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+The Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Der Fall Deruga
+
+Author: Ricarda Huch
+
+Release Date: November 27, 2005 [EBook #17169]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA ***
+
+
+
+
+Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online
+Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
+
+
+
+
+
+
+Der Fall Deruga
+
+Roman
+
+von
+
+Ricarda Huch
+
+1917
+
+Verlag Ullstein & Co, Berlin/Wien
+
+ * * * * *
+
+Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
+Amerikanisches Copyright 1917 by Ullstein & Co, Berlin.
+
+
+
+
+=I.=
+
+
+»Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?« fragte
+eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, »und warum hat der Angeklagte
+zwei Anwälte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaustück.«
+
+»Wenn der Betreffende ein Anwalt wäre, liebes Kind, würde er einen Talar
+tragen,« antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. »Aber wer es ist, kann
+ich dir auch nicht sagen.« Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte
+sich um und erklärte, der fragliche Herr sei der Angeklagte =Dr.=
+Deruga.
+
+»Ist das möglich?« rief die Dame lebhaft, »wissen Sie das bestimmt?«
+
+Der alte Herr lachte vergnügt. »So bestimmt wie ich weiß, daß ich der
+Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor
+wohnt nämlich bei mir.«
+
+Die Dame machte große Augen. »Läßt man denn einen Mörder frei
+herumlaufen?« fragte sie. »Ich dachte, er wäre im Gefängnis. Ist es
+Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu
+haben?«
+
+»Ja, sehen Sie, gnädige Frau,« sagte der alte Mann, »der Herr Justizrat
+Fein hat ihn bei mir eingeführt, weil er mich schon lange kennt und
+seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat
+so viel Vertrauen in mich setzt, daß er seine Geigen und Flöten von mir
+reparieren und sein Töchterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir
+nehmen läßt, so schickt es sich, daß ich auch wieder Vertrauen zu ihm
+habe. Und er hat mir seinen Klienten wärmstens empfohlen, der sich bis
+jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas
+wunderlich.«
+
+»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind,« sagte der Ehemann, »daß ein
+Angeklagter noch kein Verurteilter ist.«
+
+»Sehr richtig, sehr richtig,« sagte der Musikinstrumentenmacher und
+wollte eben allerlei merkwürdige Fälle von Justizirrtümern erzählen,
+als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte.
+
+Sie finde es doch ungehörig, flüsterte die junge Dame ihrem Manne zu,
+daß ein des Mordes Verdächtiger sich so frei bewegen dürfe, noch dazu
+einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre.
+
+»Man soll sich hüten, nach dem Äußeren zu urteilen, liebes Kind,« sagte
+der Ehemann. »Aber abgesehen davon würde ich auch diesem Menschen nicht
+über den Weg trauen. Es ist merkwürdig, wie leichtgläubig und wie
+ungeschickt im Auslegen von Physiognomien das Volk ist.«
+
+Die meisten Zuschauer hatten denselben ungünstigen Eindruck von
+=Dr.= Deruga empfangen, der durch Nachlässigkeit in Kleidung und
+Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal
+durchwanderten, der Majestät und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten
+schien.
+
+»Ich dachte, er hätte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen,« bemerkte
+die junge Frau tadelnd gegen ihren Mann.
+
+»Aber, Kindchen,« entgegnete dieser, »wir haben doch auch nicht alle
+blaue Augen und blondes Haar.«
+
+»Er stammt aus Oberitalien,« mischte sich ein Herr ein, »wo der
+germanische Einschlag sich bemerkbar macht.«
+
+Ein anderer fügte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen
+Typus, nämlich den der verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen
+Welschen, wie er seit dem frühen Mittelalter in der Vorstellung der
+Deutschen gelebt habe.
+
+Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und
+hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er
+folgsam tat, um sein Gespräch mit dem Justizrat Fein von dort aus
+fortzusetzen.
+
+»Sehen Sie, da kommt der Jäger vor dem Herrn, =Dr.= Bernburger,«
+sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den
+Zuschauerraum betrat. »Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren
+geheftet, und eine gute Spürnase hat er, wie Sie sehen. Er ist Ihr
+gefährlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.«
+
+Deruga betrachtete =Dr.= Bernburger, der angelegentlichst in seine
+Papiere vertieft schien.
+
+»Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gefährlich wie mir,« sagte er dann mit
+freundlichem Spott, die große, bequeme Gestalt des Justizrats
+betrachtend. »Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er
+nicht ein so gemeiner Charakter wäre.«
+
+Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Geländer
+stützend, das die Anklagebank abschloß: »Bringen Sie mich jetzt nicht
+zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein
+Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.«
+
+»Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel,« sagte Deruga, »ein feiner
+Kopf, so möchte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht ähnlich?«
+
+»Benehmen Sie sich ähnlich,« sagte der Justizrat, »und halten Sie Ihre
+Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie
+glauben. Der Bernburger hat zweifellos Material im Hinterhalt, mit dem
+er uns überrumpeln will; also passen Sie auf!«
+
+»Aber ja,« sagte Deruga ein wenig ungeduldig. »Ihren Kopf behalten Sie
+auf alle Fälle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als
+mir.«
+
+Jetzt flogen die Türen im Hintergrunde des Saales auf, und der
+Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat =Dr.= Zeunemann,
+trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der
+Luftzug hob den Talar des rasch Vorwärtsschreitenden, so daß seine
+stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er grüßte mit einer
+Gebärde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine
+angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einflößte. Seine
+Persönlichkeit erfüllte den bänglich feierlichen Raum mit einer gewissen
+Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts
+ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung wäre. Er rieb, nachdem er
+sich gesetzt hatte, seine schönen, breiten, weißen Hände leicht
+aneinander und ging dann an das Geschäft, indem er die Auswahl der
+Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder fühlte sich
+von einer wohltätigen Macht an seinen Platz geschoben.
+
+»Meine Herren Geschworenen,« begann er, »es handelt sich heute um einen
+etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz
+zusammenfassend vorführen will.
+
+Am 2. Oktober starb hier in München, infolge eines Krebsleidens, wie man
+annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach
+ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren
+Mädchennamen wiederangenommen. In ihrem Testament, das Anfang November
+eröffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, =Dr.= Deruga,
+zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich
+belaufenden Vermögens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von
+denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Kusine, die
+nächste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse
+zureichende Verdachtsgründe hin, die Ihnen bekannt sind, veranlaßte das
+Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, daß die
+verstorbene Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines
+furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war.
+
+Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ansässigen =Dr.= Deruga das
+Gerücht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren
+kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie
+nannte, wären, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, daß das
+Gericht bereits den Beschluß gefaßt habe, die Anklage auf Mord gegen ihn
+zu erheben, und daß er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses
+verschieben müsse. Unter diesen besonderen Umständen, da der Angeklagte
+sich gewissermaßen selbst gestellt hatte, wurde angenommen, daß
+Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen
+abgesehen. Verdächtig machte den Angeklagten von vornherein, daß er sich
+in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn
+die Tatsache, daß er am Abend des 1. Oktober vergangenen Jahres eine
+Fahrkarte nach München löste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach
+Prag in seine Wohnung zurückkehrte. Einen genügenden Alibibeweis
+vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen.
+
+Dies sind also die Hauptgründe, die das Gericht bewogen haben, die
+Anklage auf Totschlag zu erheben. Es wird angenommen, daß Deruga seine
+geschiedene Frau aufsuchte, um Geld von ihr zu erbitten, beziehungsweise
+zu erpressen, und daß er sie bei dieser Gelegenheit, irgendwie gereizt,
+vielleicht durch eine Weigerung, tötete. Allerdings scheint der Umstand,
+daß Deruga Gift bei sich gehabt haben muß, für einen überlegten Plan zu
+sprechen. Allein das Gericht hat der Möglichkeit Raum gegeben, der
+verzweifelte Spieler habe damit sich selbst vernichten wollen, wenn sein
+letzter Versuch mißlänge, und nur in einem unvorgesehenen Augenblick der
+Erregung davon Gebrauch gemacht.«
+
+Während des letzten Satzes hatte der Staatsanwalt vergebens versucht,
+durch Verdrehungen seines hageren Körpers und Deutungen seines knotigen
+Zeigefingers die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich zu lenken.
+»Verzeihung,« sagte er, indem er seinem langen, weißen Gesicht einen
+süßlichen Ausdruck zu geben suchte, »ich möchte gleich an dieser Stelle
+betonen, daß ich persönlich dieser Möglichkeit nicht Raum gebe. Warum
+hätte der Mann es denn so eilig mit dem Selbstmorde gehabt? Er amüsierte
+sich viel zu gut im Leben, um es so Hals über Kopf wegzuwerfen.
+
+Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß der Angeklagte auf das
+erstmalige Befragen des Untersuchungsrichters die abscheuliche Untat
+eingestand, oder, besser gesagt, sich ihrer rühmte, um sie mit ebenso
+großer Dreistigkeit hernach zu leugnen.«
+
+»Jawohl, jawohl, wir kommen darauf zurück,« sagte der Vorsitzende mit
+einer Handbewegung gegen den Staatsanwalt, wie wenn ein Kapellmeister
+etwa einen vorlauten Bläser beschwichtigt. »Ich will zunächst den
+Angeklagten vernehmen.«
+
+»Sie müssen aufstehen,« flüsterte der Justizrat seinem Klienten zu, der
+mit schläfriger Miene den Saal und das Publikum betrachtete.
+
+»Aufstehen, ich?« entgegnete dieser erstaunt und beinahe entrüstet.
+»Nun also auch das. Stehen wir auf,« fuhr er fort, erhob sich langsam
+und heftete einen scharf durchdringenden Blick auf den Präsidenten; man
+hätte meinen können, er sei ein Examinator und =Dr.= Zeunemann ein
+zu prüfender Kandidat.
+
+»Sie heißen Sigismondo Enea Deruga,« begann der Vorsitzende das Verhör,
+die beiden klangvollen Vornamen durch eine ganz geringe Dosis von Pathos
+hervorhebend, die genügte, die Zuhörer zum Lachen zu bringen. Deruga
+warf einen stechenden Blick in die Runde. »Ist es hier etwa ein
+Verbrechen, nicht Johann Schulze oder Karl Müller zu heißen?« sagte er.
+
+»Beantworten Sie bitte schlechtweg meine Fragen,« sagte =Dr.=
+Zeunemann kühl. »Sie heißen Sigismondo Enea Deruga, sind in Bologna
+geboren und sechsundvierzig Jahre alt. Stimmt das?«
+
+»Jawohl.«
+
+»Sie haben in Bologna, Padua und Wien Medizin studiert und sich erst in
+Linz, dann in Wien niedergelassen, nachdem Sie dort das Heimatrecht
+erworben hatten. Stimmt das?«
+
+»Es wäre wirklich eine Schande,« sagte Deruga, »wenn Sie nach vier
+Monaten nicht einmal das richtig herausgebracht hätten.«
+
+»Ich erinnere Sie nochmals, Angeklagter,« sagte der Vorsitzende, den das
+sich erhebende Gelächter ein wenig ärgerte, »daß Sie sich an die kurze
+und klare Beantwortung der an Sie gerichteten Fragen zu halten haben. Es
+ist Ihre Schuld, daß sich die Voruntersuchung so lange hingezogen hat.
+Ich ergreife die Gelegenheit, Ihnen einen ernstlichen Vorhalt zu machen.
+Sie befolgen augenscheinlich den Grundsatz, das Gericht durch
+Ungehörigkeiten und Wunderlichkeiten hinzuhalten und irrezuführen. Sie
+verschlimmern dadurch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu erreichen. Die
+Untersuchung nimmt ihren sicheren Gang trotz aller Steine, die Sie auf
+ihren Weg werfen. Sie stehen unter einer schweren Anklage und täten
+besser, anstatt die gegen Sie zeugenden Momente durch ungebärdiges und
+zügelloses Betragen zu verstärken, den Gerichtshof und die Herren
+Geschworenen durch Aufrichtigkeit in ihrer dornigen Arbeit zu
+unterstützen und für sich einzunehmen. Sie befinden sich in einem Lande,
+wo die Justiz ihres verantwortungsvollen Amtes mit unerschütterlicher
+Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit waltet. Der Höchste und der
+Niedrigste findet bei uns nicht mehr und nicht weniger als
+Gerechtigkeit. Wir erwarten dagegen vom Höchsten wie vom Niedrigsten
+diejenige Ehrfurcht, die einer so heiligen und würdigen Institution
+zukommt. Der Gebildete sollte sie uns freiwillig darbringen; aber im
+Notfall wissen wir sie zu erzwingen.«
+
+»Ja, ja,« sagte Deruga gutmütig, »nur zu, ich werde schon antworten.«
+
+=Dr.= Zeunemann hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen,
+und fuhr fort: »Sie verheirateten sich im Jahre 18.. mit Mingo Swieter
+aus Lübeck, erzielten aus dieser Ehe ein Kind, eine Tochter, die
+vierjährig starb, und kurz darauf, vor jetzt siebzehn Jahren, wurde die
+Ehe geschieden. Als Grund ist böswillige Verlassung von seiten der Frau
+angegeben, und zwar hat Frau Swieter das Wiener Klima vorgeschützt,
+welches sie nicht vertragen könne. In Wirklichkeit sollen Ihr
+unverträglicher Charakter und Ihr unberechenbares Temperament, das zu
+Gewalttaten neigt, Ihre Frau zu diesem Schritt veranlaßt haben.«
+
+Da =Dr.= Zeunemann bei diesen Worten fragend zu =Dr.= Deruga
+hinübersah, sagte dieser: »Es wird das beste sein, wenn Sie sich
+schlechtweg an die in den Akten befindlichen Angaben halten.«
+
+Der Vorsitzende unterdrückte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen
+fort: »Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und
+übten dort Ihre Praxis aus, während Frau Swieter sich in München
+niederließ, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf
+weitere Daten werden wir gelegentlich zurückkommen. Erzählen Sie uns
+jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.«
+
+»Da ich kein Tagebuch führe,« sagte =Dr.= Deruga laut, »noch meine
+täglichen Verrichtungen durch einen Kinematographen oder ein Grammophon
+aufnehmen lasse, ist es mir leider unmöglich, Ihnen den Verlauf des
+Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben
+gefrühstückt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach
+eine Stunde im Café gesessen haben. Dann werde ich in der Sprechstunde
+mehrere Exemplare der mir sehr unsympathischen Gattung Mensch untersucht
+haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanständige
+Dame zu besuchen. In der Nähe des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen,
+der mich fragte, ob ich auch in den ärztlichen Verein ginge. Ich sagte,
+ich könne leider nicht, da ich verreisen müsse. Worauf er mich bis zum
+Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach München,
+weil ich ja sonst meine Lüge hätte zugestehen müssen, und auch weil mir
+eingefallen war, daß auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher
+wäre, nicht kompromittiert zu werden.«
+
+»Weigern Sie sich nach wie vor,« fragte =Dr.= Zeunemann, »den Namen
+dieser hochanständigen Dame zu nennen?«
+
+»Ich habe ja schon gesagt, daß mir daran liegt, sie nicht zu
+kompromittieren,« antwortete Deruga.
+
+»Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga,« sagte =Dr.= Zeunemann
+warnend, »daß Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen Füßen steht.
+Sollte eine Dame zulassen, daß sich ein Freund um ihretwillen in solche
+Gefahr begibt? Da möchte man schon lieber annehmen, daß diese Dame gar
+nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der
+Wahrscheinlichkeit. Daß Sie eine Dame besuchten und Tage und Nächte bei
+ihr zubrachten, wäre an sich bei Ihrer Lebensführung nicht unglaublich.
+Auch das mag hingehen, daß Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu
+kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gewählt haben
+wollen, kann man nur als ungeeignet und lächerlich bezeichnen. Jemand,
+der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht
+zweiunddreißig Mark für eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.«
+
+»Einunddreißig Mark fünfundsiebzig Pfennig,« verbesserte Deruga.
+
+»Die Karte von Prag nach München kostet zweiunddreißig Mark,« sagte
+=Dr.= Zeunemann scharf.
+
+»Der umgekehrte Weg ist fünfundzwanzig Pfennige billiger,« beharrte
+Deruga.
+
+»Lassen wir den Wortstreit,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Man wirft auch
+einunddreißig Mark und fünfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in
+Geldverlegenheiten ist.«
+
+»Ein verständiger Deutscher wohl nicht,« entgegnete Deruga, »aber ich
+habe größere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. Übrigens war
+ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.«
+
+Der Staatsanwalt rang die Hände und wendete die Blicke nach oben, wie
+wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte.
+Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, daß der Angeklagte
+genug Geld für eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt hätte.
+
+Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll
+Geld hervor und zählte: »Sechzig, dreiundsechzig, siebzig,
+vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich könnte auf der Stelle nach Prag
+reisen, wenn ich es nicht vorzöge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu
+bleiben.«
+
+»Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?« rief
+der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen
+kreischenden Ton annahm.
+
+»O, dazu reichte es bei weitem nicht,« lachte Deruga. »Ich hatte nur so
+viel, um meine täglichen Bedürfnisse zu befriedigen.«
+
+Der Vorsitzende erklärte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung
+für beendet. »Sie bleiben also dabei, Angeklagter,« fragte er, »daß Sie
+zum Schein eine Fahrkarte nach München lösten. Was brachte Sie gerade
+auf München?«
+
+»Das ist eine schwierige Frage,« sagte Deruga. »Hätte ich eine Karte
+nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebensogut stellen.
+Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante
+Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie
+gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und
+Rachenkrankheiten.«
+
+»Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gelöst hatten?« fragte der
+Vorsitzende weiter.
+
+»Ich stellte mich an die Barriere,« erzählte Deruga, »ging, als sie
+geöffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels
+einer vorher gelösten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon
+öfters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober
+blieb.«
+
+»Die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich,« sagte =Dr.= Zeunemann.
+»Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner
+Praxis wegbleiben?«
+
+»Ich bin der Ansicht,« sagte Deruga, »daß nicht ich für die Praxis da
+bin, sondern daß die Praxis für mich da ist.«
+
+»Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt,« meinte =Dr.=
+Zeunemann.
+
+»Warum?« antwortete Deruga leichthin. »Die meisten Patienten können sehr
+gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchten überhaupt nicht zu
+kommen. Wichtige Fälle hatte ich damals nicht.«
+
+»Ihre Patienten waren allerdings nicht verwöhnt,« sagte =Dr.=
+Zeunemann. »In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren,
+weil sie nachlässig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren.
+Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, daß Sie außer der Zeit, ohne
+Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen
+Aussage, die von Ihrer Haushälterin bestätigt wurde, am 3. Oktober kurz
+vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beiläufig sei bemerkt, daß der
+von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag
+eintrifft. Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten
+zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht
+auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertrösten lassen. Sie weigerten sich
+aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert
+gewesen wären, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer
+Haushälterin, müde wären und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt
+bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame muß also sehr anstrengend
+gewesen sein.«
+
+»Ich finde Frauen immer anstrengend,« sagte Deruga, »besonders wenn sie
+dumm sind.«
+
+»Nehmen wir also an,« sagte der Vorsitzende, während der Staatsanwalt
+die Hände rang und seine unter diabolisch geschwänzten Brauen fast
+verschwindenden Augen zum Himmel richtete, »daß die Ihnen befreundete
+Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen
+wichtigen Punkt über! Wollen Sie erzählen, wann und wie Sie von dem
+Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die
+verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Vermögens einsetzte!«
+
+»Anfang November,« sagte Deruga, »das Datum habe ich mir nicht gemerkt,
+durch die zuständige Behörde.«
+
+»Sie sollen«, sagte =Dr.= Zeunemann, »Ihr Erstaunen und Ihre Freude
+lebhaft geäußert haben. Ich bemerke,« wiederholte er mit Nachdruck
+gegen die Geschworenen, »daß andere Personen dies bezeugen: Erstaunen
+und Freude.«
+
+»O, edler Richter, wack'rer Mann,« sagte Deruga lächelnd.
+
+»Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen,« sagte der Vorsitzende. »Es
+ist bereits halb zwölf Uhr, und ich möchte bis zur Mittagspause mit
+Ihrem Verhör zu einem vorläufigen Ende kommen. Erzählen Sie uns bitte,
+wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu
+Ohren kam!«
+
+»Durch einen sehr anständigen Menschen,« begann Deruga, »sehr anständig
+und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinhändler
+ist. Der Mann heißt Tommaso Verzielli und kam vor fünfzehn Jahren als
+ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine fünfjährige Gefängnisstrafe
+verbüßt hatte. Er hatte nämlich einen Polizisten niedergestochen, der
+eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem Bäckerladen ein
+Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zurück,
+denn unter Deutschen, sagte er, würde er doch nicht aus dem Gefängnis
+herauskommen, weil er fortwährend Dinge mit ansehen müßte, wobei ihm das
+Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein,
+und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerreißen
+lassen, sie wären einander wert, und es wäre um keinen schade. Er solle
+heiraten und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und
+außerdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und
+anderen Lebensmitteln anzufangen, und schoß ihm ein kleines Kapital dazu
+vor. Das hat er mir längst zurückgestellt, denn durch Fleiß und
+Intelligenz brachte er sich schnell in die Höhe, aber er widmet mir
+immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm täglich neu das Leben
+schenkte.
+
+Dieser Verzielli also kam Mitte November am späten Abend in voller
+Aufregung zu mir gelaufen und erzählte mir, der italienische Konsul,
+Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei
+bei ihm gewesen -- Verzielli hat nämlich jetzt ein sehr feines
+Restaurant -- und habe sich unter der Hand nach mir erkundigt und als
+tiefstes Geheimnis verraten, daß ich als Mörder meiner geschiedenen Frau
+verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war außer sich und bot mir sein
+ganzes Vermögen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. 'Deruga und
+fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund,' sagte ich und lief
+sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte
+Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur
+Rede, und da ich von ihm keine genügende Auskunft bekam, reiste ich
+hierher, um den Ursprung des infamen Gerüchtes kennenzulernen.«
+
+»Es mußte Ihnen mitgeteilt werden,« fiel =Dr.= Zeunemann ein, »daß
+das Gericht bereits beschlossen hätte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu
+erheben, und daß Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung
+des Prozesses zu verschieben hätten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich
+nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit
+erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem
+Untersuchungsrichter gegenüber in bedenklicher Weise. So haben Sie
+zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen wären, die
+Antwort verweigert. Dann haben Sie erzählt, Sie wären in der Absicht,
+sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt
+ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in
+eine ganz einsame Gegend gekommen wären. An einem Flusse hätten Sie
+lange gelegen und mit sich gekämpft, bis Sie darüber eingeschlafen
+wären. Nach vielen Stunden festen Schlafes wären Sie ernüchtert
+aufgewacht, hätten sich noch eine Weile herumgetrieben und wären dann
+heimgefahren. Schließlich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen
+Dame auf. Der Born der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.«
+
+»Nicht so wie Sie meinen,« sagte Deruga. »Ich wollte nur den
+Untersuchungsrichter ärgern und kann wohl sagen, daß mir das gelungen
+ist. Er hat beinah Nervenkrämpfe bekommen.«
+
+=Dr.= Zeunemann ließ eine Pause verstreichen, bis das Gelächter im
+Publikum verstummt war, und sagte dann: »Es wundert mich, daß ein Mann
+in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch
+benehmen mag -- oder so töricht, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen
+Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen
+und irrezuführen.«
+
+»Sind Sie schon einmal von einem täppischen Untersuchungsrichter
+ausgefragt worden?« fragte Deruga. »Nein, wahrscheinlich nicht. Also
+können Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen würden.
+Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine
+beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie
+der gesunde Mensch sein soll. Alle Erschütterungen durch häßliche
+Eindrücke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen durch
+eine tadellose Verdauung geregelt, so daß Sie sich immer im stabilen
+Gleichgewicht befinden; _ich_ dagegen bin unendlich reizbar.«
+
+=Dr.= Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen,
+aber ohne genügenden Nachdruck. »Sie haben wohl auch mehr Ursache
+unruhig zu sein als ich,« sagte er jetzt mit leichter Ironie.
+»Vielleicht würden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es einmal mit
+vollkommener Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre
+Winkelzüge zu reizen.«
+
+»Sie, Herr Präsident, will ich nicht ärgern, darauf können Sie sich
+verlassen,« sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden Tone,
+wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anschlägt.
+
+ * * * * *
+
+»Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich,« flüsterte Justizrat
+Fein seinem Klienten zu, als gleich darauf die Sitzung aufgehoben wurde.
+Von dort aus gingen sie zusammen durch ein rückwärtiges Portal in die
+Anlagen, die auf eine stille Straße ohne Geschäftsverkehr führten. Vor
+einem mit Gesträuch bewachsenen Hange blieb der Justizrat stehen,
+stocherte mit der Spitze seines Regenschirmes in der alten,
+feucht-verklebten Blätterdecke und sagte: »Da muß es bald
+Schneeglöckchen und Krokus geben; ich will ihnen den Weg ein wenig frei
+machen.«
+
+»Kommen Sie, kommen Sie,« sagte Deruga, den Justizrat am Arm ziehend.
+»Die finden ihren Weg ohne Sie. Sagen Sie, kann ich heute nachmittag
+während der Sitzung nicht lesen oder noch lieber schlafen? Das Zeug
+langweilt mich unbeschreiblich, Sie könnten mir ja einen Stoß geben,
+wenn ich mich betätigen muß.«
+
+»Machen Sie keine Dummheiten,« sagte der Justizrat; »heute nachmittag
+wird wahrscheinlich der Hofrat von Mäulchen vernommen, der sehr schlecht
+für Sie aussagen wird. Sie müssen also aufpassen, ob Sie ihm nicht
+Ihrerseits etwas am Zeuge flicken können.«
+
+
+»Am Zeuge flicken!« rief Deruga aus. »Umbringen möchte ich ihn. Ich
+hasse diesen Menschen, vielmehr diesen rosa Wachsguß über einer Kloake.«
+
+»Hören Sie, Deruga,« sagte der Justizrat. »Ich verstehe Sie öfters
+nicht, doch das am wenigsten, wie Sie einem Menschen Geld schuldig
+bleiben mochten, den Sie haßten. Sie hätten doch das Geld auch von
+anderer Seite haben können, zum Beispiel von dem guten Verzielli.«
+
+»Wahrscheinlich hätte es Ihr Ehrgefühl verletzt, einem verhaßten
+Menschen Geld zu schulden,« sagte Deruga. »Sehen Sie, bei mir ist das
+anders. Mir machte es Vergnügen zu sehen, was für Angst er um seine
+Taler hatte, und wie er sich quälte, die Angst nicht merken zu lassen,
+sondern den Anschein zu wahren, als wäre es ihm ganz gleichgültig. Denn
+er will erstens für unermeßlich reich und zweitens für sehr weitherzig
+in Geldsachen gelten. Hätte ich Geld im Überfluß gehabt, würde ich ihn
+wahrscheinlich doch nicht ausbezahlt haben, um ihn zappeln zu sehen.«
+
+»Ich glaube, Sie können fürchterlich hassen,« sagte der Justizrat
+nachdenklich, indem er den Doktor nicht ohne Bewunderung von der Seite
+betrachtete.
+
+Dieser lachte herzhaft und ausgiebig wie ein Kind. »Das kann ich
+allerdings,« sagte er. »Ich möchte manchmal einem ein Messer im Herzen
+herumdrehen, nur weil mir seine Mundwinkel nicht gefallen. Ich will mich
+aber heute nachmittag Ihnen zuliebe zusammennehmen, so gut ich kann.«
+
+»Ja, darum bitte ich,« sagte der Justizrat, »ich fühle mich doch etwas
+verantwortlich für Sie.«
+
+ * * * * *
+
+Hofrat von Mäulchen erschien in gewählter Kleidung, in einen
+angenehmen, mondänen Duft getaucht, mit dem leichten und sicheren Gang
+dessen, den allgemeine Beliebtheit trägt, im Schwurgerichtssaale. Die
+Eidesformel, die der Präsident ihm vorsprach, wiederholte er mit
+liebenswürdiger Gefälligkeit und einem leicht fragenden Ausklang, so,
+als wolle er sich bei jedem Satz vergewissern, ob es dem Vorsitzenden
+und dem lieben Gott so auch recht wäre.
+
+»Der Angeklagte,« begann =Dr.= Zeunemann das Verhör, als alle
+Förmlichkeiten abgetan waren, »ist Ihnen seit Mai 19.., also seit fünf
+Jahren, sechstausend Mark schuldig. Wollen Sie, bitte, erzählen, wie Sie
+den Angeklagten kennenlernten, und wie es kam, daß er das Geld von Ihnen
+borgte!«
+
+»Beides ist schnell getan,« sagte der Hofrat. »Ich lernte Deruga im
+ärztlichen Verein kennen, außerdem hat er mich gelegentlich einer
+kleinen Wucherung in der Nase behandelt. Kollegen empfahlen ihn mir,
+weil er eine besonders leichte Hand habe, was meine eigene Erfahrung
+bestätigt hat. Es handelte sich bei mir allerdings um einen sehr
+einfachen Fall, aber auch darin kann man ja seine Fähigkeiten beweisen.
+Gewisse kleine Originalitäten und Wunderlichkeiten hatte er an sich, zum
+Beispiel erinnere ich mich, daß er mich immer in der Erwartung hielt,
+als käme etwas außerordentlich Schmerzhaftes, was doch gar nicht der
+Fall war. Ich habe sagen hören, daß er nach Belieben, sagen wir nach
+Laune, die Patienten ganz schmerzlos oder sehr grob behandelte. Aber das
+gehört eigentlich nicht hierher, und so weit meine persönliche Erfahrung
+reicht, kann ich ihn als Arzt nur loben. Als ich nun gelegentlich eine
+Bemerkung über die schäbige Ausstattung seines Wartezimmers machte,
+sagte er mir, er habe kein Geld, um sich so einzurichten, wie er möchte,
+worauf ich ihm, einem augenblicklichen Gefühl folgend, so viel anbot,
+wie er brauchte. Ich bin vielleicht kein sehr besonnener Rechner,«
+schaltete der Hofrat mit einem Lächeln ein, »aber in diesem Falle, einem
+Kollegen und tüchtigen Arzt gegenüber, glaubte ich gar nichts zu
+riskieren.«
+
+»Hat der Angeklagte das Geld für eine neue Einrichtung verwendet?«
+fragte der Vorsitzende.
+
+»Darüber kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen,« antwortete der
+Hofrat. »Es wurde mir später einmal zugetragen, geschwatzt wird ja viel,
+die Sessel seines Wartezimmers würden immer schäbiger;
+begreiflicherweise habe ich es aber vermieden, ihn aufzusuchen und mich
+darüber zu unterrichten.«
+
+»Wollen Sie sich dazu äußern?« wendete sich der Vorsitzende gegen
+Deruga. »Haben Sie sich für das geliehene Geld Ihr Wartezimmer neu
+eingerichtet?«
+
+»Gehört das hierher?« fragte Deruga. »Ich glaubte immer, man könne sein
+Geld verwenden, wie man wolle, einerlei, ob es geliehen oder gestohlen
+ist.«
+
+»Sie verweigern also die Antwort?«
+
+»Soviel ich mich erinnere,« sagte Deruga mürrisch, »habe ich
+Instrumente, moderne Apparate, einen Operationsstuhl und dergleichen
+dafür gekauft.«
+
+»Sie haben,« setzte der Präsident die Zeugenvernehmung fort, »im Laufe
+der nächsten Jahre den Angeklagten niemals gemahnt?«
+
+»Bewahre,« erwiderte der Hofrat. »Einen Kollegen! Überhaupt würde ich
+das ohne genügende Gründe niemals tun. Ich hatte das Geld eigentlich
+schon verloren gegeben, denn das Gerede ging, als betriebe Deruga seine
+Praxis nur nachlässig und führe ein sehr ungeregeltes Leben. Ich habe
+übrigens, wie ich gleich vorausschicken will, der Wahrheit dieses
+Geredes nicht nachgeforscht und bitte, keine Schlüsse daraus zu ziehen.«
+
+»So gehen wir ohne weiteres zu dem Anlaß über,« sagte =Dr.=
+Zeunemann, »der Sie bewog, das Geld zurückzufordern. Wollen Sie den
+Vorgang im Zusammenhang erzählen!«
+
+»Im September vorigen Jahres,« berichtete der Hofrat, »traf ich mit
+Deruga in dem schon erwähnten ärztlichen Verein zusammen, nachdem ich
+ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen und das Geld sozusagen vergessen
+hatte. Er rief mir über den Tisch hinüber in ziemlich formloser Weise
+zu, er wolle eine Patientin, von der er glaube, daß sie ein
+Unterleibsleiden habe, zu mir schicken, ich solle sie untersuchen und
+nötigenfalls behandeln, aber umsonst, zahlen könne sie nicht. Mehr über
+seine Art und Weise als über die Sache selbst verstimmt, erwiderte ich,
+wie ich gern glauben will, ein wenig kühl, ich sei mit Arbeit sehr
+überhäuft, die Kranke könne ja zu dem in Betracht kommenden Kassenarzt
+gehen. Darauf wurde Deruga kreideweiß im Gesicht und überhäufte mich mit
+einem Schwall von Beleidigungen, wie, daß ich es nur auf Geldmacherei
+abgesehen hätte, der Arzt für Kommerzienrätinnen und fürstliche Kokotten
+wäre und dergleichen mehr, was ich nicht wiederholen will. Ich möchte
+bemerken, daß ich glaube, wie ungerecht seine Beschuldigungen auch waren
+und wie unpassend auch die Form war, wie er sie erhob, er machte sie
+=bona fide=. Er hatte die Meinung, ich sei gemütlos und strebte nur
+nach klingendem Erfolg und äußerem Glanz, vielleicht weil ihm infolge
+einer gewissen volkstümlichen oder zigeunerhaften Veranlagung der Sinn
+für geregeltes bürgerliches Leben mit seinen traditionellen Begriffen
+von Anstand und Ehre überhaupt abgeht. In jenem Augenblick vermochte ich
+mich zu dieser objektiven Ansicht nicht zu erheben, sondern, ich gestehe
+es, ich fühlte mich verletzt und im Innersten empört.«
+
+»Beinah wäre der rosa Wachsguß geschmolzen,« flüsterte Deruga dem
+Justizrat zu.
+
+»Ohne mein entrüstetes Gefühl zu zügeln oder es nur zu wollen,
+antwortete ich heftig, er habe am wenigsten Ursache, mir derartige
+Vorwürfe zu machen, da ich ihm bereitwillig ausgeholfen und den Verlust
+nicht nachgetragen hätte. Ich hätte ihn damals für zahlungsfähig
+gehalten, sagte er boshaft, sonst würde ich ihm nichts geborgt haben.
+Allerdings, sagte ich, hätte ich einen Kollegen für so ehrenhaft
+gehalten, daß er seine Schulden bezahlte, und da er mich nun selbst
+herausfordere, solle er es auch tun. Der Streit wurde dann durch mehrere
+Kollegen, die sich ins Mittel legten, geschlichtet. Bevor wir uns
+trennten, sagte ich zu Deruga, er solle das, was ich vorhin in heftiger
+Aufwallung gesagt hätte, nicht so auffassen, als wolle ich ihn drängen.
+Erlauben Sie mir bitte, festzustellen, daß ich der ganzen Sache aus
+freien Stücken niemals in der Öffentlichkeit Erwähnung getan haben
+würde!«
+
+»Darf ich bitten,« sagte Justizrat Fein, sich an den Zeugen wendend,
+»Sie sind nachher mit keinem Wort und mit keiner Andeutung auf die
+Geldangelegenheit zurückgekommen?«
+
+»Nein, durchaus nicht,« antwortete der Hofrat. »Es tat mir im Gegenteil
+leid, daß ich mir in der Erregung die Mahnung hatte entschlüpfen
+lassen.«
+
+»Also«, sagte der Justizrat, »war die Lage für =Dr.= Deruga nicht
+im mindesten verändert, und es liegt kein Grund zu der Behauptung vor,
+er habe sich durchaus Geld verschaffen müssen, um die fällige Schuld zu
+bezahlen.«
+
+»Ich bitte sehr,« rief der Staatsanwalt, »durch den Vorfall im
+ärztlichen Verein war das Schuldverhältnis einer ganzen Reihe von
+Kollegen bekannt geworden; das ist denn doch eine erhebliche Veränderung
+der Lage. So viel Ehrgefühl dürfen wir doch bei einem jeden gebildeten
+Manne voraussetzen, daß ihm das nicht gleichgültig war.«
+
+»Nehmen wir, bitte, =Dr.= Deruga wie er ist, und nicht, wie er nach
+der Meinung anderer sein sollte. Da es ihm nichts ausmachte, dem Hofrat
+von Mäulchen Geld schuldig zu bleiben, für den er augenscheinlich keine
+besondere Vorliebe hatte, lag ihm wahrscheinlich sehr wenig daran, daß
+ein paar andere Kollegen, mit denen er, wie es scheint, ganz gut stand,
+davon wußten. Jedenfalls, wenn er früher so dickfellig in diesem Punkt
+war, wird er nicht plötzlich so empfindlich geworden sein, daß er ein
+Verbrechen beging, um sich aus der Klemme zu ziehen.«
+
+Die gemächliche Grandezza, mit der der Justizrat dastand, die Wucht
+seiner massigen Gestalt und seines großgeformten, ruhigen Gesichtes
+überzeugten noch wirksamer als seine Worte und brachten seinen
+zappeligen Gegner außer Fassung.
+
+»Ja, wenn der Mensch immer so folgerichtig wäre!« sagte er heftig.
+»Dafür, daß Männer lieber Verbrechen begehen, als einen Fleck auf ihrer
+sogenannten bürgerlichen Ehre dulden, finden sich viele Beispiele.«
+
+=Dr.= Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand.
+
+»Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zunächst noch gar
+nicht zugemutet,« sagte er. »Wenn er seine geschiedene Frau um Geld
+anging, so war das höchstens taktlos, und es ist um so weniger
+auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, daß er diese
+Hilfsquelle öfters in Betracht zog. Halten Sie,« wendete er sich an den
+Hofrat, »die Schuld für ein Motiv, das stark genug gewesen wäre, den
+Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungewöhnliche oder
+bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld zu
+setzen?«
+
+»Ich muß sehr bitten,« wehrte der Hofrat ab, »mir die Antwort zu
+erlassen. Ich schrecke um so mehr davor zurück, ein Urteil darüber zu
+äußern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit
+der Psyche Derugas nicht vertraut, könnte mich nur in Phantasien
+ergehen, aber selbstverständlich bin ich eher geneigt, Gutes als
+Schlechtes von einem Kollegen zu denken.«
+
+»Sie waren,« fuhr der Vorsitzende fort, »derjenige Kollege, dem der
+Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der Nähe des
+Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ärztlichen Verein
+wolle?«
+
+»Jawohl,« sagte der Hofrat. »Ich stellte die Frage, weil ich mich nach
+dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte.
+Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir
+ja in der Nähe des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe
+fiel mir auf, weil es größer war, als Herren unserer Gesellschaftskreise
+solche zu tragen pflegen.«
+
+Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein
+Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei.
+
+»Ich erlaubte mir allerdings,« sagte Deruga, »als ein armer Teufel, der
+sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von
+Mäulchen gehören zu wollen, ein Paket zu tragen. Darin wird Wäsche und
+dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.«
+
+Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, daß festgestellt
+werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte,
+ein Paket bei sich gehabt habe.
+
+»Die Haushälterin wird gleich vernommen werden,« sagte der Vorsitzende.
+»Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und
+Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. Können Sie sonst etwas
+Sachdienliches mitteilen?«
+
+»Nein, durchaus nicht,« beteuerte der Hofrat. »Gerüchte und
+Schwätzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja
+mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten
+Fällen nicht in Betracht gezogen werden sollte.«
+
+»Vielleicht könnten Sie doch sagen,« fragte der Vorsitzende, »was für
+einen Ruf =Dr.= Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen genoß?«
+
+»Ich glaube nicht, daß meine diesbezüglichen Mitteilungen einen
+namhaften Wert für Sie hätten,« entschuldigte sich der Hofrat. »Aus
+dem, was ich erzählt habe, läßt sich ja schon mancherlei schließen. Den
+sicheren Boden der Tatsachen möchte ich nicht verlassen.«
+
+ * * * * *
+
+Weinhändler Verzielli, der nächste Zeuge, war ein untersetzter,
+dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest auf
+den Präsidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit
+lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete.
+
+»Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?« fragte
+=Dr.= Zeunemann.
+
+»Befreundet, sehr befreundet,« sagte Verzielli eifrig.
+
+»Aber nicht verwandt?« wiederholte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Leider nicht,« sagte Verzielli, »aber sehr befreundet. Ich liebe und
+bewundere ihn.«
+
+»Sie fühlten sich ihm zu Dank verpflichtet,« sagte der Vorsitzende
+freundlich, »weil er durch einen guten Rat und auch durch eine
+Geldsumme, die er Ihnen vorschoß, Ihr Glück begründet hatte?«
+
+»Ach, Rat und Kapital, das ist nicht die Hauptsache,« rief Verzielli
+aus. »Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist
+edel und hilfsbereit.«
+
+»Sie konnten ihm das Geliehene bald zurückgeben,« fuhr der Vorsitzende
+fort, »und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld geborgt?«
+
+»Das ist ja gar nicht der Rede wert,« sagte Verzielli, Kopf und Hand
+schüttelnd, »wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. Übrigens hat er
+mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedrängt. Er verstand ja
+nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.«
+
+»Hat er Ihnen jemals Geld zurückgezahlt?«
+
+»O ja,« rief Verzielli stolz, »auch in bezug auf das Rückständige fragte
+er mich öfters, ob ich es brauche. Aber wozu hätte ich es brauchen
+sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm
+immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiedergäbe.
+Meine Frau war auch der Meinung, man dürfe ihn nicht drängen.«
+
+»Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige Schenkungen
+oder eine etwaige Erbschaft von seiten seiner geschiedenen Frau
+vertröstet?«
+
+»Zu vertrösten brauchte er mich nicht,« sagte Verzielli ein wenig
+gereizt. »Aber natürlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau
+und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind sehr
+geliebt. Meine Frau und ich haben oft geweint, wenn er davon sprach.«
+
+Er zog bei diesen Worten ein großes, buntes Taschentuch hervor und fuhr
+sich damit über Stirn und Augen, sei es um sich Tränen oder Schweiß
+damit zu trocknen.
+
+»Ich bitte Sie,« sagte =Dr.= Zeunemann freundlich, »genau auf meine
+Fragen zu achten und sie kurz und deutlich zu beantworten. Hat der
+Angeklagte Ihnen zuweilen von einer Aussicht gesprochen, Geld von seiner
+geschiedenen Frau zu erhalten, sei es bei ihren Lebzeiten oder nach
+ihrem Tode?«
+
+»Ich glaube,« sagte Verzielli, sein Taschentuch quetschend, »er sagte
+gelegentlich einmal, seine geschiedene Frau sei reich, und er sei
+überzeugt, sie würde ihm geben, was er brauchte, wenn er sie darum
+bäte.«
+
+»Erinnern Sie sich, wann er Ihnen das gesagt hat?«
+
+»Ich glaube,« sagte Verzielli, »daß es in der letzten Zeit nicht gewesen
+ist.«
+
+»Wir kommen jetzt,« sagte der Vorsitzende, nach einem leichten Räuspern
+die Stimme hebend, »zu einem sehr wichtigen Punkt, und ich fordere Sie
+auf, Herr Verzielli, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Gedächtnis energisch
+zusammenzufassen. Denken Sie vor allen Dingen nicht daran, welche Folgen
+Ihre Aussagen für den Angeklagten haben könnten, sondern nur daran, daß
+Sie einen Eid geschworen haben, die Wahrheit zu sagen!«
+
+Verzielli richtete sich stramm auf, blickte dem Vorsitzenden fest ins
+Auge und umfaßte krampfhaft sein Taschentuch.
+
+»Erzählen Sie uns genau mit allen Einzelheiten, wie es sich begab, daß
+Sie von dem Gerücht, =Dr.= Deruga habe seine Frau ermordet,
+erfuhren, und daß Sie ihn davon in Kenntnis setzten!«
+
+Verzielli schwieg und starrte angelegentlich in einen Winkel,
+augenscheinlich bemüht, seine Gedanken zu sammeln.
+
+»Ich will Ihnen zu Hilfe kommen,« sagte =Dr.= Zeunemann
+nachsichtig. »Am Abend des 25. November kam Cavaliere Faramengo, der
+italienische Konsul, in Ihr Restaurant, um ein Glas Wein zu trinken, wie
+er zuweilen tat. Er fragte Sie nach dem Angeklagten aus, und Sie
+erfuhren von ihm, daß von München aus Erkundigungen über ihn eingezogen
+wären, und daß er im Verdacht stehe, seine geschiedene Frau, die Anfang
+Oktober gestorben war und ihn zum Erben ihres Vermögens eingesetzt
+hatte, ermordet zu haben. Außer sich vor Entrüstung liefen Sie sofort zu
+dem Angeklagten, erzählten ihm alles und sagten, wenn Sie nur wüßten,
+wer der Verleumder wäre, Sie würden ihn töten. Der Angeklagte sagte
+lachend: 'Dummkopf, ich habe es ja getan.' Das ist, was der
+Untersuchungsrichter nicht ohne Mühe aus Ihnen herausgebracht hat.
+Bestätigen Sie es jetzt vor dem versammelten Gericht und vor den
+Geschworenen?«
+
+»Es ist wahr, daß =Dr.= Deruga sagte: 'Dummkopf, ich habe es ja
+getan,' aber er hatte nur insofern recht, als er mich einen Dummkopf
+nannte, denn er meinte ...«
+
+»Bleiben Sie bei der Sache!« sagte =Dr.= Zeunemann. »Was
+antworteten Sie darauf?«
+
+»Ich sagte, das wäre nicht möglich, und davon war ich auch überzeugt,
+daß es unmöglich wäre; aber in dem Zustand von Aufgeregtheit, in dem ich
+mich befand, bat ich ihn, augenblicklich nach Amerika zu fliehen, und
+bot ihm mein ganzes Vermögen an, damit er sich dort weiter helfen
+könnte.«
+
+»Guter Mann,« sagte plötzlich Deruga laut.
+
+Verzielli, der es bisher vermieden hatte, nach der Anklagebank
+hinüberzusehen, wandte jetzt den Kopf herum und warf Deruga einen
+verzweifelten Blick zu.
+
+Auch =Dr.= Zeunemann sah ihn an. »Wie erklären Sie es,« sagte er,
+»daß Sie im ersten Augenblick der Überraschung Verzielli gegenüber die
+Tat zugaben?«
+
+»Ich wollte sehen, was für ein Gesicht er machte,« sagte Deruga
+leichthin, »das ist alles.«
+
+»Ja, natürlich,« fiel Verzielli rasch ein. »So war er. Das ist ganz er.
+O Gott, er hatte recht, mich einen Dummkopf zu nennen. Ja, ein Esel, ein
+verwünschter Tölpel war ich, es nicht sofort klar zu durchschauen.«
+
+»Bei der Sache bleiben,« unterbrach =Dr.= Zeunemann. »Die Stimmung
+des Angeklagten schlug unvermittelt um, er geriet in Wut und wollte
+sofort zum italienischen Konsul laufen, um zu erfahren, wer ihn
+verleumdet hätte. 'Sie haben es also nicht getan,' riefen Sie und
+beschworen den Angeklagten, keinen übereilten Schritt zu tun und mit dem
+Besuch beim Konsul bis zum folgenden Morgen zu warten. Fürchteten Sie
+vielleicht, er würde sich in seiner Wut am Konsul vergreifen?«
+
+»Gott bewahre!« rief Verzielli entrüstet. »Der Konsul sollte nur nicht
+erfahren, daß ich Deruga alles ausgeplaudert hatte. Auch fürchtete ich,
+daß =Dr.= Deruga in seinem gerechten Zorne sich allzu heftig äußern
+und dadurch den Konsul gegen sich einnehmen würde. Kurz, ich war ein
+Dummkopf und war maßlos aufgeregt. Ich wußte nicht, was ich sagte und
+was ich tat.«
+
+Der Staatsanwalt war im Laufe des Verhörs aufgestanden und begleitete
+die Antworten des Italieners mit unwillkürlichen Gebärden und hier und
+da mit einem höhnischen Lachen oder entrüsteten Ausruf.
+
+»In Ihrer Aufgeregtheit,« sagte er jetzt, sich vorbeugend, »hatten Sie
+jedenfalls den Eindruck, daß der Angeklagte im Ernst sprach, als er
+sagte: 'Ich habe es ja getan.' Sonst hätten Sie hernach nicht
+ausgerufen: 'Sie haben es also nicht getan!'«
+
+Verzielli warf einen zornigen und verächtlichen Blick auf den Sprecher
+und sagte entschlossen: »Was ich auch gesagt und gedacht habe, ich war
+im Unrecht, und der Doktor war im Recht, und wenn er seine Frau getötet
+hätte, was er aber nicht getan hat, so hätte er auch recht gehabt.«
+
+Eine Bewegung, mit Gelächter vermischt, ging durch den Saal.
+
+»Eigentümliche Auffassung,« sagte der Staatsanwalt, beide Arme in die
+Seite stemmend.
+
+»Ich denke,« nahm der Vorsitzende das Wort, als es wieder still
+geworden war, »wir lassen die Auffassungen beiseite und halten uns an
+Tatsachen. Wünscht einer der Herren Kollegen oder der Herren
+Geschworenen noch eine Frage an den Zeugen zu stellen? Nein? So können
+wir zu Fräulein Klinkhart, der Haushälterin oder Empfangsdame des
+Angeklagten, übergehen.«
+
+ * * * * *
+
+Ein Fräulein von etwa fünfunddreißig Jahren trat vor, einfach, aber gut
+gekleidet, schwarzhaarig, mit gerader Nase und ruhigen, braunen Augen.
+Sie kam mit raschen, sicheren Schritten und sah sich um, als suche sie,
+wo es etwas für sie zu tun gäbe; als ihr Blick dabei auf Deruga fiel,
+nickte sie ihm freundlich und ermunternd zu. Den Eid leistete sie frisch
+und freudig; sie schien zu denken, nun habe sie den Faden in der Hand
+und werde den Wust schon entwirren.
+
+Das Verhör begann folgendermaßen:
+
+»Wie lange sind Sie in Stellung bei dem Angeklagten?«
+
+»Zehn Jahre.« Ich kenne ihn also etwas besser als Sie alle, meine
+Herren, lag in diesen Worten.
+
+»Worin besteht Ihre Beschäftigung?«
+
+»Ich führe das Haus; koche das Essen, mache die Zimmer, empfange die
+Patienten, schreibe die Rechnungen und so weiter.«
+
+»Das ist sehr viel. Standen oder stehen Sie in freundschaftlichen, ich
+wollte sagen, in mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu dem
+Angeklagten?« Sie runzelte die Brauen und schien eine rasche Antwort
+geben zu wollen, besann sich aber und sagte kurz: »Nein.«
+
+»Wieviel Lohn erhielten Sie?«
+
+»Achtzig Kronen.«
+
+»Hatten Sie Nebeneinkünfte?«
+
+»Nein.«
+
+»Die Stelle muß offenbar ideelle Annehmlichkeiten haben. Sie waren
+vermutlich sehr selbständig? Der Doktor behandelte Sie gut?«
+
+»Er mich und ich ihn. Wir passen gut zusammen. Übrigens ist es leicht,
+mit =Dr.= Deruga gut auszukommen, wer es nicht tut, trägt selbst
+die Schuld.«
+
+»Gut. Erinnern Sie sich an den 1. Oktober des vorigen Jahres? Der
+Angeklagte verließ die Wohnung etwa um sechs Uhr. Sagte er Ihnen, wohin
+er ginge, und wann er wiederkomme?«
+
+»=Dr.= Deruga sagte, er käme vielleicht nachts nicht nach Hause und
+wisse auch noch nicht, ob er am folgenden Tage zur Sprechstunde wieder
+da sein würde. Wenn Patienten kämen, sollte ich sie vertrösten.«
+
+»Glaubten Sie, daß er verreise?«
+
+»Ich glaubte gar nichts -- weil es mich nichts anging. Ich pflegte nie zu
+fragen, wohin er ginge, nur neckte ich ihn zuweilen, weil ich wußte, daß
+ihm die Frauenzimmer nachliefen. Vielleicht habe ich das auch an jenem
+Abend getan.«
+
+»Was hatte der Angeklagte bei sich, als er fortging?«
+
+»Ein Paket.«
+
+»Wissen Sie, was der Inhalt des Paketes war?«
+
+»Nein.«
+
+»Sie wissen es nicht, aber Sie ahnten es doch vielleicht. Haben Sie ihn
+etwas einwickeln sehen? Hat er in Schränken oder Kommoden gekramt?«
+
+»Ja, ich sah, daß er etwas suchte, und fragte ihn, was es sei. Da sagte
+er ärgerlich: 'Wo, zum Teufel, haben Sie den alten Faschingströdel
+versteckt?' Ich sagte, es sei alles in der Truhe auf dem Vorplatz, was
+überhaupt noch vorhanden sei. Er hatte nämlich verschiedenes verliehen
+oder verschenkt.«
+
+»Was verstehen Sie unter altem Faschingströdel?«
+
+»Kostüme, die er früher beim Fasching getragen hatte. In den letzten
+Jahren hatte er nichts mehr mitgemacht.«
+
+»Was für Kostüme waren das?«
+
+»O, das kann ich so genau nicht sagen, was sie bedeuteten. Bauernkleider
+und ein Bajazzo und ein Mönch, glaub' ich. Ich kenne mich nicht aus
+damit.«
+
+»Vermutlich boten Sie ihm Ihre Hilfe an?«
+
+»Ja, aber er sagte: 'Gehen Sie zum Teufel!' Das war nicht böse gemeint,
+es war so eine Redensart von ihm. Mir war es ganz recht, denn es war
+nach Tisch und ich hatte in der Küche zu tun.«
+
+Inzwischen war der Staatsanwalt aufgestanden, gestikulierte mit seinen
+langen Armen und machte Grimassen. »Mein liebes Fräulein,« sagte er,
+»hatte der Angeklagte keine Reisetasche?«
+
+»Ja, wenn er verreiste, nahm er eine Reisetasche,« sagte Fräulein
+Klinkhart.
+
+»Nun, mein liebes Fräulein,« fuhr der Staatsanwalt mit süßlicher
+Liebenswürdigkeit fort, »sollten Sie als Dame und als Haushälterin,
+teils aus Neugier und teils aus Ordnungsliebe, nachdem Ihr Brotherr fort
+war, nicht nachgesehen haben, was er mitgenommen hatte? Wenn ich mich in
+Ihre Lage versetze, so scheint mir, Sie mußten sich Gewißheit zu
+schaffen versuchen, wie lange Ihr Brotherr fortbleiben würde. Aus dem,
+was er mitgenommen hatte, ließ sich doch manches schließen.«
+
+Fräulein Klinkhart faltete finster die Brauen und warf einen Blick
+unverhohlener Abneigung auf den Staatsanwalt. »Ich sah,« antwortete sie,
+»daß in der Truhe alles durcheinandergeworfen war, und machte wieder
+Ordnung. Ob etwas fehlte, weiß ich nicht, ich habe nicht darauf
+geachtet. Ein Nachthemd hatte er, wie mir schien, nicht mitgenommen.«
+
+»Sehen Sie, sehen Sie,« rief der Staatsanwalt triumphierend und mit dem
+langen Zeigefinger auf sie deutend, »dahin wollte ich Sie bringen! Also
+ein Nachthemd hatte er nicht mitgenommen?«
+
+»Nun, und?« sagte Fräulein Klinkhart finster, »wenn er doch gar nicht
+verreiste!«
+
+»Sehr wohl, mein liebes Fräulein,« sagte der Staatsanwalt mit entzücktem
+Lächeln, »wenn nun aber kein Nachtkleid in dem Paket war, was war Ihrer
+Meinung nach dann darin?« Fräulein Klinkhart zuckte ärgerlich und
+ungeduldig die Achseln und sagte: »Wahrscheinlich war irgendein
+Kostümstück zum Verkleiden darin, das er jemandem leihen wollte.«
+
+»Wollen Sie uns das Rätsel lösen?« wandte sich der Vorsitzende an
+Deruga.
+
+»Es war ein Kimono darin,« sagte Deruga, »den mir einmal ein Patient aus
+China mitgebracht hatte, und den ich der Dame, die ich besuchte, leihen
+wollte.«
+
+»Sie sagten ja vorhin, es wäre Wäsche darin gewesen,« sagte =Dr.=
+Zeunemann, den Arm auf die Lehne seines Sessels stemmend und sich nach
+dem Angeklagten herumwendend.
+
+»Ja, können Sie sich nicht denken, daß ich das Breittreten der albernen
+Kleinigkeiten satt habe?« erwiderte dieser mit einem so wütenden
+Ausdruck, daß der Fragende unwillkürlich zurückfuhr. »Ich habe gesagt,
+was mir gerade einfiel, und nächstens werde ich überhaupt nichts mehr
+sagen. Es war ein Kimono, ein Nachthemd, eine Zahnbürste, ein Revolver
+und eine Flasche Gift darin. Das ganze Paket wächst mir zum Halse
+heraus.«
+
+=Dr.= Zeunemann wartete eine Weile und sagte dann ruhig: »Ich frage
+Sie nicht aus, weil es mir Vergnügen macht, sondern weil es meine
+Pflicht ist. Ich hoffe, Sie sehen das ein und entscheiden sich, was Sie
+endgültig als den Inhalt des Pakets angeben wollen.«
+
+Derugas Züge glätteten sich. »Wahrhaftig,« sagte er mit einem
+liebenswürdigen Lächeln, »ich bin ein grober Kerl, entschuldigen Sie
+mich. Es war also ein Kimono in dem verwünschten Paket.«
+
+»Den Sie der bewußten Dame leihen wollten,« fügte =Dr.= Zeunemann
+hinzu.
+
+»Der Fasching beginnt meines Wissens erst im Januar,« bemerkte der
+Staatsanwalt.
+
+Deruga lachte. »Die Dame machte entweder ihre Vorbereitungen sehr früh
+oder sie brauchte ihn für einen anderen Anlaß. Ich werde sie
+gelegentlich fragen und es Ihnen dann mitteilen.«
+
+Der Staatsanwalt bebte vor Ärger, um so mehr als er auf dem Gesicht des
+Justizrats und auf dem des Vorsitzenden ein belustigtes Lächeln sah, das
+der letztere aber schnell unterdrückte. »Gehen wir nun,« sagte er, »zu
+der Rückkehr des Angeklagten am 3. Oktober über. Was ging dabei vor?
+Besinnen Sie sich noch, Fräulein Klinkhart, was =Dr.= Deruga
+sagte?«
+
+»O ja,« antwortete sie. »Ich sagte: 'Gut, daß Sie kommen, Doktor. Es
+warten einige Patienten über zwei Stunden auf Sie.' Der Doktor sagte:
+'Desto schlimmer für sie, ich bin sehr müde und will mich sofort zu
+Bett legen.' Ich fragte, ob er nicht wenigstens einen Augenblick selbst
+mit ihnen sprechen und sie wieder bestellen wollte. Da machte er eine
+abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte: 'Ich kann nicht,' und da
+wußte ich, daß ich nicht weiter in ihn dringen dürfte.«
+
+»Fiel Ihnen denn dieses Benehmen nicht auf?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Durchaus nicht,« sagte Fräulein Klinkhart. »Er leidet an Migräne, und
+wenn ein Anfall kommt, hat er solche Kopfschmerzen, daß ihm alles
+einerlei ist. Er legt sich dann hin, und ich muß ihn in Ruhe lassen.
+Gewöhnlich ist es am anderen Morgen vorbei. Er sah auch so fahl aus, wie
+er immer tut, wenn er die Migräne hat.«
+
+»Er ging also in sein Schlafzimmer, und Sie haben ihn bis zum folgenden
+Morgen nicht gesehen? Hatte er das Paket bei sich, das er mitgenommen
+hatte?«
+
+»Darauf habe ich nicht geachtet.«
+
+»Ich erinnere Sie, Fräulein Klinkhart,« sagte =Dr.= Zeunemann
+streng, »daß Sie unter Eid aussagen. Es ist glaublich, daß Sie im
+ersten Augenblick nicht an das Paket dachten; aber da Sie am anderen
+Tage das Zimmer aufräumten, wird es Ihnen doch eingefallen sein?«
+
+»Das denken Sie, Herr Präsident,« sagte Fräulein Klinkhart mit einem
+lebhafteren Feuer ihrer stillen, braunen Augen, »weil Sie einen Argwohn
+haben und sich womöglich einbilden, es wäre irgendein Mordinstrument in
+dem Paket gewesen. Ich war aber unbefangen, und deshalb fand ich das
+Paket gar nicht wichtig, was es auch gewiß nicht war. Aber wenn ein
+Kostüm darin gewesen war, das er jemandem geliehen hatte, so konnte er
+es ja auch gar nicht wieder mitbringen.«
+
+»Ja, wenn,« sagte =Dr.= Zeunemann, »das stimmt. Besaß denn der
+Angeklagte einen chinesischen Kimono?«
+
+»Chinesisches Zeug habe ich einmal gesehen,« sagte Fräulein Klinkhart.
+»Nebenbei kenne ich aber nicht alles, was der Doktor besitzt. Ich bin
+kein Spion.«
+
+=Dr.= Zeunemann blätterte eine Weile in den Akten und fragte dann:
+»Hat der Angeklagte Ihnen sofort Mitteilung davon gemacht, als er die
+Nachricht von der Erbschaft bekam, die ihm zugefallen war?«
+
+»Ja, er rief mich herein,« erzählte Fräulein Klinkhart, »denn ich war
+gerade in der Küche, und er war sehr erregt und machte allerlei
+Zukunftspläne und fragte mich, was ich mir wünschte, aber etwas Schönes
+und Kostbares sollte es sein. Ich sagte, ich hätte nur einen einzigen
+Wunsch, nämlich ein paar Brillantohrringe. Die versprach er mir, aber er
+neckte mich damit, wie es so seine Art war. Wir haben sehr gelacht.«
+
+»Er freute sich also sehr?«
+
+»Gewiß,« sagte Fräulein Klinkhart ruhig, »er war geradezu toll vor
+Freude. Er litt immer unter der Beschränktheit seiner Mittel und liebte
+es, sich auszumalen, daß er reich wäre. Er war wie ein Kind, wenn er in
+solchen Vorstellungen schwelgte. Aber oft sagte er schon eine Stunde
+nachher, daß er den ganzen Bettel verachte.«
+
+Zum Beschluß wurden noch ein Schneider und ein Friseur vernommen,
+welchen Deruga größere Beträge schuldig war. Die Eleganz des Schneiders
+war nicht einschmeichelnd wie die des Hofrats von Mäulchen, sondern
+vernichtend, und zwar zermalmte sie weniger die ganz armen Teufel, für
+welche sie überhaupt nicht in Betracht kam, als diejenigen, die zwar
+Geld hatten, aber nicht genug, oder nicht Geschmack und Erziehung genug,
+um sich ihm oder einem ihm ebenbürtigen Kleiderkünstler anzuvertrauen.
+Er sagte aus, er habe sehr bald Mißtrauen geschöpft, weil er =Dr.=
+Deruga nicht für einen wahrhaft feinen Gentleman hätte halten können.
+Er, der Schneider, habe nur hochfeine Kundschaft und sei deshalb in
+diesem Punkte nicht leicht zu täuschen. Deruga sei viel zu kordial im
+Verkehr mit seinen Angestellten gewesen und habe zuweilen mit ihm, dem
+Schneider, Späße gemacht, die er in Gegenwart seiner Angestellten, des
+Respekts wegen, nicht gerne angehört hätte. Seine diesbezüglichen
+Andeutungen habe Deruga nicht verstanden. Er habe Deruga daher auch
+halbjährliche Rechnungen geschickt, während er den feinen Kunden nur
+jährliche schickte. Deruga sei ihm seit zweieinhalb Jahren eintausend
+Mark schuldig, das sei nicht viel, und er würde einem feinen Kunden
+gegenüber kein Aufheben davon machen; es könne ihm aber natürlich nicht
+gleichgültig sein, wenn es sich um einen Mann mit zweifelhaftem
+Charakter handle.
+
+Auf die Frage, ob Deruga ihm gegenüber von einer zu erwartenden
+Erbschaft oder sonst von Geldquellen gesprochen hätte, die ihm zur
+Verfügung ständen, sagte der Schneider mit vornehmer Zurückhaltung,
+Deruga habe sehr viel geschwatzt, es könnten auch derartige Worte
+gefallen sein; er befolge aber seit Jahren den Grundsatz, die privaten
+Mitteilungen, die seine Kunden ihm machten, weder zu wiederholen noch zu
+behalten, und sei deshalb gar nicht mehr imstande, sie sich zu merken.
+Vollends wären ihm die Redereien Derugas viel zu belanglos vorgekommen,
+als daß er sein Gedächtnis damit belastet hätte.
+
+Der Friseur betonte mit Feuer, daß Deruga ohne Zweifel die ihm
+ausstehende Schuld bezahlt haben würde, wenn er ihn jemals gemahnt
+hätte. Deruga sei ihm aber viel zu teuer gewesen, ein Mann nach seinem
+Herzen, genial und edel, den zu bedienen er sich immer zur Ehre
+angerechnet habe. Sein Auge dringe den Menschen bis ins Innerste, er
+lasse sich nie durch Scheingrößen blenden, und das Geringste mißachte er
+nicht. »Und wenn er mir nie einen Pfennig bezahlte, meine Herren,« rief
+der Friseur mit Schwung aus, »ich würde ihm stets meine ganze Kraft
+weihen und nie aufhören zu sagen, das ist ein großer Mann.«
+
+»War Deruga bei Ihnen,« fragte der Vorsitzende, »nachdem er von der
+Erbschaft in Kenntnis gesetzt worden war?«
+
+»Ich darf mir schmeicheln, der erste gewesen zu sein,« sagte der
+Friseur, »dem der Herr Doktor sein Herz über dieses Ereignis
+ausschüttete. 'Nun werde ich dich königlich belohnen,' sagte er zu mir,
+'denn du verdienst es sowohl wegen deiner Kunst wie wegen deiner
+anständigen Gesinnung.' Herr Doktor pflegte mir nämlich zuweilen, wenn
+er stark in Stimmung war, das trauliche Du zu geben. Ich erwiderte, mit
+der Bezahlung solle er es halten, wie er wolle, nur seine Kundschaft
+solle er mir nicht entziehen. 'Da kennst du Deruga schlecht!' rief er
+aus, 'meinst du, ich unterschätze dein Kabinett, weil es in einem
+Seitengäßchen liegt und keine goldenen Spiegel und von denkenden
+Künstlern entworfene Stühle darin sind? Und wenn ich Kaiser von China
+würde, auf diesem schäbigen, aber bequemen Sessel, von deiner
+Meisterhand würde ich mich rasieren lassen. Ich hasse und verabscheue
+das Geld, und wenn ich es nicht brauchte, um das Ungeziefer, Menschen
+genannt, mir vom Leibe zu halten, würfe ich die ganze Erbschaft in den
+nächsten Straßengraben.'«
+
+Der Staatsanwalt schüttelte mit verzweifeltem Hohnlachen den Kopf.
+=Quousque tandem?= stand auf seinem Gesicht geschrieben; schreit
+sein Lästern noch nicht genug zum Himmel?
+
+»Kam der Angeklagte täglich zu Ihnen?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Ich darf wohl sagen, im allgemeinen täglich,« erwiderte der Friseur.
+»Sowohl ich selbst wie meine Kunden vermißten ihn aufs schmerzlichste,
+wenn er einmal ausblieb.«
+
+»Erinnern Sie sich, ob er am 2. und 3. Oktober des vorigen Jahres
+ausblieb?«
+
+»Ich erinnere mich,« sagte der Friseur, »daß ich ihn im Spätsommer oder
+Herbst einmal ein paar Tage lang nicht sah. Das Datum habe ich mir aber
+nicht gemerkt.«
+
+»Sie erinnern sich auch nicht, was er, als er wiederkam, als Grund
+seines Ausbleibens angab? Wie Sie mit ihm standen,« setzte =Dr.=
+Zeunemann in etwas strengerem Ton hinzu, »ist anzunehmen, daß Sie ihn
+danach fragten?«
+
+»Ich erinnere mich allerdings,« erwiderte der Gefragte, »daß ich es
+unterließ ihn zu fragen, weil er schweigsam und in sich gekehrt war. Ich
+bin nach meinem Beruf nur Friseur,« setzte er mit Hoheit hinzu, »aber
+mir ist so viel Takt angeboren, daß das Vertrauen eines edlen Menschen
+mich nicht zudringlich macht, und daß ich fühle, wann Heiterkeit und
+wann Ernst am Platze ist. Gerade den Herrn Doktor habe ich nie
+ausgehorcht und zum Reden anzustacheln versucht, wenn er in sich
+versunken oder umwölkten Mutes zu sein schien.«
+
+»Was für Vermutungen,« fragte der Vorsitzende weiter, »hatten Sie denn
+bei sich über das Ausbleiben des Angeklagten und über seine ungewöhnlich
+ernste Stimmung?«
+
+»Gar keine,« sagte der Friseur, milde Mißbilligung und Belehrung im Ton,
+»ich erlaubte mir gar keine.«
+
+=Dr.= Zeunemann gab es auf und wollte den Zeugen eben entlassen,
+als der Staatsanwalt noch eine Frage an ihn richten zu wollen erklärte.
+
+»Hat der Angeklagte im Spätsommer des vorigen Jahres oder noch früher
+eine Perücke oder einen falschen Bart oder beides bei Ihnen gekauft oder
+geliehen?«
+
+»Ich bedaure,« sagte der Friseur mit höflich schadenfrohem Lächeln,
+»aber dergleichen Artikel führe ich nicht. In einem kleinen,
+bescheidenen, abgelegenen Geschäft, wie das meinige ist, lohnt sich das
+nicht aus.«
+
+Es war schon eine vorgerückte Abendstunde, und der Vorsitzende hob die
+Sitzung auf. Als der Justizrat die Hand auf die Schulter Derugas legte,
+der mit aufgestütztem Kopfe dasaß, fuhr dieser herum und sah den anderen
+mit blinzelnden Augen unsicher an.
+
+»Ich glaube, weiß Gott, Sie haben geschlafen?« fragte der Justizrat
+zwischen Staunen und Entrüstung. »Ich glaube auch,« sagte Deruga; »das
+letzte, was ich sah, war der Kerl, der Schneider. Der ekelte und
+langweilte mich so, daß ich die Augen zumachte, und da war ich sofort
+weg. Ich habe mir das in meiner Universitätszeit angewöhnt, wo ich oft
+sehr müde war. Ich konnte stundenlang während der Vorlesungen schlafen,
+ohne daß es jemand merkte, ausgenommen mein Freund Carlo Gabussi, der
+neben mir saß. O traurige Jugend und süße Erinnerung!«
+
+
+
+
+=II.=
+
+
+Die Sitzung des nächsten Tages eröffnete =Dr.= Zeunemann mit der
+Erklärung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten,
+sofort vernommen zu werden, damit sie möglichst bald zu ihrer Familie
+zurückreisen könne. Er habe um so weniger Anstoß genommen, ihrer Bitte
+zu willfahren, als er sie nicht für wichtig halte und sie nur auf
+Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr
+Aufschlüsse über die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen
+Frau während der ersten Zeit seiner Ehe erhalten.
