eine rasche Antwort +geben zu wollen, besann sich aber und sagte kurz: »Nein.«</p> + +<p>»Wieviel Lohn erhielten Sie?«</p> + +<p>»Achtzig Kronen.«</p> + +<p>»Hatten Sie Nebeneinkünfte?«</p> + +<p>»Nein.«</p> + +<p>»Die Stelle muß offenbar ideelle Annehmlichkeiten haben. Sie waren +vermutlich sehr selbständig? Der Doktor behandelte Sie gut?«</p> + +<p>»Er mich und ich ihn. Wir passen gut zusammen. Übrigens ist es leicht, +mit <tt>Dr.</tt> Deruga gut auszukommen, wer es nicht tut, trägt selbst +die Schuld.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[55]</a></span>»Gut. Erinnern Sie sich an den 1. Oktober des vorigen Jahres? Der +Angeklagte verließ die Wohnung etwa um sechs Uhr. Sagte er Ihnen, wohin +er ginge, und wann er wiederkomme?«</p> + +<p>»<tt>Dr.</tt> Deruga sagte, er käme vielleicht nachts nicht nach Hause und +wisse auch noch nicht, ob er am folgenden Tage zur Sprechstunde wieder +da sein würde. Wenn Patienten kämen, sollte ich sie vertrösten.«</p> + +<p>»Glaubten Sie, daß er verreise?«</p> + +<p>»Ich glaubte gar nichts — weil es mich nichts anging. Ich pflegte nie zu +fragen, wohin er ginge, nur neckte ich ihn zuweilen, weil ich wußte, daß +ihm die Frauenzimmer nachliefen. Vielleicht habe ich das auch an jenem +Abend getan.«</p> + +<p>»Was hatte der Angeklagte bei sich, als er fortging?«</p> + +<p>»Ein Paket.«</p> + +<p>»Wissen Sie, was der Inhalt des Paketes war?«</p> + +<p>»Nein.«</p> + +<p>»Sie wissen es nicht, aber Sie ahnten es doch vielleicht. Haben Sie ihn +etwas einwickeln <span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[56]</a></span>sehen? Hat er in Schränken oder Kommoden gekramt?«</p> + +<p>»Ja, ich sah, daß er etwas suchte, und fragte ihn, was es sei. Da sagte +er ärgerlich: 'Wo, zum Teufel, haben Sie den alten Faschingströdel +versteckt?' Ich sagte, es sei alles in der Truhe auf dem Vorplatz, was +überhaupt noch vorhanden sei. Er hatte nämlich verschiedenes verliehen +oder verschenkt.«</p> + +<p>»Was verstehen Sie unter altem Faschingströdel?«</p> + +<p>»Kostüme, die er früher beim Fasching getragen hatte. In den letzten +Jahren hatte er nichts mehr mitgemacht.«</p> + +<p>»Was für Kostüme waren das?«</p> + +<p>»O, das kann ich so genau nicht sagen, was sie bedeuteten. Bauernkleider +und ein Bajazzo und ein Mönch, glaub' ich. Ich kenne mich nicht aus +damit.«</p> + +<p>»Vermutlich boten Sie ihm Ihre Hilfe an?«</p> + +<p>»Ja, aber er sagte: 'Gehen Sie zum Teufel!' Das war nicht böse gemeint, +es war so eine Redensart von ihm. Mir war es ganz recht, <span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[57]</a></span>denn es war +nach Tisch und ich hatte in der Küche zu tun.«</p> + +<p>Inzwischen war der Staatsanwalt aufgestanden, gestikulierte mit seinen +langen Armen und machte Grimassen. »Mein liebes Fräulein,« sagte er, +»hatte der Angeklagte keine Reisetasche?«</p> + +<p>»Ja, wenn er verreiste, nahm er eine Reisetasche,« sagte Fräulein +Klinkhart.</p> + +<p>»Nun, mein liebes Fräulein,« fuhr der Staatsanwalt mit süßlicher +Liebenswürdigkeit fort, »sollten Sie als Dame und als Haushälterin, +teils aus Neugier und teils aus Ordnungsliebe, nachdem Ihr Brotherr fort +war, nicht nachgesehen haben, was er mitgenommen hatte? Wenn ich mich in +Ihre Lage versetze, so scheint mir, Sie mußten sich Gewißheit zu +schaffen versuchen, wie lange Ihr Brotherr fortbleiben würde. Aus dem, +was er mitgenommen hatte, ließ sich doch manches schließen.«</p> + +<p>Fräulein Klinkhart faltete finster die Brauen und warf einen Blick +unverhohlener Abneigung auf den Staatsanwalt. »Ich sah,« antwortete sie, +»daß in der Truhe alles durcheinander<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[58]</a></span>geworfen war, und machte wieder +Ordnung. Ob etwas fehlte, weiß ich nicht, ich habe nicht darauf +geachtet. Ein Nachthemd hatte er, wie mir schien, nicht mitgenommen.«</p> + +<p>»Sehen Sie, sehen Sie,« rief der Staatsanwalt triumphierend und mit dem +langen Zeigefinger auf sie deutend, »dahin wollte ich Sie bringen! Also +ein Nachthemd hatte er nicht mitgenommen?«</p> + +<p>»Nun, und?« sagte Fräulein Klinkhart finster, »wenn er doch gar nicht +verreiste!«</p> + +<p>»Sehr wohl, mein liebes Fräulein,« sagte der Staatsanwalt mit entzücktem +Lächeln, »wenn nun aber kein Nachtkleid in dem Paket war, was war Ihrer +Meinung nach dann darin?« Fräulein Klinkhart zuckte ärgerlich und +ungeduldig die Achseln und sagte: »Wahrscheinlich war irgendein +Kostümstück zum Verkleiden darin, das er jemandem leihen wollte.«</p> + +<p>»Wollen Sie uns das Rätsel lösen?« wandte sich der Vorsitzende an +Deruga.</p> + +<p>»Es war ein Kimono darin,« sagte Deruga, »den mir einmal ein Patient aus +China mit<span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[59]</a></span>gebracht hatte, und den ich der Dame, die ich besuchte, leihen +wollte.«</p> + +<p>»Sie sagten ja vorhin, es wäre Wäsche darin gewesen,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann, den Arm auf die Lehne seines Sessels stemmend und sich nach +dem Angeklagten herumwendend.</p> + +<p>»Ja, können Sie sich nicht denken, daß ich das Breittreten der albernen +Kleinigkeiten satt habe?« erwiderte dieser mit einem so wütenden +Ausdruck, daß der Fragende unwillkürlich zurückfuhr. »Ich habe gesagt, +was mir gerade einfiel, und nächstens werde ich überhaupt nichts mehr +sagen. Es war ein Kimono, ein Nachthemd, eine Zahnbürste, ein Revolver +und eine Flasche Gift darin. Das ganze Paket wächst mir zum Halse +heraus.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann wartete eine Weile und sagte dann ruhig: »Ich frage +Sie nicht aus, weil es mir Vergnügen macht, sondern weil es meine +Pflicht ist. Ich hoffe, Sie sehen das ein und entscheiden sich, was Sie +endgültig als den Inhalt des Pakets angeben wollen.«</p> + +<p>Derugas Züge glätteten sich. »Wahrhaftig,« sagte er mit einem +liebenswürdigen Lächeln, »ich <span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[60]</a></span>bin ein grober Kerl, entschuldigen Sie +mich. Es war also ein Kimono in dem verwünschten Paket.«</p> + +<p>»Den Sie der bewußten Dame leihen wollten,« fügte <tt>Dr.</tt> Zeunemann +hinzu.</p> + +<p>»Der Fasching beginnt meines Wissens erst im Januar,« bemerkte der +Staatsanwalt.</p> + +<p>Deruga lachte. »Die Dame machte entweder ihre Vorbereitungen sehr früh +oder sie brauchte ihn für einen anderen Anlaß. Ich werde sie +gelegentlich fragen und es Ihnen dann mitteilen.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt bebte vor Ärger, um so mehr als er auf dem Gesicht des +Justizrats und auf dem des Vorsitzenden ein belustigtes Lächeln sah, das +der letztere aber schnell unterdrückte. »Gehen wir nun,« sagte er, »zu +der Rückkehr des Angeklagten am 3. Oktober über. Was ging dabei vor? +Besinnen Sie sich noch, Fräulein Klinkhart, was <tt>Dr.</tt> Deruga +sagte?«</p> + +<p>»O ja,« antwortete sie. »Ich sagte: 'Gut, daß Sie kommen, Doktor. Es +warten einige Patienten über zwei Stunden auf Sie.' Der Doktor sagte: +'Desto schlimmer für sie, ich bin <span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[61]</a></span>sehr müde und will mich sofort zu +Bett legen.' Ich fragte, ob er nicht wenigstens einen Augenblick selbst +mit ihnen sprechen und sie wieder bestellen wollte. Da machte er eine +abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte: 'Ich kann nicht,' und da +wußte ich, daß ich nicht weiter in ihn dringen dürfte.«</p> + +<p>»Fiel Ihnen denn dieses Benehmen nicht auf?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Durchaus nicht,« sagte Fräulein Klinkhart. »Er leidet an Migräne, und +wenn ein Anfall kommt, hat er solche Kopfschmerzen, daß ihm alles +einerlei ist. Er legt sich dann hin, und ich muß ihn in Ruhe lassen. +Gewöhnlich ist es am anderen Morgen vorbei. Er sah auch so fahl aus, wie +er immer tut, wenn er die Migräne hat.«</p> + +<p>»Er ging also in sein Schlafzimmer, und Sie haben ihn bis zum folgenden +Morgen nicht gesehen? Hatte er das Paket bei sich, das er mitgenommen +hatte?«</p> + +<p>»Darauf habe ich nicht geachtet.«</p> + +<p>»Ich erinnere Sie, Fräulein Klinkhart,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann +streng, »daß Sie unter Eid <span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[62]</a></span>aussagen. Es ist glaublich, daß Sie im +ersten Augenblick nicht an das Paket dachten; aber da Sie am anderen +Tage das Zimmer aufräumten, wird es Ihnen doch eingefallen sein?«</p> + +<p>»Das denken Sie, Herr Präsident,« sagte Fräulein Klinkhart mit einem +lebhafteren Feuer ihrer stillen, braunen Augen, »weil Sie einen Argwohn +haben und sich womöglich einbilden, es wäre irgendein Mordinstrument in +dem Paket gewesen. Ich war aber unbefangen, und deshalb fand ich das +Paket gar nicht wichtig, was es auch gewiß nicht war. Aber wenn ein +Kostüm darin gewesen war, das er jemandem geliehen hatte, so konnte er +es ja auch gar nicht wieder mitbringen.«</p> + +<p>»Ja, wenn,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »das stimmt. Besaß denn der +Angeklagte einen chinesischen Kimono?«</p> + +<p>»Chinesisches Zeug habe ich einmal gesehen,« sagte Fräulein Klinkhart. +»Nebenbei kenne ich aber nicht alles, was der Doktor besitzt. Ich bin +kein Spion.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann blätterte eine Weile in den Akten und fragte dann: +»Hat der Angeklagte <span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[63]</a></span>Ihnen sofort Mitteilung davon gemacht, als er die +Nachricht von der Erbschaft bekam, die ihm zugefallen war?«</p> + +<p>»Ja, er rief mich herein,« erzählte Fräulein Klinkhart, »denn ich war +gerade in der Küche, und er war sehr erregt und machte allerlei +Zukunftspläne und fragte mich, was ich mir wünschte, aber etwas Schönes +und Kostbares sollte es sein. Ich sagte, ich hätte nur einen einzigen +Wunsch, nämlich ein paar Brillantohrringe. Die versprach er mir, aber er +neckte mich damit, wie es so seine Art war. Wir haben sehr gelacht.«</p> + +<p>»Er freute sich also sehr?«</p> + +<p>»Gewiß,« sagte Fräulein Klinkhart ruhig, »er war geradezu toll vor +Freude. Er litt immer unter der Beschränktheit seiner Mittel und liebte +es, sich auszumalen, daß er reich wäre. Er war wie ein Kind, wenn er in +solchen Vorstellungen schwelgte. Aber oft sagte er schon eine Stunde +nachher, daß er den ganzen Bettel verachte.«</p> + +<p>Zum Beschluß wurden noch ein Schneider und ein Friseur vernommen, +welchen Deruga größere Beträge schuldig war. Die Eleganz des <span class='pagenum'><a name="Page_64" id="Page_64">[64]</a></span>Schneiders +war nicht einschmeichelnd wie die des Hofrats von Mäulchen, sondern +vernichtend, und zwar zermalmte sie weniger die ganz armen Teufel, für +welche sie überhaupt nicht in Betracht kam, als diejenigen, die zwar +Geld hatten, aber nicht genug, oder nicht Geschmack und Erziehung genug, +um sich ihm oder einem ihm ebenbürtigen Kleiderkünstler anzuvertrauen. +Er sagte aus, er habe sehr bald Mißtrauen geschöpft, weil er <tt>Dr.</tt> +Deruga nicht für einen wahrhaft feinen Gentleman hätte halten können. +Er, der Schneider, habe nur hochfeine Kundschaft und sei deshalb in +diesem Punkte nicht leicht zu täuschen. Deruga sei viel zu kordial im +Verkehr mit seinen Angestellten gewesen und habe zuweilen mit ihm, dem +Schneider, Späße gemacht, die er in Gegenwart seiner Angestellten, des +Respekts wegen, nicht gerne angehört hätte. Seine diesbezüglichen +Andeutungen habe Deruga nicht verstanden. Er habe Deruga daher auch +halbjährliche Rechnungen geschickt, während er den feinen Kunden nur +jährliche schickte. Deruga sei ihm seit zweieinhalb <span class='pagenum'><a name="Page_65" id="Page_65">[65]</a></span>Jahren eintausend +Mark schuldig, das sei nicht viel, und er würde einem feinen Kunden +gegenüber kein Aufheben davon machen; es könne ihm aber natürlich nicht +gleichgültig sein, wenn es sich um einen Mann mit zweifelhaftem +Charakter handle.</p> + +<p>Auf die Frage, ob Deruga ihm gegenüber von einer zu erwartenden +Erbschaft oder sonst von Geldquellen gesprochen hätte, die ihm zur +Verfügung ständen, sagte der Schneider mit vornehmer Zurückhaltung, +Deruga habe sehr viel geschwatzt, es könnten auch derartige Worte +gefallen sein; er befolge aber seit Jahren den Grundsatz, die privaten +Mitteilungen, die seine Kunden ihm machten, weder zu wiederholen noch zu +behalten, und sei deshalb gar nicht mehr imstande, sie sich zu merken. +Vollends wären ihm die Redereien Derugas viel zu belanglos vorgekommen, +als daß er sein Gedächtnis damit belastet hätte.</p> + +<p>Der Friseur betonte mit Feuer, daß Deruga ohne Zweifel die ihm +ausstehende Schuld bezahlt haben würde, wenn er ihn jemals gemahnt +hätte. <span class='pagenum'><a name="Page_66" id="Page_66">[66]</a></span>Deruga sei ihm aber viel zu teuer gewesen, ein Mann nach seinem +Herzen, genial und edel, den zu bedienen er sich immer zur Ehre +angerechnet habe. Sein Auge dringe den Menschen bis ins Innerste, er +lasse sich nie durch Scheingrößen blenden, und das Geringste mißachte er +nicht. »Und wenn er mir nie einen Pfennig bezahlte, meine Herren,« rief +der Friseur mit Schwung aus, »ich würde ihm stets meine ganze Kraft +weihen und nie aufhören zu sagen, das ist ein großer Mann.«</p> + +<p>»War Deruga bei Ihnen,« fragte der Vorsitzende, »nachdem er von der +Erbschaft in Kenntnis gesetzt worden war?«</p> + +<p>»Ich darf mir schmeicheln, der erste gewesen zu sein,« sagte der +Friseur, »dem der Herr Doktor sein Herz über dieses Ereignis +ausschüttete. 'Nun werde ich dich königlich belohnen,' sagte er zu mir, +'denn du verdienst es sowohl wegen deiner Kunst wie wegen deiner +anständigen Gesinnung.' Herr Doktor pflegte mir nämlich zuweilen, wenn +er stark in Stimmung war, das trauliche Du zu geben. Ich erwiderte, mit +der Bezahlung solle <span class='pagenum'><a name="Page_67" id="Page_67">[67]</a></span>er es halten, wie er wolle, nur seine Kundschaft +solle er mir nicht entziehen. 'Da kennst du Deruga schlecht!' rief er +aus, 'meinst du, ich unterschätze dein Kabinett, weil es in einem +Seitengäßchen liegt und keine goldenen Spiegel und von denkenden +Künstlern entworfene Stühle darin sind? Und wenn ich Kaiser von China +würde, auf diesem schäbigen, aber bequemen Sessel, von deiner +Meisterhand würde ich mich rasieren lassen. Ich hasse und verabscheue +das Geld, und wenn ich es nicht brauchte, um das Ungeziefer, Menschen +genannt, mir vom Leibe zu halten, würfe ich die ganze Erbschaft in den +nächsten Straßengraben.'«</p> + +<p>Der Staatsanwalt schüttelte mit verzweifeltem Hohnlachen den Kopf. +<tt>Quousque tandem?</tt> stand auf seinem Gesicht geschrieben; schreit +sein Lästern noch nicht genug zum Himmel?</p> + +<p>»Kam der Angeklagte täglich zu Ihnen?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Ich darf wohl sagen, im allgemeinen täglich,« erwiderte der Friseur. +»Sowohl ich selbst wie meine Kunden vermißten ihn aufs schmerzlichste, +wenn er einmal ausblieb.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_68" id="Page_68">[68]</a></span>»Erinnern Sie sich, ob er am 2. und 3. Oktober des vorigen Jahres +ausblieb?«</p> + +<p>»Ich erinnere mich,« sagte der Friseur, »daß ich ihn im Spätsommer oder +Herbst einmal ein paar Tage lang nicht sah. Das Datum habe ich mir aber +nicht gemerkt.«</p> + +<p>»Sie erinnern sich auch nicht, was er, als er wiederkam, als Grund +seines Ausbleibens angab? Wie Sie mit ihm standen,« setzte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann in etwas strengerem Ton hinzu, »ist anzunehmen, daß Sie ihn +danach fragten?«</p> + +<p>»Ich erinnere mich allerdings,« erwiderte der Gefragte, »daß ich es +unterließ ihn zu fragen, weil er schweigsam und in sich gekehrt war. Ich +bin nach meinem Beruf nur Friseur,« setzte er mit Hoheit hinzu, »aber +mir ist so viel Takt angeboren, daß das Vertrauen eines edlen Menschen +mich nicht zudringlich macht, und daß ich fühle, wann Heiterkeit und +wann Ernst am Platze ist. Gerade den Herrn Doktor habe ich nie +ausgehorcht und zum Reden anzustacheln versucht, wenn er in sich +versunken oder umwölkten Mutes zu sein schien.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_69" id="Page_69">[69]</a></span>»Was für Vermutungen,« fragte der Vorsitzende weiter, »hatten Sie denn +bei sich über das Ausbleiben des Angeklagten und über seine ungewöhnlich +ernste Stimmung?«</p> + +<p>»Gar keine,« sagte der Friseur, milde Mißbilligung und Belehrung im Ton, +»ich erlaubte mir gar keine.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann gab es auf und wollte den Zeugen eben entlassen, +als der Staatsanwalt noch eine Frage an ihn richten zu wollen erklärte.</p> + +<p>»Hat der Angeklagte im Spätsommer des vorigen Jahres oder noch früher +eine Perücke oder einen falschen Bart oder beides bei Ihnen gekauft oder +geliehen?«</p> + +<p>»Ich bedaure,« sagte der Friseur mit höflich schadenfrohem Lächeln, +»aber dergleichen Artikel führe ich nicht. In einem kleinen, +bescheidenen, abgelegenen Geschäft, wie das meinige ist, lohnt sich das +nicht aus.«</p> + +<p>Es war schon eine vorgerückte Abendstunde, und der Vorsitzende hob die +Sitzung auf. Als der Justizrat die Hand auf die Schulter Derugas <span class='pagenum'><a name="Page_70" id="Page_70">[70]</a></span>legte, +der mit aufgestütztem Kopfe dasaß, fuhr dieser herum und sah den anderen +mit blinzelnden Augen unsicher an.</p> + +<p>»Ich glaube, weiß Gott, Sie haben geschlafen?« fragte der Justizrat +zwischen Staunen und Entrüstung. »Ich glaube auch,« sagte Deruga; »das +letzte, was ich sah, war der Kerl, der Schneider. Der ekelte und +langweilte mich so, daß ich die Augen zumachte, und da war ich sofort +weg. Ich habe mir das in meiner Universitätszeit angewöhnt, wo ich oft +sehr müde war. Ich konnte stundenlang während der Vorlesungen schlafen, +ohne daß es jemand merkte, ausgenommen mein Freund Carlo Gabussi, der +neben mir saß. O traurige Jugend und süße Erinnerung!«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_71" id="Page_71">[71]</a></span></p> +<h2><a name="II" id="II"></a><tt>II.</tt></h2> + + +<p>Die Sitzung des nächsten Tages eröffnete <tt>Dr.</tt> Zeunemann mit der +Erklärung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten, +sofort vernommen zu werden, damit sie möglichst bald zu ihrer Familie +zurückreisen könne. Er habe um so weniger Anstoß genommen, ihrer Bitte +zu willfahren, als er sie nicht für wichtig halte und sie nur auf +Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr +Aufschlüsse über die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen +Frau während der ersten Zeit seiner Ehe erhalten.</p> + +<p>Auf seinen Wink trat eine mittelgroße Dame ein, die mit einer +ziegelroten Schabracke behängt war und auf ihrem brandroten, in vielen +Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen großen, von einem Niagarafall +weißer und blauer Straußenfedern überstürzten Hut trug. Sie trat <span class='pagenum'><a name="Page_72" id="Page_72">[72]</a></span>ein +paar Schritte vorwärts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken +um sich, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Augenscheinlich +hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort +blieb der Blick hängen, ohne zunächst durch das Ergebnis seiner +Forschung befriedigt zu werden.</p> + +<p>Plötzlich indessen stieß sie einen Schrei aus, rief mit kreischender +Stimme: »Dodo!« und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie +hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie +hereingeführt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch +im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten +hatte.</p> + +<p>»Entschuldigen Sie,« sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch +hervorzog, »aber das war zu viel für mich. Dies Wiedersehen nach so viel +Jahren! Die Veränderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, närrische +Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit glühenden Kohlen herstellen, Herr +Präsident, so schwöre ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine +Unschuld zu beweisen!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_73" id="Page_73">[73]</a></span>»Die Sache ist leider nicht so einfach,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann mit +wohlwollender Überlegenheit. »Hingegen können Sie uns unsere Arbeit sehr +erleichtern und dem Angeklagten nützen, wenn Sie, was Sie zu sagen +haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie heißen Rosine Schmid +geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?«</p> + +<p>»Jawohl,« sagte die Dame, »ich gehöre nicht zu denjenigen Frauen, die +sich ihres Alters schämen. Übrigens tun die Männer auch, was sie können, +um jung zu erscheinen, besonders beim Militär, und würden es noch mehr +tun, wenn so viel für sie davon abhinge wie für uns Frauen.«</p> + +<p>»Frau Hauptmann,« sagte der Vorsitzende, »Sie kennen den Angeklagten +Sigismondo Enea Deruga, sind aber nicht mit ihm verwandt. Wollen Sie so +gut sein und mit Vermeidung alles Überflüssigen erzählen, wann und unter +welchen Umständen Sie ihn kennenlernten?«</p> + +<p>»Mit Vergnügen will ich das,« sagte Frau Hauptmann Schmid lebhaft. +»Alles will ich sagen, was ich weiß, denn dazu bin ich ja her<span class='pagenum'><a name="Page_74" id="Page_74">[74]</a></span>gekommen. +Und wenn ich ans Ende der Welt reisen müßte, sagte ich zu meinem Mann, +ich täte es, um dem Dodo aus der Patsche zu helfen. Das hat er um mich +verdient, so lieb und gut wie er immer war. Und getan hat er es auch +nicht, denn wenn er auch etwas toll und originell war, der Topf voll +Mäuse, gemordet hat er sicherlich keinen Christenmenschen und am +wenigsten die gute Seele, seine Frau.«</p> + +<p>»Wie kommt es, daß Sie den Angeklagten einen Topf voll Mäuse nennen?« +fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»So nennt man doch,« erklärte Frau Schmid, »die Figur, die bei den +Feuerwerken gewöhnlich zuletzt kommt, wo es so kracht und prasselt, daß +man glaubt, einen feuerspeienden Berg vor sich zu haben. Es war eine Art +Kosenamen, den seine Frau ihm gegeben hatte, weil er zuweilen Anfälle +von Wut bekam, wo er Rauch und Feuer spuckte, so daß sie sich vor ihm +fürchtete.«</p> + +<p>»Sonderbarer Kosename,« meinte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Ach, Herr Präsident,« sagte die Frau <span class='pagenum'><a name="Page_75" id="Page_75">[75]</a></span>Hauptmann lachend, »er meinte es +ja im Grunde nicht böse, so wenig wie ein Topf voll Mäuse gefährlich +ist. Darum paßte der Name gerade so gut, und wir nannten ihn alle so, +obgleich es sich für mich, so ein junges Mädchen wie ich war, kaum recht +schickte.«</p> + +<p>»Ich bitte zu beachten,« sagte der Staatsanwalt, »daß nach Aussage der +Zeugin die damalige Frau Deruga sich vor ihrem Mann fürchtete.«</p> + +<p>Frau Hauptmann Schmid drehte sich schnell nach dem Sprecher herum und +sagte, während ihr das Blut ins Gesicht stieg: »Wenn Sie glauben, Sie +hätten damit einen Vorteil über den Herrn Doktor gewonnen, daß ich +gesagt habe, er sei aufbrausend, so sind Sie gewaltig im Irrtum. Die +Aufbrausenden sind die Schlimmsten nicht, und das sagt ja auch das +Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich habe oft zu meinem +Manne gesagt: 'Meinetwegen möchtest du schimpfen und fluchen, ja, sogar +in Gottes Namen zuschlagen, nur das Maulen und Scheelblicken, das +Brummen und Nachtragen, das ist mir zuwider, <span class='pagenum'><a name="Page_76" id="Page_76">[76]</a></span>und ich glaube, daß einer, +dem es nie überläuft, das Herz nicht auf dem rechten Flecke hat.'«</p> + +<p>Der Vorsitzende machte eine abschließende Handbewegung und sagte: »Ihre +Mitteilungen, Frau Hauptmann, sind uns sehr wertvoll. Vielleicht +erzählen Sie uns zunächst, auf welche Weise Sie die Bekanntschaft des +Angeklagten machten!«</p> + +<p>»Sehr gern, sehr gern,« sagte Frau Hauptmann, »ich habe auf der langen +Reise immer an jene Zeit gedacht, darum ist mir alles gegenwärtig, +obschon es jetzt zweiundzwanzig Jahre her sind. Ja, zweiundzwanzig Jahre +ist es her, und einundzwanzig Jahre war ich damals alt. Die Großmutter +hatte gerade viel Geld bei der Lotterie verloren. Denn, obwohl sie sich +einbildete, ein Muster von Vernunft zu sein, konnte sie doch nicht +leben, ohne zu spielen. Und wenn sie sich das Geld hätte zusammenbetteln +müssen, gespielt mußte werden. Weil nun der Großvater ärgerlich war, was +er zwar nicht aussprach, denn das traute er sich nicht, aber er machte +ein langes Gesicht und manchmal eine spöttische <span class='pagenum'><a name="Page_77" id="Page_77">[77]</a></span>Bemerkung, wollte die +Großmutter es wieder einbringen und richtete das alte Lusthäuschen am +Gartenzaun zum Vermieten ein, und es wurde eine Anzeige für die Zeitung +gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie wir abends spät um den Tisch unter +der Lampe saßen und uns abrackerten, um die Sache in richtiges Deutsch +zu bringen. Denn der Großmutter war das Schriftliche nicht geläufig, und +der Großvater wollte nichts damit zu tun haben. Erstens, sagte er, +schicke es sich für den Offiziersstand nicht, Zimmer zu vermieten — er +war nämlich Hauptmann, aber schon lange nicht mehr im Dienst —, zweitens +möchte er keine Fremden im Hause leiden, und drittens sei es eine +Schande, arglosen Leuten die alte Baracke als Wohnung aufzuschwatzen.«</p> + +<p>»Ihre Großmutter war offenbar keine Deutsche,« schaltete der Vorsitzende +ein, »da ihr das Deutsche nicht geläufig war?«</p> + +<p>»Nein, natürlich nicht,« antwortete Frau Schmid, »sie war ja aus +Bosnien; aber sie war eine sehr schöne Frau und übrigens auch gebildet, +nur nicht in den Wissenschaften.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_78" id="Page_78">[78]</a></span>»Und Ihre Eltern?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Ja, meine Eltern waren auch von dorther,« sagte die Frau Hauptmann ein +wenig errötend; »aber sie waren zu früh gestorben, als daß ich mich +ihrer hätte erinnern können, und ich sah eigentlich den Großvater und +die Großmutter als meine Eltern an. Also, um in meiner Erzählung +fortzufahren, als der Großvater das sagte, geriet die Großmutter in eine +Furie und sagte, das Lusthaus hätte der Kaiser Joseph oder Ferdinand +oder Maximilian, das weiß ich nicht mehr, für seine Geliebte gebaut, da +in dieser Gegend noch lauter Wald und Heide gewesen wäre, und es wäre +noch etwas Malerei an der Decke und eine steinerne Vase, wenn auch +zerbrochen, an der Treppe. Außerdem wolle sie es den Leuten gar nicht +aufschwatzen, nur zeigen; sie könnten ja die Augen auftun und mit Gott +wieder heimgehen, wenn es ihnen nicht paßte. Wenn die Großmutter in der +Furie war, sah sie sehr majestätisch aus; sie hatte eine gebogene Nase, +wie ein Papagei, aber schöner, Augen wie Diamanten und dickes weißes +Haar, das wie <span class='pagenum'><a name="Page_79" id="Page_79">[79]</a></span>ein Schneeberg über ihrem Kopfe stand. Um sie zu +begütigen, half der Großvater doch mit bei der Anzeige, und sie lautete +schließlich so: 'Hier ist ein fesches Sommerhaus zu vermieten, auch +winters brauchbar, wenn es beliebt. Es liegt im Grünen und hat einige +Möbel. Besonders geeignet für ein junges Ehepaar.' Die Großmutter wollte +nämlich zuerst schreiben: 'für ein Liebespaar.' Da wurde aber der +Großvater beinahe böse und sagte, die Großmutter würde ihn noch um Ehre +und guten Namen bringen, und sie wäre ärger als eine Zigeunerin. Da gab +die Großmutter nach, denn sie hatte eine große Hochachtung für des +Großvaters Vornehmheit und Weltkenntnis, und es wurde statt dessen das +'junge Ehepaar' gesetzt.«</p> + +<p>»Und auf diese Anzeige hin kamen Herr <tt>Dr.</tt> Deruga und seine Frau?« +fragte der Vorsitzende. »Wann war das?«</p> + +<p>»Vor zweiundzwanzig Jahren, wie ich schon sagte,« antwortete Frau +Schmid; »es mag im Mai gewesen sein.«</p> + +<p>»Juli war es,« sagte Deruga, »denn die Linde, <span class='pagenum'><a name="Page_80" id="Page_80">[80]</a></span>unter der wir abends +saßen, duftete, und der Rosentriumphbogen über der Gartenpforte blühte, +als wir das erstemal hindurchgingen.«</p> + +<p>Alle blickten erstaunt nach dem Angeklagten, dessen wohllautende Stimme +und melodischer Tonfall jetzt erst auffielen; was er sagte, hatte fast +wie ein kleines Lied geklungen.</p> + +<p>Die farbenprächtige Frau zeigte wieder eine Neigung auf ihn zuzulaufen, +unterdrückte sie aber und sagte nur: »Recht haben Sie, es war Juli! Sie +wissen es am besten und könnten überhaupt alles viel besser und schöner +erzählen als ich.«</p> + +<p>»Schräg über unserem Pavillon stand das Sternbild des Wagens,« sagte +Deruga, »und wenn wir nachts Hand in Hand nach Hause kamen, Mingo und +ich, sah ich ihn an und dachte: Wie bald, fliegender Wagen der Zeit, +wirst du uns von diesen schnellen, törichten Augenblicken fortführen in +das namenlose Dunkel.«</p> + +<p>»Ja, etwas Ähnliches muß ich wohl mal von Ihnen gehört haben,« fiel Frau +Schmid lebhaft ein; »denn im folgenden Sommer, wenn der <span class='pagenum'><a name="Page_81" id="Page_81">[81]</a></span>Wagen am Himmel +stand, sah er mir immer so leer aus, und doch hatte ich sonst auch +niemand darin sitzen sehen, natürlich.«</p> + +<p>»Sie haben also noch zuweilen an uns gedacht, Brutta?« fragte Deruga.</p> + +<p>Frau Hauptmann Schmid zog ihr Taschentuch und brach in Tränen aus.</p> + +<p>»Ach,« schluchzte sie, »das greift mir ans Herz, wenn Sie mich bei dem +Namen anreden. Es nennt mich ja seit Jahren niemand mehr so, denn der +Großvater und die Großmutter sind lange tot, und ich möchte gar nicht +wieder hin nach dem alten Hause. Wer weiß, ob der Wagen noch +darübersteht!«</p> + +<p>Der Vorsitzende nahm jetzt den Faden des Verhörs wieder auf, indem er +Frau Schmid bat, sich zu beruhigen, und sie fragte, ob die Eheleute +Deruga den Eindruck eines glücklichen Paares gemacht und ob sie ihren +Großeltern gefallen hätten.</p> + +<p>»Und wie!« sagte Frau Schmid, »besonders der Doktor. Das heißt, dem +Großvater gefiel die Frau besser, aber er hielt sich zurück. Da<span class='pagenum'><a name="Page_82" id="Page_82">[82]</a></span>gegen, +wenn die Großmutter einen leiden mochte, dann merkte man's. Und vom +ersten Augenblick an sagte sie, das wäre ein Mann für mich gewesen.«</p> + +<p>»Wie kam sie darauf?« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Erwies er Ihnen +Aufmerksamkeiten?«</p> + +<p>»Keine Spur!« sagte Frau Schmid. »Er spaßte nur mit mir, wie das so +seine Art war. Zum Beispiel sagte er mir immer, ich wäre so häßlich, daß +man mich nur mit einem Auge ansehen könnte, sonst hielte man es nicht +aus; und wenn ich ihm in den Weg kam, kniff er ein Auge zu, bald das +eine, bald das andere. Um sie zu schonen, wie er sagte. Die Grimassen, +die er dabei schnitt, waren zu komisch, daß ich nicht aufhören konnte zu +lachen, und die Großmutter lachte auch; aber sie ärgerte sich doch ein +bißchen. Das ließ sie übrigens nie an ihm aus, sondern an mir, wie ich +denn überhaupt, um die Wahrheit zu sagen, viel von ihr ausgestanden +habe; denn sie war rasch und zornig, obwohl sonst eine herrliche Frau, +die ich bis an mein Lebensende lieben und verehren werde.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_83" id="Page_83">[83]</a></span>»Empfanden Sie das Benehmen des Angeklagten nicht als unzart?« +erkundigte sich der Vorsitzende.</p> + +<p>»Bewahre!« sagte Frau Schmid. »Wenn einem auf solche Weise gesagt wird, +daß man häßlich ist, glaubt man hübsch zu sein. An Heiraten habe ich nie +gedacht, er hatte ja eine Frau, und noch dazu eine, die ich +schwärmerisch verehrte. Die Großmutter gewann sie erst allmählich lieb, +dann aber war sie fast mehr in sie als in den Doktor verliebt. Anfangs +hatte sie allerlei an ihr auszusetzen: sie wäre zu alt für den +Doktor — tatsächlich zählte sie ein paar Jahre mehr —, und namentlich +wäre sie nicht feurig genug für einen so hübschen und reizenden Mann. +Ihr Gesicht wäre nicht übel, wenn man genau zusähe, aber ihre Augen +wären zu sanft und dadurch langweilig. Immer gleiche Freundlichkeit wäre +wie Milchbrei; müßte man den täglich essen, würde einem übel. Dagegen +ein gut gepfeffertes und gezwiebeltes Gulasch würde einem nie zuwider. +Nur eins ließ meine Großmutter an ihr gelten; das war ihr Nacken. Die +arme <span class='pagenum'><a name="Page_84" id="Page_84">[84]</a></span>Frau trug nämlich immer den Hals frei, obschon das damals nicht so +in der Mode war wie heutzutage, und wenn sie durch den Garten ging, +leicht, wie wenn sie Flügel an den Füßen hätte, sagte meine Großmutter: +'Übrigens gefällt sie mir nicht, aber ich möchte sie einmal auf den +Nacken küssen.'</p> + +<p>Eines Tages, es muß im Oktober gewesen sein, weil wir die Trauben +abgenommen hatten, war die Großmutter besonders schlechter Laune wie +jedes Jahr bei der Traubenernte. In der Zwischenzeit bildete sie sich +nämlich ein, daß sie süß wären, und kam die Zeit heran, waren sie doch +wieder sauer. Morgens beim Frühstück gab sie mir eine Ohrfeige, weil ich +die Kaffeetasse umgeworfen hatte. Das heißt, sie hatte mir einen Stoß +gegeben, aber sie sagte, das wäre keine Entschuldigung, denn ich hätte +sie dumm angeglotzt. Bei der Gelegenheit sagte sie mir auch, wenn ich +wenigstens gescheit wäre, so möchte es hingehen, aber häßlich und dumm, +da könne es einen nicht wundern, daß der Doktor mich nicht genommen +habe; daß <span class='pagenum'><a name="Page_85" id="Page_85">[85]</a></span>er mich als unverheirateter Mann gar nicht gekannt hatte und +mich aus dem Grunde gar nicht hätte heiraten können, leuchtete ihr +niemals ein. In der Küche stellte ich mich auch an wie ein Tölpel, sagte +sie, und doch hinge vom Kochen das Glück der Ehe ab, und daß sie große +Stücke darauf hielt, danke ich ihr noch tagtäglich, wenn mein Mann sagt, +in den feinsten Hotels von Wien und Prag schmecke es ihm nicht so gut +wie zu Hause, und doch ist er weit herumgekommen und versteht sich +darauf.</p> + +<p>An dem Tage nun wollte ich einen Risotto machen, und weil ich schon +einmal einen unter der Aufsicht der Großmutter gemacht hatte, dachte +ich, dabei würde es mir gewiß nicht fehlen. Ich schnitt also meine +Zwiebeln und Leber und alles und richtete das Zeug an, und plötzlich +fiel mir ein, daß ich Hunger hätte, und daß gewiß noch eine Traube +hängen geblieben wäre, die ich mir holen könnte, ohne daß die Großmutter +es merkte. Ich schüttete noch ein wenig Fleischbrühe nach und dachte, +auf die Art könnte ich es ruhig eine Weile gehen lassen. Eigentlich +<span class='pagenum'><a name="Page_86" id="Page_86">[86]</a></span>nämlich muß der Risotto fortwährend gerührt werden, und das wußte ich +gut genug; aber ein bißchen keck und leichtsinnig war ich schon. Jetzt +kann ich das nicht mehr begreifen, aber in der Jugend kommt man +unversehens von einem aufs andere, wenn man sich die Zukunft ausmalt: +Verehrer, Körbe, Hochzeit und so weiter, und ich vergaß über solchen +Träumereien wahrhaftig das Mittagessen. Auf einmal steht die Großmutter +vor mir, in der Nachtjacke, das Gesicht rot wie ein glühender Ofen, und +schreit: 'Da steht sie und maust, die Dirne, die mir den ganzen Risotto +verbrannt hat!' Wahrhaftig, ich roch es selbst durch das offene +Küchenfenster, unter dem wir standen, und unbegreiflich ist es, daß ich +es nicht vorher bemerkt hatte. Und dann fiel sie über mich her, griff +mit der einen Hand in meine Haare und schlug mit der anderen so auf mich +los, daß mir zumute war, als hätte mich ein Wirbelwind gefaßt, und +drehte sich mit mir im Kreise herum. Weh tat es mir nicht, dazu war ich +zu erstaunt. Aber noch viel mehr erstaunte ich, als plötzlich die +Großmutter ihrer<span class='pagenum'><a name="Page_87" id="Page_87">[87]</a></span>seits von einem Sturmwind erfaßt und zurückgerissen +wurde, und Frau <tt>Dr.</tt> Deruga zwischen uns stand, wie der Engel mit +dem feurigen Schwerte, der Adam und Eva aus dem Paradiese trieb, mit +Augen, die nicht blau wie sonst, sondern schwarz waren und knisterten, +so kam es mir nämlich vor in meiner Erregung.</p> + +<p>'Lassen Sie das Kind los, Sie abscheuliche, gottlose Hyäne!' rief sie so +laut und hart, wie sie mit ihrer weichen Stimme konnte; und nach einer +kleinen Pause sagte sie ein wenig weicher und gelinder: 'Megäre, wollte +ich sagen.' Wie sie das gesagt hatte, kam es ihr wohl selbst ein wenig +komisch vor, daß sie in den Mundwinkeln zu lachen anfing, und dann +lachte die Großmutter geradeheraus, und wie ich das hörte, lachte ich +dermaßen, daß ich ordentlich kreischte, und fiel der Frau Doktor um den +Hals, der die Tränen aus den Augen sprangen vor Lachen.«</p> + +<p>Während dieser Erzählung beobachteten sowohl die Richter wie <tt>Dr.</tt> +Bernburger in unauffälliger Weise den Angeklagten, in dessen Mienen sich +deutlich ausprägte, wie er die <span class='pagenum'><a name="Page_88" id="Page_88">[88]</a></span>wiedererstehende Vergangenheit +miterlebte, seine länglichen, schöngeschnittenen Augen erglänzten wie +die Schuppen eines silbernen Fisches. Er schien seine Lage und Umgebung +vollständig vergessen zu haben und sagte unbefangen zu der alten +Freundin: »Arme Marmotte,« (so nannte er seine Frau) »arme, gute, feige +Person! So hatte sie später ihr Junges gegen mich verteidigt, das +natürlich seine Prügel ebenso verdiente, wie Sie damals, Brutta. Aber +erzählen Sie weiter, erzählen Sie: was tat die Großmutter?«</p> + +<p>»Der Großmutter,« fuhr die Frau Hauptmann fort, »waren die Augen auch +feucht, aber nicht nur vom Lachen, sondern gerührt war sie, gerührt über +die Frau Doktor, und machte kein Hehl daraus; denn obwohl sie, wie schon +gesagt, eher scharf und zornig war, so war sie doch ohne Falsch und +zögerte nicht, ein Unrecht zuzugestehen, wenn sie es nämlich eingesehen +hatte. Sie stemmte die Arme in die Seite und sagte: 'Also so sieht das +stille Wasser aus! Eine richtige Feuerflamme kann herausschlagen! Da bin +ich <span class='pagenum'><a name="Page_89" id="Page_89">[89]</a></span>freilich so dumm wie alt gewesen. Und wenn ich heute unser Herr +Doktor wäre, würde ich Sie morgen vom Fleck weg heiraten, so gut haben +Sie mir eben gefallen. Und nun muß ich Sie auf den Nacken küssen!' Damit +umarmte sie die Frau Doktor und küßte sie nicht nur auf den Nacken, +sondern auch auf beide Backen, und dann sagte sie, der Risotto solle nun +vergeben und vergessen sein, und sie wolle für das Mittagessen sorgen, +denn kochen könne sie besser, als man es von einer gottlosen Hyäne +erwarten würde. In der Tat brachte sie in einer Stunde das feinste Essen +zusammen, nämlich Fleischpastete und Marillenknödel, und ich begreife +heute noch nicht, wie sie es machte, denn das sind Gerichte, zu denen +man seine Zeit braucht. Helfen mußte ich allerdings doch und bekam Püffe +und Kniffe, aber das schadete nicht, weil sie ein vergnügtes Gesicht +dazu machte. Nachher beim Mittagessen, an dem die arme Marmotte, ich +meine die Frau Doktor, auch teilnehmen mußte, sprach die Großmutter viel +über Erziehung, und daß namentlich die Mädchen <span class='pagenum'><a name="Page_90" id="Page_90">[90]</a></span>lernen müßten, nicht so +heikel und empfindlich zu sein, denn bei den Männern wären sie nicht auf +Daunen gebettet, und wenn eine nicht einen Puff vertrüge und sich ihrer +Haut wehren könnte, ginge es ihr schlecht; die Wehleidigen und +Nachgiebigen würden nur verachtet. Eine Frau, die ihnen keinen Vorteil +brächte, sähen die Männer nur als eine Last an, deshalb müßte ein +Mädchen entweder Geld haben oder kochen können. Die arme Marmotte rühmte +ihren Mann, daß er nicht so wäre, aber die Großmutter, die doch bisher +so viel Wesens von ihm gemacht hatte, sagte, da gäbe es keine Ausnahmen. +In diesem Punkte wäre einer wie der andere, und wenn die Liebe einmal +einen uneigennützig machte, haßte er die Frau nachher doppelt, die ihn +so verblendet hätte.«</p> + +<p>»Warum sagen Sie immer 'arme Marmotte'?« fragte der Vorsitzende, der mit +außerordentlicher Geduld zugehört hatte.</p> + +<p>»Nun, weil sie tot ist,« antwortete die Frau Hauptmann nach einer Pause +etwas verblüfft.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_91" id="Page_91">[91]</a></span>»Ach so,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »bei ihren Lebzeiten haben Sie +nicht so von ihr gesprochen?«</p> + +<p>»Bewahre,« sagte Frau Schmid, »sie kam mir im Gegenteil beneidenswert +vor. Nun ja, etwas Hilfloses hatte sie an sich, und zuweilen war sie +auch traurig und sah ängstlich aus, und da mag ich sie wohl einmal 'arme +Marmotte' genannt haben.«</p> + +<p>»Wissen Sie, warum sie zuweilen traurig war?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Warum?« fiel Deruga höhnisch ein. »Das kann ich Ihnen sagen. Weil sie +ihren Mann nicht so liebte, wie sie sollte, weil sie an einen anderen +dachte, der besser zu ihr passen würde, und weil sie Angst vor meiner +Eifersucht hatte. Denn wir Italiener haben nicht Milch oder Wasser in +den Adern, sondern Blut, und dann werden unsere Augen blutrot, wenn wir +zornig werden.«</p> + +<p>Frau Hauptmann warf einen erschrockenen und tadelnden Blick auf Deruga +und sagte, zu den Richtern gewendet:</p> + +<p>»Er macht nur Spaß! Er war immer ein Spaßmacher und liebte es, die Leute +zu foppen <span class='pagenum'><a name="Page_92" id="Page_92">[92]</a></span>und zu erschrecken.« Dann wieder zu ihm herüber: »Warum hätte +die arme Marmotte Sie denn geheiratet? Ein Kind konnte ja sehen, wie +lieb sie Sie hatte.«</p> + +<p>Deruga hatte bereits den Kopf wieder auf die Hand gestützt, so daß man +sein Gesicht nicht sah, und gab kein Zeichen des Anteils mehr.</p> + +<p>»Wenn sie sich vor ihm fürchtete,« fuhr Frau Schmid, zu den Richtern +gewendet, fort, »so war das sicherlich nicht seine Schuld, sondern es +kam von ihrer außerordentlichen Furchtsamkeit. Einmal in der Nacht fiel +etwas mit einem Betrunkenen vor. Ich erinnere mich nicht mehr genau +daran, aber ich weiß, wie sie von uns allen damit geneckt wurde.«</p> + +<p>Der Vorsitzende ermunterte Frau Schmid, sich zu besinnen oder zu +erzählen, was sie noch davon wisse. Dann, da ihr nichts einfiel, fragte +er Deruga, ob er sich vielleicht noch daran erinnere.</p> + +<p>Deruga hob den Kopf und sah aus, als habe er keine Ahnung, wovon die +Rede sei.</p> + +<p>»Ach, Sie wissen doch, Doktorchen,« redete ihm Frau Schmid zu. »Es kam +nachts ein <span class='pagenum'><a name="Page_93" id="Page_93">[93]</a></span>Betrunkener am Pavillon vorbei und grölte so laut, daß Ihre +Frau davon aufwachte und dachte, es wäre unter dem Fenster. Es wird im +November gewesen sein, denn es war eine stürmische und regnerische +Nacht, und Sie hatten keine Lust aufzustehen und stellten sich +schlafend, während Ihre Frau fast verging vor Angst. So ungefähr war es, +erinnern Sie sich denn nicht mehr daran?«</p> + +<p>»O ja,« sagte Deruga, »es stellte sich eine ungewöhnliche Zärtlichkeit +bei meiner Frau ein. Ich wachte auf, weil sie sich an mich schmiegte und +ihren Kopf dicht an meinen Hals drückte, und als ich mich noch in dem +Traum wiegte, es habe sie plötzlich eine Leidenschaft für mich +überkommen, flehte sie mich an, ich solle sie vor dem Betrunkenen +schützen. 'Er ist unter dem Fenster,' sagte sie, 'im nächsten Augenblick +wird er hereinkommen. Was fangen wir an, o, was fangen wir an! Schließe +wenigstens das Fenster.' Ich rief: 'Ich werde mich hüten, das zu tun; so +bist du doch einmal zärtlich gegen mich' — und ich habe es ausdrücklich +ziemlich <span class='pagenum'><a name="Page_94" id="Page_94">[94]</a></span>bösartig gesagt, denn sie ließ mich los und drehte ihr Gesicht +nach der anderen Seite und weinte. Ich sagte noch viel beißender als +vorher, sie solle nicht so dumm sein zu weinen, und übrigens, wenn sie +sich so unglücklich fühle, brauchte sie nicht für das Leben zu zittern. +Und wenn sie zum Sterben unglücklich sei, sagte sie, sie möchte doch +nicht, daß ein ekelhafter, betrunkener Mensch sie anfaßte und erwürgte. +Daß sie gar nicht unglücklich wäre, sagte sie nicht. 'Der Kerl liegt +draußen im Straßengraben und wird singen, bis er einschläft,' sagte ich, +und dann stellte ich mich schlafend, um sie durch die Furcht zu quälen. +Nach einer halben Stunde verstummte das Geheul, und gleich darauf +schlief sie fest und ruhig, während ich wachend neben ihr lag und ihren +hübschen weißen Hals betrachtete und darüber nachdachte, wie leicht ich +ihre Kehle zudrücken könnte, fast ohne daß sie es merkte.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt zuckte triumphierend seine geschwänzten Augenbrauen und +streckte, den Mund schon zum Reden geöffnet, den Zeige<span class='pagenum'><a name="Page_95" id="Page_95">[95]</a></span>finger aus, als +der Justizrat die Hand gegen ihn erhob und gleichgültig, wie man einen +nichtigen Einwand beseitigt, sagte: »Er hat es ja nicht getan. Hunde, +die bellen, beißen nicht, wie unsere Zeugin schon sagte.«</p> + +<p>Ehe noch der Staatsanwalt einen Laut hervorbringen konnte, erklärte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann, nachdem er durch einen verbindlichen Blick nach +rechts und links die Zustimmung erbeten, aber nicht abgewartet hatte, +die Sitzung der Mittagspause wegen für geschlossen. Er wollte um drei +Uhr noch einige Fragen an Frau Hauptmann Schmid richten, und wenn seine +Kollegen einverstanden wären, könne sie dann abreisen. Der Nachtzug nach +Wien gehe um acht Uhr.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_96" id="Page_96">[96]</a></span></p> +<h2><a name="III" id="III"></a><tt>III.</tt></h2> + + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger hatte der Sitzung in Gesellschaft eines ihm +befreundeten jungen Nervenarztes, des <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck, +beigewohnt und verließ mit ihm zusammen das Justizgebäude.</p> + +<p>Die beiden Herren waren außerordentlich verschieden, aber durch das +gemeinsame Interesse für Psychologie, und was damit zusammenhängt, +ziemlich vertraut geworden, besonders seit Bernburger, als er infolge +von Überarbeitung an nervösen Depressionen litt, sich von <tt>Dr.</tt> von +Wydenbruck nach einer eignen Methode hatte behandeln lassen. Während +Bernburger klein war, von verkümmertem Wuchs, mit schwächlichen +Gliedmaßen, dabei aber ein ausdrucksvolles Gesicht und unermüdlich +kluge, aufmerksame Augen hatte, war <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck von +großer, schmaler und eleganter Figur <span class='pagenum'><a name="Page_97" id="Page_97">[97]</a></span>und hatte so verfeinerte Züge, daß +sie sich bei scharfer Beobachtung ganz zu verflüchtigen schienen. Sein +Gang hatte etwas Elastisches und Biegsames, als sei er stets bereit, +auszuweichen oder sich anzupassen, aber in Wirklichkeit streckte er nur +höchst bewegliche Fühler aus und blieb auf dem Grunde seines Wesens von +schwerer, glatter Unveränderlichkeit.</p> + +<p>»Da sind wieder einmal ein paar Hysterische zusammengekommen,« sagte er, +als sie die breite, zum Mittelpunkt der Stadt führende Straße +hinuntergingen.</p> + +<p>»Sie halten Deruga doch nicht für hysterisch?« sagte <tt>Dr.</tt> +Bernburger eifrig, an seinem Begleiter hinaufsehend. »Ich beurteile ihn +ganz anders. Daß er den Mord begangen hat, steht mir fest, und zwar hat +er ihn ohne Erregung, mit einer Ruhe ohnegleichen, ja mit einer +Selbstverständlichkeit begangen, die es ihm ermöglicht hat, keinen +Schnitzer zu begehen, der ihn verraten könnte. Die Verbrecher, die mit +sorgfältiger Überlegung zu Werke gehen, machen bekanntlich immer +irgendeinen Fehler, <span class='pagenum'><a name="Page_98" id="Page_98">[98]</a></span>der ihnen zum Verhängnis wird. Deruga hat gemordet, +wie ein anderer seine Suppe auslöffelt, beiläufig, beinah mechanisch, +und darum hat er keine Spur hinterlassen.«</p> + +<p>»Sehr fein bemerkt,« lobte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck. »Nur die +unbewußten Handlungen sind lebendig und fruchtbar und in ihrer Art +fehlerlos und unfehlbar. Ich möchte hinzusetzen, auch tadellos.«</p> + +<p>»An sich meinetwegen, in bezug auf die Zweckmäßigkeit,« entgegnete +Bernburger; »aber das ist jetzt nicht unser Standpunkt. Sonst wäre ja +jeder unmoralische Mensch in seinen unmoralischen Handlungen tadellos.«</p> + +<p>»Ist er denn das nicht?« fragte Wydenbruck. »Aber Deruga,« fuhr er fort, +»gehört nach meinem Dafürhalten nicht dahin. Ich halte ihn und nicht +minder seine Frau für moralisch zurechnungsfähig, aber für hysterisch. +Mord ist in unserer Zeit ein nur den untersten Schichten des Volkes +angemessenes Verbrechen; tritt er in gebildeten Kreisen auf, so deutet +er auf Hysterie oder Perversität.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_99" id="Page_99">[99]</a></span>»Das stimmt für uns,« sagte Bernburger, »aber nicht für die Italiener. +Übrigens gibt es auch bei uns Umstände und Leidenschaften, die einen +Gebildeten auf natürlicher Grundlage zum Mörder machen können, zum +Beispiel Eifersucht.«</p> + +<p>»Ich möchte die Eifersucht selbst für das Dämonische erklären,« sagte +der andere. »Jedenfalls glaube ich, daß wir es hier mit einer +hysterischen Mordlust zu tun haben, die nichts als verdrängter +Liebestrieb ist. Obwohl Derugas Frau ihn nach Aussage dieser guten, +komischen Brutta liebte, findet er keine Befriedigung. Um mehr +herauszupressen, erregt er Furcht, ihre Angst verdoppelt seinen Genuß, +aber seine Gier bleibt ungesättigt und wird auch über ihrem Leichnam +nicht erlöschen. Diese Unglücklichen sind die eigentlichen Vampire der +Sage.«</p> + +<p>»Daß es das gibt, bezweifle ich nicht,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, +»vielleicht hat sogar jeder Mensch etwas vom Vampir in sich; doch kann +ich Ihre Methode, die äußeren Beweggründe gar nicht in Betracht zu +ziehen, nicht billigen. <span class='pagenum'><a name="Page_100" id="Page_100">[100]</a></span>Sie sind vorhanden und üben ihre Wirkung aus, +so oder so.«</p> + +<p>»Auf Gesunde, ja,« antwortete Wydenbruck, »auf Kranke kaum oder nur, um +willkürlich verwertet zu werden. Auf Hysterie deutet bei Deruga schon +seine höchst merkwürdige Fähigkeit, sich auszuschalten, wann es ihm +paßt. Er ist überaus reizbar, leicht bis zu Tränen ergriffen, und im +nächsten Augenblick ist er wie von Stein. Er ist dann gewissermaßen +nicht mehr da. Wenn er sich darauf legte, könnte er es vielleicht dahin +bringen, sich tatsächlich zu spalten, und wir hätten dann die +Erscheinung der Doppelgängerei.«</p> + +<p>»Und die Frau?« forschte Bernburger; »warum halten Sie die Frau für +hysterisch?«</p> + +<p>»Ihre Furchtsamkeit ist ein hinreichendes Smyptom,« sagte <tt>Dr.</tt> von +Wydenbruck. »Beachten Sie doch, wie Mordlust und Furchtsamkeit +aufeinander eingestellt sind. Es ist höchst merkwürdig, wie solche +Naturen magnetisch zueinander hingezogen werden, um ihre +Wesenseigentümlichkeiten durcheinander aufs höchste zu <span class='pagenum'><a name="Page_101" id="Page_101">[101]</a></span>steigern und ihr +Los zu erfüllen. Alle Schranken durchbrechend offenbart sich der +Selbstvernichtungstrieb als rätselhafte Leidenschaft.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Es war, als hätten sich diese Gedanken dem Justizrat Fein mitgeteilt. +Denn als er seinen Klienten nach beendigter Sitzung traf, sagte er zu +ihm:</p> + +<p>»Hören Sie, Doktor, wenn wir Sie als geisteskrank hinzustellen +versuchten, hätten wir, glaube ich, Aussicht.«</p> + +<p>»Machen Sie das, wie Sie wollen,« sagte Deruga, »ich überlasse ja +ohnehin alles Ihnen. Da ich ein sehr guter Mensch bin und die Dinge sehe +und benenne, wie sie sind, ist es leicht möglich, daß man mich für +verrückt hält.«</p> + +<p>Der Justizrat sprach seine Absicht aus, Deruga zum Mittagessen zu +begleiten. Meister Reichardt werde schon etwas Eßbares haben, soviel er +wisse, führe der Alte sogar einen ganz guten Wein. Ohne einen Schluck +Wein, eine gute Zigarre und eine Tasse guten Kaffee könne er allerdings +um drei Uhr nicht weiterarbeiten.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_102" id="Page_102">[102]</a></span>»Das ist recht, daß Sie mitkommen,« sagte Deruga, »so können wir noch +ein bißchen miteinander tratschen. Aber hören Sie,« unterbrach er sich +plötzlich, »kommen Sie wirklich aus Teilnahme für mich, oder wollen Sie +mich aushorchen?«</p> + +<p>»Ja, mein Freund,« lachte der Justizrat, »wozu bin ich denn eigentlich +da? Ich vertrete ja Ihre Interessen, und wenn Sie vernünftig wären, +erzählten Sie von vornherein alles mir, anstatt zur Unzeit und zu Ihrem +Schaden damit herauszuplatzen. Mensch, Sie machen einem, weiß Gott, das +Handwerk schwer.«</p> + +<p>»Wenn ich eine alte Freundin nach zwanzig Jahren unverhofft wiedersehe,« +entschuldigte sich Deruga, »komme ich natürlich ins Schwatzen. Sie +hätten mich warnen sollen. Übrigens ist es mir ja gleichgültig.«</p> + +<p>In Derugas kleinem, altmodisch eingerichtetem Stübchen war der Tisch +schon bereit, und es brauchte nur ein zweites Gedeck aufgelegt zu +werden. Nachdem der Justizrat seinen ersten Hunger gestillt hatte, +lehnte er sich behaglich <span class='pagenum'><a name="Page_103" id="Page_103">[103]</a></span>zurück und sagte: »Sie scheinen Ihre Frau aber +doch mordsmäßig geliebt zu haben?«</p> + +<p>»Wieso?« fragte Deruga kühl. »In den Flitterwochen ist das doch +selbstverständlich. Seitdem habe ich Gott weiß wie viele andere +geliebt.«</p> + +<p>»Nun ja,« meinte der Justizrat, »aber man muß doch jedenfalls eine Frau +sehr lieben, um sich ihretwegen in eine solche Klemme zu bringen.«</p> + +<p>»Erstens konnte ich das nicht voraussehen,« sagte Deruga, »und zweitens +täte ich das für jeden Menschen, und es ist schlimm genug, daß das nicht +alle tun. Wenn ein Jäger ein angeschossenes Tier nicht möglichst schnell +vollends tötete, würde man ihn mit Recht einen rohen Kerl nennen. +Menschen dagegen sieht man wochenlang, monatelang Qualen leiden, bevor +sie sterben können, und hilft ihnen nicht. Schöne Nächstenliebe! Als ob +man einem überhaupt ein kostbareres Geschenk machen könnte als den Tod! +Ich wäre dem, der mir das Leben abkürzt, wenn ich nicht mehr dazu tauge, +bedeutend dankbarer als denen, die es mir gegeben.«</p> + +<p>»Das hat denn doch seine zwei Seiten, mein <span class='pagenum'><a name="Page_104" id="Page_104">[104]</a></span>Lieber,« sagte der +Justizrat. »Da könnte schließlich jeder Neffe seinen reichen Erbonkel +umbringen und behaupten, er habe es aus Nächstenliebe getan.«</p> + +<p>Deruga schoß das Blut ins Gesicht. »Was meinen Sie damit?« sagte er. +»Das ist eine gemeine Anspielung, die ich mir verbitte.«</p> + +<p>»Erlauben Sie,« sagte der Justizrat besänftigend, »das war ganz sachlich +geredet, und wenn Sie empfindlich sind, kommen wir nicht weiter. Der +Mensch ist einmal ein Kentaur, und außer guten Antrieben gibt es auch +schlechte. Und wenn einer eine Person tötet, deren Tod ihm Vorteil +bringt, so muß man wenigstens mit der Möglichkeit rechnen, er habe es +mindestens zum Teil des Vorteils wegen getan.«</p> + +<p>»Sie wissen,« sagte Deruga, »daß ich von dem Testament meiner Frau keine +Ahnung hatte.«</p> + +<p>»Das heißt, Sie haben es mir gesagt!« berichtigte der Justizrat +gelassen.</p> + +<p>»Wenn Sie meinen Worten nicht glauben,« rief Deruga außer sich, »so +spreche ich überhaupt <span class='pagenum'><a name="Page_105" id="Page_105">[105]</a></span>nicht mehr mit Ihnen. Was fällt Ihnen ein, meine +Verteidigung zu übernehmen, wenn Sie mich für einen gemeinen Raubmörder +halten? Das ist unanständig gehandelt, ebenso unanständig, wie wenn ich +meine Frau umgebracht hätte, um sie zu beerben. Und unanständig ist es, +unter der Maske des Wohlwollens und der Zuneigung mit mir zu verkehren.« +Er war graubleich im Gesicht geworden und hatte unwillkürlich mit der +schlanken, braunen Hand den Griff seines Messers erfaßt.</p> + +<p>»Ja, hören Sie mal,« sagte der Justizrat gutmütig, »wollen Sie mir +eigentlich zwischen Käse und Kaffee die Kehle durchschneiden? Sie sind +ein rabiater Italiener, und ich sollte mir jedesmal einen Blechpanzer +unterschnallen, bevor ich zu Ihnen gehe.«</p> + +<p>»Bevor Sie mich beleidigen, allerdings,« gab Deruga zurück; »nur würde +Ihnen das wenig nützen.«</p> + +<p>»Ist das eine Beleidigung,« fuhr der Justizrat fort, »wenn ich sage, ich +halte es für möglich, daß Sie von dem Testament Ihrer Frau Bescheid +<span class='pagenum'><a name="Page_106" id="Page_106">[106]</a></span>wußten? Sage ich denn, daß dieser Umstand Sie zur Tat bewog? Ich sage +nur, man muß die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß dieser Umstand +mitwirkte.«</p> + +<p>Deruga ließ das Messer auf den Tisch fallen und lehnte sich müde in +seinen Stuhl zurück. »Die Möglichkeit ist deshalb ausgeschlossen,« sagte +er, »weil die Voraussetzung fehlt. Sie wissen, daß das Testament mich +nicht beeinflussen konnte, weil ich keine Ahnung davon hatte. Sie wissen +das, weil ich es Ihnen sagte und Sie mir glauben müssen. Das sogenannte +Publikum, das dumm ist und mich nicht kennt, braucht mir nicht zu +glauben, aber von Ihnen verlange ich es.«</p> + +<p>Der Justizrat schwieg eine Weile und sagte dann: »Versuchen Sie, mein +Bester, einmal einen Teil der Gerechtigkeit selbst zu üben, die Sie von +anderen in so reichem Maße verlangen! Ich habe erst seit kurzem das +Vergnügen, Sie zu kennen, und zwar lernte ich Sie unter sehr +zweideutigen Umständen kennen. Viel Gutes hört man nicht von Ihnen. Sie +führen ein <span class='pagenum'><a name="Page_107" id="Page_107">[107]</a></span>Lotterleben, arbeiten nur, wenn Sie keinen Pfennig mehr in +der Tasche haben, obwohl Sie einen einträglichen Beruf und viel Verstand +haben. Sie haben sich absichtlich verkommen lassen, sind sozusagen ein +mutwilliger Vagabund. Wäre es nicht leichtfertig oder dumm von mir, wenn +ich Ihnen durch dick und dünn glaubte, auch wo etwa Tatsachen oder +berechtigte Mutmaßungen dagegen sprechen? Wären Sie nicht der erste, +mich allenfalls auszulachen und zu sagen: Der Fein ist ein echter +Deutscher, dumm wie eine Kartoffel?«</p> + +<p>Deruga wandte dem Justizrat mit einem liebenswürdigen Lächeln das +Gesicht wieder zu. »Für einen Deutschen sind Sie wirklich ziemlich +gescheit,« sagte er, »und dabei ein ganz guter Kerl. Aber ich sehe nicht +ein, warum Sie mich nicht die Wahrheit sagen ließen. Dann wäre diese +langweilige und ekelhafte Geschichte schon zu Ende.«</p> + +<p>Der Justizrat sah gedankenvoll in den Rauch seiner Zigarre und +schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen nach bester Überzeugung geraten,« +<span class='pagenum'><a name="Page_108" id="Page_108">[108]</a></span>sagte er. »Daß Sie die Tat aus reinen, edlen Motiven begangen haben, +hätten Sie nicht beweisen können; umgekehrt kann man Ihnen nicht +beweisen, daß Sie sie überhaupt begangen haben, es müßten sonst noch +ganz unvorhergesehene Indizien herauskommen. Ich denke also, wenn Sie +konsequent leugnen, bringe ich Sie durch. Und das ist doch besser als +ein paar Jahre Gefängnis, wenn Sie vielleicht auch einen ganz +gemütlichen Diogenes darin vorgestellt hätten. So wagen wir einen hohen +Einsatz, können aber auch einen hohen Gewinn davontragen; im anderen +Falle bekämen wir auch im besten Falle nur Stückwerk!«</p> + +<p>»Und Sie sind kein Flickschneider, sondern ein Kleiderkünstler,« sagte +Deruga. »Ich gehöre aber eigentlich in die Bude des Flickschneiders.«</p> + +<p>»Ein echter Italiener kann ebensogut den Lazzarone wie den Edelmann +spielen,« sagte der Justizrat. »Wenn Sie erst frei und im Besitze Ihres +Vermögens sind, werden Sie diesen kurzen Schmerz vergessen und womöglich +ein neues Leben anfangen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_109" id="Page_109">[109]</a></span>»Ein neues Leben anfangen?« lachte Deruga. »Mit sechsundvierzig Jahren! +Als ob ich nicht längst genug und übergenug davon hätte!«</p> + +<p>»Na, da will ich Ihnen weiter nicht hineinreden,« sagte der Justizrat. +»Sie können ja auch weiter lumpen. Jedenfalls leuchtete Ihnen mein Rat +damals ein, und Sie haben ihn aus freien Stücken angenommen.«</p> + +<p>»Ich tue alles, was Sie wollen, damit die Baronin Truschkowitz, diese +niederträchtige Person, das Vermögen nicht bekommt,« sagte Deruga. »Wäre +das nicht, ich ließe mich ruhig köpfen oder ins Zuchthaus sperren. Das +Leben ist einen solchen Kampf nicht wert.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_110" id="Page_110">[110]</a></span></p> +<h2><a name="IV" id="IV"></a><tt>IV.</tt></h2> + + +<p>Auf der von unsicheren Frühlingssonnenstrahlen durchflackerten, breiten +Straße, die auf die Front des Justizgebäudes führte, stieß <tt>Dr.</tt> +von Wydenbruck auf den Oberlandesgerichtsrat Zeunemann, stellte sich vor +und sprach seine Bewunderung über die Art aus, wie der +Oberlandesgerichtsrat die Verhandlung führte. Er sei für den Einblick in +eine komplizierte Psyche, der ihm da gewährt würde, sehr erkenntlich, +und er sei überzeugt, <tt>Dr.</tt> Zeunemann werde noch immer mehr in ihre +Tiefen und Untiefen hineinleuchten.</p> + +<p>»Ich pflege meine Fragen so zu stellen,« sagte der +Oberlandesgerichtsrat, »daß alles auf den Fall Bezügliche an äußeren und +inneren Tatsachen von selbst hervorkommt. Nicht mit Hebeln und +Schrauben, wissen Sie, sondern unwillkürlich, wie sich ein Blatt +entrollt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_111" id="Page_111">[111]</a></span>»Ja, ich habe das bemerkt,« sagte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck entzückt, +»es ist wundervoll. Sie schaffen gewissermaßen nur die geeignete +Atmosphäre, und das Spiel des Lebens entfaltet sich. Bisher haben Sie +die Bestrahlung des Tages vorwalten lassen, vielleicht lassen Sie es +auch einmal Nacht werden, lassen die Schatten aus dem Hades der Seele +aufsteigen.«</p> + +<p>»Sie sind Psycholog und wollen Ihre Studien machen?« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann.</p> + +<p>»Von Ihrer reichbesetzten Tafel fällt vieles ab,« erwiderte <tt>Dr.</tt> +von Wydenbruck verbindlich.</p> + +<p>Sie blieben auf der breiten Freitreppe stehen, um das Gespräch zu +beenden, während es drei Uhr schlug. »Ich kann dazu nicht so viel tun, +wie Sie glauben,« erklärte der Oberlandesgerichtsrat. »Ohne Seelenkunde +kann allerdings heutzutage kein Kriminalist auskommen, aber ich sage mit +Absicht 'Seelenkunde', um auszudrücken, daß es sich nach meiner Meinung +um keine eigentliche Wissenschaft handelt, sondern um ein angeborenes +Gefühl, man könnte es Genialität nennen. Ich lasse mich weit <span class='pagenum'><a name="Page_112" id="Page_112">[112]</a></span>mehr von +meinem Gefühl als von Berechnung leiten; Sie werden sich wundern, eine +solche Ansicht von einem Juristen zu hören.«</p> + +<p>Während Herr <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck Verwunderung und Bewunderung +ausdrückte, hatte sich der Schwurgerichtssaal gefüllt, und einer von den +Geschworenen, Geflügelzüchter Köcherle, fragte den Obmann der +Geschworenen, Kommerzienrat Winkler, neben dem er saß, wer die feine +Dame mit der langgestielten, goldenen Lorgnette in der ersten Reihe des +Zuschauerraums sei.</p> + +<p>»Das ist doch die Baronin Truschkowitz, die die ganze Geschichte in Gang +gebracht hat,« sagte der Kommerzienrat. »Kennen Sie denn die nicht?«</p> + +<p>»So sieht die aus?« rief der andere erstaunt aus. »Die hätte ich mir +sehr schäbig und unterernährt vorgestellt, weil sie von der dürftigen +Lage ihrer Kinder redet, und wie sie sich durchs Leben kämpfen müßten.«</p> + +<p>»Der Adel,« sagte der Kommerzienrat, die Achsel zuckend, »hat eben +andere Begriffe von <span class='pagenum'><a name="Page_113" id="Page_113">[113]</a></span>dem, was man braucht und beanspruchen darf. +Übrigens, wenn einer, der viel hat, noch mehr haben kann, sagt er nie +Nein.«</p> + +<p>Der Geflügelhändler gab das zu, aber er fand es doch geschmacklos, sich +so kostbar zu tragen, wenn man so redete, als wimmerten seine Kinder +nach dem täglichen Brot.</p> + +<p>»Ihre Toilette ist aber geschmackvoll,« bemerkte ein anderer.</p> + +<p>»Und teuer,« setzte der Kommerzienrat hinzu, indem er einen schätzenden +Blick über die Dame gleiten ließ.</p> + +<p>»Der Reiherbusch auf dem Hut etwa hundert Mark, die Brillanten im Stiel +der Lorgnette vielleicht tausend Mark.«</p> + +<p>»Sind es echte Brillanten?« fragte der Geflügelzüchter mit großen Augen.</p> + +<p>»Ja, das Feuer haben nachgeahmte Steine nicht,« sagte der Kommerzienrat +beinahe hitzig. »Wenn man auch dahin kommt, Brillanten künstlich +herzustellen, so stimmt es meinetwegen nach der chemischen Formel, aber +das Feuer der natürlichen Steine ist anders. Das <span class='pagenum'><a name="Page_114" id="Page_114">[114]</a></span>lasse ich mir nicht +abstreiten. Die Natur ist eben doch unerreichbar.«</p> + +<p>»Sind das denn auch Brillanten, die sie auf dem Hut hat?« fragte der +Geflügelzüchter.</p> + +<p>»Bewahre,« antwortete der Kommerzienrat mißbilligend, »dazu weiß eine +solche Dame zu gut Bescheid in Geschmacksfragen. Das ist eine moderne +Phantasieagraffe, die etwa fünfzig Mark gekostet hat. Aber Sie sind ja +das reine Kind in solchen Sachen!«</p> + +<p>»Stimmt,« gab der Geflügelzüchter zu, »wenn meine Frau nicht ein bißchen +nach mir schaute, wäre ich von einem Bauernknecht nicht zu +unterscheiden. Und ich will Ihnen ganz offen sagen, was man so eine +elegante Frau von Welt nennt und eine sogenannte Demimonde-Dame, kenne +ich nicht auseinander.«</p> + +<p>»Was Sie sagen,« rief der Kommerzienrat. »Aber das gibt es ja gar nicht! +Da muß man sich doch auskennen.«</p> + +<p>»Was ist denn zum Beispiel die Truschkowitz für ein Typus?« fragte der +Geflügelzüchter. »Steht das nicht ungefähr auf der Grenze?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_115" id="Page_115">[115]</a></span>»Ich bitte Sie,« sagte der Kommerzienrat, vor Schreck und Ärger +errötend, »das ist eine ganz feine Frau von Welt! Der Anzug ist der gute +Ton und die Diskretion selbst.«</p> + +<p>»Na, wissen Sie,« wandte der andere ein, »eine gescheite Demimonde-Dame +sollte das doch nachmachen können. So etwas lernt sich doch bald.«</p> + +<p>»Nein,« beharrte der Kommerzienrat, noch immer rot und erregt. »Ein +gewisses Etwas lernt sich eben nicht. Es läßt sich nicht lernen, weil es +sich nur fühlen läßt. Da gibt ein Atom den Ausschlag.«</p> + +<p>Der eintretende Gerichtshof unterbrach das Zwiegespräch, Frau Hauptmann +Schmid wurde wieder vorgeführt, und nachdem der Vorsitzende sie nochmals +ermahnt hatte, die Wahrheit zu sagen und nichts zurückzuhalten, faßte er +das Ergebnis ihrer bisherigen Aussage zusammen:</p> + +<p>»Bald nach seiner Verheiratung mit seiner um einige Jahre älteren Frau +bezog der Angeklagte eine Sommerwohnung bei Ihren Großeltern in Laibach. +Die Derugas machten den <span class='pagenum'><a name="Page_116" id="Page_116">[116]</a></span>Eindruck eines glücklichen Paares, dessen Glück +immerhin getrübt wurde durch gewisse Eigenheiten des Mannes, namentlich +seine an Jähzorn streifende Heftigkeit und seine Neigung zur Eifersucht. +Soweit Sie wissen, war eine Eifersucht unbegründet. Nicht wahr, ich habe +Sie recht verstanden.«</p> + +<p>»Darüber kann ich doch unmöglich etwas wissen,« sagte Frau Schmid. »Denn +es handelte sich ja um Vergangenes. Daß die arme Marmotte einen anderen +gern gehabt hat, kann ja leicht sein, sie war ja gewiß schon dreißig +Jahre alt, und ich glaube es sogar; denn der Doktor wäre doch närrisch +gewesen, wenn er die Geschichte erfunden hätte, um sie und sich damit zu +plagen.«</p> + +<p>»Sie sagten doch aber heute morgen einmal,« hielt ihr <tt>Dr.</tt> +Zeunemann vor, »Sie hielten es für ausgeschlossen, daß Frau <tt>Dr.</tt> +Deruga sich jemals hätte etwas zuschulden kommen lassen.«</p> + +<p>»Zuschulden kommen lassen,« wiederholte Frau Schmid, »davon ist doch +keine Rede. Mein Gott, man wird doch einmal einen gern haben dürfen, +ohne daß einem gleich daraus der Strick gedreht <span class='pagenum'><a name="Page_117" id="Page_117">[117]</a></span>wird. Ich habe doch +auch unser Doktorchen gern gehabt — nun, das Gefühl ist im Keime +steckengeblieben —, aber wenn es auch einmal einen Kuß gegeben hätte, +was wäre dabei? Den Allzuzimperlichen traue ich am wenigsten.«</p> + +<p>»Sie haben aber keinen Anhaltspunkt dafür,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, +»daß die damalige Frau Deruga etwaige frühere Beziehungen derzeit noch +fortgesetzt hätte?«</p> + +<p>»Bewahre!« rief Frau Hauptmann Schmid fast schreiend, »was meinen Sie +denn, dann wäre sie ja eine ganz infame Kröte gewesen! Da brauchen Sie +nur Herrn Doktor selbst zu fragen, der wird es Ihnen schon sagen. Ich +glaube, er spränge Ihnen gleich an die Kehle, wenn Sie ihn so etwas +fragten!«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann konnte nicht umhin zu lächeln. »Darum halte ich +mich lieber an Sie,« sagte er. »Sie halten also für möglich, daß Frau +Deruga vor ihrer Verheiratung einmal eine Neigung hatte, sind aber +überzeugt, daß derzeit jede etwaige Beziehung gelöst war. In Anbetracht +des Umstandes, daß der Angeklagte sich als Arzt <span class='pagenum'><a name="Page_118" id="Page_118">[118]</a></span>zuerst in Linz +niederließ, gab er im Dezember die Sommerwohnung bei Ihren Großeltern +auf. Haben Sie später noch im Verkehr mit ihm und seiner Frau +gestanden?«</p> + +<p>»Sie schickten eine Anzeige von der Geburt des kleinen Mädchens,« sagte +Frau Schmid, »das nachher starb. Die Anzeige ließ ich mir von der +Großmutter schenken und habe sie noch. Ich hatte immer das Gefühl, daß +es besondere Menschen wären, und wartete lange darauf, daß sich etwas +Besonderes mit ihnen begeben würde. Daß es so käme, dachte ich freilich +nicht.«</p> + +<p>Nachdem noch einige Fragen über die Besuche, die Derugas empfingen, und +über ihren Geldverbrauch gestellt waren, wurde Frau Hauptmann Schmid +entlassen, und ein eleganter Herr von etwa sechsunddreißig Jahren folgte +ihr. Er sah so überaus tadellos aus, daß er an eine Figur aus dem +Modeblatt erinnerte, und auch sein Gesicht hatte einen dementsprechenden +regelmäßigen Zuschnitt; nur war es nicht glatt und rosig, sondern +blaßgrau, müde und etwas eingefallen.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_119" id="Page_119">[119]</a></span>Er machte eine Verbeugung, durch welche er dem Gerichtshof den Respekt +zuteilte, den er jeder staatlichen Einrichtung, wie weit er persönlich +auch darüber stehen mochte, zugestand, und ließ unter anderen +Personalien feststellen, daß er Peter Hase heiße und in München wohnhaft +sei. Dann wurde er aufgefordert mitzuteilen, wie er die Bekanntschaft +des Angeklagten gemacht habe.</p> + +<p>»Wir wurden einander im Kavalier-Café, wo er verkehrte, vorgestellt. Es +ist kein Café ersten Ranges, aber ein sehr behagliches Lokal und +ziemlich viel von Künstlern besucht, weil es eigentlich für +Nichtkünstler gegründet wurde. Deruga ist dort sehr bekannt, und ich +hatte öfters von ihm als von einer eigentümlichen Persönlichkeit und +einem guten Gesellschafter sprechen hören, so daß ich mich freute, ihn +kennenzulernen. Er hatte einen bestimmten Platz an einem bestimmten +Tisch, wo sich ein ziemlich gemischter Kreis um ihn zu versammeln +pflegte.«</p> + +<p>»Waren Herren aus der Gesellschaft darunter?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_120" id="Page_120">[120]</a></span>»Sowohl solche wie andere,« antwortete Peter Hase, »hauptsächlich aus +der Bohème.« Er sprach das Wort so unbetont aus, daß es unmöglich +gewesen wäre, herauszufühlen, ob er Verachtung oder Sympathie oder sonst +was für den Begriff empfand. Überhaupt hatte er etwas vollkommen +Beziehungsloses; er schien keine Umwelt als leere, weiße Mauern zu +haben.</p> + +<p>»Traten Sie in ein intimeres Verhältnis zu Deruga?« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann.</p> + +<p>»Das nicht,« sagte Herr Hase, ohne die Zumutung, er könne zu irgend +jemandem in intimere Verhältnisse treten, im allermindesten zu rügen, +»aber er interessierte mich immer, wenn ich ihn sah.«</p> + +<p>»Darf ich Sie bitten,« sagte der Vorsitzende, »jetzt den Auftritt zu +schildern, der zwischen Ihnen und Deruga in dem erwähnten Café +stattfand?«</p> + +<p>Herr Hase verbeugte sich zustimmend. »Erlauben Sie mir die +Richtigstellung,« begann er, »daß von einem Auftritt zwischen <tt>Dr.</tt> +Deruga und mir insofern nicht die Rede sein kann, als ich mich in keiner +Weise aktiv dabei beteiligt <span class='pagenum'><a name="Page_121" id="Page_121">[121]</a></span>habe. Es hatte damals ein Grubenunglück +stattgefunden, bei welchem eine Anzahl Arbeiter verunglückt waren, und +es wurde für die Hinterbliebenen gesammelt. An jenem Nachmittag kam eine +Dame mit einer Liste für Unterschriften und Beiträge in das Café.«</p> + +<p>»Eine Dame?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Eine Frau, wenn Sie lieber wollen,« sagte Herr Hase, »sie war sehr +dürftig gekleidet. Sie näherte sich unserem Tisch, und da ich zunächst +saß, gab ich ihr durch eine Handbewegung oder ein Kopfschütteln zu +verstehen, sie solle sich nicht bemühen; denn ich finde Sammlungen jeder +Art in Vergnügungslokalen unpassend. <tt>Dr.</tt> Deruga, der im Besitz +einer außerordentlichen Beobachtungsgabe ist, hatte den kleinen Vorgang +bemerkt und rief die Dame oder Frau, die im Begriffe war weiterzugehen, +zurück. 'Warum kommen Sie nicht zu uns, liebes Kind?' sagte er. 'Kommen +Sie, wir möchten auch etwas zeichnen.' Dann überhäufte er mich mit +Vorwürfen, daß ich die Dame eigenmächtig, ohne die Absicht der +Gesellschaft zu kennen, verscheucht <span class='pagenum'><a name="Page_122" id="Page_122">[122]</a></span>hätte. Um der Sache ein Ende zu +machen, griff ich schnell nach der Liste, zeichnete einen Betrag und gab +sie weiter. Als sie an Deruga kam, überlas er die Einträge und ärgerte +sich, wie ich sofort an seinem Gesicht sehen konnte, über ihre +Geringfügigkeit. 'Sehen Sie, liebes Kind,' sagte er zu der Dame, 'diese +Herren hier sind reich und haben infolgedessen, da sie sich Häuser +bauen, Autos halten und Sekt trinken müssen, kein Geld für +Arbeiterfrauen und Arbeiterkinder übrig, deren es ohnehin zu viele gibt. +Ich dagegen bin arm, sollte mich eigentlich aufhängen und brauche +infolgedessen nur einen Strick, der wenig kostet; daher bin ich in der +Lage, dreihundert Mark zu zeichnen, die ich Sie in meiner hier +angegebenen Wohnung abzuholen bitte. Übrigens können Sie einstweilen als +Pfand diese Nadel hier mitnehmen.' Er zog dabei eine eigentümliche, +augenscheinlich sehr wertvolle Nadel aus seiner Krawatte und händigte +sie der Dame ein, die, ohnehin durch sein Benehmen in Verlegenheit +gesetzt, sich weigerte, sie anzunehmen, aber endlich nachgeben mußte. +Ein paar von den Herren, <span class='pagenum'><a name="Page_123" id="Page_123">[123]</a></span>die <tt>Dr.</tt> Deruga besser kannten als ich, +sagten zu ihm, wenn jeder etwa fünf Mark zeichnete, käme genug zusammen; +es sei doch nicht die Absicht, die hinterbliebenen Arbeiterfrauen +reicher zu machen, als man selbst sei. Er solle Vernunft annehmen und +eine seinen Verhältnissen angemessene Summe geben. Dadurch reizten sie +<tt>Dr.</tt> Deruga noch mehr, er wurde wütend und sprudelte im Zorne +allerlei Äußerungen hervor, die ich natürlich nur ganz ungefähr +wiedergeben könnte.«</p> + +<p>Der Vorsitzende bat dies zu tun, soweit es sein Gedächtnis erlaubte.</p> + +<p>Herr Hase verbeugte sich zustimmend. »Er sagte also ungefähr so: 'Meine +Verhältnisse? Was wissen Sie von meinen Verhältnissen? In Ihren Augen +bin ich ein armer Teufel, und Sie glauben deshalb sich über mich zu +amüsieren und mich bevormunden zu können. Sie sehen eine Art Hofnarren +in mir, der dazu da ist, Sie zu unterhalten, übrigens aber keine +Ansprüche zu stellen hat. Ich könnte ebenso wie Sie eine reiche Frau +heiraten und wäre dann in denselben Verhältnissen wie Sie. Übrigens habe +<span class='pagenum'><a name="Page_124" id="Page_124">[124]</a></span>ich das nicht einmal nötig, denn ich kann jederzeit über das Vermögen +meiner geschiedenen Frau verfügen. Nach ihrem Tode werde ich ein reicher +Mann und wahrscheinlich ebenso geizig und habgierig wie Sie jetzt; also +nehmen Sie mein Geld, solange ich noch arm bin, liebes Kind!' Ich bitte +übrigens nochmals zu bedenken,« setzte Herr Hase hinzu, »daß ich +erzähle, was die Erinnerung mir aufbewahrt hat oder mir vorspiegelt. Das +beste wird sein, wenn Sie <tt>Dr.</tt> Deruga selbst befragen, ob er die +von mir wiedergegebenen Worte als die seinigen anerkennt.«</p> + +<p>Der Vorsitzende hatte kaum den Kopf nach Deruga gewendet, als dieser +vergnügt ausrief: »Vorzüglich war die ganze Schilderung und eines so +ausgezeichneten Schriftstellers würdig. Ich mache einen viel besseren +Eindruck darin, als ich für möglich gehalten hätte. Wahrscheinlich habe +ich alles das gesagt, nur hat Herr Hase, anständig wie er ist, alle die +Beschimpfungen weggelassen, die ich ihm persönlich an den Kopf geworfen +habe, über seine Herzlosigkeit, Verlogenheit, Nichtigkeit und so +weiter.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_125" id="Page_125">[125]</a></span>»Ich habe weggelassen, was nicht unbedingt zur Sache gehört,« sagte +Herr Hase gegen den Präsidenten gewendet, »allerdings hätte ich seine +Ausfälle gegen mich vielleicht nicht ganz unterdrücken sollen, weil +daraus deutlich wird, wie sehr er im Augenblick der Erregung unter der +Herrschaft seines Temperaments steht, und man nur sehr bedingterweise +Schlüsse aus den Äußerungen ziehen darf, die er in solchen Augenblicken +tut.«</p> + +<p>»Ich bitte um die Erlaubnis,« sagte Justizrat Fein, aufstehend, »dieser +sehr richtigen Bemerkung des Zeugen eine ähnliche hinzuzufügen. Das +Ergebnis der eben vernommenen Aussage ist hauptsächlich, daß man Deruga +überhaupt nicht zu ernst nehmen darf. Man muß in Italien gewesen sein +und die Italiener kennen, um ihn richtig zu beurteilen. Seine Reden +erinnern zuweilen an das Pathos, mit dem ein italienischer Quacksalber +auf dem Markte seine Hühneraugenpflaster anpreist: 'Meine Damen und +Herren, und wenn Ihr leiblicher Bruder hier stünde, er könnte Sie nicht +ehrlicher bedienen, als ich es tue. Nicht um meinetwillen, um +<span class='pagenum'><a name="Page_126" id="Page_126">[126]</a></span>Ihretwillen stehe ich hier, denn was bedeuten die paar Pfennige, die +Sie mir geben, gegen das, was ich Ihnen verschaffe, ein schmerzloses +Dasein, einen sieghaften Gang, die Gunst der Frauen, die Bewunderung der +Männer!'«</p> + +<p>Während im Publikum gelacht wurde, legte <tt>Dr.</tt> Zeunemann seine +Stirn in leichte Falten und sagte: »Man darf immerhin nicht vergessen, +daß die Italiener als schlaue Leute von ihren nationalen +Eigentümlichkeiten sehr guten Gebrauch zu machen wissen, und daß, wer +häufig Masken trägt, deshalb doch ein Gesicht hat, wenn auch mitunter +schwer zu entscheiden sein mag, welches das echte ist. Ich will aber +jetzt nicht Philosophie treiben, sondern Tatsachen feststellen, und da +möchte ich darauf hinweisen, daß uns von dem Angeklagten noch ähnliche +Aussprüche bekannt geworden sind, die er in vollständigem seelischem +Gleichgewicht machte. Ferner möchte ich wissen, ob der Angeklagte damals +die gezeichnete Summe gezahlt hat?«</p> + +<p>Herr Hase bedauerte, darüber keine Auskunft geben zu können. Auf der +vordersten Reihe <span class='pagenum'><a name="Page_127" id="Page_127">[127]</a></span>der Geschworenensitze erhob sich Kommerzienrat Winkler +und sagte: »Die gewünschte Auskunft gibt uns vielleicht die Nadel in der +Krawatte des Angeklagten. Es dürfte die verpfändete sein, die er also +augenscheinlich ausgelöst hat!«</p> + +<p>Deruga bestätigte, daß es die Nadel sei, die er gegen Bezahlung der +genannten Summe zurückerhalten habe, zog sie heraus und bot sie zur +Besichtigung an.</p> + +<p>»Haben Sie denn wirklich die dreihundert Mark gegeben?« fragte der +Justizrat Fein. »Wie hatten Sie denn gleich soviel Geld übrig?« Deruga +zuckte etwas ungeduldig die Schultern. »Glauben Sie denn,« sagte er, +»ich hätte mir nicht jeden Augenblick dreihundert Mark verschaffen +können? Ich brauchte mir zum Beispiel nur einen Vorschuß vom +italienischen Konsulat geben zu lassen für Übersetzungen, Untersuchungen +oder dergleichen. Deruga hat Gehirn im Schädel und keine Kartoffeln.«</p> + +<p>Inzwischen hatte der Vorsitzende die Nadel betrachtet und fragte Herrn +Hase, ob es dieselbe sei, die der Angeklagte an jenem Abend als Pfand +<span class='pagenum'><a name="Page_128" id="Page_128">[128]</a></span>gegeben habe, was Peter Hase, nachdem er einen diskreten Blick darauf +geworfen hatte, bejahte.</p> + +<p>»Es ist ein auffallend schönes Stück,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, in +den Anblick der Nadel versunken, die einen Mohrenkopf mit Turban +darstellte; der Kopf bestand aus einer schwarzen, der Turban aus einer +weißen Perle, und der letztere war reich mit Rubinen und Smaragden +besetzt.</p> + +<p>»Ein Geschenk meiner verstorbenen Frau,« sagte Deruga, indem er die +Nadel wieder in Empfang nahm. »Sie meinte, sie sei wie gemacht für einen +Othello wie mich.«</p> + +<p>Nach diesem Zwischenfall fragte der Vorsitzende den Zeugen, ob er noch +irgend etwas hinzuzufügen habe. Über Herrn Hases unbewegliches Gesicht +ging zum ersten Male ein schwaches Erröten; seine Aufmerksamkeit war +nämlich durch die Baronin Truschkowitz abgelenkt worden, die, in der +ersten Reihe der Zuschauer sitzend, sich weit vorgebeugt und die von dem +Präsidenten gehaltene Nadel mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit +betrachtet hatte. Angeredet, drehte er sich erschreckt um und sagte, +<span class='pagenum'><a name="Page_129" id="Page_129">[129]</a></span>daß er nichts mehr zur Sache mitzuteilen wisse, aber bereit sei, auf +fernere Fragen zu antworten.</p> + +<p>Peter Hase verließ nach Schluß der Sitzung das Gerichtsgebäude nicht, +sondern wartete auf <tt>Dr.</tt> Zeunemann, stellte sich ihm vor und bat, +ein paar Fragen an ihn richten zu dürfen, worauf der +Oberlandesgerichtsrat ihn in sein Zimmer mitnahm. Hauptsächlich wünschte +Herr Hase zu wissen, welche Strafe den Angeklagten etwa treffen könnte, +falls er wider Erwarten verurteilt würde.</p> + +<p>»Ja, sehen Sie, Verehrtester,« antwortete <tt>Dr.</tt> Zeunemann, während +er seinen Talar mit dem Gehrock vertauschte, »bis jetzt geht die Anklage +nur auf Totschlag, und dabei würde er mit ein paar Jahren Zuchthaus +davonkommen. Aber unser Staatsanwalt sieht es eigentlich als Mord an, +und wenn noch irgendein dahinzielendes Indizium auftaucht, kann die +Geschichte bedenklich werden. Wenn zum Beispiel festgestellt würde, daß +der Mann mit dem Inhalt des Testaments bekannt war, ja, dann würde die +Meinung des Staatsanwalts wahrscheinlich durchdringen, und in <span class='pagenum'><a name="Page_130" id="Page_130">[130]</a></span>dem Falle +würden wir auch sofort, so leid es mir tut, zur Verhaftung schreiten +müssen.«</p> + +<p>»Darf ich fragen,« erkundigte sich Herr Hase, »wie Sie persönlich die +Sache beurteilen?«</p> + +<p>»Ich bin zu sehr Psychologe,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »um nicht +einen gewissen Anteil an problematischen Charakteren zu nehmen. Was für +eine Grundfarbe dieses Chamäleon eigentlich hat, darüber bin ich, um die +Wahrheit zu sagen, noch nicht ins klare gekommen.«</p> + +<p>»Warum sollte er überhaupt eine Grundfarbe haben?« sagte Herr Hase +verhältnismäßig lebhaft. »Der schimmernde Wechsel ist die Natur dieses +fabelhaften Geschöpfes. Ich habe eine große Sympathie für Chamäleons,« +fügte er nach einer Pause hinzu.</p> + +<p>»Ich verstehe, ich verstehe,« erwiderte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »schön, +aber schlüpfrig. Die ästhetische Betrachtungsweise ist sehr verschieden +von der moralischen und diese nicht immer identisch mit der +juristischen.«</p> + +<p>Er war im Begriff, einen breitrandigen Filzhut vom Gestell zu nehmen, +als es klopfte und <span class='pagenum'><a name="Page_131" id="Page_131">[131]</a></span>auf sein unwirsches Herein die Baronin Truschkowitz +auf der Schwelle erschien, der der Staatsanwalt die Tür öffnete.</p> + +<p>»Lieber Präsident,« sagte sie rasch, indem sie ihm ihre in einem weißen, +festanliegenden Lederhandschuh steckende Hand reichte, »ich weiß, daß es +im höchsten Grade zudringlich ist, Sie in Ihrem Heiligtum und noch dazu +um diese Zeit zu überfallen, aber Sie sind zu ritterlich, um mich +hinauszuwerfen, und ich bin zu unedel, um Ihre Höflichkeit nicht +auszunutzen.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann stieß einen komischen Seufzer aus. »Machen Sie es +wenigstens kurz, Frau Baronin,« sagte er.</p> + +<p>Sie lachte ein helles, jugendliches Lachen, in dem ein girrender Ton +war, der etwas Verführerisches hatte. »Ich mache es schon kurz,« sagte +sie, »wenn nur Sie, Herr Präsident, es nicht in die Länge ziehen. Es +betrifft die Nadel, die Sie heute in der Hand hatten und jenem Menschen +zurückgaben. Ich erkannte sie sofort wieder als ein Erbstück meiner +Urgroßmutter, das heißt, meiner und meiner verstorbenen <span class='pagenum'><a name="Page_132" id="Page_132">[132]</a></span>Kusine +Urgroßmutter. Es ist mir unleidlich, dies kostbare Andenken in den +Händen jenes Menschen zu wissen, und ich möchte Sie bitten zu bewirken, +daß sie mir eingehändigt wird.«</p> + +<p>»Ihnen, Frau Baronin,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann erstaunt, »ja, gehört +sie denn Ihnen?«</p> + +<p>»Natürlich,« sagte die Baronin, »ich bin bekanntlich die nächste +Verwandte der Verstorbenen.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann war so betroffen, daß er sich unwillkürlich setzte, +nicht ohne auch der Baronin durch eine Gebärde einen Stuhl anzubieten. +»Aber die Nadel gehörte ja gar nicht Ihrer Kusine,« sagte er, »sie hatte +für gut befunden, sie zu verschenken.«</p> + +<p>»Leider,« sagte die Baronin, »aber hernach hat sie sich scheiden lassen, +und in solcher Lage geben sich anständige Menschen ihre Geschenke +zurück. Außerdem hat er sie doch umgebracht! Da kann man ihn doch nicht +ihre Nadel tragen lassen.«</p> + +<p>Die ratlosen Blicke, die der Oberlandesgerichtsrat mit dem Staatsanwalt +wechselte, brachten sie durchaus nicht aus der Fassung. »Nun?« <span class='pagenum'><a name="Page_133" id="Page_133">[133]</a></span>fragte +sie mit einem energisch aufmunternden Nicken. »Sie sehen, daß Sie es +sind, der die Sache in die Länge zieht.«</p> + +<p>»Da Sie mir befehlen kurz zu sein,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, der sich +inzwischen gesammelt hatte, »so sage ich Ihnen rund heraus, daß Ihr +Wunsch unerfüllbar ist. Selbst wenn <tt>Dr.</tt> Deruga verurteilt würde, +könnten wir ihm nicht nehmen, was ihm gehört; aber noch ist er nicht +verurteilt und hat einstweilen Ihre verstorbene Frau Kusine so wenig +umgebracht wie — verzeihen Sie — wie Sie und ich.«</p> + +<p>»Herr Präsident,« rief die Dame mit einem vorwurfsvollen Blick ihrer +graublauen Augen aus, »verlieren denn wirklich gerade die +Rechtsgelehrten allen Sinn für das natürliche und menschliche Recht?«</p> + +<p>»Ihr Recht wird Ihnen werden, Frau Baronin,« beeilte sich jetzt der +Staatsanwalt zu versichern. »Ich bin überzeugt, daß, wenn es unserer +Einsicht und Arbeit nicht gelingen sollte, die Vorsehung selbst die +Wahrheit ans Licht bringen wird.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_134" id="Page_134">[134]</a></span>»Und die Nadel?« fragte die Baronin. »Ich sammle solche Sachen, und das +schönste Stück, auf das ich Erbansprüche habe, soll in den Händen eines +solchen Menschen bleiben?«</p> + +<p>»Dafür machen Sie Ihre Urgroßmutter, aber nicht uns verantwortlich,« +sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann lachend, indem er aufstand und wieder nach +seinem Hute griff.</p> + +<p>»Sie sind ein steinharter, gepanzerter, undurchdringlicher Jurist,« +schmollte die Baronin.</p> + +<p>»Aber ein weicher, für die Reize schöner Damen sehr empfänglicher +Mensch,« fügte <tt>Dr.</tt> Zeunemann versöhnlich hinzu.</p> + +<p>Als sie alle zusammen aufbrachen, bat die Baronin, mit Peter Hase +bekannt gemacht zu werden. »Sie sind mir kein Fremder,« sagte sie +liebenswürdig zu ihm, »da ich Ihre Bücher kenne und bewundere. Es +tröstet mich über den abscheulichen Prozeß, daß ich ihm eine so +wertvolle Begegnung verdanke.«</p> + +<p>Sie forderte ihn auf, sie und ihren Mann im Hotel zu besuchen, falls er +noch einige Zeit hierbleibe, und als sie ihren Wagen warten sah, +<span class='pagenum'><a name="Page_135" id="Page_135">[135]</a></span>verabschiedete sie sich von den beiden anderen Herren, indem sie +lächelnd sagte: »Ich bekomme die Nadel doch noch, das weissagt mir mein +Gefühl.«</p> + +<p>Die Herren gingen noch ein paar Schritte miteinander. »Wie reizend und +anziehend,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »ist doch der gänzliche Mangel +an Logik und Objektivität an Frauen. Wenigstens für uns Männer.«</p> + +<p>»Und ihre Grausamkeit!« setzte Herr Hase anerkennend hinzu.</p> + +<p>»Ich halte sie mehr für gedankenlos,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Wie +alt schätzen Sie übrigens diese Frau? Sie hat eine erwachsene Tochter, +da muß sie doch schon zweiundvierzig Jahre alt sein.«</p> + +<p>»Eher älter,« sagte Peter Hase, »sie ist sehr gepflegt und sehr +geschickt angezogen.«</p> + +<p>»Natürlich, natürlich,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »keine Arbeit, keine +Sorgen, das erhält jung.«</p> + +<p>Auch den Kommerzienrat Winkler beschäftigte die Baronin Truschkowitz, +und er suchte eine Gelegenheit, <tt>Dr.</tt> Bernburger ein wenig nach ihr +<span class='pagenum'><a name="Page_136" id="Page_136">[136]</a></span>auszufragen. »Sie hat Charme, Schick, Grazie,« sagte er zu ihm, »aber +gefährlich viel Temperament.«</p> + +<p>»Dazu bin ich ja da, um das zu kontrollieren,« sagte <tt>Dr.</tt> +Bernburger.</p> + +<p>»Ich habe beobachtet,« fuhr der Kommerzienrat fort, »daß sie es +vermeidet, Deruga anzusehen, obschon sie sonst scharf aufpaßt. Sie setzt +sich so, daß er nicht in ihr Gesichtsfeld kommt. Haben früher +irgendwelche Beziehungen zwischen ihnen stattgefunden?«</p> + +<p>»Sie kennt ihn gar nicht,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, »aber sie hat +ihn von jeher gehaßt.«</p> + +<p>»Also blinde Voreingenommenheit?« meinte Herr Winkler.</p> + +<p>»Nun ja,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, »aber das macht ihn nicht +besser.«</p> + +<p>Der Kommerzienrat lachte. »Wie verhält sich denn ihr Mann dazu?« fragte +er.</p> + +<p>»O, er gibt ihr den Arm und ist neben ihr,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger. +»Übrigens ist er ein feiner Mensch. Selbst seine Dummheit hat etwas an +sich, daß man unwillkürlich den Hut vor ihr abnimmt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_137" id="Page_137">[137]</a></span>»Dumm sein, mit der Frau!« sagte der Kommerzienrat, »na, ich +gratuliere!«</p> + +<p>»Da können Sie sich täuschen,« entgegnete der Anwalt. »Ob sie Respekt +vor ihm oder Grundsätze hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie eine +kalte Kokette.«</p> + +<p>Der Kommerzienrat schüttelte sich. »Das wäre nichts für mich,« sagte er. +»Ich glaube, da möchte ich noch lieber betrogen werden.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_138" id="Page_138">[138]</a></span></p> +<h2><a name="V" id="V"></a><tt>V.</tt></h2> + + +<p>Der Präsident eröffnete die Sitzung mit den Worten, daß die nächsten +Zeugenverhöre sich mit der letzten Lebenszeit der verstorbenen Frau +Swieter beschäftigen würden, und daß er hoffe, es würde von dieser Seite +aus mehr Licht auf die noch nicht völlig aufgeklärten Vorgänge fallen. +Man sei bis jetzt davon ausgegangen, daß der Angeklagte von dem Inhalt +des Testaments keine Kenntnis gehabt habe. Die einzige Person, die darum +gewußt habe, sei die nächste Freundin der Verstorbenen, Fräulein +Kunigunde Schwertfeger. Es sei nicht unmöglich, daß durch deren Aussage, +falls sie nämlich die bisher beobachtete Zurückhaltung aufgäbe, das Bild +erheblich verändert würde.</p> + +<p>Es war für jedermann sichtbar, daß es Fräulein Schwertfeger +Selbstüberwindung kostete, den Saal zu betreten. Sie war einfach und +nicht <span class='pagenum'><a name="Page_139" id="Page_139">[139]</a></span>nach der Mode gekleidet, eine unauffällige Erscheinung, die nur, +wenn man sie eingehend betrachtete, Besonderheit und Reiz verriet. +Beides fand man dann reichlich in den fast zu großen, offenen, grauen +Augen, in der zu kurzen Nase, in dem kleinen, stets etwas geöffneten +Munde und in dem Mienenspiel, das das ohnehin unregelmäßige Gesicht +beständig bewegte. Wahrscheinlich, weil sie sich einer kindlichen +Unfähigkeit zur Verstellung und einer Neigung unbedacht herauszuplaudern +bewußt war, wappnete sie sich unter Fremden gern mit Vorsicht und +Verschwiegenheit, was ihr, verbunden mit der Scheu vor der +Öffentlichkeit, den Ausdruck eines kleinen Tieres im Käfig gab, das +gewohnt ist, geneckt zu werden und sich zur Wehr setzen zu müssen.</p> + +<p>Nachdem <tt>Dr.</tt> Zeunemann ihr den Eid abgenommen hatte, forderte er +sie auf, das zur Aufklärung des Falles Dienliche ohne Vorbehalt zu +sagen. Es gebe Leute, fügte er hinzu, die sich für wahrheitsliebend +hielten und doch unter Umständen ein Verschweigen, eine Lüge <span class='pagenum'><a name="Page_140" id="Page_140">[140]</a></span>für +erlaubt, ja sogar für verdienstlich ansähen. »Gehören Sie zu denen?« +fragte er.</p> + +<p>Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann, indem sie die großen Augen +fest auf ihn richtete: »Ja, das tue ich.«</p> + +<p>Ihre kleinen, verarbeiteten und nicht schön geformten Hände schlangen +sich dabei fest ineinander.</p> + +<p>»Das sind ja gute Aussichten,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Haben Sie, +wenn ich fragen darf, von vornherein die Absicht, uns die Wahrheit nur +in Auszügen und Bearbeitungen zuzuteilen?«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf und lächelte, ein lustiges Lächeln, das im Nu +ihr ganzes Gesicht überrieselte. »Nein, nein,« sagte sie treuherzig, +»ich habe die Absicht, die Fragen, die Sie an mich richten werden, nach +bestem Wissen und Vermögen wahrheitsgemäß zu beantworten. Es ist ja +nicht gesagt, daß die vorhin erwähnten Umstände hier vorliegen.«</p> + +<p>»Nun das ist brav,« sagte der Vorsitzende. »An die schweren Folgen eines +Meineides <span class='pagenum'><a name="Page_141" id="Page_141">[141]</a></span>brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern. Nur das will ich +sagen, daß wir kurzsichtigen Menschen allemal am besten tun, jede Lüge +schlechthin für Lüge, im häßlichsten und abscheulichsten Sinne, +anzusehen und uns an die Wahrheit zu halten. Die Folgen liegen in Gottes +Hand. Jene Sophismen oder Trugschlüsse, die uns eine Lüge für geboten +erscheinen lassen wollen, können gefährliche Irrlichter sein.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger nickte ernsthaft.</p> + +<p>»Wollen Sie uns und den Herren Geschworenen zunächst ausführlich +erzählen, was Sie von der Entstehung des Testamentes der verstorbenen +Frau Swieter wissen! Da Sie von früher Jugend an miteinander befreundet +waren, wird sie vor der Aufsetzung des Testamentes mit Ihnen davon +gesprochen, vielleicht Sie um Ihren Rat gefragt haben?«</p> + +<p>»O nein,« antwortete Fräulein Schwertfeger schnell, »sie sagte wohl +immer: 'Was meinst du dazu, Gundel? Soll ich das tun, Gundel?' Aber das +war nur eine Form der Höflichkeit oder Herzlichkeit. In wichtigen Dingen +<span class='pagenum'><a name="Page_142" id="Page_142">[142]</a></span>beanspruchte sie nie Rat und hätte ihn nie angenommen.«</p> + +<p>»Um Rat also hat sie nicht gefragt?« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Aber +die Beweggründe ihres Willens wird sie doch angegeben haben?«</p> + +<p>»Ja, das hat sie getan,« antwortete Fräulein Schwertfeger.</p> + +<p>»Die Verstorbene war schon seit acht Jahren krebsleidend,« sagte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Hat ihr das nicht schon früher, bevor sie das +Testament aufsetzte, Anlaß gegeben, über ihre letztwilligen Verfügungen +zu sprechen?«</p> + +<p>»Mit mir nie,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Und ich glaube, überhaupt +nicht. Die Ärzte suchten sie doch immer über den wahren Charakter ihres +Leidens zu täuschen, und sie kam ihnen darin entgegen, erstens, weil ihr +überhaupt leicht etwas weiszumachen war, und dann, weil sie in diesem +Falle das Bedürfnis hatte, getäuscht zu werden. Sie wollte leben und +hoffen. Dazu kommt, daß sie sich nach einer Operation immer wieder +vollkommen gesund fühlte.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_143" id="Page_143">[143]</a></span>»Wie kam es denn,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »daß sie doch zuletzt an +das Testament dachte?«</p> + +<p>»Nun, das ist klar,« sagte Fräulein Schwertfeger, »weil es damals +wirklich dem Ende zuging und sie das fühlte. Als ihr vor einem Jahre der +schreckliche Anfall kam, nach welchem sie nicht wieder aufgestanden ist, +war sie sehr betroffen und wußte, daß sie nicht wieder gesund werden +würde. Sie sprach es nicht aus, aber ich fühlte oft, daß sie es dachte.«</p> + +<p>Aufgefordert, den Vorgang ausführlich zu schildern, erzählte Fräulein +Schwertfeger:</p> + +<p>»Eines Nachmittags, da ich sie wie gewöhnlich besuchte, empfing sie mich +mit den Worten, ich käme im rechten Augenblick. Sie habe eben +beschlossen, ihr Testament zu machen, und ich müsse ihr dabei behilflich +sein. Wenn sie wieder gesund würde, so mache es ja nichts, aber sie +müsse doch auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie diesmal +nicht davonkäme, und ohnehin sei es leichtfertig von ihr, so alt wie sie +sei, es noch nicht getan zu haben. Es wäre doch zu sinnlos, wenn die +Verwandten ihr Geld <span class='pagenum'><a name="Page_144" id="Page_144">[144]</a></span>bekämen, die ihr fast ganz fremd und die außerdem +reich wären. Ich sagte, sterben würde sie noch lange nicht. Ich sähe sie +schon im Geiste vor mir, frisch und stark und leichtfüßig wie früher. +Darauf antwortete sie nichts, aber in ihren Augen sah ich, was sie +dachte, und sie las wohl dasselbe in meinen.«</p> + +<p>»War sie aufgeregt?« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger, indem sie mit einer heldenmütigen +Anstrengung die bei der Erinnerung aufsteigenden Tränen verschluckte, +»nicht besonders, nur im Anfang zitterte die Stimme ein wenig. Dann +sagte ich, daß ich nicht gern mit Testamenten und solchen Sachen zu tun +hätte, besonders wenn es sie anginge. Aber sie hätte ganz recht. Wenn +man Vermögen besäße, müsse man ein Testament machen, und sie hätte es +schon längst tun sollen. Was sie denn mit ihrem Gelde vorhätte, wenn +ihre Verwandten es nicht bekommen sollten? Sie wurde darauf sehr +verlegen und machte eine lange Vorrede, ich würde gewiß erstaunt sein +und sie auslachen und sie schelten, bis sie <span class='pagenum'><a name="Page_145" id="Page_145">[145]</a></span>mir endlich sagte, daß sie +<tt>Dr.</tt> Deruga zu ihrem Erben einsetzen wollte.«</p> + +<p>»Bitte, einen Augenblick,« unterbrach <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Ihre +Freundin setzte voraus, daß der Entschluß Sie überraschen würde. Hatte +sie früher einmal andere Pläne geäußert? Wenn man Sie vorher nach den +Absichten Ihrer Freundin gefragt hätte, hätten Sie gar keine Ahnung oder +Meinung gehabt?«</p> + +<p>»Doch, das hätte ich,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Ich hatte immer +geglaubt, sie würde eine Stiftung für arme Kinder machen, zum Andenken +an ihr eigenes verstorbenes Kind, und weil sie überhaupt Kinder so sehr +liebte. Sie pflegte zu sagen, schlecht ernährte, traurige Kinder wären +ein Schandfleck der Gesellschaft. Sie ging darin so weit, daß sie jedes +Kind, das sie zufällig schreien hörte, für ein mißhandeltes hielt. Ich +sagte oft zu ihr, um sie zu trösten: 'Weißt du, das ist wirklich ein +eigensinniger Balg.' Aber im Grunde glaubte sie mir nicht. Wir hatten +auch von Einrichtungen gesprochen, die man zugunsten armer Kinder machen +könnte.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_146" id="Page_146">[146]</a></span>»Erinnerten Sie sie denn nicht daran?« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, +»oder hielt sie es nicht von selbst für nötig, ihre Sinnesänderung zu +erklären?«</p> + +<p>»Sie sagte, sie hätte bei Stiftungen immer den Verdacht, das Geld käme +gar nicht denen zugute, für die man es bestimmt hätte.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger stockte, nachdem sie dies erklärt hatte, und war +augenscheinlich ungewiß, ob sie noch was hinzufügen müsse oder +fortfahren dürfe.</p> + +<p>»Und irgendeinen Weg, diese Gefahr zu vermeiden, hatte ihre Freundin nie +ins Auge gefaßt?« ermunterte der Vorsitzende.</p> + +<p>Das Fräulein faßte nach kurzem Kampfe augenscheinlich Mut und sagte:</p> + +<p>»Sie hatte die Absicht gehabt, ihr Vermögen mir zu vermachen, sowohl, +damit ich mein Leben bequemer einrichten könnte — meine Freundin stellte +sich das Leben einer Zeichenlehrerin nämlich sehr mühsam vor — und dann, +weil sie wußte, ich würde in ihrem Sinne damit für arme Kinder wirken.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_147" id="Page_147">[147]</a></span>»Ja so!« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »Ihnen hatte sie ihr Vermögen +vermachen wollen. Das ist doch aber keine Kleinigkeit, wenn man in einer +solchen Sache plötzlich umschwenkt. Das muß sie Ihnen doch erklärt und +entschuldigt haben?