+
+Auf seinen Wink trat eine mittelgroße Dame ein, die mit einer
+ziegelroten Schabracke behängt war und auf ihrem brandroten, in vielen
+Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen großen, von einem Niagarafall
+weißer und blauer Straußenfedern überstürzten Hut trug. Sie trat ein
+paar Schritte vorwärts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken
+um sich, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Augenscheinlich
+hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort
+blieb der Blick hängen, ohne zunächst durch das Ergebnis seiner
+Forschung befriedigt zu werden.
+
+Plötzlich indessen stieß sie einen Schrei aus, rief mit kreischender
+Stimme: »Dodo!« und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie
+hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie
+hereingeführt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch
+im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten
+hatte.
+
+»Entschuldigen Sie,« sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch
+hervorzog, »aber das war zu viel für mich. Dies Wiedersehen nach so viel
+Jahren! Die Veränderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, närrische
+Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit glühenden Kohlen herstellen, Herr
+Präsident, so schwöre ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine
+Unschuld zu beweisen!«
+
+»Die Sache ist leider nicht so einfach,« sagte =Dr.= Zeunemann mit
+wohlwollender Überlegenheit. »Hingegen können Sie uns unsere Arbeit sehr
+erleichtern und dem Angeklagten nützen, wenn Sie, was Sie zu sagen
+haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie heißen Rosine Schmid
+geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?«
+
+»Jawohl,« sagte die Dame, »ich gehöre nicht zu denjenigen Frauen, die
+sich ihres Alters schämen. Übrigens tun die Männer auch, was sie können,
+um jung zu erscheinen, besonders beim Militär, und würden es noch mehr
+tun, wenn so viel für sie davon abhinge wie für uns Frauen.«
+
+»Frau Hauptmann,« sagte der Vorsitzende, »Sie kennen den Angeklagten
+Sigismondo Enea Deruga, sind aber nicht mit ihm verwandt. Wollen Sie so
+gut sein und mit Vermeidung alles Überflüssigen erzählen, wann und unter
+welchen Umständen Sie ihn kennenlernten?«
+
+»Mit Vergnügen will ich das,« sagte Frau Hauptmann Schmid lebhaft.
+»Alles will ich sagen, was ich weiß, denn dazu bin ich ja hergekommen.
+Und wenn ich ans Ende der Welt reisen müßte, sagte ich zu meinem Mann,
+ich täte es, um dem Dodo aus der Patsche zu helfen. Das hat er um mich
+verdient, so lieb und gut wie er immer war. Und getan hat er es auch
+nicht, denn wenn er auch etwas toll und originell war, der Topf voll
+Mäuse, gemordet hat er sicherlich keinen Christenmenschen und am
+wenigsten die gute Seele, seine Frau.«
+
+»Wie kommt es, daß Sie den Angeklagten einen Topf voll Mäuse nennen?«
+fragte =Dr.= Zeunemann.
+
+»So nennt man doch,« erklärte Frau Schmid, »die Figur, die bei den
+Feuerwerken gewöhnlich zuletzt kommt, wo es so kracht und prasselt, daß
+man glaubt, einen feuerspeienden Berg vor sich zu haben. Es war eine Art
+Kosenamen, den seine Frau ihm gegeben hatte, weil er zuweilen Anfälle
+von Wut bekam, wo er Rauch und Feuer spuckte, so daß sie sich vor ihm
+fürchtete.«
+
+»Sonderbarer Kosename,« meinte der Vorsitzende.
+
+»Ach, Herr Präsident,« sagte die Frau Hauptmann lachend, »er meinte es
+ja im Grunde nicht böse, so wenig wie ein Topf voll Mäuse gefährlich
+ist. Darum paßte der Name gerade so gut, und wir nannten ihn alle so,
+obgleich es sich für mich, so ein junges Mädchen wie ich war, kaum recht
+schickte.«
+
+»Ich bitte zu beachten,« sagte der Staatsanwalt, »daß nach Aussage der
+Zeugin die damalige Frau Deruga sich vor ihrem Mann fürchtete.«
+
+Frau Hauptmann Schmid drehte sich schnell nach dem Sprecher herum und
+sagte, während ihr das Blut ins Gesicht stieg: »Wenn Sie glauben, Sie
+hätten damit einen Vorteil über den Herrn Doktor gewonnen, daß ich
+gesagt habe, er sei aufbrausend, so sind Sie gewaltig im Irrtum. Die
+Aufbrausenden sind die Schlimmsten nicht, und das sagt ja auch das
+Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich habe oft zu meinem
+Manne gesagt: 'Meinetwegen möchtest du schimpfen und fluchen, ja, sogar
+in Gottes Namen zuschlagen, nur das Maulen und Scheelblicken, das
+Brummen und Nachtragen, das ist mir zuwider, und ich glaube, daß einer,
+dem es nie überläuft, das Herz nicht auf dem rechten Flecke hat.'«
+
+Der Vorsitzende machte eine abschließende Handbewegung und sagte: »Ihre
+Mitteilungen, Frau Hauptmann, sind uns sehr wertvoll. Vielleicht
+erzählen Sie uns zunächst, auf welche Weise Sie die Bekanntschaft des
+Angeklagten machten!«
+
+»Sehr gern, sehr gern,« sagte Frau Hauptmann, »ich habe auf der langen
+Reise immer an jene Zeit gedacht, darum ist mir alles gegenwärtig,
+obschon es jetzt zweiundzwanzig Jahre her sind. Ja, zweiundzwanzig Jahre
+ist es her, und einundzwanzig Jahre war ich damals alt. Die Großmutter
+hatte gerade viel Geld bei der Lotterie verloren. Denn, obwohl sie sich
+einbildete, ein Muster von Vernunft zu sein, konnte sie doch nicht
+leben, ohne zu spielen. Und wenn sie sich das Geld hätte zusammenbetteln
+müssen, gespielt mußte werden. Weil nun der Großvater ärgerlich war, was
+er zwar nicht aussprach, denn das traute er sich nicht, aber er machte
+ein langes Gesicht und manchmal eine spöttische Bemerkung, wollte die
+Großmutter es wieder einbringen und richtete das alte Lusthäuschen am
+Gartenzaun zum Vermieten ein, und es wurde eine Anzeige für die Zeitung
+gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie wir abends spät um den Tisch unter
+der Lampe saßen und uns abrackerten, um die Sache in richtiges Deutsch
+zu bringen. Denn der Großmutter war das Schriftliche nicht geläufig, und
+der Großvater wollte nichts damit zu tun haben. Erstens, sagte er,
+schicke es sich für den Offiziersstand nicht, Zimmer zu vermieten -- er
+war nämlich Hauptmann, aber schon lange nicht mehr im Dienst --, zweitens
+möchte er keine Fremden im Hause leiden, und drittens sei es eine
+Schande, arglosen Leuten die alte Baracke als Wohnung aufzuschwatzen.«
+
+»Ihre Großmutter war offenbar keine Deutsche,« schaltete der Vorsitzende
+ein, »da ihr das Deutsche nicht geläufig war?«
+
+»Nein, natürlich nicht,« antwortete Frau Schmid, »sie war ja aus
+Bosnien; aber sie war eine sehr schöne Frau und übrigens auch gebildet,
+nur nicht in den Wissenschaften.«
+
+»Und Ihre Eltern?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Ja, meine Eltern waren auch von dorther,« sagte die Frau Hauptmann ein
+wenig errötend; »aber sie waren zu früh gestorben, als daß ich mich
+ihrer hätte erinnern können, und ich sah eigentlich den Großvater und
+die Großmutter als meine Eltern an. Also, um in meiner Erzählung
+fortzufahren, als der Großvater das sagte, geriet die Großmutter in eine
+Furie und sagte, das Lusthaus hätte der Kaiser Joseph oder Ferdinand
+oder Maximilian, das weiß ich nicht mehr, für seine Geliebte gebaut, da
+in dieser Gegend noch lauter Wald und Heide gewesen wäre, und es wäre
+noch etwas Malerei an der Decke und eine steinerne Vase, wenn auch
+zerbrochen, an der Treppe. Außerdem wolle sie es den Leuten gar nicht
+aufschwatzen, nur zeigen; sie könnten ja die Augen auftun und mit Gott
+wieder heimgehen, wenn es ihnen nicht paßte. Wenn die Großmutter in der
+Furie war, sah sie sehr majestätisch aus; sie hatte eine gebogene Nase,
+wie ein Papagei, aber schöner, Augen wie Diamanten und dickes weißes
+Haar, das wie ein Schneeberg über ihrem Kopfe stand. Um sie zu
+begütigen, half der Großvater doch mit bei der Anzeige, und sie lautete
+schließlich so: 'Hier ist ein fesches Sommerhaus zu vermieten, auch
+winters brauchbar, wenn es beliebt. Es liegt im Grünen und hat einige
+Möbel. Besonders geeignet für ein junges Ehepaar.' Die Großmutter wollte
+nämlich zuerst schreiben: 'für ein Liebespaar.' Da wurde aber der
+Großvater beinahe böse und sagte, die Großmutter würde ihn noch um Ehre
+und guten Namen bringen, und sie wäre ärger als eine Zigeunerin. Da gab
+die Großmutter nach, denn sie hatte eine große Hochachtung für des
+Großvaters Vornehmheit und Weltkenntnis, und es wurde statt dessen das
+'junge Ehepaar' gesetzt.«
+
+»Und auf diese Anzeige hin kamen Herr =Dr.= Deruga und seine Frau?«
+fragte der Vorsitzende. »Wann war das?«
+
+»Vor zweiundzwanzig Jahren, wie ich schon sagte,« antwortete Frau
+Schmid; »es mag im Mai gewesen sein.«
+
+»Juli war es,« sagte Deruga, »denn die Linde, unter der wir abends
+saßen, duftete, und der Rosentriumphbogen über der Gartenpforte blühte,
+als wir das erstemal hindurchgingen.«
+
+Alle blickten erstaunt nach dem Angeklagten, dessen wohllautende Stimme
+und melodischer Tonfall jetzt erst auffielen; was er sagte, hatte fast
+wie ein kleines Lied geklungen.
+
+Die farbenprächtige Frau zeigte wieder eine Neigung auf ihn zuzulaufen,
+unterdrückte sie aber und sagte nur: »Recht haben Sie, es war Juli! Sie
+wissen es am besten und könnten überhaupt alles viel besser und schöner
+erzählen als ich.«
+
+»Schräg über unserem Pavillon stand das Sternbild des Wagens,« sagte
+Deruga, »und wenn wir nachts Hand in Hand nach Hause kamen, Mingo und
+ich, sah ich ihn an und dachte: Wie bald, fliegender Wagen der Zeit,
+wirst du uns von diesen schnellen, törichten Augenblicken fortführen in
+das namenlose Dunkel.«
+
+»Ja, etwas Ähnliches muß ich wohl mal von Ihnen gehört haben,« fiel Frau
+Schmid lebhaft ein; »denn im folgenden Sommer, wenn der Wagen am Himmel
+stand, sah er mir immer so leer aus, und doch hatte ich sonst auch
+niemand darin sitzen sehen, natürlich.«
+
+»Sie haben also noch zuweilen an uns gedacht, Brutta?« fragte Deruga.
+
+Frau Hauptmann Schmid zog ihr Taschentuch und brach in Tränen aus.
+
+»Ach,« schluchzte sie, »das greift mir ans Herz, wenn Sie mich bei dem
+Namen anreden. Es nennt mich ja seit Jahren niemand mehr so, denn der
+Großvater und die Großmutter sind lange tot, und ich möchte gar nicht
+wieder hin nach dem alten Hause. Wer weiß, ob der Wagen noch
+darübersteht!«
+
+Der Vorsitzende nahm jetzt den Faden des Verhörs wieder auf, indem er
+Frau Schmid bat, sich zu beruhigen, und sie fragte, ob die Eheleute
+Deruga den Eindruck eines glücklichen Paares gemacht und ob sie ihren
+Großeltern gefallen hätten.
+
+»Und wie!« sagte Frau Schmid, »besonders der Doktor. Das heißt, dem
+Großvater gefiel die Frau besser, aber er hielt sich zurück. Dagegen,
+wenn die Großmutter einen leiden mochte, dann merkte man's. Und vom
+ersten Augenblick an sagte sie, das wäre ein Mann für mich gewesen.«
+
+»Wie kam sie darauf?« fragte =Dr.= Zeunemann. »Erwies er Ihnen
+Aufmerksamkeiten?«
+
+»Keine Spur!« sagte Frau Schmid. »Er spaßte nur mit mir, wie das so
+seine Art war. Zum Beispiel sagte er mir immer, ich wäre so häßlich, daß
+man mich nur mit einem Auge ansehen könnte, sonst hielte man es nicht
+aus; und wenn ich ihm in den Weg kam, kniff er ein Auge zu, bald das
+eine, bald das andere. Um sie zu schonen, wie er sagte. Die Grimassen,
+die er dabei schnitt, waren zu komisch, daß ich nicht aufhören konnte zu
+lachen, und die Großmutter lachte auch; aber sie ärgerte sich doch ein
+bißchen. Das ließ sie übrigens nie an ihm aus, sondern an mir, wie ich
+denn überhaupt, um die Wahrheit zu sagen, viel von ihr ausgestanden
+habe; denn sie war rasch und zornig, obwohl sonst eine herrliche Frau,
+die ich bis an mein Lebensende lieben und verehren werde.«
+
+»Empfanden Sie das Benehmen des Angeklagten nicht als unzart?«
+erkundigte sich der Vorsitzende.
+
+»Bewahre!« sagte Frau Schmid. »Wenn einem auf solche Weise gesagt wird,
+daß man häßlich ist, glaubt man hübsch zu sein. An Heiraten habe ich nie
+gedacht, er hatte ja eine Frau, und noch dazu eine, die ich
+schwärmerisch verehrte. Die Großmutter gewann sie erst allmählich lieb,
+dann aber war sie fast mehr in sie als in den Doktor verliebt. Anfangs
+hatte sie allerlei an ihr auszusetzen: sie wäre zu alt für den
+Doktor -- tatsächlich zählte sie ein paar Jahre mehr --, und namentlich
+wäre sie nicht feurig genug für einen so hübschen und reizenden Mann.
+Ihr Gesicht wäre nicht übel, wenn man genau zusähe, aber ihre Augen
+wären zu sanft und dadurch langweilig. Immer gleiche Freundlichkeit wäre
+wie Milchbrei; müßte man den täglich essen, würde einem übel. Dagegen
+ein gut gepfeffertes und gezwiebeltes Gulasch würde einem nie zuwider.
+Nur eins ließ meine Großmutter an ihr gelten; das war ihr Nacken. Die
+arme Frau trug nämlich immer den Hals frei, obschon das damals nicht so
+in der Mode war wie heutzutage, und wenn sie durch den Garten ging,
+leicht, wie wenn sie Flügel an den Füßen hätte, sagte meine Großmutter:
+'Übrigens gefällt sie mir nicht, aber ich möchte sie einmal auf den
+Nacken küssen.'
+
+Eines Tages, es muß im Oktober gewesen sein, weil wir die Trauben
+abgenommen hatten, war die Großmutter besonders schlechter Laune wie
+jedes Jahr bei der Traubenernte. In der Zwischenzeit bildete sie sich
+nämlich ein, daß sie süß wären, und kam die Zeit heran, waren sie doch
+wieder sauer. Morgens beim Frühstück gab sie mir eine Ohrfeige, weil ich
+die Kaffeetasse umgeworfen hatte. Das heißt, sie hatte mir einen Stoß
+gegeben, aber sie sagte, das wäre keine Entschuldigung, denn ich hätte
+sie dumm angeglotzt. Bei der Gelegenheit sagte sie mir auch, wenn ich
+wenigstens gescheit wäre, so möchte es hingehen, aber häßlich und dumm,
+da könne es einen nicht wundern, daß der Doktor mich nicht genommen
+habe; daß er mich als unverheirateter Mann gar nicht gekannt hatte und
+mich aus dem Grunde gar nicht hätte heiraten können, leuchtete ihr
+niemals ein. In der Küche stellte ich mich auch an wie ein Tölpel, sagte
+sie, und doch hinge vom Kochen das Glück der Ehe ab, und daß sie große
+Stücke darauf hielt, danke ich ihr noch tagtäglich, wenn mein Mann sagt,
+in den feinsten Hotels von Wien und Prag schmecke es ihm nicht so gut
+wie zu Hause, und doch ist er weit herumgekommen und versteht sich
+darauf.
+
+An dem Tage nun wollte ich einen Risotto machen, und weil ich schon
+einmal einen unter der Aufsicht der Großmutter gemacht hatte, dachte
+ich, dabei würde es mir gewiß nicht fehlen. Ich schnitt also meine
+Zwiebeln und Leber und alles und richtete das Zeug an, und plötzlich
+fiel mir ein, daß ich Hunger hätte, und daß gewiß noch eine Traube
+hängen geblieben wäre, die ich mir holen könnte, ohne daß die Großmutter
+es merkte. Ich schüttete noch ein wenig Fleischbrühe nach und dachte,
+auf die Art könnte ich es ruhig eine Weile gehen lassen. Eigentlich
+nämlich muß der Risotto fortwährend gerührt werden, und das wußte ich
+gut genug; aber ein bißchen keck und leichtsinnig war ich schon. Jetzt
+kann ich das nicht mehr begreifen, aber in der Jugend kommt man
+unversehens von einem aufs andere, wenn man sich die Zukunft ausmalt:
+Verehrer, Körbe, Hochzeit und so weiter, und ich vergaß über solchen
+Träumereien wahrhaftig das Mittagessen. Auf einmal steht die Großmutter
+vor mir, in der Nachtjacke, das Gesicht rot wie ein glühender Ofen, und
+schreit: 'Da steht sie und maust, die Dirne, die mir den ganzen Risotto
+verbrannt hat!' Wahrhaftig, ich roch es selbst durch das offene
+Küchenfenster, unter dem wir standen, und unbegreiflich ist es, daß ich
+es nicht vorher bemerkt hatte. Und dann fiel sie über mich her, griff
+mit der einen Hand in meine Haare und schlug mit der anderen so auf mich
+los, daß mir zumute war, als hätte mich ein Wirbelwind gefaßt, und
+drehte sich mit mir im Kreise herum. Weh tat es mir nicht, dazu war ich
+zu erstaunt. Aber noch viel mehr erstaunte ich, als plötzlich die
+Großmutter ihrerseits von einem Sturmwind erfaßt und zurückgerissen
+wurde, und Frau =Dr.= Deruga zwischen uns stand, wie der Engel mit
+dem feurigen Schwerte, der Adam und Eva aus dem Paradiese trieb, mit
+Augen, die nicht blau wie sonst, sondern schwarz waren und knisterten,
+so kam es mir nämlich vor in meiner Erregung.
+
+'Lassen Sie das Kind los, Sie abscheuliche, gottlose Hyäne!' rief sie so
+laut und hart, wie sie mit ihrer weichen Stimme konnte; und nach einer
+kleinen Pause sagte sie ein wenig weicher und gelinder: 'Megäre, wollte
+ich sagen.' Wie sie das gesagt hatte, kam es ihr wohl selbst ein wenig
+komisch vor, daß sie in den Mundwinkeln zu lachen anfing, und dann
+lachte die Großmutter geradeheraus, und wie ich das hörte, lachte ich
+dermaßen, daß ich ordentlich kreischte, und fiel der Frau Doktor um den
+Hals, der die Tränen aus den Augen sprangen vor Lachen.«
+
+Während dieser Erzählung beobachteten sowohl die Richter wie =Dr.=
+Bernburger in unauffälliger Weise den Angeklagten, in dessen Mienen sich
+deutlich ausprägte, wie er die wiedererstehende Vergangenheit
+miterlebte, seine länglichen, schöngeschnittenen Augen erglänzten wie
+die Schuppen eines silbernen Fisches. Er schien seine Lage und Umgebung
+vollständig vergessen zu haben und sagte unbefangen zu der alten
+Freundin: »Arme Marmotte,« (so nannte er seine Frau) »arme, gute, feige
+Person! So hatte sie später ihr Junges gegen mich verteidigt, das
+natürlich seine Prügel ebenso verdiente, wie Sie damals, Brutta. Aber
+erzählen Sie weiter, erzählen Sie: was tat die Großmutter?«
+
+»Der Großmutter,« fuhr die Frau Hauptmann fort, »waren die Augen auch
+feucht, aber nicht nur vom Lachen, sondern gerührt war sie, gerührt über
+die Frau Doktor, und machte kein Hehl daraus; denn obwohl sie, wie schon
+gesagt, eher scharf und zornig war, so war sie doch ohne Falsch und
+zögerte nicht, ein Unrecht zuzugestehen, wenn sie es nämlich eingesehen
+hatte. Sie stemmte die Arme in die Seite und sagte: 'Also so sieht das
+stille Wasser aus! Eine richtige Feuerflamme kann herausschlagen! Da bin
+ich freilich so dumm wie alt gewesen. Und wenn ich heute unser Herr
+Doktor wäre, würde ich Sie morgen vom Fleck weg heiraten, so gut haben
+Sie mir eben gefallen. Und nun muß ich Sie auf den Nacken küssen!' Damit
+umarmte sie die Frau Doktor und küßte sie nicht nur auf den Nacken,
+sondern auch auf beide Backen, und dann sagte sie, der Risotto solle nun
+vergeben und vergessen sein, und sie wolle für das Mittagessen sorgen,
+denn kochen könne sie besser, als man es von einer gottlosen Hyäne
+erwarten würde. In der Tat brachte sie in einer Stunde das feinste Essen
+zusammen, nämlich Fleischpastete und Marillenknödel, und ich begreife
+heute noch nicht, wie sie es machte, denn das sind Gerichte, zu denen
+man seine Zeit braucht. Helfen mußte ich allerdings doch und bekam Püffe
+und Kniffe, aber das schadete nicht, weil sie ein vergnügtes Gesicht
+dazu machte. Nachher beim Mittagessen, an dem die arme Marmotte, ich
+meine die Frau Doktor, auch teilnehmen mußte, sprach die Großmutter viel
+über Erziehung, und daß namentlich die Mädchen lernen müßten, nicht so
+heikel und empfindlich zu sein, denn bei den Männern wären sie nicht auf
+Daunen gebettet, und wenn eine nicht einen Puff vertrüge und sich ihrer
+Haut wehren könnte, ginge es ihr schlecht; die Wehleidigen und
+Nachgiebigen würden nur verachtet. Eine Frau, die ihnen keinen Vorteil
+brächte, sähen die Männer nur als eine Last an, deshalb müßte ein
+Mädchen entweder Geld haben oder kochen können. Die arme Marmotte rühmte
+ihren Mann, daß er nicht so wäre, aber die Großmutter, die doch bisher
+so viel Wesens von ihm gemacht hatte, sagte, da gäbe es keine Ausnahmen.
+In diesem Punkte wäre einer wie der andere, und wenn die Liebe einmal
+einen uneigennützig machte, haßte er die Frau nachher doppelt, die ihn
+so verblendet hätte.«
+
+»Warum sagen Sie immer 'arme Marmotte'?« fragte der Vorsitzende, der mit
+außerordentlicher Geduld zugehört hatte.
+
+»Nun, weil sie tot ist,« antwortete die Frau Hauptmann nach einer Pause
+etwas verblüfft.
+
+»Ach so,« sagte =Dr.= Zeunemann, »bei ihren Lebzeiten haben Sie
+nicht so von ihr gesprochen?«
+
+»Bewahre,« sagte Frau Schmid, »sie kam mir im Gegenteil beneidenswert
+vor. Nun ja, etwas Hilfloses hatte sie an sich, und zuweilen war sie
+auch traurig und sah ängstlich aus, und da mag ich sie wohl einmal 'arme
+Marmotte' genannt haben.«
+
+»Wissen Sie, warum sie zuweilen traurig war?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Warum?« fiel Deruga höhnisch ein. »Das kann ich Ihnen sagen. Weil sie
+ihren Mann nicht so liebte, wie sie sollte, weil sie an einen anderen
+dachte, der besser zu ihr passen würde, und weil sie Angst vor meiner
+Eifersucht hatte. Denn wir Italiener haben nicht Milch oder Wasser in
+den Adern, sondern Blut, und dann werden unsere Augen blutrot, wenn wir
+zornig werden.«
+
+Frau Hauptmann warf einen erschrockenen und tadelnden Blick auf Deruga
+und sagte, zu den Richtern gewendet:
+
+»Er macht nur Spaß! Er war immer ein Spaßmacher und liebte es, die Leute
+zu foppen und zu erschrecken.« Dann wieder zu ihm herüber: »Warum hätte
+die arme Marmotte Sie denn geheiratet? Ein Kind konnte ja sehen, wie
+lieb sie Sie hatte.«
+
+Deruga hatte bereits den Kopf wieder auf die Hand gestützt, so daß man
+sein Gesicht nicht sah, und gab kein Zeichen des Anteils mehr.
+
+»Wenn sie sich vor ihm fürchtete,« fuhr Frau Schmid, zu den Richtern
+gewendet, fort, »so war das sicherlich nicht seine Schuld, sondern es
+kam von ihrer außerordentlichen Furchtsamkeit. Einmal in der Nacht fiel
+etwas mit einem Betrunkenen vor. Ich erinnere mich nicht mehr genau
+daran, aber ich weiß, wie sie von uns allen damit geneckt wurde.«
+
+Der Vorsitzende ermunterte Frau Schmid, sich zu besinnen oder zu
+erzählen, was sie noch davon wisse. Dann, da ihr nichts einfiel, fragte
+er Deruga, ob er sich vielleicht noch daran erinnere.
+
+Deruga hob den Kopf und sah aus, als habe er keine Ahnung, wovon die
+Rede sei.
+
+»Ach, Sie wissen doch, Doktorchen,« redete ihm Frau Schmid zu. »Es kam
+nachts ein Betrunkener am Pavillon vorbei und grölte so laut, daß Ihre
+Frau davon aufwachte und dachte, es wäre unter dem Fenster. Es wird im
+November gewesen sein, denn es war eine stürmische und regnerische
+Nacht, und Sie hatten keine Lust aufzustehen und stellten sich
+schlafend, während Ihre Frau fast verging vor Angst. So ungefähr war es,
+erinnern Sie sich denn nicht mehr daran?«
+
+»O ja,« sagte Deruga, »es stellte sich eine ungewöhnliche Zärtlichkeit
+bei meiner Frau ein. Ich wachte auf, weil sie sich an mich schmiegte und
+ihren Kopf dicht an meinen Hals drückte, und als ich mich noch in dem
+Traum wiegte, es habe sie plötzlich eine Leidenschaft für mich
+überkommen, flehte sie mich an, ich solle sie vor dem Betrunkenen
+schützen. 'Er ist unter dem Fenster,' sagte sie, 'im nächsten Augenblick
+wird er hereinkommen. Was fangen wir an, o, was fangen wir an! Schließe
+wenigstens das Fenster.' Ich rief: 'Ich werde mich hüten, das zu tun; so
+bist du doch einmal zärtlich gegen mich' -- und ich habe es ausdrücklich
+ziemlich bösartig gesagt, denn sie ließ mich los und drehte ihr Gesicht
+nach der anderen Seite und weinte. Ich sagte noch viel beißender als
+vorher, sie solle nicht so dumm sein zu weinen, und übrigens, wenn sie
+sich so unglücklich fühle, brauchte sie nicht für das Leben zu zittern.
+Und wenn sie zum Sterben unglücklich sei, sagte sie, sie möchte doch
+nicht, daß ein ekelhafter, betrunkener Mensch sie anfaßte und erwürgte.
+Daß sie gar nicht unglücklich wäre, sagte sie nicht. 'Der Kerl liegt
+draußen im Straßengraben und wird singen, bis er einschläft,' sagte ich,
+und dann stellte ich mich schlafend, um sie durch die Furcht zu quälen.
+Nach einer halben Stunde verstummte das Geheul, und gleich darauf
+schlief sie fest und ruhig, während ich wachend neben ihr lag und ihren
+hübschen weißen Hals betrachtete und darüber nachdachte, wie leicht ich
+ihre Kehle zudrücken könnte, fast ohne daß sie es merkte.«
+
+Der Staatsanwalt zuckte triumphierend seine geschwänzten Augenbrauen und
+streckte, den Mund schon zum Reden geöffnet, den Zeigefinger aus, als
+der Justizrat die Hand gegen ihn erhob und gleichgültig, wie man einen
+nichtigen Einwand beseitigt, sagte: »Er hat es ja nicht getan. Hunde,
+die bellen, beißen nicht, wie unsere Zeugin schon sagte.«
+
+Ehe noch der Staatsanwalt einen Laut hervorbringen konnte, erklärte
+=Dr.= Zeunemann, nachdem er durch einen verbindlichen Blick nach
+rechts und links die Zustimmung erbeten, aber nicht abgewartet hatte,
+die Sitzung der Mittagspause wegen für geschlossen. Er wollte um drei
+Uhr noch einige Fragen an Frau Hauptmann Schmid richten, und wenn seine
+Kollegen einverstanden wären, könne sie dann abreisen. Der Nachtzug nach
+Wien gehe um acht Uhr.
+
+
+
+
+=III.=
+
+
+=Dr.= Bernburger hatte der Sitzung in Gesellschaft eines ihm
+befreundeten jungen Nervenarztes, des =Dr.= von Wydenbruck,
+beigewohnt und verließ mit ihm zusammen das Justizgebäude.
+
+Die beiden Herren waren außerordentlich verschieden, aber durch das
+gemeinsame Interesse für Psychologie, und was damit zusammenhängt,
+ziemlich vertraut geworden, besonders seit Bernburger, als er infolge
+von Überarbeitung an nervösen Depressionen litt, sich von =Dr.= von
+Wydenbruck nach einer eignen Methode hatte behandeln lassen. Während
+Bernburger klein war, von verkümmertem Wuchs, mit schwächlichen
+Gliedmaßen, dabei aber ein ausdrucksvolles Gesicht und unermüdlich
+kluge, aufmerksame Augen hatte, war =Dr.= von Wydenbruck von
+großer, schmaler und eleganter Figur und hatte so verfeinerte Züge, daß
+sie sich bei scharfer Beobachtung ganz zu verflüchtigen schienen. Sein
+Gang hatte etwas Elastisches und Biegsames, als sei er stets bereit,
+auszuweichen oder sich anzupassen, aber in Wirklichkeit streckte er nur
+höchst bewegliche Fühler aus und blieb auf dem Grunde seines Wesens von
+schwerer, glatter Unveränderlichkeit.
+
+»Da sind wieder einmal ein paar Hysterische zusammengekommen,« sagte er,
+als sie die breite, zum Mittelpunkt der Stadt führende Straße
+hinuntergingen.
+
+»Sie halten Deruga doch nicht für hysterisch?« sagte =Dr.=
+Bernburger eifrig, an seinem Begleiter hinaufsehend. »Ich beurteile ihn
+ganz anders. Daß er den Mord begangen hat, steht mir fest, und zwar hat
+er ihn ohne Erregung, mit einer Ruhe ohnegleichen, ja mit einer
+Selbstverständlichkeit begangen, die es ihm ermöglicht hat, keinen
+Schnitzer zu begehen, der ihn verraten könnte. Die Verbrecher, die mit
+sorgfältiger Überlegung zu Werke gehen, machen bekanntlich immer
+irgendeinen Fehler, der ihnen zum Verhängnis wird. Deruga hat gemordet,
+wie ein anderer seine Suppe auslöffelt, beiläufig, beinah mechanisch,
+und darum hat er keine Spur hinterlassen.«
+
+»Sehr fein bemerkt,« lobte =Dr.= von Wydenbruck. »Nur die
+unbewußten Handlungen sind lebendig und fruchtbar und in ihrer Art
+fehlerlos und unfehlbar. Ich möchte hinzusetzen, auch tadellos.«
+
+»An sich meinetwegen, in bezug auf die Zweckmäßigkeit,« entgegnete
+Bernburger; »aber das ist jetzt nicht unser Standpunkt. Sonst wäre ja
+jeder unmoralische Mensch in seinen unmoralischen Handlungen tadellos.«
+
+»Ist er denn das nicht?« fragte Wydenbruck. »Aber Deruga,« fuhr er fort,
+»gehört nach meinem Dafürhalten nicht dahin. Ich halte ihn und nicht
+minder seine Frau für moralisch zurechnungsfähig, aber für hysterisch.
+Mord ist in unserer Zeit ein nur den untersten Schichten des Volkes
+angemessenes Verbrechen; tritt er in gebildeten Kreisen auf, so deutet
+er auf Hysterie oder Perversität.«
+
+»Das stimmt für uns,« sagte Bernburger, »aber nicht für die Italiener.
+Übrigens gibt es auch bei uns Umstände und Leidenschaften, die einen
+Gebildeten auf natürlicher Grundlage zum Mörder machen können, zum
+Beispiel Eifersucht.«
+
+»Ich möchte die Eifersucht selbst für das Dämonische erklären,« sagte
+der andere. »Jedenfalls glaube ich, daß wir es hier mit einer
+hysterischen Mordlust zu tun haben, die nichts als verdrängter
+Liebestrieb ist. Obwohl Derugas Frau ihn nach Aussage dieser guten,
+komischen Brutta liebte, findet er keine Befriedigung. Um mehr
+herauszupressen, erregt er Furcht, ihre Angst verdoppelt seinen Genuß,
+aber seine Gier bleibt ungesättigt und wird auch über ihrem Leichnam
+nicht erlöschen. Diese Unglücklichen sind die eigentlichen Vampire der
+Sage.«
+
+»Daß es das gibt, bezweifle ich nicht,« sagte =Dr.= Bernburger,
+»vielleicht hat sogar jeder Mensch etwas vom Vampir in sich; doch kann
+ich Ihre Methode, die äußeren Beweggründe gar nicht in Betracht zu
+ziehen, nicht billigen. Sie sind vorhanden und üben ihre Wirkung aus,
+so oder so.«
+
+»Auf Gesunde, ja,« antwortete Wydenbruck, »auf Kranke kaum oder nur, um
+willkürlich verwertet zu werden. Auf Hysterie deutet bei Deruga schon
+seine höchst merkwürdige Fähigkeit, sich auszuschalten, wann es ihm
+paßt. Er ist überaus reizbar, leicht bis zu Tränen ergriffen, und im
+nächsten Augenblick ist er wie von Stein. Er ist dann gewissermaßen
+nicht mehr da. Wenn er sich darauf legte, könnte er es vielleicht dahin
+bringen, sich tatsächlich zu spalten, und wir hätten dann die
+Erscheinung der Doppelgängerei.«
+
+»Und die Frau?« forschte Bernburger; »warum halten Sie die Frau für
+hysterisch?«
+
+»Ihre Furchtsamkeit ist ein hinreichendes Smyptom,« sagte =Dr.= von
+Wydenbruck. »Beachten Sie doch, wie Mordlust und Furchtsamkeit
+aufeinander eingestellt sind. Es ist höchst merkwürdig, wie solche
+Naturen magnetisch zueinander hingezogen werden, um ihre
+Wesenseigentümlichkeiten durcheinander aufs höchste zu steigern und ihr
+Los zu erfüllen. Alle Schranken durchbrechend offenbart sich der
+Selbstvernichtungstrieb als rätselhafte Leidenschaft.«
+
+ * * * * *
+
+Es war, als hätten sich diese Gedanken dem Justizrat Fein mitgeteilt.
+Denn als er seinen Klienten nach beendigter Sitzung traf, sagte er zu
+ihm:
+
+»Hören Sie, Doktor, wenn wir Sie als geisteskrank hinzustellen
+versuchten, hätten wir, glaube ich, Aussicht.«
+
+»Machen Sie das, wie Sie wollen,« sagte Deruga, »ich überlasse ja
+ohnehin alles Ihnen. Da ich ein sehr guter Mensch bin und die Dinge sehe
+und benenne, wie sie sind, ist es leicht möglich, daß man mich für
+verrückt hält.«
+
+Der Justizrat sprach seine Absicht aus, Deruga zum Mittagessen zu
+begleiten. Meister Reichardt werde schon etwas Eßbares haben, soviel er
+wisse, führe der Alte sogar einen ganz guten Wein. Ohne einen Schluck
+Wein, eine gute Zigarre und eine Tasse guten Kaffee könne er allerdings
+um drei Uhr nicht weiterarbeiten.
+
+»Das ist recht, daß Sie mitkommen,« sagte Deruga, »so können wir noch
+ein bißchen miteinander tratschen. Aber hören Sie,« unterbrach er sich
+plötzlich, »kommen Sie wirklich aus Teilnahme für mich, oder wollen Sie
+mich aushorchen?«
+
+»Ja, mein Freund,« lachte der Justizrat, »wozu bin ich denn eigentlich
+da? Ich vertrete ja Ihre Interessen, und wenn Sie vernünftig wären,
+erzählten Sie von vornherein alles mir, anstatt zur Unzeit und zu Ihrem
+Schaden damit herauszuplatzen. Mensch, Sie machen einem, weiß Gott, das
+Handwerk schwer.«
+
+»Wenn ich eine alte Freundin nach zwanzig Jahren unverhofft wiedersehe,«
+entschuldigte sich Deruga, »komme ich natürlich ins Schwatzen. Sie
+hätten mich warnen sollen. Übrigens ist es mir ja gleichgültig.«
+
+In Derugas kleinem, altmodisch eingerichtetem Stübchen war der Tisch
+schon bereit, und es brauchte nur ein zweites Gedeck aufgelegt zu
+werden. Nachdem der Justizrat seinen ersten Hunger gestillt hatte,
+lehnte er sich behaglich zurück und sagte: »Sie scheinen Ihre Frau aber
+doch mordsmäßig geliebt zu haben?«
+
+»Wieso?« fragte Deruga kühl. »In den Flitterwochen ist das doch
+selbstverständlich. Seitdem habe ich Gott weiß wie viele andere
+geliebt.«
+
+»Nun ja,« meinte der Justizrat, »aber man muß doch jedenfalls eine Frau
+sehr lieben, um sich ihretwegen in eine solche Klemme zu bringen.«
+
+»Erstens konnte ich das nicht voraussehen,« sagte Deruga, »und zweitens
+täte ich das für jeden Menschen, und es ist schlimm genug, daß das nicht
+alle tun. Wenn ein Jäger ein angeschossenes Tier nicht möglichst schnell
+vollends tötete, würde man ihn mit Recht einen rohen Kerl nennen.
+Menschen dagegen sieht man wochenlang, monatelang Qualen leiden, bevor
+sie sterben können, und hilft ihnen nicht. Schöne Nächstenliebe! Als ob
+man einem überhaupt ein kostbareres Geschenk machen könnte als den Tod!
+Ich wäre dem, der mir das Leben abkürzt, wenn ich nicht mehr dazu tauge,
+bedeutend dankbarer als denen, die es mir gegeben.«
+
+»Das hat denn doch seine zwei Seiten, mein Lieber,« sagte der
+Justizrat. »Da könnte schließlich jeder Neffe seinen reichen Erbonkel
+umbringen und behaupten, er habe es aus Nächstenliebe getan.«
+
+Deruga schoß das Blut ins Gesicht. »Was meinen Sie damit?« sagte er.
+»Das ist eine gemeine Anspielung, die ich mir verbitte.«
+
+»Erlauben Sie,« sagte der Justizrat besänftigend, »das war ganz sachlich
+geredet, und wenn Sie empfindlich sind, kommen wir nicht weiter. Der
+Mensch ist einmal ein Kentaur, und außer guten Antrieben gibt es auch
+schlechte. Und wenn einer eine Person tötet, deren Tod ihm Vorteil
+bringt, so muß man wenigstens mit der Möglichkeit rechnen, er habe es
+mindestens zum Teil des Vorteils wegen getan.«
+
+»Sie wissen,« sagte Deruga, »daß ich von dem Testament meiner Frau keine
+Ahnung hatte.«
+
+»Das heißt, Sie haben es mir gesagt!« berichtigte der Justizrat
+gelassen.
+
+»Wenn Sie meinen Worten nicht glauben,« rief Deruga außer sich, »so
+spreche ich überhaupt nicht mehr mit Ihnen. Was fällt Ihnen ein, meine
+Verteidigung zu übernehmen, wenn Sie mich für einen gemeinen Raubmörder
+halten? Das ist unanständig gehandelt, ebenso unanständig, wie wenn ich
+meine Frau umgebracht hätte, um sie zu beerben. Und unanständig ist es,
+unter der Maske des Wohlwollens und der Zuneigung mit mir zu verkehren.«
+Er war graubleich im Gesicht geworden und hatte unwillkürlich mit der
+schlanken, braunen Hand den Griff seines Messers erfaßt.
+
+»Ja, hören Sie mal,« sagte der Justizrat gutmütig, »wollen Sie mir
+eigentlich zwischen Käse und Kaffee die Kehle durchschneiden? Sie sind
+ein rabiater Italiener, und ich sollte mir jedesmal einen Blechpanzer
+unterschnallen, bevor ich zu Ihnen gehe.«
+
+»Bevor Sie mich beleidigen, allerdings,« gab Deruga zurück; »nur würde
+Ihnen das wenig nützen.«
+
+»Ist das eine Beleidigung,« fuhr der Justizrat fort, »wenn ich sage, ich
+halte es für möglich, daß Sie von dem Testament Ihrer Frau Bescheid
+wußten? Sage ich denn, daß dieser Umstand Sie zur Tat bewog? Ich sage
+nur, man muß die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß dieser Umstand
+mitwirkte.«
+
+Deruga ließ das Messer auf den Tisch fallen und lehnte sich müde in
+seinen Stuhl zurück. »Die Möglichkeit ist deshalb ausgeschlossen,« sagte
+er, »weil die Voraussetzung fehlt. Sie wissen, daß das Testament mich
+nicht beeinflussen konnte, weil ich keine Ahnung davon hatte. Sie wissen
+das, weil ich es Ihnen sagte und Sie mir glauben müssen. Das sogenannte
+Publikum, das dumm ist und mich nicht kennt, braucht mir nicht zu
+glauben, aber von Ihnen verlange ich es.«
+
+Der Justizrat schwieg eine Weile und sagte dann: »Versuchen Sie, mein
+Bester, einmal einen Teil der Gerechtigkeit selbst zu üben, die Sie von
+anderen in so reichem Maße verlangen! Ich habe erst seit kurzem das
+Vergnügen, Sie zu kennen, und zwar lernte ich Sie unter sehr
+zweideutigen Umständen kennen. Viel Gutes hört man nicht von Ihnen. Sie
+führen ein Lotterleben, arbeiten nur, wenn Sie keinen Pfennig mehr in
+der Tasche haben, obwohl Sie einen einträglichen Beruf und viel Verstand
+haben. Sie haben sich absichtlich verkommen lassen, sind sozusagen ein
+mutwilliger Vagabund. Wäre es nicht leichtfertig oder dumm von mir, wenn
+ich Ihnen durch dick und dünn glaubte, auch wo etwa Tatsachen oder
+berechtigte Mutmaßungen dagegen sprechen? Wären Sie nicht der erste,
+mich allenfalls auszulachen und zu sagen: Der Fein ist ein echter
+Deutscher, dumm wie eine Kartoffel?«
+
+Deruga wandte dem Justizrat mit einem liebenswürdigen Lächeln das
+Gesicht wieder zu. »Für einen Deutschen sind Sie wirklich ziemlich
+gescheit,« sagte er, »und dabei ein ganz guter Kerl. Aber ich sehe nicht
+ein, warum Sie mich nicht die Wahrheit sagen ließen. Dann wäre diese
+langweilige und ekelhafte Geschichte schon zu Ende.«
+
+Der Justizrat sah gedankenvoll in den Rauch seiner Zigarre und
+schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen nach bester Überzeugung geraten,«
+sagte er. »Daß Sie die Tat aus reinen, edlen Motiven begangen haben,
+hätten Sie nicht beweisen können; umgekehrt kann man Ihnen nicht
+beweisen, daß Sie sie überhaupt begangen haben, es müßten sonst noch
+ganz unvorhergesehene Indizien herauskommen. Ich denke also, wenn Sie
+konsequent leugnen, bringe ich Sie durch. Und das ist doch besser als
+ein paar Jahre Gefängnis, wenn Sie vielleicht auch einen ganz
+gemütlichen Diogenes darin vorgestellt hätten. So wagen wir einen hohen
+Einsatz, können aber auch einen hohen Gewinn davontragen; im anderen
+Falle bekämen wir auch im besten Falle nur Stückwerk!«
+
+»Und Sie sind kein Flickschneider, sondern ein Kleiderkünstler,« sagte
+Deruga. »Ich gehöre aber eigentlich in die Bude des Flickschneiders.«
+
+»Ein echter Italiener kann ebensogut den Lazzarone wie den Edelmann
+spielen,« sagte der Justizrat. »Wenn Sie erst frei und im Besitze Ihres
+Vermögens sind, werden Sie diesen kurzen Schmerz vergessen und womöglich
+ein neues Leben anfangen.«
+
+»Ein neues Leben anfangen?« lachte Deruga. »Mit sechsundvierzig Jahren!
+Als ob ich nicht längst genug und übergenug davon hätte!«
+
+»Na, da will ich Ihnen weiter nicht hineinreden,« sagte der Justizrat.
+»Sie können ja auch weiter lumpen. Jedenfalls leuchtete Ihnen mein Rat
+damals ein, und Sie haben ihn aus freien Stücken angenommen.«
+
+»Ich tue alles, was Sie wollen, damit die Baronin Truschkowitz, diese
+niederträchtige Person, das Vermögen nicht bekommt,« sagte Deruga. »Wäre
+das nicht, ich ließe mich ruhig köpfen oder ins Zuchthaus sperren. Das
+Leben ist einen solchen Kampf nicht wert.«
+
+
+
+
+=IV.=
+
+
+Auf der von unsicheren Frühlingssonnenstrahlen durchflackerten, breiten
+Straße, die auf die Front des Justizgebäudes führte, stieß =Dr.= von
+Wydenbruck auf den Oberlandesgerichtsrat Zeunemann, stellte sich vor und
+sprach seine Bewunderung über die Art aus, wie der Oberlandesgerichtsrat
+die Verhandlung führte. Er sei für den Einblick in eine komplizierte
+Psyche, der ihm da gewährt würde, sehr erkenntlich, und er sei
+überzeugt, =Dr.= Zeunemann werde noch immer mehr in ihre Tiefen und
+Untiefen hineinleuchten.
+
+»Ich pflege meine Fragen so zu stellen,« sagte der
+Oberlandesgerichtsrat, »daß alles auf den Fall Bezügliche an äußeren und
+inneren Tatsachen von selbst hervorkommt. Nicht mit Hebeln und
+Schrauben, wissen Sie, sondern unwillkürlich, wie sich ein Blatt
+entrollt.«
+
+»Ja, ich habe das bemerkt,« sagte =Dr.= von Wydenbruck entzückt,
+»es ist wundervoll. Sie schaffen gewissermaßen nur die geeignete
+Atmosphäre, und das Spiel des Lebens entfaltet sich. Bisher haben Sie
+die Bestrahlung des Tages vorwalten lassen, vielleicht lassen Sie es
+auch einmal Nacht werden, lassen die Schatten aus dem Hades der Seele
+aufsteigen.«
+
+»Sie sind Psycholog und wollen Ihre Studien machen?« sagte =Dr.=
+Zeunemann.
+
+»Von Ihrer reichbesetzten Tafel fällt vieles ab,« erwiderte =Dr.=
+von Wydenbruck verbindlich.
+
+Sie blieben auf der breiten Freitreppe stehen, um das Gespräch zu
+beenden, während es drei Uhr schlug. »Ich kann dazu nicht so viel tun,
+wie Sie glauben,« erklärte der Oberlandesgerichtsrat. »Ohne Seelenkunde
+kann allerdings heutzutage kein Kriminalist auskommen, aber ich sage mit
+Absicht 'Seelenkunde', um auszudrücken, daß es sich nach meiner Meinung
+um keine eigentliche Wissenschaft handelt, sondern um ein angeborenes
+Gefühl, man könnte es Genialität nennen. Ich lasse mich weit mehr von
+meinem Gefühl als von Berechnung leiten; Sie werden sich wundern, eine
+solche Ansicht von einem Juristen zu hören.«
+
+Während Herr =Dr.= von Wydenbruck Verwunderung und Bewunderung
+ausdrückte, hatte sich der Schwurgerichtssaal gefüllt, und einer von den
+Geschworenen, Geflügelzüchter Köcherle, fragte den Obmann der
+Geschworenen, Kommerzienrat Winkler, neben dem er saß, wer die feine
+Dame mit der langgestielten, goldenen Lorgnette in der ersten Reihe des
+Zuschauerraums sei.
+
+»Das ist doch die Baronin Truschkowitz, die die ganze Geschichte in Gang
+gebracht hat,« sagte der Kommerzienrat. »Kennen Sie denn die nicht?«
+
+»So sieht die aus?« rief der andere erstaunt aus. »Die hätte ich mir
+sehr schäbig und unterernährt vorgestellt, weil sie von der dürftigen
+Lage ihrer Kinder redet, und wie sie sich durchs Leben kämpfen müßten.«
+
+»Der Adel,« sagte der Kommerzienrat, die Achsel zuckend, »hat eben
+andere Begriffe von dem, was man braucht und beanspruchen darf.
+Übrigens, wenn einer, der viel hat, noch mehr haben kann, sagt er nie
+Nein.«
+
+Der Geflügelhändler gab das zu, aber er fand es doch geschmacklos, sich
+so kostbar zu tragen, wenn man so redete, als wimmerten seine Kinder
+nach dem täglichen Brot.
+
+»Ihre Toilette ist aber geschmackvoll,« bemerkte ein anderer.
+
+»Und teuer,« setzte der Kommerzienrat hinzu, indem er einen schätzenden
+Blick über die Dame gleiten ließ.
+
+»Der Reiherbusch auf dem Hut etwa hundert Mark, die Brillanten im Stiel
+der Lorgnette vielleicht tausend Mark.«
+
+»Sind es echte Brillanten?« fragte der Geflügelzüchter mit großen Augen.
+
+»Ja, das Feuer haben nachgeahmte Steine nicht,« sagte der Kommerzienrat
+beinahe hitzig. »Wenn man auch dahin kommt, Brillanten künstlich
+herzustellen, so stimmt es meinetwegen nach der chemischen Formel, aber
+das Feuer der natürlichen Steine ist anders. Das lasse ich mir nicht
+abstreiten. Die Natur ist eben doch unerreichbar.«
+
+»Sind das denn auch Brillanten, die sie auf dem Hut hat?« fragte der
+Geflügelzüchter.
+
+»Bewahre,« antwortete der Kommerzienrat mißbilligend, »dazu weiß eine
+solche Dame zu gut Bescheid in Geschmacksfragen. Das ist eine moderne
+Phantasieagraffe, die etwa fünfzig Mark gekostet hat. Aber Sie sind ja
+das reine Kind in solchen Sachen!«
+
+»Stimmt,« gab der Geflügelzüchter zu, »wenn meine Frau nicht ein bißchen
+nach mir schaute, wäre ich von einem Bauernknecht nicht zu
+unterscheiden. Und ich will Ihnen ganz offen sagen, was man so eine
+elegante Frau von Welt nennt und eine sogenannte Demimonde-Dame, kenne
+ich nicht auseinander.«
+
+»Was Sie sagen,« rief der Kommerzienrat. »Aber das gibt es ja gar nicht!
+Da muß man sich doch auskennen.«
+
+»Was ist denn zum Beispiel die Truschkowitz für ein Typus?« fragte der
+Geflügelzüchter. »Steht das nicht ungefähr auf der Grenze?«
+
+»Ich bitte Sie,« sagte der Kommerzienrat, vor Schreck und Ärger
+errötend, »das ist eine ganz feine Frau von Welt! Der Anzug ist der gute
+Ton und die Diskretion selbst.«
+
+»Na, wissen Sie,« wandte der andere ein, »eine gescheite Demimonde-Dame
+sollte das doch nachmachen können. So etwas lernt sich doch bald.«
+
+»Nein,« beharrte der Kommerzienrat, noch immer rot und erregt. »Ein
+gewisses Etwas lernt sich eben nicht. Es läßt sich nicht lernen, weil es
+sich nur fühlen läßt. Da gibt ein Atom den Ausschlag.«
+
+Der eintretende Gerichtshof unterbrach das Zwiegespräch, Frau Hauptmann
+Schmid wurde wieder vorgeführt, und nachdem der Vorsitzende sie nochmals
+ermahnt hatte, die Wahrheit zu sagen und nichts zurückzuhalten, faßte er
+das Ergebnis ihrer bisherigen Aussage zusammen:
+
+»Bald nach seiner Verheiratung mit seiner um einige Jahre älteren Frau
+bezog der Angeklagte eine Sommerwohnung bei Ihren Großeltern in Laibach.
+Die Derugas machten den Eindruck eines glücklichen Paares, dessen Glück
+immerhin getrübt wurde durch gewisse Eigenheiten des Mannes, namentlich
+seine an Jähzorn streifende Heftigkeit und seine Neigung zur Eifersucht.
+Soweit Sie wissen, war eine Eifersucht unbegründet. Nicht wahr, ich habe
+Sie recht verstanden.«
+
+»Darüber kann ich doch unmöglich etwas wissen,« sagte Frau Schmid. »Denn
+es handelte sich ja um Vergangenes. Daß die arme Marmotte einen anderen
+gern gehabt hat, kann ja leicht sein, sie war ja gewiß schon dreißig
+Jahre alt, und ich glaube es sogar; denn der Doktor wäre doch närrisch
+gewesen, wenn er die Geschichte erfunden hätte, um sie und sich damit zu
+plagen.«
+
+»Sie sagten doch aber heute morgen einmal,« hielt ihr =Dr.=
+Zeunemann vor, »Sie hielten es für ausgeschlossen, daß Frau =Dr.=
+Deruga sich jemals hätte etwas zuschulden kommen lassen.«
+
+»Zuschulden kommen lassen,« wiederholte Frau Schmid, »davon ist doch
+keine Rede. Mein Gott, man wird doch einmal einen gern haben dürfen,
+ohne daß einem gleich daraus der Strick gedreht wird. Ich habe doch
+auch unser Doktorchen gern gehabt -- nun, das Gefühl ist im Keime
+steckengeblieben --, aber wenn es auch einmal einen Kuß gegeben hätte,
+was wäre dabei? Den Allzuzimperlichen traue ich am wenigsten.«
+
+»Sie haben aber keinen Anhaltspunkt dafür,« sagte =Dr.= Zeunemann,
+»daß die damalige Frau Deruga etwaige frühere Beziehungen derzeit noch
+fortgesetzt hätte?«
+
+»Bewahre!« rief Frau Hauptmann Schmid fast schreiend, »was meinen Sie
+denn, dann wäre sie ja eine ganz infame Kröte gewesen! Da brauchen Sie
+nur Herrn Doktor selbst zu fragen, der wird es Ihnen schon sagen. Ich
+glaube, er spränge Ihnen gleich an die Kehle, wenn Sie ihn so etwas
+fragten!«
+
+=Dr.= Zeunemann konnte nicht umhin zu lächeln. »Darum halte ich
+mich lieber an Sie,« sagte er. »Sie halten also für möglich, daß Frau
+Deruga vor ihrer Verheiratung einmal eine Neigung hatte, sind aber
+überzeugt, daß derzeit jede etwaige Beziehung gelöst war. In Anbetracht
+des Umstandes, daß der Angeklagte sich als Arzt zuerst in Linz
+niederließ, gab er im Dezember die Sommerwohnung bei Ihren Großeltern
+auf. Haben Sie später noch im Verkehr mit ihm und seiner Frau
+gestanden?«
+
+»Sie schickten eine Anzeige von der Geburt des kleinen Mädchens,« sagte
+Frau Schmid, »das nachher starb. Die Anzeige ließ ich mir von der
+Großmutter schenken und habe sie noch. Ich hatte immer das Gefühl, daß
+es besondere Menschen wären, und wartete lange darauf, daß sich etwas
+Besonderes mit ihnen begeben würde. Daß es so käme, dachte ich freilich
+nicht.«
+
+Nachdem noch einige Fragen über die Besuche, die Derugas empfingen, und
+über ihren Geldverbrauch gestellt waren, wurde Frau Hauptmann Schmid
+entlassen, und ein eleganter Herr von etwa sechsunddreißig Jahren folgte
+ihr. Er sah so überaus tadellos aus, daß er an eine Figur aus dem
+Modeblatt erinnerte, und auch sein Gesicht hatte einen dementsprechenden
+regelmäßigen Zuschnitt; nur war es nicht glatt und rosig, sondern
+blaßgrau, müde und etwas eingefallen.
+
+Er machte eine Verbeugung, durch welche er dem Gerichtshof den Respekt
+zuteilte, den er jeder staatlichen Einrichtung, wie weit er persönlich
+auch darüber stehen mochte, zugestand, und ließ unter anderen
+Personalien feststellen, daß er Peter Hase heiße und in München wohnhaft
+sei. Dann wurde er aufgefordert mitzuteilen, wie er die Bekanntschaft
+des Angeklagten gemacht habe.
+
+»Wir wurden einander im Kavalier-Café, wo er verkehrte, vorgestellt. Es
+ist kein Café ersten Ranges, aber ein sehr behagliches Lokal und
+ziemlich viel von Künstlern besucht, weil es eigentlich für
+Nichtkünstler gegründet wurde. Deruga ist dort sehr bekannt, und ich
+hatte öfters von ihm als von einer eigentümlichen Persönlichkeit und
+einem guten Gesellschafter sprechen hören, so daß ich mich freute, ihn
+kennenzulernen. Er hatte einen bestimmten Platz an einem bestimmten
+Tisch, wo sich ein ziemlich gemischter Kreis um ihn zu versammeln
+pflegte.«
+
+»Waren Herren aus der Gesellschaft darunter?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Sowohl solche wie andere,« antwortete Peter Hase, »hauptsächlich aus
+der Bohème.« Er sprach das Wort so unbetont aus, daß es unmöglich
+gewesen wäre, herauszufühlen, ob er Verachtung oder Sympathie oder sonst
+was für den Begriff empfand. Überhaupt hatte er etwas vollkommen
+Beziehungsloses; er schien keine Umwelt als leere, weiße Mauern zu
+haben.
+
+»Traten Sie in ein intimeres Verhältnis zu Deruga?« sagte =Dr.=
+Zeunemann.
+
+»Das nicht,« sagte Herr Hase, ohne die Zumutung, er könne zu irgend
+jemandem in intimere Verhältnisse treten, im allermindesten zu rügen,
+»aber er interessierte mich immer, wenn ich ihn sah.«
+
+»Darf ich Sie bitten,« sagte der Vorsitzende, »jetzt den Auftritt zu
+schildern, der zwischen Ihnen und Deruga in dem erwähnten Café
+stattfand?«
+
+Herr Hase verbeugte sich zustimmend. »Erlauben Sie mir die
+Richtigstellung,« begann er, »daß von einem Auftritt zwischen =Dr.=
+Deruga und mir insofern nicht die Rede sein kann, als ich mich in keiner
+Weise aktiv dabei beteiligt habe. Es hatte damals ein Grubenunglück
+stattgefunden, bei welchem eine Anzahl Arbeiter verunglückt waren, und
+es wurde für die Hinterbliebenen gesammelt. An jenem Nachmittag kam eine
+Dame mit einer Liste für Unterschriften und Beiträge in das Café.«
+
+»Eine Dame?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Eine Frau, wenn Sie lieber wollen,« sagte Herr Hase, »sie war sehr
+dürftig gekleidet. Sie näherte sich unserem Tisch, und da ich zunächst
+saß, gab ich ihr durch eine Handbewegung oder ein Kopfschütteln zu
+verstehen, sie solle sich nicht bemühen; denn ich finde Sammlungen jeder
+Art in Vergnügungslokalen unpassend. =Dr.= Deruga, der im Besitz
+einer außerordentlichen Beobachtungsgabe ist, hatte den kleinen Vorgang
+bemerkt und rief die Dame oder Frau, die im Begriffe war weiterzugehen,
+zurück. 'Warum kommen Sie nicht zu uns, liebes Kind?' sagte er. 'Kommen
+Sie, wir möchten auch etwas zeichnen.' Dann überhäufte er mich mit
+Vorwürfen, daß ich die Dame eigenmächtig, ohne die Absicht der
+Gesellschaft zu kennen, verscheucht hätte. Um der Sache ein Ende zu
+machen, griff ich schnell nach der Liste, zeichnete einen Betrag und gab
+sie weiter. Als sie an Deruga kam, überlas er die Einträge und ärgerte
+sich, wie ich sofort an seinem Gesicht sehen konnte, über ihre
+Geringfügigkeit. 'Sehen Sie, liebes Kind,' sagte er zu der Dame, 'diese
+Herren hier sind reich und haben infolgedessen, da sie sich Häuser
+bauen, Autos halten und Sekt trinken müssen, kein Geld für
+Arbeiterfrauen und Arbeiterkinder übrig, deren es ohnehin zu viele gibt.
+Ich dagegen bin arm, sollte mich eigentlich aufhängen und brauche
+infolgedessen nur einen Strick, der wenig kostet; daher bin ich in der
+Lage, dreihundert Mark zu zeichnen, die ich Sie in meiner hier
+angegebenen Wohnung abzuholen bitte. Übrigens können Sie einstweilen als
+Pfand diese Nadel hier mitnehmen.' Er zog dabei eine eigentümliche,
+augenscheinlich sehr wertvolle Nadel aus seiner Krawatte und händigte
+sie der Dame ein, die, ohnehin durch sein Benehmen in Verlegenheit
+gesetzt, sich weigerte, sie anzunehmen, aber endlich nachgeben mußte.
+Ein paar von den Herren, die =Dr.= Deruga besser kannten als ich,
+sagten zu ihm, wenn jeder etwa fünf Mark zeichnete, käme genug zusammen;
+es sei doch nicht die Absicht, die hinterbliebenen Arbeiterfrauen
+reicher zu machen, als man selbst sei. Er solle Vernunft annehmen und
+eine seinen Verhältnissen angemessene Summe geben. Dadurch reizten sie
+=Dr.= Deruga noch mehr, er wurde wütend und sprudelte im Zorne
+allerlei Äußerungen hervor, die ich natürlich nur ganz ungefähr
+wiedergeben könnte.«
+
+Der Vorsitzende bat dies zu tun, soweit es sein Gedächtnis erlaubte.
+
+Herr Hase verbeugte sich zustimmend. »Er sagte also ungefähr so: 'Meine
+Verhältnisse? Was wissen Sie von meinen Verhältnissen? In Ihren Augen
+bin ich ein armer Teufel, und Sie glauben deshalb sich über mich zu
+amüsieren und mich bevormunden zu können. Sie sehen eine Art Hofnarren
+in mir, der dazu da ist, Sie zu unterhalten, übrigens aber keine
+Ansprüche zu stellen hat. Ich könnte ebenso wie Sie eine reiche Frau
+heiraten und wäre dann in denselben Verhältnissen wie Sie. Übrigens habe
+ich das nicht einmal nötig, denn ich kann jederzeit über das Vermögen
+meiner geschiedenen Frau verfügen. Nach ihrem Tode werde ich ein reicher
+Mann und wahrscheinlich ebenso geizig und habgierig wie Sie jetzt; also
+nehmen Sie mein Geld, solange ich noch arm bin, liebes Kind!' Ich bitte
+übrigens nochmals zu bedenken,« setzte Herr Hase hinzu, »daß ich
+erzähle, was die Erinnerung mir aufbewahrt hat oder mir vorspiegelt. Das
+beste wird sein, wenn Sie =Dr.= Deruga selbst befragen, ob er die
+von mir wiedergegebenen Worte als die seinigen anerkennt.«
+
+Der Vorsitzende hatte kaum den Kopf nach Deruga gewendet, als dieser
+vergnügt ausrief: »Vorzüglich war die ganze Schilderung und eines so
+ausgezeichneten Schriftstellers würdig. Ich mache einen viel besseren
+Eindruck darin, als ich für möglich gehalten hätte. Wahrscheinlich habe
+ich alles das gesagt, nur hat Herr Hase, anständig wie er ist, alle die
+Beschimpfungen weggelassen, die ich ihm persönlich an den Kopf geworfen
+habe, über seine Herzlosigkeit, Verlogenheit, Nichtigkeit und so
+weiter.«
+
+»Ich habe weggelassen, was nicht unbedingt zur Sache gehört,« sagte
+Herr Hase gegen den Präsidenten gewendet, »allerdings hätte ich seine
+Ausfälle gegen mich vielleicht nicht ganz unterdrücken sollen, weil
+daraus deutlich wird, wie sehr er im Augenblick der Erregung unter der
+Herrschaft seines Temperaments steht, und man nur sehr bedingterweise
+Schlüsse aus den Äußerungen ziehen darf, die er in solchen Augenblicken
+tut.«
+
+»Ich bitte um die Erlaubnis,« sagte Justizrat Fein, aufstehend, »dieser
+sehr richtigen Bemerkung des Zeugen eine ähnliche hinzuzufügen. Das
+Ergebnis der eben vernommenen Aussage ist hauptsächlich, daß man Deruga
+überhaupt nicht zu ernst nehmen darf. Man muß in Italien gewesen sein
+und die Italiener kennen, um ihn richtig zu beurteilen. Seine Reden
+erinnern zuweilen an das Pathos, mit dem ein italienischer Quacksalber
+auf dem Markte seine Hühneraugenpflaster anpreist: 'Meine Damen und
+Herren, und wenn Ihr leiblicher Bruder hier stünde, er könnte Sie nicht
+ehrlicher bedienen, als ich es tue. Nicht um meinetwillen, um
+Ihretwillen stehe ich hier, denn was bedeuten die paar Pfennige, die
+Sie mir geben, gegen das, was ich Ihnen verschaffe, ein schmerzloses
+Dasein, einen sieghaften Gang, die Gunst der Frauen, die Bewunderung der
+Männer!'«
+
+Während im Publikum gelacht wurde, legte =Dr.= Zeunemann seine
+Stirn in leichte Falten und sagte: »Man darf immerhin nicht vergessen,
+daß die Italiener als schlaue Leute von ihren nationalen
+Eigentümlichkeiten sehr guten Gebrauch zu machen wissen, und daß, wer
+häufig Masken trägt, deshalb doch ein Gesicht hat, wenn auch mitunter
+schwer zu entscheiden sein mag, welches das echte ist. Ich will aber
+jetzt nicht Philosophie treiben, sondern Tatsachen feststellen, und da
+möchte ich darauf hinweisen, daß uns von dem Angeklagten noch ähnliche
+Aussprüche bekannt geworden sind, die er in vollständigem seelischem
+Gleichgewicht machte. Ferner möchte ich wissen, ob der Angeklagte damals
+die gezeichnete Summe gezahlt hat?«
+
+Herr Hase bedauerte, darüber keine Auskunft geben zu können. Auf der
+vordersten Reihe der Geschworenensitze erhob sich Kommerzienrat Winkler
+und sagte: »Die gewünschte Auskunft gibt uns vielleicht die Nadel in der
+Krawatte des Angeklagten. Es dürfte die verpfändete sein, die er also
+augenscheinlich ausgelöst hat!«
+
+Deruga bestätigte, daß es die Nadel sei, die er gegen Bezahlung der
+genannten Summe zurückerhalten habe, zog sie heraus und bot sie zur
+Besichtigung an.
+
+»Haben Sie denn wirklich die dreihundert Mark gegeben?« fragte der
+Justizrat Fein. »Wie hatten Sie denn gleich soviel Geld übrig?« Deruga
+zuckte etwas ungeduldig die Schultern. »Glauben Sie denn,« sagte er,
+»ich hätte mir nicht jeden Augenblick dreihundert Mark verschaffen
+können? Ich brauchte mir zum Beispiel nur einen Vorschuß vom
+italienischen Konsulat geben zu lassen für Übersetzungen, Untersuchungen
+oder dergleichen. Deruga hat Gehirn im Schädel und keine Kartoffeln.«
+
+Inzwischen hatte der Vorsitzende die Nadel betrachtet und fragte Herrn
+Hase, ob es dieselbe sei, die der Angeklagte an jenem Abend als Pfand
+gegeben habe, was Peter Hase, nachdem er einen diskreten Blick darauf
+geworfen hatte, bejahte.
+
+»Es ist ein auffallend schönes Stück,« sagte =Dr.= Zeunemann, in
+den Anblick der Nadel versunken, die einen Mohrenkopf mit Turban
+darstellte; der Kopf bestand aus einer schwarzen, der Turban aus einer
+weißen Perle, und der letztere war reich mit Rubinen und Smaragden
+besetzt.
+
+»Ein Geschenk meiner verstorbenen Frau,« sagte Deruga, indem er die
+Nadel wieder in Empfang nahm. »Sie meinte, sie sei wie gemacht für einen
+Othello wie mich.«
+
+Nach diesem Zwischenfall fragte der Vorsitzende den Zeugen, ob er noch
+irgend etwas hinzuzufügen habe. Über Herrn Hases unbewegliches Gesicht
+ging zum ersten Male ein schwaches Erröten; seine Aufmerksamkeit war
+nämlich durch die Baronin Truschkowitz abgelenkt worden, die, in der
+ersten Reihe der Zuschauer sitzend, sich weit vorgebeugt und die von dem
+Präsidenten gehaltene Nadel mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit
+betrachtet hatte. Angeredet, drehte er sich erschreckt um und sagte,
+daß er nichts mehr zur Sache mitzuteilen wisse, aber bereit sei, auf
+fernere Fragen zu antworten.
+
+Peter Hase verließ nach Schluß der Sitzung das Gerichtsgebäude nicht,
+sondern wartete auf =Dr.= Zeunemann, stellte sich ihm vor und bat, ein
+paar Fragen an ihn richten zu dürfen, worauf der Oberlandesgerichtsrat
+ihn in sein Zimmer mitnahm. Hauptsächlich wünschte Herr Hase zu wissen,
+welche Strafe den Angeklagten etwa treffen könnte, falls er wider
+Erwarten verurteilt würde.
+
+»Ja, sehen Sie, Verehrtester,« antwortete =Dr.= Zeunemann, während
+er seinen Talar mit dem Gehrock vertauschte, »bis jetzt geht die Anklage
+nur auf Totschlag, und dabei würde er mit ein paar Jahren Zuchthaus
+davonkommen. Aber unser Staatsanwalt sieht es eigentlich als Mord an,
+und wenn noch irgendein dahinzielendes Indizium auftaucht, kann die
+Geschichte bedenklich werden. Wenn zum Beispiel festgestellt würde, daß
+der Mann mit dem Inhalt des Testaments bekannt war, ja, dann würde die
+Meinung des Staatsanwalts wahrscheinlich durchdringen, und in dem Falle
+würden wir auch sofort, so leid es mir tut, zur Verhaftung schreiten
+müssen.«
+
+»Darf ich fragen,« erkundigte sich Herr Hase, »wie Sie persönlich die
+Sache beurteilen?«
+
+»Ich bin zu sehr Psychologe,« sagte =Dr.= Zeunemann, »um nicht
+einen gewissen Anteil an problematischen Charakteren zu nehmen. Was für
+eine Grundfarbe dieses Chamäleon eigentlich hat, darüber bin ich, um die
+Wahrheit zu sagen, noch nicht ins klare gekommen.«
+
+»Warum sollte er überhaupt eine Grundfarbe haben?« sagte Herr Hase
+verhältnismäßig lebhaft. »Der schimmernde Wechsel ist die Natur dieses
+fabelhaften Geschöpfes. Ich habe eine große Sympathie für Chamäleons,«
+fügte er nach einer Pause hinzu.