«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger machte ein stolz abwehrendes Gesicht. »Das mußte +sie gar nicht,« sagte sie, »wir waren doch befreundet. Allerdings +bedrückte es sie, und sie wollte mir weitläufig auseinandersetzen, warum +sie so handelte. Sie hätte einmal gehört, daß es <tt>Dr.</tt> Deruga +schlecht ginge, und daß er sehr heruntergekommen wäre, und daran müsse +sie fortwährend denken. Er sei der Vater ihres geliebten Kindes und +hätte sie liebgehabt, und sie könne sich noch immer nicht von dem +Gedanken entwöhnen, daß, was ihr gehöre, eigentlich auch sein sei. Kurz, +sie würde nicht ruhig sterben können, wenn sie ihn nicht durch ihr +Vermögen vor Not geschützt wisse. Natürlich ließ ich sie gar nicht +ausreden, sondern tröstete sie und versicherte sie, daß das Geld mich +nur in Verlegenheit setzen würde, weil ich denken würde, ich müsse es +irgendwie ausgeben und <span class='pagenum'><a name="Page_148" id="Page_148">[148]</a></span>wisse nicht wie, und daß ich mein Leben nicht +anders einrichten möchte, weil ich es einmal so gewöhnt wäre und ich +mich wohl dabei fühlte. Das Geld würde mich nur an ihren Verlust +erinnern und mir dadurch verhaßt werden.«</p> + +<p>»Es ist doch aber sonderbar,« sagte der Vorsitzende, »daß Ihre Freundin +Ihnen nicht wenigstens ein Legat ausgesetzt hat wie ihrem +Dienstmädchen.«</p> + +<p>»Das unterließ sie auf meinen Wunsch,« sagte Fräulein Schwertfeger kurz.</p> + +<p>»Ich bitte einen Augenblick ums Wort,« schaltete plötzlich der +Staatsanwalt ein. »Nach der Darstellung der Zeugin hatte ich den +Eindruck, als habe die von ihr mitgeteilte Unterredung, der sich die +Abfassung des Testamentes anschloß, gleich nach der letzten, schweren +Erkrankung ihrer Freundin, also im März oder April, stattgefunden. +Dagegen ist das vorliegende Testament vom 19. September, also vierzehn +Tage vor dem Tode derselben, datiert.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger entgegnete nichts, sondern warf nur einen langen, +feindseligen Blick <span class='pagenum'><a name="Page_149" id="Page_149">[149]</a></span>auf den Fragesteller, wie auf einen unberufenerweise +sich Einmischenden, und sah dann wieder den Vorsitzenden an.</p> + +<p>»Wollen Sie uns darüber aufklären, mein Fräulein,« bat dieser +freundlich.</p> + +<p>»Meine Freundin schrieb das Testament zuerst im Frühling,« sagte +Fräulein Schwertfeger, »und am 19. September schrieb sie es noch einmal +ab.«</p> + +<p>»Es blieb also unverändert?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Meine Freundin erhöhte die Summe, die sie der Ursula, ihrem +Dienstmädchen, ausgesetzt hatte,« sagte Fräulein Schwertfeger.</p> + +<p>»Vermutlich,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »hatte das Mädchen sie während +ihrer schweren Krankheit so gut verpflegt, daß sie ihre Dankbarkeit mehr +zum Ausdruck bringen wollte.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger nickte und sah den Vorsitzenden herzlich an. +»Dafür,« setzte sie hinzu, »fiel jetzt auf meinen Wunsch das Legat fort, +das in der ersten Fassung mir ausgesetzt war.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_150" id="Page_150">[150]</a></span>»Wenn es so weiter geht, wird unvermerkt noch ein ganz neues Testament +aus der unveränderten Abschrift,« bemerkte der Staatsanwalt mit +diabolischem Kichern.</p> + +<p>»Sie hatten also anfänglich nichts gegen das Legat einzuwenden gehabt,« +sagte der Vorsitzende. »Aus welchem Grunde lehnten Sie es jetzt ab? Es +war doch nichts zwischen Sie und Ihre Freundin getreten?«</p> + +<p>»O nein, nein,« beteuerte Fräulein Schwertfeger lebhaft. »Ich gab nur +damals nach, um sie nicht aufzuregen; aber ich beschloß von Anfang an, +das Legat gelegentlich rückgängig zu machen, weil es mir nicht paßte.« +Da sie das spöttisch-ungläubige Lächeln des Staatsanwalts bemerkte, warf +sie mit einer kleinen, trotzigen Gebärde den Kopf zurück und preßte die +Lippen zusammen.</p> + +<p>Nach einer Pause nahm der Vorsitzende das Verhör wieder auf, indem er +fragte: »Ist die Verstorbene in der Folge, ich meine nach der ersten +Abfassung, noch öfters auf das Testament zurückgekommen?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_151" id="Page_151">[151]</a></span>»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger entschieden. »Es war kein +angenehmer Gesprächsgegenstand für uns beide.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt lachte hörbar, als wolle er sagen, es scheine auch +jetzt keiner für sie zu sein, worauf sie einen vernichtenden Blick nach +der Richtung seines Platzes warf.</p> + +<p>»Hat Frau Swieter Ihnen nie erzählt oder Andeutungen gemacht,« fragte +der Vorsitzende mit freundlicher Dringlichkeit, »ob irgendein besonderer +Anlaß vorlag, der sie bewog, ihr Testament zugunsten des Angeklagten zu +machen? Sie sprach, wie Sie erzählten, davon, daß es ihm schlecht ginge, +daß er heruntergekommen sei. Wie war ihr das zu Ohren gekommen? Hatten +sich vielleicht Gläubiger von ihm an sie gewendet? Oder sollte er selbst +sie um Geld angegangen haben?«</p> + +<p>»Das weiß ich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger, »aber ich glaube es +nicht, weil sie es mir gewiß erzählt haben würde. Sie hätte mir dadurch +ihr Testament ja viel leichter erklären können. Daß es Herrn <tt>Dr.</tt> +Deruga nicht gut <span class='pagenum'><a name="Page_152" id="Page_152">[152]</a></span>ging, wußte sie schon lange; es gibt unzählige Wege, +auf denen einem solche Gerüchte zu Ohren kommen.«</p> + +<p>»Sprach Ihre Freundin zuweilen mit Ihnen über den Angeklagten?« fragte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Nein, fast nie,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie glaubte, daß ich +kein Verständnis für ihn hätte.«</p> + +<p>»Also,« fiel der Staatsanwalt ein, »konnten sehr wohl Beziehungen +zwischen Ihrer Freundin und ihrem geschiedenen Gatten bestehen, ohne daß +Sie Kenntnis davon hatten.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger warf den Kopf zurück und kräuselte verächtlich +ihre kurze Oberlippe.</p> + +<p>»Es soll selbstverständlich nichts Nachteiliges über Ihre Freundin +geäußert werden,« sagte der Vorsitzende vermittelnd. »Immerhin könnte +sie Ihnen etwas verschwiegen haben, um nicht ein tadelndes Urteil von +Ihnen hören zu müssen.«</p> + +<p>»Möglich wäre das,« sagte Fräulein Schwertfeger, »aber sehr +unwahrscheinlich. Es liegt jedenfalls kein Grund vor, so etwas +anzunehmen. Ihr Vermögen vermachte sie ihm einfach, weil <span class='pagenum'><a name="Page_153" id="Page_153">[153]</a></span>er der Vater +ihres Kindes war und sie, ihrer Meinung nach, geliebt hatte. Ich +erinnere mich, daß sie früher einmal sagte, die Ehe wäre ihrem Wesen +nach unauflöslich, wenn sie durch Kinder befestigt wäre, und als jemand +widersprach, sagte sie, vielleicht wäre das nicht allgemein gültig, aber +sie hätte die Erfahrung an sich gemacht. Meine Freundin war ihrer +anschmiegenden Natur nach nicht geeignet, alleinzustehen, und vielleicht +hatte sie sich unbewußt diese Theorie gebildet, um sich wenigstens +seelisch noch gebunden zu fühlen.«</p> + +<p>»Wenn ich Sie nicht schon über Gebühr angestrengt habe,« sagte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann höflich, »möchte ich Sie bitten, uns zu erklären, +wie es kommt, daß Sie und Frau Swieter, so vertraut sie miteinander +waren, in der Beurteilung des Angeklagten so sehr voneinander abwichen.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger lachte ein wenig. »Warum ein Mensch einen anderen +liebt, versteht der Dritte selten. Außerdem kann man wohl selbst einem +Menschen das Unrecht verzeihen, <span class='pagenum'><a name="Page_154" id="Page_154">[154]</a></span>das er einem getan hat; die Freunde +aber werden am wenigsten dazu geneigt sein.«</p> + +<p>»Danach sind Sie der Meinung,« sagte der Vorsitzende, »daß der +Angeklagte an dem ehelichen Zerwürfnis schuld war?«</p> + +<p>»Er quälte sie durch sein launisches, maßloses Wesen,« sagte Fräulein +Schwertfeger mit Zurückhaltung.</p> + +<p>»Trotzdem, und da Frau Swieter seinerzeit selbst auf der Scheidung +bestand,« sagte der Vorsitzende, »scheint es, daß sie fortfuhr, an ihrem +geschiedenen Manne zu hängen. Können Sie, als ihre Freundin, uns +vielleicht zum Verstehen dieses Widerspruches helfen?«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger dachte eine Weile nach und sagte dann:</p> + +<p>»Widersprüche gibt es in jedem einzelnen Menschen und um so mehr in den +Beziehungen zwischen zweien. Als meine Freundin noch verheiratet war, +schenkte sie ihrem Manne einmal ein Buch zum Geburtstage; und als er +eine Widmung darin haben wollte, schrieb sie auf das erste Blatt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"><span class='pagenum'><a name="Page_155" id="Page_155">[155]</a></span> +<span class="i0">'Deruga, du bist eben<br /></span> +<span class="i0">So schön als wunderlich.<br /></span> +<span class="i0">Man kann nicht ohne dich<br /></span> +<span class="i0">Und auch nicht mit dir leben.'<br /></span> +</div></div> + +<p>Es ist ein Epigramm, das Lessing auf eine gewisse Klothilde gemacht +hat.«</p> + +<p>Die Zuhörer lachten, aber <tt>Dr.</tt> Zeunemann blieb ganz ernst. »Noch +mit einer Frage möchte ich Sie belästigen,« sagte er. »Frau Swieter soll +außerordentlich furchtsam gewesen sein. Die Furcht vor dem hitzigen +Temperament ihres Gatten soll sie mit zur Scheidung bewogen haben. +Glauben Sie, daß sie sich auch nach der Scheidung noch vor ihm +gefürchtet hat?«</p> + +<p>»O nein, vor Deruga nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger mit Überzeugung. +»Vor ein paar Jahren las sie einmal in der Zeitung, daß ein Mann seiner +von ihm geschiedenen Frau aufgelauert und sie erstochen habe. Mit Bezug +darauf sagte sie, das käme häufig vor, und Frauen, die sich von ihren +Männern trennen wollten oder getrennt hätten, müßten eigentlich +irgendwie geschützt werden. Ich sagte, sie solle doch <span class='pagenum'><a name="Page_156" id="Page_156">[156]</a></span>die dummen +Zeitungen nicht lesen, die Hälfte von allem, was darin stünde, wäre +erlogen. Da lachte sie und sagte, ich meinte wohl, sie fürchtete sich? +Und dann erklärte sie mir, Deruga sei zwar bei den kleinen Reibungen, +die im Zusammenleben unvermeidlich wären, maßlos heftig gewesen und auch +nicht frei von Rachsucht, aber von langer Dauer sei das nie gewesen, und +sie sei gewiß, daß er gegen sie keinen Groll hege. Daher weiß ich +bestimmt, daß sie keinerlei Furcht vor ihm hatte. Im allgemeinen +allerdings war sie sehr furchtsam und bevorzugte zum Beispiel zum Wohnen +den dritten Stock, weil sie da vor Einbrechern am geschütztesten zu sein +glaubte. Sie fürchtete sich auch sehr vor dem Tode, obwohl sie ihn +andererseits als eine Wiedervereinigung mit ihrem Kinde ersehnte.«</p> + +<p>»Vermutlich fürchtete sie nicht den Tod, sondern das Sterben,« sagte der +Vorsitzende, »das sie sich als qualvoll vorstellte.«</p> + +<p>»Ja,« stimmte Fräulein Schwertfeger zu, »sie hatte große Angst vor +Schmerzen und mußte doch so schrecklich aushalten.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_157" id="Page_157">[157]</a></span>Der Staatsanwalt fragte, ob die Kranke infolge der Schmerzen jemals +Störungen oder Trübungen des Bewußtseins gehabt hätte.</p> + +<p>»O nein,« sagte Fräulein Schwertfeger mit einem Lächeln, den Blick auf +<tt>Dr.</tt> Zeunemann gerichtet, »sie klagte im Gegenteil zuweilen +darüber, daß ihr Kopf bei den größten Qualen stets klar bleibe. Einmal +fragte sie mich, ob ich sie lieb genug hätte, um ihr ein Gift zu geben, +das sie von ihrem Leiden erlöste. Ich war sehr erschrocken und sagte, +ich hätte sie zu lieb dazu, ich könnte so etwas nicht denken, geschweige +denn es tun. Dann erinnerte ich sie daran, wie sie sich doch des Lebens +wieder freuen könne, sobald ihr besser sei, und daß sie vielleicht +wieder ganz gesund würde, und wie bald dann die Schmerzen vergessen sein +würden, so wie ich sie kennte. Da lachte sie und tröstete mich und +sagte, ich hätte ganz recht, sie hoffe noch einmal zu prahlen mit dem, +was sie so tapfer ausgehalten hätte. Es gab jedenfalls keinen +Augenblick, in dem sie nicht genau gewußt hätte, was sie tat.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_158" id="Page_158">[158]</a></span>»Es erübrigt nun noch eine Frage, deren Antwort im verneinenden Sinne +mir zwar schon in Ihren übrigen Aussagen inbegriffen scheint, die ich +aber doch ausdrücklich stellen muß: Hat Frau Swieter ihren geschiedenen +Mann von dem Inhalt ihres Testamentes in Kenntnis gesetzt?«</p> + +<p>»Das weiß ich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Ich glaube es auch +nicht. Wozu sollte sie es getan haben?«</p> + +<p>»Das wollen wir zunächst dahingestellt sein lassen,« sagte der +Vorsitzende. »Gesetzt den Fall, sie hätte es ihm mitteilen wollen, so +hätte sie ihm schreiben müssen. Da sie in jener Zeit nicht mehr +aufstand, geschweige denn ausging, mußte sie den Brief irgend jemandem +zur Besorgung geben. Durch Sie hat sie es also nicht getan?«</p> + +<p>»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger.</p> + +<p>»Hat sie Ihnen überhaupt nie Briefe zur Besorgung mitgegeben?«</p> + +<p>»Vielleicht,« sagte Fräulein Schwertfeger, »ich erinnere mich nicht; +aber keinen an <tt>Dr.</tt> Deruga.«</p> + +<p>»Er konnte vielleicht anders adressiert sein, um Sie irrezuführen?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_159" id="Page_159">[159]</a></span>»O nein,« sagte Fräulein Schwertfeger, die Stirn faltend, »das hätte +sie vorher mit ihm verabreden müssen. Solche Schleichwege hätte sie +nicht gewählt, dafür stehe ich ein.«</p> + +<p>»Ich glaube Ihnen, Fräulein Schwertfeger,« sagte der Vorsitzende nach +einer kleinen Pause. »Ich verlasse mich auf Ihre Wahrheitsliebe. Sie +sind Lehrerin, die Jugend ist Ihrem Einfluß anvertraut, Sie genießen die +Liebe und Verehrung Ihrer Schülerinnen sowohl wie der Eltern derselben +und werden das nicht um eines Hirngespinstes willen verschweigen wollen. +Sie haben also weder dem Angeklagten im Auftrage Ihrer Freundin von dem +Inhalte ihres Testamentes Mitteilung gemacht, noch haben Sie einen Brief +Ihrer Freundin besorgt, in welchem diese Mitteilung enthalten war oder +allenfalls hätte enthalten sein können?«</p> + +<p>»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger.</p> + +<p>»Sie sind also überzeugt, daß der Angeklagte von dem Testamente keine +Kenntnis hatte?«</p> + +<p>»Ich bin überzeugt davon,« antwortete sie.</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann bedachte sich und sagte, er <span class='pagenum'><a name="Page_160" id="Page_160">[160]</a></span>wolle das Verhör damit +abschließen, sie würde ohnehin ermüdet sein. In der Tat sah sie sehr +blaß aus, so daß ihre großen Augen beinah schwarz schienen.</p> + +<p>»O ja, ich bin sehr müde,« sagte sie, »darf ich gehen?«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann erklärte ihr, daß sie zwar jetzt, da Mittagspause +sei, wie alle anderen gehen dürfe, daß er aber für die Dauer des +Prozesses um ihre Anwesenheit bitten müsse, worauf sie sich durch eine +kurze Neigung des Kopfes verabschiedete.</p> + +<p>»Ein wackeres Altjüngferchen,« sagte Justizrat Fein zu Deruga, »obwohl +sie nicht die beste Meinung von Ihnen hat.«</p> + +<p>»Gute, dumme Gans,« antwortete dieser kurz. Er hatte mit aufgestütztem +Kopf und verdecktem Gesicht dagesessen und richtete sich jetzt auf wie +jemand, der in dem Labyrinth einer dunklen Musik versunken war, wenn sie +plötzlich abreißt. Der stechende Blick, den er durch den Saal gleiten +ließ, blieb zufällig an der Baronin Truschkowitz hängen, die, eben im +Aufstehen begriffen, <span class='pagenum'><a name="Page_161" id="Page_161">[161]</a></span>ihrem einige Plätze von ihr entfernt sitzenden +Anwalt ein Zeichen mit den Augen gab, und er sagte: »Unausstehliche +Person; paßt ganz zu der schmutzigen Sache, die sie vertritt.«</p> + +<p>»Na, wissen Sie,« entgegnete der Justizrat. »Daß die Baronin sich ungern +ein Vermögen entwinden läßt, auf das sie gerechnet hatte, ist +menschlich, und daß sie Ihnen allerhand Böses zutraut, um so eher zu +entschuldigen, als sie Sie nicht kennt.«</p> + +<p>»Halten Sie das für eine Entschuldigung?« sagte Deruga scharf. »Weil sie +selbst gierig ist, kann sie sich auch bei anderen kein anderes Motiv +vorstellen; das ist ihre Menschenkenntnis. Ekelhaft!«</p> + +<p>Die Besprochene war unterdessen auf die Freitreppe des Gerichtsgebäudes +gelangt und blickte durch die Lorgnette ungeduldig um sich. »Ich bin +ganz erregt«, sagte sie zu <tt>Dr.</tt> Bernburger, »über die Art und +Weise, wie man mit diesem Fräulein umgeht. Sie mag ja übrigens ein +anständiges Mädchen sein. Aber es ist klar, daß sie nicht die Wahrheit +sagt, und ich begreife nicht, daß man das so gehen läßt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_162" id="Page_162">[162]</a></span>»Ja, das ist eine heikle Sache, Gnädigste,« sagte <tt>Dr.</tt> +Bernburger, »die Folter ist längst abgeschafft.«</p> + +<p>»Das war eben sehr voreilig,« sagte die Baronin. »Die Alten waren in +vieler Hinsicht klüger als wir und wußten recht gut, warum sie sie +anwendeten. Aber wir müssen doch auch Mittel haben, um die Wahrheit aus +den Leuten herauszubringen. Ich würde ganz anders vorgehen, wenn ich der +Präsident wäre. Aber Sie kommen mir zerstreut vor, Herr Doktor.«</p> + +<p>»Im Gegenteil,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, »ich bin vertieft in unser +Problem.«</p> + +<p>»Und haben Sie bemerkt,« fuhr die Baronin fort, »daß sie gerade das +zugab, was sie bestreiten wollte, nämlich daß meine Kusine sich vor +ihrem geschiedenen Mann fürchtete? Und wie interessant, daß die Männer +eine Neigung haben, ihre geschiedene Frau umzubringen! Man muß es sich +doch sehr überlegen, ehe man den Schritt tut.«</p> + +<p>»Ich hoffe, Kind,« sagte der neben ihr stehende Baron gutmütig, »das ist +nicht der einzige Grund, der dich abhält, dich scheiden zu lassen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_163" id="Page_163">[163]</a></span>Sie sah ihn mit einem Lächeln an, in dem ein leichter Spott lag, und +sagte: »Nein, mein Teurer, du bist viel zu ritterlich, als daß ich mich +vor dir fürchten könnte.«</p> + +<p>Gleichzeitig winkte sie dem wartenden Schofför, das Auto näher +heranzulenken, und entließ ihren Anwalt mit flüchtigem Gruß.</p> + +<p>Der Staatsanwalt hatte sich beim Verlassen des Saales an <tt>Dr.</tt> +Zeunemann gehängt und begleitete ihn unter vorwurfsvollen Reden in sein +Zimmer. Es sei klar, sonnenklar, sagte er, daß dies Muster — er meinte +Fräulein Schwertfeger — den Brief besorgt habe. Das Muster habe keine +Übung im Lügen. Er wolle gerecht sein, aber gelogen habe sie. Da müsse +eingeschritten werden! Oder ob wieder einmal durch die Gunst der Frauen +ein Elender der verdienten Strafe entzogen werden solle? Dieser Mensch +besitze die Gunst der Frauen, und im Leben wie im Salon hänge ja +heutzutage der Mann von der Gunst der Frauen ab. Ob es denn aber nicht +zum Himmel schreie, wenn auch das Recht durch Weiberlaunen gemacht +würde!</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_164" id="Page_164">[164]</a></span>Der Staatsanwalt rang während dieser Reden die Hände und fuhr sich +durch die langen, dünnen Haare, die verwildert nach allen Seiten hingen.</p> + +<p>»Beruhigen Sie sich, Herr Kollege,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann +mißbilligend, »bei Fräulein Schwertfeger trifft Ihre Zwangsvorstellung +von der Gunst der Frauen nicht zu, sie hat offenbar eine Abneigung gegen +ihn.«</p> + +<p>»Worte!« rief der Staatsanwalt verzweifelt. »Worte, Worte! In der Tat +begünstigt sie ihn. Wahrscheinlich hat sie selbst an ihn geschrieben. +Ist es nicht sonnenklar?« wendete er sich an die beiden Beisitzer.</p> + +<p>Diese bestätigten, daß ihnen das Verhalten von Fräulein Schwertfeger +auffallend vorgekommen sei; aber es ließe sich auch anders, zum Beispiel +durch die den Frauen eigentümliche Scheu vor der Öffentlichkeit, +erklären.</p> + +<p>»Ach Gott,« jammerte der Staatsanwalt, »wohin soll das führen, wenn ein +so schäbiges altes Muster schon den Scharfblick bewährter Juristen +trüben kann!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_165" id="Page_165">[165]</a></span>»Lieber Herr Kollege,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, nach der Uhr sehend, +»Sie bedürfen ebenso wie wir des Mittagessens und der Mittagsruhe. +Schlafen Sie ein Viertelstündchen! Und künftig bitte ich Sie die Fragen +zu stellen, die Sie für zweckmäßig halten.«</p> + +<p>»Was hilft es, Fragen zu stellen, wenn man mit Lügen abgespeist wird?« +sagte der Staatsanwalt bitter. »Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte, +nämlich daß es sich so verhält, wie ich von Anfang sagte: es war kein +Totschlag, sondern vorbedachter Mord. Als er erfuhr, daß sie ihm ihr +Vermögen vermacht hatte, beschloß er sie zu töten, ehe sie etwa, durch +ihre Verwandten beeinflußt, anderen Sinnes werden und das Testament +umstoßen könnte.«</p> + +<p>»Soll ich Ihnen Ihre Insinuationen zurückgeben,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann, »und den Argwohn äußern, daß Sie die Dinge durch eine von der +Baronin Truschkowitz aufgesetzte Brille ansehen? Vergleicht man ihre +Reize mit denen des Fräuleins Schwertfeger, so erscheint dieser Verdacht +beinahe begründet.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_166" id="Page_166">[166]</a></span>Der Staatsanwalt, dem die Neckerei augenscheinlich schmeichelte, mußte +lachen. Indessen, fügte er brummend hinzu, ein Prozeß, bei dem Weiber +beteiligt wären, arte immer in Tratsch aus, es müßten ihm aber alle +bezeugen, daß er von Anfang an der Überzeugung gewesen sei, es handele +sich um Mord.</p> + +<p>Ja, sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, und er bezeuge freiwillig noch dazu, daß +der Staatsanwalt in seine ersten Überzeugungen verliebt zu sein pflege, +wie eine Mutter in ihr Kind, bis das zweite käme und jenes verdrängte.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_167" id="Page_167">[167]</a></span></p> +<h2><a name="VI" id="VI"></a><tt>VI.</tt></h2> + + +<p>»Ursula Züger, achtunddreißig Jahre alt, seit neunzehn Jahren im Dienst +der verstorbenen Frau Swieter,« begann der Präsident.</p> + +<p>Ursula Züger blickte mit überlegenem Lächeln in die Runde. Ihr dampft +vor Gier nach den Tatsachen, die nur ich berichten kann, schien ihre +Miene zu sagen; fallt nur her über die Beute und sättigt euch, ich +denke, sie soll euch schmecken.</p> + +<p>»Sie müssen bei so langem Zusammenleben mit allen Verhältnissen der Frau +Swieter sehr vertraut gewesen sein.«</p> + +<p>»Das will ich meinen,« sagte Ursula, »was meine Gnädige angeht, das weiß +ich von Anfang bis zu Ende, das gibt es nicht anders.«</p> + +<p>»Hat die Verstorbene zuweilen von der Vergangenheit, ich meine, von der +Zeit ihrer Ehe mit dem Angeklagten, mit Ihnen gesprochen?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_168" id="Page_168">[168]</a></span>»Hui!« Ursula stieß einen pfeifenden Ton aus, welcher sagen zu wollen +schien, daß dies unzählige Male der Fall gewesen sei. »Namentlich seit +der Zeit, wo sie krank lag, das arme Wurm. Wenn ich dann abends bei ihr +saß, ging das immer: 'Wissen Sie noch dies und das, Urschel? Wissen Sie +noch die Geschichte mit dem Bettler?' Nämlich in der ersten Zeit, als +unser Herr Doktor noch keine Patienten hatte, da kamen ausgerechnet alle +Bettler, die es in der Stadt gab, und einmal ging der Herr Doktor selbst +an die Tür und sagte: 'Sie, guter Freund, ich soll Ihnen was geben? +Also, was haben Sie heute verdient? Na, sagen Sie die Wahrheit: +mindestens eine Mark, mindestens! Sie gehen an der Krücke, haben nur ein +Auge — schön, sagen wir eine Mark. Ich dagegen nichts. In vier Wochen +habe ich nicht zehn Mark verdient! Aber wenn Sie eine Zigarette wollen +und mir ein bißchen Gesellschaft leisten' — und da hat er wahrhaftig +einmal einem mit eigener Hand eine Zigarette gedreht, der sah aus, als +ob er geradeswegs aus dem Kehrichtkübel käme, aber <span class='pagenum'><a name="Page_169" id="Page_169">[169]</a></span>sonst ein +verschmitzter, lustiger Kerl, der kam dann alle paar Tage und sagte +gleich, wenn ich die Tür aufmachte, er wolle nichts haben, wolle nur dem +Herrn Doktor ein bißchen Gesellschaft leisten.«</p> + +<p>»So,« sagte der Vorsitzende, »Sie tischten der Kranken also lustige +Erinnerungen auf, um sie zu erheitern.«</p> + +<p>»Versteht sich,« sagte Ursula. »Schmerzen und Kummer hatte sie ohnehin +genug.«</p> + +<p>»Wenn Frau Swieter dem Herrn Doktor nichts nachtrug,« fuhr der +Vorsitzende fort, »sich seiner sogar gern erinnerte, wechselte sie wohl +auch zuweilen Briefe mit ihm?«</p> + +<p>»Das dachte ich doch, daß Sie wieder davon anfingen,« sagte Ursula +triumphierend. »Damit ist es aber ein für allemal nichts. Wo wird sie +denn mit ihrem geschiedenen Mann Briefe gewechselt haben? Da hätten sie +ja ebenso gut zusammenbleiben können.«</p> + +<p>»Das ist doch ein Unterschied,« setzte der Präsident auseinander. »Es +kann vorkommen, daß man sich entfernt sehr gut verträgt, während <span class='pagenum'><a name="Page_170" id="Page_170">[170]</a></span>man +sich unter einem Dach beständig in den Haaren liegt.«</p> + +<p>»Dazu war meine Gnädige eine viel zu feine Dame,« sagte Ursula streng. +»Von In-den-Haaren-liegen war da gar keine Rede und auch nicht von +heimlichen Tuscheleien, nachdem sie einmal auseinander waren. Wenn ich +früher wohl einmal sagte, der Herr Doktor sei doch im Grunde gar kein +schlechter Mensch gewesen, und es sei doch eigentlich schade, wenn er +nun auf eine schiefe Bahn geriete, und auch für uns, weil immer etwas +ging, solange er da war, dann schüttelte meine Gnädige den Kopf und +sagte: 'Wenn wir uns auch heute versöhnten, würden wir doch übers Jahr +wieder auseinandergehen.' Und recht hatte sie, so ein Mann wie der +konnte einmal keine Ruhe geben.«</p> + +<p>»Sie sind also der Meinung,« fragte der Vorsitzende, »daß Frau Swieter +weder an den Angeklagten geschrieben, noch von ihm Briefe empfangen +hat?«</p> + +<p>»Der Meinung!« wiederholte Ursula mit blitzenden Augen. »Von Meinung +brauchen Sie <span class='pagenum'><a name="Page_171" id="Page_171">[171]</a></span>da gar nicht zu reden, Herr Präsident, denn das weiß ich. +Deswegen bilde ich mir nicht zu viel ein, wenn ich sage, daß der liebe +Gott es nicht besser wissen kann. Erstens kenne ich die Handschrift vom +Herrn Doktor, und weil sie vor einem Jahre krank wurde, hat sie keinen +Brief mehr bekommen, der nicht durch meine Hand ging, und geschrieben +hat sie auch nicht mehr, außer was sie mir oder Fräulein Schwertfeger, +aber meistens Fräulein Schwertfeger, diktierte. Wir haben auch ihre +Briefe auf die Post gebracht.«</p> + +<p>»Nun, mein liebes Kind,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Ihre Gnädige war +doch nicht lahm! Wenn sie durchaus wollte, konnte sie auch aufstehen und +sich Schreibzeug holen und schreiben, ohne daß Sie es wußten, und sie +konnte auch zum Beispiel Herrn <tt>Dr.</tt> Kirchner, ihren Arzt, um die +Besorgung eines Briefes bitten.«</p> + +<p>»Ja, das scheint Ihnen so, Herr Präsident,« sagte Ursula nachsichtig, +»weil Sie es nicht besser wissen. Aber daß meine Gnädige hinter meinem +Rücken Briefe schrieb und abschickte, das ist ausgeschlossen. Wenn Sie +die Verhältnisse kennten, <span class='pagenum'><a name="Page_172" id="Page_172">[172]</a></span>würde Ihnen so etwas gar nicht in den Sinn +kommen. Nein, und wenn sie auch nicht lahm war, und das war sie +allerdings nicht, so hätte sie doch solche Zeremonien nicht mit mir +gemacht, wo gar keine Veranlassung dazu da war; denn sie hätte ja nur zu +sagen brauchen: 'Ursula, von dem Brief soll niemand etwas wissen, und +Sie sollen es auch nicht wissen.' Und dem Herrn <tt>Dr.</tt> Kirchner +einen Brief mitgeben, darüber muß man wirklich lachen, wenn man die +Verhältnisse kennt. Da hätte sie ja nicht gewußt, ob er ihn nicht ein +halbes Jahr in der Tasche behielte oder auf der Treppe schon verloren +hätte. Und warum hätte sie denn ihre Geheimnisse fremden Leuten +anvertrauen sollen, wo sie doch Fräulein Schwertfeger und mich hatte, +auf die sie sich verlassen konnte? Also das schlagen Sie sich nur aus +dem Kopfe, Herr Präsident, mit den heimlichen Briefen! Was in unserem +Hause vorgegangen ist, das weiß ich, und da konnte nichts vorgehen, was +ich nicht wußte.«</p> + +<p>»Sie werden doch zuweilen Besorgungen gemacht haben, liebes Fräulein,« +sagte der Prä<span class='pagenum'><a name="Page_173" id="Page_173">[173]</a></span>sident, der sich noch nicht für geschlagen erklären +mochte. »Wissen Sie auch, was in der Wohnung vorfiel, wenn Sie nicht da +waren?«</p> + +<p>»Wenn Sie mich damit hereinzulegen denken, wie man so sagt, Herr +Präsident,« antwortete Ursula unerschüttert, »dann sind Sie +ausgerutscht, mit Erlaubnis zu sagen. Wenn ich fort war, konnte am +allerwenigsten etwas vorfallen, weil ich dann nämlich die Wohnungstür +hinter mir abschloß. Meine Gnädige hatte das selbst angeordnet und +gesagt: 'Wissen Sie, Ursula, weil ich doch nicht aufstehen soll, nach +dem, was der Herr Doktor sagt, so ist es am einfachsten, Sie schließen +die Tür ab, damit ich sicher bin, daß niemand hinein kann. Kommt jemand, +so mag er läuten und wiederkommen. Brennen wird es ja nicht gerade, +während Sie fort sind.' Na, was das betrifft, darüber war ich ganz +ruhig, denn wo sollte es brennen, wo ich immer nur in der Frühe oder +nachmittags ausging, wenn kein Feuer im Hause war. Fräulein Schwertfeger +hatte eigens den Wohnungsschlüssel, damit sie zu jeder Zeit hinein +konnte. Also, Herr Präsident, das <span class='pagenum'><a name="Page_174" id="Page_174">[174]</a></span>müssen Sie nun doch einsehen, daß in +meiner Abwesenheit nichts vorfallen konnte.«</p> + +<p>»Nur ist in Ihrer Abwesenheit Ihre Herrschaft ermordet worden,« erhob +sich die kreischende Stimme des Staatsanwalts.</p> + +<p>Ursula verstummte; aber, wie es schien, mehr erstarrt über die +Dreistigkeit, diese Tatsache anzuführen, als von ihrer Beweiskraft +überwunden. »So weit sind wir noch nicht,« sagte sie endlich, sich +aufraffend. »Ich glaube überhaupt nicht an den Mord, weil es unmöglich +ist, daß etwas in der Wohnung vorfiel, solange ich fort war.«</p> + +<p>»Außer wenn Frau Swieter selbst wollte,« warf der Vorsitzende ein.</p> + +<p>»Ja, das werden Sie doch aber selbst nicht glauben, Herr Präsident,« +sagte Ursula, wieder in den früheren Gedankengang einlenkend, »daß die +todkranke Frau aufstand und womöglich drei Treppen herunter auf die +Straße lief, nur um unserem Herrn Doktor einen Brief zu schicken, den +ich ihr jeden Augenblick mit dem größten Vergnügen besorgt hätte.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_175" id="Page_175">[175]</a></span><tt>Dr.</tt> Zeunemann seufzte. »Verreist sind Sie niemals,« begann er +von neuem, »seit Frau Swieter im vorigen Jahre krank wurde und zu Bette +lag?«</p> + +<p>»Nein,« sagte Ursula, »obwohl sie es mir oft angeboten hat und ich ja +auch wußte, daß Fräulein Schwertfeger gerne solange bei ihr gewohnt +hätte, und daß sie ja auch eine Krankenschwester hätte nehmen können. +Aber die hätte doch die Verhältnisse nicht so gekannt wie ich, und wenn +es mir auch leid tat, meine Mutter so lange nicht zu sehen, so habe ich +mir doch gesagt: die Frau hat dich seit neunzehn Jahren nicht verlassen, +so verlasse ich sie auch nicht. Ruhe hätte ich zu Hause auch nicht +gehabt, und ich glaube, ich fände im Grabe keine Ruhe, wenn ich das +arme, kranke Wurm allein gelassen hätte.«</p> + +<p>Ursulas laute Stimme wurde unsicher, und sie fuhr sich mit dem +Taschentuch über das Gesicht.</p> + +<p>Der Vorsitzende wartete ein wenig und forderte sie dann auf, den +Todestag der Frau <span class='pagenum'><a name="Page_176" id="Page_176">[176]</a></span>Swieter, soweit sie sich erinnern könne, vom Anfang +bis zum Ende zu schildern.</p> + +<p>»Gerade an dem Tage,« begann Ursula, »hatte ich gar nichts Böses +vermutet. Die Nacht war nämlich sehr schlecht gewesen, ich hörte sie +stöhnen, lief wohl fünfmal hin und fragte, ob ich den Doktor holen +sollte, aber sie sagte: 'Nein, der hilft mir doch nicht,' und mich +schickte sie auch fort, weil ich es ihr nur schwerer machte. Denn wenn +ich da wäre, sagte sie, müßte sie sich beherrschen.</p> + +<p>Gegen Morgen bin ich wirklich eingeschlafen, denn vier Uhr habe ich es +schlagen hören, aber fünf nicht mehr, und um sieben weckte mich der +Kaminkehrer, der anläutete. Ich war wütend, daß er so laut schellte, und +lief an die Tür und sagte, das sei keine Art, so unversehens +daherzukommen, er habe sich den Tag vorher anzumelden, und jetzt nähme +ich ihn schon gar nicht an; ich mochte den unverschämten Kerl nämlich +ohnehin nicht leiden. Ich dachte, meine Gnädige wäre vielleicht auch +erst vor kurzem eingeschlafen und nun wieder geweckt, und da klingelte +sie <span class='pagenum'><a name="Page_177" id="Page_177">[177]</a></span>mir auch schon und fragte, wer draußen wäre. Ich sagte, der +Kaminfeger, und daß ich ihn geschimpft und wieder weggeschickt hätte, +und da lachte sie und sagte, es habe nichts zu sagen, sie würde schon +wieder einschlafen, es sei ihr jetzt ganz wohl. Aussehen tat sie +freilich, als wenn sie Fieber hätte, aber es blieb ganz ruhig bei ihr, +und da ich um zehn Uhr wieder hereinschaute, lag sie ganz still da, und +die Haare fielen ihr halb übers Gesicht. Ich ging leise heraus und +beeilte mich, so gut ich konnte, und wie ich wieder da war, guckte ich +wieder leise herein, und da lag sie mit offenen Augen und lächelte so +friedlich und sagte: 'Sind Sie da, Urselchen, mir ist ganz wohl, ich +habe gar keine Schmerzen mehr.' Sie sah auch wirklich ganz gut aus, +obgleich sie tiefe Schatten wie breite, schwarze Bänder unter den Augen +hatte, und wie ich sie so betrachtete, kam sie mir sonderbar vor und ich +sagte: 'Gnädige Frau sehen so geheimnisvoll aus.' Meine Seele dachte +aber nicht daran, daß das Geheimnis der Tod war, denn sonst hätte ich es +ja nicht gesagt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_178" id="Page_178">[178]</a></span>»Was antwortete sie darauf?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Sie lächelte noch glücklicher als vorher und sagte: 'Das Geheimnis ist, +daß unser Mingo mich besucht hat.' Mingo hieß unser Kind, das gestorben +ist, und wir nannten es <i>der</i> Mingo, weil wir eigentlich bestimmt +auf einen Buben gerechnet hatten.«</p> + +<p>»Sie hatte also von ihrem verstorbenen Kinde geträumt,« sagte der +Vorsitzende. »Erzählte sie Ihnen davon?«</p> + +<p>»Natürlich,« sagte Ursula, »wenn sie von unserem Mingo geträumt hatte, +sprach sie den ganzen Tag davon. Es war in einem offenen Wagen mit +schönen schwarzen Pferden gekommen und hatte auf dem Rücksitz gesessen, +so wie es sonst zwischen seinen Eltern saß. Ganz gerade und stolz hatte +es dagesessen und ihr mit der kleinen Hand gewinkt, daß sie sich zu ihm +setzen sollte, und plötzlich war es dann kein Wagen mehr gewesen, +sondern eine Art Karussell oder Schaukel, und war nach einer +wunderschönen Musik immer höher und höher geflogen. Es <span class='pagenum'><a name="Page_179" id="Page_179">[179]</a></span>kam ihr so vor, +als ob die Schaukel abgerissen wäre, und wie ihr bange wurde, sagte +unser Mingo ganz ernsthaft: 'Halte dich nur an mir!' Darüber mußte sie +lachen, daß das winzige Geschöpf seiner Mutter eine Stütze sein wollte, +und wachte auf.</p> + +<p>Zwischen dem Kochen ging ich immer wieder herein und schwatzte mit ihr +von unserem Mingo, und dann brachte ich ihr das Mittagessen und setzte +mich zu ihr und redete ihr zu, ordentlich zu essen, weil sie nämlich +immer nur an allem nippte. 'Ach, Urselchen, lassen Sie mich nur, ich +habe heute keinen Hunger,' sagte sie, 'gewiß kommt unser Bettler, der +wird froh sein, wenn er so viel bekommt.' Es war nämlich Donnerstag, und +am Donnerstag kam meistens ein alter Mann, der sagte, in der ganzen +Straße gäbe es keine so gute Köchin, wie ich wäre, und so hatten wir +immer allerlei Spaß miteinander. Indem sie das sagte, läutete es auch +schon an der Tür, es war aber nicht unser Bettler, sondern ein anderer, +so wie ein Slowak sah er aus, die Mausefallen verkaufen. Ich hatte ihm +kaum <span class='pagenum'><a name="Page_180" id="Page_180">[180]</a></span>aufgemacht, da klingelte meine Gnädige so stark, daß es mir +ordentlich durch die Knochen fuhr, und wie ich hinlief, sagte sie, ob es +der Doktor sei. 'Bewahre,' sagte ich, 'um die Zeit kommt der Doktor +nicht, es ist ein Bettler.' 'Dann ist es gut,' sagte sie, 'ich wollte +Ihnen nur sagen, daß Sie den Doktor heute nicht zu mir hereinlassen. Ich +bin zu müde, um mich quälen zu lassen. Sie können ihm sagen, ich hätte +eine schlechte Nacht gehabt und schliefe.'«</p> + +<p>»Ist Ihnen das nicht aufgefallen?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Nein,« sagte Ursula erstaunt, »es ist auch gar nichts Auffallendes +daran. Ich mußte manchmal den Doktor unter irgendeinem Vorwand +fortschicken, zum Beispiel, wenn ich ihr gerade etwas Spannendes +vorlas.«</p> + +<p>»Haben Sie ihr auch an diesem Tage vorgelesen?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>Ursula schüttelte traurig den Kopf. »Dazu ist es nicht mehr gekommen,« +sagte sie. »Nachdem ich meine Küche gemacht hatte wie alle Tage, fragte +ich sie, ob ich ihr vorlesen sollte, <span class='pagenum'><a name="Page_181" id="Page_181">[181]</a></span>oder ob sie möchte, daß Fräulein +Schwertfeger käme. 'Nein,' sagte sie, 'Gundel kommt gewiß von selbst, +wenn sie Zeit hat, und ich glaube auch, daß ich wieder einschlafen +werde. Da können Sie zur Bank gehen und die Miete bezahlen, weil Sie +gestern nicht dazu gekommen sind,' — es war ja der 2. Oktober — 'und auf +dem Rückweg könnten Sie mir eine Flasche griechischen Wein mitbringen, +ich habe solche Lust darauf, und der Doktor hat mir Wein erlaubt.' Dann +trug sie mir noch auf, dem Hausmeister zu sagen, daß er auf den Abend +heizte, damit ich nicht im Kalten säße, weil der Wind so stark auf +meinem Fenster stand. Er hätte nämlich eigentlich schon am Ersten heizen +müssen, aber der Mensch war ja so faul, daß er kaum die trockenen +Blätter im Vorgarten zusammenfegte, und in den Keller gehen und heizen, +das paßte ihm erst recht nicht. Wenn man ihn mahnte, hatte er immer +einen Vorwand, weswegen er nicht dazu gekommen wäre. Er möchte lieber +Heizer in der Hölle sein, als ein Hausmeister mit drei Häusern und +achtzehn Parteien, von denen jede <span class='pagenum'><a name="Page_182" id="Page_182">[182]</a></span>verschieden warm haben wollte; das +war eine beliebte Redensart von ihm. Ich sagte also zu meiner Gnädigen, +lieber wolle ich frieren, als daß ich mich mit dem Mehlwurm von +Hausmeister einließe. Da lachte sie und sagte, nein, ich solle es ihm +nur recht gefährlich ausmalen, wie kalt ich es hätte und wie böse sie +auf ihn wäre. Und das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört +habe.«</p> + +<p>»Als Sie nach Hause kamen,« sagte der Vorsitzende, »war sie tot. Sie +hatten die Tür abgeschlossen und fanden sie geschlossen wieder vor?«</p> + +<p>»Abgeschlossen war die Tür nicht, und das kam daher, weil, kurz bevor +ich kam, Fräulein Schwertfeger dagewesen war, und die dachte gewöhnlich +nicht ans Abschließen.«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger wurde gefragt, ob sie die Tür verschlossen +gefunden habe, und erklärte, daß sie nicht darauf geachtet habe und +deshalb nichts darüber sagen könne. Sie sei auf dem Wege in die +Abendschule und in Eile gewesen, habe eben nur fragen wollen, wie es +<span class='pagenum'><a name="Page_183" id="Page_183">[183]</a></span>ginge. Da es totenstill in der Wohnung gewesen sei, habe sie +angenommen, daß ihre Freundin schliefe, habe leise in das Schlafzimmer +hineingeguckt und sei dann wieder gegangen. Die Tür, die vom +Schlafzimmer ihrer Freundin ins Wohnzimmer geführt habe, sei wie immer +weit offen gewesen. Sie habe beim Fortgehen die Wohnungstür keinesfalls +abgeschlossen, denn sie habe das nie getan. Es sei etwa fünf Minuten vor +sechs Uhr gewesen.</p> + +<p>»Wieviel Uhr war es, als Sie nach Hause kamen?« wendete der Vorsitzende +sich wieder an Ursula.</p> + +<p>»Als ich um die Ecke von unserer Straße bog,« sagte Ursula, »hörte ich +es von der Schloßkirche sechs Uhr schlagen, und von da sind es keine +fünf Minuten mehr, besonders weil ich schnell ging. Ich hatte mich +nämlich mit dem Warten auf der Bank, und weil ich nach dem Wein hatte +laufen müssen, verspätet. Ich ging zuerst in die Küche und legte meine +Pakete ab — ich hatte sonst noch einiges für den Haushalt eingekauft — und +meinen Mantel. Dann ging ich leise <span class='pagenum'><a name="Page_184" id="Page_184">[184]</a></span>ins Schlafzimmer; denn daß meine +Gnädige schliefe, nahm ich an, weil sie mich sonst sofort rief, sowie +ich die Tür aufmachte. 'Sind Sie's, Urselchen?' rief sie mit ihrer +weichen Stimme. Sie hatte so eine helle, unschuldige Stimme wie ein +Kind. Durch die offene Türe sah ich, wie sie ganz still dalag, den Kopf +auf der Seite und die Arme über der Decke, und kehrte gleich wieder um, +froh, daß sie so gut schlief. Aber als ich im Wohnzimmer war, fiel mir +auf einmal ein, daß sie sonst ganz anders lag, wenn sie schlief, nämlich +nie flach auf dem Rücken, sondern etwas zur Seite geneigt, und die eine +Hand hatte sie unter dem Gesicht. Wie mir das plötzlich einfiel, wurde +mir so sonderbar zumute, daß mir wahrhaftig die Knie zitterten, und ich +mußte mir ordentlich Mut machen, eh ich wieder hineinging. Und wie ich +ihr leise, leise die Haare vom Gesicht nahm, sah ich, daß sie tot war, +denn so still liegt ja kein lebendiger Mensch.«</p> + +<p>»Trug sie die Haare immer offen?« erkundigte sich <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_185" id="Page_185">[185]</a></span>»O nein,« antwortete Ursula, mit einem kurzen, geringschätzigen +Lächeln. »Ich frisierte sie jeden Morgen sehr schön und ordentlich, da +fehlte gar nichts, aber in der letzten Nacht hatte es sich aufgelöst bei +dem Herumwälzen wegen der Schmerzen, und weil sie so müde war, hatte ich +sie nicht damit plagen wollen.«</p> + +<p>»Wir wissen durch den Arzt, den das Mädchen sofort rufen ließ,« sagte +der Vorsitzende, »daß der Tod eine bis zwei Stunden vorher eingetreten +war, und zwar, wie der Arzt damals annahm, durch Herzlähmung. Der +Zustand der Kranken hatte durchaus mit einer solchen rechnen lassen, +weshalb von keiner Seite irgendein Argwohn geschöpft wurde.«</p> + +<p>»Zählen Sie, Fräulein Züger, noch einmal im Zusammenhang auf, was für +Personen im Laufe des Tages in der Wohnung gewesen waren!«</p> + +<p>»In der Wohnung war überhaupt niemand,« sagte Ursula mit nachdrücklicher +Mißbilligung. »Angeläutet hatte zuerst in der Frühe der Kaminfeger, den +ich wieder fortschickte. Er kam dann <span class='pagenum'><a name="Page_186" id="Page_186">[186]</a></span>noch einmal wieder, der +zudringliche Mensch, und da sagte ich ihm, in einem ordentlichen +Haushalt ließe man um zehn Uhr keinen Herd mehr putzen, er solle sich +das merken. Nachher war der Postbote da; der warf gewöhnlich die Briefe +nur herein, aber diesmal läutete er an, weil er einen ungenügend +frankierten Brief hatte.«</p> + +<p>»Was für ein Brief war das?« fragte der Vorsitzende hastig.</p> + +<p>»Der Brief war für mich,« antwortete Ursula schnippisch triumphierend, +»von einer Freundin, die eine Stelle in Frankreich angenommen hatte.«</p> + +<p>»Und weiter?« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Danach läutete noch einmal die Gemüsefrau, der ich aber nichts abnahm, +weil der Spinat letztes Mal bitter gewesen war, und am Mittag der +Slowak. Sonst war niemand da, und in der Wohnung ist überhaupt niemand +gewesen.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt bat ums Wort.</p> + +<p>»Ich möchte bemerken, daß die Wohnung doch nicht so festungsmäßig +verwahrt war, wie das gute Mädchen es darstellen möchte. Sie hat <span class='pagenum'><a name="Page_187" id="Page_187">[187]</a></span>selbst +erzählt, daß sie, als sie dem sogenannten Slowaken die Tür aufgemacht +hatte, von Frau Swieter durch die Klingel abgerufen wurde. Er hätte also +die Gelegenheit benutzen und eindringen können.«</p> + +<p>Ursula drehte sich ganz nach dem großen, mageren Angreifer um und +stemmte den Arm in die Seite, während sie ihn mit sprühenden Augen von +oben bis unten maß.</p> + +<p>»Hätte er das?« fragte sie höhnend. »Ja, wenn ich ihm nicht die Tür vor +der Nase zugeworfen hätte. Ich schlug die Tür fest zu, ehe ich zu meiner +Gnädigen hineinlief, und sie war auch zu, als ich wiederkam. Den +Slowaken hörte ich noch auf der untersten Treppe. Ich hatte ihm nämlich +einen Teller Suppe gegeben und wollte den leeren Teller wieder +hereinnehmen, aber er hatte sie nicht angerührt. Um Suppe ist es diesen +Vagabunden ja gewöhnlich gar nicht zu tun. Übrigens war es ein ganz +harmloser Mensch und sah auch gar nicht so zerrissen und schmutzig aus +wie die richtigen Strolche.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_188" id="Page_188">[188]</a></span>»Glauben Sie bestimmt,« fragte der Vorsitzende, »daß Sie den +Angeklagten in irgendeiner Verkleidung erkannt hätten?«</p> + +<p>Ursula brauchte einige Zeit, um den Sinn dieser Frage zu fassen.</p> + +<p>»Unseren Herrn Doktor?« fragte sie endlich mit immer größer werdenden +Augen. »Meinen Sie, ob unser Herr Doktor der Slowak gewesen sein könnte? +Ja, wissen Sie, Herr Präsident, da könnten Sie mich ebensogut fragen, ob +Sie unser Herr Doktor sein könnten! Unser Herr Doktor! Und der hätte +nicht mit den Augen gezwinkert und gesagt: 'Ursula, kennen Sie mich +nicht, dumme Person?' Überhaupt! Ja, so etwas meinen Sie, Herr +Präsident, weil Sie die Verhältnisse nicht kennen!«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann schnitt die immer schneller strömende Rede durch +eine verzweifelte Handbewegung und einen Seufzer ab. »Bleiben wir bei +der Sache,« sagte er. »Sie halten es für unmöglich, daß jemand in die +Wohnung eindringen konnte?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_189" id="Page_189">[189]</a></span>»Ausgeschlossen, einfach ausgeschlossen,« antwortete Ursula.</p> + +<p>»Außer wenn Frau Swieter selbst es wollte,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Ja, die wird gerade Räuber und Mörder eingelassen haben,« sagte Ursula +mit zorniger Verachtung.</p> + +<p>»Offensichtliche Räuber und Mörder nicht,« rief der Staatsanwalt +dazwischen, »vielleicht aber ihren einstigen Gatten, für den sie leider +noch immer, wie das Testament beweist, ein liebevolles Interesse hatte.«</p> + +<p>»Und sie wird gerade nach siebzehn Jahren,« sagte Ursula fast schreiend, +»am Läuten erkannt haben, daß er es war.«</p> + +<p>»Wenn sie ihn erwartete, mein gutes Kind, war das nicht nötig,« sagte +der Staatsanwalt mit dem beißenden Tone eines schadenfrohen Teufels.</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann machte eine warnende Handbewegung gegen Ursula, die +aussah, als ob sie ihrem Gegner an die Kehle springen wollte. »Ich +glaube,« sagte er, die Stimme erhebend, <span class='pagenum'><a name="Page_190" id="Page_190">[190]</a></span>»wir fangen an, uns im Kreise +zu drehen. Der Herr Staatsanwalt geht davon aus, daß eine Verständigung +irgendwelcher Art zwischen den geschiedenen Eheleuten bestanden haben +könnte, was aber noch ganz unbewiesen ist, ja wovon eher die +Unmöglichkeit nachgewiesen ist. Nach meiner Meinung hat die Zeugin +nichts Sachdienliches mehr vorzubringen, und wir könnten zur Vernehmung +des Hausmeisters übergehen, wenn die Herren Kollegen und die Herren +Geschworenen einverstanden sind.«</p> + +<p>Den Kopf steif im Nacken und ein verächtliches Lächeln auf den Lippen, +das dem angekündigten Hausmeister galt, begab sich Ursula auf ihren +Platz neben Fräulein Schwertfeger.</p> + +<p>Der Erwartete glich insofern einem Mehlwurm durchaus nicht, als er rot +im Gesicht mit einem bläulichen Anflug über der Nase war. Er schlenderte +in der bequemen Haltung eines Menschen herein, der dem Leben zu sehr als +Liebhaber gegenübersteht, um jemals Eile zu haben, sah sich gemächlich +um und unterzog zuletzt den langen, grünen Tisch, vor dem er zu <span class='pagenum'><a name="Page_191" id="Page_191">[191]</a></span>stehen +hatte, samt allen darauf befindlichen Gegenständen einer beiläufigen +Untersuchung. Der Vorsitzende vereidigte ihn und forderte ihn auf, die +an ihn gerichteten Fragen nicht nur der Wahrheit gemäß, sondern auch +ohne Zweideutigkeit und Weitschweifigkeit zu beantworten.</p> + +<p>»I warum nicht,« sagte der Hausmeister, »da liegt ja gar nichts dran.«</p> + +<p>»Wo pflegen Sie sich tagsüber aufzuhalten?« lautete die erste Frage.</p> + +<p>»Ja,« sagte der Hausmeister lachend, »da läßt sich freilich nicht so +eins, zwei, drei darauf antworten. Das ist nämlich je nachdem, was ich +gerade zu tun habe. Aber wenn ich sage, daß ich entweder in einem von +meinen drei Häusern bin, weil in einer Wohnung etwas zu richten ist, +oder weil eine Partei mit mir dies oder das reden möchte, oder denn im +Keller bei der Heizung oder im Garten, wo ich so auf und ab spaziere, so +wird das schon ungefähr stimmen. In meiner eigenen Wohnung bin ich am +wenigsten und habe da ja auch nichts zu tun, denn für <span class='pagenum'><a name="Page_192" id="Page_192">[192]</a></span>die Familie +interessiere ich mich nicht so wie für den Beruf.«</p> + +<p>»Sind die Häuser untertags abgeschlossen?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Gott bewahre,« sagte der Hausmeister, »da kann jedermann aus und ein +gehen, wie er will. Nichts Unrechtes kommt ja bei uns sowieso nicht vor, +und für alle Fälle ist vor jeder Wohnung eine besondere Wohnungstür. +Nein, von Abschließen ist bei uns keine Rede. Des Morgens um sechs +schließe ich alle Türen auf, vielmehr meine Frau tut das, und abends um +neun Uhr schließe ich zu, und bei der Methode haben wir uns immer gut +gestanden.«</p> + +<p>»Aber die Keller sind doch abgeschlossen?« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Ja, sehen Sie, Herr Präsident,« antwortete der Hausmeister, »das läßt +sich wieder nicht so eins, zwei, drei beantworten. Bei Nacht sollten sie +wohl eigentlich geschlossen sein, denn am Tage ginge das ja gar nicht +an, schon wegen dem Heizen, und wo die Fräuleins so oft Kohlen und +Kartoffeln und dergleichen heraufholen. Das <span class='pagenum'><a name="Page_193" id="Page_193">[193]</a></span>würde ja ein ewiges Auf- +und Zuschließen. Es geht sowieso den ganzen Tag: 'Herr Hausmeister, ach +helfen Sie mir doch!' 'Herr Hausmeister, bitte, nur einen Augenblick.' +Ich sollte immer an hundert Orten zugleich sein. Nein, es ist für alle +Teile am besten, wenn die Keller ein für allemal offen sind, und daran +hat auch noch niemand etwas auszusetzen gehabt.«</p> + +<p>»Sie sollen aber selbst einmal,« erinnerte der Vorsitzende, »einen Mann +ertappt haben, der sich im Keller eingeschlichen hatte.«</p> + +<p>»So,« sagte der Hausmeister nachdenkend. »Ach so, das hat wohl die +Urschel erzählt?« rief er nach einer Pause belustigt aus. »Ja, vor dem +brauchte niemand Angst zu haben, der sah so grün im Gesicht aus, als ob +er die ganze Nacht unreife Äpfel gegessen hätte. Das war so ein +Obdachloser, oder es kann ihn auch eins von den Mädels versteckt haben, +denn die Jungfern haben doch alle ihre Liebhaber, wenn sie sich auch +noch so zimperlich anstellen.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann machte ein ernstes Gesicht und fragte streng:</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_194" id="Page_194">[194]</a></span>»Entsinnen Sie sich, wer am 2. Oktober des vergangenen Jahres aus und +ein gegangen ist?«</p> + +<p>»Du lieber Himmel,« seufzte der Hausmeister, »wie soll ich das behalten, +was bei uns täglich ein und aus geht! Stellen Sie sich vor, Herr +Präsident, drei Häuser mit achtzehn Parteien, wobei ich mich noch gar +nicht mal gerechnet habe; in dem einen sind vier Parteien, in den beiden +anderen je sieben. Und wie geht es vollends Anfang Oktober zu, wo die +eine Partei auszieht und die andere einzieht, und die Handwerker, die +das mit sich bringt!«</p> + +<p>»Gerade weil es besondere Tage sind,« beharrte der Präsident, »haben Sie +sie doch vielleicht im Gedächtnis behalten. Auch der plötzliche Tod der +Frau Swieter, die das am meisten zurückliegende Haus bewohnte, hat den +Tag unter den anderen hervorgehoben. Als später der Ihnen bekannte +Verdacht entstand, haben Sie doch sicher in Ihrem Gedächtnis +nachgeforscht, wen Sie an jenem Tag aus und ein gehen gesehen haben.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_195" id="Page_195">[195]</a></span>»Ich will tun, was ich kann, um Ihnen gefällig zu sein, Herr +Präsident,« sagte der Hausmeister. »Der Kaminkehrer, der in der Frühe da +war, wird Sie ja wohl nicht interessieren, und der Postbote ebensowenig, +und die Handwerker ging das Haus von der Frau Swieter nichts an, weil +nämlich in dem Hause kein Umzug stattgefunden hatte. An Bettlern hat es +auch nicht gefehlt, und was das betrifft, so war die Frau Swieter selbst +schuld daran. Die anderen Parteien beklagten sich über sie, daß sie die +Bettler herzöge, weil sie ihnen immer etwas gäbe. Übrigens, mir hat sie +auch immer jede Kleinigkeit ordentlich bezahlt, sie gehörte nicht zu +denen, die meinen, unsereiner wäre dazu da, allen alles umsonst zu +machen. Also konnte sie es mit den Bettlern schließlich auch halten, wie +sie wollte. Sie sind ja auch einmal da und müssen in Gottes Namen zu +ihrer Sache kommen.«</p> + +<p>»Denken Sie gut nach,« sagte der Vorsitzende, »ob Sie zwischen vier und +sechs Uhr nachmittags einen Bettler gesehen haben, einen, der Ihnen +unbekannt war, der Ihnen auffiel!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_196" id="Page_196">[196]</a></span>»Zwischen vier und sechs Uhr?« sagte der Hausmeister tiefsinnig. »Da +schickte ich gerade meinen Jungen um eine Maß Bier in die Wirtschaft an +der Ecke und wartete an der Gartentür, bis er wiederkam, und dann +stellte ich die Maß auf die Treppe, um ab und zu einen Schluck zu +nehmen. Indem kam gerade die Frau Hofrat im Parterre vom zweiten Hause +und schimpfte, was sie wußte, daß ich nicht geheizt hatte, und ich +sagte: 'Aber Frau Hofrat, bei dem schönen Wetter! Solches Wetter haben +wir ja den ganzen Sommer über nicht gehabt, und das bißchen Wind wird +Ihnen doch nichts machen, es ist ja Südwind,' und so weiter, bis sie es +denn wahrscheinlich einsah und wieder fortging. Ja, und dann kam einer, +der hatte wohl etwas gebracht, einen Hut oder Mantille oder dergleichen, +denn er hatte eine Schachtel, wahrscheinlich für die Pension, da war +damals so eine Modesüchtige; und dann kam der Ulkige. Der hatte mich +erst gar nicht gesehen und wollte an mir vorbeilaufen, als ob ich ein +Laternenpfahl wäre, und ich wich ihm absichtlich nicht aus, weil ich +dachte, <span class='pagenum'><a name="Page_197" id="Page_197">[197]</a></span>ich wollte doch sehen, ob er gegen mich anrennte. Da blieb er +plötzlich dicht vor mir stehen und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer +Gnaden?' und hielt mir eine Zigarette hin. Ich mußte lachen und zog +meine Schwedischen heraus und machte ihm Feuer, und zum Dank nickte er +ein bißchen und faßte an die Mütze. Ein Bettler war das aber nicht, er +hatte allerlei zu verkaufen, Löffel und Quirle, die trug er an einem +Strick an der Hand. Wie er eben aus der Türe gegangen war, warf er die +Zigarette in das Fliedergebüsch an der Pforte, ob sie nun nicht brannte +oder sonst nicht schmeckte, das weiß ich ja nicht, und ich wollte sie +erst auflesen, aber dann dachte ich: Ach laß sie liegen, eine feine wird +es doch nicht sein.«</p> + +<p>»Können Sie eine genaue, zuverlässige Beschreibung dieses Mannes geben?« +fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Nein, Herr Präsident,« sagte der Hausmeister, indem er lächelnd den +Kopf schüttelte, als wollte er sagen, um in die Falle zu gehen, dazu +wäre er doch zu schlau. »So gern ich Ihnen den Gefallen täte, damit will +ich nichts zu tun <span class='pagenum'><a name="Page_198" id="Page_198">[198]</a></span>haben. Ich glaube, daß er ziemlich lange, schwarze +Haare hatte, und daß er sozusagen träumerisch dahergeschlendert kam. Und +wenn Sie ihn da vor mich hinstellen würden, würde ich ihn ja auch wohl +wiedererkennen. Aber ob nun sein Kittel grau oder grün oder braun war, +und was er für Stiefel anhatte, und ob er Löcher in den Strümpfen hatte, +und was dergleichen mehr ist, das könnte ich wahrhaftig nicht sagen.«</p> + +<p>»Haben Sie gar nicht darüber nachgedacht, was für ein Mann das sein +könnte?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Na, das sah ich ja, Herr Präsident, daß er Löffel verkaufte,« sagte der +Hausmeister, »dabei war nichts nachzudenken. Das nähme meine Zeit doch +viel zu sehr in Anspruch, wenn ich mir über jeden Hausierer Gedanken +machen wollte. Sie müssen sich nur vorstellen, was für Leute bei uns aus +und ein gehen! Da ist zum Beispiel im dritten Hause im zweiten Stock der +Herr Rübsamen, Komponist und Musikschriftsteller, ein schrecklich +nervöser Mensch, und wenn ich nicht so viel Geduld mit ihm hätte, wäre +er längst <span class='pagenum'><a name="Page_199" id="Page_199">[199]</a></span>ausgezogen. Sie müssen nur sehen, was für Leute zu dem +kommen, da stößt man sich nachher an nichts mehr. Herren und Damen +kommen, die ihm was vorsingen oder vorspielen, die reine Zigeunerbande, +und nachher sind es Künstler und feine Leute gewesen. An dem Tage ist +übrigens auch der Klavierstimmer bei ihm gewesen, den hat er +weggeschickt, weil er von der Ursula, dem Mädel, gewußt hat, daß ihre +Gnädige eine schlechte Nacht gehabt hatte und schlafen sollte. Gutmütig +ist er ja, der Herr Rübsamen. Der Klavierstimmer ist aber der mit der +Zigarette nicht gewesen. Denn der hat ein rotes Gesicht und blonde +Haare, den kenne ich, weil er alle Vierteljahre zum Herrn Rübsamen +kommt.«</p> + +<p>»Der Mann ist also aus dem dritten Hause gekommen,« fragte der +Präsident.</p> + +<p>»Aus dem zweiten könnte er auch gekommen sein, wo die Pension drin ist,« +sagte der Hausmeister, »ich sah ihn erst, als er an das vordere +herankam, wo ich stand.«</p> + +<p>»Ich bitte den Hausmeister zu fragen, ob der Angeklagte dem Mann mit der +Zigarette ähnlich <span class='pagenum'><a name="Page_200" id="Page_200">[200]</a></span>sieht,« sagte der Staatsanwalt, indem er mit +imperatorischer Gebärde den Arm ausstreckte.</p> + +<p>»Wollen Sie den Angeklagten daraufhin ansehen!« forderte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann den Hausmeister auf.</p> + +<p>Der Hausmeister drehte sich langsam um und betrachtete Deruga, den die +Untersuchung zu belustigen schien, aufmerksam und erstaunt.</p> + +<p>»Da bin ich überfragt, Herr Präsident,« sagte er endlich. »Ich möchte +schwören, daß ich den Herrn da noch nie gesehen habe.«</p> + +<p>»Sie müssen sich ihn mit schwarzer Perücke und mit falschem Bart +vorstellen,« sagte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Ausgeschlossen,« rief der Hausmeister mit ungewöhnlicher +Entschiedenheit. »Wenn ich mit solchen Vorstellungen anfange, kenne ich +schließlich keinen mehr vom anderen, und hernach soll ich für das +aufkommen, was ich mir vorgestellt habe, und habe unversehens einen +Meineid auf dem Halse. Denn sehen Sie, Herr Präsident, wenn man anfängt +nachzudenken, wie einer ausgesehen hat, und ihn mit dem und jenem +ver<span class='pagenum'><a name="Page_201" id="Page_201">[201]</a></span>gleicht, so hält man zuletzt alles für möglich, und am Ende ist es +doch nur die pure Einbildung gewesen.«</p> + +<p>»Sie haben also«, sagte der Vorsitzende, »kein genaues Erinnerungsbild +von dem Manne, der Sie um Feuer bat. Besinnen Sie sich noch auf andere +Personen, die am 2. Oktober zwischen vier und sechs Uhr in Ihren Häusern +verkehrten?«</p> + +<p>»Ja,« antwortete der Hausmeister. »Ich hatte eben meinem Buben +aufgetragen, den Maßkrug wieder in die Wirtschaft zu tragen, und sah ihm +nach, wie er über die Straße ging, da rief mich einer von rückwärts an +und fragte nach der nächsten Haltestelle für Autodroschken. Der war so +in Eile, daß er kaum abwartete, bis ich ihm ordentlich Bescheid gegeben +hatte, und gab mir einen Puff in die Seite, als er an mir vorbeilief. +Gleich darauf rief mich meine Frau, weil das Leitungsrohr in der Pension +im zweiten Hause wieder einmal verstopft war — da stecken sie nämlich +immer ihre Knochen und ausgekämmten Haare hinein, als ob der Ausguß die +Drecktonne wäre — na, und als ich da nachge<span class='pagenum'><a name="Page_202" id="Page_202">[202]</a></span>sehen hatte und wieder in den +Garten kam, sah ich gerade den Doktor ins dritte Haus hineingehen wegen +der Frau Swieter, die unterdessen gestorben war.«</p> + +<p>»Was für einen Eindruck machte der Herr auf Sie?« fragte der +Vorsitzende, »der in so großer Eile war?«</p> + +<p>»Das weiß ich noch,« sagte der Hausmeister, »daß er einen langen, +breiten Mantel trug. Denn ich dachte bei mir, in der jetzigen Mode +tragen die Weiber Männerröcke und die Männer Weiberzeug. Von hinten hat +er wie ein eingemummtes Frauenzimmer ausgesehen. Sonst ist es aber ein +feiner Herr gewesen.«</p> + +<p>Der Staatsanwalt bat, noch einmal auf den Mann mit der Zigarette +zurückkommen zu dürfen. Er wünsche zu wissen, ob er reines Deutsch oder +wie ein Ausländer gesprochen habe.</p> + +<p>»Ja, wissen Sie«, sagte der Hausmeister, »geradeso wie unsereiner reden +ja die wenigsten. Ich habe schon oft gedacht, was redet der für ein +Kauderwelsch daher? und nachher war es doch ein Deutscher und nichts +weiter. 'Haben <span class='pagenum'><a name="Page_203" id="Page_203">[203]</a></span>Sie Feuer, Euer Gnaden?'« Er wiederholte sich den Satz, +wie um durch die Worte an Klang und Tonfall erinnert zu werden. »Eigen +hat es ja geklungen, aber ganz lieb, ganz spaßig, und gutes Deutsch ist +es doch auch gewesen. Der mit dem Auto dagegen, der hat so geschnauft, +daß ich ihn kaum verstehen konnte, und mich hat er, glaub' ich, auch +nicht gut verstanden, wenigstens lief er zuerst nach der falschen Seite, +obwohl ich es ihm klar auseinandergesetzt hatte. Es kann aber natürlich +auch wegen der großen Eile gewesen sein.«</p> + +<p>»Dieser Herr,« sagte der Vorsitzende, »ist wahrscheinlich derselbe, der +in der Pension nach Zimmern fragte und abschlägig beschieden werden +mußte. Es ist keine Spur von ihm aufzutreiben gewesen, und wir nehmen +an, daß er sich nur vorübergehend hier aufgehalten hat.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Beim Schluß dieser Sitzung waren alle Beteiligten mit Ausnahme von +Deruga abgespannt, gereizt und aufgeregt. Herrn von Wydenbrucks Gedanken +weilten bei dem Traume der <span class='pagenum'><a name="Page_204" id="Page_204">[204]</a></span>verstorbenen Frau, den Ursula geschildert +hatte, und er sprach sich darüber gegen <tt>Dr.</tt> Bernburger aus, als +er neben ihm durch die breiten Gänge des Justizgebäudes ging.</p> + +<p>»Das Kind,« sagte er, »das sie besuchte, war natürlich ein Bild für den +Vater, das Schaukeln deutet auf sinnliche Regungen. Es ist zweifellos, +daß sie ihn erwartete.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger, der sehr blaß aussah, hatte sich eben eine +Zigarre angezündet und begann sich etwas zu erholen.</p> + +<p>»Das ist wahr,« sagte er hastig. »Die Schlüsse von zwei +entgegengesetzten Richtungen treffen sich wie die Bohrer in einem +Tunnel. Er hatte sie um Geld gebeten, das hatte ihre Erinnerungen +belebt. Sie erwartete ihn in einer verliebten oder sentimentalen +Stimmung. Er kam in der Verkleidung eines Hausierers, der hölzerne +Löffel verkauft. Entweder ließ ihn die ins Geheimnis gezogene Ursula +ein, oder er wußte ihre Aufmerksamkeit zu hintergehen, oder Frau Swieter +selbst öffnete ihm. Wäre mir das Ergebnis der Voruntersuchung bekannt +und hätte ich Fragen <span class='pagenum'><a name="Page_205" id="Page_205">[205]</a></span>stellen können, so hätte ich den Tatbestand auf +der Stelle herausgebracht. Ich lag auf der Folter, während dieser +schwerfällige Apparat arbeitete.« <tt>Dr.</tt> Bernburger trocknete seine +Hand mit dem Taschentuch ab, wobei seine dünnen Finger zitterten.</p> + +<p>»Sie glauben also,« fragte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck, »daß der Wunsch +des Wiedersehens von Deruga ausging und seinen Grund in der Geldsorge +hatte?«</p> + +<p>»Das halte ich für wahrscheinlich,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger. +»Jedenfalls hat der Slowak sie getötet, und der Slowak war Deruga.«</p> + +<p>»Meiner Ansicht nach,« sagte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck, »lag die +magnetische Anziehung zugrunde, die Hysterische verhängnisvoll +zueinander zieht. Wie sich auch der Wunsch eingekleidet haben mag, dies +muß der Kern gewesen sein.«</p> + +<p>»Ob es möglich wäre, daß die weggeworfene Zigarette noch in dem Gebüsche +läge?« sagte Bernburger, seine Gedanken verfolgend. »Aber wieviel Schnee +und Regen ist schon darauf gefallen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_206" id="Page_206">[206]</a></span>»Warum könnte es nicht auch der mit dem Auto gewesen sein?« wandte +<tt>Dr.</tt> von Wydenbruck ein.</p> + +<p>»Er zeigte unbefangen, daß er es eilig hatte. Der andere verlangte +Feuer, um unbefangen zu erscheinen, und warf die Zigarette gleich darauf +fort, weil er gar nicht rauchen wollte. Übrigens haben Raucher meistens +auch Zündhölzer bei sich. Außerdem fühlte ich es, sowie das Mädchen den +Slowaken anführte. Ich sah es wie mit dem zweiten Gesicht.«</p> + +<p>Herr von Wydenbruck betrachtete seinen Freund mit einem neuen Interesse +von der Seite. »Das wäre allerdings ausschlaggebend,« sagte er und +erkundigte sich, ob sein Freund schon öfter solche Erscheinungen an sich +beobachtet hätte.</p> + +<p>In demselben Gange, den die beiden eben durchschritten, stand Deruga mit +dem Justizrat Fein in einer Fensternische im Gespräch, beiläufig die +Vorübergehenden beobachtend.</p> + +<p>»Wenn ich der Präsident wäre,« sagte Deruga, »würde ich einen geladenen +Revolver mit in die Sitzung nehmen und den Zeugen vors Gesicht <span class='pagenum'><a name="Page_207" id="Page_207">[207]</a></span>halten, +und wenn sie sich dann noch nicht entschlössen, vernünftig zu antworten, +schösse ich sie nieder. Der Mann hat eine unbegreifliche Geduld.«</p> + +<p>In diesem Augenblick sah er <tt>Dr.</tt> Bernburger mit seinem Begleiter +herankommen, nahm rasch eine Zigarette aus seinem Etui, trat ein paar +Schritte vor und sagte zu <tt>Dr.</tt> Bernburger: »Haben Sie Feuer, Euer +Gnaden?« Dann, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, stellte er +sich wieder neben den Justizrat, indem er ihm aus ernstem Gesicht +zublinzelte.</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger war vor Erregung bleich geworden, während er +Deruga schweigend die brennende Zigarre hinhielt. Es ist klar, dachte +er, daß er sich über mich lustig macht. Über wieviel Scharfblick, +Geistesgegenwart, Frechheit und Kaltblütigkeit verfügt dieser Mensch; es +ist ihm alles zuzutrauen. Allerdings, wenn er nicht schuldig wäre, +zeugte sein Benehmen nur von der Sicherheit des Unbeteiligten. Aber die +seine war die Sicherheit des gewiegten zynischen Täters; es war die +Herausforderung eines <span class='pagenum'><a name="Page_208" id="Page_208">[208]</a></span>geistvollen Verbrechers, der sich für +unüberführbar hält.</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger war zu erregt und zu vertieft, um seine Gedanken +laut zu äußern, er ging hastig, seinem Freund um einige Schritte voraus.</p> + +<p>»Er hat Ihre Gedanken erraten,« sagte dieser. »Das ist wieder ein +Symptom von Hysterie, ebenso wie die Kaltblütigkeit. Man wird doch +zuletzt einsehen müssen, daß es sich um etwas Krankhaftes, um eine Art +Lustmord handelt.«</p> + +<p>»Aber die Frau, die er tötete, war zweiundfünfzig Jahre alt,« sagte +<tt>Dr.</tt> Bernburger ärgerlich.</p> + +<p>»Das ist eben die Perversität,« sagte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck. +»Vielleicht verschmolz sie ihm auch dadurch mit dem Erinnerungsbild +seiner Mutter, wodurch der aus Leidenschaft und Vernichtungslust +zusammengesetzte Hang verhängnisvoll verstärkt wurde.«</p> + +<p>Unterdessen machte der Justizrat seinem Klienten Vorwürfe. »Sie sind +wirklich ein Topf voll Mäuse,« sagte er. »Ich müßte Ihnen ein Schloß +<span class='pagenum'><a name="Page_209" id="Page_209">[209]</a></span>vor den Mund hängen. Was war nun das wieder für eine Eruption?«</p> + +<p>»Ach,« sagte Deruga, »warum sollte ich den beiden jungen Haifischen +nicht einen Knochen zwischen die schiefen Zähne werfen? Sahen Sie nicht, +wie ihm die Augen aus dem Kopfe quollen vor Gier? Es tut mir nur leid, +daß ich nicht zusehen kann, wie sie ihn abnagen.«</p> + +<p>»Mit Haifischen ist nicht zu spaßen,« sagte der Justizrat, »und obwohl +Sie ein nichtsnutziger Italiener sind, möchte ich doch nicht gerade, daß +er Sie zwischen die Zähne bekäme.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_210" id="Page_210">[210]</a></span></p> +<h2><a name="VII" id="VII"></a><tt>VII.</tt></h2> + + +<p>Die Baronin hatte kaum am Arme ihres Mannes den Saal verlassen, als ein +Gerichtsdiener ihr in den Weg trat und sie im Namen des +Oberlandesgerichtsrats Zeunemann bat, ihn zu einer kurzen Unterredung in +seinem Zimmer aufzusuchen. Er sei bereit, setzte der Gerichtsdiener +hinzu, sie sofort hinzuführen.</p> + +<p>»Du begleitest mich doch,« sagte sie, zu ihrem Manne hingewendet, der +sich willig anschloß. Er müsse zwar gestehen, sagte er, daß er Hunger +habe; aber die Herren vom Gericht wären sicher im gleichen Fall, und so +würde es nicht lange dauern.</p> + +<p>Der Oberlandesgerichtsrat, sagte sie in französischer Sprache, wäre ein +ganz angenehmer Mann, etwas kleinbürgerlich eitel, aber gefällig und im +Grunde, glaubte sie, ganz auf ihrer Seite.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_211" id="Page_211">[211]</a></span><tt>Dr.</tt> Zeunemann hatte sich bereits umgekleidet und knabberte an +einem Stückchen Schokolade zur Stärkung. »Ich würde die Herrschaften +nicht in diesem Augenblick zurückgehalten haben,« sagte er, ihnen Stühle +anbietend, »wenn es nicht in ihrem eigenen Interesse wäre; mein Wunsch +ist, Ihnen einen Schreck oder eine unangenehme Überraschung, wenn nicht +ganz zu ersparen, so doch zu mildern.«</p> + +<p>»Einen Schreck, Herr Oberlandesgerichtsrat,« rief die Baronin aus, +»jetzt, wo meine Nerven durch den gräßlichen Prozeß ohnehin erregt sind! +Nein, so grausam können Sie nicht sein!«</p> + +<p>»Ich hoffe, das Unangenehme dadurch abzuschwächen,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann, »daß ich Sie persönlich vorbereite. Ich erhielt heute früh +einen Brief Ihres Fräuleins Tochter, in dem sie schreibt, sie habe aus +der Zeitung von dem Prozeß erfahren. Sie sei außer sich, protestiere +dagegen und verlange, daß ihr Protest veröffentlicht werde.«</p> + +<p>»Aber das werden Sie doch nicht tun, Herr Oberlandesgerichtsrat,« rief +die Baronin, der <span class='pagenum'><a name="Page_212" id="Page_212">[212]</a></span>das Blut ins Gesicht stieg. »Sie mag unter der Hand +protestieren, so viel sie will, aber das geht doch die Öffentlichkeit +nichts an. Als ob der Prozeß nicht schon Skandal genug wäre!«</p> + +<p>»Vielleicht ist Ihr Fräulein Tochter aus dem Grunde dagegen gewesen,« +meinte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »daß Sie sich damit befassen?«</p> + +<p>»Aber, lieber Oberlandesgerichtsrat,« sagte die Baronin, »Sie werden +nicht erwarten, daß ich auf die törichten Einwände eines jungen +Mädchens, eines Kindes, achte, wenn es sich um so wichtige Entschlüsse +handelt. Würden Sie das tun?«</p> + +<p>»Jedenfalls,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »würde ich an Ihrer Stelle +jetzt zu verhindern suchen, daß Ihr Fräulein Tochter irgend etwas in +Szene setzt. Sie scheint in großer Entrüstung und Erregung zu sein, und +zwar zum Teil deshalb, weil Sie, gnädige Frau, den Prozeß in ihrem +Interesse angeregt zu haben behaupten.«</p> + +<p>»O, die Undankbarkeit der Kinder,« seufzte die Baronin. »Hätte ich all +dies Entsetzliche und Skandalöse auf mich genommen, wenn ich es <span class='pagenum'><a name="Page_213" id="Page_213">[213]</a></span>nicht +für meine Pflicht gehalten hätte, meiner Tochter die materiellen +Vorteile zu erkämpfen, die ihr gebühren? Warum sagst du gar nichts, +Botho?« wendete sie sich an ihren Mann. »Ich hoffe, du wirst deine +Autorität gegen Mingo in Anwendung bringen.«</p> + +<p>»Ich werde versuchen, sie von auffallenden Schritten zurückzuhalten,« +sagte der Baron. »Übrigens weißt du ja, liebes Kind, daß Mingo nicht +leicht zu beeinflussen ist.«</p> + +<p>»Sehr leicht sogar,« entgegnete die Baronin, ihre Nasenflügel dehnend, +»man muß nur verstehen, ihr zu imponieren.«</p> + +<p>»Dazu ist sie wohl zu sehr an uns gewöhnt,« entgegnete der Baron ruhig, +»und zu sehr von uns verwöhnt.«</p> + +<p>»Von dir!« berichtigte seine Frau. »Gottlob, daß sie zu weit entfernt +ist, um uns wesentliche Unannehmlichkeiten zu bereiten.«</p> + +<p>»Der Brief, den ich heute erhielt,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »trägt +den Poststempel Ostende.«</p> + +<p>»Ostende!« rief die Baronin, indem sie von ihrem Stuhl aufstand. »Sie +ist aus England <span class='pagenum'><a name="Page_214" id="Page_214">[214]</a></span>abgereist, ohne uns um Erlaubnis zu fragen! Das darfst +du nicht hingehen lassen, Botho!«</p> + +<p>»Sie hat die Absicht hierherzukommen,« fuhr <tt>Dr.</tt> Zeunemann fort.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, Herr Oberlandesgerichtsrat,« sagte der Baron, sich +gleichfalls erhebend, »daß Sie uns in so rücksichtsvoller Weise gewarnt +haben. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht eine Minute länger in +Anspruch nehmen!«</p> + +<p>Auch die Baronin bedankte sich mit liebenswürdigen Worten und knüpfte +die Bitte daran, von den barocken Einfällen ihrer Tochter nichts bekannt +werden zu lassen.</p> + +<p>In dem großen Vorsaal zu ebener Erde drängte sich das Publikum noch, so +daß das Ehepaar nicht so schnell vorwärts kommen konnte, wie es +wünschte.</p> + +<p>Halb ärgerlich auf ihren Mann, der ihr nicht so oder so die Bahn frei +machte, halb beleidigt durch die Menschen, die nicht von selbst vor ihr +zurückwichen, stand die Baronin still, als plötzlich etwas sie bewog, +den Blick zur Seite zu wenden, und sie ganz in ihrer Nähe das <span class='pagenum'><a name="Page_215" id="Page_215">[215]</a></span>Gesicht +eines Mannes sah, der sie, wie es ihr schien, mit zudringlichem Spott +betrachtete. Indem sie sich zornig abwendete,<a name="FNanchor_TN1_1" id="FNanchor_TN1_1"></a><a href="#Footnote_TN1_1" class="fnanchor">[TN1]</a> sah sie eine +auffallende Nadel in seiner Krawatte, und es wurde ihr mit einem Male +klar, daß der Mann Deruga war.</p> + +<p>Ein Gefühl von Schwäche und Übelkeit überkam sie. »Warum gehen wir nicht +weiter?« sagte sie heftig zu ihrem Manne, ihn am Arm vorwärts drängend. +Er bemerkte ihre Gereiztheit, verdoppelte seine Anstrengungen, sich +einen Weg durch die Menge zu bahnen, und brachte sie in wenigen Minuten +an das wartende Auto. Mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung warf sie +sich in die Ecke des Rücksitzes.</p> + +<p>»Hast du Deruga gesehen,« sagte sie zu ihrem Manne, der besorgt nach +ihrem Befinden fragte, »und wie frech er mich anstarrte? Es ist +unbegreiflich, daß man diesen Menschen frei herumgehen läßt. So +schrecklich hatte ich ihn mir nicht vorgestellt.«</p> + +<p>»Du hast ihn doch heute nicht zum erstenmal gesehen!« sagte der Baron +verwundert.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_216" id="Page_216">[216]</a></span>»Ich erkenne niemand ohne Glas,« sagte sie gereizt, »das weißt du doch. +Ich weiß nicht, wie ich mich von diesem Eindruck erholen soll. Ist es +nicht unerhört, daß ich schutzlos der Rache dieses Mannes ausgesetzt +bin? Ich werde mich keinen Augenblick mehr meines Lebens sicher fühlen.«</p> + +<p>Was das anbelangt, meinte der Baron, könne sie ruhig sein; ein +Angeklagter oder Verdächtiger sei immer vorsichtig.</p> + +<p>»Und gewisse Menschen glauben immer das, was am bequemsten ist,« setzte +sie hinzu.</p> + +<p>Sie werde selbst ruhiger denken, wenn sie gegessen hätte, prophezeite +der Baron gutmütig. Sie sei überhungrig, übermüde und durch die +schlechte Luft angegriffen. Dazu sei noch der durch Mingo verursachte +Schreck gekommen. Sie solle sich am Nachmittag ausruhen, anstatt sich +wieder stundenlang in den dumpfen Gerichtssaal einzusperren und sich +widerwärtigen aufregenden Eindrücken auszusetzen. Er sei bereit, +hinzugehen und ihr ausführlichen Bericht zu erstatten; ohnehin <span class='pagenum'><a name="Page_217" id="Page_217">[217]</a></span>würden +die nächsten Vernehmungen nichts Neues bringen.</p> + +<p>Dies verhielt sich in der Tat so. Frau von Liebenburg, die Inhaberin der +Pension im zweiten Hause, erklärte vornehm ablehnend, daß sie nur feines +Publikum habe, daß noch nie etwas mit ihren Pensionären vorgekommen sei, +daß sie nichts den Prozeß Betreffendes aussagen könne. Sie könne +natürlich nicht für jeden einstehen, der bei ihr nach Zimmern frage, und +Buch führen könne sie auch nicht über jeden, der käme, aber sie weigere +sich entschieden, irgend etwas über die bei ihr verkehrenden +Herrschaften zu sagen. Sie bäte dringend, daß die bei ihr wohnenden +feinen Herrschaften nicht mit Fragen und Nachforschungen inkommodiert +würden, die zu keinem Ergebnis führen könnten.</p> + +<p>Nach dieser empfindlichen Dame erschien Frau Rübsamen, die Frau des +Komponisten und Musikschriftstellers im zweiten Stock des dritten +Hauses, und entschuldigte ihren Mann, der leidend sei und überhaupt viel +zu nervös, um als Zeuge auftreten zu können, da schon die <span class='pagenum'><a name="Page_218" id="Page_218">[218]</a></span>Vorstellung, +in einen solchen Prozeß verflochten zu sein, ihn in krankhafte Erregung +versetzt habe. Er habe nun einmal ein künstlerisches Temperament, man +könne mit ihm nicht umgehen wie mit gewöhnlichen Menschen. Er hätte doch +auch nichts nützen können, denn sein Gedächtnis sei schwach, und wenn er +Anstrengungen mache, um sich zu besinnen, bekäme er nervöse Zustände.</p> + +<p>Sie selbst hingegen besänne sich noch wohl auf den 2. Oktober, weil die +Ursula sie am Morgen gebeten habe, wenn möglich, ein wenig Rücksicht zu +nehmen; Frau Swieter habe eine so schlechte Nacht gehabt und könne +vielleicht am Tage ein wenig schlafen. Natürlich nähmen ihr Mann und sie +gern Rücksicht. Frau Swieter wäre ja auch eine angenehme Partei gewesen, +und ihr Mann habe immer gesagt, er könne sie nicht genug schätzen, weil +sie nicht Klavier spielte und auch sonst kein Instrument ausübte; nur +die Krankheit sei ihm peinlich gewesen. Die Vorstellung, einen +Sterbenden oder Toten im Hause zu haben, sei nämlich ganz unerträglich +für ihren <span class='pagenum'><a name="Page_219" id="Page_219">[219]</a></span>Mann. Jetzt wohne eine Familie über ihnen, die turnten alle +miteinander morgens und abends, und ihr Mann sage fast täglich, er würde +noch so gern auf die arme Frau Swieter Rücksicht nehmen, wenn er nur die +Turner nicht über dem Kopfe hätte. Sie hätten also das ihrige getan und +den Klavierstimmer fortgeschickt. Es sei ohnehin die Zeit gewesen, wo +ihr Mann Mittagsruhe zu halten pflegte.</p> + +<p>Eine Stunde später sei dann ein Herr dagewesen, sie hätte ihn aber +eigentlich nicht für einen feinen Herrn angesehen. Der hätte gebeten, +Herr Rübsamen möchte doch seine Stimme prüfen, ob es der Mühe wert sei, +sie ausbilden zu lassen. Sie hätte den Herrn in den Salon geführt und es +ihrem Manne gesagt; der hätte gefragt, was für ein Mann es wäre, worauf +sie gesagt hätte, ihr käme er vor wie ein Kutscher oder höchstens ein +Tapezierer. Solche Leute hörten nämlich oft, daß irgendein armer Teufel +durch seine schöne Stimme sein Glück gemacht hätte, und wenn sie dann so +recht brüllen könnten, daß die Wände zitterten, bildeten sie sich ein, +<span class='pagenum'><a name="Page_220" id="Page_220">[220]</a></span>sie wären für die Kunst geboren. Nun, daraufhin hätte ihr Mann gar +keine Lust dazu gehabt, das Prüfen von Stimmen wäre ohnehin ein +undankbares Geschäft. Wenn man es den Leuten ausreden wollte, würden sie +oft recht grob, und für einen nervösen Mann wie Herrn Rübsamen sei das +Gift.</p> + +<p>Ihre Aufgabe wäre es denn in solchen Fällen, so einen Menschen mit guter +Manier herauszureden, und das hätte sie auch diesmal getan, indem sie +gesagt hätte, ihr Mann sei nicht zu Hause, er möchte ein andermal +wiederkommen. Sie müsse aber sagen, er hätte sich nie wieder blicken +lassen.</p> + +<p>Ob sie den Herrn nach seinem Namen gefragt habe, erkundigte sich +<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Nein, nein,« sagte Frau Rübsamen, »ich wollte mich möglichst wenig +einlassen. Nun, nach ein paar Jahren heißt er vielleicht schon Mirabilio +oder Birbanti.«</p> + +<p>»Das führt zu nichts,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann leise zu seinem +Nachbarn, der hinter der Hand gähnte. »Ich wußte es vorher.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_221" id="Page_221">[221]</a></span>»Schluß, Schluß,« antwortete der Beisitzer ebenso.</p> + +<p>Ob um die Mittagszeit ein Bettler oder Hausierer bei ihr angeläutet +habe, fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann noch, unterbrach aber die Zeugin, da +sie eine Reihe von Möglichkeiten zu erörtern begann, mit der +Aufforderung, nur das mitzuteilen, was sie bestimmt wisse. Etwas +Bestimmtes in bezug darauf zu wissen, wies jedoch Frau Rübsamen mit +Entschiedenheit von der Hand, worauf die Untersuchung über verdächtige +Besucher des Hauses an dem verhängnisvollen Tage einstweilen +abgeschlossen wurde.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_222" id="Page_222">[222]</a></span></p> +<h2><a name="VIII" id="VIII"></a><tt>VIII.</tt></h2> + + +<p>»Das war schön von Ihnen, daß Sie die Kaution für mich hinterlegt +haben,« sagte Deruga zu Peter Hase, indem er ihm die Hand reichte. »Ganz +wie Sie, Gentleman durch und durch. Ich bin Ihr ergebener Diener.«</p> + +<p>Ein Anflug von Röte färbte das blasse Gesicht des Schriftstellers.</p> + +<p>»Man hatte mir fest versprochen, daß mein Name nicht genannt werden +sollte,« sagte er, die Augenbrauen zusammenziehend. »Ich verstehe nicht, +wie man davon abgehen konnte.«</p> + +<p>Deruga lachte.</p> + +<p>»Ich habe Ihnen nur eine Falle gestellt, und Sie sind hineingegangen,« +sagte er. »Also Sie sind es wirklich. Geben Sie zu, daß ich ein +Menschenkenner bin! Wenn ich stillsitzen könnte wie ihr Deutschen, wäre +ich vielleicht auch ein Dichter.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_223" id="Page_223">[223]</a></span>»Ein besserer als ich,« sagte Peter Hase ernsthaft. »Sie verstehen es +jedenfalls besser, Ihr Leben zu dichten.«</p> + +<p>»Das fällt bei Ihnen wohl eher trocken aus,« meinte Deruga. +»Gesellschaftslöwe, reiche Frau, Liebling des Publikums, Geheimrat, etwa +noch der persönliche Adel. Etwas schematisch, aber doch ganz behaglich. +Wie? Immer in einer so leicht parfümierten Atmosphäre.«</p> + +<p>»Ich möchte den Abend mit Ihnen zubringen,« sagte Peter Hase ablenkend. +»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben?«</p> + +<p>»Das wäre Bett und Schlaf,« sagte Deruga. »Beides wundervoll, aber ich +kann es immer haben, Sie dagegen vielleicht nur heute. Machen Sie mit, +Justizrat?« wendete er sich an seinen Anwalt.</p> + +<p>Dieser sagte, er müsse sich nach seiner Familie umsehen, ein halbes +Stündchen habe er aber noch Zeit. Er freue sich, sagte er, als sie in +dem abgeseilten Raum einer Restauration beim Essen saßen, Peter Hase +kennenzulernen. Er sei zwar nur ein einfältiger Fachmensch, habe keine +Zeit <span class='pagenum'><a name="Page_224" id="Page_224">[224]</a></span>für die schöne Literatur übrig, doch sei der Ruf von Hases Namen +zu ihm gedrungen. In seiner Jugend habe er sich für einen Kenner und +Feinschmecker in den Künsten gehalten, das sei aber wohl jugendliche +Selbstüberhebung gewesen.</p> + +<p>»Das glaube ich auch,« sagte Deruga. »Ein feines Beefsteak, etwas +blutig, am Rost gebraten, darauf verstehen Sie sich besser.«</p> + +<p>Der Justizrat lächelte gutmütig. »Nun ja,« sagte er, »das zu studieren +hat man auch täglich Gelegenheit, ein gutes Buch ist selten. Und wissen +Sie, wahre Geschichten, die würde ich lesen. Dabei kann man etwas +lernen. Aber mich von fremder Leute Phantasien an der Nase führen zu +lassen, dazu ist mir meine Zeit zu kostbar.«</p> + +<p>»Das Leben ist leider im allgemeinen alltäglich und fade,« sagte Peter +Hase, »und die Dichtung soll ein schöner, bunter Teppich sein.«</p> + +<p>»Ja,« sagte Deruga, »ein purpurnes Meer voller Ungeheuer, Wunder, +Kostbarkeiten und Seltenheiten. Grün wie Glas, süß wie Opal, schwarz wie +Sturm, unerschöpflich, unergründlich, immer von zauberhaften Geburten +gärend <span class='pagenum'><a name="Page_225" id="Page_225">[225]</a></span>und gefräßig nach allem Lebendigen. Aber gerade so ist doch das +Leben.«</p> + +<p>Peter Hase betrachtete Deruga aufmerksam, in dessen schmalen Augen sich +die Vorstellungen zu spiegeln schienen. »Sie sind eben ein Dichter dem +Gefühle nach,« sagte er. »Ihr Gefühl macht es so.«</p> + +<p>»Und im Grunde ist es alles derselbe gemeine Straßendreck,« sagte Deruga +in verändertem Ton.</p> + +<p>»Nun, da gehen Sie wieder zu weit,« sagte der Justizrat. »Betrachten wir +einmal unseren Prozeß! Sie sind mir gerade originell genug, und die +Baronin Truschkowitz ist jedenfalls auch keine gewöhnliche Nummer.«</p> + +<p>»Ich hasse diese Art Weiber,« fiel Deruga schnell ein. »Selbstsüchtig, +habsüchtig, beschränkt, kalt und ewig nach neuen Sensationen lüstern. +Ohne Geld wäre sie eine Dirne.«</p> + +<p>»Aber, aber, Verehrtester,« sagte der Justizrat, gelinde scheltend, »da +scheinen Sie mir doch ein bißchen parteiisch zu sein.«</p> + +<p>»So,« sagte Deruga, sich erhitzend, »finden Sie es anständig, aus +Geldgier einen Unbe<span class='pagenum'><a name="Page_226" id="Page_226">[226]</a></span>kannten des Mordes zu verdächtigen? Einen Menschen, +der ihr nichts zuleide getan hat? Was für eine Gesinnung! Ich sollte +eine alternde Frau, die mein Weib war, die Mutter meines einzigen, +meines teuren, heiligen Kindes, töten, weil sie mir kein Geld, oder +nicht genug Geld geben wollte, womöglich, um ein paar Monate früher in +den Besitz ihres Vermögens zu kommen? Ich, das schwöre ich Ihnen, wäre +nie auf einen solchen Gedanken gekommen.«</p> + +<p>»Herrgott,« sagte der Justizrat, »solche Sachen kommen doch aber vor. +Man kann das Leben nicht immer in rosa Beleuchtung sehen. Es sind schon +Menschen um ein paar Taler umgebracht worden. Außerdem vergessen Sie +oder wollen Sie vergessen, daß die Baronin Ihnen dies Motiv nicht +ausdrücklich untergelegt hat, und wenn man Sie für rachsüchtig, hitzig +und tollköpfig hält, tut man Ihnen eigentlich nicht so unrecht.«</p> + +<p>Deruga stützte den Kopf in die Hand und antwortete nicht.</p> + +<p>»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen,« hub Peter Hase nach einer +Pause an, »daß ich <span class='pagenum'><a name="Page_227" id="Page_227">[227]</a></span>der Baronin auf ihre Aufforderung hin einen Besuch +gemacht habe. Sie machte mir den Eindruck einer Dame.«</p> + +<p>»Was für einen Eindruck sollte sie auch sonst machen?« sagte Deruga +scharf. »Einer Straßenputzerin oder eines Stallknechtes? Übrigens ist es +ja einerlei. Sie will vermutlich mit dem berühmten Schriftsteller +kokettieren.«</p> + +<p>»Sie kokettiert nicht mehr, als es jede Dame tut,« sagte Peter Hase. +»Sogar in einer besonders geschmackvollen, ihrem Alter angemessenen Art +und Weise. Es kommt mir eher so vor, als wäre der Wunsch in ihr +aufgetaucht, ich sollte ihre Tochter heiraten. Sie sprach mir immer +wieder von ihrer Tochter.«</p> + +<p>»Nun ja,« sagte Deruga, höhnisch lachend, »Dirne und Kupplerin, das ist +ja fast dasselbe. Nur ist es besonders gemein, die eigene Tochter zu +verkuppeln. Eine Frau, die die Männer kennen muß. Sie werden mir doch +zugeben, meine Herren, wir haben uns alle gehörig im Schlamme gewälzt.«</p> + +<p>»Wir sind allerdings nicht so rein wie ein <span class='pagenum'><a name="Page_228" id="Page_228">[228]</a></span>Mädchen aus guter Familie,« +sagte Peter Hase unverändert ruhig und höflich, »aber ich weiß nicht, ob +das überhaupt zu wünschen wäre. Die Frauen selbst wünschen es +augenscheinlich nicht.«</p> + +<p>»Nein, sie lieben augenscheinlich den Schmutz,« sagte Deruga. »Basta, +wie denken Sie über die kleine Baronesse?«</p> + +<p>»Bevor ich sie gesehen und gesprochen habe,« sagte Peter Hase, »enthalte +ich mich jeder Entscheidung. Da ihr Vermögen nicht außerordentlich ist, +muß sie ungewöhnliche Qualitäten haben, um für eine Heirat in Betracht +zu kommen.«</p> + +<p>»Auf mein Vermögen rechnen Sie also nicht,« sagte Deruga. »Das ist +anständig und auch sehr verständig. Die Deutschen sind zwar gute Hunde, +doch ein italienischer Hirsch, wenn er vielleicht auch nicht so schnell +läuft, ist gewandter und läßt sich nicht fangen.«</p> + +<p>»Sie sind heute verdrießlich, Deruga,« sagte der Justizrat, indem er +aufstand, um sich zu empfehlen, »und in Ihrer Lage wäre ich es +vielleicht auch. Was die deutschen Hunde betrifft, so kann ich zwar +nicht besonders gut laufen, <span class='pagenum'><a name="Page_229" id="Page_229">[229]</a></span>aber leidlich bellen und beißen, und stelle +mich Ihnen in dieser Hinsicht zur Verfügung. Auf Wiedersehen!«</p> + +<p>»Gott sei Dank, erst übermorgen,« sagte Deruga, dem ein Versuch, +liebenswürdig zu lächeln, mißlang. »Morgen ist Sonntag.«</p> + +<p>Er werde doch vielleicht zum Zweck einer kurzen Unterredung vorsprechen, +sagte Fein.</p> + +<p>»Auch gut,« erwiderte Deruga, »ohnehin ist der Sonntag der +Selbstmörderwagen am Zuge des Lebens, Montag ist Totengräber.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_230" id="Page_230">[230]</a></span></p> +<h2><a name="IX" id="IX"></a><tt>IX.</tt></h2> + + +<p>Der Sonntag zeigte sich indessen Deruga unverhofft wohltätig, indem ein +Freund seiner Kindheit und Jugend eintraf, <tt>Dr.</tt> Carlo Gabussi, +Landarzt in einem Dorfe oberhalb Belluno, den Zeitungsberichte über den +Prozeß veranlaßt hatten, nach München zu kommen, um Deruga allenfalls +beizustehen. Die Freunde umarmten und küßten sich wieder und wieder, und +es dauerte eine Weile, bis sie ein zusammenhängendes Gespräch zu führen +imstande waren.</p> + +<p>»Kommst du wirklich meinetwegen, Carlo, lieber Junge?« sagte Deruga. +»Das ist doch der Mühe nicht wert, die Reise, die Kosten und alles das.«</p> + +<p>»Unsinn,« sagte Gabussi, »ich war froh, Gelegenheit zu einer Reise zu +haben. Ich bin ja seit zehn Jahren nicht von meinem gesegneten Dorfe +heruntergekommen. Wenn ich aber etwas für dich tun könnte, wäre ich +allerdings glücklich. <span class='pagenum'><a name="Page_231" id="Page_231">[231]</a></span>Denke dir von den vielen Opfern, die du mir +gebracht hast, einmal etwas wiederzugeben!«</p> + +<p>»Ich dir?« lachte Deruga. »Meinst du, daß du monatelang Tag für Tag bei +mir saßest, als ich krank im Spital lag?«</p> + +<p>»Nun ja,« sagte Gabussi, »du bist zwar nicht mir zuliebe krank geworden, +aber ich konnte doch zu dir kommen und brauchte nicht immer zu Hause zu +sein, wo es so wenig Unterhaltung für mich gab. Du hörtest mir zu, wenn +ich von meiner Angebeteten erzählte, und machtest mir Gedichte für sie.«</p> + +<p>Deruga fragte, wie es ihr gehe, und ob sie noch immer nicht geheiratet +hätten.</p> + +<p>»Nein,« sagte Gabussi mit einem Anflug von Wehmut. »Dadurch, daß meine +Mutter bei mir wohnt, und daß meine arme Schwester lahm ist, kann ich +nicht gut noch eine Frau unterbringen. Geld verdienen könnte sie auf +meinem Dorfe auch nicht, denn eine verheiratete Lehrerin wird nicht +angestellt. Aber ich bin ja so glücklich, daß ich meine Mutter noch +habe! Sie ist jetzt so leicht, daß ich sie auf einem Arme tragen kann, +und ich trage sie jeden Abend ins Bett, <span class='pagenum'><a name="Page_232" id="Page_232">[232]</a></span>obwohl sie sich fürchtet; aber +ich kann es nicht lassen, und im Grunde hat sie es auch gern. Natürlich, +meine Lisa hat jetzt einige weiße Haare in ihren schönen schwarzen +Haaren. Sie sehen mir so aus wie eine Silberspur, die Gottes liebkosende +Hand zurückgelassen hat. Kannst du dir das denken? Und wenn ich sie so +gut und fröhlich zwischen ihren Schulkindern sehe, dann wird mir wohl +das Herz eng, und ich denke: Wenn ihr so unsere Kinder an der Hand +hingen! Aber das ist ja selbstsüchtig und unrecht, wenn ich bedenke, wie +gut es mir geht, zum Beispiel mit dir verglichen, mein Dodo, mein alter, +lieber Junge! Wie konntest du aber nur in solchen höllischen Wirrwarr +verwickelt werden! Nein, sprich jetzt nicht davon, wenn du nicht magst! +Wir haben Zeit, ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.«</p> + +<p>»Die Schweinerei soll mir gesegnet sein,« sagte Deruga, »denn ohne sie +hätte ich dich so bald nicht gesehen, Gabussi! Ein bißchen magerer bist +du geworden, aber sonst ganz das liebe, alte, ehrbare, erschrockene +Gesicht!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_233" id="Page_233">[233]</a></span>»Aber du bist mein bronzener David nicht mehr,« entgegnete Gabussi. »Du +siehst grau aus, das kommt vom Mangel an Luft und Bewegung. Laß uns +spazierengehen — oder, noch besser, ich nehme einen Wagen, und du zeigst +mir die Stadt und die Umgegend.«</p> + +<p>Der Tag war grau und weich, und der offene Wagen fuhr langsam durch die +tauenden Straßen, vom Geriesel der Tropfen wie von einem musikalischen +Geleit begleitet. Deruga saß behaglich zurückgelehnt und gab Antwort auf +die Fragen Gabussis, den die stattlichen Plätze und Gebäude entzückten. +In einer stillen Straße, in die der Kutscher, dessen Gutdünken sie die +Führung überließen, einlenkte, erkannte Deruga plötzlich ein +schmiedeeisernes Tor. Der gepflasterte Weg, der an den Häusern entlang +führte, lag verlassen, und das Fliedergebüsch war noch unbelaubt, nur +eine Weide spannte keimende Zweige in einem feinen Strahlenbogen +hinüber.</p> + +<p>»Was ist dir?« fragte Gabussi, seinen Arm in den des Freundes schiebend, +der sich aufgerichtet hatte.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_234" id="Page_234">[234]</a></span>»Wir fuhren eben an dem Hause vorüber, wo die arme Marmotte wohnte,« +sagte Deruga.</p> + +<p>Gabussi schwieg. Erst nach einer langen Pause sagte er: »Du warst doch +einmal glücklich, Dodo.«</p> + +<p>»Nein, damals nicht,« erwiderte dieser. »Mein Gemüt war zu ruhelos, mein +Herz zu empfindlich und mein Verstand zu scharf. Ich glaube, ich müßte +ein Gott sein, um mit meinen Gaben glücklich zu sein.«</p> + +<p>»Es ist doch aber auch schön, so begabt zu sein, wie du bist,« sagte +Gabussi. »Weißt du noch, wie oft unser Religionslehrer zu dir sagte: +'Sigismondo, Verstand hast du, Verstand genug. Aber der Verstand ist ein +höllisches Feuer, die Vernunft ist ein göttliches Licht. Und Vernunft +hat mancher alte Besenbinder mehr als du.'«</p> + +<p>Deruga lachte. »Ja, auf den Verstand war er schlecht zu sprechen,« sagte +er. »Und weißt du, wie er dich vor mir warnte und prophezeite, es würde +ein Freimaurer und Atheist aus mir werden, wenn ich nicht etwa gar ein +Heiliger würde.«</p> + +<p>Der Wagen hatte inzwischen die städtischen Anlagen erreicht, und sie +sahen einen schnellen, <span class='pagenum'><a name="Page_235" id="Page_235">[235]</a></span>starken Fluß unter den dicken Stämmen alter +Weiden und Pappeln durch weite Wiesen fließen. Eine schwere Erinnerung +aus naher Vergangenheit vermischte sich in Deruga wunderbar mit den +Erinnerungen der Kindheit und stimmte ihn weich und träumerisch.</p> + +<p>»Damals, als wir Buben waren,« sagte Gabussi, »da warst du doch +glücklich.«</p> + +<p>»Wenn ich nicht tief unter dem Glück immer gefühlt hätte, wie häßlich, +armselig, falsch und ungerecht alles um mich her war,« sagte Deruga.</p> + +<p>»Du, der einen solchen Engel zur Mutter hatte!« rief Gabussi aus. »Und +weißt du, wie gern du bei uns warst, und wie du stillhieltest, wenn +meine Mutter dich auf die Stirn küßte und 'kleiner Fremdling' nannte? +Und wie wir unter dem Dache saßen und unsere Aufgaben lernten und uns +vor jedem Schatten fürchteten?«</p> + +<p>Als die Freunde von der Fahrt zurückkehrten, war eine wohlige +Zufriedenheit über Deruga gekommen.</p> + +<p>»Wenn diese dumme Geschichte vorbei ist,« sagte er zu Gabussi, »werde +ich ein neues Leben <span class='pagenum'><a name="Page_236" id="Page_236">[236]</a></span>anfangen. Was meinst du, wenn ich zu dir in die +Berge käme?«</p> + +<p>»Aber, Dodo,« sagte Gabussi außer sich vor Freude, »das wäre ein +Paradies für mich. Und wie würden meine Mutter und meine Schwester sich +freuen! Und meine Lisa für mich! Das größte Glück für meine Lisa ist, +wenn mir etwas Glückliches begegnet. Zu denken, daß du mich zuzeiten auf +meinen Gängen begleitest und wir plaudern und schwatzen und Erinnerungen +austauschen wie heute!«</p> + +<p>Sie wurden durch ein feines Klopfen unterbrochen, das schon einige Male +ungehört in das laute Gespräch geklungen hatte. Als Gabussi zur Tür ging +und öffnete, sah er ein kleines, zierliches, blondhaariges Mädchen mit +großen, dunkelbraunen Augen, die ihn ängstlich, doch mit Feuer, ansahen.</p> + +<p>»Ich wünsche Herrn <tt>Dr.</tt> Deruga zu sprechen,« sagte eine helle, von +der Erregung etwas gedämpfte und zitternde Stimme. »Sind Sie es?«</p> + +<p>Gabussi schüttelte den Kopf und wies auf seinen Freund, indem er ihn +zugleich mit den Augen fragte, ob er gehen solle.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_237" id="Page_237">[237]</a></span>»Nein, bleibe,« bat Deruga, die Hand auf seinen Arm legend; und er +fragte das Fräulein, mit wem er die Ehre habe zu sprechen.</p> + +<p>»Ich bin Mingo von Truschkowitz,« sagte die kleine Dame, »und komme, um +Ihnen zu sagen, daß es mir sehr leid tut, daß meine Mutter den Prozeß +gegen Sie angefangen hat, und daß ich nichts, gar nichts damit zu tun +habe. Da meine Tante Ihnen das Vermögen vermacht hat, kommt es Ihnen zu. +Überhaupt hat meine Mutter nicht das mindeste Recht darauf, da sie sich +nie um Frau Swieter bekümmert hat.«</p> + +<p>»Armes Kind,« sagte Deruga, »es muß Ihnen schwer geworden sein, so +allein zu mir zu kommen. So alt wie Sie würde meine kleine Mingo jetzt +auch sein,« setzte er nach einer Pause hinzu, während welcher seine +Augen liebevoll auf ihr geruht hatten.</p> + +<p>»Dasselbe,« sagte Mingo und zögerte einen Augenblick, »sagte Ihre +verstorbene Frau, als sie mich sah.«</p> + +<p>»Haben Sie meine Frau einmal besucht?« fragte Deruga. »Wann war es? +Erzählen Sie mir davon.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_238" id="Page_238">[238]</a></span>»Es war vor acht Jahren,« berichtete Mingo. »Ich besuchte sie, weil ich +so vieles von ihr gehört hatte, was mich anzog. Bei uns fand ich alles +herkömmlich und alltäglich und unbedeutend. Ich liebte mir vorzustellen, +daß irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihr bestünde, weil ich so +heiße wie sie. Sie gefiel mir so gut, sie war mir wie ein +geheimnisvolles Märchen; aber sie sagte, ich solle nicht wiederkommen, +wenn es ohne Wissen meiner Eltern geschehen mußte. Vielleicht hatte mein +Besuch sie auch traurig gemacht, weil ich sie an ihr verlorenes Kind +erinnerte.«</p> + +<p>»So lebt doch wenigstens ein kleiner Mingo,« sagte Deruga warm. »Nach +Ihrer Meinung,« fragte er nach einer Pause, »bin ich also mit Unrecht +angeklagt?«</p> + +<p>»Nach dem, was Ihre Frau mir damals von Ihnen erzählte,« sagte sie mit +Nachdruck, »bin ich überzeugt, daß Sie ihr absichtlich nie etwas zuleide +getan haben.«</p> + +<p>»Ich habe ihr viel zuleide getan,« sagte Deruga, »aber aus Liebe.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_239" id="Page_239">[239]</a></span>»Das zählt nicht,« sagte Mingo entschieden und fuhr zögernd fort: »Ihre +Frau zeigte mir auch ein Bild von Ihnen.«</p> + +<p>»Es scheint aber nicht, daß es ähnlich war,« sagte Deruga lachend, »oder +ich habe mich seitdem sehr verändert.«</p> + +<p>»Nicht so sehr, wie es mir zuerst schien,« sagte sie.</p> + +<p>Gabussi beteuerte, daß sein Freund sich nur zu seinem Vorteil verändert +habe, und forderte das kleine Fräulein dringend auf, dies Urteil zu +bestätigen.</p> + +<p>»Das weiß ich nicht,« sagte sie, tief errötend, »aber wie ein alter Mann +sieht Herr Deruga nicht aus.«</p> + +<p>»Ihnen gegenüber bin ich sehr alt und weise,« sagte Deruga gütig, »und +vermöge dieser Weisheit gebe ich Ihnen den Rat: Entzweien Sie sich +meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter, wenn sie mir auch unrecht tut! Ein +Kind schuldet seiner Mutter zu viel, um ihr jemals zum Gläubiger werden +zu können. Sprechen Sie es aus, wenn Sie anderer Meinung als sie sind, +aber <span class='pagenum'><a name="Page_240" id="Page_240">[240]</a></span>nicht ohne den Ton zärtlicher Liebe! Versprechen Sie mir das?«</p> + +<p>Er streckte ihr die Hand hin, in die Mingo völlig überwunden ihre kleine +legte.</p> + +<p>Carlo Gabussi umarmte, als das Fräulein gegangen war, seinen Freund mit +Begeisterung, lobte die Kleine und erkundigte sich nach der Mutter, die +eine Teufelin sein müsse.