+
+»Ich verstehe, ich verstehe,« erwiderte =Dr.= Zeunemann, »schön,
+aber schlüpfrig. Die ästhetische Betrachtungsweise ist sehr verschieden
+von der moralischen und diese nicht immer identisch mit der
+juristischen.«
+
+Er war im Begriff, einen breitrandigen Filzhut vom Gestell zu nehmen,
+als es klopfte und auf sein unwirsches Herein die Baronin Truschkowitz
+auf der Schwelle erschien, der der Staatsanwalt die Tür öffnete.
+
+»Lieber Präsident,« sagte sie rasch, indem sie ihm ihre in einem weißen,
+festanliegenden Lederhandschuh steckende Hand reichte, »ich weiß, daß es
+im höchsten Grade zudringlich ist, Sie in Ihrem Heiligtum und noch dazu
+um diese Zeit zu überfallen, aber Sie sind zu ritterlich, um mich
+hinauszuwerfen, und ich bin zu unedel, um Ihre Höflichkeit nicht
+auszunutzen.«
+
+=Dr.= Zeunemann stieß einen komischen Seufzer aus. »Machen Sie es
+wenigstens kurz, Frau Baronin,« sagte er.
+
+Sie lachte ein helles, jugendliches Lachen, in dem ein girrender Ton
+war, der etwas Verführerisches hatte. »Ich mache es schon kurz,« sagte
+sie, »wenn nur Sie, Herr Präsident, es nicht in die Länge ziehen. Es
+betrifft die Nadel, die Sie heute in der Hand hatten und jenem Menschen
+zurückgaben. Ich erkannte sie sofort wieder als ein Erbstück meiner
+Urgroßmutter, das heißt, meiner und meiner verstorbenen Kusine
+Urgroßmutter. Es ist mir unleidlich, dies kostbare Andenken in den
+Händen jenes Menschen zu wissen, und ich möchte Sie bitten zu bewirken,
+daß sie mir eingehändigt wird.«
+
+»Ihnen, Frau Baronin,« sagte =Dr.= Zeunemann erstaunt, »ja, gehört
+sie denn Ihnen?«
+
+»Natürlich,« sagte die Baronin, »ich bin bekanntlich die nächste
+Verwandte der Verstorbenen.«
+
+=Dr.= Zeunemann war so betroffen, daß er sich unwillkürlich setzte,
+nicht ohne auch der Baronin durch eine Gebärde einen Stuhl anzubieten.
+»Aber die Nadel gehörte ja gar nicht Ihrer Kusine,« sagte er, »sie hatte
+für gut befunden, sie zu verschenken.«
+
+»Leider,« sagte die Baronin, »aber hernach hat sie sich scheiden lassen,
+und in solcher Lage geben sich anständige Menschen ihre Geschenke
+zurück. Außerdem hat er sie doch umgebracht! Da kann man ihn doch nicht
+ihre Nadel tragen lassen.«
+
+Die ratlosen Blicke, die der Oberlandesgerichtsrat mit dem Staatsanwalt
+wechselte, brachten sie durchaus nicht aus der Fassung. »Nun?« fragte
+sie mit einem energisch aufmunternden Nicken. »Sie sehen, daß Sie es
+sind, der die Sache in die Länge zieht.«
+
+»Da Sie mir befehlen kurz zu sein,« sagte =Dr.= Zeunemann, der sich
+inzwischen gesammelt hatte, »so sage ich Ihnen rund heraus, daß Ihr
+Wunsch unerfüllbar ist. Selbst wenn =Dr.= Deruga verurteilt würde,
+könnten wir ihm nicht nehmen, was ihm gehört; aber noch ist er nicht
+verurteilt und hat einstweilen Ihre verstorbene Frau Kusine so wenig
+umgebracht wie -- verzeihen Sie -- wie Sie und ich.«
+
+»Herr Präsident,« rief die Dame mit einem vorwurfsvollen Blick ihrer
+graublauen Augen aus, »verlieren denn wirklich gerade die
+Rechtsgelehrten allen Sinn für das natürliche und menschliche Recht?«
+
+»Ihr Recht wird Ihnen werden, Frau Baronin,« beeilte sich jetzt der
+Staatsanwalt zu versichern. »Ich bin überzeugt, daß, wenn es unserer
+Einsicht und Arbeit nicht gelingen sollte, die Vorsehung selbst die
+Wahrheit ans Licht bringen wird.«
+
+»Und die Nadel?« fragte die Baronin. »Ich sammle solche Sachen, und das
+schönste Stück, auf das ich Erbansprüche habe, soll in den Händen eines
+solchen Menschen bleiben?«
+
+»Dafür machen Sie Ihre Urgroßmutter, aber nicht uns verantwortlich,«
+sagte =Dr.= Zeunemann lachend, indem er aufstand und wieder nach
+seinem Hute griff.
+
+»Sie sind ein steinharter, gepanzerter, undurchdringlicher Jurist,«
+schmollte die Baronin.
+
+»Aber ein weicher, für die Reize schöner Damen sehr empfänglicher
+Mensch,« fügte =Dr.= Zeunemann versöhnlich hinzu.
+
+Als sie alle zusammen aufbrachen, bat die Baronin, mit Peter Hase
+bekannt gemacht zu werden. »Sie sind mir kein Fremder,« sagte sie
+liebenswürdig zu ihm, »da ich Ihre Bücher kenne und bewundere. Es
+tröstet mich über den abscheulichen Prozeß, daß ich ihm eine so
+wertvolle Begegnung verdanke.«
+
+Sie forderte ihn auf, sie und ihren Mann im Hotel zu besuchen, falls er
+noch einige Zeit hierbleibe, und als sie ihren Wagen warten sah,
+verabschiedete sie sich von den beiden anderen Herren, indem sie
+lächelnd sagte: »Ich bekomme die Nadel doch noch, das weissagt mir mein
+Gefühl.«
+
+Die Herren gingen noch ein paar Schritte miteinander. »Wie reizend und
+anziehend,« sagte =Dr.= Zeunemann, »ist doch der gänzliche Mangel
+an Logik und Objektivität an Frauen. Wenigstens für uns Männer.«
+
+»Und ihre Grausamkeit!« setzte Herr Hase anerkennend hinzu.
+
+»Ich halte sie mehr für gedankenlos,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Wie
+alt schätzen Sie übrigens diese Frau? Sie hat eine erwachsene Tochter,
+da muß sie doch schon zweiundvierzig Jahre alt sein.«
+
+»Eher älter,« sagte Peter Hase, »sie ist sehr gepflegt und sehr
+geschickt angezogen.«
+
+»Natürlich, natürlich,« sagte =Dr.= Zeunemann, »keine Arbeit, keine
+Sorgen, das erhält jung.«
+
+Auch den Kommerzienrat Winkler beschäftigte die Baronin Truschkowitz,
+und er suchte eine Gelegenheit, =Dr.= Bernburger ein wenig nach ihr
+auszufragen. »Sie hat Charme, Schick, Grazie,« sagte er zu ihm, »aber
+gefährlich viel Temperament.«
+
+»Dazu bin ich ja da, um das zu kontrollieren,« sagte =Dr.=
+Bernburger.
+
+»Ich habe beobachtet,« fuhr der Kommerzienrat fort, »daß sie es
+vermeidet, Deruga anzusehen, obschon sie sonst scharf aufpaßt. Sie setzt
+sich so, daß er nicht in ihr Gesichtsfeld kommt. Haben früher
+irgendwelche Beziehungen zwischen ihnen stattgefunden?«
+
+»Sie kennt ihn gar nicht,« sagte =Dr.= Bernburger, »aber sie hat
+ihn von jeher gehaßt.«
+
+»Also blinde Voreingenommenheit?« meinte Herr Winkler.
+
+»Nun ja,« sagte =Dr.= Bernburger, »aber das macht ihn nicht
+besser.«
+
+Der Kommerzienrat lachte. »Wie verhält sich denn ihr Mann dazu?« fragte
+er.
+
+»O, er gibt ihr den Arm und ist neben ihr,« sagte =Dr.= Bernburger.
+Ȇbrigens ist er ein feiner Mensch. Selbst seine Dummheit hat etwas an
+sich, daß man unwillkürlich den Hut vor ihr abnimmt.«
+
+»Dumm sein, mit der Frau!« sagte der Kommerzienrat, »na, ich
+gratuliere!«
+
+»Da können Sie sich täuschen,« entgegnete der Anwalt. »Ob sie Respekt
+vor ihm oder Grundsätze hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie eine
+kalte Kokette.«
+
+Der Kommerzienrat schüttelte sich. »Das wäre nichts für mich,« sagte er.
+»Ich glaube, da möchte ich noch lieber betrogen werden.«
+
+
+
+
+=V.=
+
+
+Der Präsident eröffnete die Sitzung mit den Worten, daß die nächsten
+Zeugenverhöre sich mit der letzten Lebenszeit der verstorbenen Frau
+Swieter beschäftigen würden, und daß er hoffe, es würde von dieser Seite
+aus mehr Licht auf die noch nicht völlig aufgeklärten Vorgänge fallen.
+Man sei bis jetzt davon ausgegangen, daß der Angeklagte von dem Inhalt
+des Testaments keine Kenntnis gehabt habe. Die einzige Person, die darum
+gewußt habe, sei die nächste Freundin der Verstorbenen, Fräulein
+Kunigunde Schwertfeger. Es sei nicht unmöglich, daß durch deren Aussage,
+falls sie nämlich die bisher beobachtete Zurückhaltung aufgäbe, das Bild
+erheblich verändert würde.
+
+Es war für jedermann sichtbar, daß es Fräulein Schwertfeger
+Selbstüberwindung kostete, den Saal zu betreten. Sie war einfach und
+nicht nach der Mode gekleidet, eine unauffällige Erscheinung, die nur,
+wenn man sie eingehend betrachtete, Besonderheit und Reiz verriet.
+Beides fand man dann reichlich in den fast zu großen, offenen, grauen
+Augen, in der zu kurzen Nase, in dem kleinen, stets etwas geöffneten
+Munde und in dem Mienenspiel, das das ohnehin unregelmäßige Gesicht
+beständig bewegte. Wahrscheinlich, weil sie sich einer kindlichen
+Unfähigkeit zur Verstellung und einer Neigung unbedacht herauszuplaudern
+bewußt war, wappnete sie sich unter Fremden gern mit Vorsicht und
+Verschwiegenheit, was ihr, verbunden mit der Scheu vor der
+Öffentlichkeit, den Ausdruck eines kleinen Tieres im Käfig gab, das
+gewohnt ist, geneckt zu werden und sich zur Wehr setzen zu müssen.
+
+Nachdem =Dr.= Zeunemann ihr den Eid abgenommen hatte, forderte er
+sie auf, das zur Aufklärung des Falles Dienliche ohne Vorbehalt zu
+sagen. Es gebe Leute, fügte er hinzu, die sich für wahrheitsliebend
+hielten und doch unter Umständen ein Verschweigen, eine Lüge für
+erlaubt, ja sogar für verdienstlich ansähen. »Gehören Sie zu denen?«
+fragte er.
+
+Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann, indem sie die großen Augen
+fest auf ihn richtete: »Ja, das tue ich.«
+
+Ihre kleinen, verarbeiteten und nicht schön geformten Hände schlangen
+sich dabei fest ineinander.
+
+»Das sind ja gute Aussichten,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Haben Sie,
+wenn ich fragen darf, von vornherein die Absicht, uns die Wahrheit nur
+in Auszügen und Bearbeitungen zuzuteilen?«
+
+Sie schüttelte den Kopf und lächelte, ein lustiges Lächeln, das im Nu
+ihr ganzes Gesicht überrieselte. »Nein, nein,« sagte sie treuherzig,
+»ich habe die Absicht, die Fragen, die Sie an mich richten werden, nach
+bestem Wissen und Vermögen wahrheitsgemäß zu beantworten. Es ist ja
+nicht gesagt, daß die vorhin erwähnten Umstände hier vorliegen.«
+
+»Nun das ist brav,« sagte der Vorsitzende. »An die schweren Folgen eines
+Meineides brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern. Nur das will ich
+sagen, daß wir kurzsichtigen Menschen allemal am besten tun, jede Lüge
+schlechthin für Lüge, im häßlichsten und abscheulichsten Sinne,
+anzusehen und uns an die Wahrheit zu halten. Die Folgen liegen in Gottes
+Hand. Jene Sophismen oder Trugschlüsse, die uns eine Lüge für geboten
+erscheinen lassen wollen, können gefährliche Irrlichter sein.«
+
+Fräulein Schwertfeger nickte ernsthaft.
+
+»Wollen Sie uns und den Herren Geschworenen zunächst ausführlich
+erzählen, was Sie von der Entstehung des Testamentes der verstorbenen
+Frau Swieter wissen! Da Sie von früher Jugend an miteinander befreundet
+waren, wird sie vor der Aufsetzung des Testamentes mit Ihnen davon
+gesprochen, vielleicht Sie um Ihren Rat gefragt haben?«
+
+»O nein,« antwortete Fräulein Schwertfeger schnell, »sie sagte wohl
+immer: 'Was meinst du dazu, Gundel? Soll ich das tun, Gundel?' Aber das
+war nur eine Form der Höflichkeit oder Herzlichkeit. In wichtigen Dingen
+beanspruchte sie nie Rat und hätte ihn nie angenommen.«
+
+»Um Rat also hat sie nicht gefragt?« sagte =Dr.= Zeunemann. »Aber
+die Beweggründe ihres Willens wird sie doch angegeben haben?«
+
+»Ja, das hat sie getan,« antwortete Fräulein Schwertfeger.
+
+»Die Verstorbene war schon seit acht Jahren krebsleidend,« sagte
+=Dr.= Zeunemann. »Hat ihr das nicht schon früher, bevor sie das
+Testament aufsetzte, Anlaß gegeben, über ihre letztwilligen Verfügungen
+zu sprechen?«
+
+»Mit mir nie,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Und ich glaube, überhaupt
+nicht. Die Ärzte suchten sie doch immer über den wahren Charakter ihres
+Leidens zu täuschen, und sie kam ihnen darin entgegen, erstens, weil ihr
+überhaupt leicht etwas weiszumachen war, und dann, weil sie in diesem
+Falle das Bedürfnis hatte, getäuscht zu werden. Sie wollte leben und
+hoffen. Dazu kommt, daß sie sich nach einer Operation immer wieder
+vollkommen gesund fühlte.«
+
+»Wie kam es denn,« sagte =Dr.= Zeunemann, »daß sie doch zuletzt an
+das Testament dachte?«
+
+»Nun, das ist klar,« sagte Fräulein Schwertfeger, »weil es damals
+wirklich dem Ende zuging und sie das fühlte. Als ihr vor einem Jahre der
+schreckliche Anfall kam, nach welchem sie nicht wieder aufgestanden ist,
+war sie sehr betroffen und wußte, daß sie nicht wieder gesund werden
+würde. Sie sprach es nicht aus, aber ich fühlte oft, daß sie es dachte.«
+
+Aufgefordert, den Vorgang ausführlich zu schildern, erzählte Fräulein
+Schwertfeger:
+
+»Eines Nachmittags, da ich sie wie gewöhnlich besuchte, empfing sie mich
+mit den Worten, ich käme im rechten Augenblick. Sie habe eben
+beschlossen, ihr Testament zu machen, und ich müsse ihr dabei behilflich
+sein. Wenn sie wieder gesund würde, so mache es ja nichts, aber sie
+müsse doch auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie diesmal
+nicht davonkäme, und ohnehin sei es leichtfertig von ihr, so alt wie sie
+sei, es noch nicht getan zu haben. Es wäre doch zu sinnlos, wenn die
+Verwandten ihr Geld bekämen, die ihr fast ganz fremd und die außerdem
+reich wären. Ich sagte, sterben würde sie noch lange nicht. Ich sähe sie
+schon im Geiste vor mir, frisch und stark und leichtfüßig wie früher.
+Darauf antwortete sie nichts, aber in ihren Augen sah ich, was sie
+dachte, und sie las wohl dasselbe in meinen.«
+
+»War sie aufgeregt?« fragte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger, indem sie mit einer heldenmütigen
+Anstrengung die bei der Erinnerung aufsteigenden Tränen verschluckte,
+»nicht besonders, nur im Anfang zitterte die Stimme ein wenig. Dann
+sagte ich, daß ich nicht gern mit Testamenten und solchen Sachen zu tun
+hätte, besonders wenn es sie anginge. Aber sie hätte ganz recht. Wenn
+man Vermögen besäße, müsse man ein Testament machen, und sie hätte es
+schon längst tun sollen. Was sie denn mit ihrem Gelde vorhätte, wenn
+ihre Verwandten es nicht bekommen sollten? Sie wurde darauf sehr
+verlegen und machte eine lange Vorrede, ich würde gewiß erstaunt sein
+und sie auslachen und sie schelten, bis sie mir endlich sagte, daß sie
+=Dr.= Deruga zu ihrem Erben einsetzen wollte.«
+
+»Bitte, einen Augenblick,« unterbrach =Dr.= Zeunemann. »Ihre
+Freundin setzte voraus, daß der Entschluß Sie überraschen würde. Hatte
+sie früher einmal andere Pläne geäußert? Wenn man Sie vorher nach den
+Absichten Ihrer Freundin gefragt hätte, hätten Sie gar keine Ahnung oder
+Meinung gehabt?«
+
+»Doch, das hätte ich,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Ich hatte immer
+geglaubt, sie würde eine Stiftung für arme Kinder machen, zum Andenken
+an ihr eigenes verstorbenes Kind, und weil sie überhaupt Kinder so sehr
+liebte. Sie pflegte zu sagen, schlecht ernährte, traurige Kinder wären
+ein Schandfleck der Gesellschaft. Sie ging darin so weit, daß sie jedes
+Kind, das sie zufällig schreien hörte, für ein mißhandeltes hielt. Ich
+sagte oft zu ihr, um sie zu trösten: 'Weißt du, das ist wirklich ein
+eigensinniger Balg.' Aber im Grunde glaubte sie mir nicht. Wir hatten
+auch von Einrichtungen gesprochen, die man zugunsten armer Kinder machen
+könnte.«
+
+»Erinnerten Sie sie denn nicht daran?« fragte =Dr.= Zeunemann,
+»oder hielt sie es nicht von selbst für nötig, ihre Sinnesänderung zu
+erklären?«
+
+»Sie sagte, sie hätte bei Stiftungen immer den Verdacht, das Geld käme
+gar nicht denen zugute, für die man es bestimmt hätte.«
+
+Fräulein Schwertfeger stockte, nachdem sie dies erklärt hatte, und war
+augenscheinlich ungewiß, ob sie noch was hinzufügen müsse oder
+fortfahren dürfe.
+
+»Und irgendeinen Weg, diese Gefahr zu vermeiden, hatte ihre Freundin nie
+ins Auge gefaßt?« ermunterte der Vorsitzende.
+
+Das Fräulein faßte nach kurzem Kampfe augenscheinlich Mut und sagte:
+
+»Sie hatte die Absicht gehabt, ihr Vermögen mir zu vermachen, sowohl,
+damit ich mein Leben bequemer einrichten könnte -- meine Freundin stellte
+sich das Leben einer Zeichenlehrerin nämlich sehr mühsam vor -- und dann,
+weil sie wußte, ich würde in ihrem Sinne damit für arme Kinder wirken.«
+
+»Ja so!« sagte =Dr.= Zeunemann, »Ihnen hatte sie ihr Vermögen
+vermachen wollen. Das ist doch aber keine Kleinigkeit, wenn man in einer
+solchen Sache plötzlich umschwenkt. Das muß sie Ihnen doch erklärt und
+entschuldigt haben?«
+
+Fräulein Schwertfeger machte ein stolz abwehrendes Gesicht. »Das mußte
+sie gar nicht,« sagte sie, »wir waren doch befreundet. Allerdings
+bedrückte es sie, und sie wollte mir weitläufig auseinandersetzen, warum
+sie so handelte. Sie hätte einmal gehört, daß es =Dr.= Deruga
+schlecht ginge, und daß er sehr heruntergekommen wäre, und daran müsse
+sie fortwährend denken. Er sei der Vater ihres geliebten Kindes und
+hätte sie liebgehabt, und sie könne sich noch immer nicht von dem
+Gedanken entwöhnen, daß, was ihr gehöre, eigentlich auch sein sei. Kurz,
+sie würde nicht ruhig sterben können, wenn sie ihn nicht durch ihr
+Vermögen vor Not geschützt wisse. Natürlich ließ ich sie gar nicht
+ausreden, sondern tröstete sie und versicherte sie, daß das Geld mich
+nur in Verlegenheit setzen würde, weil ich denken würde, ich müsse es
+irgendwie ausgeben und wisse nicht wie, und daß ich mein Leben nicht
+anders einrichten möchte, weil ich es einmal so gewöhnt wäre und ich
+mich wohl dabei fühlte. Das Geld würde mich nur an ihren Verlust
+erinnern und mir dadurch verhaßt werden.«
+
+»Es ist doch aber sonderbar,« sagte der Vorsitzende, »daß Ihre Freundin
+Ihnen nicht wenigstens ein Legat ausgesetzt hat wie ihrem
+Dienstmädchen.«
+
+»Das unterließ sie auf meinen Wunsch,« sagte Fräulein Schwertfeger kurz.
+
+»Ich bitte einen Augenblick ums Wort,« schaltete plötzlich der
+Staatsanwalt ein. »Nach der Darstellung der Zeugin hatte ich den
+Eindruck, als habe die von ihr mitgeteilte Unterredung, der sich die
+Abfassung des Testamentes anschloß, gleich nach der letzten, schweren
+Erkrankung ihrer Freundin, also im März oder April, stattgefunden.
+Dagegen ist das vorliegende Testament vom 19. September, also vierzehn
+Tage vor dem Tode derselben, datiert.«
+
+Fräulein Schwertfeger entgegnete nichts, sondern warf nur einen langen,
+feindseligen Blick auf den Fragesteller, wie auf einen unberufenerweise
+sich Einmischenden, und sah dann wieder den Vorsitzenden an.
+
+»Wollen Sie uns darüber aufklären, mein Fräulein,« bat dieser
+freundlich.
+
+»Meine Freundin schrieb das Testament zuerst im Frühling,« sagte
+Fräulein Schwertfeger, »und am 19. September schrieb sie es noch einmal
+ab.«
+
+»Es blieb also unverändert?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Meine Freundin erhöhte die Summe, die sie der Ursula, ihrem
+Dienstmädchen, ausgesetzt hatte,« sagte Fräulein Schwertfeger.
+
+»Vermutlich,« sagte =Dr.= Zeunemann, »hatte das Mädchen sie während
+ihrer schweren Krankheit so gut verpflegt, daß sie ihre Dankbarkeit mehr
+zum Ausdruck bringen wollte.«
+
+Fräulein Schwertfeger nickte und sah den Vorsitzenden herzlich an.
+»Dafür,« setzte sie hinzu, »fiel jetzt auf meinen Wunsch das Legat fort,
+das in der ersten Fassung mir ausgesetzt war.«
+
+»Wenn es so weiter geht, wird unvermerkt noch ein ganz neues Testament
+aus der unveränderten Abschrift,« bemerkte der Staatsanwalt mit
+diabolischem Kichern.
+
+»Sie hatten also anfänglich nichts gegen das Legat einzuwenden gehabt,«
+sagte der Vorsitzende. »Aus welchem Grunde lehnten Sie es jetzt ab? Es
+war doch nichts zwischen Sie und Ihre Freundin getreten?«
+
+»O nein, nein,« beteuerte Fräulein Schwertfeger lebhaft. »Ich gab nur
+damals nach, um sie nicht aufzuregen; aber ich beschloß von Anfang an,
+das Legat gelegentlich rückgängig zu machen, weil es mir nicht paßte.«
+Da sie das spöttisch-ungläubige Lächeln des Staatsanwalts bemerkte, warf
+sie mit einer kleinen, trotzigen Gebärde den Kopf zurück und preßte die
+Lippen zusammen.
+
+Nach einer Pause nahm der Vorsitzende das Verhör wieder auf, indem er
+fragte: »Ist die Verstorbene in der Folge, ich meine nach der ersten
+Abfassung, noch öfters auf das Testament zurückgekommen?«
+
+»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger entschieden. »Es war kein
+angenehmer Gesprächsgegenstand für uns beide.«
+
+Der Staatsanwalt lachte hörbar, als wolle er sagen, es scheine auch
+jetzt keiner für sie zu sein, worauf sie einen vernichtenden Blick nach
+der Richtung seines Platzes warf.
+
+»Hat Frau Swieter Ihnen nie erzählt oder Andeutungen gemacht,« fragte
+der Vorsitzende mit freundlicher Dringlichkeit, »ob irgendein besonderer
+Anlaß vorlag, der sie bewog, ihr Testament zugunsten des Angeklagten zu
+machen? Sie sprach, wie Sie erzählten, davon, daß es ihm schlecht ginge,
+daß er heruntergekommen sei. Wie war ihr das zu Ohren gekommen? Hatten
+sich vielleicht Gläubiger von ihm an sie gewendet? Oder sollte er selbst
+sie um Geld angegangen haben?«
+
+»Das weiß ich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger, »aber ich glaube es
+nicht, weil sie es mir gewiß erzählt haben würde. Sie hätte mir dadurch
+ihr Testament ja viel leichter erklären können. Daß es Herrn =Dr.=
+Deruga nicht gut ging, wußte sie schon lange; es gibt unzählige Wege,
+auf denen einem solche Gerüchte zu Ohren kommen.«
+
+»Sprach Ihre Freundin zuweilen mit Ihnen über den Angeklagten?« fragte
+=Dr.= Zeunemann.
+
+»Nein, fast nie,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie glaubte, daß ich
+kein Verständnis für ihn hätte.«
+
+»Also,« fiel der Staatsanwalt ein, »konnten sehr wohl Beziehungen
+zwischen Ihrer Freundin und ihrem geschiedenen Gatten bestehen, ohne daß
+Sie Kenntnis davon hatten.«
+
+Fräulein Schwertfeger warf den Kopf zurück und kräuselte verächtlich
+ihre kurze Oberlippe.
+
+»Es soll selbstverständlich nichts Nachteiliges über Ihre Freundin
+geäußert werden,« sagte der Vorsitzende vermittelnd. »Immerhin könnte
+sie Ihnen etwas verschwiegen haben, um nicht ein tadelndes Urteil von
+Ihnen hören zu müssen.«
+
+»Möglich wäre das,« sagte Fräulein Schwertfeger, »aber sehr
+unwahrscheinlich. Es liegt jedenfalls kein Grund vor, so etwas
+anzunehmen. Ihr Vermögen vermachte sie ihm einfach, weil er der Vater
+ihres Kindes war und sie, ihrer Meinung nach, geliebt hatte. Ich
+erinnere mich, daß sie früher einmal sagte, die Ehe wäre ihrem Wesen
+nach unauflöslich, wenn sie durch Kinder befestigt wäre, und als jemand
+widersprach, sagte sie, vielleicht wäre das nicht allgemein gültig, aber
+sie hätte die Erfahrung an sich gemacht. Meine Freundin war ihrer
+anschmiegenden Natur nach nicht geeignet, alleinzustehen, und vielleicht
+hatte sie sich unbewußt diese Theorie gebildet, um sich wenigstens
+seelisch noch gebunden zu fühlen.«
+
+»Wenn ich Sie nicht schon über Gebühr angestrengt habe,« sagte
+=Dr.= Zeunemann höflich, »möchte ich Sie bitten, uns zu erklären,
+wie es kommt, daß Sie und Frau Swieter, so vertraut sie miteinander
+waren, in der Beurteilung des Angeklagten so sehr voneinander abwichen.«
+
+Fräulein Schwertfeger lachte ein wenig. »Warum ein Mensch einen anderen
+liebt, versteht der Dritte selten. Außerdem kann man wohl selbst einem
+Menschen das Unrecht verzeihen, das er einem getan hat; die Freunde
+aber werden am wenigsten dazu geneigt sein.«
+
+»Danach sind Sie der Meinung,« sagte der Vorsitzende, »daß der
+Angeklagte an dem ehelichen Zerwürfnis schuld war?«
+
+»Er quälte sie durch sein launisches, maßloses Wesen,« sagte Fräulein
+Schwertfeger mit Zurückhaltung.
+
+»Trotzdem, und da Frau Swieter seinerzeit selbst auf der Scheidung
+bestand,« sagte der Vorsitzende, »scheint es, daß sie fortfuhr, an ihrem
+geschiedenen Manne zu hängen. Können Sie, als ihre Freundin, uns
+vielleicht zum Verstehen dieses Widerspruches helfen?«
+
+Fräulein Schwertfeger dachte eine Weile nach und sagte dann:
+
+»Widersprüche gibt es in jedem einzelnen Menschen und um so mehr in den
+Beziehungen zwischen zweien. Als meine Freundin noch verheiratet war,
+schenkte sie ihrem Manne einmal ein Buch zum Geburtstage; und als er
+eine Widmung darin haben wollte, schrieb sie auf das erste Blatt:
+
+ 'Deruga, du bist eben
+ So schön als wunderlich.
+ Man kann nicht ohne dich
+ Und auch nicht mit dir leben.'
+
+Es ist ein Epigramm, das Lessing auf eine gewisse Klothilde gemacht
+hat.«
+
+Die Zuhörer lachten, aber =Dr.= Zeunemann blieb ganz ernst. »Noch
+mit einer Frage möchte ich Sie belästigen,« sagte er. »Frau Swieter soll
+außerordentlich furchtsam gewesen sein. Die Furcht vor dem hitzigen
+Temperament ihres Gatten soll sie mit zur Scheidung bewogen haben.
+Glauben Sie, daß sie sich auch nach der Scheidung noch vor ihm
+gefürchtet hat?«
+
+»O nein, vor Deruga nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger mit Überzeugung.
+»Vor ein paar Jahren las sie einmal in der Zeitung, daß ein Mann seiner
+von ihm geschiedenen Frau aufgelauert und sie erstochen habe. Mit Bezug
+darauf sagte sie, das käme häufig vor, und Frauen, die sich von ihren
+Männern trennen wollten oder getrennt hätten, müßten eigentlich
+irgendwie geschützt werden. Ich sagte, sie solle doch die dummen
+Zeitungen nicht lesen, die Hälfte von allem, was darin stünde, wäre
+erlogen. Da lachte sie und sagte, ich meinte wohl, sie fürchtete sich?
+Und dann erklärte sie mir, Deruga sei zwar bei den kleinen Reibungen,
+die im Zusammenleben unvermeidlich wären, maßlos heftig gewesen und auch
+nicht frei von Rachsucht, aber von langer Dauer sei das nie gewesen, und
+sie sei gewiß, daß er gegen sie keinen Groll hege. Daher weiß ich
+bestimmt, daß sie keinerlei Furcht vor ihm hatte. Im allgemeinen
+allerdings war sie sehr furchtsam und bevorzugte zum Beispiel zum Wohnen
+den dritten Stock, weil sie da vor Einbrechern am geschütztesten zu sein
+glaubte. Sie fürchtete sich auch sehr vor dem Tode, obwohl sie ihn
+andererseits als eine Wiedervereinigung mit ihrem Kinde ersehnte.«
+
+»Vermutlich fürchtete sie nicht den Tod, sondern das Sterben,« sagte der
+Vorsitzende, »das sie sich als qualvoll vorstellte.«
+
+»Ja,« stimmte Fräulein Schwertfeger zu, »sie hatte große Angst vor
+Schmerzen und mußte doch so schrecklich aushalten.«
+
+Der Staatsanwalt fragte, ob die Kranke infolge der Schmerzen jemals
+Störungen oder Trübungen des Bewußtseins gehabt hätte.
+
+»O nein,« sagte Fräulein Schwertfeger mit einem Lächeln, den Blick auf
+=Dr.= Zeunemann gerichtet, »sie klagte im Gegenteil zuweilen
+darüber, daß ihr Kopf bei den größten Qualen stets klar bleibe. Einmal
+fragte sie mich, ob ich sie lieb genug hätte, um ihr ein Gift zu geben,
+das sie von ihrem Leiden erlöste. Ich war sehr erschrocken und sagte,
+ich hätte sie zu lieb dazu, ich könnte so etwas nicht denken, geschweige
+denn es tun. Dann erinnerte ich sie daran, wie sie sich doch des Lebens
+wieder freuen könne, sobald ihr besser sei, und daß sie vielleicht
+wieder ganz gesund würde, und wie bald dann die Schmerzen vergessen sein
+würden, so wie ich sie kennte. Da lachte sie und tröstete mich und
+sagte, ich hätte ganz recht, sie hoffe noch einmal zu prahlen mit dem,
+was sie so tapfer ausgehalten hätte. Es gab jedenfalls keinen
+Augenblick, in dem sie nicht genau gewußt hätte, was sie tat.«
+
+»Es erübrigt nun noch eine Frage, deren Antwort im verneinenden Sinne
+mir zwar schon in Ihren übrigen Aussagen inbegriffen scheint, die ich
+aber doch ausdrücklich stellen muß: Hat Frau Swieter ihren geschiedenen
+Mann von dem Inhalt ihres Testamentes in Kenntnis gesetzt?«
+
+»Das weiß ich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Ich glaube es auch
+nicht. Wozu sollte sie es getan haben?«
+
+»Das wollen wir zunächst dahingestellt sein lassen,« sagte der
+Vorsitzende. »Gesetzt den Fall, sie hätte es ihm mitteilen wollen, so
+hätte sie ihm schreiben müssen. Da sie in jener Zeit nicht mehr
+aufstand, geschweige denn ausging, mußte sie den Brief irgend jemandem
+zur Besorgung geben. Durch Sie hat sie es also nicht getan?«
+
+»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger.
+
+»Hat sie Ihnen überhaupt nie Briefe zur Besorgung mitgegeben?«
+
+»Vielleicht,« sagte Fräulein Schwertfeger, »ich erinnere mich nicht;
+aber keinen an =Dr.= Deruga.«
+
+»Er konnte vielleicht anders adressiert sein, um Sie irrezuführen?«
+
+»O nein,« sagte Fräulein Schwertfeger, die Stirn faltend, »das hätte
+sie vorher mit ihm verabreden müssen. Solche Schleichwege hätte sie
+nicht gewählt, dafür stehe ich ein.«
+
+»Ich glaube Ihnen, Fräulein Schwertfeger,« sagte der Vorsitzende nach
+einer kleinen Pause. »Ich verlasse mich auf Ihre Wahrheitsliebe. Sie
+sind Lehrerin, die Jugend ist Ihrem Einfluß anvertraut, Sie genießen die
+Liebe und Verehrung Ihrer Schülerinnen sowohl wie der Eltern derselben
+und werden das nicht um eines Hirngespinstes willen verschweigen wollen.
+Sie haben also weder dem Angeklagten im Auftrage Ihrer Freundin von dem
+Inhalte ihres Testamentes Mitteilung gemacht, noch haben Sie einen Brief
+Ihrer Freundin besorgt, in welchem diese Mitteilung enthalten war oder
+allenfalls hätte enthalten sein können?«
+
+»Nein,« sagte Fräulein Schwertfeger.
+
+»Sie sind also überzeugt, daß der Angeklagte von dem Testamente keine
+Kenntnis hatte?«
+
+»Ich bin überzeugt davon,« antwortete sie.
+
+=Dr.= Zeunemann bedachte sich und sagte, er wolle das Verhör damit
+abschließen, sie würde ohnehin ermüdet sein. In der Tat sah sie sehr
+blaß aus, so daß ihre großen Augen beinah schwarz schienen.
+
+»O ja, ich bin sehr müde,« sagte sie, »darf ich gehen?«
+
+=Dr.= Zeunemann erklärte ihr, daß sie zwar jetzt, da Mittagspause
+sei, wie alle anderen gehen dürfe, daß er aber für die Dauer des
+Prozesses um ihre Anwesenheit bitten müsse, worauf sie sich durch eine
+kurze Neigung des Kopfes verabschiedete.
+
+»Ein wackeres Altjüngferchen,« sagte Justizrat Fein zu Deruga, »obwohl
+sie nicht die beste Meinung von Ihnen hat.«
+
+»Gute, dumme Gans,« antwortete dieser kurz. Er hatte mit aufgestütztem
+Kopf und verdecktem Gesicht dagesessen und richtete sich jetzt auf wie
+jemand, der in dem Labyrinth einer dunklen Musik versunken war, wenn sie
+plötzlich abreißt. Der stechende Blick, den er durch den Saal gleiten
+ließ, blieb zufällig an der Baronin Truschkowitz hängen, die, eben im
+Aufstehen begriffen, ihrem einige Plätze von ihr entfernt sitzenden
+Anwalt ein Zeichen mit den Augen gab, und er sagte: »Unausstehliche
+Person; paßt ganz zu der schmutzigen Sache, die sie vertritt.«
+
+»Na, wissen Sie,« entgegnete der Justizrat. »Daß die Baronin sich ungern
+ein Vermögen entwinden läßt, auf das sie gerechnet hatte, ist
+menschlich, und daß sie Ihnen allerhand Böses zutraut, um so eher zu
+entschuldigen, als sie Sie nicht kennt.«
+
+»Halten Sie das für eine Entschuldigung?« sagte Deruga scharf. »Weil sie
+selbst gierig ist, kann sie sich auch bei anderen kein anderes Motiv
+vorstellen; das ist ihre Menschenkenntnis. Ekelhaft!«
+
+Die Besprochene war unterdessen auf die Freitreppe des Gerichtsgebäudes
+gelangt und blickte durch die Lorgnette ungeduldig um sich. »Ich bin
+ganz erregt«, sagte sie zu =Dr.= Bernburger, »über die Art und
+Weise, wie man mit diesem Fräulein umgeht. Sie mag ja übrigens ein
+anständiges Mädchen sein. Aber es ist klar, daß sie nicht die Wahrheit
+sagt, und ich begreife nicht, daß man das so gehen läßt.«
+
+»Ja, das ist eine heikle Sache, Gnädigste,« sagte =Dr.=
+Bernburger, »die Folter ist längst abgeschafft.«
+
+»Das war eben sehr voreilig,« sagte die Baronin. »Die Alten waren in
+vieler Hinsicht klüger als wir und wußten recht gut, warum sie sie
+anwendeten. Aber wir müssen doch auch Mittel haben, um die Wahrheit aus
+den Leuten herauszubringen. Ich würde ganz anders vorgehen, wenn ich der
+Präsident wäre. Aber Sie kommen mir zerstreut vor, Herr Doktor.«
+
+»Im Gegenteil,« sagte =Dr.= Bernburger, »ich bin vertieft in unser
+Problem.«
+
+»Und haben Sie bemerkt,« fuhr die Baronin fort, »daß sie gerade das
+zugab, was sie bestreiten wollte, nämlich daß meine Kusine sich vor
+ihrem geschiedenen Mann fürchtete? Und wie interessant, daß die Männer
+eine Neigung haben, ihre geschiedene Frau umzubringen! Man muß es sich
+doch sehr überlegen, ehe man den Schritt tut.«
+
+»Ich hoffe, Kind,« sagte der neben ihr stehende Baron gutmütig, »das ist
+nicht der einzige Grund, der dich abhält, dich scheiden zu lassen.«
+
+Sie sah ihn mit einem Lächeln an, in dem ein leichter Spott lag, und
+sagte: »Nein, mein Teurer, du bist viel zu ritterlich, als daß ich mich
+vor dir fürchten könnte.«
+
+Gleichzeitig winkte sie dem wartenden Schofför, das Auto näher
+heranzulenken, und entließ ihren Anwalt mit flüchtigem Gruß.
+
+Der Staatsanwalt hatte sich beim Verlassen des Saales an =Dr.=
+Zeunemann gehängt und begleitete ihn unter vorwurfsvollen Reden in sein
+Zimmer. Es sei klar, sonnenklar, sagte er, daß dies Muster -- er meinte
+Fräulein Schwertfeger -- den Brief besorgt habe. Das Muster habe keine
+Übung im Lügen. Er wolle gerecht sein, aber gelogen habe sie. Da müsse
+eingeschritten werden! Oder ob wieder einmal durch die Gunst der Frauen
+ein Elender der verdienten Strafe entzogen werden solle? Dieser Mensch
+besitze die Gunst der Frauen, und im Leben wie im Salon hänge ja
+heutzutage der Mann von der Gunst der Frauen ab. Ob es denn aber nicht
+zum Himmel schreie, wenn auch das Recht durch Weiberlaunen gemacht
+würde!
+
+Der Staatsanwalt rang während dieser Reden die Hände und fuhr sich
+durch die langen, dünnen Haare, die verwildert nach allen Seiten hingen.
+
+»Beruhigen Sie sich, Herr Kollege,« sagte =Dr.= Zeunemann
+mißbilligend, »bei Fräulein Schwertfeger trifft Ihre Zwangsvorstellung
+von der Gunst der Frauen nicht zu, sie hat offenbar eine Abneigung gegen
+ihn.«
+
+»Worte!« rief der Staatsanwalt verzweifelt. »Worte, Worte! In der Tat
+begünstigt sie ihn. Wahrscheinlich hat sie selbst an ihn geschrieben.
+Ist es nicht sonnenklar?« wendete er sich an die beiden Beisitzer.
+
+Diese bestätigten, daß ihnen das Verhalten von Fräulein Schwertfeger
+auffallend vorgekommen sei; aber es ließe sich auch anders, zum Beispiel
+durch die den Frauen eigentümliche Scheu vor der Öffentlichkeit,
+erklären.
+
+»Ach Gott,« jammerte der Staatsanwalt, »wohin soll das führen, wenn ein
+so schäbiges altes Muster schon den Scharfblick bewährter Juristen
+trüben kann!«
+
+»Lieber Herr Kollege,« sagte =Dr.= Zeunemann, nach der Uhr sehend,
+»Sie bedürfen ebenso wie wir des Mittagessens und der Mittagsruhe.
+Schlafen Sie ein Viertelstündchen! Und künftig bitte ich Sie die Fragen
+zu stellen, die Sie für zweckmäßig halten.«
+
+»Was hilft es, Fragen zu stellen, wenn man mit Lügen abgespeist wird?«
+sagte der Staatsanwalt bitter. »Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte,
+nämlich daß es sich so verhält, wie ich von Anfang sagte: es war kein
+Totschlag, sondern vorbedachter Mord. Als er erfuhr, daß sie ihm ihr
+Vermögen vermacht hatte, beschloß er sie zu töten, ehe sie etwa, durch
+ihre Verwandten beeinflußt, anderen Sinnes werden und das Testament
+umstoßen könnte.«
+
+»Soll ich Ihnen Ihre Insinuationen zurückgeben,« sagte =Dr.=
+Zeunemann, »und den Argwohn äußern, daß Sie die Dinge durch eine von der
+Baronin Truschkowitz aufgesetzte Brille ansehen? Vergleicht man ihre
+Reize mit denen des Fräuleins Schwertfeger, so erscheint dieser Verdacht
+beinahe begründet.«
+
+Der Staatsanwalt, dem die Neckerei augenscheinlich schmeichelte, mußte
+lachen. Indessen, fügte er brummend hinzu, ein Prozeß, bei dem Weiber
+beteiligt wären, arte immer in Tratsch aus, es müßten ihm aber alle
+bezeugen, daß er von Anfang an der Überzeugung gewesen sei, es handele
+sich um Mord.
+
+Ja, sagte =Dr.= Zeunemann, und er bezeuge freiwillig noch dazu, daß
+der Staatsanwalt in seine ersten Überzeugungen verliebt zu sein pflege,
+wie eine Mutter in ihr Kind, bis das zweite käme und jenes verdrängte.
+
+
+
+
+=VI.=
+
+
+»Ursula Züger, achtunddreißig Jahre alt, seit neunzehn Jahren im Dienst
+der verstorbenen Frau Swieter,« begann der Präsident.
+
+Ursula Züger blickte mit überlegenem Lächeln in die Runde. Ihr dampft
+vor Gier nach den Tatsachen, die nur ich berichten kann, schien ihre
+Miene zu sagen; fallt nur her über die Beute und sättigt euch, ich
+denke, sie soll euch schmecken.
+
+»Sie müssen bei so langem Zusammenleben mit allen Verhältnissen der Frau
+Swieter sehr vertraut gewesen sein.«
+
+»Das will ich meinen,« sagte Ursula, »was meine Gnädige angeht, das weiß
+ich von Anfang bis zu Ende, das gibt es nicht anders.«
+
+»Hat die Verstorbene zuweilen von der Vergangenheit, ich meine, von der
+Zeit ihrer Ehe mit dem Angeklagten, mit Ihnen gesprochen?«
+
+»Hui!« Ursula stieß einen pfeifenden Ton aus, welcher sagen zu wollen
+schien, daß dies unzählige Male der Fall gewesen sei. »Namentlich seit
+der Zeit, wo sie krank lag, das arme Wurm. Wenn ich dann abends bei ihr
+saß, ging das immer: 'Wissen Sie noch dies und das, Urschel? Wissen Sie
+noch die Geschichte mit dem Bettler?' Nämlich in der ersten Zeit, als
+unser Herr Doktor noch keine Patienten hatte, da kamen ausgerechnet alle
+Bettler, die es in der Stadt gab, und einmal ging der Herr Doktor selbst
+an die Tür und sagte: 'Sie, guter Freund, ich soll Ihnen was geben?
+Also, was haben Sie heute verdient? Na, sagen Sie die Wahrheit:
+mindestens eine Mark, mindestens! Sie gehen an der Krücke, haben nur ein
+Auge -- schön, sagen wir eine Mark. Ich dagegen nichts. In vier Wochen
+habe ich nicht zehn Mark verdient! Aber wenn Sie eine Zigarette wollen
+und mir ein bißchen Gesellschaft leisten' -- und da hat er wahrhaftig
+einmal einem mit eigener Hand eine Zigarette gedreht, der sah aus, als
+ob er geradeswegs aus dem Kehrichtkübel käme, aber sonst ein
+verschmitzter, lustiger Kerl, der kam dann alle paar Tage und sagte
+gleich, wenn ich die Tür aufmachte, er wolle nichts haben, wolle nur dem
+Herrn Doktor ein bißchen Gesellschaft leisten.«
+
+»So,« sagte der Vorsitzende, »Sie tischten der Kranken also lustige
+Erinnerungen auf, um sie zu erheitern.«
+
+»Versteht sich,« sagte Ursula. »Schmerzen und Kummer hatte sie ohnehin
+genug.«
+
+»Wenn Frau Swieter dem Herrn Doktor nichts nachtrug,« fuhr der
+Vorsitzende fort, »sich seiner sogar gern erinnerte, wechselte sie wohl
+auch zuweilen Briefe mit ihm?«
+
+»Das dachte ich doch, daß Sie wieder davon anfingen,« sagte Ursula
+triumphierend. »Damit ist es aber ein für allemal nichts. Wo wird sie
+denn mit ihrem geschiedenen Mann Briefe gewechselt haben? Da hätten sie
+ja ebenso gut zusammenbleiben können.«
+
+»Das ist doch ein Unterschied,« setzte der Präsident auseinander. »Es
+kann vorkommen, daß man sich entfernt sehr gut verträgt, während man
+sich unter einem Dach beständig in den Haaren liegt.«
+
+»Dazu war meine Gnädige eine viel zu feine Dame,« sagte Ursula streng.
+»Von In-den-Haaren-liegen war da gar keine Rede und auch nicht von
+heimlichen Tuscheleien, nachdem sie einmal auseinander waren. Wenn ich
+früher wohl einmal sagte, der Herr Doktor sei doch im Grunde gar kein
+schlechter Mensch gewesen, und es sei doch eigentlich schade, wenn er
+nun auf eine schiefe Bahn geriete, und auch für uns, weil immer etwas
+ging, solange er da war, dann schüttelte meine Gnädige den Kopf und
+sagte: 'Wenn wir uns auch heute versöhnten, würden wir doch übers Jahr
+wieder auseinandergehen.' Und recht hatte sie, so ein Mann wie der
+konnte einmal keine Ruhe geben.«
+
+»Sie sind also der Meinung,« fragte der Vorsitzende, »daß Frau Swieter
+weder an den Angeklagten geschrieben, noch von ihm Briefe empfangen
+hat?«
+
+»Der Meinung!« wiederholte Ursula mit blitzenden Augen. »Von Meinung
+brauchen Sie da gar nicht zu reden, Herr Präsident, denn das weiß ich.
+Deswegen bilde ich mir nicht zu viel ein, wenn ich sage, daß der liebe
+Gott es nicht besser wissen kann. Erstens kenne ich die Handschrift vom
+Herrn Doktor, und weil sie vor einem Jahre krank wurde, hat sie keinen
+Brief mehr bekommen, der nicht durch meine Hand ging, und geschrieben
+hat sie auch nicht mehr, außer was sie mir oder Fräulein Schwertfeger,
+aber meistens Fräulein Schwertfeger, diktierte. Wir haben auch ihre
+Briefe auf die Post gebracht.«
+
+»Nun, mein liebes Kind,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Ihre Gnädige war
+doch nicht lahm! Wenn sie durchaus wollte, konnte sie auch aufstehen und
+sich Schreibzeug holen und schreiben, ohne daß Sie es wußten, und sie
+konnte auch zum Beispiel Herrn =Dr.= Kirchner, ihren Arzt, um die
+Besorgung eines Briefes bitten.«
+
+»Ja, das scheint Ihnen so, Herr Präsident,« sagte Ursula nachsichtig,
+»weil Sie es nicht besser wissen. Aber daß meine Gnädige hinter meinem
+Rücken Briefe schrieb und abschickte, das ist ausgeschlossen. Wenn Sie
+die Verhältnisse kennten, würde Ihnen so etwas gar nicht in den Sinn
+kommen. Nein, und wenn sie auch nicht lahm war, und das war sie
+allerdings nicht, so hätte sie doch solche Zeremonien nicht mit mir
+gemacht, wo gar keine Veranlassung dazu da war; denn sie hätte ja nur zu
+sagen brauchen: 'Ursula, von dem Brief soll niemand etwas wissen, und
+Sie sollen es auch nicht wissen.' Und dem Herrn =Dr.= Kirchner
+einen Brief mitgeben, darüber muß man wirklich lachen, wenn man die
+Verhältnisse kennt. Da hätte sie ja nicht gewußt, ob er ihn nicht ein
+halbes Jahr in der Tasche behielte oder auf der Treppe schon verloren
+hätte. Und warum hätte sie denn ihre Geheimnisse fremden Leuten
+anvertrauen sollen, wo sie doch Fräulein Schwertfeger und mich hatte,
+auf die sie sich verlassen konnte? Also das schlagen Sie sich nur aus
+dem Kopfe, Herr Präsident, mit den heimlichen Briefen! Was in unserem
+Hause vorgegangen ist, das weiß ich, und da konnte nichts vorgehen, was
+ich nicht wußte.«
+
+»Sie werden doch zuweilen Besorgungen gemacht haben, liebes Fräulein,«
+sagte der Präsident, der sich noch nicht für geschlagen erklären
+mochte. »Wissen Sie auch, was in der Wohnung vorfiel, wenn Sie nicht da
+waren?«
+
+»Wenn Sie mich damit hereinzulegen denken, wie man so sagt, Herr
+Präsident,« antwortete Ursula unerschüttert, »dann sind Sie
+ausgerutscht, mit Erlaubnis zu sagen. Wenn ich fort war, konnte am
+allerwenigsten etwas vorfallen, weil ich dann nämlich die Wohnungstür
+hinter mir abschloß. Meine Gnädige hatte das selbst angeordnet und
+gesagt: 'Wissen Sie, Ursula, weil ich doch nicht aufstehen soll, nach
+dem, was der Herr Doktor sagt, so ist es am einfachsten, Sie schließen
+die Tür ab, damit ich sicher bin, daß niemand hinein kann. Kommt jemand,
+so mag er läuten und wiederkommen. Brennen wird es ja nicht gerade,
+während Sie fort sind.' Na, was das betrifft, darüber war ich ganz
+ruhig, denn wo sollte es brennen, wo ich immer nur in der Frühe oder
+nachmittags ausging, wenn kein Feuer im Hause war. Fräulein Schwertfeger
+hatte eigens den Wohnungsschlüssel, damit sie zu jeder Zeit hinein
+konnte. Also, Herr Präsident, das müssen Sie nun doch einsehen, daß in
+meiner Abwesenheit nichts vorfallen konnte.«
+
+»Nur ist in Ihrer Abwesenheit Ihre Herrschaft ermordet worden,« erhob
+sich die kreischende Stimme des Staatsanwalts.
+
+Ursula verstummte; aber, wie es schien, mehr erstarrt über die
+Dreistigkeit, diese Tatsache anzuführen, als von ihrer Beweiskraft
+überwunden. »So weit sind wir noch nicht,« sagte sie endlich, sich
+aufraffend. »Ich glaube überhaupt nicht an den Mord, weil es unmöglich
+ist, daß etwas in der Wohnung vorfiel, solange ich fort war.«
+
+»Außer wenn Frau Swieter selbst wollte,« warf der Vorsitzende ein.
+
+»Ja, das werden Sie doch aber selbst nicht glauben, Herr Präsident,«
+sagte Ursula, wieder in den früheren Gedankengang einlenkend, »daß die
+todkranke Frau aufstand und womöglich drei Treppen herunter auf die
+Straße lief, nur um unserem Herrn Doktor einen Brief zu schicken, den
+ich ihr jeden Augenblick mit dem größten Vergnügen besorgt hätte.«
+
+=Dr.= Zeunemann seufzte. »Verreist sind Sie niemals,« begann er
+von neuem, »seit Frau Swieter im vorigen Jahre krank wurde und zu Bette
+lag?«
+
+»Nein,« sagte Ursula, »obwohl sie es mir oft angeboten hat und ich ja
+auch wußte, daß Fräulein Schwertfeger gerne solange bei ihr gewohnt
+hätte, und daß sie ja auch eine Krankenschwester hätte nehmen können.
+Aber die hätte doch die Verhältnisse nicht so gekannt wie ich, und wenn
+es mir auch leid tat, meine Mutter so lange nicht zu sehen, so habe ich
+mir doch gesagt: die Frau hat dich seit neunzehn Jahren nicht verlassen,
+so verlasse ich sie auch nicht. Ruhe hätte ich zu Hause auch nicht
+gehabt, und ich glaube, ich fände im Grabe keine Ruhe, wenn ich das
+arme, kranke Wurm allein gelassen hätte.«
+
+Ursulas laute Stimme wurde unsicher, und sie fuhr sich mit dem
+Taschentuch über das Gesicht.
+
+Der Vorsitzende wartete ein wenig und forderte sie dann auf, den
+Todestag der Frau Swieter, soweit sie sich erinnern könne, vom Anfang
+bis zum Ende zu schildern.
+
+»Gerade an dem Tage,« begann Ursula, »hatte ich gar nichts Böses
+vermutet. Die Nacht war nämlich sehr schlecht gewesen, ich hörte sie
+stöhnen, lief wohl fünfmal hin und fragte, ob ich den Doktor holen
+sollte, aber sie sagte: 'Nein, der hilft mir doch nicht,' und mich
+schickte sie auch fort, weil ich es ihr nur schwerer machte. Denn wenn
+ich da wäre, sagte sie, müßte sie sich beherrschen.
+
+Gegen Morgen bin ich wirklich eingeschlafen, denn vier Uhr habe ich es
+schlagen hören, aber fünf nicht mehr, und um sieben weckte mich der
+Kaminkehrer, der anläutete. Ich war wütend, daß er so laut schellte, und
+lief an die Tür und sagte, das sei keine Art, so unversehens
+daherzukommen, er habe sich den Tag vorher anzumelden, und jetzt nähme
+ich ihn schon gar nicht an; ich mochte den unverschämten Kerl nämlich
+ohnehin nicht leiden. Ich dachte, meine Gnädige wäre vielleicht auch
+erst vor kurzem eingeschlafen und nun wieder geweckt, und da klingelte
+sie mir auch schon und fragte, wer draußen wäre. Ich sagte, der
+Kaminfeger, und daß ich ihn geschimpft und wieder weggeschickt hätte,
+und da lachte sie und sagte, es habe nichts zu sagen, sie würde schon
+wieder einschlafen, es sei ihr jetzt ganz wohl. Aussehen tat sie
+freilich, als wenn sie Fieber hätte, aber es blieb ganz ruhig bei ihr,
+und da ich um zehn Uhr wieder hereinschaute, lag sie ganz still da, und
+die Haare fielen ihr halb übers Gesicht. Ich ging leise heraus und
+beeilte mich, so gut ich konnte, und wie ich wieder da war, guckte ich
+wieder leise herein, und da lag sie mit offenen Augen und lächelte so
+friedlich und sagte: 'Sind Sie da, Urselchen, mir ist ganz wohl, ich
+habe gar keine Schmerzen mehr.' Sie sah auch wirklich ganz gut aus,
+obgleich sie tiefe Schatten wie breite, schwarze Bänder unter den Augen
+hatte, und wie ich sie so betrachtete, kam sie mir sonderbar vor und ich
+sagte: 'Gnädige Frau sehen so geheimnisvoll aus.' Meine Seele dachte
+aber nicht daran, daß das Geheimnis der Tod war, denn sonst hätte ich es
+ja nicht gesagt.«
+
+»Was antwortete sie darauf?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Sie lächelte noch glücklicher als vorher und sagte: 'Das Geheimnis ist,
+daß unser Mingo mich besucht hat.' Mingo hieß unser Kind, das gestorben
+ist, und wir nannten es _der_ Mingo, weil wir eigentlich bestimmt
+auf einen Buben gerechnet hatten.«
+
+»Sie hatte also von ihrem verstorbenen Kinde geträumt,« sagte der
+Vorsitzende. »Erzählte sie Ihnen davon?«
+
+»Natürlich,« sagte Ursula, »wenn sie von unserem Mingo geträumt hatte,
+sprach sie den ganzen Tag davon. Es war in einem offenen Wagen mit
+schönen schwarzen Pferden gekommen und hatte auf dem Rücksitz gesessen,
+so wie es sonst zwischen seinen Eltern saß. Ganz gerade und stolz hatte
+es dagesessen und ihr mit der kleinen Hand gewinkt, daß sie sich zu ihm
+setzen sollte, und plötzlich war es dann kein Wagen mehr gewesen,
+sondern eine Art Karussell oder Schaukel, und war nach einer
+wunderschönen Musik immer höher und höher geflogen. Es kam ihr so vor,
+als ob die Schaukel abgerissen wäre, und wie ihr bange wurde, sagte
+unser Mingo ganz ernsthaft: 'Halte dich nur an mir!' Darüber mußte sie
+lachen, daß das winzige Geschöpf seiner Mutter eine Stütze sein wollte,
+und wachte auf.
+
+Zwischen dem Kochen ging ich immer wieder herein und schwatzte mit ihr
+von unserem Mingo, und dann brachte ich ihr das Mittagessen und setzte
+mich zu ihr und redete ihr zu, ordentlich zu essen, weil sie nämlich
+immer nur an allem nippte. 'Ach, Urselchen, lassen Sie mich nur, ich
+habe heute keinen Hunger,' sagte sie, 'gewiß kommt unser Bettler, der
+wird froh sein, wenn er so viel bekommt.' Es war nämlich Donnerstag, und
+am Donnerstag kam meistens ein alter Mann, der sagte, in der ganzen
+Straße gäbe es keine so gute Köchin, wie ich wäre, und so hatten wir
+immer allerlei Spaß miteinander. Indem sie das sagte, läutete es auch
+schon an der Tür, es war aber nicht unser Bettler, sondern ein anderer,
+so wie ein Slowak sah er aus, die Mausefallen verkaufen. Ich hatte ihm
+kaum aufgemacht, da klingelte meine Gnädige so stark, daß es mir
+ordentlich durch die Knochen fuhr, und wie ich hinlief, sagte sie, ob es
+der Doktor sei. 'Bewahre,' sagte ich, 'um die Zeit kommt der Doktor
+nicht, es ist ein Bettler.' 'Dann ist es gut,' sagte sie, 'ich wollte
+Ihnen nur sagen, daß Sie den Doktor heute nicht zu mir hereinlassen. Ich
+bin zu müde, um mich quälen zu lassen. Sie können ihm sagen, ich hätte
+eine schlechte Nacht gehabt und schliefe.'«
+
+»Ist Ihnen das nicht aufgefallen?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Nein,« sagte Ursula erstaunt, »es ist auch gar nichts Auffallendes
+daran. Ich mußte manchmal den Doktor unter irgendeinem Vorwand
+fortschicken, zum Beispiel, wenn ich ihr gerade etwas Spannendes
+vorlas.«
+
+»Haben Sie ihr auch an diesem Tage vorgelesen?« fragte der Vorsitzende.
+
+Ursula schüttelte traurig den Kopf. »Dazu ist es nicht mehr gekommen,«
+sagte sie. »Nachdem ich meine Küche gemacht hatte wie alle Tage, fragte
+ich sie, ob ich ihr vorlesen sollte, oder ob sie möchte, daß Fräulein
+Schwertfeger käme. 'Nein,' sagte sie, 'Gundel kommt gewiß von selbst,
+wenn sie Zeit hat, und ich glaube auch, daß ich wieder einschlafen
+werde. Da können Sie zur Bank gehen und die Miete bezahlen, weil Sie
+gestern nicht dazu gekommen sind,' -- es war ja der 2. Oktober -- 'und auf
+dem Rückweg könnten Sie mir eine Flasche griechischen Wein mitbringen,
+ich habe solche Lust darauf, und der Doktor hat mir Wein erlaubt.' Dann
+trug sie mir noch auf, dem Hausmeister zu sagen, daß er auf den Abend
+heizte, damit ich nicht im Kalten säße, weil der Wind so stark auf
+meinem Fenster stand. Er hätte nämlich eigentlich schon am Ersten heizen
+müssen, aber der Mensch war ja so faul, daß er kaum die trockenen
+Blätter im Vorgarten zusammenfegte, und in den Keller gehen und heizen,
+das paßte ihm erst recht nicht. Wenn man ihn mahnte, hatte er immer
+einen Vorwand, weswegen er nicht dazu gekommen wäre. Er möchte lieber
+Heizer in der Hölle sein, als ein Hausmeister mit drei Häusern und
+achtzehn Parteien, von denen jede verschieden warm haben wollte; das
+war eine beliebte Redensart von ihm. Ich sagte also zu meiner Gnädigen,
+lieber wolle ich frieren, als daß ich mich mit dem Mehlwurm von
+Hausmeister einließe. Da lachte sie und sagte, nein, ich solle es ihm
+nur recht gefährlich ausmalen, wie kalt ich es hätte und wie böse sie
+auf ihn wäre. Und das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört
+habe.«
+
+»Als Sie nach Hause kamen,« sagte der Vorsitzende, »war sie tot. Sie
+hatten die Tür abgeschlossen und fanden sie geschlossen wieder vor?«
+
+»Abgeschlossen war die Tür nicht, und das kam daher, weil, kurz bevor
+ich kam, Fräulein Schwertfeger dagewesen war, und die dachte gewöhnlich
+nicht ans Abschließen.«
+
+Fräulein Schwertfeger wurde gefragt, ob sie die Tür verschlossen
+gefunden habe, und erklärte, daß sie nicht darauf geachtet habe und
+deshalb nichts darüber sagen könne. Sie sei auf dem Wege in die
+Abendschule und in Eile gewesen, habe eben nur fragen wollen, wie es
+ginge. Da es totenstill in der Wohnung gewesen sei, habe sie
+angenommen, daß ihre Freundin schliefe, habe leise in das Schlafzimmer
+hineingeguckt und sei dann wieder gegangen. Die Tür, die vom
+Schlafzimmer ihrer Freundin ins Wohnzimmer geführt habe, sei wie immer
+weit offen gewesen. Sie habe beim Fortgehen die Wohnungstür keinesfalls
+abgeschlossen, denn sie habe das nie getan. Es sei etwa fünf Minuten vor
+sechs Uhr gewesen.
+
+»Wieviel Uhr war es, als Sie nach Hause kamen?« wendete der Vorsitzende
+sich wieder an Ursula.
+
+»Als ich um die Ecke von unserer Straße bog,« sagte Ursula, »hörte ich
+es von der Schloßkirche sechs Uhr schlagen, und von da sind es keine
+fünf Minuten mehr, besonders weil ich schnell ging. Ich hatte mich
+nämlich mit dem Warten auf der Bank, und weil ich nach dem Wein hatte
+laufen müssen, verspätet. Ich ging zuerst in die Küche und legte meine
+Pakete ab -- ich hatte sonst noch einiges für den Haushalt eingekauft --
+und meinen Mantel. Dann ging ich leise ins Schlafzimmer; denn daß meine
+Gnädige schliefe, nahm ich an, weil sie mich sonst sofort rief, sowie
+ich die Tür aufmachte. 'Sind Sie's, Urselchen?' rief sie mit ihrer
+weichen Stimme. Sie hatte so eine helle, unschuldige Stimme wie ein
+Kind. Durch die offene Türe sah ich, wie sie ganz still dalag, den Kopf
+auf der Seite und die Arme über der Decke, und kehrte gleich wieder um,
+froh, daß sie so gut schlief. Aber als ich im Wohnzimmer war, fiel mir
+auf einmal ein, daß sie sonst ganz anders lag, wenn sie schlief, nämlich
+nie flach auf dem Rücken, sondern etwas zur Seite geneigt, und die eine
+Hand hatte sie unter dem Gesicht. Wie mir das plötzlich einfiel, wurde
+mir so sonderbar zumute, daß mir wahrhaftig die Knie zitterten, und ich
+mußte mir ordentlich Mut machen, eh ich wieder hineinging. Und wie ich
+ihr leise, leise die Haare vom Gesicht nahm, sah ich, daß sie tot war,
+denn so still liegt ja kein lebendiger Mensch.«
+
+»Trug sie die Haare immer offen?« erkundigte sich =Dr.= Zeunemann.
+
+»O nein,« antwortete Ursula, mit einem kurzen, geringschätzigen
+Lächeln. »Ich frisierte sie jeden Morgen sehr schön und ordentlich, da
+fehlte gar nichts, aber in der letzten Nacht hatte es sich aufgelöst bei
+dem Herumwälzen wegen der Schmerzen, und weil sie so müde war, hatte ich
+sie nicht damit plagen wollen.«
+
+»Wir wissen durch den Arzt, den das Mädchen sofort rufen ließ,« sagte
+der Vorsitzende, »daß der Tod eine bis zwei Stunden vorher eingetreten
+war, und zwar, wie der Arzt damals annahm, durch Herzlähmung. Der
+Zustand der Kranken hatte durchaus mit einer solchen rechnen lassen,
+weshalb von keiner Seite irgendein Argwohn geschöpft wurde.«
+
+»Zählen Sie, Fräulein Züger, noch einmal im Zusammenhang auf, was für
+Personen im Laufe des Tages in der Wohnung gewesen waren!«
+
+»In der Wohnung war überhaupt niemand,« sagte Ursula mit nachdrücklicher
+Mißbilligung. »Angeläutet hatte zuerst in der Frühe der Kaminfeger, den
+ich wieder fortschickte. Er kam dann noch einmal wieder, der
+zudringliche Mensch, und da sagte ich ihm, in einem ordentlichen
+Haushalt ließe man um zehn Uhr keinen Herd mehr putzen, er solle sich
+das merken. Nachher war der Postbote da; der warf gewöhnlich die Briefe
+nur herein, aber diesmal läutete er an, weil er einen ungenügend
+frankierten Brief hatte.«
+
+»Was für ein Brief war das?« fragte der Vorsitzende hastig.
+
+»Der Brief war für mich,« antwortete Ursula schnippisch triumphierend,
+»von einer Freundin, die eine Stelle in Frankreich angenommen hatte.«
+
+»Und weiter?« fragte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Danach läutete noch einmal die Gemüsefrau, der ich aber nichts abnahm,
+weil der Spinat letztes Mal bitter gewesen war, und am Mittag der
+Slowak. Sonst war niemand da, und in der Wohnung ist überhaupt niemand
+gewesen.«
+
+Der Staatsanwalt bat ums Wort.
+
+»Ich möchte bemerken, daß die Wohnung doch nicht so festungsmäßig
+verwahrt war, wie das gute Mädchen es darstellen möchte. Sie hat selbst
+erzählt, daß sie, als sie dem sogenannten Slowaken die Tür aufgemacht
+hatte, von Frau Swieter durch die Klingel abgerufen wurde. Er hätte also
+die Gelegenheit benutzen und eindringen können.«
+
+Ursula drehte sich ganz nach dem großen, mageren Angreifer um und
+stemmte den Arm in die Seite, während sie ihn mit sprühenden Augen von
+oben bis unten maß.
+
+»Hätte er das?« fragte sie höhnend. »Ja, wenn ich ihm nicht die Tür vor
+der Nase zugeworfen hätte. Ich schlug die Tür fest zu, ehe ich zu meiner
+Gnädigen hineinlief, und sie war auch zu, als ich wiederkam. Den
+Slowaken hörte ich noch auf der untersten Treppe. Ich hatte ihm nämlich
+einen Teller Suppe gegeben und wollte den leeren Teller wieder
+hereinnehmen, aber er hatte sie nicht angerührt. Um Suppe ist es diesen
+Vagabunden ja gewöhnlich gar nicht zu tun. Übrigens war es ein ganz
+harmloser Mensch und sah auch gar nicht so zerrissen und schmutzig aus
+wie die richtigen Strolche.«
+
+»Glauben Sie bestimmt,« fragte der Vorsitzende, »daß Sie den
+Angeklagten in irgendeiner Verkleidung erkannt hätten?«
+
+Ursula brauchte einige Zeit, um den Sinn dieser Frage zu fassen.
+
+»Unseren Herrn Doktor?« fragte sie endlich mit immer größer werdenden
+Augen. »Meinen Sie, ob unser Herr Doktor der Slowak gewesen sein könnte?
+Ja, wissen Sie, Herr Präsident, da könnten Sie mich ebensogut fragen, ob
+Sie unser Herr Doktor sein könnten! Unser Herr Doktor! Und der hätte
+nicht mit den Augen gezwinkert und gesagt: 'Ursula, kennen Sie mich
+nicht, dumme Person?' Überhaupt! Ja, so etwas meinen Sie, Herr
+Präsident, weil Sie die Verhältnisse nicht kennen!«
+
+=Dr.= Zeunemann schnitt die immer schneller strömende Rede durch
+eine verzweifelte Handbewegung und einen Seufzer ab. »Bleiben wir bei
+der Sache,« sagte er. »Sie halten es für unmöglich, daß jemand in die
+Wohnung eindringen konnte?«
+
+»Ausgeschlossen, einfach ausgeschlossen,« antwortete Ursula.