</p> + +<p>»Wenn sie das noch wäre,« sagte Deruga. »Sie ist nur eine glatte, hohle, +genußsüchtige Frau, zu oberflächlich selbst, um lasterhaft zu sein. Ein +Bild unserer Gesellschaft, wo die großen Räuber geehrt und die kleinen +gehangen werden. Äußerlich ist sie nicht unangenehm.«</p> + +<p>»Und warum haßt sie dich so?« fragte Gabussi.</p> + +<p>»Weil ich das Geld bekommen habe, worüber sie bereits zu ihren Gunsten +verfügt hatte,« sagte Deruga. »Übrigens scheine ich ihr gar nicht zu +mißfallen.«</p> + +<p>»Wie meinst du das?« fragte Gabussi. »Hast du denn mit ihr gesprochen?«</p> + +<p>»Bis jetzt nur durch die Augen,« sagte Deruga. »Aber ich verstehe mich +ja gut auf Weiber. <span class='pagenum'><a name="Page_241" id="Page_241">[241]</a></span>Wenn ich darauf einginge, wäre sie sehr geneigt, +eine Liebelei mit mir anzufangen.«</p> + +<p>»Aber, Dodo,« rief Gabussi entrüstet aus, »das ist ja eine abscheuliche +Entartung! Mit einem Manne kokettieren, den man ins Zuchthaus oder etwa +gar auf das Schafott zu bringen im Begriffe ist. Ich verstehe solche +Sachen nicht. Könnte ich dich nur aus den Weibergeschichten +herauswickeln, die die letzte Ursache deines Unglücks sind! Du solltest +wieder heiraten, eine einfache, brave, liebe Frau, und dann zu mir +hinauf in die Berge kommen. Was hast du von dieser heillosen +Schlamperei? Luft, Licht, Sauberkeit, das sind die wichtigsten +Verordnungen der modernen Gesundheitslehre.«</p> + +<p>»Für gesunde Seelen ausgezeichnet,« sagte Deruga. »Aber Kranke brauchen +warmen Dreck und mollige Fäulnis.«</p> + +<p>»Unsinn,« sagte Gabussi in großer Erregung, »der Satz ist Unsinn, und +die Voraussetzung, daß du krank bist, auch. Du bist nur bequem und zu +gutmütig. Versprich mir, daß du nichts Neues anzettelst! Auch nicht aus +Mitleid. <span class='pagenum'><a name="Page_242" id="Page_242">[242]</a></span>Schließlich geraten die Frauen durch die Liebe nur noch tiefer +in den Sumpf. Und versprich mir, sollte diese Baronin wirklich mit dir +kokettieren wollen, daß du ihr die verdiente Abfertigung zuteil werden +läßt!«</p> + +<p>Deruga wollte sich ausschütten vor Lachen über seinen Freund, der, mit +den langen Armen gestikulierend, wie ein Bußprediger vor ihm stand. »Ich +habe höchstens Lust,« sagte er endlich, als er wieder sprechen konnte, +»sie noch mehr zu reizen, um sie hernach desto empfindlicher kränken und +beschämen zu können. Ich verabscheue diese Person.«</p> + +<p>»Ach, Dodo!« seufzte Gabussi, »das ist schlüpfrig und gefährlich. Laß +sie doch gehen, wenn du sie verabscheust! Tu es um der entzückenden +Kleinen willen, wenn du es nicht aus Selbstachtung tust!«</p> + +<p>In Derugas Gesicht kam ein weicher Ausdruck. »Kleine Mingo,« sagte er. +»Ihr möchte ich wirklich nichts zuleide tun.«</p> + +<p>»Siehst du,« sagte Gabussi eifrig. »Es war ein Unglück, daß du deine +Tochter verlieren <span class='pagenum'><a name="Page_243" id="Page_243">[243]</a></span>mußtest. An ihrer Hand wärest du gewiß nur reine, +schöne Wege gegangen.«</p> + +<p>»Oder ich hätte sie mit mir in den Schlamm gezogen,« sagte Deruga, +plötzlich verdüstert.</p> + +<p>»Mensch, führe nicht so verzweifelte Reden!« schalt Gabussi, »sonst +könnte sogar ich an dir irre werden.«</p> + +<p>Deruga umarmte und küßte seinen Freund. »Immer der alte,« lachte er. +»Hast du vergessen, daß man mich nicht so ernst nehmen muß? Ich bin kein +am Spalier gezogener Pfirsich. Man kann meine Worte nicht so ohne +weiteres genießen, es muß erst etwas Schmutz herausgekocht und +abgeschäumt werden. Hast du das vergessen?«</p> + +<p>Auch Gabussi lachte nun. »Du hast recht, ich bin ein schwerfälliger +Dummkopf,« sagte er. »Es ist kein Wunder, wenn dich in deiner +unglücklichen Lage manchmal tolle Launen überkommen. Der muß vor allen +Dingen ein Ende gemacht werden.«</p> + +<p>Der Justizrat, den er befragte, sprach sich ziemlich hoffnungsvoll aus. +Deruga habe zwar <span class='pagenum'><a name="Page_244" id="Page_244">[244]</a></span>nicht durchaus einen guten Eindruck gemacht, und es +bleibe zu vieles im Dunkeln, als daß jeder Verdacht aufgehoben würde, +aber die vorhandenen Indizien genügten seiner Ansicht nach durchaus +nicht, daß gewissenhafte Geschworene daraufhin ein Schuldig aussprechen +könnten. Gabussis freundschaftliche Gefühle waren davon nicht +befriedigt; er bestand darauf, als Zeuge aufzutreten, damit die Menschen +Deruga mit seinen Augen, das heißt, wie er wirklich wäre, sähen und ihn +freisprächen, nicht, weil er nicht überführt werden könnte, sondern von +seiner Schuldlosigkeit überzeugt.</p> + +<p>»Sie sind mit Vorurteilen an dich herangetreten,« sagte er. »Sie haben +nur einen Ausschnitt von dir kennengelernt. Könnte man ein Gemälde +richtig beurteilen, wenn man nur ein millimetergroßes Stückchen davon +betrachtet? Ich will ihnen von deiner Kindheit und deinen Jugendjahren +erzählen, so wie du bist, ohne Übertreibung und künstliche Beleuchtung. +Das ist eine induktive Methode, die den wissenschaftlichen Deutschen +zusagen muß.«</p><p><span class='pagenum'><a name="Page_245" id="Page_245">[245]</a></span></p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Gabussis Erscheinung machte einen günstigen Eindruck. Man fand, daß +seine ehrlichen braunen Augen, sein schlichtes Auftreten und freimütiges +Reden eines Deutschen würdig wären. Da er ein paar Semester in Wien +studiert hatte, sprach er ziemlich gut Deutsch, wenn er langsam und +vorsichtig vorging. Er sei, erzählte er, mit dem Angeklagten seit früher +Kindheit bekannt, sie hätten dieselbe Schule und später dasselbe +Gymnasium besucht. Dodo, wie er genannt wurde, sei in seinem, Gabussis, +elterlichen Hause gern gesehen worden. Man habe bewundert, wie viel er +geleistet, unter wie schwierigen Verhältnissen er sich durchgearbeitet +habe.</p> + +<p>»Worin bestanden die schwierigen Verhältnisse?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Seine Familienverhältnisse waren ungünstig,« erklärte Gabussi. »Er +wurde zu Hause viel beschäftigt, so daß er oft die Nacht zu Hilfe nehmen +mußte, um mit den Schularbeiten fertig zu werden.«</p> + +<p>»Wie kam das?« fragte der Vorsitzende, »was war sein Vater?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_246" id="Page_246">[246]</a></span>»Sein Vater war damals Obstverkäufer,« antwortete Gabussi. »Er hatte +ein kleines Gewölbe hinter dem alten Rathause.«</p> + +<p>»So,« sagte der Vorsitzende, in den Akten blätternd. »Nach Derugas +Angabe war sein Vater Kaufmann.«</p> + +<p>»Nun ja,« sagte Gabussi, »ein Obstverkäufer ist doch ein Kaufmann.«</p> + +<p>»Übrigens,« setzte er hinzu, indem er einen beunruhigten Blick auf +seinen Freund warf, »hat er nicht immer dieselbe Beschäftigung gehabt. +Er war ein guter, aber ruheloser Mann.«</p> + +<p>Der Vorsitzende bat den Zeugen, Derugas Vater etwas ausführlicher zu +charakterisieren.</p> + +<p>Er habe ihn zu wenig gesehen und gesprochen, um ein maßgebendes Urteil +fällen zu können, sagte Gabussi. Wenn er dagewesen wäre, habe er meist +schwermütig und ohne Anteil zu nehmen in einem Winkel gesessen, nur +selten einmal sei er mutwillig gewesen und habe dann laut gelacht und +gescherzt.</p> + +<p>»Er war also nicht immer da?« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_247" id="Page_247">[247]</a></span>»Nein,« sagte Gabussi, »er bekam zuweilen einen Anfall, der ihn zwang, +die Familie zu verlassen und sich irgendwo herumzutreiben. Er blieb dann +oft wochenlang, ja monatelang aus.«</p> + +<p>»Trank er?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»O nicht besonders viel,« sagte Gabussi; »er war nur sehr eigentümlich. +Er bekam von Zeit zu Zeit eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas zu +erleben, einen Drang nach Abenteuern. Für das Familienleben war er nicht +geschaffen, und das war für seine Frau und seine Kinder ein Unglück. +Glücklicherweise war seine Frau ein Engel, einfach ein Engel, und Dodo, +der älteste Sohn, nicht weniger. Er war ihr Ebenbild innen und außen.«</p> + +<p>»Es waren also noch mehr Geschwister da?« schaltete der Vorsitzende ein. +»Was ist aus ihnen geworden?«</p> + +<p>»O nichts besonders Gutes,« sagte Gabussi zögernd. »Sie haben des Vaters +unglückliche Sucht nach Abenteuern geerbt.«</p> + +<p>»Und der Älteste hatte nichts davon?« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_248" id="Page_248">[248]</a></span>»Im Gegenteil,« sagte Gabussi mit Feuer. »Er war schon als Kind die +Stütze seiner Mutter. Er pflegte die kleinen Geschwister, er half in der +Küche, im Hause und im Geschäft, und sang dazu wie eine Lerche. Auch +seine Mutter war stets heiter und von Dank gegen Gott erfüllt, daß er +ihr einen solchen Sohn gegeben hatte. 'Den holdseligsten seiner Engel +hat er mir geschickt,' pflegte sie zu sagen, 'so daß ich schon auf Erden +in der himmlischen Seligkeit bin.' Verursachte es ihr Kummer, daß er so +angestrengt arbeiten mußte, tröstete sie sich dadurch, daß Gott seinem +Liebling die Kraft geben werde. Während er nachts seine Schularbeiten +machte oder später den Studien oblag, saß sie neben ihm und nähte oder +flickte. So lebten sie in Wahrheit im Paradies, solange der Vater fort +war.«</p> + +<p>»Mißhandelte er Frau und Kinder?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Darüber kann ich nicht viel sagen,« antwortete Gabussi, indem er wieder +einen beunruhigten Blick nach seinem Freunde warf, »denn weder Dodo noch +seine Mutter äußerten sich <span class='pagenum'><a name="Page_249" id="Page_249">[249]</a></span>darüber. Nach ihrem Tode gab es allerdings +zuweilen Auftritte zwischen Vater und Sohn; denn die Arme hatte ihn +stets etwas in Schranken gehalten.«</p> + +<p>»Geschäft und Haushalt kamen vermutlich herunter?« fragte der +Vorsitzende.</p> + +<p>»Mein Freund tat, was möglich war,« erzählte Gabussi. »Er war Vater und +Mutter für seine unerwachsenen Geschwister, obwohl er damals selbst ein +zarter Jüngling war. Er fuhr sogar zuweilen abends, wenn es dunkelte, +Waren auf seinem Karren in die Häuser. Der Vater wurde allerdings mehr +und mehr unzurechnungsfähig. Namentlich reizte er selbst die jüngeren +Kinder zu Unarten und bösen Streichen. Er würde unermeßliches Unheil +angerichtet haben, wenn er sich nicht vor Dodo gefürchtet hätte.«</p> + +<p>»War er hinfällig und gebrechlich geworden?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Durchaus nicht,« sagte Gabussi lebhaft, »er war ein großer, muskulöser +Mann, viel stärker als Dodo. Aber im Zorne schienen sich Dodos <span class='pagenum'><a name="Page_250" id="Page_250">[250]</a></span>Kräfte +zu verhundertfachen. Seine arme Mutter würde gesagt haben, daß Gott ihn +mit seinem Atem erfüllte, um seinen Liebling zu schützen. Ich habe +seinen Vater vor ihm davonschleichen sehen wie einen Hund, der weiß, daß +er Prügel verdient.«</p> + +<p>Langsam richtete sich der Justizrat zu seiner vollen Höhe auf. »Meine +Herren,« sagte er, »ich glaube zu wissen, was viele von Ihnen jetzt +denken: Da sehen wir wieder das unbezähmbare, gefährliche Temperament +dieses Menschen! Wer sich an seinem Vater vergreift, warum sollte der +sich nicht an seiner Frau vergreifen — und so weiter. Ich, meine Herren, +habe im Gegenteil gedacht: Wieder bricht diese beinahe krankhafte +Heftigkeit hervor, wenn es sich darum handelt, Böses zu verhüten oder zu +bestrafen. Wir haben in Deruga einen ungewöhnlich reizbaren Menschen, +aber was ihn reizt, ist das Schlechte, Häßliche, Unharmonische. Daß er +sich aus selbstsüchtigen Gründen an jemandem vergriffen oder jemandem +unrecht getan habe, dafür liegt bis jetzt kein Beispiel vor.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_251" id="Page_251">[251]</a></span>»Eifersucht ist denn doch wohl Selbstsucht,« entgegnete der +Staatsanwalt, »besonders wenn keine Ursache dazu gegeben wird. Auch geht +es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder, +richtiger ausgedrückt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das +reifere und höhere Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir +sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verhängnisvollen Anlagen +mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen +der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau für ihn +bedeutete. Etwas Ähnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der +Trennung von seiner durchaus anständigen, guten Frau beginnt sein Fall.«</p> + +<p>»Sein Fall!« sagte der Justizrat gelassen, »da muß ich protestieren, +oder den Ausdruck dahin präzisieren, daß es sich um ein Abweichen von +der herkömmlichen, ausgetretenen Laufbahn handelt. Es ist allerdings bei +Deruga eine gewisse Vernachlässigung der äußeren Stellung, äußerer +Würden, äußerer Ehren eingetreten. <span class='pagenum'><a name="Page_252" id="Page_252">[252]</a></span>Damit braucht aber der Verfall des +sittlichen Menschen nicht Hand in Hand zu gehen. Es kann sogar eine +größere Verinnerlichung damit zusammenhängen. Als Staatsangehöriger bin +ich allerdings für die bürgerliche Ordnung. Wir dürfen aber doch nicht +vergessen, daß auch der Staat und jede von Menschen geschaffene Form von +Kräften lebt, die ihm von außen, sagen wir meinetwegen aus dem Chaos, +zuströmen.«</p> + +<p>Ein ironisches Lächeln verzerrte das Gesicht des Staatsanwalts. »Das ist +Philosophie,« sagte er, »und mit Philosophie läßt man sich auch die +Notwendigkeit von Massenmördern und Giftmischern beweisen. Wir dagegen +haben es ganz schlechtweg und einfältig mit strafbaren Handlungen zu +tun. Christus durfte sich erlauben, die Zöllner und Sünder zu lieben, +wir müssen uns bescheiden, sie zu strafen.«</p> + +<p>Der Vorsitzende machte die Handbewegung, mit der man Kreidestriche von +einer Tafel löscht. »Das führt zu weit,« sagte er, und dann zum Zeugen +gewendet: »Haben Sie selbst jemals Auftritte mit Ihrem Freunde gehabt?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_253" id="Page_253">[253]</a></span>»Ich? Niemals, niemals!« sagte Gabussi lebhaft, »und doch ist gewiß +nicht leicht mit mir auszukommen. Mein phlegmatisches Temperament, das +mir die Natur nun einmal gegeben hat, muß eine feurige Natur, wie mein +Freund ist, schon an sich reizen. Meine Langsamkeit im Auffassen hätte +ihn oft ungeduldig machen können. Anstatt dessen war er stets +opferwillig und hilfsbereit.«</p> + +<p>»Ein Engel,« setzte der Staatsanwalt grinsend hinzu.</p> + +<p>»Hatte der Angeklagte noch viele Freunde außer Ihnen?« fragte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann.</p> + +<p>»Er stand mit fast allen gut,« sagte Gabussi, »aber befreundet war er +nur mit mir. Ich bin überzeugt, daß kein einziger sein Inneres so gut +kannte wie ich.«</p> + +<p>»Das ist eigentlich sonderbar,« meinte der Vorsitzende, »bei einem +Menschen, dessen feuriges, geselliges Temperament Sie selbst +hervorheben.«</p> + +<p>»Ja, so möchte man denken,« sagte Gabussi, »und wenn man ihn unter +seinen Schulgefährten <span class='pagenum'><a name="Page_254" id="Page_254">[254]</a></span>und später unter seinen Studiengenossen sah, so +mußte man meinen, er sei mit allen verbrüdert. Ich erinnere mich, daß +ich mich zuerst nicht an ihn heranwagte, weil ich dachte, ich mit meiner +Schwerfälligkeit könne ihm nichts sein, der von so vielen wie von einer +Familie umringt war. Aber diese Umgänglichkeit, die er an sich hatte, +und die jeden anzog, war nur der Schleier, in den er seine Seele hüllte, +um sie unzugänglich zu machen. Niemand ist schwerer zu kennen, als er, +der das Herz auf der Zunge zu haben scheint. Es gibt zurückhaltende +Menschen, die durch Schweigsamkeit oder unnahbares Wesen die anderen von +sich abwehren. Das war seine Art nicht. Er richtete durch Gesprächigkeit +und Vertraulichkeit eine Mauer um sich auf.«</p> + +<p>In dem Maße, wie Gabussi eifriger wurde, um dem Präsidenten seines +Freundes Eigenart zu erklären, wuchs das verständnisvolle Interesse des +Vorsitzenden. »Ich begreife Sie, ich begreife Sie,« sagte er, »das kommt +bei leidenschaftlichen, übermäßig reizbaren Naturen vor. Sie müssen +immer auf der Hut sein, daß <span class='pagenum'><a name="Page_255" id="Page_255">[255]</a></span>sie nicht zu viel von sich verausgaben, und +schaffen doch ihrer Lebhaftigkeit einen gewissen Ausweg.«</p> + +<p>»Ja, ja, so ist es,« bestätigte Gabussi. »Er war im Grunde weich und +leicht verletzlich, schämte sich, das den anderen zu zeigen, die so viel +gleichgültiger und härter waren, und verhüllte sich auf seine Art. Er +war kein Tier, das zu seinem Schutze Stacheln oder Schuppen +hervorbringt, er konnte nur bunte Fäden spinnen und mit solchem +Blendwerk sich unkenntlich machen. Das bewahrte ihn wohl vor der +allzunahen Berührung wesensfremder Menschen, nicht aber vor allen +schmerzhaften Zusammenstößen mit der Außenwelt, die sein Herz bluten +machten. Ach, was für eine Tragik, daß er so oft beschuldigt wurde, +anderen Leid zugefügt zu haben, der immerfort durch andere litt!«</p> + +<p>»Sehr interessant,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Aber worunter litt er +denn so sehr? Nun ja, unter seinem Vater. Dafür hatte er doch aber eine +gute, liebevolle Mutter, er hatte Sie und den Verkehr mit Ihrer +Familie.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_256" id="Page_256">[256]</a></span>»Seine Mutter liebte er allerdings unendlich,« erklärte Gabussi, »und +durch sie litt er gewiß nicht, wohl aber durch die Lage, in der er sie +sah. Seine Seele fühlte sich nie heimisch in der Umgebung, in die sie +gepflanzt war. Er hatte einen lebhaften Schönheitssinn, und alles +Geschmacklose, sowohl an den Gegenständen wie an den Menschen, stieß ihn +ab. Da er in ärmlichen oder wenigstens sehr beschränkten Verhältnissen +geboren war und aufwuchs, kam es mir immer wunderbar vor, daß er gegen +alles Kleinliche und Häßliche, und was sie mitbringen, so überaus +empfindlich war. Ich selbst habe das erst allmählich verstehen lernen, +anfangs klangen mir seine darauf bezüglichen Klagen wie Dichtungen in +arabischer oder persischer Sprache. Es bildete oft den Gegenstand +unseres Gesprächs und war ein Punkt, wo wir nie zusammenkamen. Da ich +ihn nicht begriff, war ich oft ungerecht gegen ihn, wenn er zum Beispiel +Reichtum als das Allererstrebenswerteste hinstellte. Ich predigte dann +wie ein rechter Moralphilosoph auf ihn ein, vielmehr an ihm vorüber. +Denn von den <span class='pagenum'><a name="Page_257" id="Page_257">[257]</a></span>Bedürfnissen, die ihn Reichtum ersehnen ließen, hatte ich +keine Ahnung. Meine einfachere, derbere Seele fand sich in jeder +Umgebung zurecht, sie ist gewissermaßen ein Naturlaut, und wenn man sie +nur nicht in einen glänzenden Salon versetzt, so kann sie harmonisch +einstimmen. Mit einer reichen Symphonie ist es anders. Mein Freund +brauchte Schönheit um sich herum, in der sich die unendlich vielen, +daher oft einander widerstrebenden Töne auflösten.«</p> + +<p>»Hier ist also doch ein Punkt, wo Sie voneinander abwichen,« sagte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p> + +<p>»Allerdings,« gab Gabussi zu, »aber über freundschaftliche +Meinungsverschiedenheit ging das nie hinaus. Wir ließen uns beide +gelten, und er beneidete mich wohl sogar manchmal, weil ich so viel +leichter zufriedenzustellen bin.«</p> + +<p>»Es wundert mich,« fuhr <tt>Dr.</tt> Zeunemann gemütlich fort, »daß Ihr +Freund bei seinem leichtverletzlichen Schönheitssinn das Studium der +Medizin ergriff, bei dem es so viel Abstoßendes zu überwinden gibt.«</p> + +<p>»O,« sagte Gabussi, »da kam ihm wieder seine <span class='pagenum'><a name="Page_258" id="Page_258">[258]</a></span>Hilfsbereitschaft und +Liebe für alle Kranken und Leidenden zugute. Er hatte insofern eine +geradezu geniale Begabung für seinen Beruf. Dazu kam, daß er auf diesem +Wege am ehesten zu Gelde zu kommen dachte, was sowohl wegen seiner +Familie wünschenswert war, wie er es auch aus den erwähnten Rücksichten +für sich erstrebte.«</p> + +<p>»Und woran liegt es denn Ihrer Ansicht nach,« fragte der Vorsitzende, +»daß es ihm damit doch nicht geglückt ist?«</p> + +<p>»Jedenfalls nicht daran,« sagte Gabussi, »daß er untüchtig gewesen wäre. +Aber ich sagte schon, daß seine Seele reich und vielstimmig war. Er +sehnte sich nach Geld und verachtete es andererseits; er warf zwei Hände +voll weg für eine Handvoll, die er eingenommen hatte. Er arbeitete flink +und gut; aber er träumte noch besser. Er war geboren mit allen Tugenden, +Reichtum auf edle Art zu genießen, mit keiner von denen, die Reichtum +machen. Beim Reichwerden kommt es ebensosehr wie auf die Fähigkeit des +Erwerbens auf die des Festhaltens an, und die hatte er nicht. Es war +jener tragische Zwiespalt <span class='pagenum'><a name="Page_259" id="Page_259">[259]</a></span>in ihm, der meiner Ansicht nach nur dadurch +auszugleichen ist, daß man die Nichtigkeit des Reichtums einsieht und +alles dessen, was der Reichtum verschafft. Auch der Ärmste kann +Schönheit im Überfluß genießen, wenn er sich in die Natur zurückzieht. +Es war der einzige Fehler, den Deruga beging, daß er das nicht von +Anfang an getan hat. In der großen Welt konnten die Konflikte seiner +Seele keine Lösung finden.«</p> + +<p>»Wir haben Ihnen ein sehr feines Bild Ihres Freundes zu verdanken,« +sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann freundlich. »Nicht minder brauchbar, weil von +Freundeshand entworfen.« Dann schloß er das Verhör ab, nachdem er noch +einige belanglose Fragen gestellt hatte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Als der Justizrat mit den beiden Freunden das Haus verließ, war die Zeit +des Feierabends. Die Straßen füllten sich mit Menschen, aber in den +Anlagen hinter dem Gerichtsgebäude war es still wie immer. Mit dem +Lichte schienen die Gegenstände ihr buntes Kleid abgeworfen zu <span class='pagenum'><a name="Page_260" id="Page_260">[260]</a></span>haben +und in sanft schimmernder Nacktheit am Ufer der unendlichen Nacht zu +feiern, bevor sie in das tiefe Bad hinuntertauchten. Gabussi erklärte +sich mit dem Ergebnis seiner Aussagen nicht ganz zufrieden. Es sei alles +anders herausgekommen, sagte er, als er beabsichtigt hatte. Man werde +da, ohne zu wissen wie, von einer Strömung ergriffen, die einen von der +eingeschlagenen Richtung abbrächte.</p> + +<p>»Was du sagtest, war alles schön und gut,« tröstete Deruga. »Es kam mir +nur überflüssig vor, wie wenn man einem Deutschen einen feinen Mailänder +Risotto vorsetzt, der doch nur die Nase dazu rümpft und nach seinen +Kartoffeln verlangt. Was macht das aber? Für mich war es schön, mit dir +von der Vergangenheit zu träumen.«</p> + +<p>»Ja,« sagte der Justizrat, »das vergangene Leiden dient, wie Shakespeare +sagt, zu desto süßerem Geschwätz.«</p> + +<p>»Während umgekehrt nichts weher tut, wie unser Dante sagt, als sich im +Unglück vergangenen Glückes zu erinnern,« fügte Gabussi hinzu.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_261" id="Page_261">[261]</a></span>Bei dem Abhange, wo jetzt ein erstes Schneeglöckchen die gelbliche +Spitze herausstreckte, blieb Deruga stehen.</p> + +<p>»Da ist eins von den kleinen Geschöpfen,« sagte er, »es guckt wie eine +Maus aus ihrem Loch hervor.«</p> + +<p>»Sehen Sie,« triumphierte der Justizrat. »Sie lachten mich damals aus, +als ich ihm die trockenen Blätter vom Kopf wegstocherte.«</p> + +<p>»Sie hatten auch unrecht,« entgegnete Deruga, »denn nun holt es +wahrscheinlich die Katze.«</p> + +<p>»Meinen Sie den Nachtfrost?« fragte der Justizrat. »Diese frühen +Pflanzen können viel vertragen, sie sind darauf eingerichtet. Hören Sie, +mein Lieber,« setzte er hinzu, indem er seinen Klienten fortzuziehen +suchte, »Sie werden sentimental, das gefällt mir nicht.«</p> + +<p>Deruga rührte sich nicht von der Stelle und starrte versunken auf die +feuchte Erde. Eine Zeile aus einem alten Gedicht lag ihm im Sinn, und er +führte sie an, als er sich darauf besonnen hatte:</p> + +<p>»<tt>La doglia mia cresoe coll' ombra.</tt>«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_262" id="Page_262">[262]</a></span>»Das klingt wie ein Ton von einer Amati,« sagte der Justizrat, die +Musik des Verses mit sichtlichem Genusse schlürfend. »Was heißt das?«</p> + +<p>»Mein Weh wächst mit den Schatten,« übersetzte Deruga. »Das will also +sagen, mit der wiederaufgehenden Sonne verschwindet es und bedeutet +nicht mehr als eine Abendstimmung.« Er schüttelte sich, als werfe er die +trübe Laune von sich, und wandte sich rasch dem Ausgange zu.</p> + +<p>»Wenn du erst bei mir in meinem Bergdorfe bist,« sagte Gabussi, »werden +dich solche Stimmungen bald ganz verlassen. Das ist der Kohlenstaub der +großen Stadt, den der reine Himmel der Höhen verzehrt.«</p> + +<p>»Ob mir diese Luft wirklich so gut anschlagen würde, wie du meinst?« +sagte Deruga. »Ich bin nun einmal kein Bauer.«</p> + +<p>»Du wirst einer werden,« rief Gabussi lebhaft aus. »Wenn du erst gelernt +hast, dich für nichts als unsere paar Kühe und Ziegen zu interessieren, +dann wirst du gesund sein.« Er forderte den Justizrat zur Bestätigung +seiner Meinung auf.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_263" id="Page_263">[263]</a></span>»Ein bißchen zu verbauern, täte Ihnen gewiß gut,« sagte dieser +vorsichtig.</p> + +<p>»Sie meinen,« sagte Deruga, »wenn man den verzwickten Kerl in seine +Bestandteile auflösen und einen ganz neuen daraus machen könnte, dann +wäre ihm allenfalls geholfen.«</p> + +<p>Der Justizrat lachte.</p> + +<p>»Aber wenn man den alten Deruga gar nicht mehr herauskennte,« meinte er, +»das wäre doch schade.«</p> + +<p>Als Gabussi mit Deruga allein auf seinem Zimmer war, fuhr er fort, ihm +das Leben auf seinem Dorfe auszumalen. Deruga könne ihn auf seinen +Gängen begleiten, er verstehe ja mit einfachen Leuten umzugehen und +werde bald der Gott der ganzen Gegend sein. Übrigens würden seine Frauen +genug mit ihm zu schwatzen haben, und wenn er außerdem noch eine +Beschäftigung haben müsse, so könne er ja diese oder jene medizinische +Frage bearbeiten. Auch zu handwerklicher Beschäftigung gebe es +Gelegenheit. Die Leute dort oben wären um mehr als hundert Jahre zurück, +hätten Werkzeuge <span class='pagenum'><a name="Page_264" id="Page_264">[264]</a></span>aus der Urwelt. Da wäre ein Feld für seine +Erfindungsgabe und Geschicklichkeit.</p> + +<p>»Ach,« sagte Deruga, »wie wenig du mich kennst! Begreifst du nicht, daß +ich mich nach acht Tagen langweilen und nach vierzehn Tagen dich oder +mich umbringen würde?«</p> + +<p>»Langweilen?« wiederholte Gabussi erstaunt, seine großen Augen noch +weiter öffnend. »Langweilst du dich denn in der Stadt?«</p> + +<p>»Nein, hier geht es an,« sagte Deruga, »dies Gewimmel von Würmern auf +der Fäulnis unterhält mich. Ich verabscheue es, aber ich gebrauche es. +Es ist die Form des Lebens, die ich aufnehmen kann. Deine Berge wirken +wie nasse Knödel auf meinen Magen.«</p> + +<p>»Ich verstehe dich nicht,« sagte Gabussi, sich ereifernd, »das kann dein +Ernst nicht sein. Einem guten Menschen muß das Große und Einfache wohl +tun.«</p> + +<p>»Ach, Gabussi,« erwiderte Deruga ungeduldig, »der Mensch ist kein +Dreieck, worauf man den Pythagoräischen Lehrsatz anwenden kann. Glaube +mir, daß ich schließlich deine gute, alte <span class='pagenum'><a name="Page_265" id="Page_265">[265]</a></span>Schwester verführen würde, +nur um die klare Atmosphäre ein bißchen zu trüben!«</p> + +<p>»Dodo, wenn deine arme Mutter dich so reden hörte!« klagte Gabussi. »Es +sind nur Reden, nur Worte; doch die Worte schon zerreißen mir das Herz.«</p> + +<p>Die Unterredung setzte sich bis tief in die Nacht fort, ohne daß die +Freunde zu einem Verständnis gekommen wären. Gabussi bestand darauf, in +München zu bleiben, bis der Prozeß beendigt wäre, und dann, falls er +nach Wunsch erledigt wäre, Deruga sofort mitzunehmen, wogegen dieser +eine stets wachsende Abneigung ausdrückte. Vielmehr redete er Gabussi +zu, ohne Zeitverlust abzureisen, da er zu Hause von Mutter und Schwester +und von seinen Kranken ungeduldig erwartet würde, hier aber jetzt nichts +nützen könne. Gabussi gab endlich nach, aber er war traurig und +enttäuscht.</p> + +<p>Im Augenblick der Trennung umarmte Deruga ihn mit der alten Herzlichkeit +und mit Tränen in den Augen. »Vergiß das verzweifelte Zeug, das ich +geredet habe,« sagte er, »und glaube nur <span class='pagenum'><a name="Page_266" id="Page_266">[266]</a></span>das eine, daß mein Herz immer +dasselbe ist. Und wenn dich morgen der Schlag trifft und zu einem +schlottrigen Idioten machte, der seinen Mund nicht mehr finden kann, so +würde ich dich zu mir nehmen und dich eigenhändig füttern, solange du +lebtest. Dasselbe laß mich von dir glauben! Was für ein Strudel von +Dreck wäre das Leben, wenn es nicht unwandelbare Herzen gäbe!«</p> + +<p>»Gott sei Dank,« sagte Gabussi, dessen große braune Augen glänzten, »ich +glaube, ich hätte dem Himmel über meinem Kopfe mißtraut, wenn ich den +Glauben an dich verlieren müßte!«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_267" id="Page_267">[267]</a></span></p> +<h2><a name="X" id="X"></a><tt>X.</tt></h2> + + +<p>Die Baronin saß mit ihrer Tochter vor dem mit Gas geheizten Kamin und +betrachtete ihre auf das Gitter gestützten schmalen Füße, während sie +sagte:</p> + +<p>»Was meinst du, Mingo, wenn ich dir die Erlaubnis zum Studieren gäbe?«</p> + +<p>Mingo stand im Rücken ihrer Mutter am Fensterrand und starrte auf das +nach einem raschen, starken Frühlingsregen schwarzblanke Pflaster, in +dem die eben angezündeten Lichter sich spiegelten. Ihre Stimme klang +schwach und müde zu der Fragenden hinüber, wie sie die Gegenfrage +stellte: »Hast du denn die Absicht, es mir zu erlauben?«</p> + +<p>»Ich habe gedacht,« antwortete die Baronin, »daß ich es doch nie übers +Herz bringen werde, dich zu einer dir unsympathischen Heirat zu zwingen, +und daß also daran gedacht werden <span class='pagenum'><a name="Page_268" id="Page_268">[268]</a></span>muß, was aus dir werden soll, wenn du +spät oder gar nicht heiratest. Glaubst du denn, daß das Studium dich +glücklich machen wird?«</p> + +<p>»Glücklich?« sagte die schwache Stimme vom Fenster her. »Ach, Mama! Aber +es wird mich doch auf eine interessante und nützliche Art beschäftigen.«</p> + +<p>»Früher,« sagte die Baronin erstaunt und fast ein wenig unwillig, »als +du mich mit diesem Wunsche so sehr quältest, tatest du, als ob deine +Seligkeit davon abhinge.«</p> + +<p>Mingo trat vom Fenster weg und kauerte sich in einen Sessel, den sie +neben den ihrer Mutter gerückt hatte.</p> + +<p>»Ob wohl alle Wünsche verblassen?« sagte sie, »wenn sie ihrer +Verwirklichung nahekommen? Aber, Mama, vielleicht kann ich mich nur +heute abend nicht so recht freuen, weil ich müde bin. Wenn du mir jetzt +die Erlaubnis mit ins Bett gibst, werde ich morgen früh ganz glücklich +damit erwachen.«</p> + +<p>Die Baronin warf einen nachdenklichen, freundlichen Blick auf ihre +Tochter.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_269" id="Page_269">[269]</a></span>»Nein, geh' noch nicht zu Bett, Kleines,« sagte sie. »Ich finde es so +hübsch, mit dir allein zu plaudern. Weißt du, das Heiraten steht dir ja +immer noch frei, aber es ist lange nicht so unterhaltend, wie du es dir +jetzt wohl vorstellst, besonders wenn man nur um des Geldes willen +heiratet.«</p> + +<p>»Hast du Papa um des Geldes willen geheiratet?« fragte Mingo.</p> + +<p>»Nun, nicht in dem Sinne, daß er mir ohne Geld unannehmbar gewesen +wäre,« sagte die Baronin, »im Gegenteil, er gefiel mir gut und zog mich +an. Nur hätte das vielleicht nicht zu einer Heirat geführt, wenn er +nicht so vermögend gewesen wäre.«</p> + +<p>»Gefiel er dir später nicht mehr so gut?« fragte Mingo zaghaft.</p> + +<p>»O, gefallen,« sagte die Baronin, »muß er einem doch. Er ist so +außerordentlich vornehm, nie aufdringlich, nie geschmacklos. Nur +langweilig ist er, kannst du dir das denken?«</p> + +<p>»Ja,« nickte Mingo, »ich kann es mir vorstellen. Aber ich dachte, wenn +man sich liebt!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_270" id="Page_270">[270]</a></span>»Ach, kleine Torheit,« lachte die Baronin. »Liebe allein füllt nicht +einen einzigen Abend aus, wenn man einmal verheiratet ist.«</p> + +<p>»Ach,« sagte Mingo und träumte mit ihren großen, dunklen Augen auf die +rotwogende Kupferplatte des Kamins. »Aber man hat doch Kinder,« fuhr sie +nach einer Weile fort.</p> + +<p>Die Baronin lachte ihr junges, anmutiges Lachen. »Du Kind bist mir bald +genug davongelaufen.«</p> + +<p>Mingo fühlte plötzlich eine große Welle von Liebe und Mitleid für die +Mutter in sich aufsteigen, setzte sich mit einem Sprung auf ihren Schoß, +schlang die Arme um sie und küßte sie. »Du, meine Frisur und meine +Spitzen,« rief die Baronin erschreckt; doch war ihr anzumerken, daß sie +sich der Erschütterung dieses Zärtlichkeitsausbruchs nicht ungern +hingab.</p> + +<p>»Siehst du,« sagte Mingo fröhlicher als vorher, »daß es doch besser ist +zu studieren! Das ist nicht langweilig und läuft nicht fort.«</p> + +<p>»Für mich ist es zu spät,« meinte die Baronin; »aber für dich mag es das +Richtige sein!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_271" id="Page_271">[271]</a></span>Mingo tröstete, ihre Mutter sei so klug; wenn sie wolle, könne sie es +auch.</p> + +<p>Die Baronin schüttelte den Kopf. »Mein Verstand hat nie geturnt,« sagte +sie, »er kann mit Grazie über einen Bach hüpfen und eine Blume pflücken +und dergleichen, aber nichts, wozu man Muskeln braucht. Anstrengen kann +ich mich in gar keiner Weise mehr. Vielleicht hätte ich es früher +gekonnt, wenn die Notwendigkeit oder sonst ein starker Antrieb dagewesen +wäre.«</p> + +<p>»Mama,« sagte Mingo, die noch immer auf dem Schoße ihrer Mutter saß, +»warst du nie verliebt? Vor deiner Heirat oder nachher?«</p> + +<p>»Nein, so eigentlich verliebt nie,« antwortete die Baronin. »Weißt du, +früher, als ich in deinem Alter war, hielt ich für Liebe das +schmeichlerische Gefühl, das man hat, wenn man angebetet wird. Je besser +einem der gefiel, der einen anbetete, desto angenehmer war es; selbst zu +lieben, hatte ich gar kein Talent oder Bedürfnis. Und als ich +verheiratet war, hatte ich mir vorgenommen, mir nichts Ernstliches +zuschulden <span class='pagenum'><a name="Page_272" id="Page_272">[272]</a></span>kommen zu lassen, und das stand mir immer im Wege.«</p> + +<p>Mingo hatte sich inzwischen zu Füßen ihrer Mutter auf den Boden gekauert +und starrte wieder in den geheimnisvoll wogenden, kupfernen Feuerkessel. +»Dann weißt du gar nicht, wie es ist, von einer Leidenschaft hingerissen +zu sein?« fragte sie.</p> + +<p>»Du scheinst es mir fast vorzuwerfen,« sagte die Baronin mit einem +Anflug von Schärfe im Ton, aber nach einer Weile fuhr sie milder fort: +»Es mag sein, daß ich deswegen nicht schlechter wäre. Übrigens nahm ich +mich nicht eigentlich um deines Vaters willen zusammen, sondern es war +ein Ausfluß meiner Natur. Große Aufregungen und Umwälzungen lagen mir +nicht, und das, was ich einmal gewählt hatte, wollte ich durchführen. +Ich halte das für ein Erfordernis des guten Geschmacks.«</p> + +<p>»Ja, Mama,« sagte Mingo, indem sie auf die gepflegte, mit vielen +kostbaren Ringen allzu belastete Hand ihrer Mutter einen Kuß drückte, +»und Papa und ich haben Ursache, dir dank<span class='pagenum'><a name="Page_273" id="Page_273">[273]</a></span>bar zu sein. Nur für dich +macht es mich fast traurig.«</p> + +<p>»Mach' dir darüber keine Gedanken, mein Kleines,« sagte die Baronin. +»Was einem nicht ansteht, das würde einen auch nicht glücklich machen. +Ich habe mir einen anderen Weg zu meinem Glücke ausgedacht.«</p> + +<p>»Was meinst du, Mama?« fragte Mingo erschreckt.</p> + +<p>Die Baronin errötete, ohne daß es im roten Widerschein der Kaminglut +sichtbar geworden wäre. »Das erzähle ich dir ein andermal, Liebling,« +sagte sie. »Ich höre eben ein Auto vorfahren. Das wird dein Vater sein.«</p> + +<p>»Mama,« sagte Mingo rasch. »Du hast mir noch nicht versprochen, daß du +von dem Prozeß zurücktreten willst. Ohne das kann mich nichts, nichts +glücklich machen. Ich will gern auf das Studium verzichten und immer, so +lange ich lebe, bei dir bleiben, damit du dich nicht langweilst, wenn du +mir nur das zuliebe tust.«</p> + +<p>»Rege dich nicht auf, Mingo,« sagte die Baronin abwehrend, »du weißt, +daß ich das nicht <span class='pagenum'><a name="Page_274" id="Page_274">[274]</a></span>liebe. Nichts in der Welt ist wert, daß man sich +darüber aufregt. Ich habe dir gesagt, daß ich es mit dem Anwalt +besprechen will!«</p> + +<p>»Ach, dein Anwalt,« sagte Mingo, »der hat dich ja gerade hineingehetzt. +Er ist ein widerwärtiger Mensch! Er hat etwas Kriechendes, Schleimiges, +Saugendes, als ob er zum Spion geboren wäre. Ich begreife nicht, daß du +mit einem solchen Menschen verkehren magst.«</p> + +<p>»Das ist doch kein Verkehr,« entgegnete die Baronin. »Ich bediene mich +seiner Gaben, die ihn für diese Arbeit geeignet machen. Wenn er ein +Edelmann wäre, würde er mir vermutlich weniger nützen können. Es mag +sein, daß er auch mich ausnützt, aber er könnte das ja gar nicht, wenn +er nicht meinte, daß ich recht habe, und daß meine Sache Erfolg haben +kann. Du tust, als handle es sich um eine Privatangelegenheit, aber es +handelt sich um ein Verbrechen, an dem die Öffentlichkeit Interesse +hat.«</p> + +<p>»Du sollst die Hand nicht darin haben,« drängte Mingo. »Du hast mir +selbst zugegeben, <span class='pagenum'><a name="Page_275" id="Page_275">[275]</a></span>daß du an deiner Überzeugung von seiner Schuld irre +geworden bist.«</p> + +<p>»Meine Überzeugung ist nicht maßgebend,« sagte die Baronin. »Die +Geschworenen sind dazu da, das Recht zu finden. Es handelt sich einfach +um das Recht. Ich will nichts für mich erzwingen, was nicht dem Rechte +gemäß ist.«</p> + +<p>»O Mama, Mama,« rief Mingo. »Der Schein ist aber auf dir, als wolltest +du dir das Vermögen erzwingen, das dir nun einmal nicht bestimmt war.«</p> + +<p>Die Baronin war sichtlich verletzt. »Ein Kind, das im Überfluß +aufgewachsen ist, pflegt nicht nachzudenken, woher er fließt,« sagte +sie. »Du hast es leicht, das Geld gering zu schätzen. Habe ich ein Recht +darauf, so wäre es lächerlich von mir, darauf zu verzichten. Ob ich das +Recht darauf habe, das heißt, ob Deruga es nicht hat und ich meine +Ansprüche mit einiger Aussicht auf Erfolg werde geltend machen können, +das wird dieser Prozeß ergeben. Dann ist es immer noch Zeit, zu erwägen, +ob ich es mit einer Klage wegen des Vermögens versuchen soll.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_276" id="Page_276">[276]</a></span>»Einstweilen könntest du aber doch deinem Anwalt sagen, daß er seine +Nachforschungen aufgibt,« bat Mingo.</p> + +<p>»Ich werde mich mit ihm besprechen,« sagte die Baronin ausweichend, »und +seine Auffassung hören. Hält er Deruga jetzt für unschuldig, so bin ich +die erste, mich darüber zu freuen. Persönliche Wünsche in diesen +Angelegenheiten kommen weder dir noch mir zu.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_277" id="Page_277">[277]</a></span></p> +<h2><a name="XI" id="XI"></a><tt>XI.</tt></h2> + + +<p>Einen Tag nach der Abreise Gabussis besuchte der Justizrat seinen +Klienten, der allein im kalten Zimmer saß. Er hatte das Fenster +geöffnet, weil der kleine eiserne Ofen zu stark heizte, und hatte +vergessen, es wieder zu schließen, nachdem es längst kalt geworden war.</p> + +<p>Zuweilen trieb der Wind einen Regenguß hinein, ohne daß der Einsame, der +verdrossen vor sich hinstarrte, es bemerkte.</p> + +<p>»Ihr Freund ist also abgereist,« sagte der Justizrat. »Das ist schade, +da werden Sie sehr niedergeschlagen sein!«</p> + +<p>»Ich bin froh, daß er fort ist,« entgegnete Deruga. »Gabussi ist mir der +liebste Mensch auf Erden, aber es gibt Zeiten, wo er mir im Wege ist. Er +kann sein Leben lang nüchtern sein, aber ich muß mich zuweilen +betrinken.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_278" id="Page_278">[278]</a></span>»So,« sagte der Justizrat, der inzwischen das Fenster geschlossen und +sich gesetzt hatte, »und jetzt ist der Zeitpunkt für Ihre Saturnalien? +Passend gewählt.«</p> + +<p>Deruga zuckte die Achseln. »Ich richte mich dabei nach dem Kalender, +dessen System jeder in seinem Körper trägt.«</p> + +<p>»Wie Sie wollen,« sagte der Justizrat. »Mich hat etwas ganz anderes +hergeführt. Kennen Sie eine Frau Valeska Durich aus Prag?«</p> + +<p>»Ja,« sagte dieser, »ein aus Dummheit und Verliebtheit zusammengesetztes +Wesen. Formel <tt>D<sub>2</sub>V</tt>.«</p> + +<p>»Sie müssen es wissen,« sagte der Justizrat, »denn sie scheint eben in +Sie verliebt zu sein.«</p> + +<p>»Ich kann wirklich nichts dafür,« sagte Deruga. »Wenn Sie eine halbe +Stunde mit ihr zusammen wären und sie womöglich etwas grob behandelten, +würde sie sich auch in Sie verlieben.«</p> + +<p>»Nun, wir werden sehen,« sagte der Justizrat. »Sie will nämlich +herkommen.«</p> + +<p>Deruga lachte auf und zeigte sich dann geärgert. Was die dumme Person +wolle? Der <span class='pagenum'><a name="Page_279" id="Page_279">[279]</a></span>Justizrat solle ihr schreiben, daß er, Deruga, in +Untersuchungshaft sei und nichts mit ihr zu tun haben könne und wolle.</p> + +<p>»Das käme wohl zu spät,« sagte der Justizrat. »Sie will durchaus +bezeugen, daß Sie vom Abend des 1. Oktober bis zum Nachmittag des +dritten bei ihr gewesen seien. Da hätten wir denn ein Alibi.«</p> + +<p>»Im Ernst?« sagte Deruga aufhorchend. »Das will die dumme Person? Nun, +das ist ja eigentlich sehr angenehm. Besser könnte der Knoten gar nicht +gelöst werden.«</p> + +<p>»Das will ich denn doch nicht gerade sagen,« meinte der Justizrat +bedächtig. »Es ist doch keine Kleinigkeit, wenn einer einen Meineid auf +sich nimmt.«</p> + +<p>»Das ist ihre Sache,« sagte Deruga heftig. »Herrgott, dieser kleinliche +Wortkram! Es gibt Lügen, die einen anständigeren Ursprung haben als +manche Wahrheit. Überhaupt ist das ihre Sache. Ich habe so viele +Belästigungen von ihr ertragen, warum sollte ich nicht auch den Vorteil +annehmen?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_280" id="Page_280">[280]</a></span>»Natürlich,« sagte der Justizrat, »wenn es ohne ernstlichen Schaden +ihrerseits geschehen kann.«</p> + +<p>»Es ist merkwürdig, daß Sie auf einmal so bedenklich geworden sind,« +sagte Deruga scharf. »Durch Sie bin ich in diese Lage gekommen. Wäre ich +meiner Regung gefolgt, so wäre es längst so oder so zu Ende. Nun sich +ein Mittel findet, mir den Prozeß in Ihrem Sinne vom Halse zu schaffen, +machen Sie moralische Ausflüchte.« Er war vor Erregung rot geworden und +warf einen wütenden Blick auf den Justizrat, der ihn nachdenklich +betrachtete.</p> + +<p>»Ich mußte mir doch erst Klarheit verschaffen,« sagte dieser, »und +wissen, wie Sie zu der neuen Wendung stehen. Schließlich, wenn Sie +einverstanden sind! Hatten Sie denn wirklich etwas mit der Dame?«</p> + +<p>»Ich mit ihr?« sagte Deruga. »Sie hatte etwas mit mir. Sie quälte mich +mit ihrer Verliebtheit. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie sie als +opfermütige Heldin auffassen. Sie ist zu dumm, um die Folgen ihrer +Handlungen zu <span class='pagenum'><a name="Page_281" id="Page_281">[281]</a></span>übersehen, und so verliebt, daß ihr jedes Mittel recht +ist, um mich zu gewinnen.«</p> + +<p>»Worin sie sich aber verrechnet?« setzte der Justizrat hinzu.</p> + +<p>»Natürlich,« sagte Deruga scharf, »dachten Sie, ich solle sie aus +Dankbarkeit heiraten?«</p> + +<p>»O nein,« entgegnete der Justizrat, »Sie wollen jetzt viel höher +hinaus.«</p> + +<p>»Jetzt?« wiederholte Deruga auffahrend, »was meinen Sie damit? Was +erlauben Sie sich? Meinen Sie, Sie können mich als dummen Jungen +behandeln, weil ich angeklagt und vogelfrei bin? Ich halte mich +allerdings für zu gut, mich an eine solche dumme und ungebildete Person +wegzuwerfen. Die Weiber sind mir überhaupt widerlich.«</p> + +<p>»Mit Ausnahmen,« sagte der Justizrat kühl.</p> + +<p>»Das stimmt,« fuhr Deruga in hitzigem Tone fort. »Zum Beispiel mit +Ausnahme der Baronin Truschkowitz. Sie ist habgierig, eitel, +selbstsüchtig; aber dafür klug, elegant und ganz und gar unmoralisch. So +müssen Frauenzimmer sein, damit man sich gut mit ihnen unterhalten +kann.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_282" id="Page_282">[282]</a></span>»Geschmackssache,« sagte der Justizrat. »Einen Meineid würde sie +jedenfalls nicht für Sie schwören.«</p> + +<p>»Nein, sie ist weder einfältig noch hündisch,« sagte Deruga, »und ich +mag die Hunde nicht. Was kümmert Sie die Valeska? Lassen Sie sie +zugrunde gehen, wenn sie will! Sie haben für mich zu sorgen.«</p> + +<p>»Das tue ich,« sagte der Justizrat, »und ich zweifle eben, ob es +ehrenhaft von Ihnen wäre, wenn Sie ein solches Opfer annähmen.«</p> + +<p>Deruga lachte höhnisch. »Eins von diesen pompösen Worten,« sagte er, +»die in eurer Gesellschaft üblich sind. Ehre, Moral, Ideal, Gott, +Unsterblichkeit, lauter gemalte Säulen auf Sackleinewand. Man braucht +euch keine dreißig Silberlinge zu bieten, damit ihr Gott verratet. +Übrigens, wer sagt denn, daß die Valeska einen Meineid schwört? Woher +wissen Sie, daß ich nicht vom 1. bis 3. Oktober bei ihr war?«</p> + +<p>Der Justizrat stand auf, um zu gehen. »Genug für heute,« sagte er; »aber +ich nehme an, daß das nicht Ihr letztes Wort ist.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_283" id="Page_283">[283]</a></span>»Und ich bitte Sie,« sagte Deruga, »fangen Sie nicht wieder davon an, +wenn Sie wollen, daß wir gute Freunde bleiben! Weder Sie noch ich sind +Valeskas Hüter. Sie tun am besten, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß +sie leichtsinnig genug war, mich vom 1. bis zum 3. Oktober vorigen +Jahres bei sich zu beherbergen.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_284" id="Page_284">[284]</a></span></p> +<h2><a name="XII" id="XII"></a><tt>XII.</tt></h2> + + +<p>Die Baronin hatte Peter Hase zum Mittagessen eingeladen, damit er ihre +Tochter kennenlerne. Das Diner fand in einem kleinen, behaglichen Salon +ihres Hotels statt, dessen in Weiß, Schwarz und Gold gehaltene Wände mit +Blumenbüschen von ausschweifender Pracht geflammt waren.</p> + +<p>Die Baronin teilte ihrem Gaste lächelnd mit, daß er ihrer Tochter noch +in jeder Beziehung unbekannt sei.</p> + +<p>»Meine Tochter,« sagte sie, »hat von ihrem Vater eine gewisse +Gleichgültigkeit gegen die Literatur geerbt; vielleicht darf ich +gleichbedeutend sagen, einen gewissen Mangel an Phantasie.«</p> + +<p>»Ich möchte es guten Geschmack nennen,« sagte Peter Hase, »denn Jugend +und Bücher gehören nicht zusammen. Auch steht Herr Baron <span class='pagenum'><a name="Page_285" id="Page_285">[285]</a></span>vielleicht auf +dem Standpunkt der Alten, welche die Dichter als Lügner verachteten.«</p> + +<p>»Ich bin zu wenig belesen, um darüber urteilen zu können,« sagte der +Baron, »aber so viel ist richtig, daß ich Zeitungen gerne lese, weil sie +Wahres berichten.«</p> + +<p>»Ach Papa, Zeitungen,« lachte Mingo, »die sollen ja gerade am meisten +lügen.«</p> + +<p>»Die Zeitungen sind vielleicht das interessanteste moderne Epos,« sagte +Peter Hase, »und jedenfalls ist das Leben die schönste Dichtung.«</p> + +<p>Die Baronin wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube,« sagte sie, »auch in +bezug auf das Leben sind die großen Talente unter den Menschen selten. +Wenige leben ein großes, schön geschwungenes Leben. Bei den meisten +fällt es zerfahren, kleinlich, alltäglich und sehr langweilig aus.«</p> + +<p>»Für flüchtige Leser,« sagte Peter Hase, »man muß sich hinein +vertiefen.«</p> + +<p>»Ach, es lohnt nicht,« sagte die Baronin, »und wo es vielleicht lohnte, +ekelt es einen. Die Erfahrung haben Sie vielleicht auch bei der +ge<span class='pagenum'><a name="Page_286" id="Page_286">[286]</a></span>heimnisvollen Dame gemacht, die unserem Prozeß plötzlich eine neue +Wendung zu geben scheint.«</p> + +<p>»Die Dame stellte sich allerdings zunächst mehr alltäglich als +geheimnisvoll dar,« sagte Peter Hase. »Ein vegetatives Wesen, gutmütig, +schwach, träge, aber mit einer Anlage zum Heroismus, wie primitive +Frauen sie manchmal haben.«</p> + +<p>Mingo, die bis dahin mit fast unhöflicher Teilnahmlosigkeit dagesessen +hatte, blickte tief errötend auf und sagte hastig: »Wer ist die Dame, +warum war sie da?«</p> + +<p>»Es ist eine Dame, die aussagte, daß Herr Deruga während der +verhängnisvollen Oktobertage bei ihr gewesen sei, also die Tat, der man +ihn verdächtigt, nicht begangen haben könnte,« erklärte Peter Hase. Er +sprach mit Zurückhaltung, da er den Gegenstand für gesellige +Unterhaltung nicht geeignet, ganz besonders aber für eine junge Dame +nicht für passend hielt.</p> + +<p>»Siehst du, Mama,« rief Mingo triumphierend. »Aber wer ist die Dame, daß +er so lange bei ihr war? Ist er mit ihr befreundet?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_287" id="Page_287">[287]</a></span>»Nun, unverheiratete Männer haben eben Beziehungen zu gewissen Frauen, +Frauen der unteren Stände,« erklärte die Baronin. »Das ersetzt ihnen das +Familienleben. Und sie bevorzugen ungebildete, anspruchslose Frauen, +weil sie sich ihnen gegenüber gehen lassen können. Sich gehen zu lassen, +ist Männern ein wesentliches Bedürfnis.«</p> + +<p>»Ich möchte es eine Schutzvorrichtung der Natur nennen,« sagte Peter +Hase, »die gerade dem Kulturmenschen als eine Entspannung seiner stets +gespannten Kräfte notwendig ist. Aber es ist eine tragische Verkettung, +daß gerade der Kulturmensch es mehr und mehr verlernt, sich gehen zu +lassen, bis die unterdrückten Triebe sich zuletzt im Wahnsinn Luft +machen.«</p> + +<p>In Mingos Gesicht war zu lesen, daß sie diese Untersuchung weder +verstand noch Interesse dafür hatte. »Wie war die Frau?« fragte sie, +angelegentlich zu Peter Hase hingewendet. »War sie ganz ungebildet? War +sie eine arme Frau?«</p> + +<p>»Nein, das doch nicht,« sagte Peter Hase ernst und schonend. »Sie ist +die Tochter eines Haus<span class='pagenum'><a name="Page_288" id="Page_288">[288]</a></span>meisters an einem Knabengymnasium, und es +scheint, daß sie dadurch früh bedenklichen Einflüssen ausgesetzt war. +Offenbar sucht sie in rührender Art an dem, was sie für Bildung ansieht, +festzuhalten; sie betonte, wenn immer es möglich war, die Liebe zur +Natur, zu allem Guten, Schönen und Wahren, wie man zu sagen pflegt, und +sie sprach geflissentlich von der Freundschaft, die sie mit Deruga +verbände. Das Wort Liebe oder Liebesverhältnis ließ sie nicht gern +gelten. Ich hatte den Eindruck, daß sie das Bedürfnis hatte, ihrem Leben +einen Hintergrund von Schönheit und Besonderheit zu geben, soweit sie es +versteht.«</p> + +<p>Die Baronin zuckte ungeduldig die Schultern, und der Baron suchte das +Gespräch in eine andere Bahn zu lenken, indem er sagte, ähnliche Züge +fänden sich viel bei den leichtfertigen Frauen der meisten Völker, und +allerlei aus Japan, China, Indien und anderen Ländern erzählte, die er +bereist hatte. Er sei in seiner Jugend weit herumgekommen, sagte er, +aber schließlich habe er gefunden, daß sich in Paris am besten leben +lasse.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_289" id="Page_289">[289]</a></span>»O, ja, Paris ist stets das mehr oder weniger Gegebene,« sagte die +Baronin mit einem unterdrückten Seufzer und einem verschmitzten +Ausdruck, der sie allerliebst kleidete.</p> + +<p>Er liebe auch Paris, sagte Peter Hase, und sei im Begriff gewesen, zu +einem mehrwöchigen Aufenthalt hinzureisen, als Derugas Prozeß ihn +abgehalten hätte.</p> + +<p>»Dieser Mensch scheint eine ungemeine Anziehungskraft zu besitzen,« +sagte die Baronin.</p> + +<p>Peter Hase warf einen unauffälligen Blick zu Mingo herüber, um zu sehen, +wie das Besprochene sie berührte. Ihre großen Augen hingen mit Spannung +und Anteil an seinem Gesicht. »Man begegnet so selten,« sagte er, +»innerhalb der Kultur einem ganz natürlichen Menschen, wie Deruga ist; +ein Kind, von der Beschaffenheit und in den Verhältnissen eines Mannes.«</p> + +<p>»Sie wollen ihn vielleicht in einem Roman verwerten,« spottete die +Baronin.</p> + +<p>»Kaum,« erwiderte Peter Hase ernsthaft. »Er ist doch wohl +zusammenhanglos für den Bau der <span class='pagenum'><a name="Page_290" id="Page_290">[290]</a></span>Dichtung, wo alles Zweck sein muß und +nirgends eine Fuge klaffen darf.«</p> + +<p>»Unschuldig verurteilt,« fuhr die Baronin fort. »Das wäre doch ein +Titel, der ziehen würde.«</p> + +<p>»Es wird nicht dahin kommen,« sagte Peter Hase, ruhig feststellend. »Die +Sache wird irgendwie im Sande verlaufen. Ich schließe aus Derugas +Charakter, daß er bunte Erlebnisse, aber keine großen, tragischen, +erschütternden haben wird.«</p> + +<p>»Hörst du, Mama?« rief Mingo. »Auch Herr Hase ist von seiner Unschuld +überzeugt. Jeder ist es. Du bist es dir selbst schuldig, nichts mehr +gegen ihn zu unternehmen.«</p> + +<p>»Ich sagte dir schon,« fiel die Baronin ein, »daß ich mit dem Anwalt +sprechen werde. Seine Sache ist eigentlich nicht meine. In der Tat +bedaure ich jetzt, daß ich so schwach war, mich von ihm in diese Sache +hineinziehen zu lassen. Ich kam nicht auf den Gedanken, daß es ihm in +erster Linie daran lag, sich durch einen aufsehenerregenden Prozeß +bekannt zu machen. Er spiegelte mir vor, daß ich berufen sei, ein +Verbrechen ans <span class='pagenum'><a name="Page_291" id="Page_291">[291]</a></span>Licht zu ziehen, und benützte mich als Mittel, um +berühmt zu werden.«</p> + +<p>Die Baronin hatte kaum ausgesprochen, als der Kellner den <tt>Dr.</tt> +Bernburger anmeldete, den sie zu einer Besprechung ins Hotel gebeten +hatte.</p> + +<p>»Das ist ungeschickt,« sagte die Baronin zögernd, und Peter Hase erhob +sich, um nicht zu stören. Nein, sagte sie, er dürfe auf keinen Fall +schon gehen, sie hätten ja noch nicht einmal den Kaffee genommen. Im +Grunde sei es ihr lieb, wenn sie die Unterhaltung nicht allein zu führen +brauche, Geschäftliches sei ihr ohnehin zuwider, diese Angelegenheit +aber vollends verhaßt.</p> + +<p>Den nun eintretenden Anwalt begrüßte sie mit einem hochmütigen +Kopfneigen, dem sie nachträglich eine etwas höflichere Wendung gab, als +sie bemerkte, daß er sie durchschaute und belächelte. Sie erklärte ihm, +daß die Anwesenden von allem unterrichtet wären, und daß ihre Gegenwart +nicht störe, und sagte dann mit einem kalten Blick:</p> + +<p>»Die Sache entwickelt sich anders, Herr Doktor, als Sie mir anfänglich +einredeten.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_292" id="Page_292">[292]</a></span>»Ich schätze den selbständigen Charakter der Frau Baronin zu hoch,« +entgegnete <tt>Dr.</tt> Bernburger, »als daß ich wagen möchte, ihr etwas +einzureden.«</p> + +<p>»Nun gut,« sagte die Baronin unwillig, »Sie schilderten mir die Vorgänge +jedenfalls so überzeugend, wie ...«</p> + +<p>»Wie Sie sich nur wünschen konnten,« fiel <tt>Dr.</tt> Bernburger lächelnd +ein. »Ich bin von der Wahrscheinlichkeit der Vorgänge, wie ich sie +damals darstellte, heute noch ebenso überzeugt wie damals.«</p> + +<p>»Und die neue Zeugin?« fragte die Baronin.</p> + +<p>»Eine verliebte Person,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger wegwerfend, »die +sich ein Verdienst um ihren Angebeteten erwerben möchte. Sie ist +durchaus nicht wichtig und wurde nicht einmal vereidigt, weil der +Gerichtshof sie wegen ihrer Beziehungen zum Angeklagten von vornherein +nicht für glaubwürdig hielt. Übrigens würden sich wohl Zeugen auftreiben +lassen, um die Unwahrheit ihrer Aussage darzutun.«</p> + +<p>»Nein, Mama,« rief Mingo, in lichter Entrüstung aufspringend, »damit +sollst du nichts zu tun <span class='pagenum'><a name="Page_293" id="Page_293">[293]</a></span>haben. Dies Spionieren und Hetzen ist unwürdig. +Ich leide es nicht, daß du dich dazu hergibst.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger betrachtete das junge Mädchen lächelnd durch seine +Brille. »Ginge der Verbrecher nicht dunkle Wege,« sagte er, »brauchte +man ihm nicht auf dunklen Wegen nachzuschleichen. Die Methode des +Verbrechers bestimmt die Methode dessen, der ihn entlarven soll. Wenn +ein Dieb mit Ihrer Börse davonläuft, und Sie wollen ihn wieder haben, +müssen Sie ihm nachspringen; oder einen anderen für sich springen +lassen.«</p> + +<p>»Ich verlange von niemandem, wozu ich mir selbst zu gut bin,« sagte +Mingo feindlich. »Übrigens hat uns niemand unsere Börse genommen.«</p> + +<p>»Mische dich nicht in Dinge, Kind,« sagte die Baronin verweisend, »die +du zu wenig kennst, um sie beurteilen zu können. Ich habe indessen doch +das Gefühl,« wandte sie sich an <tt>Dr.</tt> Bernburger, »daß wir keine +glückliche Rolle in dieser Angelegenheit spielen.«</p> + +<p>»Es kommt auf den schließlichen Erfolg an,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, +»und wie ich Ihnen <span class='pagenum'><a name="Page_294" id="Page_294">[294]</a></span>schon sagte, hat sich meine Überzeugung bisher nur +gefestigt. Mir ist es, als hätte ich den Vorgang mit erlebt. Ich könnte +ihn in einem Drama vorführen.«</p> + +<p>»Und warum tun Sie es nicht?« rief die Baronin gereizt aus. »Ich glaube, +die Stimmung wendet sich allgemein dem Angeklagten zu.«</p> + +<p>»Herr <tt>Dr.</tt> Deruga hat augenscheinlich viel Glück bei Frauen,« +sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, »in deren Augen ein Mann überhaupt durch +den Verdacht eines Verbrechens zu gewinnen pflegt. Ferner begehen viele +Menschen den Fehler, zu glauben, ein Verbrecher müsse von der Natur mit +einem besonderen Stempel gezeichnet sein. Müsse roh, brutal, gemein, +entstellt aussehen. Man bedenkt nicht, daß der Grund der meisten +Verbrechen die Schwäche des Täters ist, indem er einem Antriebe nicht +genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und was für eine große +Rolle der Zufall dabei spielt. Es ist nicht ohne Ursache, daß in +früheren Zeiten viele Verbrecher selbst glaubten, der Teufel habe es +ihnen eingeblasen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_295" id="Page_295">[295]</a></span>Der Baron meinte, solche Vorstellungen wären gefährlich, indem sie +einem fast den Mut raubten, den Verbrecher zu verfolgen und zu +bestrafen.</p> + +<p>Der Anwalt zuckte die Schultern. »Hörte man damit auf,« sagte er, »so +gäbe es ja nur noch Antriebe zum Bösen beziehungsweise Verbotenen, und +alle Hemmungen fielen fort. Es ist wohl das beste, daß jeder schlechtweg +das tut, was ihm sein Amt vorschreibt, ohne sich Skrupel über die Folgen +und innersten Gründe zu machen. Justizrat Fein bringt unentwegt neue +Entlastungszeugen vor; er hat jetzt wieder einen Professor ausgespielt, +der eine Zeitlang mit Deruga und seiner Frau dasselbe Haus bewohnte, und +der, wie es scheint, bestätigen soll, was wir längst wissen, daß Deruga +ein sogenannter guter Kerl ist, dem man zwar Übereilungen, aber nicht +überlegte Schlechtigkeiten zutraut. Ich würde meine Pflicht nicht tun, +wenn ich mich nicht bemühte, Beweise für unsere Überzeugung +aufzutreiben, und ich hoffe noch immer, daß es mir gelingen wird, etwas +Abschließendes zu finden. Ich verfolge eine Spur, von der ich aber +schwei<span class='pagenum'><a name="Page_296" id="Page_296">[296]</a></span>gen möchte, bis ich selbst vollkommene Klarheit gewonnen habe.«</p> + +<p>Mingo betrachtete <tt>Dr.</tt> Bernburger mit unverhohlenem Abscheu. »Das +geschieht aber nicht für dich, Mama,« sagte sie in flehend befehlendem +Tone, »nicht in deinem Auftrage.«</p> + +<p>»Bitte, mische dich nicht ein,« sagte die Baronin gereizt, »verlasse uns +lieber, wenn du dich nicht beherrschen kannst! Weder du noch ich haben +ein persönliches Interesse an der Angelegenheit, sondern einzig ein +sachliches. Es kann uns nur angenehm sein, wenn die Wahrheit +festgestellt wird.«</p> + +<p>»Ja, ich habe ein persönliches Interesse,« rief Mingo leidenschaftlich +aus. »Ich weiß, daß er schuldlos ist. Allen Beweisen zum Trotz, die etwa +ausspioniert werden, ist er schuldlos und besser als wir alle.« Ihre +Stimme zitterte, die Tränen waren ihr nahe.</p> + +<p>Der Baron und Peter Hase waren gleichzeitig aufgestanden, wie um die +Kleine zu beschützen. Der Baron stellte sich neben sie und schlug einen +Spaziergang vor: man müsse bei <span class='pagenum'><a name="Page_297" id="Page_297">[297]</a></span>den immer noch kurzen Tagen die +Helligkeit benützen. <tt>Dr.</tt> Bernburger hatte das Gefühl, in Ungnade +und mit Verachtung beladen entlassen zu sein. Die Bitterkeit, die in +seinem Innern kochte, verdichtete sich mehr und mehr zum rachsüchtigen +Haß gegen Deruga, während er der Baronin gegenüber nur den inständigen +Wunsch hatte, ihr zu beweisen, daß er recht gehabt habe.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_298" id="Page_298">[298]</a></span></p> +<h2><a name="XIII" id="XIII"></a><tt>XIII.</tt></h2> + + +<p>»Wir wurden mit Deruga dadurch bekannt,« erzählte Professor Vondermühl, +»daß wir im gleichen Hause wohnten. Kurze Zeit nachdem sie eingezogen +waren, bekam meine Frau in der Nacht einen Magenkrampf, und um ihr +möglichst schnell Hilfe zu schaffen, ging ich hinauf und bat Deruga zu +kommen. Er zeigte die liebenswürdigste Bereitwilligkeit, und auch seine +Frau bot ihren Beistand an. Seit der Zeit sahen wir uns häufig und haben +in enger Freundschaft verkehrt, bis Derugas ihr Kind verloren und sich +bald hernach scheiden ließen.«</p> + +<p>»Haben Sie jemals etwas von Mißhelligkeiten zwischen den Ehegatten +bemerkt?« fragte der Vorsitzende.</p> + +<p>»Meine Frau hatte den Eindruck,« sagte der Professor, »daß sie sich zwar +liebhatten, aber nicht zueinander paßten. Deruga hatte trotz <span class='pagenum'><a name="Page_299" id="Page_299">[299]</a></span>seiner +Verträglichkeit ein unstetes, unberechenbares Temperament und hätte +straffer Leitung bedurft; seine Frau vermochte solche nicht auszuüben, +sondern war zärtlich, anschmiegsam, gleichsam eine Pflanze, die im +Schutze einer Mauer hätte wachsen sollen. Die Verschiedenheit trat wohl +nach dem Tode des Kindes, das ein Band zwischen ihnen bildete, schärfer +zutage.«</p> + +<p>»Kam es zuweilen zwischen ihnen zu heftigen Ausbrüchen?« fragte der +Vorsitzende.</p> + +<p>»Eines Abends,« erzählte der Professor, »saßen meine Frau und ich nach +dem Abendessen auf unserem kleinen Balkon, der vom Wohnzimmer nach dem +Garten hinausging. In Derugas Wohnzimmer, das über dem unsrigen lag, +mußte die Tür offenstehen, denn wir konnten ihre Stimmen hören, und wie +ihr Gespräch allmählich in einen Wortwechsel ausartete. Wir lachten +darüber, und meine Frau sagte: 'Der schreckliche Mensch, sein Teufel ist +wieder los' — was ein Ausdruck von ihr war, um gewisse Launen, denen +Deruga unterworfen war, zu bezeichnen. Sie schlug vor, wir wollten +hineingehen, um der <span class='pagenum'><a name="Page_300" id="Page_300">[300]</a></span>Frau willen den Auftritt zu unterbrechen. Ich +jedoch war dagegen, da mir eine Einmischung in solchem Augenblick +zudringlich erschien, vielleicht auch aus Bequemlichkeit oder sonst +einer egoistischen Regung. Wir waren noch in der Auseinandersetzung +darüber begriffen, als wir Frau Deruga einen unterdrückten Schrei +ausstoßen hörten, einen Schrei des Schreckens, des Schmerzes, der Angst, +wie es schien. Da sprang meine Frau auf und lief, ohne meine Zustimmung +abzuwarten, in das obere Stockwerk hinauf, so daß ich Mühe hatte, mit +ihr Schritt zu halten. Als ich atemlos oben ankam, hatte Ursula, das +Mädchen, meiner Frau schon die Tür geöffnet und begrüßte uns mit +strahlenden Augen. Sie mochte froh sein, daß ihre Herrschaft in diesem +Augenblick nicht allein blieb.</p> + +<p>Deruga empfing uns mit gewohnter Herzlichkeit, von Verlegenheit oder +Mißstimmung war ihm nichts anzumerken, außer daß er ein paar Redensarten +wiederholte wie: 'Ach, die Ehe!' 'Man sollte sich das Heiraten +gründlicher überlegen als das Aufhängen!' und dergleichen. <span class='pagenum'><a name="Page_301" id="Page_301">[301]</a></span>Meine Frau, +die sehr temperamentvoll war und keine Menschenfurcht kannte, sagte +scheltend, indem sie sich vor ihn hinstellte: 'Wir Frauen sollten +allerdings vorsichtiger sein, und zumal die Ihrige hat unüberlegt +gehandelt, als sie sich einem solchen Wüterich anvertraute. Weil Ihre +Frau allzu gut ist, darum machen Sie Radau! Sie haben einen kleinen +Teufel in sich, der Glück und Frieden nicht verträgt, sondern immer +Schwefelgestank und Höllenspektakel um sich haben muß.' Deruga nahm +solche Strafpredigten von meiner Frau gern an, weil er fühlte, daß sie +wahrer Freundschaft entsprangen, und sie ihrerseits lieh auch seinen +Rechtfertigungen Gehör, in welcher Form immer sie gegeben wurden. +Diesmal schien er seine Heftigkeit zu bereuen und sagte in +verhältnismäßig ruhigem Tone: 'Ich gebe zu, daß meine Frau lieb und +sanft ist, aber ich verwünsche, verfluche und hasse dieses Sanftsein. +Wenn sie mich liebte, wie sie sollte und könnte, würde sie mich einmal +anzischen wie eine Schlange und mir sagen, daß ich ein Scheusal wäre, +mich in Haß oder Liebe umschlingen <span class='pagenum'><a name="Page_302" id="Page_302">[302]</a></span>und erwürgen. Wenn ich eine +aussätzige alte Frau oder ein verendender Hund wäre, würde sie mich mit +derselben Liebe und Sanftheit behandeln, die mich zur Wut reizt.' Die +arme Frau sah ihn, wie ich mich gut erinnere, mit großen Augen an und +sagte in ihrer Art zornig: 'Ich sagte dir doch eben, daß du ein Scheusal +wärest,' worüber wir alle lachen mußten. Er umarmte sie und behielt ihre +Hand in der seinen, während er ihr erklärte, daß das doch nicht das +Richtige gewesen sei.«</p> + +<p>»Sie erwähnten vorhin,« unterbrach der Vorsitzende, »daß Frau Deruga +einen Schrei ausgestoßen habe. Erfuhren Sie, ob sie nur aus Angst +geschrien oder ob ihr Mann sie tätlich angegriffen hatte?«</p> + +<p>»Das kam nicht zur Sprache,« sagte der Professor. »Vermutlich hatte er +sie unsanft angepackt. Sie sah bleich und verstört aus. Als wir nach +einer Stunde aufbrechen wollten, fragte meine Frau sie, ob wir sie nun +auch mit dem Unhold allein lassen könnten. Worauf sie lachend erwiderte: +'Für heute hat der Vulkan ausgespien.' Das sagte sie laut und +unbefangen, <span class='pagenum'><a name="Page_303" id="Page_303">[303]</a></span>und auch Deruga lachte. Meine Frau konnte lange nicht +einschlafen, weil es ihr unheimlich war, doch gelang es mir, sie zu +beruhigen, indem ich ihr sagte, sie nähme die Sache zu ernst, Derugas +Liebe zu seiner Frau habe sich gerade eben deutlich gezeigt.«</p> + +<p>»Haben Sie jemals,« fragte der Vorsitzende, »klaren Aufschluß erhalten +über den Grund der Aufwallungen des Angeklagten gegen seine Frau? Oder +lag derselbe nach Ihrer Meinung nur in seinem Temperament und in der +Verschiedenheit der Gatten?«</p> + +<p>»Deruga deutete gelegentlich an,« sagte der Professor, »daß er Ursache +zur Eifersucht habe, und zwar bezog sich dieselbe auf einen Mann, zu dem +seine Frau, bevor sie Deruga heiratete, eine Zuneigung gehabt hatte, den +sie aber, weil er gebunden war, nicht hatte heiraten können. Der +Umstand, daß die alte Frau dieses Mannes starb, scheint seine Eifersucht +und seinen Argwohn so sehr gesteigert zu haben, daß ihr Leben an seiner +Seite unbehaglich wurde. Man war vielfach der Ansicht, sie habe die +Scheidung <span class='pagenum'><a name="Page_304" id="Page_304">[304]</a></span>betrieben, um jenen anderen zu heiraten, was aber die +folgenden Ereignisse nicht bestätigten, denn sie ist bekanntlich ledig +geblieben.«</p> + +<p>»Halten Sie für möglich,« fragte der Vorsitzende, »daß die Furcht vor +dem Angeklagten dabei den Ausschlag gab? Er könnte Drohungen gegen sie +und den Mann ausgestoßen haben, falls sie ihn heiratete?«</p> + +<p>»Für möglich muß ich das halten,« sagte der Professor nach einigem +Besinnen, »aber etwas Bestimmtes kann ich nicht darüber sagen. Meine +Frau würde besser unterrichtet sein, da sie sehr mit Frau Deruga +befreundet und gerade damals viel mit ihr zusammen war. Zwar pflegte sie +mir alles genau zu erzählen; aber ich habe nicht alles genau genug +behalten, um es unter solchen Umständen wiedererzählen zu können. Das +weiß ich sicher, daß Frau Deruga, nachdem sie geschieden war, sich eine +Zeitlang mit der Absicht trug, jenen Mann zu heiraten, daß sie aber +davon abstand. Der Betreffende hat sich dann anderweitig verheiratet, +soll aber unglücklich geworden sein und ist vor einigen Jahren +gestorben.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_305" id="Page_305">[305]</a></span><tt>Dr.</tt> Zeunemann bemerkte, aus den Schilderungen des Professors +scheine hervorzugehen, daß seine Frau diesen Verkehr mehr als er +gepflegt habe; ob etwa zwischen ihm und Deruga keine Sympathie bestanden +habe.</p> + +<p>»Nein, nein,« sagte der Professor, »das wäre kein zutreffender Ausdruck. +Er teilte meine wissenschaftlichen Interessen nicht, und mir ist das +Schweben und Gaukeln über den Tiefen, das Ausspielen von Hypothesen und +Paradoxen, das Phantasieren im Unmöglichen nicht gegeben. Ich war zu +schwerfällig für die oft grotesken Sprünge seines Geistes. Sie +belustigten mich wohl, aber im Grunde wußte ich nichts damit anzufangen. +So kam es, und auch weil ich sehr beschäftigt war, daß meine Frau die +Beziehungen mehr pflegte, wozu sie schon durch ihre Jugend besser paßte. +Sie war bedeutend jünger als ich und mußte doch vor mir sterben.«</p> + +<p>Ob seine Frau nach dem Wegzuge von Frau Deruga mit dieser im +Briefwechsel gestanden habe, fragte der Vorsitzende.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_306" id="Page_306">[306]</a></span>Es wären allerdings Briefe der Frau Deruga vorhanden gewesen, sagte der +Professor, er hätte sie aber nach dem Tode seiner Frau verbrannt, damit +sie nicht später Unberufenen in die Hände fielen. Er habe darin +geblättert, bevor er sie zerstört hätte, und erinnere sich einer Stelle, +wo sie geschrieben hätte, der Frieden und die Freudigkeit, die sie sich +von der Auflösung ihrer Ehe erwartet hätte, ließe noch immer auf sich +warten.</p> + +<p>»'Ich ertappe mich jetzt oft darauf,' so etwa schrieb sie, 'daß ich +anstatt wie sonst vorwärts, in die Zukunft zu blicken, stehenbleibe und +mich zurückwende. Sollte das die Besinnung des Alters sein? Ach nein, +wie konnte ich auch erwarten, daß ich jemals anderswohin sollte blicken +können als dahin, wo mein Kind war, in die Vergangenheit! Für mich gibt +es keine Zukunft auf Erden mehr.' Diese Stelle ergriff mich, weil ich +damals, nach dem Tode meiner Frau, selbst anfing, nach rückwärts, statt +nach vorwärts zu leben, und sie hat sich mir aus diesem Grunde +eingeprägt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_307" id="Page_307">[307]</a></span>Diese Briefstelle, sagte der Vorsitzende, deute nicht darauf, daß die +Verstorbene eine zweite Heirat ersehnt hätte und nur durch Furcht vor +dem Angeklagten davon zurückgehalten wäre.</p> + +<p>»Dazu möchte ich folgendes bemerken,« sagte der Professor. »Aus anderen +mündlichen oder schriftlichen Äußerungen der Verstorbenen wäre +vielleicht auf jenen Wunsch und jene Furcht zu schließen. Hätte man aber +noch so viele Beweise von Derugas damaligem Geladensein, so scheint es +mir doch fraglich, ob das mit einem so viele Jahre später begangenen +Mord in Verbindung gebracht werden könne. Es ist wahr, daß die +menschlichen Handlungen Ketten sind, deren Glieder ein Götterauge ins +Unendliche muß verfolgen können; aber ob wir Menschen uns in den +labyrinthischen Verzweigungen nicht verirren müssen?«</p> + +<p>Der Vorsitzende blickte schweigend vor sich nieder, während der +Staatsanwalt unter kritischen Grimassen den Kopf wiegte. Dann stellte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann die Schlußfrage an den Professor, ob ihm noch +andere Gründe bekannt wären, mit denen <span class='pagenum'><a name="Page_308" id="Page_308">[308]</a></span>die Scheidung der Derugas damals +erklärt worden wäre oder erklärt werden könnte.</p> + +<p>»Meine Frau wußte,« sagte der Professor, »daß Frau Deruga ihren Mann bis +zu einem gewissen Grade für den Tod ihres Kindes verantwortlich machte +und deshalb einen krankhaften Haß auf ihn warf. Es ist das so zu +verstehen, daß Deruga für Abhärtung und Rücksichtslosigkeit in der +körperlichen Erziehung des Kindes war, während seine Frau es eher +verzärtelte. Dieser Gegensatz bildete öfters Anlaß zu Streitigkeiten. +Auf die Dauer konnte die verständige Frau sich aber doch nicht dagegen +verblenden, daß Deruga das Kind, auf seine Art, ebenso wie sie geliebt +hatte und den Verlust ebenso wie sie betrauerte, und sie suchte die +ungerechte Abneigung zu überwinden, worauf auch meine Frau mit der +ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperamentes drang. Ich kann also nicht +glauben, daß diese durch den übermäßigen Schmerz zu erklärende +Gefühlsverkehrung den Entschluß zur Scheidung bewirkt habe, wenn auch +vielleicht das Verhältnis dadurch gelockert wurde.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_309" id="Page_309">[309]</a></span>Es entspann sich nun zwischen den Juristen ein Wortwechsel über den vom +Staatsanwalt gestellten Antrag, Fräulein Schwertfeger noch einmal zu +vernehmen, ob sie etwas Aufklärendes über Frau Swieters geplante und +nicht vollzogene Ehe aussagen könne. Justizrat Fein verwarf es als +zeitraubend und überflüssig, welcher Meinung sich <tt>Dr.</tt> Zeunemann +anschloß, der sagte, noch mehr Einzelheiten, wie sie auch ausfielen, +würden den Prozeß nicht weiterbringen. Für die Eigenart Derugas, die +darin bestehe, daß er sich im labilen Gleichgewicht befinde, ließen sich +vermutlich noch zahlreiche Beispiele aufbringen. Es handle sich aber +nicht hier darum, die Geschichte seiner Seele zu erforschen, sondern die +Geschichte seines Lebens vom 1. bis zum 3. Oktober festzustellen. Darauf +bezüglich habe Fräulein Schwertfeger nichts mehr zu sagen.</p> + +<p>»Ich bitte die Herren dringend,« sagte der Justizrat, »sich auf +Tatsachen zu beschränken, damit wir den Knoten nicht noch mehr +verwirren, anstatt ihn aufzulösen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_310" id="Page_310">[310]</a></span>»Was für Tatsachen?« fragte der Staatsanwalt, so plötzlich von seinem +Sitz aufschnellend, daß der Justizrat die Antwort nicht gleich bereit +hatte.</p> + +<p>»Tatsachen, die sich auf den angeblichen Mord beziehen,« entgegnete er +nach einer Pause. »Aus Mangel an Tatsachen werden Alltäglichkeiten +hervorgezerrt und aufgebauscht. Verliebte pflegen den Gegenstand ihrer +Liebe im Falle der Untreue mit dem Tode zu bedrohen, ohne daß der +Gegenstand selbst oder jemand anders darauf Gewicht legt. Dergleichen +hat nicht mehr Bedeutung als die Schwüre der Liebe.«</p> + +<p>»Es kommt darauf an, was nachfolgt,« sagte der Staatsanwalt. »Übrigens +wären uns allen Tatsachen auf der Handfläche lieber; da der Angeklagte, +der es könnte, sie uns aber nicht liefert, so bleibt uns nichts übrig, +als den Grund zu untersuchen, aus dem die Handlungen wachsen, nämlich +das menschliche Gemüt.«</p> + +<p>»Der Angeklagte lieferte sie uns nicht?« begann der Justizrat. Allein +<tt>Dr.</tt> Zeunemann <span class='pagenum'><a name="Page_311" id="Page_311">[311]</a></span>bat, den fruchtlosen Streit zu beenden, und +forderte Fräulein Schwertfeger auf, dem erhobenen Wunsche genug zu tun +und noch einige wenige Fragen zu beantworten.</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger, die blasser und elender aussah als am ersten +Tage, ließ das unsichtbare Visier über ihr Gesicht herab und fragte, +indem sie zögernd vortrat, ob sie dazu verpflichtet sei, durchaus +private Angelegenheiten hier an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie könne +sich das nicht denken.</p> + +<p>»Im Staate ist das Private durchgehend mit dem Öffentlichen verknüpft,« +sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann sanft belehrend. »Nur soweit die +Öffentlichkeit Interesse daran hat, bitte ich Sie noch um einige +Aufschlüsse über die Verhältnisse Ihrer verstorbenen Freundin. Frau +Swieter hatte vor ihrer Heirat mit dem Angeklagten freundschaftliche +Beziehungen zu einem Manne, die sie abbrach, da sie zu einer Ehe nicht +führen konnten, und die vermutlich, solange die Ehe mit dem Angeklagten +bestand, nicht wieder angeknüpft wurden.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_312" id="Page_312">[312]</a></span>»Natürlich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger hochmütig. »Sie sahen +sich erst wieder, als Frau Swieter hierher übersiedelte.«</p> + +<p>»Dabei lebte die beiderseitige Neigung auf, und die Wiedervereinigten +beschlossen, sich zu heiraten. Ist es nicht so?« fragte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann.</p> + +<p>»Ja,« antwortete das Fräulein trocken.</p> + +<p>»Was war die Ursache, daß dieser Beschluß nicht ausgeführt wurde?« +fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann weiter. »Es ist unmöglich, daß Sie, als +nächste Freundin der Verstorbenen, nicht davon unterrichtet sein +sollten.«</p> + +<p>»Es lag nicht in der Natur meiner Freundin, sich bis aufs letzte +auszusprechen,« sagte Fräulein Schwertfeger, »und es liegt nicht in +meiner, Verschwiegenes zu erpressen. Meine Freundin war damals sehr +aufgeregt und äußerte sich ungleich. Einmal sagte sie mir unter Tränen, +ihre alte Liebe sei so stark wie je, wolle sie sich aber an die Brust +des Geliebten werfen, so stehe ihr Mann, das Kind an der Hand +dazwischen, und dieser Schatten ihrer Einbildung sei undurchdringlicher +als eine Mauer.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_313" id="Page_313">[313]</a></span>»Haben Sie das so aufgefaßt,« fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »als fürchte +sie sich vor ihres Mannes Rache, oder als dränge sich die Erinnerung +zwischen sie und ein neues Glück?«</p> + +<p>»Ich habe es damals so aufgefaßt,« lautete die Antwort, »als sei +<tt>Dr.</tt> Deruga schuld daran, daß meine Freundin den Mann nicht +heiratete, den sie liebte. Es tat mir sehr, sehr leid, daß diese Heirat +nicht zustande kam. Ich kannte diesen Mann viel besser als <tt>Dr.</tt> +Deruga und hatte viel mehr Sympathie für ihn, schon deshalb, weil ich +glaubte, meine Freundin würde es gut bei ihm haben.«</p> + +<p>»Wenn Sie jenen Herrn gut kannten,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »so +haben Sie vielleicht mit ihm darüber gesprochen und wissen, wie er es +auffaßte?«</p> + +<p>»Er faßte es so auf,« sagte Fräulein Schwertfeger mit sehr bösem +Gesicht, »als fürchte Frau Swieter, Deruga würde ihn töten, wenn er sie +heiratete. Es ist unmöglich, daß sie ihm das gesagt hat, weil ihn das +weniger traurig machen mußte, als wenn er gewußt hätte, welchen <span class='pagenum'><a name="Page_314" id="Page_314">[314]</a></span>Anteil +Deruga an ihrem Gemütsleben hatte. Es kann auch sein, daß er das glauben +wollte, weil es seinen Stolz am wenigsten verletzte. Er war stolz und +herrschsüchtig.«</p> + +<p>»Wenn Ihre Freundin ihn so sehr liebte,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »so +muß ein starkes Motiv sie abgehalten haben, ihn zu heiraten.«</p> + +<p>»Natürlich,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie hat damals auch sehr +gelitten. Sie überwand es aber verhältnismäßig bald und sagte später +stets, sie glaube, richtig gehandelt zu haben.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_315" id="Page_315">[315]</a></span></p> +<h2><a name="XIV" id="XIV"></a><tt>XIV.</tt></h2> + + +<p>Es war Abend, als <tt>Dr.</tt> Bernburger müde in seine Wohnung kam. Er +warf sich auf den schäbigen Diwan, den er alt gekauft hatte, und sah +sich fröstelnd nach irgend etwas um, womit er sich zudecken könnte. +Drinnen war es kälter als draußen, aber abgesehen davon, daß er aus +Sparsamkeit am Abend womöglich nicht mehr einheizte, fühlte er sich auch +zu erschöpft und unlustig dazu. Mißvergnügt sah er sich in dem kahlen, +an ein Zimmer in einem Hotel zweiten Ranges erinnernden Raum um und +dachte darüber nach, woher und wozu er diesen Hang nach einer schönen, +behaglichen Umgebung habe, den er vielleicht nie würde befriedigen +können. Um seiner Verstimmung zu entrinnen und sich zu erwärmen, +beschloß er, in ein Café zu gehen. Da fand er vor der Glastür, die seine +Wohnung abschloß, eine kleine, <span class='pagenum'><a name="Page_316" id="Page_316">[316]</a></span>verhutzelte Frau stehen, die schon eine +Weile nach der Klingel gesucht hatte und ihn fragte, ob hier ein Herr +Rechtsanwalt wohne. Der sei er, sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger; aber jetzt +werde nicht mehr gearbeitet, sie solle am folgenden Tage in seine +Sprechstunde kommen. Die kleine Frau setzte auseinander, daß sie das +nicht könne, weil sie tagsüber bei den Herrschaften sei, um zu waschen; +ihr Mann habe sie ja verlassen, und sie müsse die Kinder allein +durchbringen. Sie komme auch jetzt von der Arbeit, und zwar komme sie, +weil der Herr Tönepöhl vom Vorderen Anger sie geschickt habe.</p> + +<p>Bei der Nennung dieses Namens durchfuhr den Anwalt ein Gedanke, der ihm +das Blut ins Gesicht trieb und ihn bewog, mit der kleinen Frau in sein +Zimmer zurückzukehren. Während er Licht machte, bat er sie, sich zu +setzen und zu erzählen, was sie herführe, und da sie, als er damit +fertig war, noch immer bescheiden an der Tür stand, nötigte er sie +selbst auf einen Stuhl und nahm ihr den großen Deckelkorb ab, den sie in +der Hand trug. Sie lächelte verlegen und dankbar und begann ihre +Erzählung:</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_317" id="Page_317">[317]</a></span>Vorgestern sei sie zu Herrn Tönepöhl, dem Tändler im Vorderen Anger, +gekommen, um ein Paar Schuhe für ihren Ältesten zu kaufen, und da habe +ihr ein Paar besonders gut gefallen, weil es ungefähr die rechte Größe +gehabt hätte; aber es sei zu teuer gewesen. Da habe sie zu Herrn +Tönepöhl gesagt, sie habe einen Arbeitskittel von ihrem seligen +Mann — sie sage nämlich immer 'ihr seliger Mann', seit er auf und davon +gegangen sei — der sähe wie neu aus, ob er den nicht dagegen annehmen +wolle. Herr Tönepöhl habe barsch gesagt, wie er überhaupt sehr +hochfahrend gegen die armen Leute sei, für solches Lumpenzeug habe er +keine Kunden. Da habe seine Frau, die in einem alten Koffer gekramt +habe, dazwischen geschrien, er solle nicht ein solcher Tölpel sein, der +Herr Rechtsanwalt habe ihm doch viel Geld für einen alten Kittel +versprochen, und er, der Mann, habe dem Herrn Rechtsanwalt fest +zugesagt, sich danach umzusehen, und nun sähe man, was für ein +Windbeutel er sei. Darauf habe Herr Tönepöhl seinerseits geschimpft, sie +sei dümmer als ein Hering. <span class='pagenum'><a name="Page_318" id="Page_318">[318]</a></span>Der Herr Rechtsanwalt würde ihm den Kittel +an den Kopf werfen, denn er wolle einen, der auf der Straße gefunden +sei. Nun sei nämlich der alte Anzug, den sie gemeint habe, gar nicht von +ihrem seligen Manne gewesen, sondern sie habe ihn gefunden, aber wegen +der Grobheit des Herrn Tönepöhl habe sie sich nicht getraut, das zu +sagen, damit er nicht eine große Angelegenheit daraus mache und +behaupte, sie habe ihn gestohlen.</p> + +<p>Sie sei also fortgegangen, habe aber an der Türe noch mit Frau Tönepöhl +geschwatzt und sie gefragt, was für ein Herr Rechtsanwalt das sei, und +sie habe ihr alles erzählt und auch, daß es sich um einen großen Prozeß +handle, und daß man ein gutes Stück Geld verdienen könnte, wenn man den +rechten Anzug brächte. Darauf habe sie gedacht, sie wolle den Kittel in +Gottes Namen dem Herrn Rechtsanwalt bringen, er werde ihr ja nichts +Böses antun und sie ins Unglück stürzen, wo sie ja nur komme, weil ihm +so viel daran gelegen sei.</p> + +<p>Nun freilich, sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, er sei ihr sehr dankbar, und +ob er den Anzug brauchen <span class='pagenum'><a name="Page_319" id="Page_319">[319]</a></span>könne oder nicht, er wolle sie für die Mühe +entschädigen. Sie sei eine brave, kleine Frau und solle recht gründlich +erzählen, wie sie zu diesem Kittel gekommen sei.</p> + +<p>Es sei der 3. Oktober gewesen, erzählte die Frau. Sie erinnere sich +deswegen so gut daran, weil sie an dem Tage schon vor fünf Uhr aus dem +Hause gegangen sei. Die Frau Kommerzienrat Steinhäger habe sie nämlich +ersucht, eine Stunde früher zu kommen und eine oder zwei Stunden länger +zu bleiben, damit sie womöglich an einem Tage mit der Wäsche fertig +würde; es habe sich ein auswärtiger Besuch auf den folgenden Tag bei ihr +angemeldet, und das passe so schlecht, wenn Wäsche sei. Weil nun die +Frau Kommerzienrat sonst eine gute Frau wäre, habe sie es ihr zugesagt, +und so sei sie denn schon vor fünf Uhr durch die Bahnhofsanlagen +gekommen, als noch kein Mensch unterwegs gewesen sei. Ein starker Wind +habe geweht, so daß die hohen Bäume sich gebogen hätten, und die dürren +Blätter wären ihr wie Fledermäuse um den Kopf geflogen.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_320" id="Page_320">[320]</a></span>Auf der Brücke habe sie einen Augenblick stillstehen müssen, so habe +der Wind gegen sie angeblasen, und da habe sie etwa hundert Schritt +weiter am Ufer etwas Schwarzes gesehen. Zuerst habe sie gemeint, es sei +ein Kind oder ein Hund, weil es scheinbar Arme oder Beine ausgestreckt +hätte, und sie sei schnell hingelaufen, anstatt dessen sei es ein mit +Bindfaden umschnürter Anzug gewesen. Offenbar sei er in Papier +eingewickelt gewesen, das habe aber das Wasser größtenteils aufgelöst +und weggerissen. Sie habe den Anzug losgemacht und ausgerungen und +beschlossen, ihn mitzunehmen. Denn der, dem er gehört habe, müsse ihn +doch weggeworfen haben, also sei es kein Unrecht, und vielleicht könne +ihr seliger Mann ihn gebrauchen, wenn er etwa einmal wiederkäme, oder +sonst ihr Ältester, wenn er erwachsen sei. Ob der Herr Rechtsanwalt +meine, daß sie unrecht getan hätte?</p> + +<p>Sie betrachtete ihn ängstlich gespannt aus ihren braunen Augen, die wie +zwei kleine, fleißige Nachtlämpchen aus dem verschrumpften Gesicht +herausleuchteten.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_321" id="Page_321">[321]</a></span>Aber nein, sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, da könne mancher reiche und +angesehene Mann froh sein, wenn er nicht mehr als das auf dem Gewissen +hätte. Das sei ja herrenloses Gut gewesen. Sie habe recht getan, sie sei +ein wackeres Frauchen. Gewiß habe sie den Kittel in ihrem Henkelkorbe?</p> + +<p>Ja, sagte die kleine Frau erleichtert, sie habe ihn gleich mitgebracht, +um nicht noch einmal kommen zu müssen. Denn es sei ein großer Umweg für +sie, und ihre Kinder pflegten sie abends ungeduldig zu erwarten.</p> + +<p>Sie nahm ein Paket aus dem Korb, und <tt>Dr.</tt> Bernburger faltete den +Anzug auseinander.</p> + +<p>»Wissen Sie,« sagte er, »ich kaufe Ihnen den Anzug ab, ob es nun der +rechte ist oder nicht. Sind Sie zufrieden, wenn ich Ihnen vorderhand +zehn Mark gebe? Sie sollen aber noch mehr bekommen, wenn es sich +herausstellt, daß es der ist, den ich suche.«</p> + +<p>Die kleine Frau wurde rot vor schreckhafter Freude. Nun könne sie ihrem +Ältesten die schönen Schuhe kaufen, sagte sie.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_322" id="Page_322">[322]</a></span>Aber sie solle Herrn Tönepöhl nichts von dem Geschäft sagen, das sie +miteinander gemacht hätten, rief <tt>Dr.</tt> Bernburger ihr die Treppe +herunter nach. Der brauche nichts davon zu wissen.</p> + +<p>Heiß, fast blind vor Triumph trat <tt>Dr.</tt> Bernburger in das Zimmer +zurück, dessen Kälte und Leere er nicht mehr fühlte. Sein Gedankengang +war also richtig gewesen! Einmal kreuzte doch der Weg des Glückes den +seines Verstandes. Wie würden sie staunen, wenn er ihnen das Rätsel +löste und zugleich das Beweisstück vorlegte! Würde man angesichts dessen +noch zweifeln können? Vielleicht war irgendein Abzeichen an dem Anzuge, +welches die Ermittlung des Geschäftes, wo er gekauft war, erlaubte. Eine +genaue Untersuchung des Anzuges ergab nichts Derartiges, dagegen war +deutlich zu erkennen, daß ein neues gutes Stück vorlag, dem durch +absichtlich eingesetzte Flicken der Schein eines dürftigen, oft +getragenen Arbeitergewandes zu geben versucht worden war.</p> + +<p>Indem <tt>Dr.</tt> Bernburger den Rock hin und her wendete, entdeckte er +eine zugeknöpfte Seiten<span class='pagenum'><a name="Page_323" id="Page_323">[323]</a></span>tasche, öffnete sie, griff hinein und zog einen +Briefumschlag heraus, der eine von der Nässe verwischte, aber lesbare +Aufschrift trug. Er las: »Herrn <tt>Dr.</tt> S.E. Deruga,« dann die Stadt +und die Straße.</p> + +<p>Trotzdem dieser Brief ihm nur bestätigte, was er erwartet hatte, war er +nicht nur überrascht, sondern fast erschrocken. Versteinert starrte er +auf den Brief, der da lag wie die Gaukelei erregter Einbildungskraft und +doch Wirklichkeit war, der Zauberschlüssel, der ihm die Pforte zu +Ansehen und Reichtum öffnen würde. Daß der Umschlag einen Brief +enthielt, hatte er gefühlt, aber noch zögerte er ihn herauszunehmen und +zu lesen. Ihm selbst zum Ärger klopfte ihm das Herz. Wozu die Aufregung? +Er zwang sich, die peinliche Spannung zu beendigen, indem er las. Der +Brief lautete:</p> + +<div class="blockquot"><p>»Dodo, lieber Dodo, ich bin todkrank und muß sterben, +aber vorher muß ich schrecklich leiden und habe +niemand, der mir hilft. Du bist der einzige, der mich +lieb genug hat, um mich zu töten. Komm und befreie +Deine <span class='pagenum'><a name="Page_324" id="Page_324">[324]</a></span>arme Marmotte, von der Du weißt, wie sie sich +vor Schmerzen fürchtet. Dies ist das erste Wort, das +ich nach siebzehn Jahren an Dich richte, und es ist +eine Bitte. Ach, Dodo, an kein anderes Herz als an +Deines würde ich eine solche Bitte zu richten wagen. +Komme bald, Du wirst wissen, wie es geschehen kann. Daß +ich Dir geschrieben habe, wird kein Mensch erfahren.</p> + +<p>Deine Marmotte.«</p></div> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger las und las wieder. Es war ihm ernüchtert und +ermüdet zumute. War dieser Brief vielleicht eine List, ein nachträglich +angefertigtes Machwerk, das Deruga oder seine Freunde ihm in die Hände +gespielt hatten? Nachdem er ihn sorgfältig untersucht und eingesehen +hatte, daß ein Betrug ausgeschlossen war, schob er ihn in den Umschlag +und steckte ihn in seine Brusttasche. Dann nahm er Hut und Mantel, um +ins Café zu gehen. Als er nur wenige Schritte von dem Restaurant +entfernt war, wo er zu Abend zu essen pflegte, kehrte er um und suchte +ein anderes Lokal auf, um nicht von Bekannten angesprochen zu werden; +<span class='pagenum'><a name="Page_325" id="Page_325">[325]</a></span>er hatte das Bewußtsein zerstreut zu sein und wollte nicht auffallen.</p> + +<p>Während er aß, mußte er denken, daß ihn nichts abhielte, den Brief in +den kleinen eisernen Ofen zu werfen, der ein paar Schritt von ihm +brannte. In einem Nu würden die hastigen Flammen das verhängnisvolle +Zeugnis vernichtet haben. Er hatte nicht die Absicht es zu tun, aber die +Vorstellung war so lebhaft in ihm, daß ihm angst wurde, er müsse es +dennoch, wie man unter dem Eindruck des Schwindels wohl fürchtet, man +würde sich wider Willen von einer Höhe in den Abgrund werfen.</p> + +<p>Wie dumm, dachte er, daß er der alten Frau, durch die er in eine so +peinliche Lage versetzt war, zehn Mark gegeben hatte! Würde er es über +sich bringen, von dem Mantel Gebrauch zu machen und den Brief zu +verschweigen? Wenn er es tat, so war er der Bewunderung und Dankbarkeit +der Baronin sicher. Welche Genugtuung würde es ihm geben, sie von seinem +Scharfsinn, von der Richtigkeit seiner Auffassung, die er von Anfang an +gehabt hatte, zu überzeugen! Was <span class='pagenum'><a name="Page_326" id="Page_326">[326]</a></span>würde sie dagegen sagen, wenn er ihr +den Brief zeigte: »Sie versprachen mir, Deruga als Verbrecher zu +entlarven, und sie verschaffen ihm einen Heiligenschein! Sie verstehen +es, Wort zu halten!« Wahrscheinlich würde sie ihm verbieten, von dem +Brief Gebrauch zu machen; und das war schließlich für ihn die +glücklichste Lösung, indem sie ihm zur Pflicht machte, was er aus +eigener Verantwortung ungern getan hätte. Und wie würde Deruga sich +verhalten? <tt>Dr.</tt> Bernburger begriff nicht, warum er den wahren +Hergang verschwiegen hatte. Sollte er auch seinem Anwalt nichts davon +gesagt haben?</p> + +<p>Plötzlich überkam ihn der Wunsch, in die Anlagen zu gehen und die Stelle +aufzusuchen, wo die Waschfrau den Anzug gefunden haben wollte; in der +Restauration mochte er ohnehin nicht bleiben, und schlafen hätte er +ebensowenig können. Er hatte fast eine Stunde zu gehen, bis er an die +Brücke kam, die über den Kanal führte. Der Schnee, der in der letzten +Nacht gefallen war, hatte sich aufgelöst und in Schmutz <span class='pagenum'><a name="Page_327" id="Page_327">[327]</a></span>verwandelt, und +er hörte in der Dunkelheit die Nässe unter seinen Füßen klatschen. Die +hölzerne Brücke war schlüpfrig, und das Wasser stand sehr hoch; schwarz +und heimlich-hastig floß es unter ihm fort. Nach einer Weile unterschied +er etwas weiter unten die wild sich bäumenden Wurzeln einer alten Ulme, +die das Ufer umklammerte; dort mochte das Bündel Kleider, das der Fluß +trieb, sich festgehängt haben.</p> + +<p>Lange starrte der späte Wanderer auf die Stelle und ging dann weiter, +bis er nach einigen Schritten vor einer halbkreisförmigen Steinbank +stand, von der aus man in der schönen Jahreszeit einen angenehmen Blick +auf die Wiesen hatte, die sich weithin zwischen dunklen Gebüschen +erstreckten. Vielleicht, dachte er, hatte in der stürmischen +Oktobernacht Deruga dort gesessen und, nachdem er sich umgekleidet, die +Stunde erwartet, wo der Zug abging, mit dem er heimfahren wollte. +Vielleicht war er sehr bewegt und zugleich sehr erschöpft gewesen und +hatte hier ausgeruht, wo niemand ihn beobachtete. Unwillkürlich +durchwatete auch <tt>Dr.</tt> <span class='pagenum'><a name="Page_328" id="Page_328">[328]</a></span>Bernburger die aufgeweichte Erde und setzte +sich auf die steinerne Bank, ohne zu beachten, wie naß sie war. Was +mochte Deruga gefühlt und gedacht haben, nachdem er die Frau, die er +einst geliebt und gehaßt hatte, wiedergesehen und für immer verlassen +hatte? Was für Erinnerungen mochten ihn zusammen mit den raschelnden +Blättern umschwirrt haben?</p> + +<p>Indes er so sann, troff es kalt auf ihn herunter, und plötzlich überlief +ihn ein Schauer, und er stand auf und ging schnell, ohne sich umzusehen, +der Stadt zu.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_329" id="Page_329">[329]</a></span></p> +<h2><a name="XV" id="XV"></a><tt>XV.</tt></h2> + + +<p>Am anderen Morgen fühlte <tt>Dr.</tt> Bernburger sich so abgespannt, daß +es ihm erlaubt schien, sich als krank zu entschuldigen, und nachdem er +das telephonisch besorgt hatte, legte er sich wieder zu Bett in der +Hoffnung, noch einmal einschlafen zu können.</p> + +<p>Das Klingeln des Telephons weckte ihn, und mit einem lebhaften Gefühl +des Überdrusses beschloß er zu tun, als gehe es ihn nichts an. Aber als +es von neuem begann, stand er mit einem Seufzer auf, um zu hören, was es +gebe. Er erkannte sofort die Stimme der Baronin, der der Apparat eine +schrille Färbung gab.</p> + +<p>»Sie sind krank?« sagte sie. Das sei allerdings im höchsten Grade +ungeschickt. Sie sei im Begriff abzureisen, und es sei darum gerade +jetzt notwendig, daß er persönlich am Platze sei.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_330" id="Page_330">[330]</a></span>Er sei nicht zum Vergnügen krank, antwortete Bernburger. Die Krankheit +sei wohl nicht so arg, sagte die Baronin, daß er nicht auf eine +Viertelstunde ins Hotel kommen könne. Sie müsse ihn durchaus vor der +Abreise sprechen.</p> + +<p>Er bedauere, antwortete Bernburger, er läge zu Bett.</p> + +<p>»Aber Herr Doktor, Sie sind ja am Telephon,« sagte die Baronin mit dem +Lachen, von dem er wußte, wie verführerisch es klang, wenn es ihr darauf +ankam.</p> + +<p>»So komme ich in Gottes Namen,« rief er ärgerlich auf sich und sie.</p> + +<p>»Das ist recht, Doktor,« antwortete ihre Stimme, »Sie können sich ja +einen Wagen nehmen.«</p> + +<p>»Sie sehen gar nicht krank aus, Doktor,« so empfing ihn die Baronin. +»Mein Mann und ich haben uns plötzlich entschlossen nach Paris zu +reisen,« fuhr sie fort, »da mich der schreckliche Prozeß, wie ich Ihnen +schon sagte, so sehr angegriffen hat.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_331" id="Page_331">[331]</a></span>»Die Stellungnahme Ihres Fräuleins Tochter,« sagte <tt>Dr.</tt> +Bernburger mit absichtlicher Dreistigkeit, »muß sehr erschwerend für Sie +sein.«</p> + +<p>Die Baronin errötete. »Sie wissen,« sagte sie, »daß ich meine Handlungen +durch das Urteil der Jugend nicht beeinflussen lasse. Meine Tochter wird +uns begleiten.«</p> + +<p>»Sie sind um den Aufenthaltswechsel sehr zu beneiden,« sagte <tt>Dr.</tt> +Bernburger.</p> + +<p>»Ja, der Frühling ist in Deutschland unerträglich,« sagte die Baronin. +»Vielleicht wird er gerade deshalb von deutschen Dichtern so besonders +viel besungen; man rühmt ja das, was man nicht kennt.«</p> + +<p>»Sich niemals kennenzulernen wäre also das Geheimnis der glücklichen +Ehe,« erwiderte <tt>Dr.</tt> Bernburger und setzte, sich selbst +verweisend, hinzu: »Aber ich sehe, meine Schwäche macht mich zerstreut +und geschwätzig. Was wünschen Frau Baronin mir zu sagen?«</p> + +<p>»Ich wollte Ihnen den Prozeß auf Herz und Gewissen legen,« sagte sie. +»Als wir uns das letztemal sahen, war ich schwankend ge<span class='pagenum'><a name="Page_332" id="Page_332">[332]</a></span>worden; eine +Folge meiner Unklugheit, persönlich anwesend zu sein, wie ich jetzt +eingesehen habe. Die vielen Einzelheiten, die wechselnden Aussagen, alle +die starken Eindrücke machen einen nervös, wenn man nicht daran gewöhnt +ist. Ich will nun, ohne mich persönlich darum zu kümmern, dem Prozeß +seinen Lauf lassen und das Ergebnis erwarten. Daß es gerecht ausfällt, +dafür sind die Anwälte und Richter da.«</p> + +<p>»Jawohl,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.</p> + +<p>»Ich kann mich doch auf Sie verlassen?« fragte sie. »Ihre Krankheit wird +doch nicht lange dauern? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir +zuweilen Bericht erstatten wollten. Sie sagten das letztemal, daß Sie +eine entscheidende Entdeckung zu machen hofften.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger hatte die Baronin starr angesehen und fuhr bei +ihren letzten Worten zusammen. »Leider,« stieß er etwas gewaltsam +hervor, »muß ich Ihnen mitteilen, daß ich mich gezwungen sehe, die +Vertretung Ihrer Angelegenheit niederzulegen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_333" id="Page_333">[333]</a></span>Die erste Regung der Baronin bei diesen unerwarteten Worten war +gekränkte Entrüstung, die sie so stark erfüllte, daß sie kaum Fassung +gewinnen konnte, sich zu äußern.</p> + +<p>»Das ist unerhört, das ist unmöglich,« rief sie endlich aus, während ein +kalter, stechender Ausdruck in ihre grauen Augen trat. »Sie wollen sich +aus der Verlegenheit zurückziehen, in die Sie mich verwickelt haben. +Aber ich entlasse Sie nicht. Und diese Krankheit haben Sie nur +vorgeschützt, ich durchschaue es gleich. Es ist der erste Schritt, uns, +mich ehrlos im Stiche zu lassen.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Bernburger wurde bleich, aber er blieb bei wachsender +Entschlossenheit ruhig. »Ich fühle mich in der Tat krank,« sagte er, +»und der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Es ist um Ihretwillen, daß ich +zurücktreten will.«</p> + +<p>»Ich danke für Ihr rücksichtsvolles Opfer,« sagte die Baronin spöttisch. +»Aber ich nehme es nicht an. Ich vertraue Ihnen trotz Ihrer Krankheit.«</p> + +<p>Inzwischen hatte die aufgeregte und scharfe Stimme ihrer Mutter Mingos +Aufmerksamkeit <span class='pagenum'><a name="Page_334" id="Page_334">[334]</a></span>erregt, die sich im Nebenzimmer befand. Sie trat ein und +betrachtete die Streitenden mit verwundert fragenden Blicken. Ohne daß +er sich dessen bewußt wurde, flößte ihre Anwesenheit dem jungen +Rechtsanwalt Mut ein.</p> + +<p>»Wenn ich Ihnen den Namen und die Art meiner Krankheit nenne, Frau +Baronin,« sagte er, »werden Sie mich besser begreifen. Sie besteht +darin, daß ich anderer Überzeugung geworden bin.«</p> + +<p>»So plötzlich?« fragte die Baronin. »Noch vor zwei oder drei Tagen +sprachen Sie sich ganz anders aus.«</p> + +<p>»Es kommt vor, daß einem die Augen ganz plötzlich geöffnet werden,« +sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.</p> + +<p>Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Mingo seine heiße, feuchte Hand +ergriff, deren Berührung sie sonst vermieden hatte, und ausrief: »O, +Herr Doktor, sagen Sie uns alles! Ich danke Ihnen, Mama freut sich +ebenso wie ich, wenn Sie es auch nicht gleich zugibt! Wie gut von Ihnen, +daß Sie Ihren Irrtum eingestehen!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_335" id="Page_335">[335]</a></span>Sie hielt seine Hand noch immer mit leidenschaftlichem Druck fest, und +ihre Augen standen voll Tränen, während ihre Lippen zitterten. Auch in +dem Gesicht der Baronin lösten sich die gespannten Mienen, obwohl sie +Zurückhaltung und Überlegenheit zu bewahren suchte.</p> + +<p>»Seien Sie aufrichtig gegen mich, Herr Doktor,« sagte sie mit gemäßigter +Strenge. »Das wenigstens darf ich von Ihnen verlangen. Beruht Ihre +Sinnesänderung auf psychischen Eindrücken oder auf neuen Tatsachen, die +Sie erfahren haben?