+
+»Außer wenn Frau Swieter selbst es wollte,« sagte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Ja, die wird gerade Räuber und Mörder eingelassen haben,« sagte Ursula
+mit zorniger Verachtung.
+
+»Offensichtliche Räuber und Mörder nicht,« rief der Staatsanwalt
+dazwischen, »vielleicht aber ihren einstigen Gatten, für den sie leider
+noch immer, wie das Testament beweist, ein liebevolles Interesse hatte.«
+
+»Und sie wird gerade nach siebzehn Jahren,« sagte Ursula fast schreiend,
+»am Läuten erkannt haben, daß er es war.«
+
+»Wenn sie ihn erwartete, mein gutes Kind, war das nicht nötig,« sagte
+der Staatsanwalt mit dem beißenden Tone eines schadenfrohen Teufels.
+
+=Dr.= Zeunemann machte eine warnende Handbewegung gegen Ursula, die
+aussah, als ob sie ihrem Gegner an die Kehle springen wollte. »Ich
+glaube,« sagte er, die Stimme erhebend, »wir fangen an, uns im Kreise
+zu drehen. Der Herr Staatsanwalt geht davon aus, daß eine Verständigung
+irgendwelcher Art zwischen den geschiedenen Eheleuten bestanden haben
+könnte, was aber noch ganz unbewiesen ist, ja wovon eher die
+Unmöglichkeit nachgewiesen ist. Nach meiner Meinung hat die Zeugin
+nichts Sachdienliches mehr vorzubringen, und wir könnten zur Vernehmung
+des Hausmeisters übergehen, wenn die Herren Kollegen und die Herren
+Geschworenen einverstanden sind.«
+
+Den Kopf steif im Nacken und ein verächtliches Lächeln auf den Lippen,
+das dem angekündigten Hausmeister galt, begab sich Ursula auf ihren
+Platz neben Fräulein Schwertfeger.
+
+Der Erwartete glich insofern einem Mehlwurm durchaus nicht, als er rot
+im Gesicht mit einem bläulichen Anflug über der Nase war. Er schlenderte
+in der bequemen Haltung eines Menschen herein, der dem Leben zu sehr als
+Liebhaber gegenübersteht, um jemals Eile zu haben, sah sich gemächlich
+um und unterzog zuletzt den langen, grünen Tisch, vor dem er zu stehen
+hatte, samt allen darauf befindlichen Gegenständen einer beiläufigen
+Untersuchung. Der Vorsitzende vereidigte ihn und forderte ihn auf, die
+an ihn gerichteten Fragen nicht nur der Wahrheit gemäß, sondern auch
+ohne Zweideutigkeit und Weitschweifigkeit zu beantworten.
+
+»I warum nicht,« sagte der Hausmeister, »da liegt ja gar nichts dran.«
+
+»Wo pflegen Sie sich tagsüber aufzuhalten?« lautete die erste Frage.
+
+»Ja,« sagte der Hausmeister lachend, »da läßt sich freilich nicht so
+eins, zwei, drei darauf antworten. Das ist nämlich je nachdem, was ich
+gerade zu tun habe. Aber wenn ich sage, daß ich entweder in einem von
+meinen drei Häusern bin, weil in einer Wohnung etwas zu richten ist,
+oder weil eine Partei mit mir dies oder das reden möchte, oder denn im
+Keller bei der Heizung oder im Garten, wo ich so auf und ab spaziere, so
+wird das schon ungefähr stimmen. In meiner eigenen Wohnung bin ich am
+wenigsten und habe da ja auch nichts zu tun, denn für die Familie
+interessiere ich mich nicht so wie für den Beruf.«
+
+»Sind die Häuser untertags abgeschlossen?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Gott bewahre,« sagte der Hausmeister, »da kann jedermann aus und ein
+gehen, wie er will. Nichts Unrechtes kommt ja bei uns sowieso nicht vor,
+und für alle Fälle ist vor jeder Wohnung eine besondere Wohnungstür.
+Nein, von Abschließen ist bei uns keine Rede. Des Morgens um sechs
+schließe ich alle Türen auf, vielmehr meine Frau tut das, und abends um
+neun Uhr schließe ich zu, und bei der Methode haben wir uns immer gut
+gestanden.«
+
+»Aber die Keller sind doch abgeschlossen?« fragte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Ja, sehen Sie, Herr Präsident,« antwortete der Hausmeister, »das läßt
+sich wieder nicht so eins, zwei, drei beantworten. Bei Nacht sollten sie
+wohl eigentlich geschlossen sein, denn am Tage ginge das ja gar nicht
+an, schon wegen dem Heizen, und wo die Fräuleins so oft Kohlen und
+Kartoffeln und dergleichen heraufholen. Das würde ja ein ewiges Auf-
+und Zuschließen. Es geht sowieso den ganzen Tag: 'Herr Hausmeister, ach
+helfen Sie mir doch!' 'Herr Hausmeister, bitte, nur einen Augenblick.'
+Ich sollte immer an hundert Orten zugleich sein. Nein, es ist für alle
+Teile am besten, wenn die Keller ein für allemal offen sind, und daran
+hat auch noch niemand etwas auszusetzen gehabt.«
+
+»Sie sollen aber selbst einmal,« erinnerte der Vorsitzende, »einen Mann
+ertappt haben, der sich im Keller eingeschlichen hatte.«
+
+»So,« sagte der Hausmeister nachdenkend. »Ach so, das hat wohl die
+Urschel erzählt?« rief er nach einer Pause belustigt aus. »Ja, vor dem
+brauchte niemand Angst zu haben, der sah so grün im Gesicht aus, als ob
+er die ganze Nacht unreife Äpfel gegessen hätte. Das war so ein
+Obdachloser, oder es kann ihn auch eins von den Mädels versteckt haben,
+denn die Jungfern haben doch alle ihre Liebhaber, wenn sie sich auch
+noch so zimperlich anstellen.«
+
+=Dr.= Zeunemann machte ein ernstes Gesicht und fragte streng:
+
+»Entsinnen Sie sich, wer am 2. Oktober des vergangenen Jahres aus und
+ein gegangen ist?«
+
+»Du lieber Himmel,« seufzte der Hausmeister, »wie soll ich das behalten,
+was bei uns täglich ein und aus geht! Stellen Sie sich vor, Herr
+Präsident, drei Häuser mit achtzehn Parteien, wobei ich mich noch gar
+nicht mal gerechnet habe; in dem einen sind vier Parteien, in den beiden
+anderen je sieben. Und wie geht es vollends Anfang Oktober zu, wo die
+eine Partei auszieht und die andere einzieht, und die Handwerker, die
+das mit sich bringt!«
+
+»Gerade weil es besondere Tage sind,« beharrte der Präsident, »haben Sie
+sie doch vielleicht im Gedächtnis behalten. Auch der plötzliche Tod der
+Frau Swieter, die das am meisten zurückliegende Haus bewohnte, hat den
+Tag unter den anderen hervorgehoben. Als später der Ihnen bekannte
+Verdacht entstand, haben Sie doch sicher in Ihrem Gedächtnis
+nachgeforscht, wen Sie an jenem Tag aus und ein gehen gesehen haben.«
+
+»Ich will tun, was ich kann, um Ihnen gefällig zu sein, Herr
+Präsident,« sagte der Hausmeister. »Der Kaminkehrer, der in der Frühe da
+war, wird Sie ja wohl nicht interessieren, und der Postbote ebensowenig,
+und die Handwerker ging das Haus von der Frau Swieter nichts an, weil
+nämlich in dem Hause kein Umzug stattgefunden hatte. An Bettlern hat es
+auch nicht gefehlt, und was das betrifft, so war die Frau Swieter selbst
+schuld daran. Die anderen Parteien beklagten sich über sie, daß sie die
+Bettler herzöge, weil sie ihnen immer etwas gäbe. Übrigens, mir hat sie
+auch immer jede Kleinigkeit ordentlich bezahlt, sie gehörte nicht zu
+denen, die meinen, unsereiner wäre dazu da, allen alles umsonst zu
+machen. Also konnte sie es mit den Bettlern schließlich auch halten, wie
+sie wollte. Sie sind ja auch einmal da und müssen in Gottes Namen zu
+ihrer Sache kommen.«
+
+»Denken Sie gut nach,« sagte der Vorsitzende, »ob Sie zwischen vier und
+sechs Uhr nachmittags einen Bettler gesehen haben, einen, der Ihnen
+unbekannt war, der Ihnen auffiel!«
+
+»Zwischen vier und sechs Uhr?« sagte der Hausmeister tiefsinnig. »Da
+schickte ich gerade meinen Jungen um eine Maß Bier in die Wirtschaft an
+der Ecke und wartete an der Gartentür, bis er wiederkam, und dann
+stellte ich die Maß auf die Treppe, um ab und zu einen Schluck zu
+nehmen. Indem kam gerade die Frau Hofrat im Parterre vom zweiten Hause
+und schimpfte, was sie wußte, daß ich nicht geheizt hatte, und ich
+sagte: 'Aber Frau Hofrat, bei dem schönen Wetter! Solches Wetter haben
+wir ja den ganzen Sommer über nicht gehabt, und das bißchen Wind wird
+Ihnen doch nichts machen, es ist ja Südwind,' und so weiter, bis sie es
+denn wahrscheinlich einsah und wieder fortging. Ja, und dann kam einer,
+der hatte wohl etwas gebracht, einen Hut oder Mantille oder dergleichen,
+denn er hatte eine Schachtel, wahrscheinlich für die Pension, da war
+damals so eine Modesüchtige; und dann kam der Ulkige. Der hatte mich
+erst gar nicht gesehen und wollte an mir vorbeilaufen, als ob ich ein
+Laternenpfahl wäre, und ich wich ihm absichtlich nicht aus, weil ich
+dachte, ich wollte doch sehen, ob er gegen mich anrennte. Da blieb er
+plötzlich dicht vor mir stehen und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer
+Gnaden?' und hielt mir eine Zigarette hin. Ich mußte lachen und zog
+meine Schwedischen heraus und machte ihm Feuer, und zum Dank nickte er
+ein bißchen und faßte an die Mütze. Ein Bettler war das aber nicht, er
+hatte allerlei zu verkaufen, Löffel und Quirle, die trug er an einem
+Strick an der Hand. Wie er eben aus der Türe gegangen war, warf er die
+Zigarette in das Fliedergebüsch an der Pforte, ob sie nun nicht brannte
+oder sonst nicht schmeckte, das weiß ich ja nicht, und ich wollte sie
+erst auflesen, aber dann dachte ich: Ach laß sie liegen, eine feine wird
+es doch nicht sein.«
+
+»Können Sie eine genaue, zuverlässige Beschreibung dieses Mannes geben?«
+fragte der Vorsitzende.
+
+»Nein, Herr Präsident,« sagte der Hausmeister, indem er lächelnd den
+Kopf schüttelte, als wollte er sagen, um in die Falle zu gehen, dazu
+wäre er doch zu schlau. »So gern ich Ihnen den Gefallen täte, damit will
+ich nichts zu tun haben. Ich glaube, daß er ziemlich lange, schwarze
+Haare hatte, und daß er sozusagen träumerisch dahergeschlendert kam. Und
+wenn Sie ihn da vor mich hinstellen würden, würde ich ihn ja auch wohl
+wiedererkennen. Aber ob nun sein Kittel grau oder grün oder braun war,
+und was er für Stiefel anhatte, und ob er Löcher in den Strümpfen hatte,
+und was dergleichen mehr ist, das könnte ich wahrhaftig nicht sagen.«
+
+»Haben Sie gar nicht darüber nachgedacht, was für ein Mann das sein
+könnte?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Na, das sah ich ja, Herr Präsident, daß er Löffel verkaufte,« sagte der
+Hausmeister, »dabei war nichts nachzudenken. Das nähme meine Zeit doch
+viel zu sehr in Anspruch, wenn ich mir über jeden Hausierer Gedanken
+machen wollte. Sie müssen sich nur vorstellen, was für Leute bei uns aus
+und ein gehen! Da ist zum Beispiel im dritten Hause im zweiten Stock der
+Herr Rübsamen, Komponist und Musikschriftsteller, ein schrecklich
+nervöser Mensch, und wenn ich nicht so viel Geduld mit ihm hätte, wäre
+er längst ausgezogen. Sie müssen nur sehen, was für Leute zu dem
+kommen, da stößt man sich nachher an nichts mehr. Herren und Damen
+kommen, die ihm was vorsingen oder vorspielen, die reine Zigeunerbande,
+und nachher sind es Künstler und feine Leute gewesen. An dem Tage ist
+übrigens auch der Klavierstimmer bei ihm gewesen, den hat er
+weggeschickt, weil er von der Ursula, dem Mädel, gewußt hat, daß ihre
+Gnädige eine schlechte Nacht gehabt hatte und schlafen sollte. Gutmütig
+ist er ja, der Herr Rübsamen. Der Klavierstimmer ist aber der mit der
+Zigarette nicht gewesen. Denn der hat ein rotes Gesicht und blonde
+Haare, den kenne ich, weil er alle Vierteljahre zum Herrn Rübsamen
+kommt.«
+
+»Der Mann ist also aus dem dritten Hause gekommen,« fragte der
+Präsident.
+
+»Aus dem zweiten könnte er auch gekommen sein, wo die Pension drin ist,«
+sagte der Hausmeister, »ich sah ihn erst, als er an das vordere
+herankam, wo ich stand.«
+
+»Ich bitte den Hausmeister zu fragen, ob der Angeklagte dem Mann mit der
+Zigarette ähnlich sieht,« sagte der Staatsanwalt, indem er mit
+imperatorischer Gebärde den Arm ausstreckte.
+
+»Wollen Sie den Angeklagten daraufhin ansehen!« forderte =Dr.=
+Zeunemann den Hausmeister auf.
+
+Der Hausmeister drehte sich langsam um und betrachtete Deruga, den die
+Untersuchung zu belustigen schien, aufmerksam und erstaunt.
+
+»Da bin ich überfragt, Herr Präsident,« sagte er endlich. »Ich möchte
+schwören, daß ich den Herrn da noch nie gesehen habe.«
+
+»Sie müssen sich ihn mit schwarzer Perücke und mit falschem Bart
+vorstellen,« sagte der Vorsitzende.
+
+»Ausgeschlossen,« rief der Hausmeister mit ungewöhnlicher
+Entschiedenheit. »Wenn ich mit solchen Vorstellungen anfange, kenne ich
+schließlich keinen mehr vom anderen, und hernach soll ich für das
+aufkommen, was ich mir vorgestellt habe, und habe unversehens einen
+Meineid auf dem Halse. Denn sehen Sie, Herr Präsident, wenn man anfängt
+nachzudenken, wie einer ausgesehen hat, und ihn mit dem und jenem
+vergleicht, so hält man zuletzt alles für möglich, und am Ende ist es
+doch nur die pure Einbildung gewesen.«
+
+»Sie haben also«, sagte der Vorsitzende, »kein genaues Erinnerungsbild
+von dem Manne, der Sie um Feuer bat. Besinnen Sie sich noch auf andere
+Personen, die am 2. Oktober zwischen vier und sechs Uhr in Ihren Häusern
+verkehrten?«
+
+»Ja,« antwortete der Hausmeister. »Ich hatte eben meinem Buben
+aufgetragen, den Maßkrug wieder in die Wirtschaft zu tragen, und sah ihm
+nach, wie er über die Straße ging, da rief mich einer von rückwärts an
+und fragte nach der nächsten Haltestelle für Autodroschken. Der war so
+in Eile, daß er kaum abwartete, bis ich ihm ordentlich Bescheid gegeben
+hatte, und gab mir einen Puff in die Seite, als er an mir vorbeilief.
+Gleich darauf rief mich meine Frau, weil das Leitungsrohr in der Pension
+im zweiten Hause wieder einmal verstopft war -- da stecken sie nämlich
+immer ihre Knochen und ausgekämmten Haare hinein, als ob der Ausguß die
+Drecktonne wäre -- na, und als ich da nachgesehen hatte und wieder in den
+Garten kam, sah ich gerade den Doktor ins dritte Haus hineingehen wegen
+der Frau Swieter, die unterdessen gestorben war.«
+
+»Was für einen Eindruck machte der Herr auf Sie?« fragte der
+Vorsitzende, »der in so großer Eile war?«
+
+»Das weiß ich noch,« sagte der Hausmeister, »daß er einen langen,
+breiten Mantel trug. Denn ich dachte bei mir, in der jetzigen Mode
+tragen die Weiber Männerröcke und die Männer Weiberzeug. Von hinten hat
+er wie ein eingemummtes Frauenzimmer ausgesehen. Sonst ist es aber ein
+feiner Herr gewesen.«
+
+Der Staatsanwalt bat, noch einmal auf den Mann mit der Zigarette
+zurückkommen zu dürfen. Er wünsche zu wissen, ob er reines Deutsch oder
+wie ein Ausländer gesprochen habe.
+
+»Ja, wissen Sie«, sagte der Hausmeister, »geradeso wie unsereiner reden
+ja die wenigsten. Ich habe schon oft gedacht, was redet der für ein
+Kauderwelsch daher? und nachher war es doch ein Deutscher und nichts
+weiter. 'Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?'« Er wiederholte sich den Satz,
+wie um durch die Worte an Klang und Tonfall erinnert zu werden. »Eigen
+hat es ja geklungen, aber ganz lieb, ganz spaßig, und gutes Deutsch ist
+es doch auch gewesen. Der mit dem Auto dagegen, der hat so geschnauft,
+daß ich ihn kaum verstehen konnte, und mich hat er, glaub' ich, auch
+nicht gut verstanden, wenigstens lief er zuerst nach der falschen Seite,
+obwohl ich es ihm klar auseinandergesetzt hatte. Es kann aber natürlich
+auch wegen der großen Eile gewesen sein.«
+
+»Dieser Herr,« sagte der Vorsitzende, »ist wahrscheinlich derselbe, der
+in der Pension nach Zimmern fragte und abschlägig beschieden werden
+mußte. Es ist keine Spur von ihm aufzutreiben gewesen, und wir nehmen
+an, daß er sich nur vorübergehend hier aufgehalten hat.«
+
+ * * * * *
+
+Beim Schluß dieser Sitzung waren alle Beteiligten mit Ausnahme von
+Deruga abgespannt, gereizt und aufgeregt. Herrn von Wydenbrucks Gedanken
+weilten bei dem Traume der verstorbenen Frau, den Ursula geschildert
+hatte, und er sprach sich darüber gegen =Dr.= Bernburger aus, als
+er neben ihm durch die breiten Gänge des Justizgebäudes ging.
+
+»Das Kind,« sagte er, »das sie besuchte, war natürlich ein Bild für den
+Vater, das Schaukeln deutet auf sinnliche Regungen. Es ist zweifellos,
+daß sie ihn erwartete.«
+
+=Dr.= Bernburger, der sehr blaß aussah, hatte sich eben eine
+Zigarre angezündet und begann sich etwas zu erholen.
+
+»Das ist wahr,« sagte er hastig. »Die Schlüsse von zwei
+entgegengesetzten Richtungen treffen sich wie die Bohrer in einem
+Tunnel. Er hatte sie um Geld gebeten, das hatte ihre Erinnerungen
+belebt. Sie erwartete ihn in einer verliebten oder sentimentalen
+Stimmung. Er kam in der Verkleidung eines Hausierers, der hölzerne
+Löffel verkauft. Entweder ließ ihn die ins Geheimnis gezogene Ursula
+ein, oder er wußte ihre Aufmerksamkeit zu hintergehen, oder Frau Swieter
+selbst öffnete ihm. Wäre mir das Ergebnis der Voruntersuchung bekannt
+und hätte ich Fragen stellen können, so hätte ich den Tatbestand auf
+der Stelle herausgebracht. Ich lag auf der Folter, während dieser
+schwerfällige Apparat arbeitete.« =Dr.= Bernburger trocknete seine
+Hand mit dem Taschentuch ab, wobei seine dünnen Finger zitterten.
+
+»Sie glauben also,« fragte =Dr.= von Wydenbruck, »daß der Wunsch
+des Wiedersehens von Deruga ausging und seinen Grund in der Geldsorge
+hatte?«
+
+»Das halte ich für wahrscheinlich,« sagte =Dr.= Bernburger.
+»Jedenfalls hat der Slowak sie getötet, und der Slowak war Deruga.«
+
+»Meiner Ansicht nach,« sagte =Dr.= von Wydenbruck, »lag die
+magnetische Anziehung zugrunde, die Hysterische verhängnisvoll
+zueinander zieht. Wie sich auch der Wunsch eingekleidet haben mag, dies
+muß der Kern gewesen sein.«
+
+»Ob es möglich wäre, daß die weggeworfene Zigarette noch in dem Gebüsche
+läge?« sagte Bernburger, seine Gedanken verfolgend. »Aber wieviel Schnee
+und Regen ist schon darauf gefallen.«
+
+»Warum könnte es nicht auch der mit dem Auto gewesen sein?« wandte
+=Dr.= von Wydenbruck ein.
+
+»Er zeigte unbefangen, daß er es eilig hatte. Der andere verlangte
+Feuer, um unbefangen zu erscheinen, und warf die Zigarette gleich darauf
+fort, weil er gar nicht rauchen wollte. Übrigens haben Raucher meistens
+auch Zündhölzer bei sich. Außerdem fühlte ich es, sowie das Mädchen den
+Slowaken anführte. Ich sah es wie mit dem zweiten Gesicht.«
+
+Herr von Wydenbruck betrachtete seinen Freund mit einem neuen Interesse
+von der Seite. »Das wäre allerdings ausschlaggebend,« sagte er und
+erkundigte sich, ob sein Freund schon öfter solche Erscheinungen an sich
+beobachtet hätte.
+
+In demselben Gange, den die beiden eben durchschritten, stand Deruga mit
+dem Justizrat Fein in einer Fensternische im Gespräch, beiläufig die
+Vorübergehenden beobachtend.
+
+»Wenn ich der Präsident wäre,« sagte Deruga, »würde ich einen geladenen
+Revolver mit in die Sitzung nehmen und den Zeugen vors Gesicht halten,
+und wenn sie sich dann noch nicht entschlössen, vernünftig zu antworten,
+schösse ich sie nieder. Der Mann hat eine unbegreifliche Geduld.«
+
+In diesem Augenblick sah er =Dr.= Bernburger mit seinem Begleiter
+herankommen, nahm rasch eine Zigarette aus seinem Etui, trat ein paar
+Schritte vor und sagte zu =Dr.= Bernburger: »Haben Sie Feuer, Euer
+Gnaden?« Dann, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, stellte er
+sich wieder neben den Justizrat, indem er ihm aus ernstem Gesicht
+zublinzelte.
+
+=Dr.= Bernburger war vor Erregung bleich geworden, während er
+Deruga schweigend die brennende Zigarre hinhielt. Es ist klar, dachte
+er, daß er sich über mich lustig macht. Über wieviel Scharfblick,
+Geistesgegenwart, Frechheit und Kaltblütigkeit verfügt dieser Mensch; es
+ist ihm alles zuzutrauen. Allerdings, wenn er nicht schuldig wäre,
+zeugte sein Benehmen nur von der Sicherheit des Unbeteiligten. Aber die
+seine war die Sicherheit des gewiegten zynischen Täters; es war die
+Herausforderung eines geistvollen Verbrechers, der sich für
+unüberführbar hält.
+
+=Dr.= Bernburger war zu erregt und zu vertieft, um seine Gedanken
+laut zu äußern, er ging hastig, seinem Freund um einige Schritte voraus.
+
+»Er hat Ihre Gedanken erraten,« sagte dieser. »Das ist wieder ein
+Symptom von Hysterie, ebenso wie die Kaltblütigkeit. Man wird doch
+zuletzt einsehen müssen, daß es sich um etwas Krankhaftes, um eine Art
+Lustmord handelt.«
+
+»Aber die Frau, die er tötete, war zweiundfünfzig Jahre alt,« sagte
+=Dr.= Bernburger ärgerlich.
+
+»Das ist eben die Perversität,« sagte =Dr.= von Wydenbruck.
+»Vielleicht verschmolz sie ihm auch dadurch mit dem Erinnerungsbild
+seiner Mutter, wodurch der aus Leidenschaft und Vernichtungslust
+zusammengesetzte Hang verhängnisvoll verstärkt wurde.«
+
+Unterdessen machte der Justizrat seinem Klienten Vorwürfe. »Sie sind
+wirklich ein Topf voll Mäuse,« sagte er. »Ich müßte Ihnen ein Schloß
+vor den Mund hängen. Was war nun das wieder für eine Eruption?«
+
+»Ach,« sagte Deruga, »warum sollte ich den beiden jungen Haifischen
+nicht einen Knochen zwischen die schiefen Zähne werfen? Sahen Sie nicht,
+wie ihm die Augen aus dem Kopfe quollen vor Gier? Es tut mir nur leid,
+daß ich nicht zusehen kann, wie sie ihn abnagen.«
+
+»Mit Haifischen ist nicht zu spaßen,« sagte der Justizrat, »und obwohl
+Sie ein nichtsnutziger Italiener sind, möchte ich doch nicht gerade, daß
+er Sie zwischen die Zähne bekäme.«
+
+
+
+
+=VII.=
+
+
+Die Baronin hatte kaum am Arme ihres Mannes den Saal verlassen, als ein
+Gerichtsdiener ihr in den Weg trat und sie im Namen des
+Oberlandesgerichtsrats Zeunemann bat, ihn zu einer kurzen Unterredung in
+seinem Zimmer aufzusuchen. Er sei bereit, setzte der Gerichtsdiener
+hinzu, sie sofort hinzuführen.
+
+»Du begleitest mich doch,« sagte sie, zu ihrem Manne hingewendet, der
+sich willig anschloß. Er müsse zwar gestehen, sagte er, daß er Hunger
+habe; aber die Herren vom Gericht wären sicher im gleichen Fall, und so
+würde es nicht lange dauern.
+
+Der Oberlandesgerichtsrat, sagte sie in französischer Sprache, wäre ein
+ganz angenehmer Mann, etwas kleinbürgerlich eitel, aber gefällig und im
+Grunde, glaubte sie, ganz auf ihrer Seite.
+
+=Dr.= Zeunemann hatte sich bereits umgekleidet und knabberte an
+einem Stückchen Schokolade zur Stärkung. »Ich würde die Herrschaften
+nicht in diesem Augenblick zurückgehalten haben,« sagte er, ihnen Stühle
+anbietend, »wenn es nicht in ihrem eigenen Interesse wäre; mein Wunsch
+ist, Ihnen einen Schreck oder eine unangenehme Überraschung, wenn nicht
+ganz zu ersparen, so doch zu mildern.«
+
+»Einen Schreck, Herr Oberlandesgerichtsrat,« rief die Baronin aus,
+»jetzt, wo meine Nerven durch den gräßlichen Prozeß ohnehin erregt sind!
+Nein, so grausam können Sie nicht sein!«
+
+»Ich hoffe, das Unangenehme dadurch abzuschwächen,« sagte =Dr.=
+Zeunemann, »daß ich Sie persönlich vorbereite. Ich erhielt heute früh
+einen Brief Ihres Fräuleins Tochter, in dem sie schreibt, sie habe aus
+der Zeitung von dem Prozeß erfahren. Sie sei außer sich, protestiere
+dagegen und verlange, daß ihr Protest veröffentlicht werde.«
+
+»Aber das werden Sie doch nicht tun, Herr Oberlandesgerichtsrat,« rief
+die Baronin, der das Blut ins Gesicht stieg. »Sie mag unter der Hand
+protestieren, so viel sie will, aber das geht doch die Öffentlichkeit
+nichts an. Als ob der Prozeß nicht schon Skandal genug wäre!«
+
+»Vielleicht ist Ihr Fräulein Tochter aus dem Grunde dagegen gewesen,«
+meinte =Dr.= Zeunemann, »daß Sie sich damit befassen?«
+
+»Aber, lieber Oberlandesgerichtsrat,« sagte die Baronin, »Sie werden
+nicht erwarten, daß ich auf die törichten Einwände eines jungen
+Mädchens, eines Kindes, achte, wenn es sich um so wichtige Entschlüsse
+handelt. Würden Sie das tun?«
+
+»Jedenfalls,« sagte =Dr.= Zeunemann, »würde ich an Ihrer Stelle
+jetzt zu verhindern suchen, daß Ihr Fräulein Tochter irgend etwas in
+Szene setzt. Sie scheint in großer Entrüstung und Erregung zu sein, und
+zwar zum Teil deshalb, weil Sie, gnädige Frau, den Prozeß in ihrem
+Interesse angeregt zu haben behaupten.«
+
+»O, die Undankbarkeit der Kinder,« seufzte die Baronin. »Hätte ich all
+dies Entsetzliche und Skandalöse auf mich genommen, wenn ich es nicht
+für meine Pflicht gehalten hätte, meiner Tochter die materiellen
+Vorteile zu erkämpfen, die ihr gebühren? Warum sagst du gar nichts,
+Botho?« wendete sie sich an ihren Mann. »Ich hoffe, du wirst deine
+Autorität gegen Mingo in Anwendung bringen.«
+
+»Ich werde versuchen, sie von auffallenden Schritten zurückzuhalten,«
+sagte der Baron. »Übrigens weißt du ja, liebes Kind, daß Mingo nicht
+leicht zu beeinflussen ist.«
+
+»Sehr leicht sogar,« entgegnete die Baronin, ihre Nasenflügel dehnend,
+»man muß nur verstehen, ihr zu imponieren.«
+
+»Dazu ist sie wohl zu sehr an uns gewöhnt,« entgegnete der Baron ruhig,
+»und zu sehr von uns verwöhnt.«
+
+»Von dir!« berichtigte seine Frau. »Gottlob, daß sie zu weit entfernt
+ist, um uns wesentliche Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
+
+»Der Brief, den ich heute erhielt,« sagte =Dr.= Zeunemann, »trägt
+den Poststempel Ostende.«
+
+»Ostende!« rief die Baronin, indem sie von ihrem Stuhl aufstand. »Sie
+ist aus England abgereist, ohne uns um Erlaubnis zu fragen! Das darfst
+du nicht hingehen lassen, Botho!«
+
+»Sie hat die Absicht hierherzukommen,« fuhr =Dr.= Zeunemann fort.
+
+»Ich danke Ihnen, Herr Oberlandesgerichtsrat,« sagte der Baron, sich
+gleichfalls erhebend, »daß Sie uns in so rücksichtsvoller Weise gewarnt
+haben. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht eine Minute länger in
+Anspruch nehmen!«
+
+Auch die Baronin bedankte sich mit liebenswürdigen Worten und knüpfte
+die Bitte daran, von den barocken Einfällen ihrer Tochter nichts bekannt
+werden zu lassen.
+
+In dem großen Vorsaal zu ebener Erde drängte sich das Publikum noch, so
+daß das Ehepaar nicht so schnell vorwärts kommen konnte, wie es
+wünschte.
+
+Halb ärgerlich auf ihren Mann, der ihr nicht so oder so die Bahn frei
+machte, halb beleidigt durch die Menschen, die nicht von selbst vor ihr
+zurückwichen, stand die Baronin still, als plötzlich etwas sie bewog,
+den Blick zur Seite zu wenden, und sie ganz in ihrer Nähe das Gesicht
+eines Mannes sah, der sie, wie es ihr schien, mit zudringlichem Spott
+betrachtete. Indem sie sich zornig abwendete,[TN1] sah sie eine
+auffallende Nadel in seiner Krawatte, und es wurde ihr mit einem Male
+klar, daß der Mann Deruga war.
+
+Ein Gefühl von Schwäche und Übelkeit überkam sie. »Warum gehen wir nicht
+weiter?« sagte sie heftig zu ihrem Manne, ihn am Arm vorwärts drängend.
+Er bemerkte ihre Gereiztheit, verdoppelte seine Anstrengungen, sich
+einen Weg durch die Menge zu bahnen, und brachte sie in wenigen Minuten
+an das wartende Auto. Mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung warf sie
+sich in die Ecke des Rücksitzes.
+
+»Hast du Deruga gesehen,« sagte sie zu ihrem Manne, der besorgt nach
+ihrem Befinden fragte, »und wie frech er mich anstarrte? Es ist
+unbegreiflich, daß man diesen Menschen frei herumgehen läßt. So
+schrecklich hatte ich ihn mir nicht vorgestellt.«
+
+»Du hast ihn doch heute nicht zum erstenmal gesehen!« sagte der Baron
+verwundert.
+
+»Ich erkenne niemand ohne Glas,« sagte sie gereizt, »das weißt du doch.
+Ich weiß nicht, wie ich mich von diesem Eindruck erholen soll. Ist es
+nicht unerhört, daß ich schutzlos der Rache dieses Mannes ausgesetzt
+bin? Ich werde mich keinen Augenblick mehr meines Lebens sicher fühlen.«
+
+Was das anbelangt, meinte der Baron, könne sie ruhig sein; ein
+Angeklagter oder Verdächtiger sei immer vorsichtig.
+
+»Und gewisse Menschen glauben immer das, was am bequemsten ist,« setzte
+sie hinzu.
+
+Sie werde selbst ruhiger denken, wenn sie gegessen hätte, prophezeite
+der Baron gutmütig. Sie sei überhungrig, übermüde und durch die
+schlechte Luft angegriffen. Dazu sei noch der durch Mingo verursachte
+Schreck gekommen. Sie solle sich am Nachmittag ausruhen, anstatt sich
+wieder stundenlang in den dumpfen Gerichtssaal einzusperren und sich
+widerwärtigen aufregenden Eindrücken auszusetzen. Er sei bereit,
+hinzugehen und ihr ausführlichen Bericht zu erstatten; ohnehin würden
+die nächsten Vernehmungen nichts Neues bringen.
+
+Dies verhielt sich in der Tat so. Frau von Liebenburg, die Inhaberin der
+Pension im zweiten Hause, erklärte vornehm ablehnend, daß sie nur feines
+Publikum habe, daß noch nie etwas mit ihren Pensionären vorgekommen sei,
+daß sie nichts den Prozeß Betreffendes aussagen könne. Sie könne
+natürlich nicht für jeden einstehen, der bei ihr nach Zimmern frage, und
+Buch führen könne sie auch nicht über jeden, der käme, aber sie weigere
+sich entschieden, irgend etwas über die bei ihr verkehrenden
+Herrschaften zu sagen. Sie bäte dringend, daß die bei ihr wohnenden
+feinen Herrschaften nicht mit Fragen und Nachforschungen inkommodiert
+würden, die zu keinem Ergebnis führen könnten.
+
+Nach dieser empfindlichen Dame erschien Frau Rübsamen, die Frau des
+Komponisten und Musikschriftstellers im zweiten Stock des dritten
+Hauses, und entschuldigte ihren Mann, der leidend sei und überhaupt viel
+zu nervös, um als Zeuge auftreten zu können, da schon die Vorstellung,
+in einen solchen Prozeß verflochten zu sein, ihn in krankhafte Erregung
+versetzt habe. Er habe nun einmal ein künstlerisches Temperament, man
+könne mit ihm nicht umgehen wie mit gewöhnlichen Menschen. Er hätte doch
+auch nichts nützen können, denn sein Gedächtnis sei schwach, und wenn er
+Anstrengungen mache, um sich zu besinnen, bekäme er nervöse Zustände.
+
+Sie selbst hingegen besänne sich noch wohl auf den 2. Oktober, weil die
+Ursula sie am Morgen gebeten habe, wenn möglich, ein wenig Rücksicht zu
+nehmen; Frau Swieter habe eine so schlechte Nacht gehabt und könne
+vielleicht am Tage ein wenig schlafen. Natürlich nähmen ihr Mann und sie
+gern Rücksicht. Frau Swieter wäre ja auch eine angenehme Partei gewesen,
+und ihr Mann habe immer gesagt, er könne sie nicht genug schätzen, weil
+sie nicht Klavier spielte und auch sonst kein Instrument ausübte; nur
+die Krankheit sei ihm peinlich gewesen. Die Vorstellung, einen
+Sterbenden oder Toten im Hause zu haben, sei nämlich ganz unerträglich
+für ihren Mann. Jetzt wohne eine Familie über ihnen, die turnten alle
+miteinander morgens und abends, und ihr Mann sage fast täglich, er würde
+noch so gern auf die arme Frau Swieter Rücksicht nehmen, wenn er nur die
+Turner nicht über dem Kopfe hätte. Sie hätten also das ihrige getan und
+den Klavierstimmer fortgeschickt. Es sei ohnehin die Zeit gewesen, wo
+ihr Mann Mittagsruhe zu halten pflegte.
+
+Eine Stunde später sei dann ein Herr dagewesen, sie hätte ihn aber
+eigentlich nicht für einen feinen Herrn angesehen. Der hätte gebeten,
+Herr Rübsamen möchte doch seine Stimme prüfen, ob es der Mühe wert sei,
+sie ausbilden zu lassen. Sie hätte den Herrn in den Salon geführt und es
+ihrem Manne gesagt; der hätte gefragt, was für ein Mann es wäre, worauf
+sie gesagt hätte, ihr käme er vor wie ein Kutscher oder höchstens ein
+Tapezierer. Solche Leute hörten nämlich oft, daß irgendein armer Teufel
+durch seine schöne Stimme sein Glück gemacht hätte, und wenn sie dann so
+recht brüllen könnten, daß die Wände zitterten, bildeten sie sich ein,
+sie wären für die Kunst geboren. Nun, daraufhin hätte ihr Mann gar
+keine Lust dazu gehabt, das Prüfen von Stimmen wäre ohnehin ein
+undankbares Geschäft. Wenn man es den Leuten ausreden wollte, würden sie
+oft recht grob, und für einen nervösen Mann wie Herrn Rübsamen sei das
+Gift.
+
+Ihre Aufgabe wäre es denn in solchen Fällen, so einen Menschen mit guter
+Manier herauszureden, und das hätte sie auch diesmal getan, indem sie
+gesagt hätte, ihr Mann sei nicht zu Hause, er möchte ein andermal
+wiederkommen. Sie müsse aber sagen, er hätte sich nie wieder blicken
+lassen.
+
+Ob sie den Herrn nach seinem Namen gefragt habe, erkundigte sich
+=Dr.= Zeunemann.
+
+»Nein, nein,« sagte Frau Rübsamen, »ich wollte mich möglichst wenig
+einlassen. Nun, nach ein paar Jahren heißt er vielleicht schon Mirabilio
+oder Birbanti.«
+
+»Das führt zu nichts,« sagte =Dr.= Zeunemann leise zu seinem
+Nachbarn, der hinter der Hand gähnte. »Ich wußte es vorher.«
+
+»Schluß, Schluß,« antwortete der Beisitzer ebenso.
+
+Ob um die Mittagszeit ein Bettler oder Hausierer bei ihr angeläutet
+habe, fragte =Dr.= Zeunemann noch, unterbrach aber die Zeugin, da
+sie eine Reihe von Möglichkeiten zu erörtern begann, mit der
+Aufforderung, nur das mitzuteilen, was sie bestimmt wisse. Etwas
+Bestimmtes in bezug darauf zu wissen, wies jedoch Frau Rübsamen mit
+Entschiedenheit von der Hand, worauf die Untersuchung über verdächtige
+Besucher des Hauses an dem verhängnisvollen Tage einstweilen
+abgeschlossen wurde.
+
+
+
+
+=VIII.=
+
+
+»Das war schön von Ihnen, daß Sie die Kaution für mich hinterlegt
+haben,« sagte Deruga zu Peter Hase, indem er ihm die Hand reichte. »Ganz
+wie Sie, Gentleman durch und durch. Ich bin Ihr ergebener Diener.«
+
+Ein Anflug von Röte färbte das blasse Gesicht des Schriftstellers.
+
+»Man hatte mir fest versprochen, daß mein Name nicht genannt werden
+sollte,« sagte er, die Augenbrauen zusammenziehend. »Ich verstehe nicht,
+wie man davon abgehen konnte.«
+
+Deruga lachte.
+
+»Ich habe Ihnen nur eine Falle gestellt, und Sie sind hineingegangen,«
+sagte er. »Also Sie sind es wirklich. Geben Sie zu, daß ich ein
+Menschenkenner bin! Wenn ich stillsitzen könnte wie ihr Deutschen, wäre
+ich vielleicht auch ein Dichter.«
+
+»Ein besserer als ich,« sagte Peter Hase ernsthaft. »Sie verstehen es
+jedenfalls besser, Ihr Leben zu dichten.«
+
+»Das fällt bei Ihnen wohl eher trocken aus,« meinte Deruga.
+»Gesellschaftslöwe, reiche Frau, Liebling des Publikums, Geheimrat, etwa
+noch der persönliche Adel. Etwas schematisch, aber doch ganz behaglich.
+Wie? Immer in einer so leicht parfümierten Atmosphäre.«
+
+»Ich möchte den Abend mit Ihnen zubringen,« sagte Peter Hase ablenkend.
+»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben?«
+
+»Das wäre Bett und Schlaf,« sagte Deruga. »Beides wundervoll, aber ich
+kann es immer haben, Sie dagegen vielleicht nur heute. Machen Sie mit,
+Justizrat?« wendete er sich an seinen Anwalt.
+
+Dieser sagte, er müsse sich nach seiner Familie umsehen, ein halbes
+Stündchen habe er aber noch Zeit. Er freue sich, sagte er, als sie in
+dem abgeseilten Raum einer Restauration beim Essen saßen, Peter Hase
+kennenzulernen. Er sei zwar nur ein einfältiger Fachmensch, habe keine
+Zeit für die schöne Literatur übrig, doch sei der Ruf von Hases Namen
+zu ihm gedrungen. In seiner Jugend habe er sich für einen Kenner und
+Feinschmecker in den Künsten gehalten, das sei aber wohl jugendliche
+Selbstüberhebung gewesen.
+
+»Das glaube ich auch,« sagte Deruga. »Ein feines Beefsteak, etwas
+blutig, am Rost gebraten, darauf verstehen Sie sich besser.«
+
+Der Justizrat lächelte gutmütig. »Nun ja,« sagte er, »das zu studieren
+hat man auch täglich Gelegenheit, ein gutes Buch ist selten. Und wissen
+Sie, wahre Geschichten, die würde ich lesen. Dabei kann man etwas
+lernen. Aber mich von fremder Leute Phantasien an der Nase führen zu
+lassen, dazu ist mir meine Zeit zu kostbar.«
+
+»Das Leben ist leider im allgemeinen alltäglich und fade,« sagte Peter
+Hase, »und die Dichtung soll ein schöner, bunter Teppich sein.«
+
+»Ja,« sagte Deruga, »ein purpurnes Meer voller Ungeheuer, Wunder,
+Kostbarkeiten und Seltenheiten. Grün wie Glas, süß wie Opal, schwarz wie
+Sturm, unerschöpflich, unergründlich, immer von zauberhaften Geburten
+gärend und gefräßig nach allem Lebendigen. Aber gerade so ist doch das
+Leben.«
+
+Peter Hase betrachtete Deruga aufmerksam, in dessen schmalen Augen sich
+die Vorstellungen zu spiegeln schienen. »Sie sind eben ein Dichter dem
+Gefühle nach,« sagte er. »Ihr Gefühl macht es so.«
+
+»Und im Grunde ist es alles derselbe gemeine Straßendreck,« sagte Deruga
+in verändertem Ton.
+
+»Nun, da gehen Sie wieder zu weit,« sagte der Justizrat. »Betrachten wir
+einmal unseren Prozeß! Sie sind mir gerade originell genug, und die
+Baronin Truschkowitz ist jedenfalls auch keine gewöhnliche Nummer.«
+
+»Ich hasse diese Art Weiber,« fiel Deruga schnell ein. »Selbstsüchtig,
+habsüchtig, beschränkt, kalt und ewig nach neuen Sensationen lüstern.
+Ohne Geld wäre sie eine Dirne.«
+
+»Aber, aber, Verehrtester,« sagte der Justizrat, gelinde scheltend, »da
+scheinen Sie mir doch ein bißchen parteiisch zu sein.«
+
+»So,« sagte Deruga, sich erhitzend, »finden Sie es anständig, aus
+Geldgier einen Unbekannten des Mordes zu verdächtigen? Einen Menschen,
+der ihr nichts zuleide getan hat? Was für eine Gesinnung! Ich sollte
+eine alternde Frau, die mein Weib war, die Mutter meines einzigen,
+meines teuren, heiligen Kindes, töten, weil sie mir kein Geld, oder
+nicht genug Geld geben wollte, womöglich, um ein paar Monate früher in
+den Besitz ihres Vermögens zu kommen? Ich, das schwöre ich Ihnen, wäre
+nie auf einen solchen Gedanken gekommen.«
+
+»Herrgott,« sagte der Justizrat, »solche Sachen kommen doch aber vor.
+Man kann das Leben nicht immer in rosa Beleuchtung sehen. Es sind schon
+Menschen um ein paar Taler umgebracht worden. Außerdem vergessen Sie
+oder wollen Sie vergessen, daß die Baronin Ihnen dies Motiv nicht
+ausdrücklich untergelegt hat, und wenn man Sie für rachsüchtig, hitzig
+und tollköpfig hält, tut man Ihnen eigentlich nicht so unrecht.«
+
+Deruga stützte den Kopf in die Hand und antwortete nicht.
+
+»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen,« hub Peter Hase nach einer
+Pause an, »daß ich der Baronin auf ihre Aufforderung hin einen Besuch
+gemacht habe. Sie machte mir den Eindruck einer Dame.«
+
+»Was für einen Eindruck sollte sie auch sonst machen?« sagte Deruga
+scharf. »Einer Straßenputzerin oder eines Stallknechtes? Übrigens ist es
+ja einerlei. Sie will vermutlich mit dem berühmten Schriftsteller
+kokettieren.«
+
+»Sie kokettiert nicht mehr, als es jede Dame tut,« sagte Peter Hase.
+»Sogar in einer besonders geschmackvollen, ihrem Alter angemessenen Art
+und Weise. Es kommt mir eher so vor, als wäre der Wunsch in ihr
+aufgetaucht, ich sollte ihre Tochter heiraten. Sie sprach mir immer
+wieder von ihrer Tochter.«
+
+»Nun ja,« sagte Deruga, höhnisch lachend, »Dirne und Kupplerin, das ist
+ja fast dasselbe. Nur ist es besonders gemein, die eigene Tochter zu
+verkuppeln. Eine Frau, die die Männer kennen muß. Sie werden mir doch
+zugeben, meine Herren, wir haben uns alle gehörig im Schlamme gewälzt.«
+
+»Wir sind allerdings nicht so rein wie ein Mädchen aus guter Familie,«
+sagte Peter Hase unverändert ruhig und höflich, »aber ich weiß nicht, ob
+das überhaupt zu wünschen wäre. Die Frauen selbst wünschen es
+augenscheinlich nicht.«
+
+»Nein, sie lieben augenscheinlich den Schmutz,« sagte Deruga. »Basta,
+wie denken Sie über die kleine Baronesse?«
+
+»Bevor ich sie gesehen und gesprochen habe,« sagte Peter Hase, »enthalte
+ich mich jeder Entscheidung. Da ihr Vermögen nicht außerordentlich ist,
+muß sie ungewöhnliche Qualitäten haben, um für eine Heirat in Betracht
+zu kommen.«
+
+»Auf mein Vermögen rechnen Sie also nicht,« sagte Deruga. »Das ist
+anständig und auch sehr verständig. Die Deutschen sind zwar gute Hunde,
+doch ein italienischer Hirsch, wenn er vielleicht auch nicht so schnell
+läuft, ist gewandter und läßt sich nicht fangen.«
+
+»Sie sind heute verdrießlich, Deruga,« sagte der Justizrat, indem er
+aufstand, um sich zu empfehlen, »und in Ihrer Lage wäre ich es
+vielleicht auch. Was die deutschen Hunde betrifft, so kann ich zwar
+nicht besonders gut laufen, aber leidlich bellen und beißen, und stelle
+mich Ihnen in dieser Hinsicht zur Verfügung. Auf Wiedersehen!«
+
+»Gott sei Dank, erst übermorgen,« sagte Deruga, dem ein Versuch,
+liebenswürdig zu lächeln, mißlang. »Morgen ist Sonntag.«
+
+Er werde doch vielleicht zum Zweck einer kurzen Unterredung vorsprechen,
+sagte Fein.
+
+»Auch gut,« erwiderte Deruga, »ohnehin ist der Sonntag der
+Selbstmörderwagen am Zuge des Lebens, Montag ist Totengräber.«
+
+
+
+
+=IX.=
+
+
+Der Sonntag zeigte sich indessen Deruga unverhofft wohltätig, indem ein
+Freund seiner Kindheit und Jugend eintraf, =Dr.= Carlo Gabussi,
+Landarzt in einem Dorfe oberhalb Belluno, den Zeitungsberichte über den
+Prozeß veranlaßt hatten, nach München zu kommen, um Deruga allenfalls
+beizustehen. Die Freunde umarmten und küßten sich wieder und wieder, und
+es dauerte eine Weile, bis sie ein zusammenhängendes Gespräch zu führen
+imstande waren.
+
+»Kommst du wirklich meinetwegen, Carlo, lieber Junge?« sagte Deruga.
+»Das ist doch der Mühe nicht wert, die Reise, die Kosten und alles das.«
+
+»Unsinn,« sagte Gabussi, »ich war froh, Gelegenheit zu einer Reise zu
+haben. Ich bin ja seit zehn Jahren nicht von meinem gesegneten Dorfe
+heruntergekommen. Wenn ich aber etwas für dich tun könnte, wäre ich
+allerdings glücklich. Denke dir von den vielen Opfern, die du mir
+gebracht hast, einmal etwas wiederzugeben!«
+
+»Ich dir?« lachte Deruga. »Meinst du, daß du monatelang Tag für Tag bei
+mir saßest, als ich krank im Spital lag?«
+
+»Nun ja,« sagte Gabussi, »du bist zwar nicht mir zuliebe krank geworden,
+aber ich konnte doch zu dir kommen und brauchte nicht immer zu Hause zu
+sein, wo es so wenig Unterhaltung für mich gab. Du hörtest mir zu, wenn
+ich von meiner Angebeteten erzählte, und machtest mir Gedichte für sie.«
+
+Deruga fragte, wie es ihr gehe, und ob sie noch immer nicht geheiratet
+hätten.
+
+»Nein,« sagte Gabussi mit einem Anflug von Wehmut. »Dadurch, daß meine
+Mutter bei mir wohnt, und daß meine arme Schwester lahm ist, kann ich
+nicht gut noch eine Frau unterbringen. Geld verdienen könnte sie auf
+meinem Dorfe auch nicht, denn eine verheiratete Lehrerin wird nicht
+angestellt. Aber ich bin ja so glücklich, daß ich meine Mutter noch
+habe! Sie ist jetzt so leicht, daß ich sie auf einem Arme tragen kann,
+und ich trage sie jeden Abend ins Bett, obwohl sie sich fürchtet; aber
+ich kann es nicht lassen, und im Grunde hat sie es auch gern. Natürlich,
+meine Lisa hat jetzt einige weiße Haare in ihren schönen schwarzen
+Haaren. Sie sehen mir so aus wie eine Silberspur, die Gottes liebkosende
+Hand zurückgelassen hat. Kannst du dir das denken? Und wenn ich sie so
+gut und fröhlich zwischen ihren Schulkindern sehe, dann wird mir wohl
+das Herz eng, und ich denke: Wenn ihr so unsere Kinder an der Hand
+hingen! Aber das ist ja selbstsüchtig und unrecht, wenn ich bedenke, wie
+gut es mir geht, zum Beispiel mit dir verglichen, mein Dodo, mein alter,
+lieber Junge! Wie konntest du aber nur in solchen höllischen Wirrwarr
+verwickelt werden! Nein, sprich jetzt nicht davon, wenn du nicht magst!
+Wir haben Zeit, ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.«
+
+»Die Schweinerei soll mir gesegnet sein,« sagte Deruga, »denn ohne sie
+hätte ich dich so bald nicht gesehen, Gabussi! Ein bißchen magerer bist
+du geworden, aber sonst ganz das liebe, alte, ehrbare, erschrockene
+Gesicht!«
+
+»Aber du bist mein bronzener David nicht mehr,« entgegnete Gabussi. »Du
+siehst grau aus, das kommt vom Mangel an Luft und Bewegung. Laß uns
+spazierengehen -- oder, noch besser, ich nehme einen Wagen, und du zeigst
+mir die Stadt und die Umgegend.«
+
+Der Tag war grau und weich, und der offene Wagen fuhr langsam durch die
+tauenden Straßen, vom Geriesel der Tropfen wie von einem musikalischen
+Geleit begleitet. Deruga saß behaglich zurückgelehnt und gab Antwort auf
+die Fragen Gabussis, den die stattlichen Plätze und Gebäude entzückten.
+In einer stillen Straße, in die der Kutscher, dessen Gutdünken sie die
+Führung überließen, einlenkte, erkannte Deruga plötzlich ein
+schmiedeeisernes Tor. Der gepflasterte Weg, der an den Häusern entlang
+führte, lag verlassen, und das Fliedergebüsch war noch unbelaubt, nur
+eine Weide spannte keimende Zweige in einem feinen Strahlenbogen
+hinüber.
+
+»Was ist dir?« fragte Gabussi, seinen Arm in den des Freundes schiebend,
+der sich aufgerichtet hatte.
+
+»Wir fuhren eben an dem Hause vorüber, wo die arme Marmotte wohnte,«
+sagte Deruga.
+
+Gabussi schwieg. Erst nach einer langen Pause sagte er: »Du warst doch
+einmal glücklich, Dodo.«
+
+»Nein, damals nicht,« erwiderte dieser. »Mein Gemüt war zu ruhelos, mein
+Herz zu empfindlich und mein Verstand zu scharf. Ich glaube, ich müßte
+ein Gott sein, um mit meinen Gaben glücklich zu sein.«
+
+»Es ist doch aber auch schön, so begabt zu sein, wie du bist,« sagte
+Gabussi. »Weißt du noch, wie oft unser Religionslehrer zu dir sagte:
+'Sigismondo, Verstand hast du, Verstand genug. Aber der Verstand ist ein
+höllisches Feuer, die Vernunft ist ein göttliches Licht. Und Vernunft
+hat mancher alte Besenbinder mehr als du.'«
+
+Deruga lachte. »Ja, auf den Verstand war er schlecht zu sprechen,« sagte
+er. »Und weißt du, wie er dich vor mir warnte und prophezeite, es würde
+ein Freimaurer und Atheist aus mir werden, wenn ich nicht etwa gar ein
+Heiliger würde.«
+
+Der Wagen hatte inzwischen die städtischen Anlagen erreicht, und sie
+sahen einen schnellen, starken Fluß unter den dicken Stämmen alter
+Weiden und Pappeln durch weite Wiesen fließen. Eine schwere Erinnerung
+aus naher Vergangenheit vermischte sich in Deruga wunderbar mit den
+Erinnerungen der Kindheit und stimmte ihn weich und träumerisch.
+
+»Damals, als wir Buben waren,« sagte Gabussi, »da warst du doch
+glücklich.«
+
+»Wenn ich nicht tief unter dem Glück immer gefühlt hätte, wie häßlich,
+armselig, falsch und ungerecht alles um mich her war,« sagte Deruga.
+
+»Du, der einen solchen Engel zur Mutter hatte!« rief Gabussi aus. »Und
+weißt du, wie gern du bei uns warst, und wie du stillhieltest, wenn
+meine Mutter dich auf die Stirn küßte und 'kleiner Fremdling' nannte?
+Und wie wir unter dem Dache saßen und unsere Aufgaben lernten und uns
+vor jedem Schatten fürchteten?«
+
+Als die Freunde von der Fahrt zurückkehrten, war eine wohlige
+Zufriedenheit über Deruga gekommen.
+
+»Wenn diese dumme Geschichte vorbei ist,« sagte er zu Gabussi, »werde
+ich ein neues Leben anfangen. Was meinst du, wenn ich zu dir in die
+Berge käme?«
+
+»Aber, Dodo,« sagte Gabussi außer sich vor Freude, »das wäre ein
+Paradies für mich. Und wie würden meine Mutter und meine Schwester sich
+freuen! Und meine Lisa für mich! Das größte Glück für meine Lisa ist,
+wenn mir etwas Glückliches begegnet. Zu denken, daß du mich zuzeiten auf
+meinen Gängen begleitest und wir plaudern und schwatzen und Erinnerungen
+austauschen wie heute!«
+
+Sie wurden durch ein feines Klopfen unterbrochen, das schon einige Male
+ungehört in das laute Gespräch geklungen hatte. Als Gabussi zur Tür ging
+und öffnete, sah er ein kleines, zierliches, blondhaariges Mädchen mit
+großen, dunkelbraunen Augen, die ihn ängstlich, doch mit Feuer, ansahen.
+
+»Ich wünsche Herrn =Dr.= Deruga zu sprechen,« sagte eine helle, von
+der Erregung etwas gedämpfte und zitternde Stimme. »Sind Sie es?«
+
+Gabussi schüttelte den Kopf und wies auf seinen Freund, indem er ihn
+zugleich mit den Augen fragte, ob er gehen solle.
+
+»Nein, bleibe,« bat Deruga, die Hand auf seinen Arm legend; und er
+fragte das Fräulein, mit wem er die Ehre habe zu sprechen.
+
+»Ich bin Mingo von Truschkowitz,« sagte die kleine Dame, »und komme, um
+Ihnen zu sagen, daß es mir sehr leid tut, daß meine Mutter den Prozeß
+gegen Sie angefangen hat, und daß ich nichts, gar nichts damit zu tun
+habe. Da meine Tante Ihnen das Vermögen vermacht hat, kommt es Ihnen zu.
+Überhaupt hat meine Mutter nicht das mindeste Recht darauf, da sie sich
+nie um Frau Swieter bekümmert hat.«
+
+»Armes Kind,« sagte Deruga, »es muß Ihnen schwer geworden sein, so
+allein zu mir zu kommen. So alt wie Sie würde meine kleine Mingo jetzt
+auch sein,« setzte er nach einer Pause hinzu, während welcher seine
+Augen liebevoll auf ihr geruht hatten.
+
+»Dasselbe,« sagte Mingo und zögerte einen Augenblick, »sagte Ihre
+verstorbene Frau, als sie mich sah.«
+
+»Haben Sie meine Frau einmal besucht?« fragte Deruga. »Wann war es?
+Erzählen Sie mir davon.«
+
+»Es war vor acht Jahren,« berichtete Mingo. »Ich besuchte sie, weil ich
+so vieles von ihr gehört hatte, was mich anzog. Bei uns fand ich alles
+herkömmlich und alltäglich und unbedeutend. Ich liebte mir vorzustellen,
+daß irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihr bestünde, weil ich so
+heiße wie sie. Sie gefiel mir so gut, sie war mir wie ein
+geheimnisvolles Märchen; aber sie sagte, ich solle nicht wiederkommen,
+wenn es ohne Wissen meiner Eltern geschehen mußte. Vielleicht hatte mein
+Besuch sie auch traurig gemacht, weil ich sie an ihr verlorenes Kind
+erinnerte.«
+
+»So lebt doch wenigstens ein kleiner Mingo,« sagte Deruga warm. »Nach
+Ihrer Meinung,« fragte er nach einer Pause, »bin ich also mit Unrecht
+angeklagt?«
+
+»Nach dem, was Ihre Frau mir damals von Ihnen erzählte,« sagte sie mit
+Nachdruck, »bin ich überzeugt, daß Sie ihr absichtlich nie etwas zuleide
+getan haben.«
+
+»Ich habe ihr viel zuleide getan,« sagte Deruga, »aber aus Liebe.«
+
+»Das zählt nicht,« sagte Mingo entschieden und fuhr zögernd fort: »Ihre
+Frau zeigte mir auch ein Bild von Ihnen.«
+
+»Es scheint aber nicht, daß es ähnlich war,« sagte Deruga lachend, »oder
+ich habe mich seitdem sehr verändert.«
+
+»Nicht so sehr, wie es mir zuerst schien,« sagte sie.
+
+Gabussi beteuerte, daß sein Freund sich nur zu seinem Vorteil verändert
+habe, und forderte das kleine Fräulein dringend auf, dies Urteil zu
+bestätigen.
+
+»Das weiß ich nicht,« sagte sie, tief errötend, »aber wie ein alter Mann
+sieht Herr Deruga nicht aus.«
+
+»Ihnen gegenüber bin ich sehr alt und weise,« sagte Deruga gütig, »und
+vermöge dieser Weisheit gebe ich Ihnen den Rat: Entzweien Sie sich
+meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter, wenn sie mir auch unrecht tut! Ein
+Kind schuldet seiner Mutter zu viel, um ihr jemals zum Gläubiger werden
+zu können. Sprechen Sie es aus, wenn Sie anderer Meinung als sie sind,
+aber nicht ohne den Ton zärtlicher Liebe! Versprechen Sie mir das?«
+
+Er streckte ihr die Hand hin, in die Mingo völlig überwunden ihre kleine
+legte.
+
+Carlo Gabussi umarmte, als das Fräulein gegangen war, seinen Freund mit
+Begeisterung, lobte die Kleine und erkundigte sich nach der Mutter, die
+eine Teufelin sein müsse.
+
+»Wenn sie das noch wäre,« sagte Deruga. »Sie ist nur eine glatte, hohle,
+genußsüchtige Frau, zu oberflächlich selbst, um lasterhaft zu sein. Ein
+Bild unserer Gesellschaft, wo die großen Räuber geehrt und die kleinen
+gehangen werden. Äußerlich ist sie nicht unangenehm.«
+
+»Und warum haßt sie dich so?« fragte Gabussi.
+
+»Weil ich das Geld bekommen habe, worüber sie bereits zu ihren Gunsten
+verfügt hatte,« sagte Deruga. »Übrigens scheine ich ihr gar nicht zu
+mißfallen.«
+
+»Wie meinst du das?« fragte Gabussi. »Hast du denn mit ihr gesprochen?«
+
+»Bis jetzt nur durch die Augen,« sagte Deruga. »Aber ich verstehe mich
+ja gut auf Weiber. Wenn ich darauf einginge, wäre sie sehr geneigt,
+eine Liebelei mit mir anzufangen.«
+
+»Aber, Dodo,« rief Gabussi entrüstet aus, »das ist ja eine abscheuliche
+Entartung! Mit einem Manne kokettieren, den man ins Zuchthaus oder etwa
+gar auf das Schafott zu bringen im Begriffe ist. Ich verstehe solche
+Sachen nicht. Könnte ich dich nur aus den Weibergeschichten
+herauswickeln, die die letzte Ursache deines Unglücks sind! Du solltest
+wieder heiraten, eine einfache, brave, liebe Frau, und dann zu mir
+hinauf in die Berge kommen. Was hast du von dieser heillosen
+Schlamperei? Luft, Licht, Sauberkeit, das sind die wichtigsten
+Verordnungen der modernen Gesundheitslehre.«
+
+»Für gesunde Seelen ausgezeichnet,« sagte Deruga. »Aber Kranke brauchen
+warmen Dreck und mollige Fäulnis.«
+
+»Unsinn,« sagte Gabussi in großer Erregung, »der Satz ist Unsinn, und
+die Voraussetzung, daß du krank bist, auch. Du bist nur bequem und zu
+gutmütig. Versprich mir, daß du nichts Neues anzettelst! Auch nicht aus
+Mitleid. Schließlich geraten die Frauen durch die Liebe nur noch tiefer
+in den Sumpf. Und versprich mir, sollte diese Baronin wirklich mit dir
+kokettieren wollen, daß du ihr die verdiente Abfertigung zuteil werden
+läßt!«
+
+Deruga wollte sich ausschütten vor Lachen über seinen Freund, der, mit
+den langen Armen gestikulierend, wie ein Bußprediger vor ihm stand. »Ich
+habe höchstens Lust,« sagte er endlich, als er wieder sprechen konnte,
+»sie noch mehr zu reizen, um sie hernach desto empfindlicher kränken und
+beschämen zu können. Ich verabscheue diese Person.«
+
+»Ach, Dodo!« seufzte Gabussi, »das ist schlüpfrig und gefährlich. Laß
+sie doch gehen, wenn du sie verabscheust! Tu es um der entzückenden
+Kleinen willen, wenn du es nicht aus Selbstachtung tust!«
+
+In Derugas Gesicht kam ein weicher Ausdruck. »Kleine Mingo,« sagte er.
+»Ihr möchte ich wirklich nichts zuleide tun.«
+
+»Siehst du,« sagte Gabussi eifrig. »Es war ein Unglück, daß du deine
+Tochter verlieren mußtest. An ihrer Hand wärest du gewiß nur reine,
+schöne Wege gegangen.«
+
+»Oder ich hätte sie mit mir in den Schlamm gezogen,« sagte Deruga,
+plötzlich verdüstert.
+
+»Mensch, führe nicht so verzweifelte Reden!« schalt Gabussi, »sonst
+könnte sogar ich an dir irre werden.«
+
+Deruga umarmte und küßte seinen Freund. »Immer der alte,« lachte er.
+»Hast du vergessen, daß man mich nicht so ernst nehmen muß? Ich bin kein
+am Spalier gezogener Pfirsich. Man kann meine Worte nicht so ohne
+weiteres genießen, es muß erst etwas Schmutz herausgekocht und
+abgeschäumt werden. Hast du das vergessen?«
+
+Auch Gabussi lachte nun. »Du hast recht, ich bin ein schwerfälliger
+Dummkopf,« sagte er. »Es ist kein Wunder, wenn dich in deiner
+unglücklichen Lage manchmal tolle Launen überkommen. Der muß vor allen
+Dingen ein Ende gemacht werden.«
+
+Der Justizrat, den er befragte, sprach sich ziemlich hoffnungsvoll aus.
+Deruga habe zwar nicht durchaus einen guten Eindruck gemacht, und es
+bleibe zu vieles im Dunkeln, als daß jeder Verdacht aufgehoben würde,
+aber die vorhandenen Indizien genügten seiner Ansicht nach durchaus
+nicht, daß gewissenhafte Geschworene daraufhin ein Schuldig aussprechen
+könnten. Gabussis freundschaftliche Gefühle waren davon nicht
+befriedigt; er bestand darauf, als Zeuge aufzutreten, damit die Menschen
+Deruga mit seinen Augen, das heißt, wie er wirklich wäre, sähen und ihn
+freisprächen, nicht, weil er nicht überführt werden könnte, sondern von
+seiner Schuldlosigkeit überzeugt.
+
+»Sie sind mit Vorurteilen an dich herangetreten,« sagte er. »Sie haben
+nur einen Ausschnitt von dir kennengelernt. Könnte man ein Gemälde
+richtig beurteilen, wenn man nur ein millimetergroßes Stückchen davon
+betrachtet? Ich will ihnen von deiner Kindheit und deinen Jugendjahren
+erzählen, so wie du bist, ohne Übertreibung und künstliche Beleuchtung.
+Das ist eine induktive Methode, die den wissenschaftlichen Deutschen
+zusagen muß.«
+
+ * * * * *
+
+Gabussis Erscheinung machte einen günstigen Eindruck. Man fand, daß
+seine ehrlichen braunen Augen, sein schlichtes Auftreten und freimütiges
+Reden eines Deutschen würdig wären. Da er ein paar Semester in Wien
+studiert hatte, sprach er ziemlich gut Deutsch, wenn er langsam und
+vorsichtig vorging. Er sei, erzählte er, mit dem Angeklagten seit früher
+Kindheit bekannt, sie hätten dieselbe Schule und später dasselbe
+Gymnasium besucht. Dodo, wie er genannt wurde, sei in seinem, Gabussis,
+elterlichen Hause gern gesehen worden. Man habe bewundert, wie viel er
+geleistet, unter wie schwierigen Verhältnissen er sich durchgearbeitet
+habe.
+
+»Worin bestanden die schwierigen Verhältnisse?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Seine Familienverhältnisse waren ungünstig,« erklärte Gabussi. »Er
+wurde zu Hause viel beschäftigt, so daß er oft die Nacht zu Hilfe nehmen
+mußte, um mit den Schularbeiten fertig zu werden.«
+
+»Wie kam das?« fragte der Vorsitzende, »was war sein Vater?«
+
+»Sein Vater war damals Obstverkäufer,« antwortete Gabussi. »Er hatte
+ein kleines Gewölbe hinter dem alten Rathause.«
+
+»So,« sagte der Vorsitzende, in den Akten blätternd. »Nach Derugas
+Angabe war sein Vater Kaufmann.«
+
+»Nun ja,« sagte Gabussi, »ein Obstverkäufer ist doch ein Kaufmann.«
+
+»Übrigens,« setzte er hinzu, indem er einen beunruhigten Blick auf
+seinen Freund warf, »hat er nicht immer dieselbe Beschäftigung gehabt.
+Er war ein guter, aber ruheloser Mann.«
+
+Der Vorsitzende bat den Zeugen, Derugas Vater etwas ausführlicher zu
+charakterisieren.
+
+Er habe ihn zu wenig gesehen und gesprochen, um ein maßgebendes Urteil
+fällen zu können, sagte Gabussi. Wenn er dagewesen wäre, habe er meist
+schwermütig und ohne Anteil zu nehmen in einem Winkel gesessen, nur
+selten einmal sei er mutwillig gewesen und habe dann laut gelacht und
+gescherzt.
+
+»Er war also nicht immer da?« sagte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Nein,« sagte Gabussi, »er bekam zuweilen einen Anfall, der ihn zwang,
+die Familie zu verlassen und sich irgendwo herumzutreiben. Er blieb dann
+oft wochenlang, ja monatelang aus.«
+
+»Trank er?« fragte der Vorsitzende.
+
+»O nicht besonders viel,« sagte Gabussi; »er war nur sehr eigentümlich.
+Er bekam von Zeit zu Zeit eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas zu
+erleben, einen Drang nach Abenteuern. Für das Familienleben war er nicht
+geschaffen, und das war für seine Frau und seine Kinder ein Unglück.
+Glücklicherweise war seine Frau ein Engel, einfach ein Engel, und Dodo,
+der älteste Sohn, nicht weniger. Er war ihr Ebenbild innen und außen.«
+
+»Es waren also noch mehr Geschwister da?« schaltete der Vorsitzende ein.
+»Was ist aus ihnen geworden?«
+
+»O nichts besonders Gutes,« sagte Gabussi zögernd. »Sie haben des Vaters
+unglückliche Sucht nach Abenteuern geerbt.«
+
+»Und der Älteste hatte nichts davon?« fragte =Dr.= Zeunemann.
+
+»Im Gegenteil,« sagte Gabussi mit Feuer. »Er war schon als Kind die
+Stütze seiner Mutter. Er pflegte die kleinen Geschwister, er half in der
+Küche, im Hause und im Geschäft, und sang dazu wie eine Lerche. Auch
+seine Mutter war stets heiter und von Dank gegen Gott erfüllt, daß er
+ihr einen solchen Sohn gegeben hatte. 'Den holdseligsten seiner Engel
+hat er mir geschickt,' pflegte sie zu sagen, 'so daß ich schon auf Erden
+in der himmlischen Seligkeit bin.' Verursachte es ihr Kummer, daß er so
+angestrengt arbeiten mußte, tröstete sie sich dadurch, daß Gott seinem
+Liebling die Kraft geben werde. Während er nachts seine Schularbeiten
+machte oder später den Studien oblag, saß sie neben ihm und nähte oder
+flickte. So lebten sie in Wahrheit im Paradies, solange der Vater fort
+war.«
+
+»Mißhandelte er Frau und Kinder?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Darüber kann ich nicht viel sagen,« antwortete Gabussi, indem er wieder
+einen beunruhigten Blick nach seinem Freunde warf, »denn weder Dodo noch
+seine Mutter äußerten sich darüber. Nach ihrem Tode gab es allerdings
+zuweilen Auftritte zwischen Vater und Sohn; denn die Arme hatte ihn
+stets etwas in Schranken gehalten.«
+
+»Geschäft und Haushalt kamen vermutlich herunter?« fragte der
+Vorsitzende.