«</p> + +<p>Erst jetzt forderte sie ihn durch eine Handbewegung auf, sich zu setzen, +und da er einen Stuhl nehmen wollte, bot sie ihm mit lächelnder +Anspielung auf seine Krankheit einen Sessel an. »Auch ein Glas Wein +müssen Sie trinken,« fügte sie hinzu, indem sie Mingo durch einen Blick +bedeutete zu klingeln. »Sie sehen wirklich angegriffen aus. Ich glaube, +ich war vorhin zu hart gegen Sie, aber Sie haben es selbst durch Ihre +Unaufrichtigkeit und vor allem durch <span class='pagenum'><a name="Page_336" id="Page_336">[336]</a></span>Ihre Zweifel verschuldet. Ich +glaube, wenn Sie die schlechte Meinung in Rechnung ziehen, die Sie von +mir hatten, bin ich Ihnen nichts mehr schuldig.«</p> + +<p>Als <tt>Dr.</tt> Bernburger seine Erzählung beendet hatte, war Mingos +blasses Gesicht von Tränen überströmt, die zu verbergen sie keinen +Versuch machte; zu sprechen war sie nicht imstande. Ihrer Mutter war es +nicht anzusehen, daß sie bewegt war.</p> + +<p>»Erklären Sie mir nun, Herr Doktor, in welcher Weise sich durch Ihren +Fund die Lage verändert hat,« sagte sie. »Was werden die Folgen sein?«</p> + +<p>»Die Lage hat sich nur verändert, wenn Sie wollen,« sagte <tt>Dr.</tt> +Bernburger. »Wenn Sie es verlangen, habe ich die Pflicht, meinen Fund zu +verschweigen.«</p> + +<p>»Das kommt natürlich nicht in Frage,« rief die Baronin schnell aus. »Ich +habe nie etwas anderes gewollt, als daß ein Verbrechen gesühnt würde. +Was Herr Deruga getan hat, halte ich eher für eine großmütige Tat. Ich +weiß aber nicht, wie die Justiz sich dazu stellt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_337" id="Page_337">[337]</a></span>»Durch den Brief,« erklärte der Anwalt, »ist einwandfrei festgestellt, +daß <tt>Dr.</tt> Deruga seine geschiedene Frau auf ihre Bitte getötet hat, +und seine Tat fällt demnach unter eine Rubrik, die 'Tötung auf +Verlangen' betitelt ist. Vermutlich wird er zu einigen Jahren Gefängnis +verurteilt. Wird er aber auch freigesprochen, so haben Sie, Frau +Baronin, mit einem Versuch, ihm die Erbschaft streitig zu machen, doch +kaum noch Aussicht auf Erfolg.«</p> + +<p>Ein schnelles, tiefes Rot flog über das Gesicht der Baronin. »Davon ist +nicht mehr die Rede,« sagte sie mit einer abwehrenden Handbewegung. +»Jetzt begreife ich die Verfügung meiner verstorbenen Kusine vollkommen. +Alles, was ich getan habe, ging aus vollkommener Verkennung der +Verhältnisse hervor. Ihrem Eifer, lieber Herr Doktor, habe ich es zu +verdanken, daß ich noch rechtzeitig meinen Irrtum einsehen konnte.« Sie +reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen führte.</p> + +<p>Mingo vermochte immer noch nicht zu sprechen. Erst als <tt>Dr.</tt> +Bernburger fortgegangen war, rief <span class='pagenum'><a name="Page_338" id="Page_338">[338]</a></span>sie, indem sie ihrer Mutter um den +Hals fiel: »Was für ein guter Mensch, dieser unscheinbare Bernburger! +Wie unrecht habe ich ihm getan! Und was für schöne traurige Augen hat er +hinter der Brille!«</p> + +<p>Die Baronin küßte Mingo auf die Stirn und sagte: »Süßliche Augen, gut, +daß die Brille davor ist.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_339" id="Page_339">[339]</a></span></p> +<h2><a name="XVI" id="XVI"></a><tt>XVI.</tt></h2> + + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann eröffnete die nächste Sitzung durch eine +überraschende Mitteilung: <tt>Dr.</tt> Bernburger, der von der Baronin +Truschkowitz mit Nachforschungen über den Tod ihrer Kusine betraut +gewesen sei, habe einige Tatsachen gesammelt, die geeignet wären, dem +Prozeß eine andere Wendung zu geben. Nachdem er die Genehmigung der +Baronin erhalten habe, bitte er dieselben dem Gericht vorlegen zu +dürfen.</p> + +<p>Das unvorhergesehene Ereignis schreckte selbst Deruga aus seiner bisher +beobachteten schläfrigen Haltung. Unwillkürlich spannten seine Muskeln +sich wie zu einem Kampfe, als <tt>Dr.</tt> Bernburger vortrat, von dem er +sich eines tückischen Angriffs aus dem Hinterhalt versah.</p> + +<p>»Meine Herren Richter und Geschworenen,« begann <tt>Dr.</tt> Bernburger, +»ich habe einen wich<span class='pagenum'><a name="Page_340" id="Page_340">[340]</a></span>tigen Fund gemacht, den ich Ihnen keine Stunde +vorenthalten zu sollen glaube, da er den dunklen Fall, der Sie +beschäftigt, mit einem Schlage ins klare Licht setzt. Meine Herren, ich +ging von der Überzeugung aus, daß Deruga den Mord an Frau Swieter +begangen haben müsse, weil er erstens der einzige war, der ein Interesse +an ihrem Tode hatte, und zweitens der einzige, dessen Schicksal mit dem +ihrigen eng und in tragischster Weise verflochten gewesen war; sodann, +weil es mir schien, daß ohne den Willen der Frau Swieter oder ihres +Dienstmädchens oder beider niemand ihre Wohnung hätte betreten können. +Diese meine Ansicht wurde durch die Zeugenaussagen bestärkt und darin +verändert, daß ich von Frau Swieters Dienstmädchen absah und sie allein +für diejenige ansah, die den Mörder eingelassen hatte.</p> + +<p>Ich stellte mir den Vorgang so vor, daß entweder Frau Swieter ihren +geschiedenen Gatten zu sich gerufen habe, um von ihm Abschied zu nehmen, +oder aber, was ich für wahrscheinlicher hielt, daß er sie aufgesucht +habe, um Geld von ihr <span class='pagenum'><a name="Page_341" id="Page_341">[341]</a></span>zu erbitten; und daß irgendeine unvorhergesehene +Wendung des Gesprächs ihn zum Mörder gemacht habe. In beiden Fällen ließ +sich das durch die besonderen Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden +hatten, sowie durch Derugas unbezähmbares Temperament erklären. Ich nahm +an, daß er sich angemeldet oder sich durch irgendein ihnen beiden aus +früherer Zeit bekanntes Zeichen bemerkbar gemacht habe. Er brauchte ja +nur unter ihrem Fenster ihren Namen zu rufen, eine Melodie zu singen +oder zu pfeifen, um von ihr erkannt zu werden.</p> + +<p>Als die wackere Ursula von dem Slowaken erzählte, der um die Mittagszeit +angeläutet hatte und nachher verschwunden war, stand es bei mir fest, +daß dies Deruga gewesen sei. Ich stellte mir vor, daß er irgendwo im +Hause, vermutlich im Keller, die Zeit erwartet hatte, wo Ursula ausging, +dann von Frau Swieter eingelassen wurde und das Haus verließ, kurz bevor +Ursula zurückzuerwarten war. Auf dem Wege zum Gartentor begegnete er dem +Hausmeister, der ihn neugierig betrachtete und <span class='pagenum'><a name="Page_342" id="Page_342">[342]</a></span>dadurch, oder nur durch +seine Anwesenheit, das Bewußtsein des begangenen Frevels und die Gefahr +der Entdeckung in ihm rege machte. Er wollte sich unbefangen stellen, +und es fiel ihm nichts Besseres ein, als eine Zigarette aus der Tasche +zu ziehen und zu fragen: 'Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?' Da er aber +nicht in der Stimmung war, zu rauchen, und zu aufgeregt, um folgerichtig +zu handeln, beging er eine Unvorsichtigkeit und warf die eben +angezündete Zigarette in das Gebüsch am Gartentor.«</p> + +<p>Die Zuhörer folgten der Erzählung mit einer Spannung, als ob sie die +angeführten Ereignisse zum ersten Male hörten. Die Aufmerksamkeit war +zwischen <tt>Dr.</tt> Bernburger und Deruga geteilt, der nicht daran +dachte, sein Gesicht wie sonst den Blicken zu entziehen, indem er es in +der Hand verbarg.</p> + +<p>»Meine Überzeugung, daß der Slowak Deruga gewesen sein müsse,« fuhr +<tt>Dr.</tt> Bernburger fort, »war so stark, daß ich sagen kann, ich wußte +es. Ich verfolgte nun alle seine Schritte von dem <span class='pagenum'><a name="Page_343" id="Page_343">[343]</a></span>Augenblick an, wo er +am Bahnhof in Prag die Fahrkarte, wie ja festgestellt war, löste. Er +trug damals einen gewöhnlichen Anzug, vermutlich einen Gehrock, denn +wenn er im Kittel seine Wohnung verlassen hätte, wäre es aufgefallen und +gemerkt worden; den Kittel hatte er im Paket bei sich. Die Frage war +nun, wo er sich umgekleidet hatte. Geschah es im Eisenbahnzuge? Irgendwo +in den Bahnhofsräumen? Oder etwa des Nachts im Freien? Er mußte einen +solchen Ort wählen, wo er sich nicht nur umkleiden, sondern auch den +gewöhnlichen Anzug zurücklassen, später wiederfinden und gegen den +Kittel vertauschen konnte. Den Kittel hatte er entweder im Paket mit +nach Hause genommen oder, wahrscheinlicher, unterwegs weggeworfen oder +versteckt. War das letztere der Fall, so konnte er gefunden und an einen +Trödler verkauft worden sein, und trotz der schwachen Aussicht auf +Erfolg, die eine darauf gerichtete Nachforschung haben konnte, machte +ich mir die Mühe, in einer großen Reihe derartiger Geschäfte +nachzufragen.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_344" id="Page_344">[344]</a></span>Ich erhielt keine irgendwie brauchbare Auskunft und hatte bereits die +Hoffnung, auf diesem Wege eine Spur zu finden, aufgegeben, als sich eine +alte Frau bei mir meldete, die zufällig in dem Laden eines Trödlers von +meinem Wunsche Kunde erhalten hatte. Diese Frau, eine Wäscherin, war am +Morgen des 3. Oktober bald nach fünf Uhr morgens durch die +Bahnhofsanlagen gegangen und hatte von der Brücke herunter, die über den +Kanal führt, etwas Dunkles im Wasser gesehen, das sie zuerst für etwas +Lebendiges hielt. Als sie es näher untersuchte, ergab sich, daß es ein +Anzug war, in der Art, wie Arbeiter ihn tragen, der sich an der Wurzel +eines Baumes festgehängt hatte, und nachdem sie ihn ausgerungen hatte, +nahm sie ihn als herrenloses Gut mit.«</p> + +<p>Bei diesen Worten trat <tt>Dr.</tt> Bernburger an den Tisch, legte das +Paket, das er unter dem Arm gehalten hatte, auf den Tisch, wickelte es +auf und breitete den Anzug auseinander, über den die Richter und der +Rechtsanwalt, von ihren Sitzen aufstehend, sich beugten.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_345" id="Page_345">[345]</a></span>»Der Anzug,« fuhr <tt>Dr.</tt> Bernburger fort, »würde nur eben eine Spur +gewesen sein. Den Beweis, daß er dem Angeklagten gehörte, erbrachte mir +ein Brief, den ich in einer zugeknöpften Seitentasche des Kittels fand. +Er ist trotz der stellenweise verwischten Schrift vollkommen lesbar, und +ich bitte um die Erlaubnis, ihn vorlesen zu dürfen.«</p> + +<p>Im Laufe seines Berichtes hatte sich die Erregung des Erzählers mehr und +mehr verraten. Beim Lesen des Briefes überschlug sich seine Stimme +mehrere Male, und als er ihn zum Schlusse auf den Tisch legte, zitterte +seine Hand.</p> + +<p>»Donnerwetter!«</p> + +<p>Mit diesem Ausdruck des Erstaunens unterbrach Justizrat Fein zuerst die +eingetretene Stille.</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hatte inzwischen den Brief ergriffen, hielt ihn +dicht vor die Augen, prüfte sorgfältig die Schrift, den Poststempel und +das Papier und fragte: »Wie mag er denn befördert worden sein?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_346" id="Page_346">[346]</a></span>»Darüber wird uns wohl Fräulein Schwertfeger Auskunft geben können,« +sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.</p> + +<p>Nach einer neuen Pause wendete sich der Vorsitzende langsam zu Deruga +mit der Frage, ob er etwas zu der Mitteilung des <tt>Dr.</tt> Bernburger +zu bemerken habe.</p> + +<p>Deruga schüttelte stumm den Kopf, ohne aufzublicken.</p> + +<p>»Wir möchten gern eine Bestätigung von Ihnen hören,« begann <tt>Dr.</tt> +Zeunemann von neuem, »daß die Darstellung des <tt>Dr.</tt> Bernburger +zutreffend ist, oder eine Richtigstellung.«</p> + +<p>Bevor er jedoch den Satz vollendet hatte, unterbrach ihn der +Staatsanwalt, mit seinen langen Armen gestikulierend und auf Deruga +deutend. »Sehen Sie denn nicht, Herr Kollege,« sagte er, »daß der Mann +krank geworden ist? Lassen Sie ihm doch jetzt Ruhe, das muß ja den +stärksten Magen angreifen! Ein Glas Wasser! Schnell!« winkte er dem +nächsten Gerichtsdiener, ihn mit drohenden Blicken zur Eile antreibend.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_347" id="Page_347">[347]</a></span>Justizrat Fein hatte inzwischen seinen Arm um Derugas Schulter gelegt +und auf ihn eingeredet. Dann wandte er sich gegen den Richtertisch und +sagte: »Mein Klient fühlt sich nicht wohl und bittet um die Erlaubnis, +sich zurückziehen zu dürfen. Er wird morgen alle wünschbaren Erklärungen +geben.«</p> + +<p>Die beiden verließen zusammen den Saal, und als sie draußen waren, sagte +der Justizrat: »Hören Sie, Doktor, ich komme mir zum erstenmal in meinem +Leben wie ein gemeiner Kerl vor.«</p> + +<p>»Da seien Sie froh,« erwiderte Deruga mit seinem gewinnenden Lächeln. +»In Ihrem Alter könnte es leicht das zehnte oder hundertste Mal sein. +Übrigens hatten Sie ganz recht, die Menschen sind dumme, schwache Tiere. +Warum hätten Sie mir glauben sollen?«</p> + +<p>Der Justizrat schüttelte den Kopf. »Ein alter Praktiker wie ich«, sagte +er, »müßte unterscheiden können. Aber, daß ich Sie von Anfang an gern +leiden mochte, Deruga, das haben Sie hoffentlich bemerkt.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_348" id="Page_348">[348]</a></span>»Ja, obwohl Sie mich nebenbei für einen Hundsfott hielten,« sagte +Deruga.</p> + +<p>Der Justizrat musterte ihn mit liebevollen Blicken.</p> + +<p>»Sie sehen schlecht aus. Trinken wir eine Flasche Wein zusammen!«</p> + +<p>Deruga entschuldigte sich mit starken Kopfschmerzen.</p> + +<p>»Ich weiß nicht, was mich so mitgenommen hat,« sagte er. »Ich glaube, es +war das Gefühl, wie dieser Herr mir Schritt für Schritt nachgeschlichen +ist.«</p> + +<p>»Eigentlich,« sagte der Justizrat, sich besinnend, »habe ich der +Kanaille unrecht getan. Er hat sich wie ein anständiger Mensch +benommen.«</p> + +<p>»Schade, nicht?« sagte Deruga, worauf sie sich trennten.</p> + +<p>Im Gerichtsgebäude standen die am Prozeß beteiligten Juristen noch +zusammen, um <tt>Dr.</tt> Bernburger geschart, den sie nach verschiedenen +Einzelheiten ausfragten. Der Staatsanwalt schüttelte ihm zum dritten +Male beide Hände <span class='pagenum'><a name="Page_349" id="Page_349">[349]</a></span>und lobte seinen Eifer. Seine dünnen Haare waren +zerzaust, und seine hellen Augen blinkten feucht unter den +fuchsschwänzigen Augenbrauen.</p> + +<p>»Ich gelte für scharf,« sagte er, »und das bin ich auch und will es +bleiben. Aber diesem Italiener gegenüber mag man gern einmal Mensch +sein. Der ist durch und durch Mensch, ohne gemein zu sein, das gefällt +mir an ihm.«</p> + +<p>»Sie sind durch und durch Staatsanwalt, ohne gemein zu sein,« sagte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Das ist vielleicht noch schwerer.«</p> + +<p>»Was ist seltener, Schönheit im Kostüm oder Schönheit bei nacktem +Leibe?« sagte der Staatsanwalt gedankenvoll. »Nun, ich will jedenfalls +das Kostüm nicht ganz abreißen, sondern juristisch-menschlich sein, +indem ich alle die von <tt>Dr.</tt> Bernburger beigebrachten Tatsachen +ignoriere und, als wäre nichts geschehen, die Anklage auf Totschlag +aufrechterhalte.«</p> + +<p>»Vorzüglich, vorzüglich,« sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger. »Sonst hätte ich +ihm am Ende einen schlechten Dienst geleistet.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_350" id="Page_350">[350]</a></span>»Auf die Art ginge Feins Plan durch,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. +»Etwas willkürlich finde ich es aber bei der Lage der Dinge.«</p> + +<p>»Wieso, mein Bester?« rief der Staatsanwalt lebhaft aus. »Wie ist denn +die Lage der Dinge eigentlich? Allerdings, wir wissen jetzt, daß die +gute Frau Swieter ihre Leiden durch den Tod abzukürzen wünschte, daß sie +ihren geschiedenen Mann bat, ihr diesen Dienst zu leisten, und daß +Deruga sie daraufhin tötete. Aber wissen wir denn, ob er es wirklich aus +Mitleid getan hat? Ob er nicht eigennützige Nebenabsichten hatte? Wissen +wir, ob er ihren Tod nicht längst herbeiwünschte? Ob er nicht über den +Brief frohlockte, der ihm die gewünschte Handhabe bot? Dergleichen wäre +nicht zum ersten Male vorgekommen. Vergegenwärtigen Sie sich nur die +Geschwindigkeit, mit der er den heiklen Auftrag übernahm! Das Gift hatte +er augenscheinlich schon bereit.«</p> + +<p>»Hören Sie auf,« unterbrach <tt>Dr.</tt> Zeunemann lachend. »Wenn das so +weiter geht, erheben Sie die Anklage auf Mord.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_351" id="Page_351">[351]</a></span>»Juristisch wäre es vielleicht richtiger,« meinte der Staatsanwalt +nachdenklich, »aber ich habe mir vorgenommen, menschlich zu urteilen, +und außerdem liefe ich, glaub' ich, Gefahr, von den Mänaden zerrissen zu +werden, wenn ich ihren Liebling angreife.«</p> + +<p>»Im anderen Falle werden sie Sie aus Dankbarkeit zerreißen,« sagte +<tt>Dr.</tt> Zeunemann. »Ein Opfer der Frauen zu sein, ist nun einmal Ihr +Los!«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_352" id="Page_352">[352]</a></span></p> +<h2><a name="XVII" id="XVII"></a><tt>XVII.</tt></h2> + + +<p>Nachmittags ließ sich die Baronin bei Deruga melden. Er erhob sich aus +dem unbequemen Sofa, auf dem er gelegen und geschlafen hatte, und +blinzelte verdrossen gegen das Licht. »Lieber Doktor,« sagte sie, indem +sie ihm die Hand entgegenstreckte, »ich komme, mir Ihre Verzeihung zu +holen. Dem reuigen Sünder vergibt selbst Gott. Sie werden nicht +unerbittlicher sein.«</p> + +<p>»Ich maße mir nicht an, mit Gott vergleichbar zu sein,« sagte Deruga, +»aber es kommt nichts darauf an, da ich Ihnen nichts zu verzeihen habe. +Sie verfolgten ja nicht mich, sondern traten für das vermeintliche Recht +ein.«</p> + +<p>»Sie weichen einer Versöhnung aus,« sagte die Baronin. »Ich verstehe Sie +wohl; aber ich lasse mich nicht so leicht abweisen. Von einem Manne, der +so lieben kann wie Sie, erträgt <span class='pagenum'><a name="Page_353" id="Page_353">[353]</a></span>man wohl auch Haß und noch Schlimmeres. +Welche Frau gäbe nicht alles hin, was sie hat, um einmal so geliebt zu +werden, wie Sie geliebt haben!«</p> + +<p>»Wahrhaftig!« rief Deruga, »von Ihnen will das, glaub' ich, etwas +sagen.«</p> + +<p>»Das klingt boshaft,« sagte die Baronin, »und doch kränkt es mich nicht, +weil ich fühle, daß Sie es nicht böse meinen. Es ist wahr, ich wüßte +nicht, wie ich ohne Geld und sogar ohne ziemlich viel Geld sollte leben +können. Mein Gott, jeder hat seine Gewohnheiten. Aber habsüchtig bin ich +nicht, am Gelde an und für sich liegt mir nichts. Und wissen Sie, warum +ich so außer mir war, daß die Erbschaft mir entging? Ich war sehr +erpicht auf das Geld gewesen, das leugne ich nicht, und Ihnen, nur Ihnen +will ich sagen, warum. Ich habe mich in meiner Ehe unbeschreiblich +gelangweilt.«</p> + +<p>»Ja, die Langeweile ist das größte Problem und die größte Gefahr des +Lebens,« sagte Deruga. »Aber Ihr Mann scheint eine liebe, feine Person +zu sein.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_354" id="Page_354">[354]</a></span>»Natürlich,« stimmte die Baronin zu, »man kann sich nichts Angenehmeres +denken. Er ist wie reine Luft, man spürt ihn gar nicht, und ich bildete +mir auch fast ein, ihn ein wenig zu lieben, als ich ihn heiratete. Aber +ich habe mich in seiner Gesellschaft so gelangweilt, daß ich ihm +wahrscheinlich untreu geworden wäre, wenn sich das mit meinen +Grundsätzen vertragen hätte. Da es sich aber um den einzigen Grundsatz +handelt, zu dem ich mich bekenne, habe ich daran festgehalten.«</p> + +<p>»Sie hatten doch eine Tochter,« wandte Deruga ein.</p> + +<p>»Sie fand es vermutlich bei uns ebenso langweilig wie ich,« sagte die +Baronin, »denn seit sie herangewachsen war und mir eine Gesellschafterin +hätte sein können, ergriff sie jede Gelegenheit, um von Hause fort zu +sein. Inzwischen verkürzte ich mir die Zeit mit einem Zukunftsplane: +dem, mich von meinem Manne freizumachen, sobald meine Tochter versorgt, +das heißt, verheiratet wäre.«</p> + +<p>In Derugas Mienen malte sich aufrichtiges Erstaunen.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_355" id="Page_355">[355]</a></span>»Sie denken wirklich daran, sich jetzt noch scheiden zu lassen?« sagte +er.</p> + +<p>Ein reizendes Lächeln, das sie jung machte, glitt über das Gesicht der +Baronin.</p> + +<p>»In meinem Alter, wollen Sie sagen? Solange ich den Wunsch habe, bin ich +offenbar jung genug dazu,« entgegnete sie.</p> + +<p>»Und dann wollen Sie einen amüsanteren Mann heiraten?« fragte Deruga.</p> + +<p>»O, heiraten!« wiederholte sie. »Darauf kommt es mir nicht an, auch +nicht auf förmliche Scheidung, nur darauf, frei zu sein und die +Atmosphäre der Langenweile zu verlassen.«</p> + +<p>Deruga zuckte die Schultern. »Im Grunde herrscht auf der ganzen Erde +dasselbe Klima,« sagte er.</p> + +<p>»Nein, nein,« rief sie lebhaft, »ich kann mir zum Beispiel nicht denken, +wie man sich in Ihrer Gesellschaft je langweilen sollte!« Sie hatte so +eine freie Art, die Dinge naiv wie ein Kind herauszusagen, daß selbst +Deruga, der sich für einen Kenner der Frauen hielt, nicht unterscheiden +konnte, ob die Blüte echt oder künstlich war.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_356" id="Page_356">[356]</a></span>»Das hat auch seine Kehrseite,« antwortete er gutmütig. »Erinnern Sie +sich nicht an den Vers, den mir die arme Marmotte in ein Buch schrieb:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">'Deruga, du bist eben<br /></span> +<span class="i0">So schön als wunderlich;<br /></span> +<span class="i0">Man kann nicht ohne dich<br /></span> +<span class="i0">Und auch nicht mit dir leben.'«<br /></span> +</div></div> + +<p>Die Baronin errötete ein wenig, vermochte aber noch mit leidlicher +Unbefangenheit zu sagen: »Nun ja, das tägliche Sich-an-einander-Reiben, +das die Ehe mit sich bringt, das würde ich freilich wohl nicht wieder +auf mich nehmen, und ich halte es auch für verderblich und gemein. Aber +nun,« setzte sie hinzu, indem sie aufstand, »geben Sie mir zum Abschied +einen Versöhnungshändedruck!«</p> + +<p>»Gern, Baronin,« sagte er, indem er ihr die Hand reichte. »Ihre Strafe +haben Sie ja ohnehin, indem das Geld Ihnen entgangen ist.«</p> + +<p>»Ja, das Geld,« sagte sie wehmütig, »das mir den Käfig öffnen sollte. +Wir waren vorhin davon abgekommen: Einzig der Umstand, <span class='pagenum'><a name="Page_357" id="Page_357">[357]</a></span>daß ich kein +eigenes Vermögen habe und nicht wußte, wovon ich leben sollte, wenn ich +meinen Mann verließe, stand vor der Erfüllung meines Wunsches. Das Erbe +meiner armen, kranken Kusine sollte mir das neue Leben geben! Nun aber +genug von mir! Erlauben Sie mir, Ihnen dies Zimmer, für die Zeit, wo Sie +es noch bewohnen werden, ein wenig zu erheitern? Mit Blumen?«</p> + +<p>»Wenn es Ihnen Freude macht,« sagte er.</p> + +<p>Während sie zögernd auf der Schwelle stand, ruhten ihre Augen auf seiner +wohlgeformten braunen Hand, die sie immer noch hielt, und dann ging sie +mit einem Lächeln.</p> + +<p>Ihr war zumute, wie sie die etwas abgelegene, düstere Straße entlang +ging, als habe sie sich noch nie, in ihrem ganzen Leben nie, in einer +solchen das ganze Leben durchglühenden Aufregung befunden. Es war eine +prickelnde, zugleich ängstigende und wohltuende Empfindung, in der sich, +so schien es ihr, alle ihre Kräfte steigerten und veredelten. Freilich, +noch ein wenig mehr, so könnte es unbehaglich werden, ja, schon <span class='pagenum'><a name="Page_358" id="Page_358">[358]</a></span>jetzt +lief ein leises Angstgefühl mit unter, das jedoch die Wonne des +allgemeinen Aufruhrs noch übertönte.</p> + +<p>Die Baronin beschloß, einen Spaziergang zu machen. Es war noch nicht +spät, die Lichter auf den Straßen und in den Schaufenstern wurden +allmählich entzündet und loderten wie feuergelbe Tupfen in das +Durcheinander der dämmerblassen Farben. Langsam und lächelnd ging sie +ziellos weiter. Wie reizend war es, sich so jung zu fühlen und wie ein +verliebtes Mädchen verbotene Wege zu gehen! Ja, es war fast, als ginge +sie zu einem Stelldichein. Als sie an einem Blumengeschäft vorbeikam, +das das Aussehen eines pompösen Urwaldes hatte, fiel es ihr ein, etwas +für Derugas Zimmer auszusuchen. Sie wählte lange und fragte kaum nach +den Preisen, die sie sonst, besonders wenn es sich um Geschenke +handelte, durchaus nicht unberücksichtigt ließ. Zufällig erblickte sie +in einem Spiegel ihre Gestalt: schlank, tadellos, voll natürlicher +Eleganz. Ein frohes Gefühl von Glück und Stolz durchzuckte sie. War sie +auch <span class='pagenum'><a name="Page_359" id="Page_359">[359]</a></span>keine frische, im Morgentau glitzernde Blume, so ersetzte den +fehlenden Schmelz und das Farbenprangen die sichtbar gewordene Form und +ein Parfüm, das erst die Dämmerung entwickelt. Sie fühlte, daß sie noch +anziehen, noch bezaubern konnte; und hätte sie selbst nicht lieben +können sollen? Sie hatte ja noch nie geliebt.</p> + +<p>Sie kämpfte mit sich, ob sie am folgenden Morgen zur Sitzung gehen +sollte, denn es war ihr, als könne es Deruga mißfallen, und als liege +überhaupt etwas Geschmackloses und Gefühlswidriges darin, wenn sie sich +jetzt auf dem Platze zeigte, den sie früher aus Neugier und dem +ungeduldigen Wunsche eingenommen hatte, ihre Sache triumphieren zu +sehen. Doch war es ihr unmöglich, dem Drange zu widerstehen, der sie in +Derugas Nähe trieb, sei es auch nur, um sich Gewißheit über sein +Befinden zu verschaffen.</p> + +<p>»Hat man unrecht gehabt,« sagte sie beim Frühstück zu ihrem Mann und +ihrer Tochter, »so muß man es dadurch wieder gutmachen, daß man es +eingesteht. Ich möchte nicht nach <span class='pagenum'><a name="Page_360" id="Page_360">[360]</a></span>Paris reisen, ehe ich weiß, was aus +Deruga wird, und was wir etwa für ihn tun können.«</p> + +<p>Der Baron war derselben Meinung, und Mingo errötete vor Freude.</p> + +<p>»Liebe Mama,« sagte sie, »ich bin froh, daß du doch ein guter Mensch +bist.«</p> + +<p>»Aber Mingo,« sagte die Baronin verweisend, indem sie sich doch nicht +enthalten konnte, zu lachen.</p> + +<p>»Darf ich mitgehen, Mama?« bat sie, die aufgesprungen war und ihre +Mutter umarmt hatte. »Du weißt, wie ich darunter gelitten habe, nun +möchte ich auch dabei sein, nachdem es sich so schön gewendet hat. Er +wird doch sicher freigesprochen?«</p> + +<p>»Daran ist wohl nicht zu zweifeln,« sagte der Baron, indes die Baronin +sich von Mingos Umarmung freimachte und ein peinliches Gefühl von +Eifersucht, das plötzlich in ihr aufstieg, zu unterdrücken suchte. Ihr +Blick glitt schnell prüfend über Mingo hin, deren Dasein sie plötzlich +als Einengung und Hemmung empfand. Aber sie wollte ja studieren, sagte +sie sich, und <span class='pagenum'><a name="Page_361" id="Page_361">[361]</a></span>das war ja ein gutes, richtiges Gefühl von ihr, daß sie +noch an sich arbeiten und sich entwickeln wollte. Die Berührung der +frischen Lippen war doch unsäglich lieblich. Die Baronin legte ihre Hand +liebkosend unter das noch kinderrunde Gesicht ihrer Tochter und sagte:</p> + +<p>»Ich werde Deruga gelegentlich erzählen, daß du von Anfang an sein +tapferer, kleiner Ritter gewesen bist.«</p> + +<p>Mingo leuchtete vor Stolz. »Und ich stecke mein Schwert nicht ein, bis +er frei ist,« sagte sie.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_362" id="Page_362">[362]</a></span></p> +<h2><a name="XVIII" id="XVIII"></a><tt>XVIII.</tt></h2> + + +<p>Die Ungeduld des auf die Aussage Derugas gespannten Publikums wurde +nicht sofort befriedigt, da als erste Zeugin Fräulein Gundel +Schwertfeger vernommen wurde. Der Vorsitzende legte ihr den Brief der +verstorbenen Frau Swieter an Deruga vor und fragte sie, ob er ihr +bekannt sei.</p> + +<p>»Ja,« sagte Fräulein Schwertfeger, kaum einen flüchtigen Blick darauf +werfend, »es ist derselbe, den ich einige Tage vor Mingos Tode zur Post +gegeben habe.«</p> + +<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann räusperte sich ein wenig und sah vor sich auf den +Tisch. »Sie haben uns das im Beginn des Prozesses verschwiegen,« sagte +er.</p> + +<p>»Nein, ich habe gelogen,« sagte Fräulein Schwertfeger mit trotziger +Tapferkeit, während ihre großen, grauen Augen sich verdunkelten. »Es war +das erstemal in meinem Leben, und <span class='pagenum'><a name="Page_363" id="Page_363">[363]</a></span>ich mußte es tun, weil ich sonst +meiner verstorbenen Freundin das Wort gebrochen hätte. Dazu konnte ich +mich nicht entschließen, gerade weil sie tot ist.«</p> + +<p>»Wollen Sie uns jetzt vielleicht,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann sanft, +»kurz erzählen, was sich wegen des Briefes zwischen Ihnen begab?«</p> + +<p>»Meine Freundin fragte mich, ob ich ihr etwas zuliebe tun wolle. Ich +sagte, ich würde alles tun, was in meinen Kräften stände, die leider +gering wären. Sie küßte mich und sagte, es wäre nicht viel an sich, aber +für mich bedeutete es vielleicht viel: ich sollte nämlich einen Brief an +Deruga besorgen, ohne daß es jetzt oder später jemand erführe. Ich +versprach zu tun, was sie wünschte, und fragte, ob sie mir sagen könnte, +was sie ihm schriebe, und warum es niemand erfahren dürfte. Sie sagte, +sie habe das Bedürfnis, ihm für den Fall, daß sie nicht lange mehr leben +sollte, Lebewohl zu sagen, und daß sie das heimlich halten wolle, +entspringe nur der vielleicht törichten Furcht, man würde sie nicht +verstehen und lächerlich finden.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_364" id="Page_364">[364]</a></span>»Haben Sie sich damals,« fragte der Vorsitzende, »gar keine Gedanken +gemacht, ob es sich wirklich so verhalte?«</p> + +<p>»Damals dachte ich,« sagte Fräulein Schwertfeger, »sie habe ihm +vielleicht geschrieben, sie wünsche ihn noch einmal zu sehen, bevor sie +stürbe, und habe sich gescheut, mir das zu sagen. Als dann die Anklage +gegen Deruga erhoben wurde, sah ich ein, wie gefährlich der Brief für +ihn werden könne, sei es, daß sie ihn gebeten hatte zu kommen, oder daß +sie ihn von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt hatte; und +ich nahm mir vor, lieber zu lügen, als ihn ins Unglück zu bringen, da +ich wußte, welchen Schmerz das meiner Freundin bereitet hätte.«</p> + +<p>»Steht vielleicht damit im Zusammenhang,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, +»daß Sie das Vermächtnis Ihrer Freundin ausschlugen und später sogar die +Ihnen vermachten Wertsachen verschenkten?«</p> + +<p>Fräulein Schwertfeger wurde dunkelrot.</p> + +<p>»Es schien mir allerdings nun so auszusehen,« <span class='pagenum'><a name="Page_365" id="Page_365">[365]</a></span>sagte sie, »als wolle +meine Freundin mich für mein Stillschweigen belohnen. Später vollends, +als der Verdacht gegen Deruga aufkam, den ich teilte, wäre ich mir +selbst vorgekommen wie eine Bestochene und wie eine Helfershelferin bei +der abscheulichen Tat, wenn ich das Geringste von den Kostbarkeiten +meiner Freundin behalten hätte.«</p> + +<p>»Es ist Ihnen also niemals,« fragte der Vorsitzende, »die Möglichkeit +des Zusammenhangs aufgetaucht, so wie sie sich jetzt dargestellt hat? +Ihre Freundin hat Ihnen doch selbst einmal gesagt, wie Sie gelegentlich +erwähnten, daß sie demjenigen dankbar sein würde, der ihrem Leiden ein +Ende bereitete, indem er sie tötete?«</p> + +<p>»Ich hielt das nur für eine augenblickliche Regung,« sagte Fräulein +Schwertfeger. »Jetzt erst habe ich eingesehen, wie sehr sich meine +Freundin im allgemeinen beherrschte, wenn ich bei ihr war. Dazu kommt, +daß ich Deruga nichts Gutes, aber wohl Schlechtes zutraute. Ich habe ihm +sehr unrecht getan.«</p> + +<p>»Aber das bedachten Sie nie,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann mit mildem +Vorwurf, »daß der <span class='pagenum'><a name="Page_366" id="Page_366">[366]</a></span>Gerechtigkeit dadurch Abbruch geschähe, wenn Deruga +seine geschiedene Frau gemordet hätte und unbestraft bliebe?«</p> + +<p>»Ich dachte,« sagte Fräulein Schwertfeger trotzig, »ich wollte tun, was +mein Gewissen mich hieße, und das übrige Gott überlassen.«</p> + +<p>»Als Mensch,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann nach einer Pause, »kann ich +Ihre Handlungsweise nicht tadeln, obwohl sie nicht als Muster für andere +Fälle gelten dürfte.«</p> + +<p>Nachdem Fräulein Schwertfeger entlassen war, kam Derugas Vernehmung. Um +von den Geschworenen besser verstanden zu werden, wurde er aufgefordert, +die Anklagebank zu verlassen und sich auf den für die Zeugen bestimmten +Platz zu begeben.</p> + +<p>Er sah blaß, gleichgültig, verdrossen und verschlossen aus, fast als +habe er es auf eine abstoßende Wirkung abgesehen und empfinde Genugtuung +darüber.</p> + +<p>»Sie haben zugestanden,« begann der Vorsitzende ernst, »Ihre geschiedene +Gattin getötet zu haben, was Sie bis jetzt leugneten. Sie <span class='pagenum'><a name="Page_367" id="Page_367">[367]</a></span>reisten zu +diesem Zwecke und mit dahinzielender Absicht von Prag ab?«</p> + +<p>»Ich weiß nicht,« sagte Deruga unmutig, »warum Sie mich noch einmal mit +Fragen behelligen. Sie wissen, daß meine Frau sich sehnte, von +unerträglichen Leiden befreit zu werden, und daß sie sich an mich +wendete, weil sie das Zutrauen zu mir hatte. Ich fühlte menschlich +genug, um ihre Bitte zu erhören. Die Ärzte im allgemeinen haben den Mut +zu einer so vernünftigen Tat nicht. Ich reiste sofort hin und tat es. +Das sollte genügen.«</p> + +<p>»Es kommt uns nicht nur darauf an, die Tat zu wissen,« sagte <tt>Dr.</tt> +Zeunemann, »sondern auch die Absichten kennenzulernen, die den Täter +leiteten.«</p> + +<p>»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Deruga heftig auf. »Was für Absichten +könnte ich gehabt haben, außer der armen Person zu helfen? Daß ich von +der Erbschaft nichts wußte, geht aus ihrem Briefe hervor.«</p> + +<p>»Aus dem Brief geht allerdings hervor,« sagte der Vorsitzende mit +gelassener Würde, <span class='pagenum'><a name="Page_368" id="Page_368">[368]</a></span>»daß Sie mit Ihrer geschiedenen Frau seit Ihrer +Scheidung in keiner Verbindung standen, daß Sie also damals von der +Erbschaft nichts wußten.«</p> + +<p>»Damals!« rief Deruga. »Wollen Sie damit sagen, daß ich hingereist wäre, +um meiner Frau anzubieten, ich wolle ihr den Gefallen tun, wenn sie mir +soundso viel Geld dafür gäbe? Und um den Preis ihres Vermögens hätte ich +mich kaufen lassen? Ich weiß nicht, nach was für einem Maßstab Sie die +Menschen beurteilen. Ekelhafte Welt, wo Menschen richten, die nur +gemeine Triebe zu kennen scheinen!«</p> + +<p>»Ich muß Sie bitten,« sagte der Vorsitzende, »Ihre Ausdrücke zu mäßigen. +Die gefallenen Worte lasse ich deshalb hingehen, weil ich eine +krankhafte Erregung bei Ihnen voraussetze. Nachdem ich Sie aber gewarnt +habe, würde ich mich im Wiederholungsfalle zu ernsten Maßregeln +gezwungen sehen.«</p> + +<p>Inzwischen war Justizrat Fein aufgestanden und bat, ein paar Worte mit +seinem Klienten reden zu dürfen.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_369" id="Page_369">[369]</a></span>»Aber, liebster Doktor,« sagte er halblaut, indem er ihn am Rock faßte, +»was für Geschichten machen Sie? Es hängt jetzt alles davon ab, daß Sie +einen guten Eindruck machen. Nachher ist alles vorüber. Nehmen Sie sich +doch zusammen, tun Sie es mir zuliebe! Bilden Sie sich ein, Sie +erzählten die ganze Begebenheit mir! Der arme Teufel tut am Ende nur +seine Pflicht, wenn er alle Möglichkeiten ins Auge faßt. Sie könnten ja +auch ein Schweinehund sein, wie es viele gibt.«</p> + +<p>»Ich weiß nicht, warum sich mein Blut empört,« entgegnete Deruga, »wenn +ich diesen Areopag von Stallhammeln sehe, die über hungrige Wölfe zu +Gericht sitzen. Wäre ich doch ein Raubmörder oder Brandstifter! Hier +schäme ich mich, ein anständiger Mensch zu sein.«</p> + +<p>»Das sind Sie ja gar nicht,« sagte der Justizrat beruhigend, »das heißt, +nicht in dem Sinne, wie Sie es eben meinten. Und haben Sie denn gar kein +Gefühl für das wackere alte Jüngferchen auf der Zeugenbank? Erzählen Sie +der die Geschichte! Denken Sie, wie froh sie <span class='pagenum'><a name="Page_370" id="Page_370">[370]</a></span>sein wird, wenn sie Sie +für keinen Bösewicht mehr zu halten braucht.«</p> + +<p>»Dumme, eigensinnige Gans,« brummte Deruga, aber sein Blick war +freundlicher geworden, und er erklärte sich bereit, die Fragen, die man +an ihn richten würde, zu beantworten.</p> + +<p>»Als Sie den Brief Ihrer geschiedenen Frau erhielten,« begann <tt>Dr.</tt> +Zeunemann von neuem, »faßten Sie da sofort den Beschluß, ihren Wunsch zu +erfüllen?«</p> + +<p>»Als ich ihre Handschrift sah,« sagte Deruga in ruhig erzählendem Tone, +»die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und die ganz unverändert +war, so daß ich sie sofort erkannte, da erfaßte mich sofort das Gefühl +von Unruhe, Wut und Haß, das mich immer überkommen hatte, wenn ich +zufällig einmal an sie erinnert wurde, was aber in den letzten Jahren +nur sehr selten geschehen war. Was kann sie von mir wollen? dachte ich. +Will sie mir sagen, es tue ihr leid, daß sie mein Leben zerstört habe? +Bildet sie sich ein, es bestehe noch irgendein Band zwischen uns? Bildet +sie sich ein, ich könne <span class='pagenum'><a name="Page_371" id="Page_371">[371]</a></span>je vergessen, was ich durch sie gelitten habe? +So ungefähr. Als ich den Brief gelesen hatte, war das alles +verschwunden, und ich empfand nur Mitleid und Liebe. Ich empfand, was +ich noch nie zuvor empfunden hatte: reine, große, ungetrübte Liebe für +das leidende Geschöpf, das ich soviel gequält hatte, eine Liebe, die nur +in dem Wunsche bestand, sie zu trösten und ihr zu helfen. Ich erinnerte +mich an ihre Angst vor Schmerzen, und wie oft sie mich gefragt hatte, ob +ich sie lieb genug haben würde, sie zu töten, wenn sie einmal von einer +sehr schmerzhaften Krankheit befallen werden sollte, wie dankbar sie mir +war, wenn ich es versprach, und wie dann ihre Sicherheit und +Überlegenheit verschwand und sie wie ein Kind sich an mich schmiegte. Es +war alles ausgelöscht, was mich einst an Eifersucht, Empfindlichkeit und +Rachsucht gegen sie verbittert hatte, vor dem einen Gefühl, daß sie mich +nicht vergeblich angerufen haben sollte, und daß ich sie von ihren +Leiden befreien wollte, wenn ich sie nicht etwa heilen könnte.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_372" id="Page_372">[372]</a></span>Die Pause, die Deruga machte, benützte der Staatsanwalt, um durch +weitausholende Gestikulationen und im Flüsterton gezischte Anweisungen +einen Diener zu beauftragen, daß er dem Angeklagten, der angegriffen zu +sein scheine, einen Sessel brächte.</p> + +<p>Nachdem er sich bedankt hatte, fuhr Deruga fort:</p> + +<p>»Meine Regung war, sofort abzureisen, aber ich überlegte mir, was für +höchst bedenkliche Folgen die Tat für mich haben könnte, und ich +beschloß, dieselben, wenn möglich, abzuwenden. Die Art und Weise +betreffend, wie ich Mingo töten wollte, beschloß ich, es durch Curare zu +tun, wovon ich zufällig eine genügende Dosis besaß. Chloroform, das in +gewisser Beziehung vorzuziehen gewesen wäre, schloß ich deshalb aus, +weil der Geruch es sofort verraten hätte. Allerdings hätte man gerade +dabei am ersten auf Selbstmord geschlossen, außer wenn sich feststellen +ließ, daß kein Chloroform im Hause gewesen war; sicherer erschien es +mir, auf alle Fälle ein Gift zu wählen, das im Augenblick <span class='pagenum'><a name="Page_373" id="Page_373">[373]</a></span>keine Spur +hinterließ, damit der Verdacht eines gewaltsamen Endes überhaupt nicht +aufkam.</p> + +<p>Da meine Frau nicht geschrieben hatte, wie ich zu ihr gelangen könnte, +dachte ich, zuerst deswegen bei ihr anzufragen, unterließ es jedoch, +weil ich mir sagte, der Brief würde vielleicht einer Dienerin oder +Pflegerin in die Hände fallen, die voraussichtlich nicht in das +Geheimnis gezogen werden durfte. Nachdem ich vielerlei geplant und +verworfen hatte, entschloß ich mich, als Vagabund oder Hausierer +verkleidet in ihrer Wohnung vorzusprechen und die Gelegenheit +auszukundschaften; ich traute mir zu, daß ich auf diese Art irgendeinen +Weg ausfindig machen würde, und rechnete auf die glücklichen Einfälle, +die dem Unternehmenden gewöhnlich zu Hilfe kommen. Darauf brachte mich +auch der Umstand, daß ich vor Jahren einmal auf einem Maskenballe als +Mausefallenverkäufer aufgetreten und nicht nur von niemandem erkannt, +sondern von verschiedenen sogar für einen echten, zum Spaß +eingeschmuggelten Slowaken gehalten worden war. Ich wickelte <span class='pagenum'><a name="Page_374" id="Page_374">[374]</a></span>den Anzug, +den ich aufgehoben hatte, in ein Papier ein und nahm ihn als einziges +Gepäck mit, um mich entweder in der Eisenbahn oder im Bahnhof +umzukleiden.</p> + +<p>Unterwegs überlegte ich mir, daß der Kleiderwechsel im Zuge bemerkt +werden und Verdacht erregen könnte, wodurch ich vielleicht aufgehalten +würde, und im Bahnhof fand ich keine Gelegenheit. Da es noch sehr früh, +etwa halb sechs Uhr war, nahm ich an, daß ich in den Bahnhofsanlagen +vollkommen unbeobachtet sein würde. In der Tat war es rings öde und +still, und als ich die halbrunde, steinerne Bank sah, die uns Herr +<tt>Dr.</tt> Bernburger beschrieben hat, schien mir das der geeignete Ort +zu sein, wo ich mich umkleiden und meinen bürgerlichen Anzug, den ich ja +zur Heimreise brauchte, verbergen könnte. Nachdem ich den +Vagabundenkittel angezogen hatte, wickelte ich den anderen Anzug ein und +verbarg ihn unter der Bank. Zum Überfluß häufte ich noch welkes Laub +darüber, das überall verstreut war.</p> + +<p>Zunächst ging ich in ein kleines Café in der äußeren Stadt und +frühstückte, weniger um mich <span class='pagenum'><a name="Page_375" id="Page_375">[375]</a></span>zu erfrischen, als um den Eindruck zu +prüfen, den ich machte, und ich stellte fest, daß ich durchaus für das +genommen wurde, was ich vorstellen wollte. Bis zum Mittag trieb ich mich +herum, dann begab ich mich in die Gartenstraße. Ich war durchaus nicht +aufgeregt, außer daß ich mich sehnte, die Marmotte wiederzusehen. An den +Zweck, der mich hergeführt hatte, dachte ich kaum noch, nur daran, +wieviel wir uns zu erzählen haben würden.</p> + +<p>Als Ursula mir die Tür öffnete, wurde es mir schwer, mich nicht zu +verraten, denn ich freute mich, sie wiederzusehen; ich hätte sie gern +begrüßt und gefragt, ob sie mich denn nicht erkennte. Als Mingo läutete +und Ursula im Weglaufen die Tür zuschlug, steckte ich rasch einen der +hölzernen Löffel, die ich als Verkaufsgegenstände bei mir hatte, +dazwischen. Es war eine Eingebung des Augenblicks, der ich vielleicht +nicht gefolgt wäre, wenn ich Zeit zur Überlegung gehabt hätte, denn das +Wagnis konnte leicht mißglücken. Immerhin traute ich mir zu, mich mit +Ursula, wenn sie mir auf die Spur <span class='pagenum'><a name="Page_376" id="Page_376">[376]</a></span>käme, auf irgendeine Weise zu +verständigen. Ich stellte den Teller Suppe, den Ursula mir gebracht +hatte, auf die Treppe und ging aufs Geratewohl in die nächste Zimmertür; +sie führte in das Fremdenzimmer, das unbenutzt war. Von dort aus hörte +ich, wie Ursula wiederkam, die Wohnungstür öffnete und brummte, als sie +draußen den vollen Teller fand. Nachdem sie in der Küche verschwunden +war, ging ich vorsichtig weiter und erblickte durch die offenstehende +Tür des Nebenzimmers Mingos Bett. Ich sagte leise: 'Marmotte, da ist +Dodo!' und sie antwortete ebenso: 'Dodo! Warte, bis Ursula fort ist.'</p> + +<p>Während ich allein in dem Fremdenzimmer saß und wartete, habe ich die +Seligkeit des Himmels genossen. Mehrere Stunden lang fühlte ich die mit +nichts auf Erden vergleichbare Wonne, die vielleicht gemarterte Heilige +empfunden haben, wenn der Schmerz aufhörte und Engel mit der Krone des +ewigen Lebens sich aus den Wolken auf sie niederließen. Mein Herz war +ganz und gar voll von der göttlichen <span class='pagenum'><a name="Page_377" id="Page_377">[377]</a></span>Liebe, die nichts will als das +Glück des Geliebten. Ich hatte sie nun wiedergesehen, die Frau, deren +bloßer Name früher einen Ausbruch von Leidenschaften, Liebe, Haß, +Rachsucht in mir entfesselt hatte. Was ist noch an uns von dem Kinde, +das wir vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren einmal waren? Unser ganzer +Körper hat sich seitdem erneuert, wir haben vielleicht keinen Gedanken +und keine Empfindung mehr von denen, die wir damals hatten, und doch, +daß wir es sind, ist das Sicherste, was wir wissen. Ach, von der +Marmotte, die ich einmal mein genannt hatte, war nichts mehr da, und +doch hatte ich in dem einzigen Augenblick in ihrem von den Jahren und +der Krankheit zerstörten Gesicht dasselbe Gesicht gesehen, das ihr als +Kind schon eigen gewesen sein mochte: aus Unschuld, Liebe und Güte +zusammengezaubert. Es war nur als eine geistige Erscheinung da, und ich +weiß nicht, mit was für Augen ich es gesehen habe. Das Körperliche war +das einer alternden, todkranken Frau, einer Pflanze ähnlich, die, vom +Nachtfrost überrascht, mumienhaft im <span class='pagenum'><a name="Page_378" id="Page_378">[378]</a></span>Sonnenschein steht. Es war nichts +mehr an meiner armen Marmotte, was die Leidenschaft irgendeines Mannes +hätte erregen können, aber sie war mir so teuer, so kostbar und heilig, +daß ich nicht gezögert hätte, mein Leben hinzugeben, wenn ich ihr Glück +damit hätte erkaufen können. Armes, ohnmächtiges Geschöpf, dachte ich, +du sollst nicht mehr leiden! Was es mich auch kosten mag, wie hart die +Folgen für mich sein mögen, ich will dir Frieden bringen. Und wenn alle +deine Qualen auf mich übergingen, so wollte ich sie annehmen und mich +freuen, daß du statt dessen ruhen könntest.</p> + +<p>Vorher hatte ich gedacht, ich müsse mir erst Gewißheit über den +Charakter und Grad ihrer Krankheit verschaffen, aber ihr Anblick zeigte +mir überflüssig, wie fortgeschritten sie war. Sowie ich Ursula die Tür +hinter sich schließen und die Treppe hinuntergehen hörte, erhob ich +mich, und gleichzeitig rief mich auch die Marmotte. Ich setzte mich auf +den Rand ihres Bettes und sagte, wie ich mich gefreut hätte, daß Ursula +noch bei ihr wäre, und wie ich kaum hätte unter<span class='pagenum'><a name="Page_379" id="Page_379">[379]</a></span>lassen können, sie +auszulachen, weil sie mich nicht erkannt hätte. 'Ich hätte dich gleich +erkannt,' sagte sie, und dann schwatzten wir von der Vergangenheit und +tauschten kleine Erinnerungen aus. Auch von ihrer Krankheit, ihren +Operationen, und wie sie behandelt wurde, erzählte sie mir auf mein +Befragen. Ihre Stimme war unverändert, nur fast süßer als früher. Sie +klang so, wie man wohl des Abends im Gebirge ein entferntes Alphorn +hört, in dem die rosigen, grünen und grauen Farben des dämmernden +Horizontes mitzutönen scheinen. Während wir sprachen, hielt sie eine +meiner Hände fest zwischen den ihren, und einmal küßte sie sie und +sagte: 'Du liebe, gute, schöne Hand, ich habe oft an dich gedacht, und +daß du mich erlösen würdest!'</p> + +<p>Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da sah ich in ihrem Gesicht, +daß ein Anfall von Schmerzen im Anzuge war, Und ich dachte, nun sei der +Augenblick gekommen. Ich hätte etwas mitgebracht, um ihr die Schmerzen +zu vertreiben, sagte ich, und wolle es jetzt in <span class='pagenum'><a name="Page_380" id="Page_380">[380]</a></span>der Küche +zurechtmachen, damit wir ungestört weiterplaudern könnten. 'Wird es weh +tun?' fragte sie, indem sie mich ängstlich ansah, und ihre Mundwinkel +zitterten. Arme, kleine, furchtsame Marmotte! Trotzdem sie den Tod +herbeiwünschte, fürchtete sie sich vor ihm. Ich lachte und sagte: 'Was +denkst du, so schnell geht es nicht. Erst will ich dich ein wenig +beobachten, denn vielleicht kannst du durch verständige Behandlung noch +einmal gesund gemacht werden.' Mit den Worten ging ich in die Küche, +suchte mir ein Glas und mischte das Gift so mit Limonade und Zucker, daß +man seine Bitterkeit nicht schmeckte. Als ich zurückkam, hatte sie +starke Schmerzen, und während ich sie aufrichtete, um sie trinken zu +lassen, erzählte sie mir, daß sie in der letzten Nacht von unserm Mingo +geträumt hatte. 'Wie sehne ich mich danach, sie wiederzusehen,' sagte +sie, 'und später, wenn du auch kommst, stehen wir Hand in Hand und +warten auf dich.' Ich nickte, stützte sie mit meinem Arm und setzte das +Glas an die Lippen. Sie sah mich dankbar an und trank begierig.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_381" id="Page_381">[381]</a></span>Ich wartete, bis sie gestorben war, dann legte ich sie nieder, küßte +sie auf die Stirn und sagte: 'Adieu, liebe, süße Marmotte.' Dann stellte +ich in den beiden Zimmern alles so, wie es vorher gewesen war, ging in +die Küche, reinigte das Glas, vertilgte überhaupt jede Spur meiner +Anwesenheit und ging fort. Im Hause begegnete mir niemand, aber auf dem +gepflasterten Wege, der zum Gartentor führte, sah ich den Hausmeister +stehen. Bis dahin war ich vollkommen ruhig gewesen oder hatte geglaubt, +es zu sein. Aber als ich den Hausmeister sah, kam es mir vor, als müsse +ich ihm auffallen und müsse irgend etwas tun, um unbefangen zu +erscheinen. Unwillkürlich faßte ich in die Tasche und zog eine Zigarette +heraus, stellte mich vor ihn hin und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer +Gnaden?' Als ich einen Zug getan hatte, ekelte es mich, und ich warf die +Zigarette ins Gebüsch, ohne in dem Augenblick daran zu denken, daß das +auffallen könnte.</p> + +<p>Der nächste Zug nach Prag ging in der Frühe, und es war erst halb sechs +Uhr nachmittags. <span class='pagenum'><a name="Page_382" id="Page_382">[382]</a></span>Ich schlenderte wieder in die äußeren Stadtteile und +setzte mich dort in ein Café. Als es Nacht wurde, begab ich mich in die +Bahnhofsanlagen. Es schien mir noch zu früh zu sein, um mich +umzukleiden. Da ich jedoch nicht mehr gehen mochte, setzte ich mich auf +die steinerne Bank, unter der ich meinen Anzug verborgen hatte, um die +Dunkelheit zu erwarten. Die himmlischen Gefühle, die mich bei Marmotte +gehoben hatten, waren verschwunden, ich war schrecklich ernüchtert, und +mich fror. Ich hatte den ganzen Tag nichts zu mir genommen als etwas +schwarzen Kaffee, und ich war so schwach und abgespannt, daß ich kaum +wußte, wozu ich eigentlich dasaß. Ich kam mir abgeschmackt und +lächerlich vor.</p> + +<p>Gegen Mitternacht erhob sich ein starker Wind, der mich bis in die +Knochen schaudern machte und die trübe Erstarrung, in die ich versunken +war, durchbrach. Da weit und breit Totenstille herrschte, stand ich auf, +zog das Paket unter den welken Blättern hervor, mit denen ich es bedeckt +hatte, und kleidete mich <span class='pagenum'><a name="Page_383" id="Page_383">[383]</a></span>um. Den Arbeitskittel wollte ich nicht +mitnehmen und dachte erst daran, ihn wieder unter die Bank zu legen. Da +fiel mir plötzlich ein, daß ich ihn, um ihn aus der Welt zu schaffen, +noch besser in den Kanal werfen könnte.