+
+»Mein Freund tat, was möglich war,« erzählte Gabussi. »Er war Vater und
+Mutter für seine unerwachsenen Geschwister, obwohl er damals selbst ein
+zarter Jüngling war. Er fuhr sogar zuweilen abends, wenn es dunkelte,
+Waren auf seinem Karren in die Häuser. Der Vater wurde allerdings mehr
+und mehr unzurechnungsfähig. Namentlich reizte er selbst die jüngeren
+Kinder zu Unarten und bösen Streichen. Er würde unermeßliches Unheil
+angerichtet haben, wenn er sich nicht vor Dodo gefürchtet hätte.«
+
+»War er hinfällig und gebrechlich geworden?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Durchaus nicht,« sagte Gabussi lebhaft, »er war ein großer, muskulöser
+Mann, viel stärker als Dodo. Aber im Zorne schienen sich Dodos Kräfte
+zu verhundertfachen. Seine arme Mutter würde gesagt haben, daß Gott ihn
+mit seinem Atem erfüllte, um seinen Liebling zu schützen. Ich habe
+seinen Vater vor ihm davonschleichen sehen wie einen Hund, der weiß, daß
+er Prügel verdient.«
+
+Langsam richtete sich der Justizrat zu seiner vollen Höhe auf. »Meine
+Herren,« sagte er, »ich glaube zu wissen, was viele von Ihnen jetzt
+denken: Da sehen wir wieder das unbezähmbare, gefährliche Temperament
+dieses Menschen! Wer sich an seinem Vater vergreift, warum sollte der
+sich nicht an seiner Frau vergreifen -- und so weiter. Ich, meine Herren,
+habe im Gegenteil gedacht: Wieder bricht diese beinahe krankhafte
+Heftigkeit hervor, wenn es sich darum handelt, Böses zu verhüten oder zu
+bestrafen. Wir haben in Deruga einen ungewöhnlich reizbaren Menschen,
+aber was ihn reizt, ist das Schlechte, Häßliche, Unharmonische. Daß er
+sich aus selbstsüchtigen Gründen an jemandem vergriffen oder jemandem
+unrecht getan habe, dafür liegt bis jetzt kein Beispiel vor.«
+
+»Eifersucht ist denn doch wohl Selbstsucht,« entgegnete der
+Staatsanwalt, »besonders wenn keine Ursache dazu gegeben wird. Auch geht
+es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder,
+richtiger ausgedrückt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das
+reifere und höhere Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir
+sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verhängnisvollen Anlagen
+mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen
+der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau für ihn
+bedeutete. Etwas Ähnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der
+Trennung von seiner durchaus anständigen, guten Frau beginnt sein Fall.«
+
+»Sein Fall!« sagte der Justizrat gelassen, »da muß ich protestieren,
+oder den Ausdruck dahin präzisieren, daß es sich um ein Abweichen von
+der herkömmlichen, ausgetretenen Laufbahn handelt. Es ist allerdings bei
+Deruga eine gewisse Vernachlässigung der äußeren Stellung, äußerer
+Würden, äußerer Ehren eingetreten. Damit braucht aber der Verfall des
+sittlichen Menschen nicht Hand in Hand zu gehen. Es kann sogar eine
+größere Verinnerlichung damit zusammenhängen. Als Staatsangehöriger bin
+ich allerdings für die bürgerliche Ordnung. Wir dürfen aber doch nicht
+vergessen, daß auch der Staat und jede von Menschen geschaffene Form von
+Kräften lebt, die ihm von außen, sagen wir meinetwegen aus dem Chaos,
+zuströmen.«
+
+Ein ironisches Lächeln verzerrte das Gesicht des Staatsanwalts. »Das ist
+Philosophie,« sagte er, »und mit Philosophie läßt man sich auch die
+Notwendigkeit von Massenmördern und Giftmischern beweisen. Wir dagegen
+haben es ganz schlechtweg und einfältig mit strafbaren Handlungen zu
+tun. Christus durfte sich erlauben, die Zöllner und Sünder zu lieben,
+wir müssen uns bescheiden, sie zu strafen.«
+
+Der Vorsitzende machte die Handbewegung, mit der man Kreidestriche von
+einer Tafel löscht. »Das führt zu weit,« sagte er, und dann zum Zeugen
+gewendet: »Haben Sie selbst jemals Auftritte mit Ihrem Freunde gehabt?«
+
+»Ich? Niemals, niemals!« sagte Gabussi lebhaft, »und doch ist gewiß
+nicht leicht mit mir auszukommen. Mein phlegmatisches Temperament, das
+mir die Natur nun einmal gegeben hat, muß eine feurige Natur, wie mein
+Freund ist, schon an sich reizen. Meine Langsamkeit im Auffassen hätte
+ihn oft ungeduldig machen können. Anstatt dessen war er stets
+opferwillig und hilfsbereit.«
+
+»Ein Engel,« setzte der Staatsanwalt grinsend hinzu.
+
+»Hatte der Angeklagte noch viele Freunde außer Ihnen?« fragte =Dr.=
+Zeunemann.
+
+»Er stand mit fast allen gut,« sagte Gabussi, »aber befreundet war er
+nur mit mir. Ich bin überzeugt, daß kein einziger sein Inneres so gut
+kannte wie ich.«
+
+»Das ist eigentlich sonderbar,« meinte der Vorsitzende, »bei einem
+Menschen, dessen feuriges, geselliges Temperament Sie selbst
+hervorheben.«
+
+»Ja, so möchte man denken,« sagte Gabussi, »und wenn man ihn unter
+seinen Schulgefährten und später unter seinen Studiengenossen sah, so
+mußte man meinen, er sei mit allen verbrüdert. Ich erinnere mich, daß
+ich mich zuerst nicht an ihn heranwagte, weil ich dachte, ich mit meiner
+Schwerfälligkeit könne ihm nichts sein, der von so vielen wie von einer
+Familie umringt war. Aber diese Umgänglichkeit, die er an sich hatte,
+und die jeden anzog, war nur der Schleier, in den er seine Seele hüllte,
+um sie unzugänglich zu machen. Niemand ist schwerer zu kennen, als er,
+der das Herz auf der Zunge zu haben scheint. Es gibt zurückhaltende
+Menschen, die durch Schweigsamkeit oder unnahbares Wesen die anderen von
+sich abwehren. Das war seine Art nicht. Er richtete durch Gesprächigkeit
+und Vertraulichkeit eine Mauer um sich auf.«
+
+In dem Maße, wie Gabussi eifriger wurde, um dem Präsidenten seines
+Freundes Eigenart zu erklären, wuchs das verständnisvolle Interesse des
+Vorsitzenden. »Ich begreife Sie, ich begreife Sie,« sagte er, »das kommt
+bei leidenschaftlichen, übermäßig reizbaren Naturen vor. Sie müssen
+immer auf der Hut sein, daß sie nicht zu viel von sich verausgaben, und
+schaffen doch ihrer Lebhaftigkeit einen gewissen Ausweg.«
+
+»Ja, ja, so ist es,« bestätigte Gabussi. »Er war im Grunde weich und
+leicht verletzlich, schämte sich, das den anderen zu zeigen, die so viel
+gleichgültiger und härter waren, und verhüllte sich auf seine Art. Er
+war kein Tier, das zu seinem Schutze Stacheln oder Schuppen
+hervorbringt, er konnte nur bunte Fäden spinnen und mit solchem
+Blendwerk sich unkenntlich machen. Das bewahrte ihn wohl vor der
+allzunahen Berührung wesensfremder Menschen, nicht aber vor allen
+schmerzhaften Zusammenstößen mit der Außenwelt, die sein Herz bluten
+machten. Ach, was für eine Tragik, daß er so oft beschuldigt wurde,
+anderen Leid zugefügt zu haben, der immerfort durch andere litt!«
+
+»Sehr interessant,« sagte =Dr.= Zeunemann. »Aber worunter litt er
+denn so sehr? Nun ja, unter seinem Vater. Dafür hatte er doch aber eine
+gute, liebevolle Mutter, er hatte Sie und den Verkehr mit Ihrer
+Familie.«
+
+»Seine Mutter liebte er allerdings unendlich,« erklärte Gabussi, »und
+durch sie litt er gewiß nicht, wohl aber durch die Lage, in der er sie
+sah. Seine Seele fühlte sich nie heimisch in der Umgebung, in die sie
+gepflanzt war. Er hatte einen lebhaften Schönheitssinn, und alles
+Geschmacklose, sowohl an den Gegenständen wie an den Menschen, stieß ihn
+ab. Da er in ärmlichen oder wenigstens sehr beschränkten Verhältnissen
+geboren war und aufwuchs, kam es mir immer wunderbar vor, daß er gegen
+alles Kleinliche und Häßliche, und was sie mitbringen, so überaus
+empfindlich war. Ich selbst habe das erst allmählich verstehen lernen,
+anfangs klangen mir seine darauf bezüglichen Klagen wie Dichtungen in
+arabischer oder persischer Sprache. Es bildete oft den Gegenstand
+unseres Gesprächs und war ein Punkt, wo wir nie zusammenkamen. Da ich
+ihn nicht begriff, war ich oft ungerecht gegen ihn, wenn er zum Beispiel
+Reichtum als das Allererstrebenswerteste hinstellte. Ich predigte dann
+wie ein rechter Moralphilosoph auf ihn ein, vielmehr an ihm vorüber.
+Denn von den Bedürfnissen, die ihn Reichtum ersehnen ließen, hatte ich
+keine Ahnung. Meine einfachere, derbere Seele fand sich in jeder
+Umgebung zurecht, sie ist gewissermaßen ein Naturlaut, und wenn man sie
+nur nicht in einen glänzenden Salon versetzt, so kann sie harmonisch
+einstimmen. Mit einer reichen Symphonie ist es anders. Mein Freund
+brauchte Schönheit um sich herum, in der sich die unendlich vielen,
+daher oft einander widerstrebenden Töne auflösten.«
+
+»Hier ist also doch ein Punkt, wo Sie voneinander abwichen,« sagte
+=Dr.= Zeunemann.
+
+»Allerdings,« gab Gabussi zu, »aber über freundschaftliche
+Meinungsverschiedenheit ging das nie hinaus. Wir ließen uns beide
+gelten, und er beneidete mich wohl sogar manchmal, weil ich so viel
+leichter zufriedenzustellen bin.«
+
+»Es wundert mich,« fuhr =Dr.= Zeunemann gemütlich fort, »daß Ihr
+Freund bei seinem leichtverletzlichen Schönheitssinn das Studium der
+Medizin ergriff, bei dem es so viel Abstoßendes zu überwinden gibt.«
+
+»O,« sagte Gabussi, »da kam ihm wieder seine Hilfsbereitschaft und
+Liebe für alle Kranken und Leidenden zugute. Er hatte insofern eine
+geradezu geniale Begabung für seinen Beruf. Dazu kam, daß er auf diesem
+Wege am ehesten zu Gelde zu kommen dachte, was sowohl wegen seiner
+Familie wünschenswert war, wie er es auch aus den erwähnten Rücksichten
+für sich erstrebte.«
+
+»Und woran liegt es denn Ihrer Ansicht nach,« fragte der Vorsitzende,
+»daß es ihm damit doch nicht geglückt ist?«
+
+»Jedenfalls nicht daran,« sagte Gabussi, »daß er untüchtig gewesen wäre.
+Aber ich sagte schon, daß seine Seele reich und vielstimmig war. Er
+sehnte sich nach Geld und verachtete es andererseits; er warf zwei Hände
+voll weg für eine Handvoll, die er eingenommen hatte. Er arbeitete flink
+und gut; aber er träumte noch besser. Er war geboren mit allen Tugenden,
+Reichtum auf edle Art zu genießen, mit keiner von denen, die Reichtum
+machen. Beim Reichwerden kommt es ebensosehr wie auf die Fähigkeit des
+Erwerbens auf die des Festhaltens an, und die hatte er nicht. Es war
+jener tragische Zwiespalt in ihm, der meiner Ansicht nach nur dadurch
+auszugleichen ist, daß man die Nichtigkeit des Reichtums einsieht und
+alles dessen, was der Reichtum verschafft. Auch der Ärmste kann
+Schönheit im Überfluß genießen, wenn er sich in die Natur zurückzieht.
+Es war der einzige Fehler, den Deruga beging, daß er das nicht von
+Anfang an getan hat. In der großen Welt konnten die Konflikte seiner
+Seele keine Lösung finden.«
+
+»Wir haben Ihnen ein sehr feines Bild Ihres Freundes zu verdanken,«
+sagte =Dr.= Zeunemann freundlich. »Nicht minder brauchbar, weil von
+Freundeshand entworfen.« Dann schloß er das Verhör ab, nachdem er noch
+einige belanglose Fragen gestellt hatte.
+
+ * * * * *
+
+Als der Justizrat mit den beiden Freunden das Haus verließ, war die Zeit
+des Feierabends. Die Straßen füllten sich mit Menschen, aber in den
+Anlagen hinter dem Gerichtsgebäude war es still wie immer. Mit dem
+Lichte schienen die Gegenstände ihr buntes Kleid abgeworfen zu haben
+und in sanft schimmernder Nacktheit am Ufer der unendlichen Nacht zu
+feiern, bevor sie in das tiefe Bad hinuntertauchten. Gabussi erklärte
+sich mit dem Ergebnis seiner Aussagen nicht ganz zufrieden. Es sei alles
+anders herausgekommen, sagte er, als er beabsichtigt hatte. Man werde
+da, ohne zu wissen wie, von einer Strömung ergriffen, die einen von der
+eingeschlagenen Richtung abbrächte.
+
+»Was du sagtest, war alles schön und gut,« tröstete Deruga. »Es kam mir
+nur überflüssig vor, wie wenn man einem Deutschen einen feinen Mailänder
+Risotto vorsetzt, der doch nur die Nase dazu rümpft und nach seinen
+Kartoffeln verlangt. Was macht das aber? Für mich war es schön, mit dir
+von der Vergangenheit zu träumen.«
+
+»Ja,« sagte der Justizrat, »das vergangene Leiden dient, wie Shakespeare
+sagt, zu desto süßerem Geschwätz.«
+
+»Während umgekehrt nichts weher tut, wie unser Dante sagt, als sich im
+Unglück vergangenen Glückes zu erinnern,« fügte Gabussi hinzu.
+
+Bei dem Abhange, wo jetzt ein erstes Schneeglöckchen die gelbliche
+Spitze herausstreckte, blieb Deruga stehen.
+
+»Da ist eins von den kleinen Geschöpfen,« sagte er, »es guckt wie eine
+Maus aus ihrem Loch hervor.«
+
+»Sehen Sie,« triumphierte der Justizrat. »Sie lachten mich damals aus,
+als ich ihm die trockenen Blätter vom Kopf wegstocherte.«
+
+»Sie hatten auch unrecht,« entgegnete Deruga, »denn nun holt es
+wahrscheinlich die Katze.«
+
+»Meinen Sie den Nachtfrost?« fragte der Justizrat. »Diese frühen
+Pflanzen können viel vertragen, sie sind darauf eingerichtet. Hören Sie,
+mein Lieber,« setzte er hinzu, indem er seinen Klienten fortzuziehen
+suchte, »Sie werden sentimental, das gefällt mir nicht.«
+
+Deruga rührte sich nicht von der Stelle und starrte versunken auf die
+feuchte Erde. Eine Zeile aus einem alten Gedicht lag ihm im Sinn, und er
+führte sie an, als er sich darauf besonnen hatte:
+
+»=La doglia mia cresoe coll' ombra.=«
+
+»Das klingt wie ein Ton von einer Amati,« sagte der Justizrat, die
+Musik des Verses mit sichtlichem Genusse schlürfend. »Was heißt das?«
+
+»Mein Weh wächst mit den Schatten,« übersetzte Deruga. »Das will also
+sagen, mit der wiederaufgehenden Sonne verschwindet es und bedeutet
+nicht mehr als eine Abendstimmung.« Er schüttelte sich, als werfe er die
+trübe Laune von sich, und wandte sich rasch dem Ausgange zu.
+
+»Wenn du erst bei mir in meinem Bergdorfe bist,« sagte Gabussi, »werden
+dich solche Stimmungen bald ganz verlassen. Das ist der Kohlenstaub der
+großen Stadt, den der reine Himmel der Höhen verzehrt.«
+
+»Ob mir diese Luft wirklich so gut anschlagen würde, wie du meinst?«
+sagte Deruga. »Ich bin nun einmal kein Bauer.«
+
+»Du wirst einer werden,« rief Gabussi lebhaft aus. »Wenn du erst gelernt
+hast, dich für nichts als unsere paar Kühe und Ziegen zu interessieren,
+dann wirst du gesund sein.« Er forderte den Justizrat zur Bestätigung
+seiner Meinung auf.
+
+»Ein bißchen zu verbauern, täte Ihnen gewiß gut,« sagte dieser
+vorsichtig.
+
+»Sie meinen,« sagte Deruga, »wenn man den verzwickten Kerl in seine
+Bestandteile auflösen und einen ganz neuen daraus machen könnte, dann
+wäre ihm allenfalls geholfen.«
+
+Der Justizrat lachte.
+
+»Aber wenn man den alten Deruga gar nicht mehr herauskennte,« meinte er,
+»das wäre doch schade.«
+
+Als Gabussi mit Deruga allein auf seinem Zimmer war, fuhr er fort, ihm
+das Leben auf seinem Dorfe auszumalen. Deruga könne ihn auf seinen
+Gängen begleiten, er verstehe ja mit einfachen Leuten umzugehen und
+werde bald der Gott der ganzen Gegend sein. Übrigens würden seine Frauen
+genug mit ihm zu schwatzen haben, und wenn er außerdem noch eine
+Beschäftigung haben müsse, so könne er ja diese oder jene medizinische
+Frage bearbeiten. Auch zu handwerklicher Beschäftigung gebe es
+Gelegenheit. Die Leute dort oben wären um mehr als hundert Jahre zurück,
+hätten Werkzeuge aus der Urwelt. Da wäre ein Feld für seine
+Erfindungsgabe und Geschicklichkeit.
+
+»Ach,« sagte Deruga, »wie wenig du mich kennst! Begreifst du nicht, daß
+ich mich nach acht Tagen langweilen und nach vierzehn Tagen dich oder
+mich umbringen würde?«
+
+»Langweilen?« wiederholte Gabussi erstaunt, seine großen Augen noch
+weiter öffnend. »Langweilst du dich denn in der Stadt?«
+
+»Nein, hier geht es an,« sagte Deruga, »dies Gewimmel von Würmern auf
+der Fäulnis unterhält mich. Ich verabscheue es, aber ich gebrauche es.
+Es ist die Form des Lebens, die ich aufnehmen kann. Deine Berge wirken
+wie nasse Knödel auf meinen Magen.«
+
+»Ich verstehe dich nicht,« sagte Gabussi, sich ereifernd, »das kann dein
+Ernst nicht sein. Einem guten Menschen muß das Große und Einfache wohl
+tun.«
+
+»Ach, Gabussi,« erwiderte Deruga ungeduldig, »der Mensch ist kein
+Dreieck, worauf man den Pythagoräischen Lehrsatz anwenden kann. Glaube
+mir, daß ich schließlich deine gute, alte Schwester verführen würde,
+nur um die klare Atmosphäre ein bißchen zu trüben!«
+
+»Dodo, wenn deine arme Mutter dich so reden hörte!« klagte Gabussi. »Es
+sind nur Reden, nur Worte; doch die Worte schon zerreißen mir das Herz.«
+
+Die Unterredung setzte sich bis tief in die Nacht fort, ohne daß die
+Freunde zu einem Verständnis gekommen wären. Gabussi bestand darauf, in
+München zu bleiben, bis der Prozeß beendigt wäre, und dann, falls er
+nach Wunsch erledigt wäre, Deruga sofort mitzunehmen, wogegen dieser
+eine stets wachsende Abneigung ausdrückte. Vielmehr redete er Gabussi
+zu, ohne Zeitverlust abzureisen, da er zu Hause von Mutter und Schwester
+und von seinen Kranken ungeduldig erwartet würde, hier aber jetzt nichts
+nützen könne. Gabussi gab endlich nach, aber er war traurig und
+enttäuscht.
+
+Im Augenblick der Trennung umarmte Deruga ihn mit der alten Herzlichkeit
+und mit Tränen in den Augen. »Vergiß das verzweifelte Zeug, das ich
+geredet habe,« sagte er, »und glaube nur das eine, daß mein Herz immer
+dasselbe ist. Und wenn dich morgen der Schlag trifft und zu einem
+schlottrigen Idioten machte, der seinen Mund nicht mehr finden kann, so
+würde ich dich zu mir nehmen und dich eigenhändig füttern, solange du
+lebtest. Dasselbe laß mich von dir glauben! Was für ein Strudel von
+Dreck wäre das Leben, wenn es nicht unwandelbare Herzen gäbe!«
+
+»Gott sei Dank,« sagte Gabussi, dessen große braune Augen glänzten, »ich
+glaube, ich hätte dem Himmel über meinem Kopfe mißtraut, wenn ich den
+Glauben an dich verlieren müßte!«
+
+
+
+
+=X.=
+
+
+Die Baronin saß mit ihrer Tochter vor dem mit Gas geheizten Kamin und
+betrachtete ihre auf das Gitter gestützten schmalen Füße, während sie
+sagte:
+
+»Was meinst du, Mingo, wenn ich dir die Erlaubnis zum Studieren gäbe?«
+
+Mingo stand im Rücken ihrer Mutter am Fensterrand und starrte auf das
+nach einem raschen, starken Frühlingsregen schwarzblanke Pflaster, in
+dem die eben angezündeten Lichter sich spiegelten. Ihre Stimme klang
+schwach und müde zu der Fragenden hinüber, wie sie die Gegenfrage
+stellte: »Hast du denn die Absicht, es mir zu erlauben?«
+
+»Ich habe gedacht,« antwortete die Baronin, »daß ich es doch nie übers
+Herz bringen werde, dich zu einer dir unsympathischen Heirat zu zwingen,
+und daß also daran gedacht werden muß, was aus dir werden soll, wenn du
+spät oder gar nicht heiratest. Glaubst du denn, daß das Studium dich
+glücklich machen wird?«
+
+»Glücklich?« sagte die schwache Stimme vom Fenster her. »Ach, Mama! Aber
+es wird mich doch auf eine interessante und nützliche Art beschäftigen.«
+
+»Früher,« sagte die Baronin erstaunt und fast ein wenig unwillig, »als
+du mich mit diesem Wunsche so sehr quältest, tatest du, als ob deine
+Seligkeit davon abhinge.«
+
+Mingo trat vom Fenster weg und kauerte sich in einen Sessel, den sie
+neben den ihrer Mutter gerückt hatte.
+
+»Ob wohl alle Wünsche verblassen?« sagte sie, »wenn sie ihrer
+Verwirklichung nahekommen? Aber, Mama, vielleicht kann ich mich nur
+heute abend nicht so recht freuen, weil ich müde bin. Wenn du mir jetzt
+die Erlaubnis mit ins Bett gibst, werde ich morgen früh ganz glücklich
+damit erwachen.«
+
+Die Baronin warf einen nachdenklichen, freundlichen Blick auf ihre
+Tochter.
+
+»Nein, geh' noch nicht zu Bett, Kleines,« sagte sie. »Ich finde es so
+hübsch, mit dir allein zu plaudern. Weißt du, das Heiraten steht dir ja
+immer noch frei, aber es ist lange nicht so unterhaltend, wie du es dir
+jetzt wohl vorstellst, besonders wenn man nur um des Geldes willen
+heiratet.«
+
+»Hast du Papa um des Geldes willen geheiratet?« fragte Mingo.
+
+»Nun, nicht in dem Sinne, daß er mir ohne Geld unannehmbar gewesen
+wäre,« sagte die Baronin, »im Gegenteil, er gefiel mir gut und zog mich
+an. Nur hätte das vielleicht nicht zu einer Heirat geführt, wenn er
+nicht so vermögend gewesen wäre.«
+
+»Gefiel er dir später nicht mehr so gut?« fragte Mingo zaghaft.
+
+»O, gefallen,« sagte die Baronin, »muß er einem doch. Er ist so
+außerordentlich vornehm, nie aufdringlich, nie geschmacklos. Nur
+langweilig ist er, kannst du dir das denken?«
+
+»Ja,« nickte Mingo, »ich kann es mir vorstellen. Aber ich dachte, wenn
+man sich liebt!«
+
+»Ach, kleine Torheit,« lachte die Baronin. »Liebe allein füllt nicht
+einen einzigen Abend aus, wenn man einmal verheiratet ist.«
+
+»Ach,« sagte Mingo und träumte mit ihren großen, dunklen Augen auf die
+rotwogende Kupferplatte des Kamins. »Aber man hat doch Kinder,« fuhr sie
+nach einer Weile fort.
+
+Die Baronin lachte ihr junges, anmutiges Lachen. »Du Kind bist mir bald
+genug davongelaufen.«
+
+Mingo fühlte plötzlich eine große Welle von Liebe und Mitleid für die
+Mutter in sich aufsteigen, setzte sich mit einem Sprung auf ihren Schoß,
+schlang die Arme um sie und küßte sie. »Du, meine Frisur und meine
+Spitzen,« rief die Baronin erschreckt; doch war ihr anzumerken, daß sie
+sich der Erschütterung dieses Zärtlichkeitsausbruchs nicht ungern
+hingab.
+
+»Siehst du,« sagte Mingo fröhlicher als vorher, »daß es doch besser ist
+zu studieren! Das ist nicht langweilig und läuft nicht fort.«
+
+»Für mich ist es zu spät,« meinte die Baronin; »aber für dich mag es das
+Richtige sein!«
+
+Mingo tröstete, ihre Mutter sei so klug; wenn sie wolle, könne sie es
+auch.
+
+Die Baronin schüttelte den Kopf. »Mein Verstand hat nie geturnt,« sagte
+sie, »er kann mit Grazie über einen Bach hüpfen und eine Blume pflücken
+und dergleichen, aber nichts, wozu man Muskeln braucht. Anstrengen kann
+ich mich in gar keiner Weise mehr. Vielleicht hätte ich es früher
+gekonnt, wenn die Notwendigkeit oder sonst ein starker Antrieb dagewesen
+wäre.«
+
+»Mama,« sagte Mingo, die noch immer auf dem Schoße ihrer Mutter saß,
+»warst du nie verliebt? Vor deiner Heirat oder nachher?«
+
+»Nein, so eigentlich verliebt nie,« antwortete die Baronin. »Weißt du,
+früher, als ich in deinem Alter war, hielt ich für Liebe das
+schmeichlerische Gefühl, das man hat, wenn man angebetet wird. Je besser
+einem der gefiel, der einen anbetete, desto angenehmer war es; selbst zu
+lieben, hatte ich gar kein Talent oder Bedürfnis. Und als ich
+verheiratet war, hatte ich mir vorgenommen, mir nichts Ernstliches
+zuschulden kommen zu lassen, und das stand mir immer im Wege.«
+
+Mingo hatte sich inzwischen zu Füßen ihrer Mutter auf den Boden gekauert
+und starrte wieder in den geheimnisvoll wogenden, kupfernen Feuerkessel.
+»Dann weißt du gar nicht, wie es ist, von einer Leidenschaft hingerissen
+zu sein?« fragte sie.
+
+»Du scheinst es mir fast vorzuwerfen,« sagte die Baronin mit einem
+Anflug von Schärfe im Ton, aber nach einer Weile fuhr sie milder fort:
+»Es mag sein, daß ich deswegen nicht schlechter wäre. Übrigens nahm ich
+mich nicht eigentlich um deines Vaters willen zusammen, sondern es war
+ein Ausfluß meiner Natur. Große Aufregungen und Umwälzungen lagen mir
+nicht, und das, was ich einmal gewählt hatte, wollte ich durchführen.
+Ich halte das für ein Erfordernis des guten Geschmacks.«
+
+»Ja, Mama,« sagte Mingo, indem sie auf die gepflegte, mit vielen
+kostbaren Ringen allzu belastete Hand ihrer Mutter einen Kuß drückte,
+»und Papa und ich haben Ursache, dir dankbar zu sein. Nur für dich
+macht es mich fast traurig.«
+
+»Mach' dir darüber keine Gedanken, mein Kleines,« sagte die Baronin.
+»Was einem nicht ansteht, das würde einen auch nicht glücklich machen.
+Ich habe mir einen anderen Weg zu meinem Glücke ausgedacht.«
+
+»Was meinst du, Mama?« fragte Mingo erschreckt.
+
+Die Baronin errötete, ohne daß es im roten Widerschein der Kaminglut
+sichtbar geworden wäre. »Das erzähle ich dir ein andermal, Liebling,«
+sagte sie. »Ich höre eben ein Auto vorfahren. Das wird dein Vater sein.«
+
+»Mama,« sagte Mingo rasch. »Du hast mir noch nicht versprochen, daß du
+von dem Prozeß zurücktreten willst. Ohne das kann mich nichts, nichts
+glücklich machen. Ich will gern auf das Studium verzichten und immer, so
+lange ich lebe, bei dir bleiben, damit du dich nicht langweilst, wenn du
+mir nur das zuliebe tust.«
+
+»Rege dich nicht auf, Mingo,« sagte die Baronin abwehrend, »du weißt,
+daß ich das nicht liebe. Nichts in der Welt ist wert, daß man sich
+darüber aufregt. Ich habe dir gesagt, daß ich es mit dem Anwalt
+besprechen will!«
+
+»Ach, dein Anwalt,« sagte Mingo, »der hat dich ja gerade hineingehetzt.
+Er ist ein widerwärtiger Mensch! Er hat etwas Kriechendes, Schleimiges,
+Saugendes, als ob er zum Spion geboren wäre. Ich begreife nicht, daß du
+mit einem solchen Menschen verkehren magst.«
+
+»Das ist doch kein Verkehr,« entgegnete die Baronin. »Ich bediene mich
+seiner Gaben, die ihn für diese Arbeit geeignet machen. Wenn er ein
+Edelmann wäre, würde er mir vermutlich weniger nützen können. Es mag
+sein, daß er auch mich ausnützt, aber er könnte das ja gar nicht, wenn
+er nicht meinte, daß ich recht habe, und daß meine Sache Erfolg haben
+kann. Du tust, als handle es sich um eine Privatangelegenheit, aber es
+handelt sich um ein Verbrechen, an dem die Öffentlichkeit Interesse
+hat.«
+
+»Du sollst die Hand nicht darin haben,« drängte Mingo. »Du hast mir
+selbst zugegeben, daß du an deiner Überzeugung von seiner Schuld irre
+geworden bist.«
+
+»Meine Überzeugung ist nicht maßgebend,« sagte die Baronin. »Die
+Geschworenen sind dazu da, das Recht zu finden. Es handelt sich einfach
+um das Recht. Ich will nichts für mich erzwingen, was nicht dem Rechte
+gemäß ist.«
+
+»O Mama, Mama,« rief Mingo. »Der Schein ist aber auf dir, als wolltest
+du dir das Vermögen erzwingen, das dir nun einmal nicht bestimmt war.«
+
+Die Baronin war sichtlich verletzt. »Ein Kind, das im Überfluß
+aufgewachsen ist, pflegt nicht nachzudenken, woher er fließt,« sagte
+sie. »Du hast es leicht, das Geld gering zu schätzen. Habe ich ein Recht
+darauf, so wäre es lächerlich von mir, darauf zu verzichten. Ob ich das
+Recht darauf habe, das heißt, ob Deruga es nicht hat und ich meine
+Ansprüche mit einiger Aussicht auf Erfolg werde geltend machen können,
+das wird dieser Prozeß ergeben. Dann ist es immer noch Zeit, zu erwägen,
+ob ich es mit einer Klage wegen des Vermögens versuchen soll.«
+
+»Einstweilen könntest du aber doch deinem Anwalt sagen, daß er seine
+Nachforschungen aufgibt,« bat Mingo.
+
+»Ich werde mich mit ihm besprechen,« sagte die Baronin ausweichend, »und
+seine Auffassung hören. Hält er Deruga jetzt für unschuldig, so bin ich
+die erste, mich darüber zu freuen. Persönliche Wünsche in diesen
+Angelegenheiten kommen weder dir noch mir zu.«
+
+
+
+
+=XI.=
+
+
+Einen Tag nach der Abreise Gabussis besuchte der Justizrat seinen
+Klienten, der allein im kalten Zimmer saß. Er hatte das Fenster
+geöffnet, weil der kleine eiserne Ofen zu stark heizte, und hatte
+vergessen, es wieder zu schließen, nachdem es längst kalt geworden war.
+
+Zuweilen trieb der Wind einen Regenguß hinein, ohne daß der Einsame, der
+verdrossen vor sich hinstarrte, es bemerkte.
+
+»Ihr Freund ist also abgereist,« sagte der Justizrat. »Das ist schade,
+da werden Sie sehr niedergeschlagen sein!«
+
+»Ich bin froh, daß er fort ist,« entgegnete Deruga. »Gabussi ist mir der
+liebste Mensch auf Erden, aber es gibt Zeiten, wo er mir im Wege ist. Er
+kann sein Leben lang nüchtern sein, aber ich muß mich zuweilen
+betrinken.«
+
+»So,« sagte der Justizrat, der inzwischen das Fenster geschlossen und
+sich gesetzt hatte, »und jetzt ist der Zeitpunkt für Ihre Saturnalien?
+Passend gewählt.«
+
+Deruga zuckte die Achseln. »Ich richte mich dabei nach dem Kalender,
+dessen System jeder in seinem Körper trägt.«
+
+»Wie Sie wollen,« sagte der Justizrat. »Mich hat etwas ganz anderes
+hergeführt. Kennen Sie eine Frau Valeska Durich aus Prag?«
+
+»Ja,« sagte dieser, »ein aus Dummheit und Verliebtheit zusammengesetztes
+Wesen. Formel =D_{2} V.=«
+
+»Sie müssen es wissen,« sagte der Justizrat, »denn sie scheint eben in
+Sie verliebt zu sein.«
+
+»Ich kann wirklich nichts dafür,« sagte Deruga. »Wenn Sie eine halbe
+Stunde mit ihr zusammen wären und sie womöglich etwas grob behandelten,
+würde sie sich auch in Sie verlieben.«
+
+»Nun, wir werden sehen,« sagte der Justizrat. »Sie will nämlich
+herkommen.«
+
+Deruga lachte auf und zeigte sich dann geärgert. Was die dumme Person
+wolle? Der Justizrat solle ihr schreiben, daß er, Deruga, in
+Untersuchungshaft sei und nichts mit ihr zu tun haben könne und wolle.
+
+»Das käme wohl zu spät,« sagte der Justizrat. »Sie will durchaus
+bezeugen, daß Sie vom Abend des 1. Oktober bis zum Nachmittag des
+dritten bei ihr gewesen seien. Da hätten wir denn ein Alibi.«
+
+»Im Ernst?« sagte Deruga aufhorchend. »Das will die dumme Person? Nun,
+das ist ja eigentlich sehr angenehm. Besser könnte der Knoten gar nicht
+gelöst werden.«
+
+»Das will ich denn doch nicht gerade sagen,« meinte der Justizrat
+bedächtig. »Es ist doch keine Kleinigkeit, wenn einer einen Meineid auf
+sich nimmt.«
+
+»Das ist ihre Sache,« sagte Deruga heftig. »Herrgott, dieser kleinliche
+Wortkram! Es gibt Lügen, die einen anständigeren Ursprung haben als
+manche Wahrheit. Überhaupt ist das ihre Sache. Ich habe so viele
+Belästigungen von ihr ertragen, warum sollte ich nicht auch den Vorteil
+annehmen?«
+
+»Natürlich,« sagte der Justizrat, »wenn es ohne ernstlichen Schaden
+ihrerseits geschehen kann.«
+
+»Es ist merkwürdig, daß Sie auf einmal so bedenklich geworden sind,«
+sagte Deruga scharf. »Durch Sie bin ich in diese Lage gekommen. Wäre ich
+meiner Regung gefolgt, so wäre es längst so oder so zu Ende. Nun sich
+ein Mittel findet, mir den Prozeß in Ihrem Sinne vom Halse zu schaffen,
+machen Sie moralische Ausflüchte.« Er war vor Erregung rot geworden und
+warf einen wütenden Blick auf den Justizrat, der ihn nachdenklich
+betrachtete.
+
+»Ich mußte mir doch erst Klarheit verschaffen,« sagte dieser, »und
+wissen, wie Sie zu der neuen Wendung stehen. Schließlich, wenn Sie
+einverstanden sind! Hatten Sie denn wirklich etwas mit der Dame?«
+
+»Ich mit ihr?« sagte Deruga. »Sie hatte etwas mit mir. Sie quälte mich
+mit ihrer Verliebtheit. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie sie als
+opfermütige Heldin auffassen. Sie ist zu dumm, um die Folgen ihrer
+Handlungen zu übersehen, und so verliebt, daß ihr jedes Mittel recht
+ist, um mich zu gewinnen.«
+
+»Worin sie sich aber verrechnet?« setzte der Justizrat hinzu.
+
+»Natürlich,« sagte Deruga scharf, »dachten Sie, ich solle sie aus
+Dankbarkeit heiraten?«
+
+»O nein,« entgegnete der Justizrat, »Sie wollen jetzt viel höher
+hinaus.«
+
+»Jetzt?« wiederholte Deruga auffahrend, »was meinen Sie damit? Was
+erlauben Sie sich? Meinen Sie, Sie können mich als dummen Jungen
+behandeln, weil ich angeklagt und vogelfrei bin? Ich halte mich
+allerdings für zu gut, mich an eine solche dumme und ungebildete Person
+wegzuwerfen. Die Weiber sind mir überhaupt widerlich.«
+
+»Mit Ausnahmen,« sagte der Justizrat kühl.
+
+»Das stimmt,« fuhr Deruga in hitzigem Tone fort. »Zum Beispiel mit
+Ausnahme der Baronin Truschkowitz. Sie ist habgierig, eitel,
+selbstsüchtig; aber dafür klug, elegant und ganz und gar unmoralisch. So
+müssen Frauenzimmer sein, damit man sich gut mit ihnen unterhalten
+kann.«
+
+»Geschmackssache,« sagte der Justizrat. »Einen Meineid würde sie
+jedenfalls nicht für Sie schwören.«
+
+»Nein, sie ist weder einfältig noch hündisch,« sagte Deruga, »und ich
+mag die Hunde nicht. Was kümmert Sie die Valeska? Lassen Sie sie
+zugrunde gehen, wenn sie will! Sie haben für mich zu sorgen.«
+
+»Das tue ich,« sagte der Justizrat, »und ich zweifle eben, ob es
+ehrenhaft von Ihnen wäre, wenn Sie ein solches Opfer annähmen.«
+
+Deruga lachte höhnisch. »Eins von diesen pompösen Worten,« sagte er,
+»die in eurer Gesellschaft üblich sind. Ehre, Moral, Ideal, Gott,
+Unsterblichkeit, lauter gemalte Säulen auf Sackleinewand. Man braucht
+euch keine dreißig Silberlinge zu bieten, damit ihr Gott verratet.
+Übrigens, wer sagt denn, daß die Valeska einen Meineid schwört? Woher
+wissen Sie, daß ich nicht vom 1. bis 3. Oktober bei ihr war?«
+
+Der Justizrat stand auf, um zu gehen. »Genug für heute,« sagte er; »aber
+ich nehme an, daß das nicht Ihr letztes Wort ist.«
+
+»Und ich bitte Sie,« sagte Deruga, »fangen Sie nicht wieder davon an,
+wenn Sie wollen, daß wir gute Freunde bleiben! Weder Sie noch ich sind
+Valeskas Hüter. Sie tun am besten, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß
+sie leichtsinnig genug war, mich vom 1. bis zum 3. Oktober vorigen
+Jahres bei sich zu beherbergen.«
+
+
+
+
+=XII.=
+
+
+Die Baronin hatte Peter Hase zum Mittagessen eingeladen, damit er ihre
+Tochter kennenlerne. Das Diner fand in einem kleinen, behaglichen Salon
+ihres Hotels statt, dessen in Weiß, Schwarz und Gold gehaltene Wände mit
+Blumenbüschen von ausschweifender Pracht geflammt waren.
+
+Die Baronin teilte ihrem Gaste lächelnd mit, daß er ihrer Tochter noch
+in jeder Beziehung unbekannt sei.
+
+»Meine Tochter,« sagte sie, »hat von ihrem Vater eine gewisse
+Gleichgültigkeit gegen die Literatur geerbt; vielleicht darf ich
+gleichbedeutend sagen, einen gewissen Mangel an Phantasie.«
+
+»Ich möchte es guten Geschmack nennen,« sagte Peter Hase, »denn Jugend
+und Bücher gehören nicht zusammen. Auch steht Herr Baron vielleicht auf
+dem Standpunkt der Alten, welche die Dichter als Lügner verachteten.«
+
+»Ich bin zu wenig belesen, um darüber urteilen zu können,« sagte der
+Baron, »aber so viel ist richtig, daß ich Zeitungen gerne lese, weil sie
+Wahres berichten.«
+
+»Ach Papa, Zeitungen,« lachte Mingo, »die sollen ja gerade am meisten
+lügen.«
+
+»Die Zeitungen sind vielleicht das interessanteste moderne Epos,« sagte
+Peter Hase, »und jedenfalls ist das Leben die schönste Dichtung.«
+
+Die Baronin wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube,« sagte sie, »auch in
+bezug auf das Leben sind die großen Talente unter den Menschen selten.
+Wenige leben ein großes, schön geschwungenes Leben. Bei den meisten
+fällt es zerfahren, kleinlich, alltäglich und sehr langweilig aus.«
+
+»Für flüchtige Leser,« sagte Peter Hase, »man muß sich hinein
+vertiefen.«
+
+»Ach, es lohnt nicht,« sagte die Baronin, »und wo es vielleicht lohnte,
+ekelt es einen. Die Erfahrung haben Sie vielleicht auch bei der
+geheimnisvollen Dame gemacht, die unserem Prozeß plötzlich eine neue
+Wendung zu geben scheint.«
+
+»Die Dame stellte sich allerdings zunächst mehr alltäglich als
+geheimnisvoll dar,« sagte Peter Hase. »Ein vegetatives Wesen, gutmütig,
+schwach, träge, aber mit einer Anlage zum Heroismus, wie primitive
+Frauen sie manchmal haben.«
+
+Mingo, die bis dahin mit fast unhöflicher Teilnahmlosigkeit dagesessen
+hatte, blickte tief errötend auf und sagte hastig: »Wer ist die Dame,
+warum war sie da?«
+
+»Es ist eine Dame, die aussagte, daß Herr Deruga während der
+verhängnisvollen Oktobertage bei ihr gewesen sei, also die Tat, der man
+ihn verdächtigt, nicht begangen haben könnte,« erklärte Peter Hase. Er
+sprach mit Zurückhaltung, da er den Gegenstand für gesellige
+Unterhaltung nicht geeignet, ganz besonders aber für eine junge Dame
+nicht für passend hielt.
+
+»Siehst du, Mama,« rief Mingo triumphierend. »Aber wer ist die Dame, daß
+er so lange bei ihr war? Ist er mit ihr befreundet?«
+
+»Nun, unverheiratete Männer haben eben Beziehungen zu gewissen Frauen,
+Frauen der unteren Stände,« erklärte die Baronin. »Das ersetzt ihnen das
+Familienleben. Und sie bevorzugen ungebildete, anspruchslose Frauen,
+weil sie sich ihnen gegenüber gehen lassen können. Sich gehen zu lassen,
+ist Männern ein wesentliches Bedürfnis.«
+
+»Ich möchte es eine Schutzvorrichtung der Natur nennen,« sagte Peter
+Hase, »die gerade dem Kulturmenschen als eine Entspannung seiner stets
+gespannten Kräfte notwendig ist. Aber es ist eine tragische Verkettung,
+daß gerade der Kulturmensch es mehr und mehr verlernt, sich gehen zu
+lassen, bis die unterdrückten Triebe sich zuletzt im Wahnsinn Luft
+machen.«
+
+In Mingos Gesicht war zu lesen, daß sie diese Untersuchung weder
+verstand noch Interesse dafür hatte. »Wie war die Frau?« fragte sie,
+angelegentlich zu Peter Hase hingewendet. »War sie ganz ungebildet? War
+sie eine arme Frau?«
+
+»Nein, das doch nicht,« sagte Peter Hase ernst und schonend. »Sie ist
+die Tochter eines Hausmeisters an einem Knabengymnasium, und es
+scheint, daß sie dadurch früh bedenklichen Einflüssen ausgesetzt war.
+Offenbar sucht sie in rührender Art an dem, was sie für Bildung ansieht,
+festzuhalten; sie betonte, wenn immer es möglich war, die Liebe zur
+Natur, zu allem Guten, Schönen und Wahren, wie man zu sagen pflegt, und
+sie sprach geflissentlich von der Freundschaft, die sie mit Deruga
+verbände. Das Wort Liebe oder Liebesverhältnis ließ sie nicht gern
+gelten. Ich hatte den Eindruck, daß sie das Bedürfnis hatte, ihrem Leben
+einen Hintergrund von Schönheit und Besonderheit zu geben, soweit sie es
+versteht.«
+
+Die Baronin zuckte ungeduldig die Schultern, und der Baron suchte das
+Gespräch in eine andere Bahn zu lenken, indem er sagte, ähnliche Züge
+fänden sich viel bei den leichtfertigen Frauen der meisten Völker, und
+allerlei aus Japan, China, Indien und anderen Ländern erzählte, die er
+bereist hatte. Er sei in seiner Jugend weit herumgekommen, sagte er,
+aber schließlich habe er gefunden, daß sich in Paris am besten leben
+lasse.
+
+»O, ja, Paris ist stets das mehr oder weniger Gegebene,« sagte die
+Baronin mit einem unterdrückten Seufzer und einem verschmitzten
+Ausdruck, der sie allerliebst kleidete.
+
+Er liebe auch Paris, sagte Peter Hase, und sei im Begriff gewesen, zu
+einem mehrwöchigen Aufenthalt hinzureisen, als Derugas Prozeß ihn
+abgehalten hätte.
+
+»Dieser Mensch scheint eine ungemeine Anziehungskraft zu besitzen,«
+sagte die Baronin.
+
+Peter Hase warf einen unauffälligen Blick zu Mingo herüber, um zu sehen,
+wie das Besprochene sie berührte. Ihre großen Augen hingen mit Spannung
+und Anteil an seinem Gesicht. »Man begegnet so selten,« sagte er,
+»innerhalb der Kultur einem ganz natürlichen Menschen, wie Deruga ist;
+ein Kind, von der Beschaffenheit und in den Verhältnissen eines Mannes.«
+
+»Sie wollen ihn vielleicht in einem Roman verwerten,« spottete die
+Baronin.
+
+»Kaum,« erwiderte Peter Hase ernsthaft. »Er ist doch wohl
+zusammenhanglos für den Bau der Dichtung, wo alles Zweck sein muß und
+nirgends eine Fuge klaffen darf.«
+
+»Unschuldig verurteilt,« fuhr die Baronin fort. »Das wäre doch ein
+Titel, der ziehen würde.«
+
+»Es wird nicht dahin kommen,« sagte Peter Hase, ruhig feststellend. »Die
+Sache wird irgendwie im Sande verlaufen. Ich schließe aus Derugas
+Charakter, daß er bunte Erlebnisse, aber keine großen, tragischen,
+erschütternden haben wird.«
+
+»Hörst du, Mama?« rief Mingo. »Auch Herr Hase ist von seiner Unschuld
+überzeugt. Jeder ist es. Du bist es dir selbst schuldig, nichts mehr
+gegen ihn zu unternehmen.«
+
+»Ich sagte dir schon,« fiel die Baronin ein, »daß ich mit dem Anwalt
+sprechen werde. Seine Sache ist eigentlich nicht meine. In der Tat
+bedaure ich jetzt, daß ich so schwach war, mich von ihm in diese Sache
+hineinziehen zu lassen. Ich kam nicht auf den Gedanken, daß es ihm in
+erster Linie daran lag, sich durch einen aufsehenerregenden Prozeß
+bekannt zu machen. Er spiegelte mir vor, daß ich berufen sei, ein
+Verbrechen ans Licht zu ziehen, und benützte mich als Mittel, um
+berühmt zu werden.«
+
+Die Baronin hatte kaum ausgesprochen, als der Kellner den =Dr.=
+Bernburger anmeldete, den sie zu einer Besprechung ins Hotel gebeten
+hatte.
+
+»Das ist ungeschickt,« sagte die Baronin zögernd, und Peter Hase erhob
+sich, um nicht zu stören. Nein, sagte sie, er dürfe auf keinen Fall
+schon gehen, sie hätten ja noch nicht einmal den Kaffee genommen. Im
+Grunde sei es ihr lieb, wenn sie die Unterhaltung nicht allein zu führen
+brauche, Geschäftliches sei ihr ohnehin zuwider, diese Angelegenheit
+aber vollends verhaßt.
+
+Den nun eintretenden Anwalt begrüßte sie mit einem hochmütigen
+Kopfneigen, dem sie nachträglich eine etwas höflichere Wendung gab, als
+sie bemerkte, daß er sie durchschaute und belächelte. Sie erklärte ihm,
+daß die Anwesenden von allem unterrichtet wären, und daß ihre Gegenwart
+nicht störe, und sagte dann mit einem kalten Blick:
+
+»Die Sache entwickelt sich anders, Herr Doktor, als Sie mir anfänglich
+einredeten.«
+
+»Ich schätze den selbständigen Charakter der Frau Baronin zu hoch,«
+entgegnete =Dr.= Bernburger, »als daß ich wagen möchte, ihr etwas
+einzureden.«
+
+»Nun gut,« sagte die Baronin unwillig, »Sie schilderten mir die Vorgänge
+jedenfalls so überzeugend, wie ...«
+
+»Wie Sie sich nur wünschen konnten,« fiel =Dr.= Bernburger lächelnd
+ein. »Ich bin von der Wahrscheinlichkeit der Vorgänge, wie ich sie
+damals darstellte, heute noch ebenso überzeugt wie damals.«
+
+»Und die neue Zeugin?« fragte die Baronin.
+
+»Eine verliebte Person,« sagte =Dr.= Bernburger wegwerfend, »die
+sich ein Verdienst um ihren Angebeteten erwerben möchte. Sie ist
+durchaus nicht wichtig und wurde nicht einmal vereidigt, weil der
+Gerichtshof sie wegen ihrer Beziehungen zum Angeklagten von vornherein
+nicht für glaubwürdig hielt. Übrigens würden sich wohl Zeugen auftreiben
+lassen, um die Unwahrheit ihrer Aussage darzutun.«
+
+»Nein, Mama,« rief Mingo, in lichter Entrüstung aufspringend, »damit
+sollst du nichts zu tun haben. Dies Spionieren und Hetzen ist unwürdig.
+Ich leide es nicht, daß du dich dazu hergibst.«
+
+=Dr.= Bernburger betrachtete das junge Mädchen lächelnd durch seine
+Brille. »Ginge der Verbrecher nicht dunkle Wege,« sagte er, »brauchte
+man ihm nicht auf dunklen Wegen nachzuschleichen. Die Methode des
+Verbrechers bestimmt die Methode dessen, der ihn entlarven soll. Wenn
+ein Dieb mit Ihrer Börse davonläuft, und Sie wollen ihn wieder haben,
+müssen Sie ihm nachspringen; oder einen anderen für sich springen
+lassen.«
+
+»Ich verlange von niemandem, wozu ich mir selbst zu gut bin,« sagte
+Mingo feindlich. »Übrigens hat uns niemand unsere Börse genommen.«
+
+»Mische dich nicht in Dinge, Kind,« sagte die Baronin verweisend, »die
+du zu wenig kennst, um sie beurteilen zu können. Ich habe indessen doch
+das Gefühl,« wandte sie sich an =Dr.= Bernburger, »daß wir keine
+glückliche Rolle in dieser Angelegenheit spielen.«
+
+»Es kommt auf den schließlichen Erfolg an,« sagte =Dr.= Bernburger,
+»und wie ich Ihnen schon sagte, hat sich meine Überzeugung bisher nur
+gefestigt. Mir ist es, als hätte ich den Vorgang mit erlebt. Ich könnte
+ihn in einem Drama vorführen.«
+
+»Und warum tun Sie es nicht?« rief die Baronin gereizt aus. »Ich glaube,
+die Stimmung wendet sich allgemein dem Angeklagten zu.«
+
+»Herr =Dr.= Deruga hat augenscheinlich viel Glück bei Frauen,«
+sagte =Dr.= Bernburger, »in deren Augen ein Mann überhaupt durch
+den Verdacht eines Verbrechens zu gewinnen pflegt. Ferner begehen viele
+Menschen den Fehler, zu glauben, ein Verbrecher müsse von der Natur mit
+einem besonderen Stempel gezeichnet sein. Müsse roh, brutal, gemein,
+entstellt aussehen. Man bedenkt nicht, daß der Grund der meisten
+Verbrechen die Schwäche des Täters ist, indem er einem Antriebe nicht
+genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und was für eine große
+Rolle der Zufall dabei spielt. Es ist nicht ohne Ursache, daß in
+früheren Zeiten viele Verbrecher selbst glaubten, der Teufel habe es
+ihnen eingeblasen.«
+
+Der Baron meinte, solche Vorstellungen wären gefährlich, indem sie
+einem fast den Mut raubten, den Verbrecher zu verfolgen und zu
+bestrafen.
+
+Der Anwalt zuckte die Schultern. »Hörte man damit auf,« sagte er, »so
+gäbe es ja nur noch Antriebe zum Bösen beziehungsweise Verbotenen, und
+alle Hemmungen fielen fort. Es ist wohl das beste, daß jeder schlechtweg
+das tut, was ihm sein Amt vorschreibt, ohne sich Skrupel über die Folgen
+und innersten Gründe zu machen. Justizrat Fein bringt unentwegt neue
+Entlastungszeugen vor; er hat jetzt wieder einen Professor ausgespielt,
+der eine Zeitlang mit Deruga und seiner Frau dasselbe Haus bewohnte, und
+der, wie es scheint, bestätigen soll, was wir längst wissen, daß Deruga
+ein sogenannter guter Kerl ist, dem man zwar Übereilungen, aber nicht
+überlegte Schlechtigkeiten zutraut. Ich würde meine Pflicht nicht tun,
+wenn ich mich nicht bemühte, Beweise für unsere Überzeugung
+aufzutreiben, und ich hoffe noch immer, daß es mir gelingen wird, etwas
+Abschließendes zu finden. Ich verfolge eine Spur, von der ich aber
+schweigen möchte, bis ich selbst vollkommene Klarheit gewonnen habe.«
+
+Mingo betrachtete =Dr.= Bernburger mit unverhohlenem Abscheu. »Das
+geschieht aber nicht für dich, Mama,« sagte sie in flehend befehlendem
+Tone, »nicht in deinem Auftrage.«
+
+»Bitte, mische dich nicht ein,« sagte die Baronin gereizt, »verlasse uns
+lieber, wenn du dich nicht beherrschen kannst! Weder du noch ich haben
+ein persönliches Interesse an der Angelegenheit, sondern einzig ein
+sachliches. Es kann uns nur angenehm sein, wenn die Wahrheit
+festgestellt wird.«
+
+»Ja, ich habe ein persönliches Interesse,« rief Mingo leidenschaftlich
+aus. »Ich weiß, daß er schuldlos ist. Allen Beweisen zum Trotz, die etwa
+ausspioniert werden, ist er schuldlos und besser als wir alle.« Ihre
+Stimme zitterte, die Tränen waren ihr nahe.
+
+Der Baron und Peter Hase waren gleichzeitig aufgestanden, wie um die
+Kleine zu beschützen. Der Baron stellte sich neben sie und schlug einen
+Spaziergang vor: man müsse bei den immer noch kurzen Tagen die
+Helligkeit benützen. =Dr.= Bernburger hatte das Gefühl, in Ungnade
+und mit Verachtung beladen entlassen zu sein. Die Bitterkeit, die in
+seinem Innern kochte, verdichtete sich mehr und mehr zum rachsüchtigen
+Haß gegen Deruga, während er der Baronin gegenüber nur den inständigen
+Wunsch hatte, ihr zu beweisen, daß er recht gehabt habe.
+
+
+
+
+=XIII.=
+
+
+»Wir wurden mit Deruga dadurch bekannt,« erzählte Professor Vondermühl,
+»daß wir im gleichen Hause wohnten. Kurze Zeit nachdem sie eingezogen
+waren, bekam meine Frau in der Nacht einen Magenkrampf, und um ihr
+möglichst schnell Hilfe zu schaffen, ging ich hinauf und bat Deruga zu
+kommen. Er zeigte die liebenswürdigste Bereitwilligkeit, und auch seine
+Frau bot ihren Beistand an. Seit der Zeit sahen wir uns häufig und haben
+in enger Freundschaft verkehrt, bis Derugas ihr Kind verloren und sich
+bald hernach scheiden ließen.«
+
+»Haben Sie jemals etwas von Mißhelligkeiten zwischen den Ehegatten
+bemerkt?« fragte der Vorsitzende.
+
+»Meine Frau hatte den Eindruck,« sagte der Professor, »daß sie sich zwar
+liebhatten, aber nicht zueinander paßten. Deruga hatte trotz seiner
+Verträglichkeit ein unstetes, unberechenbares Temperament und hätte
+straffer Leitung bedurft; seine Frau vermochte solche nicht auszuüben,
+sondern war zärtlich, anschmiegsam, gleichsam eine Pflanze, die im
+Schutze einer Mauer hätte wachsen sollen. Die Verschiedenheit trat wohl
+nach dem Tode des Kindes, das ein Band zwischen ihnen bildete, schärfer
+zutage.«
+
+»Kam es zuweilen zwischen ihnen zu heftigen Ausbrüchen?« fragte der
+Vorsitzende.
+
+»Eines Abends,« erzählte der Professor, »saßen meine Frau und ich nach
+dem Abendessen auf unserem kleinen Balkon, der vom Wohnzimmer nach dem
+Garten hinausging. In Derugas Wohnzimmer, das über dem unsrigen lag,
+mußte die Tür offenstehen, denn wir konnten ihre Stimmen hören, und wie
+ihr Gespräch allmählich in einen Wortwechsel ausartete. Wir lachten
+darüber, und meine Frau sagte: 'Der schreckliche Mensch, sein Teufel ist
+wieder los' -- was ein Ausdruck von ihr war, um gewisse Launen, denen
+Deruga unterworfen war, zu bezeichnen. Sie schlug vor, wir wollten
+hineingehen, um der Frau willen den Auftritt zu unterbrechen. Ich
+jedoch war dagegen, da mir eine Einmischung in solchem Augenblick
+zudringlich erschien, vielleicht auch aus Bequemlichkeit oder sonst
+einer egoistischen Regung. Wir waren noch in der Auseinandersetzung
+darüber begriffen, als wir Frau Deruga einen unterdrückten Schrei
+ausstoßen hörten, einen Schrei des Schreckens, des Schmerzes, der Angst,
+wie es schien. Da sprang meine Frau auf und lief, ohne meine Zustimmung
+abzuwarten, in das obere Stockwerk hinauf, so daß ich Mühe hatte, mit
+ihr Schritt zu halten. Als ich atemlos oben ankam, hatte Ursula, das
+Mädchen, meiner Frau schon die Tür geöffnet und begrüßte uns mit
+strahlenden Augen. Sie mochte froh sein, daß ihre Herrschaft in diesem
+Augenblick nicht allein blieb.
+
+Deruga empfing uns mit gewohnter Herzlichkeit, von Verlegenheit oder
+Mißstimmung war ihm nichts anzumerken, außer daß er ein paar Redensarten
+wiederholte wie: 'Ach, die Ehe!' 'Man sollte sich das Heiraten
+gründlicher überlegen als das Aufhängen!' und dergleichen. Meine Frau,
+die sehr temperamentvoll war und keine Menschenfurcht kannte, sagte
+scheltend, indem sie sich vor ihn hinstellte: 'Wir Frauen sollten
+allerdings vorsichtiger sein, und zumal die Ihrige hat unüberlegt
+gehandelt, als sie sich einem solchen Wüterich anvertraute. Weil Ihre
+Frau allzu gut ist, darum machen Sie Radau! Sie haben einen kleinen
+Teufel in sich, der Glück und Frieden nicht verträgt, sondern immer
+Schwefelgestank und Höllenspektakel um sich haben muß.' Deruga nahm
+solche Strafpredigten von meiner Frau gern an, weil er fühlte, daß sie
+wahrer Freundschaft entsprangen, und sie ihrerseits lieh auch seinen
+Rechtfertigungen Gehör, in welcher Form immer sie gegeben wurden.
+Diesmal schien er seine Heftigkeit zu bereuen und sagte in
+verhältnismäßig ruhigem Tone: 'Ich gebe zu, daß meine Frau lieb und
+sanft ist, aber ich verwünsche, verfluche und hasse dieses Sanftsein.
+Wenn sie mich liebte, wie sie sollte und könnte, würde sie mich einmal
+anzischen wie eine Schlange und mir sagen, daß ich ein Scheusal wäre,
+mich in Haß oder Liebe umschlingen und erwürgen. Wenn ich eine
+aussätzige alte Frau oder ein verendender Hund wäre, würde sie mich mit
+derselben Liebe und Sanftheit behandeln, die mich zur Wut reizt.' Die
+arme Frau sah ihn, wie ich mich gut erinnere, mit großen Augen an und
+sagte in ihrer Art zornig: 'Ich sagte dir doch eben, daß du ein Scheusal
+wärest,' worüber wir alle lachen mußten. Er umarmte sie und behielt ihre
+Hand in der seinen, während er ihr erklärte, daß das doch nicht das
+Richtige gewesen sei.«
+
+»Sie erwähnten vorhin,« unterbrach der Vorsitzende, »daß Frau Deruga
+einen Schrei ausgestoßen habe. Erfuhren Sie, ob sie nur aus Angst
+geschrien oder ob ihr Mann sie tätlich angegriffen hatte?«
+
+»Das kam nicht zur Sprache,« sagte der Professor. »Vermutlich hatte er
+sie unsanft angepackt. Sie sah bleich und verstört aus. Als wir nach
+einer Stunde aufbrechen wollten, fragte meine Frau sie, ob wir sie nun
+auch mit dem Unhold allein lassen könnten. Worauf sie lachend erwiderte:
+'Für heute hat der Vulkan ausgespien.' Das sagte sie laut und
+unbefangen, und auch Deruga lachte. Meine Frau konnte lange nicht
+einschlafen, weil es ihr unheimlich war, doch gelang es mir, sie zu
+beruhigen, indem ich ihr sagte, sie nähme die Sache zu ernst, Derugas
+Liebe zu seiner Frau habe sich gerade eben deutlich gezeigt.«
+
+»Haben Sie jemals,« fragte der Vorsitzende, »klaren Aufschluß erhalten
+über den Grund der Aufwallungen des Angeklagten gegen seine Frau? Oder
+lag derselbe nach Ihrer Meinung nur in seinem Temperament und in der
+Verschiedenheit der Gatten?«
+
+»Deruga deutete gelegentlich an,« sagte der Professor, »daß er Ursache
+zur Eifersucht habe, und zwar bezog sich dieselbe auf einen Mann, zu dem
+seine Frau, bevor sie Deruga heiratete, eine Zuneigung gehabt hatte, den
+sie aber, weil er gebunden war, nicht hatte heiraten können. Der
+Umstand, daß die alte Frau dieses Mannes starb, scheint seine Eifersucht
+und seinen Argwohn so sehr gesteigert zu haben, daß ihr Leben an seiner
+Seite unbehaglich wurde. Man war vielfach der Ansicht, sie habe die
+Scheidung betrieben, um jenen anderen zu heiraten, was aber die
+folgenden Ereignisse nicht bestätigten, denn sie ist bekanntlich ledig
+geblieben.«
+
+»Halten Sie für möglich,« fragte der Vorsitzende, »daß die Furcht vor
+dem Angeklagten dabei den Ausschlag gab? Er könnte Drohungen gegen sie
+und den Mann ausgestoßen haben, falls sie ihn heiratete?«
+
+»Für möglich muß ich das halten,« sagte der Professor nach einigem
+Besinnen, »aber etwas Bestimmtes kann ich nicht darüber sagen. Meine
+Frau würde besser unterrichtet sein, da sie sehr mit Frau Deruga
+befreundet und gerade damals viel mit ihr zusammen war. Zwar pflegte sie
+mir alles genau zu erzählen; aber ich habe nicht alles genau genug
+behalten, um es unter solchen Umständen wiedererzählen zu können. Das
+weiß ich sicher, daß Frau Deruga, nachdem sie geschieden war, sich eine
+Zeitlang mit der Absicht trug, jenen Mann zu heiraten, daß sie aber
+davon abstand. Der Betreffende hat sich dann anderweitig verheiratet,
+soll aber unglücklich geworden sein und ist vor einigen Jahren
+gestorben.«
+
+=Dr.= Zeunemann bemerkte, aus den Schilderungen des Professors
+scheine hervorzugehen, daß seine Frau diesen Verkehr mehr als er
+gepflegt habe; ob etwa zwischen ihm und Deruga keine Sympathie bestanden
+habe.
+
+»Nein, nein,« sagte der Professor, »das wäre kein zutreffender Ausdruck.
+Er teilte meine wissenschaftlichen Interessen nicht, und mir ist das
+Schweben und Gaukeln über den Tiefen, das Ausspielen von Hypothesen und
+Paradoxen, das Phantasieren im Unmöglichen nicht gegeben. Ich war zu
+schwerfällig für die oft grotesken Sprünge seines Geistes. Sie
+belustigten mich wohl, aber im Grunde wußte ich nichts damit anzufangen.
+So kam es, und auch weil ich sehr beschäftigt war, daß meine Frau die
+Beziehungen mehr pflegte, wozu sie schon durch ihre Jugend besser paßte.
+Sie war bedeutend jünger als ich und mußte doch vor mir sterben.«
+
+Ob seine Frau nach dem Wegzuge von Frau Deruga mit dieser im
+Briefwechsel gestanden habe, fragte der Vorsitzende.
+
+Es wären allerdings Briefe der Frau Deruga vorhanden gewesen, sagte der
+Professor, er hätte sie aber nach dem Tode seiner Frau verbrannt, damit
+sie nicht später Unberufenen in die Hände fielen. Er habe darin
+geblättert, bevor er sie zerstört hätte, und erinnere sich einer Stelle,
+wo sie geschrieben hätte, der Frieden und die Freudigkeit, die sie sich
+von der Auflösung ihrer Ehe erwartet hätte, ließe noch immer auf sich
+warten.
+
+»'Ich ertappe mich jetzt oft darauf,' so etwa schrieb sie, 'daß ich
+anstatt wie sonst vorwärts, in die Zukunft zu blicken, stehenbleibe und
+mich zurückwende. Sollte das die Besinnung des Alters sein? Ach nein,
+wie konnte ich auch erwarten, daß ich jemals anderswohin sollte blicken
+können als dahin, wo mein Kind war, in die Vergangenheit! Für mich gibt
+es keine Zukunft auf Erden mehr.' Diese Stelle ergriff mich, weil ich
+damals, nach dem Tode meiner Frau, selbst anfing, nach rückwärts, statt
+nach vorwärts zu leben, und sie hat sich mir aus diesem Grunde
+eingeprägt.«
+
+Diese Briefstelle, sagte der Vorsitzende, deute nicht darauf, daß die
+Verstorbene eine zweite Heirat ersehnt hätte und nur durch Furcht vor
+dem Angeklagten davon zurückgehalten wäre.
+
+»Dazu möchte ich folgendes bemerken,« sagte der Professor. »Aus anderen
+mündlichen oder schriftlichen Äußerungen der Verstorbenen wäre
+vielleicht auf jenen Wunsch und jene Furcht zu schließen. Hätte man aber
+noch so viele Beweise von Derugas damaligem Geladensein, so scheint es
+mir doch fraglich, ob das mit einem so viele Jahre später begangenen
+Mord in Verbindung gebracht werden könne. Es ist wahr, daß die
+menschlichen Handlungen Ketten sind, deren Glieder ein Götterauge ins
+Unendliche muß verfolgen können; aber ob wir Menschen uns in den
+labyrinthischen Verzweigungen nicht verirren müssen?«
+
+Der Vorsitzende blickte schweigend vor sich nieder, während der
+Staatsanwalt unter kritischen Grimassen den Kopf wiegte. Dann stellte
+=Dr.= Zeunemann die Schlußfrage an den Professor, ob ihm noch
+andere Gründe bekannt wären, mit denen die Scheidung der Derugas damals
+erklärt worden wäre oder erklärt werden könnte.
+
+»Meine Frau wußte,« sagte der Professor, »daß Frau Deruga ihren Mann bis
+zu einem gewissen Grade für den Tod ihres Kindes verantwortlich machte
+und deshalb einen krankhaften Haß auf ihn warf. Es ist das so zu
+verstehen, daß Deruga für Abhärtung und Rücksichtslosigkeit in der
+körperlichen Erziehung des Kindes war, während seine Frau es eher
+verzärtelte. Dieser Gegensatz bildete öfters Anlaß zu Streitigkeiten.
+Auf die Dauer konnte die verständige Frau sich aber doch nicht dagegen
+verblenden, daß Deruga das Kind, auf seine Art, ebenso wie sie geliebt
+hatte und den Verlust ebenso wie sie betrauerte, und sie suchte die
+ungerechte Abneigung zu überwinden, worauf auch meine Frau mit der
+ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperamentes drang. Ich kann also nicht
+glauben, daß diese durch den übermäßigen Schmerz zu erklärende
+Gefühlsverkehrung den Entschluß zur Scheidung bewirkt habe, wenn auch
+vielleicht das Verhältnis dadurch gelockert wurde.«
+
+Es entspann sich nun zwischen den Juristen ein Wortwechsel über den vom
+Staatsanwalt gestellten Antrag, Fräulein Schwertfeger noch einmal zu
+vernehmen, ob sie etwas Aufklärendes über Frau Swieters geplante und
+nicht vollzogene Ehe aussagen könne. Justizrat Fein verwarf es als
+zeitraubend und überflüssig, welcher Meinung sich =Dr.= Zeunemann
+anschloß, der sagte, noch mehr Einzelheiten, wie sie auch ausfielen,
+würden den Prozeß nicht weiterbringen. Für die Eigenart Derugas, die
+darin bestehe, daß er sich im labilen Gleichgewicht befinde, ließen sich
+vermutlich noch zahlreiche Beispiele aufbringen. Es handle sich aber
+nicht hier darum, die Geschichte seiner Seele zu erforschen, sondern die
+Geschichte seines Lebens vom 1. bis zum 3. Oktober festzustellen. Darauf
+bezüglich habe Fräulein Schwertfeger nichts mehr zu sagen.
+
+»Ich bitte die Herren dringend,« sagte der Justizrat, »sich auf
+Tatsachen zu beschränken, damit wir den Knoten nicht noch mehr
+verwirren, anstatt ihn aufzulösen.«
+
+»Was für Tatsachen?« fragte der Staatsanwalt, so plötzlich von seinem
+Sitz aufschnellend, daß der Justizrat die Antwort nicht gleich bereit
+hatte.
+
+»Tatsachen, die sich auf den angeblichen Mord beziehen,« entgegnete er
+nach einer Pause. »Aus Mangel an Tatsachen werden Alltäglichkeiten
+hervorgezerrt und aufgebauscht. Verliebte pflegen den Gegenstand ihrer
+Liebe im Falle der Untreue mit dem Tode zu bedrohen, ohne daß der
+Gegenstand selbst oder jemand anders darauf Gewicht legt. Dergleichen
+hat nicht mehr Bedeutung als die Schwüre der Liebe.«
+
+»Es kommt darauf an, was nachfolgt,« sagte der Staatsanwalt. »Übrigens
+wären uns allen Tatsachen auf der Handfläche lieber; da der Angeklagte,
+der es könnte, sie uns aber nicht liefert, so bleibt uns nichts übrig,
+als den Grund zu untersuchen, aus dem die Handlungen wachsen, nämlich
+das menschliche Gemüt.«
+
+»Der Angeklagte lieferte sie uns nicht?« begann der Justizrat. Allein
+=Dr.= Zeunemann bat, den fruchtlosen Streit zu beenden, und
+forderte Fräulein Schwertfeger auf, dem erhobenen Wunsche genug zu tun
+und noch einige wenige Fragen zu beantworten.
+
+Fräulein Schwertfeger, die blasser und elender aussah als am ersten
+Tage, ließ das unsichtbare Visier über ihr Gesicht herab und fragte,
+indem sie zögernd vortrat, ob sie dazu verpflichtet sei, durchaus
+private Angelegenheiten hier an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie könne
+sich das nicht denken.
+
+»Im Staate ist das Private durchgehend mit dem Öffentlichen verknüpft,«
+sagte =Dr.= Zeunemann sanft belehrend. »Nur soweit die Öffentlichkeit
+Interesse daran hat, bitte ich Sie noch um einige Aufschlüsse über die
+Verhältnisse Ihrer verstorbenen Freundin. Frau Swieter hatte vor ihrer
+Heirat mit dem Angeklagten freundschaftliche Beziehungen zu einem Manne,
+die sie abbrach, da sie zu einer Ehe nicht führen konnten, und die
+vermutlich, solange die Ehe mit dem Angeklagten bestand, nicht wieder
+angeknüpft wurden.«
+
+»Natürlich nicht,« sagte Fräulein Schwertfeger hochmütig. »Sie sahen
+sich erst wieder, als Frau Swieter hierher übersiedelte.«
+
+»Dabei lebte die beiderseitige Neigung auf, und die Wiedervereinigten
+beschlossen, sich zu heiraten. Ist es nicht so?« fragte =Dr.=
+Zeunemann.
+
+»Ja,« antwortete das Fräulein trocken.
+
+»Was war die Ursache, daß dieser Beschluß nicht ausgeführt wurde?«
+fragte =Dr.= Zeunemann weiter. »Es ist unmöglich, daß Sie, als
+nächste Freundin der Verstorbenen, nicht davon unterrichtet sein
+sollten.«
+
+»Es lag nicht in der Natur meiner Freundin, sich bis aufs letzte
+auszusprechen,« sagte Fräulein Schwertfeger, »und es liegt nicht in
+meiner, Verschwiegenes zu erpressen. Meine Freundin war damals sehr
+aufgeregt und äußerte sich ungleich. Einmal sagte sie mir unter Tränen,
+ihre alte Liebe sei so stark wie je, wolle sie sich aber an die Brust
+des Geliebten werfen, so stehe ihr Mann, das Kind an der Hand
+dazwischen, und dieser Schatten ihrer Einbildung sei undurchdringlicher
+als eine Mauer.«
+
+»Haben Sie das so aufgefaßt,« fragte =Dr.= Zeunemann, »als fürchte
+sie sich vor ihres Mannes Rache, oder als dränge sich die Erinnerung
+zwischen sie und ein neues Glück?«
+
+»Ich habe es damals so aufgefaßt,« lautete die Antwort, »als sei
+=Dr.= Deruga schuld daran, daß meine Freundin den Mann nicht
+heiratete, den sie liebte. Es tat mir sehr, sehr leid, daß diese Heirat
+nicht zustande kam. Ich kannte diesen Mann viel besser als =Dr.=
+Deruga und hatte viel mehr Sympathie für ihn, schon deshalb, weil ich
+glaubte, meine Freundin würde es gut bei ihm haben.«
+
+»Wenn Sie jenen Herrn gut kannten,« sagte =Dr.= Zeunemann, »so
+haben Sie vielleicht mit ihm darüber gesprochen und wissen, wie er es
+auffaßte?«
+
+»Er faßte es so auf,« sagte Fräulein Schwertfeger mit sehr bösem
+Gesicht, »als fürchte Frau Swieter, Deruga würde ihn töten, wenn er sie
+heiratete. Es ist unmöglich, daß sie ihm das gesagt hat, weil ihn das
+weniger traurig machen mußte, als wenn er gewußt hätte, welchen Anteil
+Deruga an ihrem Gemütsleben hatte. Es kann auch sein, daß er das glauben
+wollte, weil es seinen Stolz am wenigsten verletzte. Er war stolz und
+herrschsüchtig.«
+
+»Wenn Ihre Freundin ihn so sehr liebte,« sagte =Dr.= Zeunemann, »so
+muß ein starkes Motiv sie abgehalten haben, ihn zu heiraten.«
+
+»Natürlich,« sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie hat damals auch sehr
+gelitten. Sie überwand es aber verhältnismäßig bald und sagte später
+stets, sie glaube, richtig gehandelt zu haben.«
+
+
+
+
+=XIV.=
+
+
+Es war Abend, als =Dr.= Bernburger müde in seine Wohnung kam. Er
+warf sich auf den schäbigen Diwan, den er alt gekauft hatte, und sah
+sich fröstelnd nach irgend etwas um, womit er sich zudecken könnte.
+Drinnen war es kälter als draußen, aber abgesehen davon, daß er aus
+Sparsamkeit am Abend womöglich nicht mehr einheizte, fühlte er sich auch
+zu erschöpft und unlustig dazu. Mißvergnügt sah er sich in dem kahlen,
+an ein Zimmer in einem Hotel zweiten Ranges erinnernden Raum um und
+dachte darüber nach, woher und wozu er diesen Hang nach einer schönen,
+behaglichen Umgebung habe, den er vielleicht nie würde befriedigen
+können. Um seiner Verstimmung zu entrinnen und sich zu erwärmen,
+beschloß er, in ein Café zu gehen. Da fand er vor der Glastür, die seine
+Wohnung abschloß, eine kleine, verhutzelte Frau stehen, die schon eine
+Weile nach der Klingel gesucht hatte und ihn fragte, ob hier ein Herr
+Rechtsanwalt wohne. Der sei er, sagte =Dr.= Bernburger; aber jetzt
+werde nicht mehr gearbeitet, sie solle am folgenden Tage in seine
+Sprechstunde kommen. Die kleine Frau setzte auseinander, daß sie das
+nicht könne, weil sie tagsüber bei den Herrschaften sei, um zu waschen;
+ihr Mann habe sie ja verlassen, und sie müsse die Kinder allein
+durchbringen. Sie komme auch jetzt von der Arbeit, und zwar komme sie,
+weil der Herr Tönepöhl vom Vorderen Anger sie geschickt habe.
+
+Bei der Nennung dieses Namens durchfuhr den Anwalt ein Gedanke, der ihm
+das Blut ins Gesicht trieb und ihn bewog, mit der kleinen Frau in sein
+Zimmer zurückzukehren. Während er Licht machte, bat er sie, sich zu
+setzen und zu erzählen, was sie herführe, und da sie, als er damit
+fertig war, noch immer bescheiden an der Tür stand, nötigte er sie
+selbst auf einen Stuhl und nahm ihr den großen Deckelkorb ab, den sie in
+der Hand trug. Sie lächelte verlegen und dankbar und begann ihre
+Erzählung:
+
+Vorgestern sei sie zu Herrn Tönepöhl, dem Tändler im Vorderen Anger,
+gekommen, um ein Paar Schuhe für ihren Ältesten zu kaufen, und da habe
+ihr ein Paar besonders gut gefallen, weil es ungefähr die rechte Größe
+gehabt hätte; aber es sei zu teuer gewesen. Da habe sie zu Herrn
+Tönepöhl gesagt, sie habe einen Arbeitskittel von ihrem seligen
+Mann -- sie sage nämlich immer 'ihr seliger Mann', seit er auf und davon
+gegangen sei -- der sähe wie neu aus, ob er den nicht dagegen annehmen
+wolle. Herr Tönepöhl habe barsch gesagt, wie er überhaupt sehr
+hochfahrend gegen die armen Leute sei, für solches Lumpenzeug habe er
+keine Kunden. Da habe seine Frau, die in einem alten Koffer gekramt
+habe, dazwischen geschrien, er solle nicht ein solcher Tölpel sein, der
+Herr Rechtsanwalt habe ihm doch viel Geld für einen alten Kittel
+versprochen, und er, der Mann, habe dem Herrn Rechtsanwalt fest
+zugesagt, sich danach umzusehen, und nun sähe man, was für ein
+Windbeutel er sei. Darauf habe Herr Tönepöhl seinerseits geschimpft, sie
+sei dümmer als ein Hering. Der Herr Rechtsanwalt würde ihm den Kittel
+an den Kopf werfen, denn er wolle einen, der auf der Straße gefunden
+sei. Nun sei nämlich der alte Anzug, den sie gemeint habe, gar nicht von
+ihrem seligen Manne gewesen, sondern sie habe ihn gefunden, aber wegen
+der Grobheit des Herrn Tönepöhl habe sie sich nicht getraut, das zu
+sagen, damit er nicht eine große Angelegenheit daraus mache und
+behaupte, sie habe ihn gestohlen.
+
+Sie sei also fortgegangen, habe aber an der Türe noch mit Frau Tönepöhl
+geschwatzt und sie gefragt, was für ein Herr Rechtsanwalt das sei, und
+sie habe ihr alles erzählt und auch, daß es sich um einen großen Prozeß
+handle, und daß man ein gutes Stück Geld verdienen könnte, wenn man den
+rechten Anzug brächte. Darauf habe sie gedacht, sie wolle den Kittel in
+Gottes Namen dem Herrn Rechtsanwalt bringen, er werde ihr ja nichts
+Böses antun und sie ins Unglück stürzen, wo sie ja nur komme, weil ihm
+so viel daran gelegen sei.
+
+Nun freilich, sagte =Dr.= Bernburger, er sei ihr sehr dankbar, und
+ob er den Anzug brauchen könne oder nicht, er wolle sie für die Mühe
+entschädigen. Sie sei eine brave, kleine Frau und solle recht gründlich
+erzählen, wie sie zu diesem Kittel gekommen sei.
+
+Es sei der 3. Oktober gewesen, erzählte die Frau. Sie erinnere sich
+deswegen so gut daran, weil sie an dem Tage schon vor fünf Uhr aus dem
+Hause gegangen sei. Die Frau Kommerzienrat Steinhäger habe sie nämlich
+ersucht, eine Stunde früher zu kommen und eine oder zwei Stunden länger
+zu bleiben, damit sie womöglich an einem Tage mit der Wäsche fertig
+würde; es habe sich ein auswärtiger Besuch auf den folgenden Tag bei ihr
+angemeldet, und das passe so schlecht, wenn Wäsche sei. Weil nun die
+Frau Kommerzienrat sonst eine gute Frau wäre, habe sie es ihr zugesagt,
+und so sei sie denn schon vor fünf Uhr durch die Bahnhofsanlagen
+gekommen, als noch kein Mensch unterwegs gewesen sei. Ein starker Wind
+habe geweht, so daß die hohen Bäume sich gebogen hätten, und die dürren
+Blätter wären ihr wie Fledermäuse um den Kopf geflogen.
+
+Auf der Brücke habe sie einen Augenblick stillstehen müssen, so habe
+der Wind gegen sie angeblasen, und da habe sie etwa hundert Schritt
+weiter am Ufer etwas Schwarzes gesehen. Zuerst habe sie gemeint, es sei
+ein Kind oder ein Hund, weil es scheinbar Arme oder Beine ausgestreckt
+hätte, und sie sei schnell hingelaufen, anstatt dessen sei es ein mit
+Bindfaden umschnürter Anzug gewesen. Offenbar sei er in Papier
+eingewickelt gewesen, das habe aber das Wasser größtenteils aufgelöst
+und weggerissen. Sie habe den Anzug losgemacht und ausgerungen und
+beschlossen, ihn mitzunehmen. Denn der, dem er gehört habe, müsse ihn
+doch weggeworfen haben, also sei es kein Unrecht, und vielleicht könne
+ihr seliger Mann ihn gebrauchen, wenn er etwa einmal wiederkäme, oder
+sonst ihr Ältester, wenn er erwachsen sei. Ob der Herr Rechtsanwalt
+meine, daß sie unrecht getan hätte?
+
+Sie betrachtete ihn ängstlich gespannt aus ihren braunen Augen, die wie
+zwei kleine, fleißige Nachtlämpchen aus dem verschrumpften Gesicht
+herausleuchteten.
+
+Aber nein, sagte =Dr.= Bernburger, da könne mancher reiche und
+angesehene Mann froh sein, wenn er nicht mehr als das auf dem Gewissen
+hätte. Das sei ja herrenloses Gut gewesen. Sie habe recht getan, sie sei
+ein wackeres Frauchen. Gewiß habe sie den Kittel in ihrem Henkelkorbe?
+
+Ja, sagte die kleine Frau erleichtert, sie habe ihn gleich mitgebracht,
+um nicht noch einmal kommen zu müssen. Denn es sei ein großer Umweg für
+sie, und ihre Kinder pflegten sie abends ungeduldig zu erwarten.
+
+Sie nahm ein Paket aus dem Korb, und =Dr.= Bernburger faltete den
+Anzug auseinander.
+
+»Wissen Sie,« sagte er, »ich kaufe Ihnen den Anzug ab, ob es nun der
+rechte ist oder nicht. Sind Sie zufrieden, wenn ich Ihnen vorderhand
+zehn Mark gebe? Sie sollen aber noch mehr bekommen, wenn es sich
+herausstellt, daß es der ist, den ich suche.«
+
+Die kleine Frau wurde rot vor schreckhafter Freude. Nun könne sie ihrem
+Ältesten die schönen Schuhe kaufen, sagte sie.
+
+Aber sie solle Herrn Tönepöhl nichts von dem Geschäft sagen, das sie
+miteinander gemacht hätten, rief =Dr.= Bernburger ihr die Treppe
+herunter nach. Der brauche nichts davon zu wissen.
+
+Heiß, fast blind vor Triumph trat =Dr.= Bernburger in das Zimmer
+zurück, dessen Kälte und Leere er nicht mehr fühlte. Sein Gedankengang
+war also richtig gewesen! Einmal kreuzte doch der Weg des Glückes den
+seines Verstandes. Wie würden sie staunen, wenn er ihnen das Rätsel
+löste und zugleich das Beweisstück vorlegte! Würde man angesichts dessen
+noch zweifeln können? Vielleicht war irgendein Abzeichen an dem Anzuge,
+welches die Ermittlung des Geschäftes, wo er gekauft war, erlaubte. Eine
+genaue Untersuchung des Anzuges ergab nichts Derartiges, dagegen war
+deutlich zu erkennen, daß ein neues gutes Stück vorlag, dem durch
+absichtlich eingesetzte Flicken der Schein eines dürftigen, oft
+getragenen Arbeitergewandes zu geben versucht worden war.
+
+Indem =Dr.= Bernburger den Rock hin und her wendete, entdeckte er
+eine zugeknöpfte Seitentasche, öffnete sie, griff hinein und zog einen
+Briefumschlag heraus, der eine von der Nässe verwischte, aber lesbare
+Aufschrift trug. Er las: »Herrn =Dr.= S.E. Deruga,« dann die Stadt
+und die Straße.
+
+Trotzdem dieser Brief ihm nur bestätigte, was er erwartet hatte, war er
+nicht nur überrascht, sondern fast erschrocken. Versteinert starrte er
+auf den Brief, der da lag wie die Gaukelei erregter Einbildungskraft und
+doch Wirklichkeit war, der Zauberschlüssel, der ihm die Pforte zu
+Ansehen und Reichtum öffnen würde. Daß der Umschlag einen Brief
+enthielt, hatte er gefühlt, aber noch zögerte er ihn herauszunehmen und
+zu lesen. Ihm selbst zum Ärger klopfte ihm das Herz. Wozu die Aufregung?
+Er zwang sich, die peinliche Spannung zu beendigen, indem er las. Der
+Brief lautete:
+
+ »Dodo, lieber Dodo, ich bin todkrank und muß sterben,
+ aber vorher muß ich schrecklich leiden und habe
+ niemand, der mir hilft. Du bist der einzige, der mich
+ lieb genug hat, um mich zu töten. Komm und befreie
+ Deine arme Marmotte, von der Du weißt, wie sie sich
+ vor Schmerzen fürchtet. Dies ist das erste Wort, das
+ ich nach siebzehn Jahren an Dich richte, und es ist
+ eine Bitte. Ach, Dodo, an kein anderes Herz als an
+ Deines würde ich eine solche Bitte zu richten wagen.
+ Komme bald, Du wirst wissen, wie es geschehen kann. Daß
+ ich Dir geschrieben habe, wird kein Mensch erfahren.
+
+ Deine Marmotte.«
+
+=Dr.= Bernburger las und las wieder. Es war ihm ernüchtert und
+ermüdet zumute. War dieser Brief vielleicht eine List, ein nachträglich
+angefertigtes Machwerk, das Deruga oder seine Freunde ihm in die Hände
+gespielt hatten? Nachdem er ihn sorgfältig untersucht und eingesehen
+hatte, daß ein Betrug ausgeschlossen war, schob er ihn in den Umschlag
+und steckte ihn in seine Brusttasche. Dann nahm er Hut und Mantel, um
+ins Café zu gehen. Als er nur wenige Schritte von dem Restaurant
+entfernt war, wo er zu Abend zu essen pflegte, kehrte er um und suchte
+ein anderes Lokal auf, um nicht von Bekannten angesprochen zu werden;
+er hatte das Bewußtsein zerstreut zu sein und wollte nicht auffallen.
+
+Während er aß, mußte er denken, daß ihn nichts abhielte, den Brief in
+den kleinen eisernen Ofen zu werfen, der ein paar Schritt von ihm
+brannte. In einem Nu würden die hastigen Flammen das verhängnisvolle
+Zeugnis vernichtet haben. Er hatte nicht die Absicht es zu tun, aber die
+Vorstellung war so lebhaft in ihm, daß ihm angst wurde, er müsse es
+dennoch, wie man unter dem Eindruck des Schwindels wohl fürchtet, man
+würde sich wider Willen von einer Höhe in den Abgrund werfen.
+
+Wie dumm, dachte er, daß er der alten Frau, durch die er in eine so
+peinliche Lage versetzt war, zehn Mark gegeben hatte! Würde er es über
+sich bringen, von dem Mantel Gebrauch zu machen und den Brief zu
+verschweigen? Wenn er es tat, so war er der Bewunderung und Dankbarkeit
+der Baronin sicher. Welche Genugtuung würde es ihm geben, sie von seinem
+Scharfsinn, von der Richtigkeit seiner Auffassung, die er von Anfang an
+gehabt hatte, zu überzeugen! Was würde sie dagegen sagen, wenn er ihr
+den Brief zeigte: »Sie versprachen mir, Deruga als Verbrecher zu
+entlarven, und sie verschaffen ihm einen Heiligenschein! Sie verstehen
+es, Wort zu halten!« Wahrscheinlich würde sie ihm verbieten, von dem
+Brief Gebrauch zu machen; und das war schließlich für ihn die
+glücklichste Lösung, indem sie ihm zur Pflicht machte, was er aus
+eigener Verantwortung ungern getan hätte. Und wie würde Deruga sich
+verhalten? =Dr.= Bernburger begriff nicht, warum er den wahren
+Hergang verschwiegen hatte. Sollte er auch seinem Anwalt nichts davon
+gesagt haben?
+
+Plötzlich überkam ihn der Wunsch, in die Anlagen zu gehen und die Stelle
+aufzusuchen, wo die Waschfrau den Anzug gefunden haben wollte; in der
+Restauration mochte er ohnehin nicht bleiben, und schlafen hätte er
+ebensowenig können. Er hatte fast eine Stunde zu gehen, bis er an die
+Brücke kam, die über den Kanal führte. Der Schnee, der in der letzten
+Nacht gefallen war, hatte sich aufgelöst und in Schmutz verwandelt, und
+er hörte in der Dunkelheit die Nässe unter seinen Füßen klatschen. Die
+hölzerne Brücke war schlüpfrig, und das Wasser stand sehr hoch; schwarz
+und heimlich-hastig floß es unter ihm fort. Nach einer Weile unterschied
+er etwas weiter unten die wild sich bäumenden Wurzeln einer alten Ulme,
+die das Ufer umklammerte; dort mochte das Bündel Kleider, das der Fluß
+trieb, sich festgehängt haben.
+
+Lange starrte der späte Wanderer auf die Stelle und ging dann weiter,
+bis er nach einigen Schritten vor einer halbkreisförmigen Steinbank
+stand, von der aus man in der schönen Jahreszeit einen angenehmen Blick
+auf die Wiesen hatte, die sich weithin zwischen dunklen Gebüschen
+erstreckten. Vielleicht, dachte er, hatte in der stürmischen
+Oktobernacht Deruga dort gesessen und, nachdem er sich umgekleidet, die
+Stunde erwartet, wo der Zug abging, mit dem er heimfahren wollte.
+Vielleicht war er sehr bewegt und zugleich sehr erschöpft gewesen und
+hatte hier ausgeruht, wo niemand ihn beobachtete. Unwillkürlich
+durchwatete auch =Dr.= Bernburger die aufgeweichte Erde und setzte
+sich auf die steinerne Bank, ohne zu beachten, wie naß sie war. Was
+mochte Deruga gefühlt und gedacht haben, nachdem er die Frau, die er
+einst geliebt und gehaßt hatte, wiedergesehen und für immer verlassen
+hatte? Was für Erinnerungen mochten ihn zusammen mit den raschelnden
+Blättern umschwirrt haben?
+
+Indes er so sann, troff es kalt auf ihn herunter, und plötzlich überlief
+ihn ein Schauer, und er stand auf und ging schnell, ohne sich umzusehen,
+der Stadt zu.
+
+
+
+
+=XV.=
+
+
+Am anderen Morgen fühlte =Dr.= Bernburger sich so abgespannt, daß
+es ihm erlaubt schien, sich als krank zu entschuldigen, und nachdem er
+das telephonisch besorgt hatte, legte er sich wieder zu Bett in der
+Hoffnung, noch einmal einschlafen zu können.
+
+Das Klingeln des Telephons weckte ihn, und mit einem lebhaften Gefühl
+des Überdrusses beschloß er zu tun, als gehe es ihn nichts an. Aber als
+es von neuem begann, stand er mit einem Seufzer auf, um zu hören, was es
+gebe. Er erkannte sofort die Stimme der Baronin, der der Apparat eine
+schrille Färbung gab.
+
+»Sie sind krank?« sagte sie. Das sei allerdings im höchsten Grade
+ungeschickt. Sie sei im Begriff abzureisen, und es sei darum gerade
+jetzt notwendig, daß er persönlich am Platze sei.
+
+Er sei nicht zum Vergnügen krank, antwortete Bernburger. Die Krankheit
+sei wohl nicht so arg, sagte die Baronin, daß er nicht auf eine
+Viertelstunde ins Hotel kommen könne. Sie müsse ihn durchaus vor der
+Abreise sprechen.
+
+Er bedauere, antwortete Bernburger, er läge zu Bett.
+
+»Aber Herr Doktor, Sie sind ja am Telephon,« sagte die Baronin mit dem
+Lachen, von dem er wußte, wie verführerisch es klang, wenn es ihr darauf
+ankam.
+
+»So komme ich in Gottes Namen,« rief er ärgerlich auf sich und sie.
+
+»Das ist recht, Doktor,« antwortete ihre Stimme, »Sie können sich ja
+einen Wagen nehmen.«
+
+»Sie sehen gar nicht krank aus, Doktor,« so empfing ihn die Baronin.
+»Mein Mann und ich haben uns plötzlich entschlossen nach Paris zu
+reisen,« fuhr sie fort, »da mich der schreckliche Prozeß, wie ich Ihnen
+schon sagte, so sehr angegriffen hat.«
+
+»Die Stellungnahme Ihres Fräuleins Tochter,« sagte =Dr.=
+Bernburger mit absichtlicher Dreistigkeit, »muß sehr erschwerend für Sie
+sein.«
+
+Die Baronin errötete. »Sie wissen,« sagte sie, »daß ich meine Handlungen
+durch das Urteil der Jugend nicht beeinflussen lasse. Meine Tochter wird
+uns begleiten.«
+
+»Sie sind um den Aufenthaltswechsel sehr zu beneiden,« sagte =Dr.=
+Bernburger.
+
+»Ja, der Frühling ist in Deutschland unerträglich,« sagte die Baronin.
+»Vielleicht wird er gerade deshalb von deutschen Dichtern so besonders
+viel besungen; man rühmt ja das, was man nicht kennt.«
+
+»Sich niemals kennenzulernen wäre also das Geheimnis der glücklichen
+Ehe,« erwiderte =Dr.= Bernburger und setzte, sich selbst
+verweisend, hinzu: »Aber ich sehe, meine Schwäche macht mich zerstreut
+und geschwätzig. Was wünschen Frau Baronin mir zu sagen?«
+
+»Ich wollte Ihnen den Prozeß auf Herz und Gewissen legen,« sagte sie.
+»Als wir uns das letztemal sahen, war ich schwankend geworden; eine
+Folge meiner Unklugheit, persönlich anwesend zu sein, wie ich jetzt
+eingesehen habe. Die vielen Einzelheiten, die wechselnden Aussagen, alle
+die starken Eindrücke machen einen nervös, wenn man nicht daran gewöhnt
+ist. Ich will nun, ohne mich persönlich darum zu kümmern, dem Prozeß
+seinen Lauf lassen und das Ergebnis erwarten. Daß es gerecht ausfällt,
+dafür sind die Anwälte und Richter da.«
+
+»Jawohl,« sagte =Dr.= Bernburger.
+
+»Ich kann mich doch auf Sie verlassen?« fragte sie. »Ihre Krankheit wird
+doch nicht lange dauern? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir
+zuweilen Bericht erstatten wollten. Sie sagten das letztemal, daß Sie
+eine entscheidende Entdeckung zu machen hofften.«
+
+=Dr.= Bernburger hatte die Baronin starr angesehen und fuhr bei
+ihren letzten Worten zusammen. »Leider,« stieß er etwas gewaltsam
+hervor, »muß ich Ihnen mitteilen, daß ich mich gezwungen sehe, die
+Vertretung Ihrer Angelegenheit niederzulegen.«
+
+Die erste Regung der Baronin bei diesen unerwarteten Worten war
+gekränkte Entrüstung, die sie so stark erfüllte, daß sie kaum Fassung
+gewinnen konnte, sich zu äußern.
+
+»Das ist unerhört, das ist unmöglich,« rief sie endlich aus, während ein
+kalter, stechender Ausdruck in ihre grauen Augen trat. »Sie wollen sich
+aus der Verlegenheit zurückziehen, in die Sie mich verwickelt haben.
+Aber ich entlasse Sie nicht. Und diese Krankheit haben Sie nur
+vorgeschützt, ich durchschaue es gleich. Es ist der erste Schritt, uns,
+mich ehrlos im Stiche zu lassen.«
+
+=Dr.= Bernburger wurde bleich, aber er blieb bei wachsender
+Entschlossenheit ruhig. »Ich fühle mich in der Tat krank,« sagte er,
+»und der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Es ist um Ihretwillen, daß ich
+zurücktreten will.«
+
+»Ich danke für Ihr rücksichtsvolles Opfer,« sagte die Baronin spöttisch.
+»Aber ich nehme es nicht an. Ich vertraue Ihnen trotz Ihrer Krankheit.«
+
+Inzwischen hatte die aufgeregte und scharfe Stimme ihrer Mutter Mingos
+Aufmerksamkeit erregt, die sich im Nebenzimmer befand. Sie trat ein und
+betrachtete die Streitenden mit verwundert fragenden Blicken. Ohne daß
+er sich dessen bewußt wurde, flößte ihre Anwesenheit dem jungen
+Rechtsanwalt Mut ein.
+
+»Wenn ich Ihnen den Namen und die Art meiner Krankheit nenne, Frau
+Baronin,« sagte er, »werden Sie mich besser begreifen. Sie besteht
+darin, daß ich anderer Überzeugung geworden bin.«
+
+»So plötzlich?« fragte die Baronin. »Noch vor zwei oder drei Tagen
+sprachen Sie sich ganz anders aus.«
+
+»Es kommt vor, daß einem die Augen ganz plötzlich geöffnet werden,«
+sagte =Dr.= Bernburger.
+
+Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Mingo seine heiße, feuchte Hand
+ergriff, deren Berührung sie sonst vermieden hatte, und ausrief: »O,
+Herr Doktor, sagen Sie uns alles! Ich danke Ihnen, Mama freut sich
+ebenso wie ich, wenn Sie es auch nicht gleich zugibt! Wie gut von Ihnen,
+daß Sie Ihren Irrtum eingestehen!«
+
+Sie hielt seine Hand noch immer mit leidenschaftlichem Druck fest, und
+ihre Augen standen voll Tränen, während ihre Lippen zitterten. Auch in
+dem Gesicht der Baronin lösten sich die gespannten Mienen, obwohl sie
+Zurückhaltung und Überlegenheit zu bewahren suchte.
+
+»Seien Sie aufrichtig gegen mich, Herr Doktor,« sagte sie mit gemäßigter
+Strenge. »Das wenigstens darf ich von Ihnen verlangen. Beruht Ihre
+Sinnesänderung auf psychischen Eindrücken oder auf neuen Tatsachen, die
+Sie erfahren haben?«
+
+Erst jetzt forderte sie ihn durch eine Handbewegung auf, sich zu setzen,
+und da er einen Stuhl nehmen wollte, bot sie ihm mit lächelnder
+Anspielung auf seine Krankheit einen Sessel an. »Auch ein Glas Wein
+müssen Sie trinken,« fügte sie hinzu, indem sie Mingo durch einen Blick
+bedeutete zu klingeln. »Sie sehen wirklich angegriffen aus. Ich glaube,
+ich war vorhin zu hart gegen Sie, aber Sie haben es selbst durch Ihre
+Unaufrichtigkeit und vor allem durch Ihre Zweifel verschuldet. Ich
+glaube, wenn Sie die schlechte Meinung in Rechnung ziehen, die Sie von
+mir hatten, bin ich Ihnen nichts mehr schuldig.«
+
+Als =Dr.= Bernburger seine Erzählung beendet hatte, war Mingos
+blasses Gesicht von Tränen überströmt, die zu verbergen sie keinen
+Versuch machte; zu sprechen war sie nicht imstande. Ihrer Mutter war es
+nicht anzusehen, daß sie bewegt war.
+
+»Erklären Sie mir nun, Herr Doktor, in welcher Weise sich durch Ihren
+Fund die Lage verändert hat,« sagte sie. »Was werden die Folgen sein?«
+
+»Die Lage hat sich nur verändert, wenn Sie wollen,« sagte =Dr.=
+Bernburger. »Wenn Sie es verlangen, habe ich die Pflicht, meinen Fund zu
+verschweigen.«
+
+»Das kommt natürlich nicht in Frage,« rief die Baronin schnell aus. »Ich
+habe nie etwas anderes gewollt, als daß ein Verbrechen gesühnt würde.
+Was Herr Deruga getan hat, halte ich eher für eine großmütige Tat. Ich
+weiß aber nicht, wie die Justiz sich dazu stellt.«
+
+»Durch den Brief,« erklärte der Anwalt, »ist einwandfrei festgestellt,
+daß =Dr.= Deruga seine geschiedene Frau auf ihre Bitte getötet hat,
+und seine Tat fällt demnach unter eine Rubrik, die 'Tötung auf
+Verlangen' betitelt ist. Vermutlich wird er zu einigen Jahren Gefängnis
+verurteilt. Wird er aber auch freigesprochen, so haben Sie, Frau
+Baronin, mit einem Versuch, ihm die Erbschaft streitig zu machen, doch
+kaum noch Aussicht auf Erfolg.«
+
+Ein schnelles, tiefes Rot flog über das Gesicht der Baronin. »Davon ist
+nicht mehr die Rede,« sagte sie mit einer abwehrenden Handbewegung.
+»Jetzt begreife ich die Verfügung meiner verstorbenen Kusine vollkommen.
+Alles, was ich getan habe, ging aus vollkommener Verkennung der
+Verhältnisse hervor. Ihrem Eifer, lieber Herr Doktor, habe ich es zu
+verdanken, daß ich noch rechtzeitig meinen Irrtum einsehen konnte.« Sie
+reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen führte.
+
+Mingo vermochte immer noch nicht zu sprechen. Erst als =Dr.=
+Bernburger fortgegangen war, rief sie, indem sie ihrer Mutter um den
+Hals fiel: »Was für ein guter Mensch, dieser unscheinbare Bernburger!
+Wie unrecht habe ich ihm getan! Und was für schöne traurige Augen hat er
+hinter der Brille!«
+
+Die Baronin küßte Mingo auf die Stirn und sagte: »Süßliche Augen, gut,
+daß die Brille davor ist.«
+
+
+
+
+=XVI.=
+
+
+=Dr.= Zeunemann eröffnete die nächste Sitzung durch eine
+überraschende Mitteilung: =Dr.= Bernburger, der von der Baronin
+Truschkowitz mit Nachforschungen über den Tod ihrer Kusine betraut
+gewesen sei, habe einige Tatsachen gesammelt, die geeignet wären, dem
+Prozeß eine andere Wendung zu geben. Nachdem er die Genehmigung der
+Baronin erhalten habe, bitte er dieselben dem Gericht vorlegen zu
+dürfen.
+
+Das unvorhergesehene Ereignis schreckte selbst Deruga aus seiner bisher
+beobachteten schläfrigen Haltung. Unwillkürlich spannten seine Muskeln
+sich wie zu einem Kampfe, als =Dr.= Bernburger vortrat, von dem er
+sich eines tückischen Angriffs aus dem Hinterhalt versah.
+
+»Meine Herren Richter und Geschworenen,« begann =Dr.= Bernburger,
+»ich habe einen wichtigen Fund gemacht, den ich Ihnen keine Stunde
+vorenthalten zu sollen glaube, da er den dunklen Fall, der Sie
+beschäftigt, mit einem Schlage ins klare Licht setzt. Meine Herren, ich
+ging von der Überzeugung aus, daß Deruga den Mord an Frau Swieter
+begangen haben müsse, weil er erstens der einzige war, der ein Interesse
+an ihrem Tode hatte, und zweitens der einzige, dessen Schicksal mit dem
+ihrigen eng und in tragischster Weise verflochten gewesen war; sodann,
+weil es mir schien, daß ohne den Willen der Frau Swieter oder ihres
+Dienstmädchens oder beider niemand ihre Wohnung hätte betreten können.
+Diese meine Ansicht wurde durch die Zeugenaussagen bestärkt und darin
+verändert, daß ich von Frau Swieters Dienstmädchen absah und sie allein
+für diejenige ansah, die den Mörder eingelassen hatte.
+
+Ich stellte mir den Vorgang so vor, daß entweder Frau Swieter ihren
+geschiedenen Gatten zu sich gerufen habe, um von ihm Abschied zu nehmen,
+oder aber, was ich für wahrscheinlicher hielt, daß er sie aufgesucht
+habe, um Geld von ihr zu erbitten; und daß irgendeine unvorhergesehene
+Wendung des Gesprächs ihn zum Mörder gemacht habe. In beiden Fällen ließ
+sich das durch die besonderen Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden
+hatten, sowie durch Derugas unbezähmbares Temperament erklären. Ich nahm
+an, daß er sich angemeldet oder sich durch irgendein ihnen beiden aus
+früherer Zeit bekanntes Zeichen bemerkbar gemacht habe. Er brauchte ja
+nur unter ihrem Fenster ihren Namen zu rufen, eine Melodie zu singen
+oder zu pfeifen, um von ihr erkannt zu werden.
+
+Als die wackere Ursula von dem Slowaken erzählte, der um die Mittagszeit
+angeläutet hatte und nachher verschwunden war, stand es bei mir fest,
+daß dies Deruga gewesen sei. Ich stellte mir vor, daß er irgendwo im
+Hause, vermutlich im Keller, die Zeit erwartet hatte, wo Ursula ausging,
+dann von Frau Swieter eingelassen wurde und das Haus verließ, kurz bevor
+Ursula zurückzuerwarten war. Auf dem Wege zum Gartentor begegnete er dem
+Hausmeister, der ihn neugierig betrachtete und dadurch, oder nur durch
+seine Anwesenheit, das Bewußtsein des begangenen Frevels und die Gefahr
+der Entdeckung in ihm rege machte. Er wollte sich unbefangen stellen,
+und es fiel ihm nichts Besseres ein, als eine Zigarette aus der Tasche
+zu ziehen und zu fragen: 'Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?' Da er aber
+nicht in der Stimmung war, zu rauchen, und zu aufgeregt, um folgerichtig
+zu handeln, beging er eine Unvorsichtigkeit und warf die eben
+angezündete Zigarette in das Gebüsch am Gartentor.«
+
+Die Zuhörer folgten der Erzählung mit einer Spannung, als ob sie die
+angeführten Ereignisse zum ersten Male hörten. Die Aufmerksamkeit war
+zwischen =Dr.= Bernburger und Deruga geteilt, der nicht daran
+dachte, sein Gesicht wie sonst den Blicken zu entziehen, indem er es in
+der Hand verbarg.
+
+»Meine Überzeugung, daß der Slowak Deruga gewesen sein müsse,« fuhr
+=Dr.= Bernburger fort, »war so stark, daß ich sagen kann, ich wußte
+es. Ich verfolgte nun alle seine Schritte von dem Augenblick an, wo er
+am Bahnhof in Prag die Fahrkarte, wie ja festgestellt war, löste. Er
+trug damals einen gewöhnlichen Anzug, vermutlich einen Gehrock, denn
+wenn er im Kittel seine Wohnung verlassen hätte, wäre es aufgefallen und
+gemerkt worden; den Kittel hatte er im Paket bei sich. Die Frage war
+nun, wo er sich umgekleidet hatte. Geschah es im Eisenbahnzuge? Irgendwo
+in den Bahnhofsräumen? Oder etwa des Nachts im Freien? Er mußte einen
+solchen Ort wählen, wo er sich nicht nur umkleiden, sondern auch den
+gewöhnlichen Anzug zurücklassen, später wiederfinden und gegen den
+Kittel vertauschen konnte. Den Kittel hatte er entweder im Paket mit
+nach Hause genommen oder, wahrscheinlicher, unterwegs weggeworfen oder
+versteckt. War das letztere der Fall, so konnte er gefunden und an einen
+Trödler verkauft worden sein, und trotz der schwachen Aussicht auf
+Erfolg, die eine darauf gerichtete Nachforschung haben konnte, machte
+ich mir die Mühe, in einer großen Reihe derartiger Geschäfte
+nachzufragen.
+
+Ich erhielt keine irgendwie brauchbare Auskunft und hatte bereits die
+Hoffnung, auf diesem Wege eine Spur zu finden, aufgegeben, als sich eine
+alte Frau bei mir meldete, die zufällig in dem Laden eines Trödlers von
+meinem Wunsche Kunde erhalten hatte. Diese Frau, eine Wäscherin, war am
+Morgen des 3. Oktober bald nach fünf Uhr morgens durch die
+Bahnhofsanlagen gegangen und hatte von der Brücke herunter, die über den
+Kanal führt, etwas Dunkles im Wasser gesehen, das sie zuerst für etwas
+Lebendiges hielt. Als sie es näher untersuchte, ergab sich, daß es ein
+Anzug war, in der Art, wie Arbeiter ihn tragen, der sich an der Wurzel
+eines Baumes festgehängt hatte, und nachdem sie ihn ausgerungen hatte,
+nahm sie ihn als herrenloses Gut mit.«
+
+Bei diesen Worten trat =Dr.= Bernburger an den Tisch, legte das
+Paket, das er unter dem Arm gehalten hatte, auf den Tisch, wickelte es
+auf und breitete den Anzug auseinander, über den die Richter und der
+Rechtsanwalt, von ihren Sitzen aufstehend, sich beugten.
+
+»Der Anzug,« fuhr =Dr.= Bernburger fort, »würde nur eben eine Spur
+gewesen sein. Den Beweis, daß er dem Angeklagten gehörte, erbrachte mir
+ein Brief, den ich in einer zugeknöpften Seitentasche des Kittels fand.
+Er ist trotz der stellenweise verwischten Schrift vollkommen lesbar, und
+ich bitte um die Erlaubnis, ihn vorlesen zu dürfen.«
+
+Im Laufe seines Berichtes hatte sich die Erregung des Erzählers mehr und
+mehr verraten. Beim Lesen des Briefes überschlug sich seine Stimme
+mehrere Male, und als er ihn zum Schlusse auf den Tisch legte, zitterte
+seine Hand.
+
+»Donnerwetter!«
+
+Mit diesem Ausdruck des Erstaunens unterbrach Justizrat Fein zuerst die
+eingetretene Stille.
+
+=Dr.= Zeunemann hatte inzwischen den Brief ergriffen, hielt ihn
+dicht vor die Augen, prüfte sorgfältig die Schrift, den Poststempel und
+das Papier und fragte: »Wie mag er denn befördert worden sein?«
+
+»Darüber wird uns wohl Fräulein Schwertfeger Auskunft geben können,«
+sagte =Dr.= Bernburger.
+
+Nach einer neuen Pause wendete sich der Vorsitzende langsam zu Deruga
+mit der Frage, ob er etwas zu der Mitteilung des =Dr.= Bernburger
+zu bemerken habe.
+
+Deruga schüttelte stumm den Kopf, ohne aufzublicken.
+
+»Wir möchten gern eine Bestätigung von Ihnen hören,« begann =Dr.=
+Zeunemann von neuem, »daß die Darstellung des =Dr.= Bernburger
+zutreffend ist, oder eine Richtigstellung.«
+
+Bevor er jedoch den Satz vollendet hatte, unterbrach ihn der
+Staatsanwalt, mit seinen langen Armen gestikulierend und auf Deruga
+deutend. »Sehen Sie denn nicht, Herr Kollege,« sagte er, »daß der Mann
+krank geworden ist? Lassen Sie ihm doch jetzt Ruhe, das muß ja den
+stärksten Magen angreifen! Ein Glas Wasser! Schnell!« winkte er dem
+nächsten Gerichtsdiener, ihn mit drohenden Blicken zur Eile antreibend.
+
+Justizrat Fein hatte inzwischen seinen Arm um Derugas Schulter gelegt
+und auf ihn eingeredet. Dann wandte er sich gegen den Richtertisch und
+sagte: »Mein Klient fühlt sich nicht wohl und bittet um die Erlaubnis,
+sich zurückziehen zu dürfen. Er wird morgen alle wünschbaren Erklärungen
+geben.«
+
+Die beiden verließen zusammen den Saal, und als sie draußen waren, sagte
+der Justizrat: »Hören Sie, Doktor, ich komme mir zum erstenmal in meinem
+Leben wie ein gemeiner Kerl vor.«
+
+»Da seien Sie froh,« erwiderte Deruga mit seinem gewinnenden Lächeln.
+»In Ihrem Alter könnte es leicht das zehnte oder hundertste Mal sein.
+Übrigens hatten Sie ganz recht, die Menschen sind dumme, schwache Tiere.
+Warum hätten Sie mir glauben sollen?«
+
+Der Justizrat schüttelte den Kopf. »Ein alter Praktiker wie ich«, sagte
+er, »müßte unterscheiden können. Aber, daß ich Sie von Anfang an gern
+leiden mochte, Deruga, das haben Sie hoffentlich bemerkt.«
+
+»Ja, obwohl Sie mich nebenbei für einen Hundsfott hielten,« sagte
+Deruga.
+
+Der Justizrat musterte ihn mit liebevollen Blicken.
+
+»Sie sehen schlecht aus. Trinken wir eine Flasche Wein zusammen!«
+
+Deruga entschuldigte sich mit starken Kopfschmerzen.
+
+»Ich weiß nicht, was mich so mitgenommen hat,« sagte er. »Ich glaube, es
+war das Gefühl, wie dieser Herr mir Schritt für Schritt nachgeschlichen
+ist.«
+
+»Eigentlich,« sagte der Justizrat, sich besinnend, »habe ich der
+Kanaille unrecht getan. Er hat sich wie ein anständiger Mensch
+benommen.«
+
+»Schade, nicht?« sagte Deruga, worauf sie sich trennten.
+
+Im Gerichtsgebäude standen die am Prozeß beteiligten Juristen noch
+zusammen, um =Dr.= Bernburger geschart, den sie nach verschiedenen
+Einzelheiten ausfragten. Der Staatsanwalt schüttelte ihm zum dritten
+Male beide Hände und lobte seinen Eifer. Seine dünnen Haare waren
+zerzaust, und seine hellen Augen blinkten feucht unter den
+fuchsschwänzigen Augenbrauen.
+
+»Ich gelte für scharf,« sagte er, »und das bin ich auch und will es
+bleiben. Aber diesem Italiener gegenüber mag man gern einmal Mensch
+sein. Der ist durch und durch Mensch, ohne gemein zu sein, das gefällt
+mir an ihm.«
+
+»Sie sind durch und durch Staatsanwalt, ohne gemein zu sein,« sagte
+=Dr.= Zeunemann. »Das ist vielleicht noch schwerer.«
+
+»Was ist seltener, Schönheit im Kostüm oder Schönheit bei nacktem
+Leibe?« sagte der Staatsanwalt gedankenvoll. »Nun, ich will jedenfalls
+das Kostüm nicht ganz abreißen, sondern juristisch-menschlich sein,
+indem ich alle die von =Dr.= Bernburger beigebrachten Tatsachen
+ignoriere und, als wäre nichts geschehen, die Anklage auf Totschlag
+aufrechterhalte.«
+
+»Vorzüglich, vorzüglich,« sagte =Dr.= Bernburger. »Sonst hätte ich
+ihm am Ende einen schlechten Dienst geleistet.«
+
+»Auf die Art ginge Feins Plan durch,« sagte =Dr.= Zeunemann.
+»Etwas willkürlich finde ich es aber bei der Lage der Dinge.«
+
+»Wieso, mein Bester?« rief der Staatsanwalt lebhaft aus. »Wie ist denn
+die Lage der Dinge eigentlich? Allerdings, wir wissen jetzt, daß die
+gute Frau Swieter ihre Leiden durch den Tod abzukürzen wünschte, daß sie
+ihren geschiedenen Mann bat, ihr diesen Dienst zu leisten, und daß
+Deruga sie daraufhin tötete. Aber wissen wir denn, ob er es wirklich aus
+Mitleid getan hat? Ob er nicht eigennützige Nebenabsichten hatte? Wissen
+wir, ob er ihren Tod nicht längst herbeiwünschte? Ob er nicht über den
+Brief frohlockte, der ihm die gewünschte Handhabe bot? Dergleichen wäre
+nicht zum ersten Male vorgekommen. Vergegenwärtigen Sie sich nur die
+Geschwindigkeit, mit der er den heiklen Auftrag übernahm! Das Gift hatte
+er augenscheinlich schon bereit.«
+
+»Hören Sie auf,« unterbrach =Dr.= Zeunemann lachend. »Wenn das so
+weiter geht, erheben Sie die Anklage auf Mord.«
+
+»Juristisch wäre es vielleicht richtiger,« meinte der Staatsanwalt
+nachdenklich, »aber ich habe mir vorgenommen, menschlich zu urteilen,
+und außerdem liefe ich, glaub' ich, Gefahr, von den Mänaden zerrissen zu
+werden, wenn ich ihren Liebling angreife.«
+
+»Im anderen Falle werden sie Sie aus Dankbarkeit zerreißen,« sagte
+=Dr.= Zeunemann. »Ein Opfer der Frauen zu sein, ist nun einmal Ihr
+Los!«
+
+
+
+
+=XVII.=
+
+
+Nachmittags ließ sich die Baronin bei Deruga melden. Er erhob sich aus
+dem unbequemen Sofa, auf dem er gelegen und geschlafen hatte, und
+blinzelte verdrossen gegen das Licht. »Lieber Doktor,« sagte sie, indem
+sie ihm die Hand entgegenstreckte, »ich komme, mir Ihre Verzeihung zu
+holen. Dem reuigen Sünder vergibt selbst Gott. Sie werden nicht
+unerbittlicher sein.«
+
+»Ich maße mir nicht an, mit Gott vergleichbar zu sein,« sagte Deruga,
+»aber es kommt nichts darauf an, da ich Ihnen nichts zu verzeihen habe.
+Sie verfolgten ja nicht mich, sondern traten für das vermeintliche Recht
+ein.«
+
+»Sie weichen einer Versöhnung aus,« sagte die Baronin. »Ich verstehe Sie
+wohl; aber ich lasse mich nicht so leicht abweisen. Von einem Manne, der
+so lieben kann wie Sie, erträgt man wohl auch Haß und noch Schlimmeres.
+Welche Frau gäbe nicht alles hin, was sie hat, um einmal so geliebt zu
+werden, wie Sie geliebt haben!«
+
+»Wahrhaftig!« rief Deruga, »von Ihnen will das, glaub' ich, etwas
+sagen.«
+
+»Das klingt boshaft,« sagte die Baronin, »und doch kränkt es mich nicht,
+weil ich fühle, daß Sie es nicht böse meinen. Es ist wahr, ich wüßte
+nicht, wie ich ohne Geld und sogar ohne ziemlich viel Geld sollte leben
+können. Mein Gott, jeder hat seine Gewohnheiten. Aber habsüchtig bin ich
+nicht, am Gelde an und für sich liegt mir nichts. Und wissen Sie, warum
+ich so außer mir war, daß die Erbschaft mir entging? Ich war sehr
+erpicht auf das Geld gewesen, das leugne ich nicht, und Ihnen, nur Ihnen
+will ich sagen, warum. Ich habe mich in meiner Ehe unbeschreiblich
+gelangweilt.«
+
+»Ja, die Langeweile ist das größte Problem und die größte Gefahr des
+Lebens,« sagte Deruga. »Aber Ihr Mann scheint eine liebe, feine Person
+zu sein.«
+
+»Natürlich,« stimmte die Baronin zu, »man kann sich nichts Angenehmeres
+denken. Er ist wie reine Luft, man spürt ihn gar nicht, und ich bildete
+mir auch fast ein, ihn ein wenig zu lieben, als ich ihn heiratete. Aber
+ich habe mich in seiner Gesellschaft so gelangweilt, daß ich ihm
+wahrscheinlich untreu geworden wäre, wenn sich das mit meinen
+Grundsätzen vertragen hätte. Da es sich aber um den einzigen Grundsatz
+handelt, zu dem ich mich bekenne, habe ich daran festgehalten.«
+
+»Sie hatten doch eine Tochter,« wandte Deruga ein.
+
+»Sie fand es vermutlich bei uns ebenso langweilig wie ich,« sagte die
+Baronin, »denn seit sie herangewachsen war und mir eine Gesellschafterin
+hätte sein können, ergriff sie jede Gelegenheit, um von Hause fort zu
+sein. Inzwischen verkürzte ich mir die Zeit mit einem Zukunftsplane:
+dem, mich von meinem Manne freizumachen, sobald meine Tochter versorgt,
+das heißt, verheiratet wäre.«
+
+In Derugas Mienen malte sich aufrichtiges Erstaunen.
+
+»Sie denken wirklich daran, sich jetzt noch scheiden zu lassen?« sagte
+er.
+
+Ein reizendes Lächeln, das sie jung machte, glitt über das Gesicht der
+Baronin.
+
+»In meinem Alter, wollen Sie sagen? Solange ich den Wunsch habe, bin ich
+offenbar jung genug dazu,« entgegnete sie.
+
+»Und dann wollen Sie einen amüsanteren Mann heiraten?« fragte Deruga.
+
+»O, heiraten!« wiederholte sie. »Darauf kommt es mir nicht an, auch
+nicht auf förmliche Scheidung, nur darauf, frei zu sein und die
+Atmosphäre der Langenweile zu verlassen.«
+
+Deruga zuckte die Schultern. »Im Grunde herrscht auf der ganzen Erde
+dasselbe Klima,« sagte er.
+
+»Nein, nein,« rief sie lebhaft, »ich kann mir zum Beispiel nicht denken,
+wie man sich in Ihrer Gesellschaft je langweilen sollte!« Sie hatte so
+eine freie Art, die Dinge naiv wie ein Kind herauszusagen, daß selbst
+Deruga, der sich für einen Kenner der Frauen hielt, nicht unterscheiden
+konnte, ob die Blüte echt oder künstlich war.
+
+»Das hat auch seine Kehrseite,« antwortete er gutmütig. »Erinnern Sie
+sich nicht an den Vers, den mir die arme Marmotte in ein Buch schrieb:
+
+ 'Deruga, du bist eben
+ So schön als wunderlich;
+ Man kann nicht ohne dich
+ Und auch nicht mit dir leben.'«
+
+Die Baronin errötete ein wenig, vermochte aber noch mit leidlicher
+Unbefangenheit zu sagen: »Nun ja, das tägliche Sich-an-einander-Reiben,
+das die Ehe mit sich bringt, das würde ich freilich wohl nicht wieder
+auf mich nehmen, und ich halte es auch für verderblich und gemein. Aber
+nun,« setzte sie hinzu, indem sie aufstand, »geben Sie mir zum Abschied
+einen Versöhnungshändedruck!«
+
+»Gern, Baronin,« sagte er, indem er ihr die Hand reichte. »Ihre Strafe
+haben Sie ja ohnehin, indem das Geld Ihnen entgangen ist.«
+
+»Ja, das Geld,« sagte sie wehmütig, »das mir den Käfig öffnen sollte.
+Wir waren vorhin davon abgekommen: Einzig der Umstand, daß ich kein
+eigenes Vermögen habe und nicht wußte, wovon ich leben sollte, wenn ich
+meinen Mann verließe, stand vor der Erfüllung meines Wunsches. Das Erbe
+meiner armen, kranken Kusine sollte mir das neue Leben geben! Nun aber
+genug von mir! Erlauben Sie mir, Ihnen dies Zimmer, für die Zeit, wo Sie
+es noch bewohnen werden, ein wenig zu erheitern? Mit Blumen?«
+
+»Wenn es Ihnen Freude macht,« sagte er.
+
+Während sie zögernd auf der Schwelle stand, ruhten ihre Augen auf seiner
+wohlgeformten braunen Hand, die sie immer noch hielt, und dann ging sie
+mit einem Lächeln.
+
+Ihr war zumute, wie sie die etwas abgelegene, düstere Straße entlang
+ging, als habe sie sich noch nie, in ihrem ganzen Leben nie, in einer
+solchen das ganze Leben durchglühenden Aufregung befunden. Es war eine
+prickelnde, zugleich ängstigende und wohltuende Empfindung, in der sich,
+so schien es ihr, alle ihre Kräfte steigerten und veredelten. Freilich,
+noch ein wenig mehr, so könnte es unbehaglich werden, ja, schon jetzt
+lief ein leises Angstgefühl mit unter, das jedoch die Wonne des
+allgemeinen Aufruhrs noch übertönte.
+
+Die Baronin beschloß, einen Spaziergang zu machen. Es war noch nicht
+spät, die Lichter auf den Straßen und in den Schaufenstern wurden
+allmählich entzündet und loderten wie feuergelbe Tupfen in das
+Durcheinander der dämmerblassen Farben. Langsam und lächelnd ging sie
+ziellos weiter. Wie reizend war es, sich so jung zu fühlen und wie ein
+verliebtes Mädchen verbotene Wege zu gehen! Ja, es war fast, als ginge
+sie zu einem Stelldichein. Als sie an einem Blumengeschäft vorbeikam,
+das das Aussehen eines pompösen Urwaldes hatte, fiel es ihr ein, etwas
+für Derugas Zimmer auszusuchen. Sie wählte lange und fragte kaum nach
+den Preisen, die sie sonst, besonders wenn es sich um Geschenke
+handelte, durchaus nicht unberücksichtigt ließ. Zufällig erblickte sie
+in einem Spiegel ihre Gestalt: schlank, tadellos, voll natürlicher
+Eleganz. Ein frohes Gefühl von Glück und Stolz durchzuckte sie. War sie
+auch keine frische, im Morgentau glitzernde Blume, so ersetzte den
+fehlenden Schmelz und das Farbenprangen die sichtbar gewordene Form und
+ein Parfüm, das erst die Dämmerung entwickelt. Sie fühlte, daß sie noch
+anziehen, noch bezaubern konnte; und hätte sie selbst nicht lieben
+können sollen? Sie hatte ja noch nie geliebt.
+
+Sie kämpfte mit sich, ob sie am folgenden Morgen zur Sitzung gehen
+sollte, denn es war ihr, als könne es Deruga mißfallen, und als liege
+überhaupt etwas Geschmackloses und Gefühlswidriges darin, wenn sie sich
+jetzt auf dem Platze zeigte, den sie früher aus Neugier und dem
+ungeduldigen Wunsche eingenommen hatte, ihre Sache triumphieren zu
+sehen. Doch war es ihr unmöglich, dem Drange zu widerstehen, der sie in
+Derugas Nähe trieb, sei es auch nur, um sich Gewißheit über sein
+Befinden zu verschaffen.
+
+»Hat man unrecht gehabt,« sagte sie beim Frühstück zu ihrem Mann und
+ihrer Tochter, »so muß man es dadurch wieder gutmachen, daß man es
+eingesteht. Ich möchte nicht nach Paris reisen, ehe ich weiß, was aus
+Deruga wird, und was wir etwa für ihn tun können.«
+
+Der Baron war derselben Meinung, und Mingo errötete vor Freude.
+
+»Liebe Mama,« sagte sie, »ich bin froh, daß du doch ein guter Mensch
+bist.«
+
+»Aber Mingo,« sagte die Baronin verweisend, indem sie sich doch nicht
+enthalten konnte, zu lachen.
+
+»Darf ich mitgehen, Mama?« bat sie, die aufgesprungen war und ihre
+Mutter umarmt hatte. »Du weißt, wie ich darunter gelitten habe, nun
+möchte ich auch dabei sein, nachdem es sich so schön gewendet hat. Er
+wird doch sicher freigesprochen?«
+
+»Daran ist wohl nicht zu zweifeln,« sagte der Baron, indes die Baronin
+sich von Mingos Umarmung freimachte und ein peinliches Gefühl von
+Eifersucht, das plötzlich in ihr aufstieg, zu unterdrücken suchte. Ihr
+Blick glitt schnell prüfend über Mingo hin, deren Dasein sie plötzlich
+als Einengung und Hemmung empfand. Aber sie wollte ja studieren, sagte
+sie sich, und das war ja ein gutes, richtiges Gefühl von ihr, daß sie
+noch an sich arbeiten und sich entwickeln wollte. Die Berührung der
+frischen Lippen war doch unsäglich lieblich. Die Baronin legte ihre Hand
+liebkosend unter das noch kinderrunde Gesicht ihrer Tochter und sagte:
+
+»Ich werde Deruga gelegentlich erzählen, daß du von Anfang an sein
+tapferer, kleiner Ritter gewesen bist.«
+
+Mingo leuchtete vor Stolz. »Und ich stecke mein Schwert nicht ein, bis
+er frei ist,« sagte sie.
+
+
+
+
+=XVIII.=
+
+
+Die Ungeduld des auf die Aussage Derugas gespannten Publikums wurde
+nicht sofort befriedigt, da als erste Zeugin Fräulein Gundel
+Schwertfeger vernommen wurde. Der Vorsitzende legte ihr den Brief der
+verstorbenen Frau Swieter an Deruga vor und fragte sie, ob er ihr
+bekannt sei.
+
+»Ja,« sagte Fräulein Schwertfeger, kaum einen flüchtigen Blick darauf
+werfend, »es ist derselbe, den ich einige Tage vor Mingos Tode zur Post
+gegeben habe.«
+
+=Dr.= Zeunemann räusperte sich ein wenig und sah vor sich auf den
+Tisch. »Sie haben uns das im Beginn des Prozesses verschwiegen,« sagte
+er.
+
+»Nein, ich habe gelogen,« sagte Fräulein Schwertfeger mit trotziger
+Tapferkeit, während ihre großen, grauen Augen sich verdunkelten. »Es war
+das erstemal in meinem Leben, und ich mußte es tun, weil ich sonst
+meiner verstorbenen Freundin das Wort gebrochen hätte. Dazu konnte ich
+mich nicht entschließen, gerade weil sie tot ist.«
+
+»Wollen Sie uns jetzt vielleicht,« sagte =Dr.= Zeunemann sanft,
+»kurz erzählen, was sich wegen des Briefes zwischen Ihnen begab?«
+
+»Meine Freundin fragte mich, ob ich ihr etwas zuliebe tun wolle. Ich
+sagte, ich würde alles tun, was in meinen Kräften stände, die leider
+gering wären. Sie küßte mich und sagte, es wäre nicht viel an sich, aber
+für mich bedeutete es vielleicht viel: ich sollte nämlich einen Brief an
+Deruga besorgen, ohne daß es jetzt oder später jemand erführe. Ich
+versprach zu tun, was sie wünschte, und fragte, ob sie mir sagen könnte,
+was sie ihm schriebe, und warum es niemand erfahren dürfte. Sie sagte,
+sie habe das Bedürfnis, ihm für den Fall, daß sie nicht lange mehr leben
+sollte, Lebewohl zu sagen, und daß sie das heimlich halten wolle,
+entspringe nur der vielleicht törichten Furcht, man würde sie nicht
+verstehen und lächerlich finden.«
+
+»Haben Sie sich damals,« fragte der Vorsitzende, »gar keine Gedanken
+gemacht, ob es sich wirklich so verhalte?«
+
+»Damals dachte ich,« sagte Fräulein Schwertfeger, »sie habe ihm
+vielleicht geschrieben, sie wünsche ihn noch einmal zu sehen, bevor sie
+stürbe, und habe sich gescheut, mir das zu sagen. Als dann die Anklage
+gegen Deruga erhoben wurde, sah ich ein, wie gefährlich der Brief für
+ihn werden könne, sei es, daß sie ihn gebeten hatte zu kommen, oder daß
+sie ihn von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt hatte; und
+ich nahm mir vor, lieber zu lügen, als ihn ins Unglück zu bringen, da
+ich wußte, welchen Schmerz das meiner Freundin bereitet hätte.«
+
+»Steht vielleicht damit im Zusammenhang,« sagte =Dr.= Zeunemann,
+»daß Sie das Vermächtnis Ihrer Freundin ausschlugen und später sogar die
+Ihnen vermachten Wertsachen verschenkten?«
+
+Fräulein Schwertfeger wurde dunkelrot.
+
+»Es schien mir allerdings nun so auszusehen,« sagte sie, »als wolle
+meine Freundin mich für mein Stillschweigen belohnen. Später vollends,
+als der Verdacht gegen Deruga aufkam, den ich teilte, wäre ich mir
+selbst vorgekommen wie eine Bestochene und wie eine Helfershelferin bei
+der abscheulichen Tat, wenn ich das Geringste von den Kostbarkeiten
+meiner Freundin behalten hätte.«
+
+»Es ist Ihnen also niemals,« fragte der Vorsitzende, »die Möglichkeit
+des Zusammenhangs aufgetaucht, so wie sie sich jetzt dargestellt hat?
+Ihre Freundin hat Ihnen doch selbst einmal gesagt, wie Sie gelegentlich
+erwähnten, daß sie demjenigen dankbar sein würde, der ihrem Leiden ein
+Ende bereitete, indem er sie tötete?«
+
+»Ich hielt das nur für eine augenblickliche Regung,« sagte Fräulein
+Schwertfeger. »Jetzt erst habe ich eingesehen, wie sehr sich meine
+Freundin im allgemeinen beherrschte, wenn ich bei ihr war. Dazu kommt,
+daß ich Deruga nichts Gutes, aber wohl Schlechtes zutraute. Ich habe ihm
+sehr unrecht getan.«
+
+»Aber das bedachten Sie nie,« sagte =Dr.= Zeunemann mit mildem
+Vorwurf, »daß der Gerechtigkeit dadurch Abbruch geschähe, wenn Deruga
+seine geschiedene Frau gemordet hätte und unbestraft bliebe?«
+
+»Ich dachte,« sagte Fräulein Schwertfeger trotzig, »ich wollte tun, was
+mein Gewissen mich hieße, und das übrige Gott überlassen.«
+
+»Als Mensch,« sagte =Dr.= Zeunemann nach einer Pause, »kann ich
+Ihre Handlungsweise nicht tadeln, obwohl sie nicht als Muster für andere
+Fälle gelten dürfte.«
+
+Nachdem Fräulein Schwertfeger entlassen war, kam Derugas Vernehmung. Um
+von den Geschworenen besser verstanden zu werden, wurde er aufgefordert,
+die Anklagebank zu verlassen und sich auf den für die Zeugen bestimmten
+Platz zu begeben.
+
+Er sah blaß, gleichgültig, verdrossen und verschlossen aus, fast als
+habe er es auf eine abstoßende Wirkung abgesehen und empfinde Genugtuung
+darüber.
+
+»Sie haben zugestanden,« begann der Vorsitzende ernst, »Ihre geschiedene
+Gattin getötet zu haben, was Sie bis jetzt leugneten. Sie reisten zu
+diesem Zwecke und mit dahinzielender Absicht von Prag ab?«
+
+»Ich weiß nicht,« sagte Deruga unmutig, »warum Sie mich noch einmal mit
+Fragen behelligen. Sie wissen, daß meine Frau sich sehnte, von
+unerträglichen Leiden befreit zu werden, und daß sie sich an mich
+wendete, weil sie das Zutrauen zu mir hatte. Ich fühlte menschlich
+genug, um ihre Bitte zu erhören. Die Ärzte im allgemeinen haben den Mut
+zu einer so vernünftigen Tat nicht. Ich reiste sofort hin und tat es.
+Das sollte genügen.«
+
+»Es kommt uns nicht nur darauf an, die Tat zu wissen,« sagte =Dr.=
+Zeunemann, »sondern auch die Absichten kennenzulernen, die den Täter
+leiteten.«
+
+»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Deruga heftig auf. »Was für Absichten
+könnte ich gehabt haben, außer der armen Person zu helfen? Daß ich von
+der Erbschaft nichts wußte, geht aus ihrem Briefe hervor.«
+
+»Aus dem Brief geht allerdings hervor,« sagte der Vorsitzende mit
+gelassener Würde, »daß Sie mit Ihrer geschiedenen Frau seit Ihrer
+Scheidung in keiner Verbindung standen, daß Sie also damals von der
+Erbschaft nichts wußten.«
+
+»Damals!« rief Deruga. »Wollen Sie damit sagen, daß ich hingereist wäre,
+um meiner Frau anzubieten, ich wolle ihr den Gefallen tun, wenn sie mir
+soundso viel Geld dafür gäbe? Und um den Preis ihres Vermögens hätte ich
+mich kaufen lassen? Ich weiß nicht, nach was für einem Maßstab Sie die
+Menschen beurteilen. Ekelhafte Welt, wo Menschen richten, die nur
+gemeine Triebe zu kennen scheinen!«
+
+»Ich muß Sie bitten,« sagte der Vorsitzende, »Ihre Ausdrücke zu mäßigen.
+Die gefallenen Worte lasse ich deshalb hingehen, weil ich eine
+krankhafte Erregung bei Ihnen voraussetze. Nachdem ich Sie aber gewarnt
+habe, würde ich mich im Wiederholungsfalle zu ernsten Maßregeln
+gezwungen sehen.«
+
+Inzwischen war Justizrat Fein aufgestanden und bat, ein paar Worte mit
+seinem Klienten reden zu dürfen.
+
+»Aber, liebster Doktor,« sagte er halblaut, indem er ihn am Rock faßte,
+»was für Geschichten machen Sie? Es hängt jetzt alles davon ab, daß Sie
+einen guten Eindruck machen. Nachher ist alles vorüber. Nehmen Sie sich
+doch zusammen, tun Sie es mir zuliebe! Bilden Sie sich ein, Sie
+erzählten die ganze Begebenheit mir! Der arme Teufel tut am Ende nur
+seine Pflicht, wenn er alle Möglichkeiten ins Auge faßt. Sie könnten ja
+auch ein Schweinehund sein, wie es viele gibt.«
+
+»Ich weiß nicht, warum sich mein Blut empört,« entgegnete Deruga, »wenn
+ich diesen Areopag von Stallhammeln sehe, die über hungrige Wölfe zu
+Gericht sitzen. Wäre ich doch ein Raubmörder oder Brandstifter! Hier
+schäme ich mich, ein anständiger Mensch zu sein.«
+
+»Das sind Sie ja gar nicht,« sagte der Justizrat beruhigend, »das heißt,
+nicht in dem Sinne, wie Sie es eben meinten. Und haben Sie denn gar kein
+Gefühl für das wackere alte Jüngferchen auf der Zeugenbank? Erzählen Sie
+der die Geschichte! Denken Sie, wie froh sie sein wird, wenn sie Sie
+für keinen Bösewicht mehr zu halten braucht.«
+
+»Dumme, eigensinnige Gans,« brummte Deruga, aber sein Blick war
+freundlicher geworden, und er erklärte sich bereit, die Fragen, die man
+an ihn richten würde, zu beantworten.
+
+»Als Sie den Brief Ihrer geschiedenen Frau erhielten,« begann =Dr.=
+Zeunemann von neuem, »faßten Sie da sofort den Beschluß, ihren Wunsch zu
+erfüllen?«
+
+»Als ich ihre Handschrift sah,« sagte Deruga in ruhig erzählendem Tone,
+»die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und die ganz unverändert
+war, so daß ich sie sofort erkannte, da erfaßte mich sofort das Gefühl
+von Unruhe, Wut und Haß, das mich immer überkommen hatte, wenn ich
+zufällig einmal an sie erinnert wurde, was aber in den letzten Jahren
+nur sehr selten geschehen war. Was kann sie von mir wollen? dachte ich.
+Will sie mir sagen, es tue ihr leid, daß sie mein Leben zerstört habe?
+Bildet sie sich ein, es bestehe noch irgendein Band zwischen uns? Bildet
+sie sich ein, ich könne je vergessen, was ich durch sie gelitten habe?