</p> + +<p>Ich stand schon auf der Brücke, als ich an mein Geld dachte, das noch in +dem Kittel war. Auf dem Wege zum Bahnhof malte ich mir aus, wie +verhängnisvoll es für mich hätte werden können, wenn ich ohne Geld +geblieben wäre, und dabei fiel mir endlich ein, daß ich auch Mingos +Brief bei mir gehabt hatte für den Fall, daß ich ihre Wohnung vergäße. +Es tat mir leid, den Brief verloren zu haben, aber ich war zu müde und +zu gleichgültig, um umzukehren und einen Versuch zu machen, ob ich das +Paket noch aus dem Wasser fischen könnte, was ohnehin unwahrscheinlich +war. Auch graute mir, obwohl ich solchen Stimmungen sonst nicht +unterworfen bin, vor der verlassenen Stelle, und es war mir zumute, als +würde ich mich selbst auf der weißen Bank vor dem schwarzen Wasser +sitzen sehen, wenn ich zurückkehrte. Im Eisenbahnwagen <span class='pagenum'><a name="Page_384" id="Page_384">[384]</a></span>schlief ich +sofort ein und schlief fest, bis ich zu Hause ankam. Ich hatte den +Eindruck, daß niemand mich kommen sah und niemandem meine Abwesenheit +aufgefallen war.«</p> + +<p>»Warum haben Sie den Sachverhalt nicht sofort der Wahrheit gemäß +dargestellt?« fragte der Vorsitzende, der während der langen Erzählung +mit seinem Bleistift gespielt hatte und in den Anblick desselben +versunken schien. »Das hätte Ihnen von vornherein eine andere Stellung +gesichert.«</p> + +<p>»Ja, wenn man mir geglaubt hätte!« sagte Deruga. »Den einzigen Beweis, +den ich beibringen konnte, den Brief meiner Frau, hatte ich verloren, +und ich dachte nicht an die Möglichkeit, ihn wiederzufinden. Freilich +war ich überzeugt, selbst wenn sich der Kittel herbeischaffen ließe, +würde das Wasser den Brief zerstört haben.«</p> + +<p>»Sonderbare Geschichte das!« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann nach der Sitzung +zu den übrigen Herren. »Ich gestehe, der Mensch hat mich beinahe +gerührt. Ein derartiges gegen<span class='pagenum'><a name="Page_385" id="Page_385">[385]</a></span>seitiges Wohlwollen findet man selten bei +Eheleuten.«</p> + +<p>»Die waren ja auch geschieden,« sagte der Staatsanwalt listig.</p> + +<p>Alle Herren lachten. »Übrigens,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, »für ein +bißchen nervös und empfindsam halte ich unseren Italiener doch. Ich +hatte nicht unrecht, wenn ich ihn mit einem Chamäleon verglich.«</p> + +<p>Das wurde zugegeben. Aber es sei schließlich kein Verbrechen, ein +Chamäleon zu sein. Viele fänden es sogar reizvoll.</p> + +<p>»Ein Spielzeug für Damen,« sagte der Staatsanwalt vergnügt, »und um der +Damen willen muß er freigesprochen werden. Ich hoffe, unsere +Geschworenen vergessen nicht, daß es die Damen sind, die im öffentlichen +wie im privaten Leben den Ausschlag geben.«</p> + +<p>»Besonders vergessen Sie hoffentlich nicht,« sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, +»daß es Frauen gibt, die weder im öffentlichen noch im privaten Leben +hervortreten und doch tapferer sind als unser starkes Geschlecht.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_386" id="Page_386">[386]</a></span>Man wollte allerseits an dem Vorsitzenden eine Vorliebe für Fräulein +Gundel Schwertfeger bemerkt haben und neckte ihn damit.</p> + +<p>Ja, er sähe auf den Kern, rechtfertigte sich <tt>Dr.</tt> Zeunemann, lasse +sich nicht durch Schein und Schimmer verblenden wie der ewig junge +Staatsanwalt.</p> + +<p>»Sie hat gelogen wie eine Heilige,« sagte dieser, »und mir ist es recht, +wenn das Gericht ihr eine Aureole statt der Strafe zuerkennt, denn das +Martyrium hat sie schon hinter sich. Hernach werde ich aber mit +verdoppelter Kraft den Buchstaben des Gesetzes schwingen.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_387" id="Page_387">[387]</a></span></p> +<h2><a name="XIX" id="XIX"></a><tt>XIX.</tt></h2> + + +<p>Es dämmerte schon, als Mingo ins Hotel kam, wo ihre Mutter am Kamin saß +und in einem Buch blätterte.</p> + +<p>»Wo warst du denn?« fragte sie mißbilligend, indem sie das Buch in den +Schoß legte. »Ich habe mich deinetwegen beunruhigt.«</p> + +<p>»Aber Mama,« sagte Mingo erstaunt, »das habe ich nicht vorausgesetzt. +Wenn wir getrennt sind, hast du doch keine Ahnung, wann ich nach Hause +komme, und sorgst dich nie um mich.«</p> + +<p>»Das ist etwas anderes, Mingo,« antwortete die Baronin gereizt. »Ich +wäre nicht mehr am Leben, wollte ich mir Gedanken um dich machen, wenn +du anderswo bist. Hier mußt du dich nach mir und den herrschenden Sitten +richten. Ein junges Mädchen aus guter Familie darf in der Dunkelheit +nicht allein durch die Straßen laufen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_388" id="Page_388">[388]</a></span>»Daran dachte ich nicht,« entschuldigte sich Mingo kleinlaut, »weil ich +es so gewöhnt bin. Ich war so glücklich, Mama.«</p> + +<p>»Glücklich? Warum?« fragte die Baronin. »Weil wir nach Paris reisen, +oder weil Peter Hase uns begleitet? Oder weil du studieren darfst?«</p> + +<p>»Ach nein, Mama,« antwortete Mingo, »weil der schreckliche Prozeß nun +bald zu Ende ist, und weil er freigesprochen wird. Er wird doch +freigesprochen?«</p> + +<p>»Ich glaube bestimmt,« sagte die Baronin.</p> + +<p>Mingo, die sich inzwischen auf ein Kissen zu Füßen ihrer Mutter gekauert +hatte, rief aus: »Aber seine Unschuld ist doch sonnenklar!«</p> + +<p>»Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist er doch nicht unschuldig,« sagte +die Baronin.</p> + +<p>Mingos Gesicht drückte ängstlichen Zweifel aus, allmählich verzog es +sich, so daß es kläglich und hilflos wie das eines kleinen Kindes +aussah, und in Tränen ausbrechend umklammerte sie mit beiden Armen die +Knie ihrer Mutter. »O Mama, das ertrüg' ich nicht, das ertrüg' ich +nicht,« schluchzte sie.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_389" id="Page_389">[389]</a></span>Die Baronin schob sie sacht mit den Händen zurück und fragte befremdet, +fast tadelnd: »Was ist dir? Was hast du, Kind?« während sie sich eines +stechenden Schmerzes zu erwehren suchte, der ihr Herz zusammenzog.</p> + +<p>»Stoß' mich doch nicht fort, Mama,« schluchzte Mingo, ihre Mutter fest +umklammernd, »ich kann ja nichts dafür, daß es so ist! Hilf mir doch, +ich habe ja nur dich! Ich kann nicht ohne ihn leben.«</p> + +<p>Die Baronin beugte sich herab, zog die kleine Gestalt auf ihren Schoß +und preßte das tränenüberströmte Gesicht an ihres. »Meine kleine Mingo,« +sagte sie zärtlich, »so sehr liebst du ihn?«</p> + +<p>Noch schluchzend drängte sich das Mädchen dicht an ihre Mutter. »Ich +wollte gern sterben, wenn ich ihn damit glücklich machen könnte,« sagte +sie leise.</p> + +<p>Die Baronin streichelte sie und drückte sie fest an sich. »Meine liebe +Kleine,« sagte sie besänftigend, »es ist natürlich, daß er in dieser +Lage einen starken Eindruck auf dein liebevolles, phantastisches Gemüt +gemacht hat. Er übt einen <span class='pagenum'><a name="Page_390" id="Page_390">[390]</a></span>großen Zauber aus, das ist wahr. Aber glaube +mir, das ist nicht der Mann, der dich beglücken könnte, ganz abgesehen +davon, daß sein Alter und seine Stellung im Leben den Gedanken an eine +Heirat mit dir von vornherein ausschließen.«</p> + +<p>»Seine Stellung im Leben,« rief Mingo, sich entrüstet aufrichtend. »O +Mama, und wenn er ein Straßenkehrer wäre, er stände hoch, hoch über mir +und allen Männern, die ich kenne. O Mama, ich kann es nicht ertragen, +daß du so kleinlich denkst oder sprichst. Und was frage ich nach seinem +Alter? Will ich denn etwas von ihm? Wenn meine Jugend sein Herz einen +Augenblick erfreuen könnte, wie man sich an einer Blume erfreut, so wäre +ich glücklich, sie ihm hingeben zu dürfen.«</p> + +<p>Plötzlich brach sie ab, da sie sah, daß die schönen grauen, +schwarzumsäumten Augen ihrer Mutter feucht und daß auf ihren blassen +Wangen Tränenspuren waren. Sie nahm das kleine, spitzenbesetzte +Taschentuch, das die Baronin in der Hand hielt, trocknete damit behutsam +ihr <span class='pagenum'><a name="Page_391" id="Page_391">[391]</a></span>Gesicht und fragte nachdenklich: »Sind das meine Tränen?«</p> + +<p>»Wessen wohl sonst?« fragte die Baronin lächelnd.</p> + +<p>»Aber du hast ja auch Tränen in den Augen,« fuhr Mingo fort. »Ach Mama, +was für ein böses Kind bin ich, dir solchen Kummer zu machen! Aber ich +kann ja nichts dafür, es ist ganz gewiß stärker als ich! Alles, alles, +was ich habe, wollte ich geben, wenn er mich nur ein bißchen liebhaben +könnte! Wenn er mich wenigstens um sich leiden möchte! Ich weiß nicht, +was aus mir werden soll ohne ihn.«</p> + +<p>»Meine süße, kleine Mingo,« begann die Baronin.</p> + +<p>»Sage: mein süßer, kleiner Mingo,« bat Mingo.</p> + +<p>»Mein süßer, kleiner Mingo,« wiederholte die Baronin, »kühle vor allen +Dingen dein Gesicht, denn du möchtest gewiß nicht gern, daß dein Vater, +der jeden Augenblick kommen kann, dich so überraschte. Ich fürchte, er +würde wenig Verständnis für deine Gefühle haben. Und dann laß uns +zunächst ruhig das Urteil erwarten! <span class='pagenum'><a name="Page_392" id="Page_392">[392]</a></span>Sollte er nicht freigesprochen +werden, so kann er weitergehen; wir brauchen also selbst im schlimmsten +Falle die Hoffnung nicht aufzugeben. Was dann wird, hängt nicht von uns +ab. Dich zu lieben, können wir ihn nicht zwingen, aber ich glaube, daß +er schon um seiner verstorbenen Tochter willen Sympathie für dich hat.«</p> + +<p>»Glaubst du?« fragte Mingo, während sie sich das erhitzte Gesicht mit +einem nassen Tuche betupfen ließ. Die ungewohnte mütterliche +Zärtlichkeit hatte etwas lieblich Einwiegendes, und sie hielt +unwillkürlich die Mutter fest umarmt, als wolle sie die wohltätige +Anwandlung verhindern, einem Traume gleich zu verschwinden.</p> + +<p>»Du scheinst plötzlich wieder ein kleines Kind geworden zu sein,« sagte +die Baronin, »und zu denken, wie kleine Kinder tun: Mama wird mir Sonne +und Mond geben, wenn ich will.«</p> + +<p>Mingo sah die Baronin mit großen, wundergläubigen Augen an und nickte. +»Das kommt, weil du so gut zu mir bist,« sagte sie.</p> + +<p>Erst gegen Morgen schlief die Baronin ein und erwachte mit müdem, +unfrohem Herzen. <span class='pagenum'><a name="Page_393" id="Page_393">[393]</a></span>Mingos zärtliche Begrüßung, kleine Aufmerksamkeiten +und verstohlene Blicke ermunterten sie doch allmählich.</p> + +<p>»Nun, Mingo,« sagte sie, »ich nehme dich heute nur mit in die Sitzung, +wenn du brav sein willst. Auftritte sind mir verhaßt, besonders in der +Öffentlichkeit.« Mingo versprach es und wurde auf keine zu schwere Probe +gestellt. Denn die Reden waren kurz, und die Geschworenen lehnten nach +kaum halbstündiger Beratung die Schuldfrage ab.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>In der allgemeinen Bewegung, die entstand, erschien nur Deruga +gleichgültig; einzig als er, nachdem die Baronin ihn beglückwünscht +hatte, Mingos Auge voll Sorge und Liebe auf sich gerichtet sah, wurden +seine Mienen weich.</p> + +<p>»Kleiner Mingo,« sagte er, indem er ihr zunickte, »sind Sie nun +zufrieden? Sehen Sie, die Menschen sind gar nicht so böse!«</p> + +<p>Im ersten Augenblick überwältigte sie das Glück dieser Anrede; aber als +sie neben ihrer Mutter im Wagen saß und alles Erlebte wieder +<span class='pagenum'><a name="Page_394" id="Page_394">[394]</a></span>durchträumte, schien es, als habe der bewunderte Mann sie doch recht +karg abgespeist. Mit wem mochte er seinen Triumph jetzt so recht +ausgiebig feiern? War er überhaupt froh? Es hatte so viel Widerwillen +und Verachtung in dem Gesicht gelegen, das doch so innig lächeln konnte. +Ob er glücklicher sein würde, wenn er wüßte, wie ganz und gar sie ihm +ergeben war?</p> + +<p>»Mingo,« sagte die Baronin am Nachmittag, als sie allein miteinander +waren, »ich werde jetzt Deruga aufsuchen, um zu erfahren, welches seine +Absichten für die nächste Zukunft sind, und ihn bitten, daß er mich als +seine Verwandte betrachtet. Dich nehme ich nicht mit, weil du sehr wenig +imstande bist, deine Empfindungen zu beherrschen, und es nicht +schicklich ist, wie du auch finden wirst, wenn ein Mädchen sich einem +Manne anträgt.«</p> + +<p>Mingo war nicht der Meinung. Sich diesem einzigen Manne gegenüber hinter +Schicklichkeitsregeln zu verschanzen, schien ihr unwürdig, das einzig +Natürliche und Richtige vielmehr, ihm zu sagen: Ich bin dein, nimm mich +hin. <span class='pagenum'><a name="Page_395" id="Page_395">[395]</a></span>Da sie aber wußte, daß sie ihre Mutter für diese Auffassung nicht +würde gewinnen können, und da sie sich außerdem vor einer Begegnung mit +Deruga ebensosehr fürchtete, wie sie sie herbeisehnte, erklärte sie sich +dankbar einverstanden.</p> + +<p>»Aber ich darf ihn doch grüßen lassen,« fragte sie. Die Baronin lächelte +und küßte sie. »Geh' inzwischen mit deinem Vater spazieren,« sagte sie, +»daß dir die Zeit nicht lang wird.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_396" id="Page_396">[396]</a></span></p> +<h2><a name="XX" id="XX"></a><tt>XX.</tt></h2> + + +<p>Als die Baronin bei Deruga eingetreten war, der an einem Tische saß und +schrieb, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte dann: »Sie sehen +nicht aus wie ein Sieger. Mir entfällt der Mut, Ihnen Glück zu +wünschen.«</p> + +<p>»Sie irren sich,« antwortete Deruga, »ich habe soeben einen Entschluß +gefaßt, um dessentwillen ich zu beglückwünschen bin: Ich will den +Schauplatz, der mir nicht gefällt, verlassen.«</p> + +<p>»Das habe ich vorausgesetzt,« sagte die Baronin. »Hätten Sie nicht Lust, +uns nach Paris zu begleiten?«</p> + +<p>»Nein, ich will weiter, viel weiter fort,« sagte Deruga.</p> + +<p>»Nun, das ist auch gut,« meinte die Baronin. »In der Ferne werden Sie +die häßlichen Eindrücke, die Sie hier gehabt haben, vergessen, und wenn +Sie wissen, daß Sie in dem trüben <span class='pagenum'><a name="Page_397" id="Page_397">[397]</a></span>Wust einen kostbaren Schatz gewonnen +haben, nämlich ein reines, warmes, treues Herz, so wird Sie das +allmählich zurückziehen.«</p> + +<p>»Ich bin nicht so verwegen, mir einzubilden, ich hätte Ihr Herz +gewonnen, Frau Baronin,« sagte Deruga, gutmütig spottend, »auf das Ihre +Schilderung auch wohl so ganz nicht paßt.«</p> + +<p>»Nein, nicht so ganz,« sagte die Baronin, indem sie mit wehmütiger +Koketterie den Kopf wiegte, »immerhin dachte ich an eines, das dem +meinigen nah, sehr nah verwandt ist.«</p> + +<p>»Kleiner Mingo,« sagte Deruga träumerisch, und dann rascher, zu seinem +Gast gewendet: »Ach, glauben Sie denn, Baronin, ich könnte es ertragen, +ein Wesen an meiner Seite zu haben, das mich immer an meinen kleinen +Mingo erinnerte, den ich verloren habe? Wenn Sie das für möglich halten, +so wissen Sie nicht, was Elternliebe ist.«</p> + +<p>»O doch, ich habe es erfahren,« sagte die Baronin, indem sie langsam den +verschleierten Blick auf ihn richtete.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_398" id="Page_398">[398]</a></span>»Ich glaube Ihnen,« sagte Deruga, »aber vielleicht können Sie sich +nicht in meine Lage denken.«</p> + +<p>»Es ist natürlich,« sagte die Baronin, »daß ich zunächst die meine und +die meines Kindes empfinde. Daß eine Mutter ihre Tochter nicht gern +einem um so viel älteren Manne gibt, das versteht sich doch wohl von +selbst. Wenn ich trotzdem mich entschlossen habe, Ihnen von dieser +Neigung zu sprechen, so geschah es, weil ihre Stärke und unschuldige +Zuversicht mich rührten und mir den Glauben erweckten, es könne doch +vielleicht — wie man so sagt — Gottes Wille sein. Dazu kommt freilich, daß +ich mich davor fürchte, das Kind leiden zu sehen.«</p> + +<p>»Wirkliches Leiden,« sagte Deruga, »würde ihr die Erfüllung ihres +Wunsches bringen. Sie kennt mich nicht. Und auch Sie, Baronin, kennen +mich offenbar nicht genügend.«</p> + +<p>»Die Natur will nicht, daß wir Frauen die Männer ganz kennen,« sagte die +Baronin leicht errötend. »Hat sie uns nicht blind gemacht, so müssen wir +uns wohl oder übel die Augen ver<span class='pagenum'><a name="Page_399" id="Page_399">[399]</a></span>binden. Aber von Ihnen, gerade von +Ihnen glaubte ich, daß es nur von Ihrem Willen abhinge, wenn nicht ein +großer, so doch ein sehr guter Mensch zu sein.«</p> + +<p>»Wenn das wahr wäre,« sagte Deruga, »so wäre ich es ja. Mein Wille hängt +aber nicht von mir ab, sondern von meinem Blut, von meinen Nerven, von +den Eindrücken, die ich empfange, von tausenderlei Strömungen und +Stockungen, über die ich nicht Herr bin. Ich habe Augenblicke gehabt, wo +es mir vor mir selbst ekelte, und ich will verhindern, daß sie +wiederkommen, nachdem ich einmal hoch über allen irdischen Niedrigkeiten +war.«</p> + +<p>»Und könnten Sie das nicht am besten dadurch verhindern,« sagte die +Baronin, liebevoll dringend, »daß Sie Ihr Leben mit einem jungen, +reinen, vertrauenden verbänden?«</p> + +<p>»Wenn ich stark wäre, ja,« sagte Deruga. »Aber da ich schwach bin, +bleibt mir doch nur der andere Weg, daß ich fortgehe.«</p> + +<p>Etwas in seinen Mienen oder im Ton seiner Worte machte, daß die Baronin +ihn plötzlich <span class='pagenum'><a name="Page_400" id="Page_400">[400]</a></span>richtig verstand. Ihre Hand, die auf der Lehne seines +Stuhles lag, zitterte, und sie wurde bleich. Eine schreckliche Angst, er +könne jetzt gleich, ihr gegenüber Hand an sich legen, befiel sie, und +zugleich durchzitterte sie der Gedanke, daß dies die beste Lösung für +sie wäre.</p> + +<p>»Es ist entsetzlich, mir das zu sagen,« stöhnte sie, die Augen +schließend und den Kopf zurücklehnend.</p> + +<p>»Nicht so sehr,« sagte Deruga, »ich hätte es nicht gesagt, wenn ich +nicht wüßte, wie verständig Sie sind. Ich will Ihnen gestehen, als mich +Ihre Augen zum ersten Male mit einem Blick trafen, der aus Abneigung und +plötzlich erregter Zuneigung gemischt war, wurde eine starke Begierde zu +leben in mir wach, wie ich sie jahrelang nicht empfunden hatte. Denn +eigentlich lebte ich nur so hin, weil ich einmal da war, ohne daß etwas +mich sonderlich reizte. Der Trieb, den Sie in mir entzündeten, war +nichts Hohes oder Schönes, es war ein Durcheinander von Genußsucht, +Eitelkeit und Selbstliebe, was eben bei uns Männern der Leidenschaft +hauptsächlich <span class='pagenum'><a name="Page_401" id="Page_401">[401]</a></span>zugrunde liegt. Der Reichtum, der mir in den Schoß +gefallen war, bekam plötzlich doppelten Wert für mich. Von ihm getragen, +wollte ich leben um jeden Preis, was für Opfer es auch kosten möchte, +leben, um ungeschränkt zu genießen. Wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn +der gute <tt>Dr.</tt> Bernburger nicht den Brief von meiner armen Marmotte +gefunden hätte!«</p> + +<p>»Da verblaßte die neue vor der alten Liebe,« sagte die Baronin leise.</p> + +<p>»Sie mögen es immerhin so ausdrücken,« sagte Deruga. »Vom Finger der +Erinnerung berührt, stieg die göttliche Zeit vor mir auf, die mir einmal +geschenkt war. Ich sah, wie flach, zerbrechlich, alltäglich und ekelhaft +alles das war, was mich glänzend und genußreich umgaukelt hatte, +verglichen mit der Seligkeit, die ich empfand, als ich meiner armen, +kranken Marmotte den Tod gab. Ja, ich würde reicher und angesehener +sein, es würden mir feinere, höher gestellte Frauen zu Verfügung stehen +als früher, aber ich würde mit jedem Schritt tiefer in den Schlamm der +Alltäglichkeit versinken <span class='pagenum'><a name="Page_402" id="Page_402">[402]</a></span>und mich weiter von jenem Götterglück +entfernen, bis ich meine Fähigkeit dazu endlich vergessen und verloren +hätte.«</p> + +<p>»Man kann nicht immer auf den Höhen verweilen,« wandte die Baronin +zaghaft ein.</p> + +<p>»Ich wenigstens kann es nicht,« sagte Deruga. »Aber ich war doch einmal +begnadet, in ätherischer Luft zu atmen. Mir schmeckt eure Zeit nicht +mehr nach jenen ewigen Augenblicken.«</p> + +<p>»Vielleicht,« sagte die Baronin zögernd, »könnte Mingo Sie umstimmen, +wenn sie zu Ihnen käme.«</p> + +<p>»Das wäre zum Unglück für uns beide,« sagte Deruga. »Lassen Sie dem +Kinde eine schöne, heilige Erinnerung, die vielleicht einmal dunkle +Stellen des Lebens verklären kann. Mich beglückt der Gedanke, daß sie +ein unbeflecktes Bild von mir in liebevollem Herzen festhält. +Versprechen Sie mir, es nicht zu zerstören, Baronin!«</p> + +<p>»Es ist ja mir so teuer wie ihr,« sagte sie mit erstickter Stimme. Sie +drückte das Taschentuch an die Augen und saß ihm lange stumm gegenüber. +Plötzlich kam ihr inmitten ver<span class='pagenum'><a name="Page_403" id="Page_403">[403]</a></span>worrener Gefühle und Gedanken ein +Einfall, dem nachgebend sie sich schnell aufrichtete und fragte: »Und +die verhängnisvolle Erbschaft? Was wird aus der, wenn Sie — fortgehen?«</p> + +<p>Deruga lachte. »Wahrhaftig, Baronin,« sagte er, »wenn Gundel +Schwertfeger nicht wäre, würde ich sie Ihnen von Herzen gönnen. Aber, +sehen Sie, Gundel Schwertfeger kommt das Geld eigentlich zu, weil die +Marmotte es ihr zugedacht hatte, und weil sie es in ihrem Sinne anwenden +wird. Und um mich hat sie es verdient, das treue, tapfere Herz, obwohl +ich ihr einmal böse war, weil sie mich zu hart beurteilte. Im Grunde +galt mein Zorn nur ihrer Unbestechlichkeit.«</p> + +<p>»Ach,« sagte die Baronin schmollend, »Sie und das Fräulein Schwertfeger +gehören zu den Leuten, die nur ein Herz für die Leiden der Armen haben. +Glauben Sie mir, verhältnismäßig bin ich ärmer als die ärmste +Taglöhnersfrau.«</p> + +<p>»Ja, aber nur verhältnismäßig,« lachte Deruga.</p> + +<p>»Nun, lassen wir das,« sagte die Baronin, »nur um eines bitte ich Sie: +Lassen Sie die <span class='pagenum'><a name="Page_404" id="Page_404">[404]</a></span>Nadel, den Mohrenkopf, den Sie in der Krawatte tragen, +nicht in fremde Hände fallen!«</p> + +<p>»Sie sollen ihn als Andenken erhalten,« sagte Deruga, »wenn ich meine +Reise antrete. Machen Sie sich aber niemals Gedanken, Baronin, als +hätten Sie den Aufbruch verschuldet! Schon oft, lange vor diesem Prozeß, +habe ich die Absicht gehabt, diese öde Station zu verlassen, wo ich mich +ebenso langweilte wie Sie in Ihrer Ehe. Vielleicht erinnern Sie sich, +daß ich einmal im Anfang der Verhandlungen erzählte, wie ich fortgereist +und aufs Geratewohl querfeldein gegangen sei, um irgendwo draußen in der +Einsamkeit wie ein Tier zu sterben. Das war keine Erfindung, wenn es +auch nicht gerade an dem Tag vorgefallen war.«</p> + +<p>Die Baronin war aufgestanden und hielt ihm zögernd die Hand hin. »Lieber +Doktor,« sagte sie, »alles, was Sie nur eben sagten, war der Ausdruck +einer Stimmung, die nach den vorausgegangenen Eindrücken erklärlich ist, +die aber vorübergehen wird. Ihre zahlreichen Freunde werden darauf +hinzuwirken suchen, und ich bin überzeugt, <span class='pagenum'><a name="Page_405" id="Page_405">[405]</a></span>schon morgen werden Sie +irdischer, menschlicher empfinden. Ich wäre nicht imstande Ihnen +Lebewohl zu sagen, wenn ich nicht fest darauf rechnete.«</p> + +<p>»Küß die Hand, Baronin, und grüßen Sie Mingo!«</p> + +<p>Auf der Treppe zog die Baronin einen Spitzenschleier aus der kleinen +Handtasche, die sie in der Hand trug, und band ihn vor ihr Gesicht, über +das unaufhaltsame Tränen flossen. Erst nachdem sie eine Zeitlang in den +entlegenen, einsamen Straßen dieser Gegend auf und ab gegangen war, +versiegten sie und vermochte sie sich zu fassen. Nach Hause zu gehen, +fühlte sie sich immerhin noch nicht fähig und beschloß, auf Umwegen in +die innere Stadt, wo die eleganten Geschäfte waren, zurückzukehren und +einige für die Abreise notwendige Einkäufe zu machen.</p> + +<p>Der Gedanke an Paris hatte etwas Befreiendes für sie. Auf der neuen +Szene, dachte sie, würden neue Auftritte mit neuen Eindrücken kommen und +sie heilen; denn sie bedürfte es doch mehr als Mingo. Ja, für Mingo war +es gut so, das fühlte sie mit jedem Augenblick <span class='pagenum'><a name="Page_406" id="Page_406">[406]</a></span>deutlicher. Eine kurze +Zeit leidenschaftlicher Wonne hätte sie vermutlich, wenn sie Deruga +geheiratet hätte, mit einem Leben voll Enttäuschungen und mannigfacher +Bitterkeit erkauft; denn was für Schätze sein Herz auch bergen mochte, +ihr gegenüber wäre er bald der alternde, launenhafte, überdrüssige, +erloschene Mann geworden. Der Schmerz hingegen, den sie jetzt erfuhr, +würde sich bald, wie Deruga vorausgesagt hatte, in eine heilig behütete +Erinnerung verwandeln, bei der man gern in Träumen verweilt. Vielleicht +war sie infolge der Erregungen, die sie durchgemacht hatte, gerade in +der rechten Verfassung, um für Peter Hases Werbung empfänglich zu sein, +der sie begleitete, oder es würde einem anderen gelingen, sie zu +interessieren. Dies Erlebnis hatte den Boden ihrer Seele erst lockern +müssen, der sich bisher vor der Liebe verschlossen hatte. Es lag jetzt +nur an ihr, sich eine reiche Ernte für die Zukunft zu sichern.</p> + +<p>Sie dagegen, so dachte die Baronin, hatte einen dürren Herbst und einen +öden Winter zu erwarten. Es schauderte sie, und sie zog das +<span class='pagenum'><a name="Page_407" id="Page_407">[407]</a></span>Pelzgehänge, das sie an den kühlen Frühlingstagen noch trug, dicht um +sich zusammen. Gab es denn irgendwo auf Erden die göttliche Zeit, das +himmliche Klima, wovon Deruga gefabelt hatte? Ach, mit was für +fremdartigen Gedanken hatte er sie gestört! Nein, das Verstiegene und +Überschwängliche hatte sie sich immer fern gehalten und wollte es auch +ferner tun, das ihrem guten Geschmack widerstrebte. Das Leben war reich +an heiteren, reizenden Augenblicken; die Kunst, diese Schmetterlinge +einzufangen, sich an ihrem Schmelz zu erfreuen, ohne sie zu betasten, +wollte sie sich immer mehr zu eigen machen. Konnte sie dazu eine bessere +Gelegenheit finden als in Paris, in Gesellschaft ihrer Tochter und Peter +Hasens? War nicht endlich auch ihr Mann ein schätzbarer Begleiter? +Ansehnlich, elegant, zuvorkommend, eben durch seine langweilige +Farblosigkeit bequem? Ihr Schritt wurde immer elastischer und ihre +Mienen heiterer. Als sie im Hotel ankam, strömte ihr Wesen einen so +frischen Reisemut aus, daß ein wenig davon auf Mingo überging.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_408" id="Page_408">[408]</a></span>Ein paar Tage später erhielt sie in Paris ein Paketchen, in dem Derugas +Nadel mit dem Mohrenkopf war. Ihre Augen wurden feucht, aber sie verbarg +das Kleinod schnell in einer Schatulle, wo sie ihre Kostbarkeiten zu +verschließen pflegte, um es erst dann wieder hervorzunehmen, wenn ihr +Herz ganz still und sicher geworden wäre.</p><p><span class='pagenum'><a name="Page_409" id="Page_409">[409]</a></span></p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Ankündigungen auf den folgenden Seiten werden freundlicher Beachtung +empfohlen</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_410" id="Page_410">[410]</a></span></p> + +<div> +<table border="1" cellpadding="20"> +<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr> +<tr><td> +<p><br /></p> +<h3>Der Stein der Weisen</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Max Geißler</h4> +<p><br /> +Die letzten fünfundzwanzig Jahre deutschen Lebens +umfaßt Max Geißlers neuer Roman, der ganz eingesponnen +ist in den Frieden des Bergwaldes. Durchs Wettertal +fährt im Juli 1890 der Doktor Valerius Degenhart aus +Frankfurt am Main, der Träumer, der aus der +zerrüttenden Berufsarbeit sich nach der großen Stille +sehnt. Im Wettertal läßt er, als seine unmoderne +Reisekutsche verunglückt, zu dauernder Rast sich +nieder. Zwischen Himmel und Erde, vor einer Natur von +unsagbarer Schönheit baut er sich sein Haus, die +Streitburg. Wenig Äußeres geschieht in diesem Buch. +Doch es hat eine Melodie tiefinnerster Seligkeit, die +im Herzen nachklingt wie der Glanz endloser Sommertage. +<br /><br /><br /><br /></p> + +<h3>Die Arche</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Werner Scheff</h4> +<p><br /> +In diesem utopischen Roman eines neuen Autors ist die +stolzeste Tat vorhergeahnt, die im Weltkrieg der Geist +der deutschen Technik verwirklichte, und mit +schöpferischer Phantasie übertragen auf ferne Zukunft. +Noch wußten nur die Eingeweihten vom Bau der +»Deutschland«, als Werner Scheff seine »Arche« schrieb, +die mit der Taufe des großen Untersee-Passagierbotes, +der »Gloria«, im August 1947 beginnt. Hammerhart, voll +nüchternen Zweckbewußtseins, bis in die letzten Dinge +der Konstruktion durchdacht ist seine Gestaltung des +kühnen Ingenieurtraums. Mit ungeheuersten Möglichkeiten +des Weltenschicksals, mit einem Weltuntergang, ist sie +verbunden. Aber rein und trostvoll in ihrem milden +Glauben an die Ewigkeit der Kultur ist die Stimmung des +Schlusses.</p></td></tr> +<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr> +</table> +</div> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_411" id="Page_411">[411]</a></span></p> +<div> +<table border="1" cellpadding="20"> +<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr> +<tr><td> +<p><br /></p> +<h3>Lotte Hagedorn</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Felix Philipp.</h4> +<p><br /> +In das Erleben einer früheren Generation trägt Felix +Philipps neues Werk zurück. Mit einem Spaziergang nach +den Linden, den am Himmelfahrtstag 1869 der +Kommissionsrat Schlegel unternimmt, setzt die +Geschichte der Lotte Hagedorn ein. An jenem Junitage +des Jahres 1871 endet sie, an dem durch das +Brandenburger Tor die aus Frankreich heimkehrenden, +kranzgeschmückten Truppen umjubelt einzogen. Stimmungen +von altväterischem Reiz begleiten diesen zarten und +rührenden Roman eines Frauenherzens. Den Zusammenbruch +eines Bankhauses in der Jägerstraße, dessen Inhaber +elegant und frivol ist wie die Bankiers des +napoleonischen Paris, schildern die stärksten Kapitel. +Sie bringen in diese Welt der bürgerlichen Sparsamkeit +etwas wie eine erste Vorahnung der Gründerjahre. +<br /><br /><br /><br /></p> + +<h3>Candida</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Albert von Trentini</h4> +<p><br /> +Das neue Werk Trentinis hat ein Motiv von großer +Kühnheit: die Zerstörung einer glühenden Leidenschaft +durch einen Unfall, der das Antlitz der Geliebten jäh +entstellt. In einer Sprache voll feierlichen Glanzes +gibt der junge österreichische Dichter den Kampf zweier +Menschen wieder, des Mannes, dessen Gefühl erstarrt, +der Frau, die stolz und einsam dem selbstgewollten +Schicksal entgegenschreitet, bis über Stolz und +Einsamkeit die zitternde Liebe der Seelen triumphiert. +Rom, seine Gärten und Tempel, die nachtdunkle +Steinwüste des Kolosseums sind der Schauplatz des +ersten Teils; in der unberührten Natur der Tiroler +Alpen, in Berlin und München geht die Handlung zu Ende. +</p></td></tr> +<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr> +</table> +</div> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_412" id="Page_412">[412]</a></span></p> + +<div> +<table border="1" cellpadding="20"> +<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr> +<tr><td> +<p><br /></p> +<h3>Schüsse vor Warschau</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Christian Bouchholtz</h4> +<p><br /> +Der weiße polnische Winter ist in diesem Roman eines +jungen Berliner Schriftstellers, der als Kanonier an +der Bzura lag, einen Tagemarsch vor Warschau, und bei +Brochow, Chopins Geburtsort. In kecken Skizzen malt er +die Straßen von Lowicz, die Typen des polnischen +Bauernvolks, die rohgezimmerten Panjehütten, die +dumpfen Stuben mit der goldglänzenden, schwarzen +Madonna von Czenstochau, Bäuerinnen und Burschen, die +den Krakowiak tanzen, den Brand einer zerschossenen +Zuckerfabrik. Ein Spionagefall ist das erregende Moment +der Handlung und trägt in sie die Gegenwart von Verrat +und Tod. Eine Mädchenfigur, schön, künstlich, +lasterhaft, steht mitten in dieser romantischen +Atmosphäre des Werkes. +<br /><br /><br /><br /></p> + +<h3>Variété</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Joachim Delbrück</h4> +<p><br /> +Ein Kenner des Variétés, seines Glanzes und seiner +Not, seines internationalen Marktes, seiner +unerbittlich harten Auslese, seiner tragischen und +seiner grotesken Züge, hat diesen Roman verfaßt. Doch +nicht die überraschend wahre Darstellung des +Artistentums ist das Entscheidende, sondern die +künstlerische Note des Werkes. Ein impressionistisches +Gemälde von starkem Farbenreiz wird alles, was Joachim +Delbrück schildert: die lichtstrotzende Rampe der +Skala, eine goldflimmernde Akrobatentruppe, dänische +Garde in Scharlachrot, Kopenhagens Freiluftstimmungen +aus silbergrauer Herbstzeit. Die Seele vieler Städte +ist in Delbrücks feinem und buntem Roman, mit dem eine +neue, persönliche Begabung sich durchsetzt. +</p></td></tr> +<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr> +</table> +</div> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_413" id="Page_413">[413]</a></span></p> + +<div> +<table border="1" cellpadding="20"> +<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr> +<tr><td> +<p><br /></p> +<h3>Das Reich von morgen</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Karl Figdor</h4> +<p><br /> +Der Roman von Karl Figdor ist ein farbiges und +spannendes Werk, das der erzählenden Literatur Neuland +erobert. Nach Mesopotamien führt er, dem zukunftsvollen +Gebiet zwischen den beiden Riesenströmen, und an die +Strecke der deutschen Bagdadbahn. Ein deutscher +Ingenieur, Sektionsleiter beim Bau der Brücke von +Dscherablus, und ein blondes deutsches Mädchen, deren +Schicksal nach einer großen Lebenskrise vereinigt wird, +stehen im Vordergrund des Romans. Der Höhepunkt des +ersten Teiles ist die dramatische Schilderung einer +Meuterei arabischer und kurdischer Arbeiter. Dann trägt +die Handlung mitten hinein in die Tage des Krieges, +zurück nach Berlin, zurück in die deutsche Heimat. +<br /><br /><br /><br /></p> + +<h3>Die neuen Weiber von Weinsberg</h3> +<p><br /></p> +<h4>von Karin Michaelis</h4> +<p><br /> +Aus inniger Liebe zu unserem Volke ist dieses Werk der +Dänin Karin Michaelis geboren. Deutschlands und +Österreichs Antlitz im Frieden läßt es uns schauen, in +den Jahren des Glückes, und zeigt es uns verwandelt in +schwerer Kriegszeit. Mit einem Wahrheitsmut, der ihr +tiefe Dankbarkeit sichert, stellt Karin Michaelis +unsere und unserer Bundesgenossen Leistung dar. Mit +schwesterlichem Gefühl, jubelnd und klagend, +verherrlicht sie die Willensmacht, die duldende und +hoffende Größe der deutschen Frauen. Voll zarter und +gewaltiger Stimmungen ist dieser Roman, der als ein +dichterisches Zeugnis für die Reinheit des deutschen +Wesens über unsere Tage hinaus dauern wird. +</p></td></tr> +<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr> +</table> +</div> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_414" id="Page_414">[414]</a></span></p> + +<div> +<table border="1" cellpadding="12" width="100%"> +<tr><td><h2>Romane aus dem Verlag Ullstein & Co</h2></td></tr> +<tr><td> +<p><br /></p> +<p class="center">Auf eigener Erde von <i>Max Dreyer</i><br /> +*<br /> +Die Spur des Ersten von <i>Fedor von Zobeltitz</i><br /> +*<br /> +Fasching von <i>Paul Oskar Höcker</i><br /> +*<br /> +Der Eid des Stephan Huller von <i>Felix Hollaender</i><br /> +*<br /> +Ein Augenblick im Paradies von <i>Ida Boy-Ed</i><br /> +*<br /> +Die Streiche der schlimmen Paulette<br /> +von <i>Karl Hans Strobl</i><br /> +*<br /> +Pantherkätzchen von <i>Marie Madeleine</i><br /> +*<br /> +Das Bataillon Sporck von <i>Richard Skowronnek</i><br /> +*<br /> +Kleine Mama von <i>Paul Oskar Höcker</i><br /> +*<br /> +Zu Befehl! von <i>Heinz Tovote</i><br /> +*<br /> +Eine Frau wie du! von <i>Ida Boy-Ed</i><br /> +*<br /> +Peter Voß, der Millionendieb<br /> +von <i>Ewald Gerhard Seeliger</i><br /> +*<br /> +Der Katzentisch von <i>Viktor von Kohlenegg</i><br /> +*<br /> +Die Glücksfalle von <i>Fedor von Zobeltitz</i><br /> +*<br /> +Die Meisterin von Europa von <i>Paul Oskar Höcker</i><br /> +*<br /> +Die Belowsche Ede von <i>Georgh Hirschfeld</i><br /> +</p></td></tr> +<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr> +</table> +</div> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_415" id="Page_415">[415]</a></span></p> + +<div> +<table border="1" cellpadding="12" width="100%"> +<tr><td><h2>Romane aus dem Verlag Ullstein & Co</h2></td></tr> +<tr><td> +<p><br /></p> +<p class="center">Tschun von <i>Elisabeth von Heyking</i><br /> +*<br /> +Das Geschlecht der Schelme von<i> Fedor von Zobeltitz</i><br /> +*<br /> +Die Sieger von <i>Felix Philippi</i><br /> +*<br /> +Moj von <i>Hans von Hoffensthal</i><br /> +*<br /> +Der Rächer von <i>Stefan Zeromski</i><br /> +*<br /> +Vor der Ehe von <i>Ida Boy-Ed</i><br /> +*<br /> +Der heilige Haß von <i>Richard Voß</i><br /> +*<br /> +Die klingende Schelle von <i>Felix Salten</i><br /> +*<br /> +Die junge Exzellenz von <i>Paul Oskar Höcker</i><br /> +*<br /> +Die Treppe von <i>Viktor von Kohlenegg</i><br /> +*<br /> +Blockade von <i>Meta Schoepp</i><br /> +*<br /> +Der gewürzige Hund von <i>Helene Böhlau</i><br /> +*<br /> +Ein Kriegsurlaub<br /> +von <i>Friedrich Werner van Destéren</i><br /> +*<br /> +Das Buch der Liebe von <i>Marie Eugenie delle Grazie</i><br /> +*<br /> +Das Tor der Wünsche von<i> Friedel Merzenich</i><br /> +*<br /> +Frauenschneider Gutschmidt von <i>Otto von Gottberg</i><br /> +</p></td></tr> +<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr> +</table> +</div> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_416" id="Page_416">[416]</a></span></p> + +<div class="footnotes"> +<p>ANMERKUNGEN ZUR TRANSKRIPTION</p> + +<div class="comment"><p>Stellen im Text, die im Original gesperrt gedruckt sind, werden hier <i>kursiv</i> dargestellt.</p></div> + +<div class="comment"><p>Stellen im Text, die im Original nicht in Fraktur, sondern in Antigua gedruckt sind, werden hier <tt>nicht-proportional</tt> dargestellt.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_TN1_1" id="Footnote_TN1_1"></a><a href="#FNanchor_TN1_1"><span class="label">[TN1]</span></a> Korrektur des Originals, im Original ist hier abwendetete +zu finden</p></div> +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA *** + +***** This file should be named 17169-h.htm or 17169-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/6/17169/ + +Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online +Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose +such as creation of derivative works, reports, performances and +research. They may be modified and printed and given away--you may do +practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is +subject to the trademark license, especially commercial +redistribution. + + + +*** START: FULL LICENSE *** + +THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE +PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK + +To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free +distribution of electronic works, by using or distributing this work +(or any other work associated in any way with the phrase "Project +Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project +Gutenberg-tm License (available with this file or online at +https://gutenberg.org/license). + + +Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm +electronic works + +1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm +electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to +and accept all the terms of this license and intellectual property +(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all +the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy +all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. +If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project +Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the +terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or +entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. + +1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be +used on or associated in any way with an electronic work by people who +agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few +things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works +even without complying with the full terms of this agreement. See +paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project +Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement +and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic +works. See paragraph 1.E below. + +1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" +or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project +Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the +collection are in the public domain in the United States. If an +individual work is in the public domain in the United States and you are +located in the United States, we do not claim a right to prevent you from +copying, distributing, performing, displaying or creating derivative +works based on the work as long as all references to Project Gutenberg +are removed. Of course, we hope that you will support the Project +Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by +freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of +this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with +the work. You can easily comply with the terms of this agreement by +keeping this work in the same format with its attached full Project +Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. + +1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern +what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in +a constant state of change. If you are outside the United States, check +the laws of your country in addition to the terms of this agreement +before downloading, copying, displaying, performing, distributing or +creating derivative works based on this work or any other Project +Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning +the copyright status of any work in any country outside the United +States. + +1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: + +1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate +access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently +whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the +phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project +Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, +copied or distributed: + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + +1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived +from the public domain (does not contain a notice indicating that it is +posted with permission of the copyright holder), the work can be copied +and distributed to anyone in the United States without paying any fees +or charges. If you are redistributing or providing access to a work +with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the +work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 +through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the +Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or +1.E.9. + +1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted +with the permission of the copyright holder, your use and distribution +must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional +terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked +to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the +permission of the copyright holder found at the beginning of this work. + +1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm +License terms from this work, or any files containing a part of this +work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. + +1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this +electronic work, or any part of this electronic work, without +prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with +active links or immediate access to the full terms of the Project +Gutenberg-tm License. + +1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, +compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any +word processing or hypertext form. However, if you provide access to or +distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than +"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version +posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org), +you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a +copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon +request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other +form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm +License as specified in paragraph 1.E.1. + +1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, +performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works +unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9. + +1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing +access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided +that + +- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from + the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method + you already use to calculate your applicable taxes. The fee is + owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he + has agreed to donate royalties under this paragraph to the + Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments + must be paid within 60 days following each date on which you + prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax + returns. Royalty payments should be clearly marked as such and + sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the + address specified in Section 4, "Information about donations to + the Project Gutenberg Literary Archive Foundation." + +- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies + you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he + does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm + License. You must require such a user to return or + destroy all copies of the works possessed in a physical medium + and discontinue all use of and all access to other copies of + Project Gutenberg-tm works. + +- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any + money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the + electronic work is discovered and reported to you within 90 days + of receipt of the work. + +- You comply with all other terms of this agreement for free + distribution of Project Gutenberg-tm works. + +1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm +electronic work or group of works on different terms than are set +forth in this agreement, you must obtain permission in writing from +both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael +Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the +Foundation as set forth in Section 3 below. + +1.F. + +1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable +effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread +public domain works in creating the Project Gutenberg-tm +collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic +works, and the medium on which they may be stored, may contain +"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or +corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual +property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a +computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by +your equipment. + +1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right +of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project +Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project +Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all +liability to you for damages, costs and expenses, including legal +fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT +LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE +PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE +TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE +LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR +INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH +DAMAGE. + +1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a +defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can +receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a +written explanation to the person you received the work from. If you +received the work on a physical medium, you must return the medium with +your written explanation. The person or entity that provided you with +the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a +refund. If you received the work electronically, the person or entity +providing it to you may choose to give you a second opportunity to +receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy +is also defective, you may demand a refund in writing without further +opportunities to fix the problem. + +1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth +in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER +WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO +WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE. + +1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied +warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages. +If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the +law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be +interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by +the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any +provision of this agreement shall not void the remaining provisions. + +1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the +trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone +providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance +with this agreement, and any volunteers associated with the production, +promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, +harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, +that arise directly or indirectly from any of the following which you do +or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm +work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any +Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. + + +Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm + +Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of +electronic works in formats readable by the widest variety of computers +including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at https://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. To +SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any +particular state visit https://pglaf.org + +While we cannot and do not solicit contributions from states where we +have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition +against accepting unsolicited donations from donors in such states who +approach us with offers to donate. + +International donations are gratefully accepted, but we cannot make +any statements concerning tax treatment of donations received from +outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. + +Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation +methods and addresses. Donations are accepted in a number of other +ways including including checks, online payments and credit card +donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + + +</pre> + +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize +this eBook outside of the United States should confirm copyright +status under the laws that apply to them. diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..31842cb --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for +eBook #17169 (https://www.gutenberg.org/ebooks/17169) |