+So ungefähr. Als ich den Brief gelesen hatte, war das alles
+verschwunden, und ich empfand nur Mitleid und Liebe. Ich empfand, was
+ich noch nie zuvor empfunden hatte: reine, große, ungetrübte Liebe für
+das leidende Geschöpf, das ich soviel gequält hatte, eine Liebe, die nur
+in dem Wunsche bestand, sie zu trösten und ihr zu helfen. Ich erinnerte
+mich an ihre Angst vor Schmerzen, und wie oft sie mich gefragt hatte, ob
+ich sie lieb genug haben würde, sie zu töten, wenn sie einmal von einer
+sehr schmerzhaften Krankheit befallen werden sollte, wie dankbar sie mir
+war, wenn ich es versprach, und wie dann ihre Sicherheit und
+Überlegenheit verschwand und sie wie ein Kind sich an mich schmiegte. Es
+war alles ausgelöscht, was mich einst an Eifersucht, Empfindlichkeit und
+Rachsucht gegen sie verbittert hatte, vor dem einen Gefühl, daß sie mich
+nicht vergeblich angerufen haben sollte, und daß ich sie von ihren
+Leiden befreien wollte, wenn ich sie nicht etwa heilen könnte.«
+
+Die Pause, die Deruga machte, benützte der Staatsanwalt, um durch
+weitausholende Gestikulationen und im Flüsterton gezischte Anweisungen
+einen Diener zu beauftragen, daß er dem Angeklagten, der angegriffen zu
+sein scheine, einen Sessel brächte.
+
+Nachdem er sich bedankt hatte, fuhr Deruga fort:
+
+»Meine Regung war, sofort abzureisen, aber ich überlegte mir, was für
+höchst bedenkliche Folgen die Tat für mich haben könnte, und ich
+beschloß, dieselben, wenn möglich, abzuwenden. Die Art und Weise
+betreffend, wie ich Mingo töten wollte, beschloß ich, es durch Curare zu
+tun, wovon ich zufällig eine genügende Dosis besaß. Chloroform, das in
+gewisser Beziehung vorzuziehen gewesen wäre, schloß ich deshalb aus,
+weil der Geruch es sofort verraten hätte. Allerdings hätte man gerade
+dabei am ersten auf Selbstmord geschlossen, außer wenn sich feststellen
+ließ, daß kein Chloroform im Hause gewesen war; sicherer erschien es
+mir, auf alle Fälle ein Gift zu wählen, das im Augenblick keine Spur
+hinterließ, damit der Verdacht eines gewaltsamen Endes überhaupt nicht
+aufkam.
+
+Da meine Frau nicht geschrieben hatte, wie ich zu ihr gelangen könnte,
+dachte ich, zuerst deswegen bei ihr anzufragen, unterließ es jedoch,
+weil ich mir sagte, der Brief würde vielleicht einer Dienerin oder
+Pflegerin in die Hände fallen, die voraussichtlich nicht in das
+Geheimnis gezogen werden durfte. Nachdem ich vielerlei geplant und
+verworfen hatte, entschloß ich mich, als Vagabund oder Hausierer
+verkleidet in ihrer Wohnung vorzusprechen und die Gelegenheit
+auszukundschaften; ich traute mir zu, daß ich auf diese Art irgendeinen
+Weg ausfindig machen würde, und rechnete auf die glücklichen Einfälle,
+die dem Unternehmenden gewöhnlich zu Hilfe kommen. Darauf brachte mich
+auch der Umstand, daß ich vor Jahren einmal auf einem Maskenballe als
+Mausefallenverkäufer aufgetreten und nicht nur von niemandem erkannt,
+sondern von verschiedenen sogar für einen echten, zum Spaß
+eingeschmuggelten Slowaken gehalten worden war. Ich wickelte den Anzug,
+den ich aufgehoben hatte, in ein Papier ein und nahm ihn als einziges
+Gepäck mit, um mich entweder in der Eisenbahn oder im Bahnhof
+umzukleiden.
+
+Unterwegs überlegte ich mir, daß der Kleiderwechsel im Zuge bemerkt
+werden und Verdacht erregen könnte, wodurch ich vielleicht aufgehalten
+würde, und im Bahnhof fand ich keine Gelegenheit. Da es noch sehr früh,
+etwa halb sechs Uhr war, nahm ich an, daß ich in den Bahnhofsanlagen
+vollkommen unbeobachtet sein würde. In der Tat war es rings öde und
+still, und als ich die halbrunde, steinerne Bank sah, die uns Herr
+=Dr.= Bernburger beschrieben hat, schien mir das der geeignete Ort
+zu sein, wo ich mich umkleiden und meinen bürgerlichen Anzug, den ich ja
+zur Heimreise brauchte, verbergen könnte. Nachdem ich den
+Vagabundenkittel angezogen hatte, wickelte ich den anderen Anzug ein und
+verbarg ihn unter der Bank. Zum Überfluß häufte ich noch welkes Laub
+darüber, das überall verstreut war.
+
+Zunächst ging ich in ein kleines Café in der äußeren Stadt und
+frühstückte, weniger um mich zu erfrischen, als um den Eindruck zu
+prüfen, den ich machte, und ich stellte fest, daß ich durchaus für das
+genommen wurde, was ich vorstellen wollte. Bis zum Mittag trieb ich mich
+herum, dann begab ich mich in die Gartenstraße. Ich war durchaus nicht
+aufgeregt, außer daß ich mich sehnte, die Marmotte wiederzusehen. An den
+Zweck, der mich hergeführt hatte, dachte ich kaum noch, nur daran,
+wieviel wir uns zu erzählen haben würden.
+
+Als Ursula mir die Tür öffnete, wurde es mir schwer, mich nicht zu
+verraten, denn ich freute mich, sie wiederzusehen; ich hätte sie gern
+begrüßt und gefragt, ob sie mich denn nicht erkennte. Als Mingo läutete
+und Ursula im Weglaufen die Tür zuschlug, steckte ich rasch einen der
+hölzernen Löffel, die ich als Verkaufsgegenstände bei mir hatte,
+dazwischen. Es war eine Eingebung des Augenblicks, der ich vielleicht
+nicht gefolgt wäre, wenn ich Zeit zur Überlegung gehabt hätte, denn das
+Wagnis konnte leicht mißglücken. Immerhin traute ich mir zu, mich mit
+Ursula, wenn sie mir auf die Spur käme, auf irgendeine Weise zu
+verständigen. Ich stellte den Teller Suppe, den Ursula mir gebracht
+hatte, auf die Treppe und ging aufs Geratewohl in die nächste Zimmertür;
+sie führte in das Fremdenzimmer, das unbenutzt war. Von dort aus hörte
+ich, wie Ursula wiederkam, die Wohnungstür öffnete und brummte, als sie
+draußen den vollen Teller fand. Nachdem sie in der Küche verschwunden
+war, ging ich vorsichtig weiter und erblickte durch die offenstehende
+Tür des Nebenzimmers Mingos Bett. Ich sagte leise: 'Marmotte, da ist
+Dodo!' und sie antwortete ebenso: 'Dodo! Warte, bis Ursula fort ist.'
+
+Während ich allein in dem Fremdenzimmer saß und wartete, habe ich die
+Seligkeit des Himmels genossen. Mehrere Stunden lang fühlte ich die mit
+nichts auf Erden vergleichbare Wonne, die vielleicht gemarterte Heilige
+empfunden haben, wenn der Schmerz aufhörte und Engel mit der Krone des
+ewigen Lebens sich aus den Wolken auf sie niederließen. Mein Herz war
+ganz und gar voll von der göttlichen Liebe, die nichts will als das
+Glück des Geliebten. Ich hatte sie nun wiedergesehen, die Frau, deren
+bloßer Name früher einen Ausbruch von Leidenschaften, Liebe, Haß,
+Rachsucht in mir entfesselt hatte. Was ist noch an uns von dem Kinde,
+das wir vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren einmal waren? Unser ganzer
+Körper hat sich seitdem erneuert, wir haben vielleicht keinen Gedanken
+und keine Empfindung mehr von denen, die wir damals hatten, und doch,
+daß wir es sind, ist das Sicherste, was wir wissen. Ach, von der
+Marmotte, die ich einmal mein genannt hatte, war nichts mehr da, und
+doch hatte ich in dem einzigen Augenblick in ihrem von den Jahren und
+der Krankheit zerstörten Gesicht dasselbe Gesicht gesehen, das ihr als
+Kind schon eigen gewesen sein mochte: aus Unschuld, Liebe und Güte
+zusammengezaubert. Es war nur als eine geistige Erscheinung da, und ich
+weiß nicht, mit was für Augen ich es gesehen habe. Das Körperliche war
+das einer alternden, todkranken Frau, einer Pflanze ähnlich, die, vom
+Nachtfrost überrascht, mumienhaft im Sonnenschein steht. Es war nichts
+mehr an meiner armen Marmotte, was die Leidenschaft irgendeines Mannes
+hätte erregen können, aber sie war mir so teuer, so kostbar und heilig,
+daß ich nicht gezögert hätte, mein Leben hinzugeben, wenn ich ihr Glück
+damit hätte erkaufen können. Armes, ohnmächtiges Geschöpf, dachte ich,
+du sollst nicht mehr leiden! Was es mich auch kosten mag, wie hart die
+Folgen für mich sein mögen, ich will dir Frieden bringen. Und wenn alle
+deine Qualen auf mich übergingen, so wollte ich sie annehmen und mich
+freuen, daß du statt dessen ruhen könntest.
+
+Vorher hatte ich gedacht, ich müsse mir erst Gewißheit über den
+Charakter und Grad ihrer Krankheit verschaffen, aber ihr Anblick zeigte
+mir überflüssig, wie fortgeschritten sie war. Sowie ich Ursula die Tür
+hinter sich schließen und die Treppe hinuntergehen hörte, erhob ich
+mich, und gleichzeitig rief mich auch die Marmotte. Ich setzte mich auf
+den Rand ihres Bettes und sagte, wie ich mich gefreut hätte, daß Ursula
+noch bei ihr wäre, und wie ich kaum hätte unterlassen können, sie
+auszulachen, weil sie mich nicht erkannt hätte. 'Ich hätte dich gleich
+erkannt,' sagte sie, und dann schwatzten wir von der Vergangenheit und
+tauschten kleine Erinnerungen aus. Auch von ihrer Krankheit, ihren
+Operationen, und wie sie behandelt wurde, erzählte sie mir auf mein
+Befragen. Ihre Stimme war unverändert, nur fast süßer als früher. Sie
+klang so, wie man wohl des Abends im Gebirge ein entferntes Alphorn
+hört, in dem die rosigen, grünen und grauen Farben des dämmernden
+Horizontes mitzutönen scheinen. Während wir sprachen, hielt sie eine
+meiner Hände fest zwischen den ihren, und einmal küßte sie sie und
+sagte: 'Du liebe, gute, schöne Hand, ich habe oft an dich gedacht, und
+daß du mich erlösen würdest!'
+
+Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da sah ich in ihrem Gesicht,
+daß ein Anfall von Schmerzen im Anzuge war, Und ich dachte, nun sei der
+Augenblick gekommen. Ich hätte etwas mitgebracht, um ihr die Schmerzen
+zu vertreiben, sagte ich, und wolle es jetzt in der Küche
+zurechtmachen, damit wir ungestört weiterplaudern könnten. 'Wird es weh
+tun?' fragte sie, indem sie mich ängstlich ansah, und ihre Mundwinkel
+zitterten. Arme, kleine, furchtsame Marmotte! Trotzdem sie den Tod
+herbeiwünschte, fürchtete sie sich vor ihm. Ich lachte und sagte: 'Was
+denkst du, so schnell geht es nicht. Erst will ich dich ein wenig
+beobachten, denn vielleicht kannst du durch verständige Behandlung noch
+einmal gesund gemacht werden.' Mit den Worten ging ich in die Küche,
+suchte mir ein Glas und mischte das Gift so mit Limonade und Zucker, daß
+man seine Bitterkeit nicht schmeckte. Als ich zurückkam, hatte sie
+starke Schmerzen, und während ich sie aufrichtete, um sie trinken zu
+lassen, erzählte sie mir, daß sie in der letzten Nacht von unserm Mingo
+geträumt hatte. 'Wie sehne ich mich danach, sie wiederzusehen,' sagte
+sie, 'und später, wenn du auch kommst, stehen wir Hand in Hand und
+warten auf dich.' Ich nickte, stützte sie mit meinem Arm und setzte das
+Glas an die Lippen. Sie sah mich dankbar an und trank begierig.
+
+Ich wartete, bis sie gestorben war, dann legte ich sie nieder, küßte
+sie auf die Stirn und sagte: 'Adieu, liebe, süße Marmotte.' Dann stellte
+ich in den beiden Zimmern alles so, wie es vorher gewesen war, ging in
+die Küche, reinigte das Glas, vertilgte überhaupt jede Spur meiner
+Anwesenheit und ging fort. Im Hause begegnete mir niemand, aber auf dem
+gepflasterten Wege, der zum Gartentor führte, sah ich den Hausmeister
+stehen. Bis dahin war ich vollkommen ruhig gewesen oder hatte geglaubt,
+es zu sein. Aber als ich den Hausmeister sah, kam es mir vor, als müsse
+ich ihm auffallen und müsse irgend etwas tun, um unbefangen zu
+erscheinen. Unwillkürlich faßte ich in die Tasche und zog eine Zigarette
+heraus, stellte mich vor ihn hin und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer
+Gnaden?' Als ich einen Zug getan hatte, ekelte es mich, und ich warf die
+Zigarette ins Gebüsch, ohne in dem Augenblick daran zu denken, daß das
+auffallen könnte.
+
+Der nächste Zug nach Prag ging in der Frühe, und es war erst halb sechs
+Uhr nachmittags. Ich schlenderte wieder in die äußeren Stadtteile und
+setzte mich dort in ein Café. Als es Nacht wurde, begab ich mich in die
+Bahnhofsanlagen. Es schien mir noch zu früh zu sein, um mich
+umzukleiden. Da ich jedoch nicht mehr gehen mochte, setzte ich mich auf
+die steinerne Bank, unter der ich meinen Anzug verborgen hatte, um die
+Dunkelheit zu erwarten. Die himmlischen Gefühle, die mich bei Marmotte
+gehoben hatten, waren verschwunden, ich war schrecklich ernüchtert, und
+mich fror. Ich hatte den ganzen Tag nichts zu mir genommen als etwas
+schwarzen Kaffee, und ich war so schwach und abgespannt, daß ich kaum
+wußte, wozu ich eigentlich dasaß. Ich kam mir abgeschmackt und
+lächerlich vor.
+
+Gegen Mitternacht erhob sich ein starker Wind, der mich bis in die
+Knochen schaudern machte und die trübe Erstarrung, in die ich versunken
+war, durchbrach. Da weit und breit Totenstille herrschte, stand ich auf,
+zog das Paket unter den welken Blättern hervor, mit denen ich es bedeckt
+hatte, und kleidete mich um. Den Arbeitskittel wollte ich nicht
+mitnehmen und dachte erst daran, ihn wieder unter die Bank zu legen. Da
+fiel mir plötzlich ein, daß ich ihn, um ihn aus der Welt zu schaffen,
+noch besser in den Kanal werfen könnte.
+
+Ich stand schon auf der Brücke, als ich an mein Geld dachte, das noch in
+dem Kittel war. Auf dem Wege zum Bahnhof malte ich mir aus, wie
+verhängnisvoll es für mich hätte werden können, wenn ich ohne Geld
+geblieben wäre, und dabei fiel mir endlich ein, daß ich auch Mingos
+Brief bei mir gehabt hatte für den Fall, daß ich ihre Wohnung vergäße.
+Es tat mir leid, den Brief verloren zu haben, aber ich war zu müde und
+zu gleichgültig, um umzukehren und einen Versuch zu machen, ob ich das
+Paket noch aus dem Wasser fischen könnte, was ohnehin unwahrscheinlich
+war. Auch graute mir, obwohl ich solchen Stimmungen sonst nicht
+unterworfen bin, vor der verlassenen Stelle, und es war mir zumute, als
+würde ich mich selbst auf der weißen Bank vor dem schwarzen Wasser
+sitzen sehen, wenn ich zurückkehrte. Im Eisenbahnwagen schlief ich
+sofort ein und schlief fest, bis ich zu Hause ankam. Ich hatte den
+Eindruck, daß niemand mich kommen sah und niemandem meine Abwesenheit
+aufgefallen war.«
+
+»Warum haben Sie den Sachverhalt nicht sofort der Wahrheit gemäß
+dargestellt?« fragte der Vorsitzende, der während der langen Erzählung
+mit seinem Bleistift gespielt hatte und in den Anblick desselben
+versunken schien. »Das hätte Ihnen von vornherein eine andere Stellung
+gesichert.«
+
+»Ja, wenn man mir geglaubt hätte!« sagte Deruga. »Den einzigen Beweis,
+den ich beibringen konnte, den Brief meiner Frau, hatte ich verloren,
+und ich dachte nicht an die Möglichkeit, ihn wiederzufinden. Freilich
+war ich überzeugt, selbst wenn sich der Kittel herbeischaffen ließe,
+würde das Wasser den Brief zerstört haben.«
+
+»Sonderbare Geschichte das!« sagte =Dr.= Zeunemann nach der Sitzung
+zu den übrigen Herren. »Ich gestehe, der Mensch hat mich beinahe
+gerührt. Ein derartiges gegenseitiges Wohlwollen findet man selten bei
+Eheleuten.«
+
+»Die waren ja auch geschieden,« sagte der Staatsanwalt listig.
+
+Alle Herren lachten. »Übrigens,« sagte =Dr.= Zeunemann, »für ein
+bißchen nervös und empfindsam halte ich unseren Italiener doch. Ich
+hatte nicht unrecht, wenn ich ihn mit einem Chamäleon verglich.«
+
+Das wurde zugegeben. Aber es sei schließlich kein Verbrechen, ein
+Chamäleon zu sein. Viele fänden es sogar reizvoll.
+
+»Ein Spielzeug für Damen,« sagte der Staatsanwalt vergnügt, »und um der
+Damen willen muß er freigesprochen werden. Ich hoffe, unsere
+Geschworenen vergessen nicht, daß es die Damen sind, die im öffentlichen
+wie im privaten Leben den Ausschlag geben.«
+
+»Besonders vergessen Sie hoffentlich nicht,« sagte =Dr.= Zeunemann,
+»daß es Frauen gibt, die weder im öffentlichen noch im privaten Leben
+hervortreten und doch tapferer sind als unser starkes Geschlecht.«
+
+Man wollte allerseits an dem Vorsitzenden eine Vorliebe für Fräulein
+Gundel Schwertfeger bemerkt haben und neckte ihn damit.
+
+Ja, er sähe auf den Kern, rechtfertigte sich =Dr.= Zeunemann, lasse
+sich nicht durch Schein und Schimmer verblenden wie der ewig junge
+Staatsanwalt.
+
+»Sie hat gelogen wie eine Heilige,« sagte dieser, »und mir ist es recht,
+wenn das Gericht ihr eine Aureole statt der Strafe zuerkennt, denn das
+Martyrium hat sie schon hinter sich. Hernach werde ich aber mit
+verdoppelter Kraft den Buchstaben des Gesetzes schwingen.«
+
+
+
+
+=XIX.=
+
+
+Es dämmerte schon, als Mingo ins Hotel kam, wo ihre Mutter am Kamin saß
+und in einem Buch blätterte.
+
+»Wo warst du denn?« fragte sie mißbilligend, indem sie das Buch in den
+Schoß legte. »Ich habe mich deinetwegen beunruhigt.«
+
+»Aber Mama,« sagte Mingo erstaunt, »das habe ich nicht vorausgesetzt.
+Wenn wir getrennt sind, hast du doch keine Ahnung, wann ich nach Hause
+komme, und sorgst dich nie um mich.«
+
+»Das ist etwas anderes, Mingo,« antwortete die Baronin gereizt. »Ich
+wäre nicht mehr am Leben, wollte ich mir Gedanken um dich machen, wenn
+du anderswo bist. Hier mußt du dich nach mir und den herrschenden Sitten
+richten. Ein junges Mädchen aus guter Familie darf in der Dunkelheit
+nicht allein durch die Straßen laufen.«
+
+»Daran dachte ich nicht,« entschuldigte sich Mingo kleinlaut, »weil ich
+es so gewöhnt bin. Ich war so glücklich, Mama.«
+
+»Glücklich? Warum?« fragte die Baronin. »Weil wir nach Paris reisen,
+oder weil Peter Hase uns begleitet? Oder weil du studieren darfst?«
+
+»Ach nein, Mama,« antwortete Mingo, »weil der schreckliche Prozeß nun
+bald zu Ende ist, und weil er freigesprochen wird. Er wird doch
+freigesprochen?«
+
+»Ich glaube bestimmt,« sagte die Baronin.
+
+Mingo, die sich inzwischen auf ein Kissen zu Füßen ihrer Mutter gekauert
+hatte, rief aus: »Aber seine Unschuld ist doch sonnenklar!«
+
+»Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist er doch nicht unschuldig,« sagte
+die Baronin.
+
+Mingos Gesicht drückte ängstlichen Zweifel aus, allmählich verzog es
+sich, so daß es kläglich und hilflos wie das eines kleinen Kindes
+aussah, und in Tränen ausbrechend umklammerte sie mit beiden Armen die
+Knie ihrer Mutter. »O Mama, das ertrüg' ich nicht, das ertrüg' ich
+nicht,« schluchzte sie.
+
+Die Baronin schob sie sacht mit den Händen zurück und fragte befremdet,
+fast tadelnd: »Was ist dir? Was hast du, Kind?« während sie sich eines
+stechenden Schmerzes zu erwehren suchte, der ihr Herz zusammenzog.
+
+»Stoß' mich doch nicht fort, Mama,« schluchzte Mingo, ihre Mutter fest
+umklammernd, »ich kann ja nichts dafür, daß es so ist! Hilf mir doch,
+ich habe ja nur dich! Ich kann nicht ohne ihn leben.«
+
+Die Baronin beugte sich herab, zog die kleine Gestalt auf ihren Schoß
+und preßte das tränenüberströmte Gesicht an ihres. »Meine kleine Mingo,«
+sagte sie zärtlich, »so sehr liebst du ihn?«
+
+Noch schluchzend drängte sich das Mädchen dicht an ihre Mutter. »Ich
+wollte gern sterben, wenn ich ihn damit glücklich machen könnte,« sagte
+sie leise.
+
+Die Baronin streichelte sie und drückte sie fest an sich. »Meine liebe
+Kleine,« sagte sie besänftigend, »es ist natürlich, daß er in dieser
+Lage einen starken Eindruck auf dein liebevolles, phantastisches Gemüt
+gemacht hat. Er übt einen großen Zauber aus, das ist wahr. Aber glaube
+mir, das ist nicht der Mann, der dich beglücken könnte, ganz abgesehen
+davon, daß sein Alter und seine Stellung im Leben den Gedanken an eine
+Heirat mit dir von vornherein ausschließen.«
+
+»Seine Stellung im Leben,« rief Mingo, sich entrüstet aufrichtend. »O
+Mama, und wenn er ein Straßenkehrer wäre, er stände hoch, hoch über mir
+und allen Männern, die ich kenne. O Mama, ich kann es nicht ertragen,
+daß du so kleinlich denkst oder sprichst. Und was frage ich nach seinem
+Alter? Will ich denn etwas von ihm? Wenn meine Jugend sein Herz einen
+Augenblick erfreuen könnte, wie man sich an einer Blume erfreut, so wäre
+ich glücklich, sie ihm hingeben zu dürfen.«
+
+Plötzlich brach sie ab, da sie sah, daß die schönen grauen,
+schwarzumsäumten Augen ihrer Mutter feucht und daß auf ihren blassen
+Wangen Tränenspuren waren. Sie nahm das kleine, spitzenbesetzte
+Taschentuch, das die Baronin in der Hand hielt, trocknete damit behutsam
+ihr Gesicht und fragte nachdenklich: »Sind das meine Tränen?«
+
+»Wessen wohl sonst?« fragte die Baronin lächelnd.
+
+»Aber du hast ja auch Tränen in den Augen,« fuhr Mingo fort. »Ach Mama,
+was für ein böses Kind bin ich, dir solchen Kummer zu machen! Aber ich
+kann ja nichts dafür, es ist ganz gewiß stärker als ich! Alles, alles,
+was ich habe, wollte ich geben, wenn er mich nur ein bißchen liebhaben
+könnte! Wenn er mich wenigstens um sich leiden möchte! Ich weiß nicht,
+was aus mir werden soll ohne ihn.«
+
+»Meine süße, kleine Mingo,« begann die Baronin.
+
+»Sage: mein süßer, kleiner Mingo,« bat Mingo.
+
+»Mein süßer, kleiner Mingo,« wiederholte die Baronin, »kühle vor allen
+Dingen dein Gesicht, denn du möchtest gewiß nicht gern, daß dein Vater,
+der jeden Augenblick kommen kann, dich so überraschte. Ich fürchte, er
+würde wenig Verständnis für deine Gefühle haben. Und dann laß uns
+zunächst ruhig das Urteil erwarten! Sollte er nicht freigesprochen
+werden, so kann er weitergehen; wir brauchen also selbst im schlimmsten
+Falle die Hoffnung nicht aufzugeben. Was dann wird, hängt nicht von uns
+ab. Dich zu lieben, können wir ihn nicht zwingen, aber ich glaube, daß
+er schon um seiner verstorbenen Tochter willen Sympathie für dich hat.«
+
+»Glaubst du?« fragte Mingo, während sie sich das erhitzte Gesicht mit
+einem nassen Tuche betupfen ließ. Die ungewohnte mütterliche
+Zärtlichkeit hatte etwas lieblich Einwiegendes, und sie hielt
+unwillkürlich die Mutter fest umarmt, als wolle sie die wohltätige
+Anwandlung verhindern, einem Traume gleich zu verschwinden.
+
+»Du scheinst plötzlich wieder ein kleines Kind geworden zu sein,« sagte
+die Baronin, »und zu denken, wie kleine Kinder tun: Mama wird mir Sonne
+und Mond geben, wenn ich will.«
+
+Mingo sah die Baronin mit großen, wundergläubigen Augen an und nickte.
+»Das kommt, weil du so gut zu mir bist,« sagte sie.
+
+Erst gegen Morgen schlief die Baronin ein und erwachte mit müdem,
+unfrohem Herzen. Mingos zärtliche Begrüßung, kleine Aufmerksamkeiten
+und verstohlene Blicke ermunterten sie doch allmählich.
+
+»Nun, Mingo,« sagte sie, »ich nehme dich heute nur mit in die Sitzung,
+wenn du brav sein willst. Auftritte sind mir verhaßt, besonders in der
+Öffentlichkeit.« Mingo versprach es und wurde auf keine zu schwere Probe
+gestellt. Denn die Reden waren kurz, und die Geschworenen lehnten nach
+kaum halbstündiger Beratung die Schuldfrage ab.
+
+ * * * * *
+
+In der allgemeinen Bewegung, die entstand, erschien nur Deruga
+gleichgültig; einzig als er, nachdem die Baronin ihn beglückwünscht
+hatte, Mingos Auge voll Sorge und Liebe auf sich gerichtet sah, wurden
+seine Mienen weich.
+
+»Kleiner Mingo,« sagte er, indem er ihr zunickte, »sind Sie nun
+zufrieden? Sehen Sie, die Menschen sind gar nicht so böse!«
+
+Im ersten Augenblick überwältigte sie das Glück dieser Anrede; aber als
+sie neben ihrer Mutter im Wagen saß und alles Erlebte wieder
+durchträumte, schien es, als habe der bewunderte Mann sie doch recht
+karg abgespeist. Mit wem mochte er seinen Triumph jetzt so recht
+ausgiebig feiern? War er überhaupt froh? Es hatte so viel Widerwillen
+und Verachtung in dem Gesicht gelegen, das doch so innig lächeln konnte.
+Ob er glücklicher sein würde, wenn er wüßte, wie ganz und gar sie ihm
+ergeben war?
+
+»Mingo,« sagte die Baronin am Nachmittag, als sie allein miteinander
+waren, »ich werde jetzt Deruga aufsuchen, um zu erfahren, welches seine
+Absichten für die nächste Zukunft sind, und ihn bitten, daß er mich als
+seine Verwandte betrachtet. Dich nehme ich nicht mit, weil du sehr wenig
+imstande bist, deine Empfindungen zu beherrschen, und es nicht
+schicklich ist, wie du auch finden wirst, wenn ein Mädchen sich einem
+Manne anträgt.«
+
+Mingo war nicht der Meinung. Sich diesem einzigen Manne gegenüber hinter
+Schicklichkeitsregeln zu verschanzen, schien ihr unwürdig, das einzig
+Natürliche und Richtige vielmehr, ihm zu sagen: Ich bin dein, nimm mich
+hin. Da sie aber wußte, daß sie ihre Mutter für diese Auffassung nicht
+würde gewinnen können, und da sie sich außerdem vor einer Begegnung mit
+Deruga ebensosehr fürchtete, wie sie sie herbeisehnte, erklärte sie sich
+dankbar einverstanden.
+
+»Aber ich darf ihn doch grüßen lassen,« fragte sie. Die Baronin lächelte
+und küßte sie. »Geh' inzwischen mit deinem Vater spazieren,« sagte sie,
+»daß dir die Zeit nicht lang wird.«
+
+
+
+
+=XX.=
+
+
+Als die Baronin bei Deruga eingetreten war, der an einem Tische saß und
+schrieb, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte dann: »Sie sehen
+nicht aus wie ein Sieger. Mir entfällt der Mut, Ihnen Glück zu
+wünschen.«
+
+»Sie irren sich,« antwortete Deruga, »ich habe soeben einen Entschluß
+gefaßt, um dessentwillen ich zu beglückwünschen bin: Ich will den
+Schauplatz, der mir nicht gefällt, verlassen.«
+
+»Das habe ich vorausgesetzt,« sagte die Baronin. »Hätten Sie nicht Lust,
+uns nach Paris zu begleiten?«
+
+»Nein, ich will weiter, viel weiter fort,« sagte Deruga.
+
+»Nun, das ist auch gut,« meinte die Baronin. »In der Ferne werden Sie
+die häßlichen Eindrücke, die Sie hier gehabt haben, vergessen, und wenn
+Sie wissen, daß Sie in dem trüben Wust einen kostbaren Schatz gewonnen
+haben, nämlich ein reines, warmes, treues Herz, so wird Sie das
+allmählich zurückziehen.«
+
+»Ich bin nicht so verwegen, mir einzubilden, ich hätte Ihr Herz
+gewonnen, Frau Baronin,« sagte Deruga, gutmütig spottend, »auf das Ihre
+Schilderung auch wohl so ganz nicht paßt.«
+
+»Nein, nicht so ganz,« sagte die Baronin, indem sie mit wehmütiger
+Koketterie den Kopf wiegte, »immerhin dachte ich an eines, das dem
+meinigen nah, sehr nah verwandt ist.«
+
+»Kleiner Mingo,« sagte Deruga träumerisch, und dann rascher, zu seinem
+Gast gewendet: »Ach, glauben Sie denn, Baronin, ich könnte es ertragen,
+ein Wesen an meiner Seite zu haben, das mich immer an meinen kleinen
+Mingo erinnerte, den ich verloren habe? Wenn Sie das für möglich halten,
+so wissen Sie nicht, was Elternliebe ist.«
+
+»O doch, ich habe es erfahren,« sagte die Baronin, indem sie langsam den
+verschleierten Blick auf ihn richtete.
+
+»Ich glaube Ihnen,« sagte Deruga, »aber vielleicht können Sie sich
+nicht in meine Lage denken.«
+
+»Es ist natürlich,« sagte die Baronin, »daß ich zunächst die meine und
+die meines Kindes empfinde. Daß eine Mutter ihre Tochter nicht gern
+einem um so viel älteren Manne gibt, das versteht sich doch wohl von
+selbst. Wenn ich trotzdem mich entschlossen habe, Ihnen von dieser
+Neigung zu sprechen, so geschah es, weil ihre Stärke und unschuldige
+Zuversicht mich rührten und mir den Glauben erweckten, es könne doch
+vielleicht -- wie man so sagt -- Gottes Wille sein. Dazu kommt freilich,
+daß ich mich davor fürchte, das Kind leiden zu sehen.«
+
+»Wirkliches Leiden,« sagte Deruga, »würde ihr die Erfüllung ihres
+Wunsches bringen. Sie kennt mich nicht. Und auch Sie, Baronin, kennen
+mich offenbar nicht genügend.«
+
+»Die Natur will nicht, daß wir Frauen die Männer ganz kennen,« sagte die
+Baronin leicht errötend. »Hat sie uns nicht blind gemacht, so müssen wir
+uns wohl oder übel die Augen verbinden. Aber von Ihnen, gerade von
+Ihnen glaubte ich, daß es nur von Ihrem Willen abhinge, wenn nicht ein
+großer, so doch ein sehr guter Mensch zu sein.«
+
+»Wenn das wahr wäre,« sagte Deruga, »so wäre ich es ja. Mein Wille hängt
+aber nicht von mir ab, sondern von meinem Blut, von meinen Nerven, von
+den Eindrücken, die ich empfange, von tausenderlei Strömungen und
+Stockungen, über die ich nicht Herr bin. Ich habe Augenblicke gehabt, wo
+es mir vor mir selbst ekelte, und ich will verhindern, daß sie
+wiederkommen, nachdem ich einmal hoch über allen irdischen Niedrigkeiten
+war.«
+
+»Und könnten Sie das nicht am besten dadurch verhindern,« sagte die
+Baronin, liebevoll dringend, »daß Sie Ihr Leben mit einem jungen,
+reinen, vertrauenden verbänden?«
+
+»Wenn ich stark wäre, ja,« sagte Deruga. »Aber da ich schwach bin,
+bleibt mir doch nur der andere Weg, daß ich fortgehe.«
+
+Etwas in seinen Mienen oder im Ton seiner Worte machte, daß die Baronin
+ihn plötzlich richtig verstand. Ihre Hand, die auf der Lehne seines
+Stuhles lag, zitterte, und sie wurde bleich. Eine schreckliche Angst, er
+könne jetzt gleich, ihr gegenüber Hand an sich legen, befiel sie, und
+zugleich durchzitterte sie der Gedanke, daß dies die beste Lösung für
+sie wäre.
+
+»Es ist entsetzlich, mir das zu sagen,« stöhnte sie, die Augen
+schließend und den Kopf zurücklehnend.
+
+»Nicht so sehr,« sagte Deruga, »ich hätte es nicht gesagt, wenn ich
+nicht wüßte, wie verständig Sie sind. Ich will Ihnen gestehen, als mich
+Ihre Augen zum ersten Male mit einem Blick trafen, der aus Abneigung und
+plötzlich erregter Zuneigung gemischt war, wurde eine starke Begierde zu
+leben in mir wach, wie ich sie jahrelang nicht empfunden hatte. Denn
+eigentlich lebte ich nur so hin, weil ich einmal da war, ohne daß etwas
+mich sonderlich reizte. Der Trieb, den Sie in mir entzündeten, war
+nichts Hohes oder Schönes, es war ein Durcheinander von Genußsucht,
+Eitelkeit und Selbstliebe, was eben bei uns Männern der Leidenschaft
+hauptsächlich zugrunde liegt. Der Reichtum, der mir in den Schoß
+gefallen war, bekam plötzlich doppelten Wert für mich. Von ihm getragen,
+wollte ich leben um jeden Preis, was für Opfer es auch kosten möchte,
+leben, um ungeschränkt zu genießen. Wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn
+der gute =Dr.= Bernburger nicht den Brief von meiner armen Marmotte
+gefunden hätte!«
+
+»Da verblaßte die neue vor der alten Liebe,« sagte die Baronin leise.
+
+»Sie mögen es immerhin so ausdrücken,« sagte Deruga. »Vom Finger der
+Erinnerung berührt, stieg die göttliche Zeit vor mir auf, die mir einmal
+geschenkt war. Ich sah, wie flach, zerbrechlich, alltäglich und ekelhaft
+alles das war, was mich glänzend und genußreich umgaukelt hatte,
+verglichen mit der Seligkeit, die ich empfand, als ich meiner armen,
+kranken Marmotte den Tod gab. Ja, ich würde reicher und angesehener
+sein, es würden mir feinere, höher gestellte Frauen zu Verfügung stehen
+als früher, aber ich würde mit jedem Schritt tiefer in den Schlamm der
+Alltäglichkeit versinken und mich weiter von jenem Götterglück
+entfernen, bis ich meine Fähigkeit dazu endlich vergessen und verloren
+hätte.«
+
+»Man kann nicht immer auf den Höhen verweilen,« wandte die Baronin
+zaghaft ein.
+
+»Ich wenigstens kann es nicht,« sagte Deruga. »Aber ich war doch einmal
+begnadet, in ätherischer Luft zu atmen. Mir schmeckt eure Zeit nicht
+mehr nach jenen ewigen Augenblicken.«
+
+»Vielleicht,« sagte die Baronin zögernd, »könnte Mingo Sie umstimmen,
+wenn sie zu Ihnen käme.«
+
+»Das wäre zum Unglück für uns beide,« sagte Deruga. »Lassen Sie dem
+Kinde eine schöne, heilige Erinnerung, die vielleicht einmal dunkle
+Stellen des Lebens verklären kann. Mich beglückt der Gedanke, daß sie
+ein unbeflecktes Bild von mir in liebevollem Herzen festhält.
+Versprechen Sie mir, es nicht zu zerstören, Baronin!«
+
+»Es ist ja mir so teuer wie ihr,« sagte sie mit erstickter Stimme. Sie
+drückte das Taschentuch an die Augen und saß ihm lange stumm gegenüber.
+Plötzlich kam ihr inmitten verworrener Gefühle und Gedanken ein
+Einfall, dem nachgebend sie sich schnell aufrichtete und fragte: »Und
+die verhängnisvolle Erbschaft? Was wird aus der, wenn Sie -- fortgehen?«
+
+Deruga lachte. »Wahrhaftig, Baronin,« sagte er, »wenn Gundel
+Schwertfeger nicht wäre, würde ich sie Ihnen von Herzen gönnen. Aber,
+sehen Sie, Gundel Schwertfeger kommt das Geld eigentlich zu, weil die
+Marmotte es ihr zugedacht hatte, und weil sie es in ihrem Sinne anwenden
+wird. Und um mich hat sie es verdient, das treue, tapfere Herz, obwohl
+ich ihr einmal böse war, weil sie mich zu hart beurteilte. Im Grunde
+galt mein Zorn nur ihrer Unbestechlichkeit.«
+
+»Ach,« sagte die Baronin schmollend, »Sie und das Fräulein Schwertfeger
+gehören zu den Leuten, die nur ein Herz für die Leiden der Armen haben.
+Glauben Sie mir, verhältnismäßig bin ich ärmer als die ärmste
+Taglöhnersfrau.«
+
+»Ja, aber nur verhältnismäßig,« lachte Deruga.
+
+»Nun, lassen wir das,« sagte die Baronin, »nur um eines bitte ich Sie:
+Lassen Sie die Nadel, den Mohrenkopf, den Sie in der Krawatte tragen,
+nicht in fremde Hände fallen!«
+
+»Sie sollen ihn als Andenken erhalten,« sagte Deruga, »wenn ich meine
+Reise antrete. Machen Sie sich aber niemals Gedanken, Baronin, als
+hätten Sie den Aufbruch verschuldet! Schon oft, lange vor diesem Prozeß,
+habe ich die Absicht gehabt, diese öde Station zu verlassen, wo ich mich
+ebenso langweilte wie Sie in Ihrer Ehe. Vielleicht erinnern Sie sich,
+daß ich einmal im Anfang der Verhandlungen erzählte, wie ich fortgereist
+und aufs Geratewohl querfeldein gegangen sei, um irgendwo draußen in der
+Einsamkeit wie ein Tier zu sterben. Das war keine Erfindung, wenn es
+auch nicht gerade an dem Tag vorgefallen war.«
+
+Die Baronin war aufgestanden und hielt ihm zögernd die Hand hin. »Lieber
+Doktor,« sagte sie, »alles, was Sie nur eben sagten, war der Ausdruck
+einer Stimmung, die nach den vorausgegangenen Eindrücken erklärlich ist,
+die aber vorübergehen wird. Ihre zahlreichen Freunde werden darauf
+hinzuwirken suchen, und ich bin überzeugt, schon morgen werden Sie
+irdischer, menschlicher empfinden. Ich wäre nicht imstande Ihnen
+Lebewohl zu sagen, wenn ich nicht fest darauf rechnete.«
+
+»Küß die Hand, Baronin, und grüßen Sie Mingo!«
+
+Auf der Treppe zog die Baronin einen Spitzenschleier aus der kleinen
+Handtasche, die sie in der Hand trug, und band ihn vor ihr Gesicht, über
+das unaufhaltsame Tränen flossen. Erst nachdem sie eine Zeitlang in den
+entlegenen, einsamen Straßen dieser Gegend auf und ab gegangen war,
+versiegten sie und vermochte sie sich zu fassen. Nach Hause zu gehen,
+fühlte sie sich immerhin noch nicht fähig und beschloß, auf Umwegen in
+die innere Stadt, wo die eleganten Geschäfte waren, zurückzukehren und
+einige für die Abreise notwendige Einkäufe zu machen.
+
+Der Gedanke an Paris hatte etwas Befreiendes für sie. Auf der neuen
+Szene, dachte sie, würden neue Auftritte mit neuen Eindrücken kommen und
+sie heilen; denn sie bedürfte es doch mehr als Mingo. Ja, für Mingo war
+es gut so, das fühlte sie mit jedem Augenblick deutlicher. Eine kurze
+Zeit leidenschaftlicher Wonne hätte sie vermutlich, wenn sie Deruga
+geheiratet hätte, mit einem Leben voll Enttäuschungen und mannigfacher
+Bitterkeit erkauft; denn was für Schätze sein Herz auch bergen mochte,
+ihr gegenüber wäre er bald der alternde, launenhafte, überdrüssige,
+erloschene Mann geworden. Der Schmerz hingegen, den sie jetzt erfuhr,
+würde sich bald, wie Deruga vorausgesagt hatte, in eine heilig behütete
+Erinnerung verwandeln, bei der man gern in Träumen verweilt. Vielleicht
+war sie infolge der Erregungen, die sie durchgemacht hatte, gerade in
+der rechten Verfassung, um für Peter Hases Werbung empfänglich zu sein,
+der sie begleitete, oder es würde einem anderen gelingen, sie zu
+interessieren. Dies Erlebnis hatte den Boden ihrer Seele erst lockern
+müssen, der sich bisher vor der Liebe verschlossen hatte. Es lag jetzt
+nur an ihr, sich eine reiche Ernte für die Zukunft zu sichern.
+
+Sie dagegen, so dachte die Baronin, hatte einen dürren Herbst und einen
+öden Winter zu erwarten. Es schauderte sie, und sie zog das
+Pelzgehänge, das sie an den kühlen Frühlingstagen noch trug, dicht um
+sich zusammen. Gab es denn irgendwo auf Erden die göttliche Zeit, das
+himmliche Klima, wovon Deruga gefabelt hatte? Ach, mit was für
+fremdartigen Gedanken hatte er sie gestört! Nein, das Verstiegene und
+Überschwängliche hatte sie sich immer fern gehalten und wollte es auch
+ferner tun, das ihrem guten Geschmack widerstrebte. Das Leben war reich
+an heiteren, reizenden Augenblicken; die Kunst, diese Schmetterlinge
+einzufangen, sich an ihrem Schmelz zu erfreuen, ohne sie zu betasten,
+wollte sie sich immer mehr zu eigen machen. Konnte sie dazu eine bessere
+Gelegenheit finden als in Paris, in Gesellschaft ihrer Tochter und Peter
+Hasens? War nicht endlich auch ihr Mann ein schätzbarer Begleiter?
+Ansehnlich, elegant, zuvorkommend, eben durch seine langweilige
+Farblosigkeit bequem? Ihr Schritt wurde immer elastischer und ihre
+Mienen heiterer. Als sie im Hotel ankam, strömte ihr Wesen einen so
+frischen Reisemut aus, daß ein wenig davon auf Mingo überging.
+
+Ein paar Tage später erhielt sie in Paris ein Paketchen, in dem Derugas
+Nadel mit dem Mohrenkopf war. Ihre Augen wurden feucht, aber sie verbarg
+das Kleinod schnell in einer Schatulle, wo sie ihre Kostbarkeiten zu
+verschließen pflegte, um es erst dann wieder hervorzunehmen, wenn ihr
+Herz ganz still und sicher geworden wäre.
+
+ * * * * *
+
+Die Ankündigungen auf den folgenden Seiten werden freundlicher Beachtung
+empfohlen
+
+ * * * * *
+
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Der Stein der Weisen |
+ | |
+ | von Max Geißler |
+ | |
+ | Die letzten fünfundzwanzig Jahre deutschen Lebens |
+ | umfaßt Max Geißlers neuer Roman, der ganz eingesponnen |
+ | ist in den Frieden des Bergwaldes. Durchs Wettertal |
+ | fährt im Juli 1890 der Doktor Valerius Degenhart aus |
+ | Frankfurt am Main, der Träumer, der aus der |
+ | zerrüttenden Berufsarbeit sich nach der großen Stille |
+ | sehnt. Im Wettertal läßt er, als seine unmoderne |
+ | Reisekutsche verunglückt, zu dauernder Rast sich |
+ | nieder. Zwischen Himmel und Erde, vor einer Natur von |
+ | unsagbarer Schönheit baut er sich sein Haus, die |
+ | Streitburg. Wenig Äußeres geschieht in diesem Buch. |
+ | Doch es hat eine Melodie tiefinnerster Seligkeit, die |
+ | im Herzen nachklingt wie der Glanz endloser Sommertage. |
+ | |
+ | |
+ | Die Arche |
+ | |
+ | von Werner Scheff |
+ | |
+ | In diesem utopischen Roman eines neuen Autors ist die |
+ | stolzeste Tat vorhergeahnt, die im Weltkrieg der Geist |
+ | der deutschen Technik verwirklichte, und mit |
+ | schöpferischer Phantasie übertragen auf ferne Zukunft. |
+ | Noch wußten nur die Eingeweihten vom Bau der |
+ | »Deutschland«, als Werner Scheff seine »Arche« schrieb, |
+ | die mit der Taufe des großen Untersee-Passagierbotes, |
+ | der »Gloria«, im August 1947 beginnt. Hammerhart, voll |
+ | nüchternen Zweckbewußtseins, bis in die letzten Dinge |
+ | der Konstruktion durchdacht ist seine Gestaltung des |
+ | kühnen Ingenieurtraums. Mit ungeheuersten Möglichkeiten |
+ | des Weltenschicksals, mit einem Weltuntergang, ist sie |
+ | verbunden. Aber rein und trostvoll in ihrem milden |
+ | Glauben an die Ewigkeit der Kultur ist die Stimmung des |
+ | Schlusses. |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Jeder Band 3 Mark_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+
+ * * * * *
+
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Lotte Hagedorn |
+ | |
+ | von Felix Philipp. |
+ | |
+ | In das Erleben einer früheren Generation trägt Felix |
+ | Philipps neues Werk zurück. Mit einem Spaziergang nach |
+ | den Linden, den am Himmelfahrtstag 1869 der |
+ | Kommissionsrat Schlegel unternimmt, setzt die |
+ | Geschichte der Lotte Hagedorn ein. An jenem Junitage |
+ | des Jahres 1871 endet sie, an dem durch das |
+ | Brandenburger Tor die aus Frankreich heimkehrenden, |
+ | kranzgeschmückten Truppen umjubelt einzogen. Stimmungen |
+ | von altväterischem Reiz begleiten diesen zarten und |
+ | rührenden Roman eines Frauenherzens. Den Zusammenbruch |
+ | eines Bankhauses in der Jägerstraße, dessen Inhaber |
+ | elegant und frivol ist wie die Bankiers des |
+ | napoleonischen Paris, schildern die stärksten Kapitel. |
+ | Sie bringen in diese Welt der bürgerlichen Sparsamkeit |
+ | etwas wie eine erste Vorahnung der Gründerjahre. |
+ | |
+ | |
+ | Candida |
+ | |
+ | von Albert von Trentini |
+ | |
+ | Das neue Werk Trentinis hat ein Motiv von großer |
+ | Kühnheit: die Zerstörung einer glühenden Leidenschaft |
+ | durch einen Unfall, der das Antlitz der Geliebten jäh |
+ | entstellt. In einer Sprache voll feierlichen Glanzes |
+ | gibt der junge österreichische Dichter den Kampf zweier |
+ | Menschen wieder, des Mannes, dessen Gefühl erstarrt, |
+ | der Frau, die stolz und einsam dem selbstgewollten |
+ | Schicksal entgegenschreitet, bis über Stolz und |
+ | Einsamkeit die zitternde Liebe der Seelen triumphiert. |
+ | Rom, seine Gärten und Tempel, die nachtdunkle |
+ | Steinwüste des Kolosseums sind der Schauplatz des |
+ | ersten Teils; in der unberührten Natur der Tiroler |
+ | Alpen, in Berlin und München geht die Handlung zu Ende. |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Jeder Band 3 Mark_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+
+ * * * * *
+
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Schüsse vor Warschau |
+ | |
+ | von Christian Bouchholtz |
+ | |
+ | Der weiße polnische Winter ist in diesem Roman eines |
+ | jungen Berliner Schriftstellers, der als Kanonier an |
+ | der Bzura lag, einen Tagemarsch vor Warschau, und bei |
+ | Brochow, Chopins Geburtsort. In kecken Skizzen malt er |
+ | die Straßen von Lowicz, die Typen des polnischen |
+ | Bauernvolks, die rohgezimmerten Panjehütten, die |
+ | dumpfen Stuben mit der goldglänzenden, schwarzen |
+ | Madonna von Czenstochau, Bäuerinnen und Burschen, die |
+ | den Krakowiak tanzen, den Brand einer zerschossenen |
+ | Zuckerfabrik. Ein Spionagefall ist das erregende Moment |
+ | der Handlung und trägt in sie die Gegenwart von Verrat |
+ | und Tod. Eine Mädchenfigur, schön, künstlich, |
+ | lasterhaft, steht mitten in dieser romantischen |
+ | Atmosphäre des Werkes. |
+ | |
+ | |
+ | Variété |
+ | |
+ | von Joachim Delbrück |
+ | |
+ | Ein Kenner des Variétés, seines Glanzes und seiner |
+ | Not, seines internationalen Marktes, seiner |
+ | unerbittlich harten Auslese, seiner tragischen und |
+ | seiner grotesken Züge, hat diesen Roman verfaßt. Doch |
+ | nicht die überraschend wahre Darstellung des |
+ | Artistentums ist das Entscheidende, sondern die |
+ | künstlerische Note des Werkes. Ein impressionistisches |
+ | Gemälde von starkem Farbenreiz wird alles, was Joachim |
+ | Delbrück schildert: die lichtstrotzende Rampe der |
+ | Skala, eine goldflimmernde Akrobatentruppe, dänische |
+ | Garde in Scharlachrot, Kopenhagens Freiluftstimmungen |
+ | aus silbergrauer Herbstzeit. Die Seele vieler Städte |
+ | ist in Delbrücks feinem und buntem Roman, mit dem eine |
+ | neue, persönliche Begabung sich durchsetzt. |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Jeder Band 3 Mark_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+
+ * * * * *
+
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Verlag Ullstein & Co, Berlin-Wien_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Das Reich von morgen |
+ | |
+ | von Karl Figdor |
+ | |
+ | Der Roman von Karl Figdor ist ein farbiges und |
+ | spannendes Werk, das der erzählenden Literatur Neuland |
+ | erobert. Nach Mesopotamien führt er, dem zukunftsvollen |
+ | Gebiet zwischen den beiden Riesenströmen, und an die |
+ | Strecke der deutschen Bagdadbahn. Ein deutscher |
+ | Ingenieur, Sektionsleiter beim Bau der Brücke von |
+ | Dscherablus, und ein blondes deutsches Mädchen, deren |
+ | Schicksal nach einer großen Lebenskrise vereinigt wird, |
+ | stehen im Vordergrund des Romans. Der Höhepunkt des |
+ | ersten Teiles ist die dramatische Schilderung einer |
+ | Meuterei arabischer und kurdischer Arbeiter. Dann trägt |
+ | die Handlung mitten hinein in die Tage des Krieges, |
+ | zurück nach Berlin, zurück in die deutsche Heimat. |
+ | |
+ | |
+ | Die neuen Weiber von Weinsberg |
+ | |
+ | von Karin Michaelis |
+ | |
+ | Aus inniger Liebe zu unserem Volke ist dieses Werk der |
+ | Dänin Karin Michaelis geboren. Deutschlands und |
+ | Österreichs Antlitz im Frieden läßt es uns schauen, in |
+ | den Jahren des Glückes, und zeigt es uns verwandelt in |
+ | schwerer Kriegszeit. Mit einem Wahrheitsmut, der ihr |
+ | tiefe Dankbarkeit sichert, stellt Karin Michaelis |
+ | unsere und unserer Bundesgenossen Leistung dar. Mit |
+ | schwesterlichem Gefühl, jubelnd und klagend, |
+ | verherrlicht sie die Willensmacht, die duldende und |
+ | hoffende Größe der deutschen Frauen. Voll zarter und |
+ | gewaltiger Stimmungen ist dieser Roman, der als ein |
+ | dichterisches Zeugnis für die Reinheit des deutschen |
+ | Wesens über unsere Tage hinaus dauern wird. |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Jeder Band 3 Mark_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+
+ * * * * *
+
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Romane aus dem Verlag Ullstein & Co |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Auf eigener Erde von _Max Dreyer_ |
+ | * |
+ | Die Spur des Ersten von _Fedor von Zobeltitz_ |
+ | * |
+ | Fasching von _Paul Oskar Höcker_ |
+ | * |
+ | Der Eid des Stephan Huller von _Felix Hollaender_ |
+ | * |
+ | Ein Augenblick im Paradies von _Ida Boy-Ed_ |
+ | * |
+ | Die Streiche der schlimmen Paulette |
+ | von _Karl Hans Strobl_ |
+ | * |
+ | Pantherkätzchen von _Marie Madeleine_ |
+ | * |
+ | Das Bataillon Sporck von _Richard Skowronnek_ |
+ | * |
+ | Kleine Mama von _Paul Oskar Höcker_ |
+ | * |
+ | Zu Befehl! von _Heinz Tovote_ |
+ | * |
+ | Eine Frau wie du! von _Ida Boy-Ed_ |
+ | * |
+ | Peter Voß, der Millionendieb |
+ | von _Ewald Gerhard Seeliger_ |
+ | * |
+ | Der Katzentisch von _Viktor von Kohlenegg_ |
+ | * |
+ | Die Glücksfalle von _Fedor von Zobeltitz_ |
+ | * |
+ | Die Meisterin von Europa von _Paul Oskar Höcker_ |
+ | * |
+ | Die Belowsche Ecke von _Georg Hirschfeld_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Jeder Band 3 Mark_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+
+ * * * * *
+
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Romane aus dem Verlag Ullstein & Co |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | Tschun von _Elisabeth von Heyking_ |
+ | * |
+ | Das Geschlecht der Schelme von _Fedor von Zobeltitz_ |
+ | * |
+ | Die Sieger von _Felix Philippi_ |
+ | * |
+ | Moj von Hans von _Hoffensthal_ |
+ | * |
+ | Der Rächer von _Stefan Zeromski_ |
+ | * |
+ | Vor der Ehe von _Ida Boy-Ed_ |
+ | * |
+ | Der heilige Haß von _Richard Voß_ |
+ | * |
+ | Die klingende Schelle von _Felix Salten_ |
+ | * |
+ | Die junge Exzellenz von _Paul Oskar Höcker_ |
+ | * |
+ | Die Treppe von _Viktor von Kohlenegg_ |
+ | * |
+ | Blockade von _Meta Schoepp_ |
+ | * |
+ | Der gewürzige Hund von _Helene Böhlau_ |
+ | * |
+ | Ein Kriegsurlaub |
+ | von _Friedrich Werner van Destéren_ |
+ | * |
+ | Das Buch der Liebe von _Marie Eugenie delle Grazie_ |
+ | * |
+ | Das Tor der Wünsche von _Friedel Merzenich_ |
+ | * |
+ | Frauenschneider Gutschmidt von _Otto von Gottberg_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+ | _Jeder Band 3 Mark_ |
+ +----------------------------------------------------------+
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+ANMERKUNGEN ZUR TRANSKRIPTION:
+
+Stellen im Text, die nicht in Fraktur, sonder in Antigua gedruckt sind,
+sind mit = (=Antigua=) gekennzeichnet.
+
+[ANMERKUNG TN1: Korrektur des Originals, im Original ist hier
+abwendetete zu finden]
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA ***
+
+***** This file should be named 17169-8.txt or 17169-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/7/1/6/17169/
+
+Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online
+Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
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+will be renamed.
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+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
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+
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
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+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
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+1.E.9.
+
+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
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+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
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+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
+prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
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+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
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+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
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+The Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
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+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+Title: Der Fall Deruga
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+Author: Ricarda Huch
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+Release Date: November 27, 2005 [EBook #17169]
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA ***
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+<p><span class='pagenum'><a name="Page_1" id="Page_1">[1]</a></span></p>
+<h1><a name="Der_Fall_Deruga" id="Der_Fall_Deruga"></a>Der Fall Deruga</h1>
+<hr style="width: 65%;" />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_2" id="Page_2">[2]</a></span>
+<br />
+<br />
+<br />
+<br /></p>
+<h1>Der Fall Deruga</h1><p><br /><span class='pagenum'><a name="Page_3" id="Page_3">[3]</a></span></p>
+<p><br /></p>
+<h4>Roman</h4>
+<p class="center">von</p>
+<h3>Ricarda Huch</h3>
+<p><br />
+<br />
+<br />
+<br /></p>
+<p class="center">1917<br />
+<br /></p>
+<h3>Verlag Ullstein &amp; Co, Berlin/Wien</h3>
+<p><br /></p>
+<hr style='width: 45%;' />
+<p><br /><br />
+Alle Rechte, insbesondere das der &Uuml;bersetzung, vorbehalten.<br /><span class='pagenum'><a name="Page_4" id="Page_4">[4]</a></span>
+Amerikanisches Copyright 1917 by Ullstein &amp; Co, Berlin.<br />
+</p>
+
+<hr style="width: 65%;" />
+
+<h2>Inhalt</h2>
+
+<div style="margin-left: 20%;">
+<a href="#I"><b>Kapitel I.</b></a><br />
+<a href="#II"><b>Kapitel II.</b></a><br />
+<a href="#III"><b>Kapitel III.</b></a><br />
+<a href="#IV"><b>Kapitel IV.</b></a><br />
+<a href="#V"><b>Kapitel V.</b></a><br />
+<a href="#VI"><b>Kapitel VI.</b></a><br />
+<a href="#VII"><b>Kapitel VII.</b></a><br />
+<a href="#VIII"><b>Kapitel VIII.</b></a><br />
+<a href="#IX"><b>Kapitel IX.</b></a><br />
+<a href="#X"><b>Kapitel X.</b></a><br />
+<a href="#XI"><b>Kapitel XI.</b></a><br />
+<a href="#XII"><b>Kapitel XII.</b></a><br />
+<a href="#XIII"><b>Kapitel XIII.</b></a><br />
+<a href="#XIV"><b>Kapitel XIV.</b></a><br />
+<a href="#XV"><b>Kapitel XV.</b></a><br />
+<a href="#XVI"><b>Kapitel XVI.</b></a><br />
+<a href="#XVII"><b>Kapitel XVII.</b></a><br />
+<a href="#XVIII"><b>Kapitel XVIII.</b></a><br />
+<a href="#XIX"><b>Kapitel XIX.</b></a><br />
+<a href="#XX"><b>Kapitel XX.</b></a><br />
+</div>
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_5" id="Page_5">[5]</a></span></p>
+<h2><a name="I" id="I"></a><tt>I.</tt></h2>
+
+
+<p>&raquo;Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?&laquo; fragte
+eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, &raquo;und warum hat der Angeklagte
+zwei Anw&auml;lte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaust&uuml;ck.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn der Betreffende ein Anwalt w&auml;re, liebes Kind, w&uuml;rde er einen Talar
+tragen,&laquo; antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. &raquo;Aber wer es ist, kann
+ich dir auch nicht sagen.&laquo; Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte
+sich um und erkl&auml;rte, der fragliche Herr sei der Angeklagte <tt>Dr.</tt>
+Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Ist das m&ouml;glich?&laquo; rief die Dame lebhaft, &raquo;wissen Sie das bestimmt?&laquo;</p>
+
+<p>Der alte Herr lachte vergn&uuml;gt. &raquo;So bestimmt wie ich wei&szlig;, da&szlig; ich der
+Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor
+wohnt n&auml;mlich bei mir.&laquo;</p>
+
+<p>Die Dame machte gro&szlig;e Augen. &raquo;L&auml;&szlig;t man denn einen M&ouml;rder frei<span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6">[6]</a></span>
+herumlaufen?&laquo; fragte sie. &raquo;Ich dachte, er w&auml;re im Gef&auml;ngnis. Ist es
+Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu
+haben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, sehen Sie, gn&auml;dige Frau,&laquo; sagte der alte Mann, &raquo;der Herr Justizrat
+Fein hat ihn bei mir eingef&uuml;hrt, weil er mich schon lange kennt und
+seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat
+so viel Vertrauen in mich setzt, da&szlig; er seine Geigen und Fl&ouml;ten von mir
+reparieren und sein T&ouml;chterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir
+nehmen l&auml;&szlig;t, so schickt es sich, da&szlig; ich auch wieder Vertrauen zu ihm
+habe. Und er hat mir seinen Klienten w&auml;rmstens empfohlen, der sich bis
+jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas
+wunderlich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du darfst nicht vergessen, liebes Kind,&laquo; sagte der Ehemann, &raquo;da&szlig; ein
+Angeklagter noch kein Verurteilter ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr richtig, sehr richtig,&laquo; sagte der Musikinstrumentenmacher und
+wollte eben allerlei merkw&uuml;rdige F&auml;lle von Justizirrt&uuml;mern erz&auml;hlen,<span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[7]</a></span>
+als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte.</p>
+
+<p>Sie finde es doch ungeh&ouml;rig, fl&uuml;sterte die junge Dame ihrem Manne zu,
+da&szlig; ein des Mordes Verd&auml;chtiger sich so frei bewegen d&uuml;rfe, noch dazu
+einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen f&auml;hig w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Man soll sich h&uuml;ten, nach dem &Auml;u&szlig;eren zu urteilen, liebes Kind,&laquo; sagte
+der Ehemann. &raquo;Aber abgesehen davon w&uuml;rde ich auch diesem Menschen nicht
+&uuml;ber den Weg trauen. Es ist merkw&uuml;rdig, wie leichtgl&auml;ubig und wie
+ungeschickt im Auslegen von Physiognomien das Volk ist.&laquo;</p>
+
+<p>Die meisten Zuschauer hatten denselben ung&uuml;nstigen Eindruck von
+<tt>Dr.</tt> Deruga empfangen, der durch Nachl&auml;ssigkeit in Kleidung und
+Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal
+durchwanderten, der Majest&auml;t und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten
+schien.</p>
+
+<p>&raquo;Ich dachte, er h&auml;tte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen,&laquo; bemerkte
+die junge Frau tadelnd gegen ihren Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Aber, Kindchen,&laquo; entgegnete dieser, &raquo;wir haben doch auch nicht alle<span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[8]</a></span>
+blaue Augen und blondes Haar.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er stammt aus Oberitalien,&laquo; mischte sich ein Herr ein, &raquo;wo der
+germanische Einschlag sich bemerkbar macht.&laquo;</p>
+
+<p>Ein anderer f&uuml;gte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen
+Typus, n&auml;mlich den der verschlagenen, heimt&uuml;ckischen, rachs&uuml;chtigen
+Welschen, wie er seit dem fr&uuml;hen Mittelalter in der Vorstellung der
+Deutschen gelebt habe.</p>
+
+<p>Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und
+hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er
+folgsam tat, um sein Gespr&auml;ch mit dem Justizrat Fein von dort aus
+fortzusetzen.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, da kommt der J&auml;ger vor dem Herrn, <tt>Dr.</tt> Bernburger,&laquo;
+sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den
+Zuschauerraum betrat. &raquo;Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren
+geheftet, und eine gute Sp&uuml;rnase hat er, wie Sie sehen. Er <span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[9]</a></span>ist Ihr
+gef&auml;hrlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga betrachtete <tt>Dr.</tt> Bernburger, der angelegentlichst in seine
+Papiere vertieft schien.</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gef&auml;hrlich wie mir,&laquo; sagte er dann mit
+freundlichem Spott, die gro&szlig;e, bequeme Gestalt des Justizrats
+betrachtend. &raquo;Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er
+nicht ein so gemeiner Charakter w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Gel&auml;nder
+st&uuml;tzend, das die Anklagebank abschlo&szlig;: &raquo;Bringen Sie mich jetzt nicht
+zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein
+Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel,&laquo; sagte Deruga, &raquo;ein feiner
+Kopf, so m&ouml;chte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht &auml;hnlich?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Benehmen Sie sich &auml;hnlich,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;und halten Sie Ihre
+Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie
+glauben. Der Bernburger hat zweifellos <span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[10]</a></span>Material im Hinterhalt, mit dem
+er uns &uuml;berrumpeln will; also passen Sie auf!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber ja,&laquo; sagte Deruga ein wenig ungeduldig. &raquo;Ihren Kopf behalten Sie
+auf alle F&auml;lle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als
+mir.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt flogen die T&uuml;ren im Hintergrunde des Saales auf, und der
+Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat <tt>Dr.</tt> Zeunemann,
+trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der
+Luftzug hob den Talar des rasch Vorw&auml;rtsschreitenden, so da&szlig; seine
+stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er gr&uuml;&szlig;te mit einer
+Geb&auml;rde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine
+angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einfl&ouml;&szlig;te. Seine
+Pers&ouml;nlichkeit erf&uuml;llte den b&auml;nglich feierlichen Raum mit einer gewissen
+Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts
+ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung w&auml;re. Er rieb, nachdem er
+sich gesetzt hatte, seine sch&ouml;nen, breiten, wei&szlig;en H&auml;nde leicht
+aneinander und ging dann an das Gesch&auml;ft, indem <span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[11]</a></span>er die Auswahl der
+Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder f&uuml;hlte sich
+von einer wohlt&auml;tigen Macht an seinen Platz geschoben.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Herren Geschworenen,&laquo; begann er, &raquo;es handelt sich heute um einen
+etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz
+zusammenfassend vorf&uuml;hren will.</p>
+
+<p>Am 2. Oktober starb hier in M&uuml;nchen, infolge eines Krebsleidens, wie man
+annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach
+ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren
+M&auml;dchennamen wiederangenommen. In ihrem Testament, das Anfang November
+er&ouml;ffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, <tt>Dr.</tt> Deruga,
+zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich
+belaufenden Verm&ouml;gens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von
+denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Kusine, die
+n&auml;chste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse
+zureichende Verdachtsgr&uuml;nde hin, die <span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[12]</a></span>Ihnen bekannt sind, veranla&szlig;te das
+Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, da&szlig; die
+verstorbene Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines
+furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war.</p>
+
+<p>Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ans&auml;ssigen <tt>Dr.</tt> Deruga das
+Ger&uuml;cht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren
+kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie
+nannte, w&auml;ren, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, da&szlig; das
+Gericht bereits den Beschlu&szlig; gefa&szlig;t habe, die Anklage auf Mord gegen ihn
+zu erheben, und da&szlig; er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses
+verschieben m&uuml;sse. Unter diesen besonderen Umst&auml;nden, da der Angeklagte
+sich gewisserma&szlig;en selbst gestellt hatte, wurde angenommen, da&szlig;
+Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen
+abgesehen. Verd&auml;chtig machte den Angeklagten von vornherein, da&szlig; er sich
+in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn
+die Tatsache, da&szlig; er am Abend des 1. Oktober <span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[13]</a></span>vergangenen Jahres eine
+Fahrkarte nach M&uuml;nchen l&ouml;ste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach
+Prag in seine Wohnung zur&uuml;ckkehrte. Einen gen&uuml;genden Alibibeweis
+vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen.</p>
+
+<p>Dies sind also die Hauptgr&uuml;nde, die das Gericht bewogen haben, die
+Anklage auf Totschlag zu erheben. Es wird angenommen, da&szlig; Deruga seine
+geschiedene Frau aufsuchte, um Geld von ihr zu erbitten, beziehungsweise
+zu erpressen, und da&szlig; er sie bei dieser Gelegenheit, irgendwie gereizt,
+vielleicht durch eine Weigerung, t&ouml;tete. Allerdings scheint der Umstand,
+da&szlig; Deruga Gift bei sich gehabt haben mu&szlig;, f&uuml;r einen &uuml;berlegten Plan zu
+sprechen. Allein das Gericht hat der M&ouml;glichkeit Raum gegeben, der
+verzweifelte Spieler habe damit sich selbst vernichten wollen, wenn sein
+letzter Versuch mi&szlig;l&auml;nge, und nur in einem unvorgesehenen Augenblick der
+Erregung davon Gebrauch gemacht.&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend des letzten Satzes hatte der Staatsanwalt vergebens versucht,
+durch Verdrehungen seines hageren K&ouml;rpers und Deutungen seines <span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[14]</a></span>knotigen
+Zeigefingers die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich zu lenken.
+&raquo;Verzeihung,&laquo; sagte er, indem er seinem langen, wei&szlig;en Gesicht einen
+s&uuml;&szlig;lichen Ausdruck zu geben suchte, &raquo;ich m&ouml;chte gleich an dieser Stelle
+betonen, da&szlig; ich pers&ouml;nlich dieser M&ouml;glichkeit nicht Raum gebe. Warum
+h&auml;tte der Mann es denn so eilig mit dem Selbstmorde gehabt? Er am&uuml;sierte
+sich viel zu gut im Leben, um es so Hals &uuml;ber Kopf wegzuwerfen.</p>
+
+<p>Ferner m&ouml;chte ich darauf hinweisen, da&szlig; der Angeklagte auf das
+erstmalige Befragen des Untersuchungsrichters die abscheuliche Untat
+eingestand, oder, besser gesagt, sich ihrer r&uuml;hmte, um sie mit ebenso
+gro&szlig;er Dreistigkeit hernach zu leugnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jawohl, jawohl, wir kommen darauf zur&uuml;ck,&laquo; sagte der Vorsitzende mit
+einer Handbewegung gegen den Staatsanwalt, wie wenn ein Kapellmeister
+etwa einen vorlauten Bl&auml;ser beschwichtigt. &raquo;Ich will zun&auml;chst den
+Angeklagten vernehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen aufstehen,&laquo; fl&uuml;sterte der Justizrat seinem Klienten zu, der
+mit schl&auml;friger Miene den Saal und das Publikum betrachtete.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[15]</a></span>&raquo;Aufstehen, ich?&laquo; entgegnete dieser erstaunt und beinahe entr&uuml;stet.
+&raquo;Nun also auch das. Stehen wir auf,&laquo; fuhr er fort, erhob sich langsam
+und heftete einen scharf durchdringenden Blick auf den Pr&auml;sidenten; man
+h&auml;tte meinen k&ouml;nnen, er sei ein Examinator und <tt>Dr.</tt> Zeunemann ein
+zu pr&uuml;fender Kandidat.</p>
+
+<p>&raquo;Sie hei&szlig;en Sigismondo Enea Deruga,&laquo; begann der Vorsitzende das Verh&ouml;r,
+die beiden klangvollen Vornamen durch eine ganz geringe Dosis von Pathos
+hervorhebend, die gen&uuml;gte, die Zuh&ouml;rer zum Lachen zu bringen. Deruga
+warf einen stechenden Blick in die Runde. &raquo;Ist es hier etwa ein
+Verbrechen, nicht Johann Schulze oder Karl M&uuml;ller zu hei&szlig;en?&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Beantworten Sie bitte schlechtweg meine Fragen,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann k&uuml;hl. &raquo;Sie hei&szlig;en Sigismondo Enea Deruga, sind in Bologna
+geboren und sechsundvierzig Jahre alt. Stimmt das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jawohl.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben in Bologna, Padua und Wien Medizin studiert und sich erst in
+Linz, dann in <span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[16]</a></span>Wien niedergelassen, nachdem Sie dort das Heimatrecht
+erworben hatten. Stimmt das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es w&auml;re wirklich eine Schande,&laquo; sagte Deruga, &raquo;wenn Sie nach vier
+Monaten nicht einmal das richtig herausgebracht h&auml;tten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich erinnere Sie nochmals, Angeklagter,&laquo; sagte der Vorsitzende, den das
+sich erhebende Gel&auml;chter ein wenig &auml;rgerte, &raquo;da&szlig; Sie sich an die kurze
+und klare Beantwortung der an Sie gerichteten Fragen zu halten haben. Es
+ist Ihre Schuld, da&szlig; sich die Voruntersuchung so lange hingezogen hat.
+Ich ergreife die Gelegenheit, Ihnen einen ernstlichen Vorhalt zu machen.
+Sie befolgen augenscheinlich den Grundsatz, das Gericht durch
+Ungeh&ouml;rigkeiten und Wunderlichkeiten hinzuhalten und irrezuf&uuml;hren. Sie
+verschlimmern dadurch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu erreichen. Die
+Untersuchung nimmt ihren sicheren Gang trotz aller Steine, die Sie auf
+ihren Weg werfen. Sie stehen unter einer schweren Anklage und t&auml;ten
+besser, anstatt die gegen Sie zeugenden Momente durch ungeb&auml;rdiges und
+z&uuml;gelloses Betragen zu verst&auml;rken, <span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[17]</a></span>den Gerichtshof und die Herren
+Geschworenen durch Aufrichtigkeit in ihrer dornigen Arbeit zu
+unterst&uuml;tzen und f&uuml;r sich einzunehmen. Sie befinden sich in einem Lande,
+wo die Justiz ihres verantwortungsvollen Amtes mit unersch&uuml;tterlicher
+Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit waltet. Der H&ouml;chste und der
+Niedrigste findet bei uns nicht mehr und nicht weniger als
+Gerechtigkeit. Wir erwarten dagegen vom H&ouml;chsten wie vom Niedrigsten
+diejenige Ehrfurcht, die einer so heiligen und w&uuml;rdigen Institution
+zukommt. Der Gebildete sollte sie uns freiwillig darbringen; aber im
+Notfall wissen wir sie zu erzwingen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja,&laquo; sagte Deruga gutm&uuml;tig, &raquo;nur zu, ich werde schon antworten.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hielt es f&uuml;r besser, es dabei bewenden zu lassen,
+und fuhr fort: &raquo;Sie verheirateten sich im Jahre 18.. mit Mingo Swieter
+aus L&uuml;beck, erzielten aus dieser Ehe ein Kind, eine Tochter, die
+vierj&auml;hrig starb, und kurz darauf, vor jetzt siebzehn Jahren, wurde die
+Ehe geschieden. Als Grund ist b&ouml;swillige Verlassung von seiten der Frau
+angegeben, und zwar hat <span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[18]</a></span>Frau Swieter das Wiener Klima vorgesch&uuml;tzt,
+welches sie nicht vertragen k&ouml;nne. In Wirklichkeit sollen Ihr
+unvertr&auml;glicher Charakter und Ihr unberechenbares Temperament, das zu
+Gewalttaten neigt, Ihre Frau zu diesem Schritt veranla&szlig;t haben.&laquo;</p>
+
+<p>Da <tt>Dr.</tt> Zeunemann bei diesen Worten fragend zu <tt>Dr.</tt> Deruga
+hin&uuml;bersah, sagte dieser: &raquo;Es wird das beste sein, wenn Sie sich
+schlechtweg an die in den Akten befindlichen Angaben halten.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende unterdr&uuml;ckte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen
+fort: &raquo;Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und
+&uuml;bten dort Ihre Praxis aus, w&auml;hrend Frau Swieter sich in M&uuml;nchen
+niederlie&szlig;, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf
+weitere Daten werden wir gelegentlich zur&uuml;ckkommen. Erz&auml;hlen Sie uns
+jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da ich kein Tagebuch f&uuml;hre,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Deruga laut, &raquo;noch meine
+t&auml;glichen Verrichtungen durch einen Kinematographen oder ein Grammophon
+<span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[19]</a></span>aufnehmen lasse, ist es mir leider unm&ouml;glich, Ihnen den Verlauf des
+Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben
+gefr&uuml;hst&uuml;ckt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach
+eine Stunde im Caf&eacute; gesessen haben. Dann werde ich in der Sprechstunde
+mehrere Exemplare der mir sehr unsympathischen Gattung Mensch untersucht
+haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanst&auml;ndige
+Dame zu besuchen. In der N&auml;he des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen,
+der mich fragte, ob ich auch in den &auml;rztlichen Verein ginge. Ich sagte,
+ich k&ouml;nne leider nicht, da ich verreisen m&uuml;sse. Worauf er mich bis zum
+Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach M&uuml;nchen,
+weil ich ja sonst meine L&uuml;ge h&auml;tte zugestehen m&uuml;ssen, und auch weil mir
+eingefallen war, da&szlig; auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher
+w&auml;re, nicht kompromittiert zu werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weigern Sie sich nach wie vor,&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;den Namen
+dieser hochanst&auml;ndigen Dame zu nennen?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[20]</a></span>&raquo;Ich habe ja schon gesagt, da&szlig; mir daran liegt, sie nicht zu
+kompromittieren,&laquo; antwortete Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann
+warnend, &raquo;da&szlig; Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen F&uuml;&szlig;en steht.
+Sollte eine Dame zulassen, da&szlig; sich ein Freund um ihretwillen in solche
+Gefahr begibt? Da m&ouml;chte man schon lieber annehmen, da&szlig; diese Dame gar
+nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der
+Wahrscheinlichkeit. Da&szlig; Sie eine Dame besuchten und Tage und N&auml;chte bei
+ihr zubrachten, w&auml;re an sich bei Ihrer Lebensf&uuml;hrung nicht unglaublich.
+Auch das mag hingehen, da&szlig; Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu
+kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gew&auml;hlt haben
+wollen, kann man nur als ungeeignet und l&auml;cherlich bezeichnen. Jemand,
+der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht
+zweiunddrei&szlig;ig Mark f&uuml;r eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Einunddrei&szlig;ig Mark f&uuml;nfundsiebzig Pfennig,&laquo; verbesserte Deruga.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[21]</a></span>&raquo;Die Karte von Prag nach M&uuml;nchen kostet zweiunddrei&szlig;ig Mark,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann scharf.</p>
+
+<p>&raquo;Der umgekehrte Weg ist f&uuml;nfundzwanzig Pfennige billiger,&laquo; beharrte
+Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Lassen wir den Wortstreit,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Man wirft auch
+einunddrei&szlig;ig Mark und f&uuml;nfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in
+Geldverlegenheiten ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein verst&auml;ndiger Deutscher wohl nicht,&laquo; entgegnete Deruga, &raquo;aber ich
+habe gr&ouml;&szlig;ere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. &Uuml;brigens war
+ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt rang die H&auml;nde und wendete die Blicke nach oben, wie
+wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte.
+Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, da&szlig; der Angeklagte
+genug Geld f&uuml;r eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt h&auml;tte.</p>
+
+<p>Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll
+Geld hervor <span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[22]</a></span>und z&auml;hlte: &raquo;Sechzig, dreiundsechzig, siebzig,
+vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich k&ouml;nnte auf der Stelle nach Prag
+reisen, wenn ich es nicht vorz&ouml;ge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu
+bleiben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?&laquo; rief
+der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen
+kreischenden Ton annahm.</p>
+
+<p>&raquo;O, dazu reichte es bei weitem nicht,&laquo; lachte Deruga. &raquo;Ich hatte nur so
+viel, um meine t&auml;glichen Bed&uuml;rfnisse zu befriedigen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende erkl&auml;rte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung
+f&uuml;r beendet. &raquo;Sie bleiben also dabei, Angeklagter,&laquo; fragte er, &raquo;da&szlig; Sie
+zum Schein eine Fahrkarte nach M&uuml;nchen l&ouml;sten. Was brachte Sie gerade
+auf M&uuml;nchen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist eine schwierige Frage,&laquo; sagte Deruga. &raquo;H&auml;tte ich eine Karte
+nach Frankfurt oder Wien genommen, k&ouml;nnten Sie sie ebensogut stellen.
+Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und k&ouml;nnte uns interessante
+Aufschl&uuml;sse &uuml;ber die Gedankenassoziation geben, und ob sie
+gef&uuml;hls<span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[23]</a></span>betont war oder nicht. Meine Spezialit&auml;t sind Nasen-, Hals- und
+Rachenkrankheiten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gel&ouml;st hatten?&laquo; fragte der
+Vorsitzende weiter.</p>
+
+<p>&raquo;Ich stellte mich an die Barriere,&laquo; erz&auml;hlte Deruga, &raquo;ging, als sie
+ge&ouml;ffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels
+einer vorher gel&ouml;sten Perronkarte zur&uuml;ck. Dann suchte ich die schon
+&ouml;fters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober
+blieb.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Unwahrscheinlichkeiten h&auml;ufen sich,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.
+&raquo;Welcher Arzt wird ohne zwingende Gr&uuml;nde anderthalb Tage von seiner
+Praxis wegbleiben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin der Ansicht,&laquo; sagte Deruga, &raquo;da&szlig; nicht ich f&uuml;r die Praxis da
+bin, sondern da&szlig; die Praxis f&uuml;r mich da ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein bedenklicher Grundsatz f&uuml;r einen Arzt,&laquo; meinte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Warum?&laquo; antwortete Deruga leichthin. &raquo;Die meisten Patienten k&ouml;nnen sehr
+gut ein paar Tage warten, die &uuml;brigen brauchten &uuml;berhaupt <span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[24]</a></span>nicht zu
+kommen. Wichtige F&auml;lle hatte ich damals nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Patienten waren allerdings nicht verw&ouml;hnt,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann. &raquo;In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren,
+weil sie nachl&auml;ssig und unaufmerksam in der F&uuml;hrung Ihrer Praxis waren.
+Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, da&szlig; Sie au&szlig;er der Zeit, ohne
+Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen
+Aussage, die von Ihrer Haush&auml;lterin best&auml;tigt wurde, am 3. Oktober kurz
+vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beil&auml;ufig sei bemerkt, da&szlig; der
+von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag
+eintrifft. Ihre Sprechstunde war noch nicht vor&uuml;ber, und es warteten
+zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht
+auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertr&ouml;sten lassen. Sie weigerten sich
+aber, diese gutm&uuml;tigen Herrschaften, die einiger R&uuml;cksicht wohl wert
+gewesen w&auml;ren, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer
+<span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[25]</a></span>Haush&auml;lterin, m&uuml;de w&auml;ren und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt
+bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame mu&szlig; also sehr anstrengend
+gewesen sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich finde Frauen immer anstrengend,&laquo; sagte Deruga, &raquo;besonders wenn sie
+dumm sind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nehmen wir also an,&laquo; sagte der Vorsitzende, w&auml;hrend der Staatsanwalt
+die H&auml;nde rang und seine unter diabolisch geschw&auml;nzten Brauen fast
+verschwindenden Augen zum Himmel richtete, &raquo;da&szlig; die Ihnen befreundete
+Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen
+wichtigen Punkt &uuml;ber! Wollen Sie erz&auml;hlen, wann und wie Sie von dem
+Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die
+verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Verm&ouml;gens einsetzte!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Anfang November,&laquo; sagte Deruga, &raquo;das Datum habe ich mir nicht gemerkt,
+durch die zust&auml;ndige Beh&ouml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sollen&laquo;, sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;Ihr Erstaunen und Ihre Freude
+lebhaft ge&auml;u&szlig;ert haben. Ich bemerke,&laquo; wiederholte er mit Nachdruck
+<span class='pagenum'><a name="Page_26" id="Page_26">[26]</a></span>gegen die Geschworenen, &raquo;da&szlig; andere Personen dies bezeugen: Erstaunen
+und Freude.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O, edler Richter, wack'rer Mann,&laquo; sagte Deruga l&auml;chelnd.</p>
+
+<p>&raquo;Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen,&laquo; sagte der Vorsitzende. &raquo;Es
+ist bereits halb zw&ouml;lf Uhr, und ich m&ouml;chte bis zur Mittagspause mit
+Ihrem Verh&ouml;r zu einem vorl&auml;ufigen Ende kommen. Erz&auml;hlen Sie uns bitte,
+wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu
+Ohren kam!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Durch einen sehr anst&auml;ndigen Menschen,&laquo; begann Deruga, &raquo;sehr anst&auml;ndig
+und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinh&auml;ndler
+ist. Der Mann hei&szlig;t Tommaso Verzielli und kam vor f&uuml;nfzehn Jahren als
+ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine f&uuml;nfj&auml;hrige Gef&auml;ngnisstrafe
+verb&uuml;&szlig;t hatte. Er hatte n&auml;mlich einen Polizisten niedergestochen, der
+eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem B&auml;ckerladen ein
+Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zur&uuml;ck,
+denn unter Deutschen, sagte er, w&uuml;rde er doch nicht <span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[27]</a></span>aus dem Gef&auml;ngnis
+herauskommen, weil er fortw&auml;hrend Dinge mit ansehen m&uuml;&szlig;te, wobei ihm das
+Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das w&uuml;rde in Italien nicht anders sein,
+und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerrei&szlig;en
+lassen, sie w&auml;ren einander wert, und es w&auml;re um keinen schade. Er solle
+heiraten und nur noch f&uuml;r Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und
+au&szlig;erdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und
+anderen Lebensmitteln anzufangen, und scho&szlig; ihm ein kleines Kapital dazu
+vor. Das hat er mir l&auml;ngst zur&uuml;ckgestellt, denn durch Flei&szlig; und
+Intelligenz brachte er sich schnell in die H&ouml;he, aber er widmet mir
+immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm t&auml;glich neu das Leben
+schenkte.</p>
+
+<p>Dieser Verzielli also kam Mitte November am sp&auml;ten Abend in voller
+Aufregung zu mir gelaufen und erz&auml;hlte mir, der italienische Konsul,
+Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei
+bei ihm gewesen &mdash; Verzielli hat n&auml;mlich jetzt ein sehr feines
+Restaurant &mdash; und habe sich unter der Hand <span class='pagenum'><a name="Page_28" id="Page_28">[28]</a></span>nach mir erkundigt und als
+tiefstes Geheimnis verraten, da&szlig; ich als M&ouml;rder meiner geschiedenen Frau
+verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war au&szlig;er sich und bot mir sein
+ganzes Verm&ouml;gen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. 'Deruga und
+fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund,' sagte ich und lief
+sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte
+Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur
+Rede, und da ich von ihm keine gen&uuml;gende Auskunft bekam, reiste ich
+hierher, um den Ursprung des infamen Ger&uuml;chtes kennenzulernen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es mu&szlig;te Ihnen mitgeteilt werden,&laquo; fiel <tt>Dr.</tt> Zeunemann ein, &raquo;da&szlig;
+das Gericht bereits beschlossen h&auml;tte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu
+erheben, und da&szlig; Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung
+des Prozesses zu verschieben h&auml;tten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich
+nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit
+erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem
+Untersuchungsrichter gegen&uuml;ber in <span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[29]</a></span>bedenklicher Weise. So haben Sie
+zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen w&auml;ren, die
+Antwort verweigert. Dann haben Sie erz&auml;hlt, Sie w&auml;ren in der Absicht,
+sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt
+ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in
+eine ganz einsame Gegend gekommen w&auml;ren. An einem Flusse h&auml;tten Sie
+lange gelegen und mit sich gek&auml;mpft, bis Sie dar&uuml;ber eingeschlafen
+w&auml;ren. Nach vielen Stunden festen Schlafes w&auml;ren Sie ern&uuml;chtert
+aufgewacht, h&auml;tten sich noch eine Weile herumgetrieben und w&auml;ren dann
+heimgefahren. Schlie&szlig;lich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen
+Dame auf. Der Born der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nicht so wie Sie meinen,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Ich wollte nur den
+Untersuchungsrichter &auml;rgern und kann wohl sagen, da&szlig; mir das gelungen
+ist. Er hat beinah Nervenkr&auml;mpfe bekommen.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann lie&szlig; eine Pause verstreichen, bis das Gel&auml;chter im
+Publikum verstummt war, und sagte dann: &raquo;Es wundert mich, da&szlig; ein <span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[30]</a></span>Mann
+in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch
+benehmen mag &mdash; oder so t&ouml;richt, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen
+Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen
+und irrezuf&uuml;hren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind Sie schon einmal von einem t&auml;ppischen Untersuchungsrichter
+ausgefragt worden?&laquo; fragte Deruga. &raquo;Nein, wahrscheinlich nicht. Also
+k&ouml;nnen Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen w&uuml;rden.
+Allerdings vermutlich vern&uuml;nftiger als ich. Sie haben eine
+beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie
+der gesunde Mensch sein soll. Alle Ersch&uuml;tterungen durch h&auml;&szlig;liche
+Eindr&uuml;cke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen durch
+eine tadellose Verdauung geregelt, so da&szlig; Sie sich immer im stabilen
+Gleichgewicht befinden; <i>ich</i> dagegen bin unendlich reizbar.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen,
+aber ohne gen&uuml;genden Nachdruck. &raquo;Sie haben wohl auch mehr Ursache
+unruhig zu sein als ich,&laquo; sagte er jetzt mit leichter <span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[31]</a></span>Ironie.
+&raquo;Vielleicht w&uuml;rden Sie sich wohler f&uuml;hlen, wenn Sie es einmal mit
+vollkommener Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre
+Winkelz&uuml;ge zu reizen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie, Herr Pr&auml;sident, will ich nicht &auml;rgern, darauf k&ouml;nnen Sie sich
+verlassen,&laquo; sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden Tone,
+wie man ihn etwa einem Kinde gegen&uuml;ber anschl&auml;gt.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich,&laquo; fl&uuml;sterte Justizrat
+Fein seinem Klienten zu, als gleich darauf die Sitzung aufgehoben wurde.
+Von dort aus gingen sie zusammen durch ein r&uuml;ckw&auml;rtiges Portal in die
+Anlagen, die auf eine stille Stra&szlig;e ohne Gesch&auml;ftsverkehr f&uuml;hrten. Vor
+einem mit Gestr&auml;uch bewachsenen Hange blieb der Justizrat stehen,
+stocherte mit der Spitze seines Regenschirmes in der alten,
+feucht-verklebten Bl&auml;tterdecke und sagte: &raquo;Da mu&szlig; es bald
+Schneegl&ouml;ckchen und Krokus geben; ich will ihnen den Weg ein wenig frei
+machen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kommen Sie, kommen Sie,&laquo; sagte Deruga, den Justizrat am Arm ziehend.
+&raquo;Die finden <span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[32]</a></span>ihren Weg ohne Sie. Sagen Sie, kann ich heute nachmittag
+w&auml;hrend der Sitzung nicht lesen oder noch lieber schlafen? Das Zeug
+langweilt mich unbeschreiblich, Sie k&ouml;nnten mir ja einen Sto&szlig; geben,
+wenn ich mich bet&auml;tigen mu&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Machen Sie keine Dummheiten,&laquo; sagte der Justizrat; &raquo;heute nachmittag
+wird wahrscheinlich der Hofrat von M&auml;ulchen vernommen, der sehr schlecht
+f&uuml;r Sie aussagen wird. Sie m&uuml;ssen also aufpassen, ob Sie ihm nicht
+Ihrerseits etwas am Zeuge flicken k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+
+<p>&raquo;Am Zeuge flicken!&laquo; rief Deruga aus. &raquo;Umbringen m&ouml;chte ich ihn. Ich
+hasse diesen Menschen, vielmehr diesen rosa Wachsgu&szlig; &uuml;ber einer Kloake.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;H&ouml;ren Sie, Deruga,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Ich verstehe Sie &ouml;fters
+nicht, doch das am wenigsten, wie Sie einem Menschen Geld schuldig
+bleiben mochten, den Sie ha&szlig;ten. Sie h&auml;tten doch das Geld auch von
+anderer Seite haben k&ouml;nnen, zum Beispiel von dem guten Verzielli.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wahrscheinlich h&auml;tte es Ihr Ehrgef&uuml;hl verletzt, einem verha&szlig;ten
+Menschen Geld zu schulden,&laquo; <span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[33]</a></span>sagte Deruga. &raquo;Sehen Sie, bei mir ist das
+anders. Mir machte es Vergn&uuml;gen zu sehen, was f&uuml;r Angst er um seine
+Taler hatte, und wie er sich qu&auml;lte, die Angst nicht merken zu lassen,
+sondern den Anschein zu wahren, als w&auml;re es ihm ganz gleichg&uuml;ltig. Denn
+er will erstens f&uuml;r unerme&szlig;lich reich und zweitens f&uuml;r sehr weitherzig
+in Geldsachen gelten. H&auml;tte ich Geld im &Uuml;berflu&szlig; gehabt, w&uuml;rde ich ihn
+wahrscheinlich doch nicht ausbezahlt haben, um ihn zappeln zu sehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube, Sie k&ouml;nnen f&uuml;rchterlich hassen,&laquo; sagte der Justizrat
+nachdenklich, indem er den Doktor nicht ohne Bewunderung von der Seite
+betrachtete.</p>
+
+<p>Dieser lachte herzhaft und ausgiebig wie ein Kind. &raquo;Das kann ich
+allerdings,&laquo; sagte er. &raquo;Ich m&ouml;chte manchmal einem ein Messer im Herzen
+herumdrehen, nur weil mir seine Mundwinkel nicht gefallen. Ich will mich
+aber heute nachmittag Ihnen zuliebe zusammennehmen, so gut ich kann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, darum bitte ich,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;ich f&uuml;hle mich doch etwas
+verantwortlich f&uuml;r Sie.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[34]</a></span>Hofrat von M&auml;ulchen erschien in gew&auml;hlter Kleidung, in einen
+angenehmen, mond&auml;nen Duft getaucht, mit dem leichten und sicheren Gang
+dessen, den allgemeine Beliebtheit tr&auml;gt, im Schwurgerichtssaale. Die
+Eidesformel, die der Pr&auml;sident ihm vorsprach, wiederholte er mit
+liebensw&uuml;rdiger Gef&auml;lligkeit und einem leicht fragenden Ausklang, so,
+als wolle er sich bei jedem Satz vergewissern, ob es dem Vorsitzenden
+und dem lieben Gott so auch recht w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Der Angeklagte,&laquo; begann <tt>Dr.</tt> Zeunemann das Verh&ouml;r, als alle
+F&ouml;rmlichkeiten abgetan waren, &raquo;ist Ihnen seit Mai 19.., also seit f&uuml;nf
+Jahren, sechstausend Mark schuldig. Wollen Sie, bitte, erz&auml;hlen, wie Sie
+den Angeklagten kennenlernten, und wie es kam, da&szlig; er das Geld von Ihnen
+borgte!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Beides ist schnell getan,&laquo; sagte der Hofrat. &raquo;Ich lernte Deruga im
+&auml;rztlichen Verein kennen, au&szlig;erdem hat er mich gelegentlich einer
+kleinen Wucherung in der Nase behandelt. Kollegen empfahlen ihn mir,
+weil er eine besonders leichte Hand habe, was meine eigene Erfahrung
+be<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[35]</a></span>st&auml;tigt hat. Es handelte sich bei mir allerdings um einen sehr
+einfachen Fall, aber auch darin kann man ja seine F&auml;higkeiten beweisen.
+Gewisse kleine Originalit&auml;ten und Wunderlichkeiten hatte er an sich, zum
+Beispiel erinnere ich mich, da&szlig; er mich immer in der Erwartung hielt,
+als k&auml;me etwas au&szlig;erordentlich Schmerzhaftes, was doch gar nicht der
+Fall war. Ich habe sagen h&ouml;ren, da&szlig; er nach Belieben, sagen wir nach
+Laune, die Patienten ganz schmerzlos oder sehr grob behandelte. Aber das
+geh&ouml;rt eigentlich nicht hierher, und so weit meine pers&ouml;nliche Erfahrung
+reicht, kann ich ihn als Arzt nur loben. Als ich nun gelegentlich eine
+Bemerkung &uuml;ber die sch&auml;bige Ausstattung seines Wartezimmers machte,
+sagte er mir, er habe kein Geld, um sich so einzurichten, wie er m&ouml;chte,
+worauf ich ihm, einem augenblicklichen Gef&uuml;hl folgend, so viel anbot,
+wie er brauchte. Ich bin vielleicht kein sehr besonnener Rechner,&laquo;
+schaltete der Hofrat mit einem L&auml;cheln ein, &raquo;aber in diesem Falle, einem
+Kollegen und t&uuml;chtigen Arzt gegen&uuml;ber, glaubte ich gar nichts zu
+riskieren.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[36]</a></span>&raquo;Hat der Angeklagte das Geld f&uuml;r eine neue Einrichtung verwendet?&laquo;
+fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Dar&uuml;ber kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen,&laquo; antwortete der
+Hofrat. &raquo;Es wurde mir sp&auml;ter einmal zugetragen, geschwatzt wird ja viel,
+die Sessel seines Wartezimmers w&uuml;rden immer sch&auml;biger;
+begreiflicherweise habe ich es aber vermieden, ihn aufzusuchen und mich
+dar&uuml;ber zu unterrichten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie sich dazu &auml;u&szlig;ern?&laquo; wendete sich der Vorsitzende gegen
+Deruga. &raquo;Haben Sie sich f&uuml;r das geliehene Geld Ihr Wartezimmer neu
+eingerichtet?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Geh&ouml;rt das hierher?&laquo; fragte Deruga. &raquo;Ich glaubte immer, man k&ouml;nne sein
+Geld verwenden, wie man wolle, einerlei, ob es geliehen oder gestohlen
+ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie verweigern also die Antwort?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Soviel ich mich erinnere,&laquo; sagte Deruga m&uuml;rrisch, &raquo;habe ich
+Instrumente, moderne Apparate, einen Operationsstuhl und dergleichen
+daf&uuml;r gekauft.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben,&laquo; setzte der Pr&auml;sident die Zeugen<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[37]</a></span>vernehmung fort, &raquo;im Laufe
+der n&auml;chsten Jahre den Angeklagten niemals gemahnt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bewahre,&laquo; erwiderte der Hofrat. &raquo;Einen Kollegen! &Uuml;berhaupt w&uuml;rde ich
+das ohne gen&uuml;gende Gr&uuml;nde niemals tun. Ich hatte das Geld eigentlich
+schon verloren gegeben, denn das Gerede ging, als betriebe Deruga seine
+Praxis nur nachl&auml;ssig und f&uuml;hre ein sehr ungeregeltes Leben. Ich habe
+&uuml;brigens, wie ich gleich vorausschicken will, der Wahrheit dieses
+Geredes nicht nachgeforscht und bitte, keine Schl&uuml;sse daraus zu ziehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So gehen wir ohne weiteres zu dem Anla&szlig; &uuml;ber,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann, &raquo;der Sie bewog, das Geld zur&uuml;ckzufordern. Wollen Sie den
+Vorgang im Zusammenhang erz&auml;hlen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Im September vorigen Jahres,&laquo; berichtete der Hofrat, &raquo;traf ich mit
+Deruga in dem schon erw&auml;hnten &auml;rztlichen Verein zusammen, nachdem ich
+ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen und das Geld sozusagen vergessen
+hatte. Er rief mir &uuml;ber den Tisch hin&uuml;ber in ziemlich formloser Weise
+zu, er wolle eine Patientin, von der er <span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[38]</a></span>glaube, da&szlig; sie ein
+Unterleibsleiden habe, zu mir schicken, ich solle sie untersuchen und
+n&ouml;tigenfalls behandeln, aber umsonst, zahlen k&ouml;nne sie nicht. Mehr &uuml;ber
+seine Art und Weise als &uuml;ber die Sache selbst verstimmt, erwiderte ich,
+wie ich gern glauben will, ein wenig k&uuml;hl, ich sei mit Arbeit sehr
+&uuml;berh&auml;uft, die Kranke k&ouml;nne ja zu dem in Betracht kommenden Kassenarzt
+gehen. Darauf wurde Deruga kreidewei&szlig; im Gesicht und &uuml;berh&auml;ufte mich mit
+einem Schwall von Beleidigungen, wie, da&szlig; ich es nur auf Geldmacherei
+abgesehen h&auml;tte, der Arzt f&uuml;r Kommerzienr&auml;tinnen und f&uuml;rstliche Kokotten
+w&auml;re und dergleichen mehr, was ich nicht wiederholen will. Ich m&ouml;chte
+bemerken, da&szlig; ich glaube, wie ungerecht seine Beschuldigungen auch waren
+und wie unpassend auch die Form war, wie er sie erhob, er machte sie
+<tt>bona fide</tt>. Er hatte die Meinung, ich sei gem&uuml;tlos und strebte nur
+nach klingendem Erfolg und &auml;u&szlig;erem Glanz, vielleicht weil ihm infolge
+einer gewissen volkst&uuml;mlichen oder zigeunerhaften Veranlagung der Sinn
+f&uuml;r geregeltes b&uuml;rgerliches Leben mit seinen <span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[39]</a></span>traditionellen Begriffen
+von Anstand und Ehre &uuml;berhaupt abgeht. In jenem Augenblick vermochte ich
+mich zu dieser objektiven Ansicht nicht zu erheben, sondern, ich gestehe
+es, ich f&uuml;hlte mich verletzt und im Innersten emp&ouml;rt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Beinah w&auml;re der rosa Wachsgu&szlig; geschmolzen,&laquo; fl&uuml;sterte Deruga dem
+Justizrat zu.</p>
+
+<p>&raquo;Ohne mein entr&uuml;stetes Gef&uuml;hl zu z&uuml;geln oder es nur zu wollen,
+antwortete ich heftig, er habe am wenigsten Ursache, mir derartige
+Vorw&uuml;rfe zu machen, da ich ihm bereitwillig ausgeholfen und den Verlust
+nicht nachgetragen h&auml;tte. Ich h&auml;tte ihn damals f&uuml;r zahlungsf&auml;hig
+gehalten, sagte er boshaft, sonst w&uuml;rde ich ihm nichts geborgt haben.
+Allerdings, sagte ich, h&auml;tte ich einen Kollegen f&uuml;r so ehrenhaft
+gehalten, da&szlig; er seine Schulden bezahlte, und da er mich nun selbst
+herausfordere, solle er es auch tun. Der Streit wurde dann durch mehrere
+Kollegen, die sich ins Mittel legten, geschlichtet. Bevor wir uns
+trennten, sagte ich zu Deruga, er solle das, was ich vorhin in heftiger
+Aufwallung gesagt h&auml;tte, nicht so auffassen, als wolle ich ihn dr&auml;ngen.
+<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[40]</a></span>Erlauben Sie mir bitte, festzustellen, da&szlig; ich der ganzen Sache aus
+freien St&uuml;cken niemals in der &Ouml;ffentlichkeit Erw&auml;hnung getan haben
+w&uuml;rde!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich bitten,&laquo; sagte Justizrat Fein, sich an den Zeugen wendend,
+&raquo;Sie sind nachher mit keinem Wort und mit keiner Andeutung auf die
+Geldangelegenheit zur&uuml;ckgekommen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, durchaus nicht,&laquo; antwortete der Hofrat. &raquo;Es tat mir im Gegenteil
+leid, da&szlig; ich mir in der Erregung die Mahnung hatte entschl&uuml;pfen
+lassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also&laquo;, sagte der Justizrat, &raquo;war die Lage f&uuml;r <tt>Dr.</tt> Deruga nicht
+im mindesten ver&auml;ndert, und es liegt kein Grund zu der Behauptung vor,
+er habe sich durchaus Geld verschaffen m&uuml;ssen, um die f&auml;llige Schuld zu
+bezahlen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte sehr,&laquo; rief der Staatsanwalt, &raquo;durch den Vorfall im
+&auml;rztlichen Verein war das Schuldverh&auml;ltnis einer ganzen Reihe von
+Kollegen bekannt geworden; das ist denn doch eine erhebliche Ver&auml;nderung
+der Lage. So viel Ehrgef&uuml;hl d&uuml;rfen wir doch bei einem jeden <span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[41]</a></span>gebildeten
+Manne voraussetzen, da&szlig; ihm das nicht gleichg&uuml;ltig war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nehmen wir, bitte, <tt>Dr.</tt> Deruga wie er ist, und nicht, wie er nach
+der Meinung anderer sein sollte. Da es ihm nichts ausmachte, dem Hofrat
+von M&auml;ulchen Geld schuldig zu bleiben, f&uuml;r den er augenscheinlich keine
+besondere Vorliebe hatte, lag ihm wahrscheinlich sehr wenig daran, da&szlig;
+ein paar andere Kollegen, mit denen er, wie es scheint, ganz gut stand,
+davon wu&szlig;ten. Jedenfalls, wenn er fr&uuml;her so dickfellig in diesem Punkt
+war, wird er nicht pl&ouml;tzlich so empfindlich geworden sein, da&szlig; er ein
+Verbrechen beging, um sich aus der Klemme zu ziehen.&laquo;</p>
+
+<p>Die gem&auml;chliche Grandezza, mit der der Justizrat dastand, die Wucht
+seiner massigen Gestalt und seines gro&szlig;geformten, ruhigen Gesichtes
+&uuml;berzeugten noch wirksamer als seine Worte und brachten seinen
+zappeligen Gegner au&szlig;er Fassung.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wenn der Mensch immer so folgerichtig w&auml;re!&laquo; sagte er heftig.
+&raquo;Daf&uuml;r, da&szlig; M&auml;nner lieber Verbrechen begehen, als einen Fleck auf <span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[42]</a></span>ihrer
+sogenannten b&uuml;rgerlichen Ehre dulden, finden sich viele Beispiele.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zun&auml;chst noch gar
+nicht zugemutet,&laquo; sagte er. &raquo;Wenn er seine geschiedene Frau um Geld
+anging, so war das h&ouml;chstens taktlos, und es ist um so weniger
+auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, da&szlig; er diese
+Hilfsquelle &ouml;fters in Betracht zog. Halten Sie,&laquo; wendete er sich an den
+Hofrat, &raquo;die Schuld f&uuml;r ein Motiv, das stark genug gewesen w&auml;re, den
+Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungew&ouml;hnliche oder
+bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld zu
+setzen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; sehr bitten,&laquo; wehrte der Hofrat ab, &raquo;mir die Antwort zu
+erlassen. Ich schrecke um so mehr davor zur&uuml;ck, ein Urteil dar&uuml;ber zu
+&auml;u&szlig;ern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit
+der Psyche Derugas nicht vertraut, k&ouml;nnte mich nur in Phantasien
+ergehen, aber selbstverst&auml;ndlich bin ich eher geneigt, <span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[43]</a></span>Gutes als
+Schlechtes von einem Kollegen zu denken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie waren,&laquo; fuhr der Vorsitzende fort, &raquo;derjenige Kollege, dem der
+Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der N&auml;he des
+Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den &auml;rztlichen Verein
+wolle?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jawohl,&laquo; sagte der Hofrat. &raquo;Ich stellte die Frage, weil ich mich nach
+dem, was k&uuml;rzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte.
+Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir
+ja in der N&auml;he des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe
+fiel mir auf, weil es gr&ouml;&szlig;er war, als Herren unserer Gesellschaftskreise
+solche zu tragen pflegen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein
+Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei.</p>
+
+<p>&raquo;Ich erlaubte mir allerdings,&laquo; sagte Deruga, &raquo;als ein armer Teufel, der
+sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von
+M&auml;ulchen geh&ouml;ren zu wollen, ein Paket zu tragen. <span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[44]</a></span>Darin wird W&auml;sche und
+dergleichen gewesen sein, was man f&uuml;r die Nacht braucht.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, da&szlig; festgestellt
+werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zur&uuml;ckkehrte,
+ein Paket bei sich gehabt habe.</p>
+
+<p>&raquo;Die Haush&auml;lterin wird gleich vernommen werden,&laquo; sagte der Vorsitzende.
+&raquo;Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und
+Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. K&ouml;nnen Sie sonst etwas
+Sachdienliches mitteilen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, durchaus nicht,&laquo; beteuerte der Hofrat. &raquo;Ger&uuml;chte und
+Schw&auml;tzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja
+mehr oder weniger &uuml;ber jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten
+F&auml;llen nicht in Betracht gezogen werden sollte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht k&ouml;nnten Sie doch sagen,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;was f&uuml;r
+einen Ruf <tt>Dr.</tt> Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen geno&szlig;?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube nicht, da&szlig; meine diesbez&uuml;glichen Mitteilungen einen
+namhaften Wert f&uuml;r Sie <span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[45]</a></span>h&auml;tten,&laquo; entschuldigte sich der Hofrat. &raquo;Aus
+dem, was ich erz&auml;hlt habe, l&auml;&szlig;t sich ja schon mancherlei schlie&szlig;en. Den
+sicheren Boden der Tatsachen m&ouml;chte ich nicht verlassen.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Weinh&auml;ndler Verzielli, der n&auml;chste Zeuge, war ein untersetzter,
+dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest auf
+den Pr&auml;sidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit
+lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?&laquo; fragte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Befreundet, sehr befreundet,&laquo; sagte Verzielli eifrig.</p>
+
+<p>&raquo;Aber nicht verwandt?&laquo; wiederholte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Leider nicht,&laquo; sagte Verzielli, &raquo;aber sehr befreundet. Ich liebe und
+bewundere ihn.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie f&uuml;hlten sich ihm zu Dank verpflichtet,&laquo; sagte der Vorsitzende
+freundlich, &raquo;weil er durch einen guten Rat und auch durch eine
+Geldsumme, die er Ihnen vorscho&szlig;, Ihr Gl&uuml;ck begr&uuml;ndet hatte?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[46]</a></span>&raquo;Ach, Rat und Kapital, das ist nicht die Hauptsache,&laquo; rief Verzielli
+aus. &raquo;Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist
+edel und hilfsbereit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie konnten ihm das Geliehene bald zur&uuml;ckgeben,&laquo; fuhr der Vorsitzende
+fort, &raquo;und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld geborgt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist ja gar nicht der Rede wert,&laquo; sagte Verzielli, Kopf und Hand
+sch&uuml;ttelnd, &raquo;wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. &Uuml;brigens hat er
+mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedr&auml;ngt. Er verstand ja
+nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hat er Ihnen jemals Geld zur&uuml;ckgezahlt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O ja,&laquo; rief Verzielli stolz, &raquo;auch in bezug auf das R&uuml;ckst&auml;ndige fragte
+er mich &ouml;fters, ob ich es brauche. Aber wozu h&auml;tte ich es brauchen
+sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm
+immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiederg&auml;be.
+Meine Frau war auch der Meinung, man d&uuml;rfe ihn nicht dr&auml;ngen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[47]</a></span>&raquo;Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige Schenkungen
+oder eine etwaige Erbschaft von seiten seiner geschiedenen Frau
+vertr&ouml;stet?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zu vertr&ouml;sten brauchte er mich nicht,&laquo; sagte Verzielli ein wenig
+gereizt. &raquo;Aber nat&uuml;rlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau
+und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind sehr
+geliebt. Meine Frau und ich haben oft geweint, wenn er davon sprach.&laquo;</p>
+
+<p>Er zog bei diesen Worten ein gro&szlig;es, buntes Taschentuch hervor und fuhr
+sich damit &uuml;ber Stirn und Augen, sei es um sich Tr&auml;nen oder Schwei&szlig;
+damit zu trocknen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte Sie,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann freundlich, &raquo;genau auf meine
+Fragen zu achten und sie kurz und deutlich zu beantworten. Hat der
+Angeklagte Ihnen zuweilen von einer Aussicht gesprochen, Geld von seiner
+geschiedenen Frau zu erhalten, sei es bei ihren Lebzeiten oder nach
+ihrem Tode?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube,&laquo; sagte Verzielli, sein Taschentuch quetschend, &raquo;er sagte
+gelegentlich einmal, seine <span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[48]</a></span>geschiedene Frau sei reich, und er sei
+&uuml;berzeugt, sie w&uuml;rde ihm geben, was er brauchte, wenn er sie darum
+b&auml;te.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Erinnern Sie sich, wann er Ihnen das gesagt hat?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube,&laquo; sagte Verzielli, &raquo;da&szlig; es in der letzten Zeit nicht gewesen
+ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir kommen jetzt,&laquo; sagte der Vorsitzende, nach einem leichten R&auml;uspern
+die Stimme hebend, &raquo;zu einem sehr wichtigen Punkt, und ich fordere Sie
+auf, Herr Verzielli, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Ged&auml;chtnis energisch
+zusammenzufassen. Denken Sie vor allen Dingen nicht daran, welche Folgen
+Ihre Aussagen f&uuml;r den Angeklagten haben k&ouml;nnten, sondern nur daran, da&szlig;
+Sie einen Eid geschworen haben, die Wahrheit zu sagen!&laquo;</p>
+
+<p>Verzielli richtete sich stramm auf, blickte dem Vorsitzenden fest ins
+Auge und umfa&szlig;te krampfhaft sein Taschentuch.</p>
+
+<p>&raquo;Erz&auml;hlen Sie uns genau mit allen Einzelheiten, wie es sich begab, da&szlig;
+Sie von dem Ger&uuml;cht, <tt>Dr.</tt> Deruga habe seine Frau ermordet,
+erfuhren, und da&szlig; Sie ihn davon in Kenntnis setzten!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[49]</a></span>Verzielli schwieg und starrte angelegentlich in einen Winkel,
+augenscheinlich bem&uuml;ht, seine Gedanken zu sammeln.</p>
+
+<p>&raquo;Ich will Ihnen zu Hilfe kommen,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann
+nachsichtig. &raquo;Am Abend des 25. November kam Cavaliere Faramengo, der
+italienische Konsul, in Ihr Restaurant, um ein Glas Wein zu trinken, wie
+er zuweilen tat. Er fragte Sie nach dem Angeklagten aus, und Sie
+erfuhren von ihm, da&szlig; von M&uuml;nchen aus Erkundigungen &uuml;ber ihn eingezogen
+w&auml;ren, und da&szlig; er im Verdacht stehe, seine geschiedene Frau, die Anfang
+Oktober gestorben war und ihn zum Erben ihres Verm&ouml;gens eingesetzt
+hatte, ermordet zu haben. Au&szlig;er sich vor Entr&uuml;stung liefen Sie sofort zu
+dem Angeklagten, erz&auml;hlten ihm alles und sagten, wenn Sie nur w&uuml;&szlig;ten,
+wer der Verleumder w&auml;re, Sie w&uuml;rden ihn t&ouml;ten. Der Angeklagte sagte
+lachend: 'Dummkopf, ich habe es ja getan.' Das ist, was der
+Untersuchungsrichter nicht ohne M&uuml;he aus Ihnen herausgebracht hat.
+Best&auml;tigen Sie es jetzt vor dem versammelten Gericht und vor den
+Geschworenen?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[50]</a></span>&raquo;Es ist wahr, da&szlig; <tt>Dr.</tt> Deruga sagte: 'Dummkopf, ich habe es ja
+getan,' aber er hatte nur insofern recht, als er mich einen Dummkopf
+nannte, denn er meinte ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bleiben Sie bei der Sache!&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Was
+antworteten Sie darauf?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich sagte, das w&auml;re nicht m&ouml;glich, und davon war ich auch &uuml;berzeugt,
+da&szlig; es unm&ouml;glich w&auml;re; aber in dem Zustand von Aufgeregtheit, in dem ich
+mich befand, bat ich ihn, augenblicklich nach Amerika zu fliehen, und
+bot ihm mein ganzes Verm&ouml;gen an, damit er sich dort weiter helfen
+k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Guter Mann,&laquo; sagte pl&ouml;tzlich Deruga laut.</p>
+
+<p>Verzielli, der es bisher vermieden hatte, nach der Anklagebank
+hin&uuml;berzusehen, wandte jetzt den Kopf herum und warf Deruga einen
+verzweifelten Blick zu.</p>
+
+<p>Auch <tt>Dr.</tt> Zeunemann sah ihn an. &raquo;Wie erkl&auml;ren Sie es,&laquo; sagte er,
+&raquo;da&szlig; Sie im ersten Augenblick der &Uuml;berraschung Verzielli gegen&uuml;ber die
+Tat zugaben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wollte sehen, was f&uuml;r ein Gesicht er machte,&laquo; sagte Deruga
+leichthin, &raquo;das ist alles.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[51]</a></span>&raquo;Ja, nat&uuml;rlich,&laquo; fiel Verzielli rasch ein. &raquo;So war er. Das ist ganz er.
+O Gott, er hatte recht, mich einen Dummkopf zu nennen. Ja, ein Esel, ein
+verw&uuml;nschter T&ouml;lpel war ich, es nicht sofort klar zu durchschauen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bei der Sache bleiben,&laquo; unterbrach <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Die Stimmung
+des Angeklagten schlug unvermittelt um, er geriet in Wut und wollte
+sofort zum italienischen Konsul laufen, um zu erfahren, wer ihn
+verleumdet h&auml;tte. 'Sie haben es also nicht getan,' riefen Sie und
+beschworen den Angeklagten, keinen &uuml;bereilten Schritt zu tun und mit dem
+Besuch beim Konsul bis zum folgenden Morgen zu warten. F&uuml;rchteten Sie
+vielleicht, er w&uuml;rde sich in seiner Wut am Konsul vergreifen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gott bewahre!&laquo; rief Verzielli entr&uuml;stet. &raquo;Der Konsul sollte nur nicht
+erfahren, da&szlig; ich Deruga alles ausgeplaudert hatte. Auch f&uuml;rchtete ich,
+da&szlig; <tt>Dr.</tt> Deruga in seinem gerechten Zorne sich allzu heftig &auml;u&szlig;ern
+und dadurch den Konsul gegen sich einnehmen w&uuml;rde. Kurz, ich war ein
+Dummkopf und war ma&szlig;los <span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[52]</a></span>aufgeregt. Ich wu&szlig;te nicht, was ich sagte und
+was ich tat.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt war im Laufe des Verh&ouml;rs aufgestanden und begleitete
+die Antworten des Italieners mit unwillk&uuml;rlichen Geb&auml;rden und hier und
+da mit einem h&ouml;hnischen Lachen oder entr&uuml;steten Ausruf.</p>
+
+<p>&raquo;In Ihrer Aufgeregtheit,&laquo; sagte er jetzt, sich vorbeugend, &raquo;hatten Sie
+jedenfalls den Eindruck, da&szlig; der Angeklagte im Ernst sprach, als er
+sagte: 'Ich habe es ja getan.' Sonst h&auml;tten Sie hernach nicht
+ausgerufen: 'Sie haben es also nicht getan!'&laquo;</p>
+
+<p>Verzielli warf einen zornigen und ver&auml;chtlichen Blick auf den Sprecher
+und sagte entschlossen: &raquo;Was ich auch gesagt und gedacht habe, ich war
+im Unrecht, und der Doktor war im Recht, und wenn er seine Frau get&ouml;tet
+h&auml;tte, was er aber nicht getan hat, so h&auml;tte er auch recht gehabt.&laquo;</p>
+
+<p>Eine Bewegung, mit Gel&auml;chter vermischt, ging durch den Saal.</p>
+
+<p>&raquo;Eigent&uuml;mliche Auffassung,&laquo; sagte der Staatsanwalt, beide Arme in die
+Seite stemmend.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[53]</a></span>&raquo;Ich denke,&laquo; nahm der Vorsitzende das Wort, als es wieder still
+geworden war, &raquo;wir lassen die Auffassungen beiseite und halten uns an
+Tatsachen. W&uuml;nscht einer der Herren Kollegen oder der Herren
+Geschworenen noch eine Frage an den Zeugen zu stellen? Nein? So k&ouml;nnen
+wir zu Fr&auml;ulein Klinkhart, der Haush&auml;lterin oder Empfangsdame des
+Angeklagten, &uuml;bergehen.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ein Fr&auml;ulein von etwa f&uuml;nfunddrei&szlig;ig Jahren trat vor, einfach, aber gut
+gekleidet, schwarzhaarig, mit gerader Nase und ruhigen, braunen Augen.
+Sie kam mit raschen, sicheren Schritten und sah sich um, als suche sie,
+wo es etwas f&uuml;r sie zu tun g&auml;be; als ihr Blick dabei auf Deruga fiel,
+nickte sie ihm freundlich und ermunternd zu. Den Eid leistete sie frisch
+und freudig; sie schien zu denken, nun habe sie den Faden in der Hand
+und werde den Wust schon entwirren.</p>
+
+<p>Das Verh&ouml;r begann folgenderma&szlig;en:</p>
+
+<p>&raquo;Wie lange sind Sie in Stellung bei dem Angeklagten?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[54]</a></span>&raquo;Zehn Jahre.&laquo; Ich kenne ihn also etwas besser als Sie alle, meine
+Herren, lag in diesen Worten.</p>
+
+<p>&raquo;Worin besteht Ihre Besch&auml;ftigung?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;hre das Haus; koche das Essen, mache die Zimmer, empfange die
+Patienten, schreibe die Rechnungen und so weiter.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist sehr viel. Standen oder stehen Sie in freundschaftlichen, ich
+wollte sagen, in mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu dem
+Angeklagten?&laquo; Sie runzelte die Brauen und schien eine rasche Antwort
+geben zu wollen, besann sich aber und sagte kurz: &raquo;Nein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wieviel Lohn erhielten Sie?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Achtzig Kronen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hatten Sie Nebeneink&uuml;nfte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Stelle mu&szlig; offenbar ideelle Annehmlichkeiten haben. Sie waren
+vermutlich sehr selbst&auml;ndig? Der Doktor behandelte Sie gut?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er mich und ich ihn. Wir passen gut zusammen. &Uuml;brigens ist es leicht,
+mit <tt>Dr.</tt> Deruga gut auszukommen, wer es nicht tut, tr&auml;gt selbst
+die Schuld.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[55]</a></span>&raquo;Gut. Erinnern Sie sich an den 1. Oktober des vorigen Jahres? Der
+Angeklagte verlie&szlig; die Wohnung etwa um sechs Uhr. Sagte er Ihnen, wohin
+er ginge, und wann er wiederkomme?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;<tt>Dr.</tt> Deruga sagte, er k&auml;me vielleicht nachts nicht nach Hause und
+wisse auch noch nicht, ob er am folgenden Tage zur Sprechstunde wieder
+da sein w&uuml;rde. Wenn Patienten k&auml;men, sollte ich sie vertr&ouml;sten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Glaubten Sie, da&szlig; er verreise?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaubte gar nichts &mdash; weil es mich nichts anging. Ich pflegte nie zu
+fragen, wohin er ginge, nur neckte ich ihn zuweilen, weil ich wu&szlig;te, da&szlig;
+ihm die Frauenzimmer nachliefen. Vielleicht habe ich das auch an jenem
+Abend getan.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was hatte der Angeklagte bei sich, als er fortging?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Paket.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, was der Inhalt des Paketes war?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie wissen es nicht, aber Sie ahnten es doch vielleicht. Haben Sie ihn
+etwas einwickeln <span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[56]</a></span>sehen? Hat er in Schr&auml;nken oder Kommoden gekramt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ich sah, da&szlig; er etwas suchte, und fragte ihn, was es sei. Da sagte
+er &auml;rgerlich: 'Wo, zum Teufel, haben Sie den alten Faschingstr&ouml;del
+versteckt?' Ich sagte, es sei alles in der Truhe auf dem Vorplatz, was
+&uuml;berhaupt noch vorhanden sei. Er hatte n&auml;mlich verschiedenes verliehen
+oder verschenkt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was verstehen Sie unter altem Faschingstr&ouml;del?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kost&uuml;me, die er fr&uuml;her beim Fasching getragen hatte. In den letzten
+Jahren hatte er nichts mehr mitgemacht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was f&uuml;r Kost&uuml;me waren das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O, das kann ich so genau nicht sagen, was sie bedeuteten. Bauernkleider
+und ein Bajazzo und ein M&ouml;nch, glaub' ich. Ich kenne mich nicht aus
+damit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vermutlich boten Sie ihm Ihre Hilfe an?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, aber er sagte: 'Gehen Sie zum Teufel!' Das war nicht b&ouml;se gemeint,
+es war so eine Redensart von ihm. Mir war es ganz recht, <span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[57]</a></span>denn es war
+nach Tisch und ich hatte in der K&uuml;che zu tun.&laquo;</p>
+
+<p>Inzwischen war der Staatsanwalt aufgestanden, gestikulierte mit seinen
+langen Armen und machte Grimassen. &raquo;Mein liebes Fr&auml;ulein,&laquo; sagte er,
+&raquo;hatte der Angeklagte keine Reisetasche?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wenn er verreiste, nahm er eine Reisetasche,&laquo; sagte Fr&auml;ulein
+Klinkhart.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, mein liebes Fr&auml;ulein,&laquo; fuhr der Staatsanwalt mit s&uuml;&szlig;licher
+Liebensw&uuml;rdigkeit fort, &raquo;sollten Sie als Dame und als Haush&auml;lterin,
+teils aus Neugier und teils aus Ordnungsliebe, nachdem Ihr Brotherr fort
+war, nicht nachgesehen haben, was er mitgenommen hatte? Wenn ich mich in
+Ihre Lage versetze, so scheint mir, Sie mu&szlig;ten sich Gewi&szlig;heit zu
+schaffen versuchen, wie lange Ihr Brotherr fortbleiben w&uuml;rde. Aus dem,
+was er mitgenommen hatte, lie&szlig; sich doch manches schlie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Klinkhart faltete finster die Brauen und warf einen Blick
+unverhohlener Abneigung auf den Staatsanwalt. &raquo;Ich sah,&laquo; antwortete sie,
+&raquo;da&szlig; in der Truhe alles durcheinander<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[58]</a></span>geworfen war, und machte wieder
+Ordnung. Ob etwas fehlte, wei&szlig; ich nicht, ich habe nicht darauf
+geachtet. Ein Nachthemd hatte er, wie mir schien, nicht mitgenommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, sehen Sie,&laquo; rief der Staatsanwalt triumphierend und mit dem
+langen Zeigefinger auf sie deutend, &raquo;dahin wollte ich Sie bringen! Also
+ein Nachthemd hatte er nicht mitgenommen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, und?&laquo; sagte Fr&auml;ulein Klinkhart finster, &raquo;wenn er doch gar nicht
+verreiste!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr wohl, mein liebes Fr&auml;ulein,&laquo; sagte der Staatsanwalt mit entz&uuml;cktem
+L&auml;cheln, &raquo;wenn nun aber kein Nachtkleid in dem Paket war, was war Ihrer
+Meinung nach dann darin?&laquo; Fr&auml;ulein Klinkhart zuckte &auml;rgerlich und
+ungeduldig die Achseln und sagte: &raquo;Wahrscheinlich war irgendein
+Kost&uuml;mst&uuml;ck zum Verkleiden darin, das er jemandem leihen wollte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie uns das R&auml;tsel l&ouml;sen?&laquo; wandte sich der Vorsitzende an
+Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Es war ein Kimono darin,&laquo; sagte Deruga, &raquo;den mir einmal ein Patient aus
+China mit<span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[59]</a></span>gebracht hatte, und den ich der Dame, die ich besuchte, leihen
+wollte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sagten ja vorhin, es w&auml;re W&auml;sche darin gewesen,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann, den Arm auf die Lehne seines Sessels stemmend und sich nach
+dem Angeklagten herumwendend.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, k&ouml;nnen Sie sich nicht denken, da&szlig; ich das Breittreten der albernen
+Kleinigkeiten satt habe?&laquo; erwiderte dieser mit einem so w&uuml;tenden
+Ausdruck, da&szlig; der Fragende unwillk&uuml;rlich zur&uuml;ckfuhr. &raquo;Ich habe gesagt,
+was mir gerade einfiel, und n&auml;chstens werde ich &uuml;berhaupt nichts mehr
+sagen. Es war ein Kimono, ein Nachthemd, eine Zahnb&uuml;rste, ein Revolver
+und eine Flasche Gift darin. Das ganze Paket w&auml;chst mir zum Halse
+heraus.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann wartete eine Weile und sagte dann ruhig: &raquo;Ich frage
+Sie nicht aus, weil es mir Vergn&uuml;gen macht, sondern weil es meine
+Pflicht ist. Ich hoffe, Sie sehen das ein und entscheiden sich, was Sie
+endg&uuml;ltig als den Inhalt des Pakets angeben wollen.&laquo;</p>
+
+<p>Derugas Z&uuml;ge gl&auml;tteten sich. &raquo;Wahrhaftig,&laquo; sagte er mit einem
+liebensw&uuml;rdigen L&auml;cheln, &raquo;ich <span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[60]</a></span>bin ein grober Kerl, entschuldigen Sie
+mich. Es war also ein Kimono in dem verw&uuml;nschten Paket.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Den Sie der bewu&szlig;ten Dame leihen wollten,&laquo; f&uuml;gte <tt>Dr.</tt> Zeunemann
+hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Der Fasching beginnt meines Wissens erst im Januar,&laquo; bemerkte der
+Staatsanwalt.</p>
+
+<p>Deruga lachte. &raquo;Die Dame machte entweder ihre Vorbereitungen sehr fr&uuml;h
+oder sie brauchte ihn f&uuml;r einen anderen Anla&szlig;. Ich werde sie
+gelegentlich fragen und es Ihnen dann mitteilen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt bebte vor &Auml;rger, um so mehr als er auf dem Gesicht des
+Justizrats und auf dem des Vorsitzenden ein belustigtes L&auml;cheln sah, das
+der letztere aber schnell unterdr&uuml;ckte. &raquo;Gehen wir nun,&laquo; sagte er, &raquo;zu
+der R&uuml;ckkehr des Angeklagten am 3. Oktober &uuml;ber. Was ging dabei vor?
+Besinnen Sie sich noch, Fr&auml;ulein Klinkhart, was <tt>Dr.</tt> Deruga
+sagte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O ja,&laquo; antwortete sie. &raquo;Ich sagte: 'Gut, da&szlig; Sie kommen, Doktor. Es
+warten einige Patienten &uuml;ber zwei Stunden auf Sie.' Der Doktor sagte:
+'Desto schlimmer f&uuml;r sie, ich bin <span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[61]</a></span>sehr m&uuml;de und will mich sofort zu
+Bett legen.' Ich fragte, ob er nicht wenigstens einen Augenblick selbst
+mit ihnen sprechen und sie wieder bestellen wollte. Da machte er eine
+abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte: 'Ich kann nicht,' und da
+wu&szlig;te ich, da&szlig; ich nicht weiter in ihn dringen d&uuml;rfte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Fiel Ihnen denn dieses Benehmen nicht auf?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Durchaus nicht,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Klinkhart. &raquo;Er leidet an Migr&auml;ne, und
+wenn ein Anfall kommt, hat er solche Kopfschmerzen, da&szlig; ihm alles
+einerlei ist. Er legt sich dann hin, und ich mu&szlig; ihn in Ruhe lassen.
+Gew&ouml;hnlich ist es am anderen Morgen vorbei. Er sah auch so fahl aus, wie
+er immer tut, wenn er die Migr&auml;ne hat.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er ging also in sein Schlafzimmer, und Sie haben ihn bis zum folgenden
+Morgen nicht gesehen? Hatte er das Paket bei sich, das er mitgenommen
+hatte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darauf habe ich nicht geachtet.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich erinnere Sie, Fr&auml;ulein Klinkhart,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann
+streng, &raquo;da&szlig; Sie unter Eid <span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[62]</a></span>aussagen. Es ist glaublich, da&szlig; Sie im
+ersten Augenblick nicht an das Paket dachten; aber da Sie am anderen
+Tage das Zimmer aufr&auml;umten, wird es Ihnen doch eingefallen sein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das denken Sie, Herr Pr&auml;sident,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Klinkhart mit einem
+lebhafteren Feuer ihrer stillen, braunen Augen, &raquo;weil Sie einen Argwohn
+haben und sich wom&ouml;glich einbilden, es w&auml;re irgendein Mordinstrument in
+dem Paket gewesen. Ich war aber unbefangen, und deshalb fand ich das
+Paket gar nicht wichtig, was es auch gewi&szlig; nicht war. Aber wenn ein
+Kost&uuml;m darin gewesen war, das er jemandem geliehen hatte, so konnte er
+es ja auch gar nicht wieder mitbringen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wenn,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;das stimmt. Besa&szlig; denn der
+Angeklagte einen chinesischen Kimono?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Chinesisches Zeug habe ich einmal gesehen,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Klinkhart.
+&raquo;Nebenbei kenne ich aber nicht alles, was der Doktor besitzt. Ich bin
+kein Spion.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann bl&auml;tterte eine Weile in den Akten und fragte dann:
+&raquo;Hat der Angeklagte <span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[63]</a></span>Ihnen sofort Mitteilung davon gemacht, als er die
+Nachricht von der Erbschaft bekam, die ihm zugefallen war?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, er rief mich herein,&laquo; erz&auml;hlte Fr&auml;ulein Klinkhart, &raquo;denn ich war
+gerade in der K&uuml;che, und er war sehr erregt und machte allerlei
+Zukunftspl&auml;ne und fragte mich, was ich mir w&uuml;nschte, aber etwas Sch&ouml;nes
+und Kostbares sollte es sein. Ich sagte, ich h&auml;tte nur einen einzigen
+Wunsch, n&auml;mlich ein paar Brillantohrringe. Die versprach er mir, aber er
+neckte mich damit, wie es so seine Art war. Wir haben sehr gelacht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er freute sich also sehr?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Klinkhart ruhig, &raquo;er war geradezu toll vor
+Freude. Er litt immer unter der Beschr&auml;nktheit seiner Mittel und liebte
+es, sich auszumalen, da&szlig; er reich w&auml;re. Er war wie ein Kind, wenn er in
+solchen Vorstellungen schwelgte. Aber oft sagte er schon eine Stunde
+nachher, da&szlig; er den ganzen Bettel verachte.&laquo;</p>
+
+<p>Zum Beschlu&szlig; wurden noch ein Schneider und ein Friseur vernommen,
+welchen Deruga gr&ouml;&szlig;ere Betr&auml;ge schuldig war. Die Eleganz des <span class='pagenum'><a name="Page_64" id="Page_64">[64]</a></span>Schneiders
+war nicht einschmeichelnd wie die des Hofrats von M&auml;ulchen, sondern
+vernichtend, und zwar zermalmte sie weniger die ganz armen Teufel, f&uuml;r
+welche sie &uuml;berhaupt nicht in Betracht kam, als diejenigen, die zwar
+Geld hatten, aber nicht genug, oder nicht Geschmack und Erziehung genug,
+um sich ihm oder einem ihm ebenb&uuml;rtigen Kleiderk&uuml;nstler anzuvertrauen.
+Er sagte aus, er habe sehr bald Mi&szlig;trauen gesch&ouml;pft, weil er <tt>Dr.</tt>
+Deruga nicht f&uuml;r einen wahrhaft feinen Gentleman h&auml;tte halten k&ouml;nnen.
+Er, der Schneider, habe nur hochfeine Kundschaft und sei deshalb in
+diesem Punkte nicht leicht zu t&auml;uschen. Deruga sei viel zu kordial im
+Verkehr mit seinen Angestellten gewesen und habe zuweilen mit ihm, dem
+Schneider, Sp&auml;&szlig;e gemacht, die er in Gegenwart seiner Angestellten, des
+Respekts wegen, nicht gerne angeh&ouml;rt h&auml;tte. Seine diesbez&uuml;glichen
+Andeutungen habe Deruga nicht verstanden. Er habe Deruga daher auch
+halbj&auml;hrliche Rechnungen geschickt, w&auml;hrend er den feinen Kunden nur
+j&auml;hrliche schickte. Deruga sei ihm seit zweieinhalb <span class='pagenum'><a name="Page_65" id="Page_65">[65]</a></span>Jahren eintausend
+Mark schuldig, das sei nicht viel, und er w&uuml;rde einem feinen Kunden
+gegen&uuml;ber kein Aufheben davon machen; es k&ouml;nne ihm aber nat&uuml;rlich nicht
+gleichg&uuml;ltig sein, wenn es sich um einen Mann mit zweifelhaftem
+Charakter handle.</p>
+
+<p>Auf die Frage, ob Deruga ihm gegen&uuml;ber von einer zu erwartenden
+Erbschaft oder sonst von Geldquellen gesprochen h&auml;tte, die ihm zur
+Verf&uuml;gung st&auml;nden, sagte der Schneider mit vornehmer Zur&uuml;ckhaltung,
+Deruga habe sehr viel geschwatzt, es k&ouml;nnten auch derartige Worte
+gefallen sein; er befolge aber seit Jahren den Grundsatz, die privaten
+Mitteilungen, die seine Kunden ihm machten, weder zu wiederholen noch zu
+behalten, und sei deshalb gar nicht mehr imstande, sie sich zu merken.
+Vollends w&auml;ren ihm die Redereien Derugas viel zu belanglos vorgekommen,
+als da&szlig; er sein Ged&auml;chtnis damit belastet h&auml;tte.</p>
+
+<p>Der Friseur betonte mit Feuer, da&szlig; Deruga ohne Zweifel die ihm
+ausstehende Schuld bezahlt haben w&uuml;rde, wenn er ihn jemals gemahnt
+h&auml;tte. <span class='pagenum'><a name="Page_66" id="Page_66">[66]</a></span>Deruga sei ihm aber viel zu teuer gewesen, ein Mann nach seinem
+Herzen, genial und edel, den zu bedienen er sich immer zur Ehre
+angerechnet habe. Sein Auge dringe den Menschen bis ins Innerste, er
+lasse sich nie durch Scheingr&ouml;&szlig;en blenden, und das Geringste mi&szlig;achte er
+nicht. &raquo;Und wenn er mir nie einen Pfennig bezahlte, meine Herren,&laquo; rief
+der Friseur mit Schwung aus, &raquo;ich w&uuml;rde ihm stets meine ganze Kraft
+weihen und nie aufh&ouml;ren zu sagen, das ist ein gro&szlig;er Mann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;War Deruga bei Ihnen,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;nachdem er von der
+Erbschaft in Kenntnis gesetzt worden war?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich darf mir schmeicheln, der erste gewesen zu sein,&laquo; sagte der
+Friseur, &raquo;dem der Herr Doktor sein Herz &uuml;ber dieses Ereignis
+aussch&uuml;ttete. 'Nun werde ich dich k&ouml;niglich belohnen,' sagte er zu mir,
+'denn du verdienst es sowohl wegen deiner Kunst wie wegen deiner
+anst&auml;ndigen Gesinnung.' Herr Doktor pflegte mir n&auml;mlich zuweilen, wenn
+er stark in Stimmung war, das trauliche Du zu geben. Ich erwiderte, mit
+der Bezahlung solle <span class='pagenum'><a name="Page_67" id="Page_67">[67]</a></span>er es halten, wie er wolle, nur seine Kundschaft
+solle er mir nicht entziehen. 'Da kennst du Deruga schlecht!' rief er
+aus, 'meinst du, ich untersch&auml;tze dein Kabinett, weil es in einem
+Seiteng&auml;&szlig;chen liegt und keine goldenen Spiegel und von denkenden
+K&uuml;nstlern entworfene St&uuml;hle darin sind? Und wenn ich Kaiser von China
+w&uuml;rde, auf diesem sch&auml;bigen, aber bequemen Sessel, von deiner
+Meisterhand w&uuml;rde ich mich rasieren lassen. Ich hasse und verabscheue
+das Geld, und wenn ich es nicht brauchte, um das Ungeziefer, Menschen
+genannt, mir vom Leibe zu halten, w&uuml;rfe ich die ganze Erbschaft in den
+n&auml;chsten Stra&szlig;engraben.'&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt sch&uuml;ttelte mit verzweifeltem Hohnlachen den Kopf.
+<tt>Quousque tandem?</tt> stand auf seinem Gesicht geschrieben; schreit
+sein L&auml;stern noch nicht genug zum Himmel?</p>
+
+<p>&raquo;Kam der Angeklagte t&auml;glich zu Ihnen?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Ich darf wohl sagen, im allgemeinen t&auml;glich,&laquo; erwiderte der Friseur.
+&raquo;Sowohl ich selbst wie meine Kunden vermi&szlig;ten ihn aufs schmerzlichste,
+wenn er einmal ausblieb.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_68" id="Page_68">[68]</a></span>&raquo;Erinnern Sie sich, ob er am 2. und 3. Oktober des vorigen Jahres
+ausblieb?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich erinnere mich,&laquo; sagte der Friseur, &raquo;da&szlig; ich ihn im Sp&auml;tsommer oder
+Herbst einmal ein paar Tage lang nicht sah. Das Datum habe ich mir aber
+nicht gemerkt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie erinnern sich auch nicht, was er, als er wiederkam, als Grund
+seines Ausbleibens angab? Wie Sie mit ihm standen,&laquo; setzte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann in etwas strengerem Ton hinzu, &raquo;ist anzunehmen, da&szlig; Sie ihn
+danach fragten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich erinnere mich allerdings,&laquo; erwiderte der Gefragte, &raquo;da&szlig; ich es
+unterlie&szlig; ihn zu fragen, weil er schweigsam und in sich gekehrt war. Ich
+bin nach meinem Beruf nur Friseur,&laquo; setzte er mit Hoheit hinzu, &raquo;aber
+mir ist so viel Takt angeboren, da&szlig; das Vertrauen eines edlen Menschen
+mich nicht zudringlich macht, und da&szlig; ich f&uuml;hle, wann Heiterkeit und
+wann Ernst am Platze ist. Gerade den Herrn Doktor habe ich nie
+ausgehorcht und zum Reden anzustacheln versucht, wenn er in sich
+versunken oder umw&ouml;lkten Mutes zu sein schien.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_69" id="Page_69">[69]</a></span>&raquo;Was f&uuml;r Vermutungen,&laquo; fragte der Vorsitzende weiter, &raquo;hatten Sie denn
+bei sich &uuml;ber das Ausbleiben des Angeklagten und &uuml;ber seine ungew&ouml;hnlich
+ernste Stimmung?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gar keine,&laquo; sagte der Friseur, milde Mi&szlig;billigung und Belehrung im Ton,
+&raquo;ich erlaubte mir gar keine.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann gab es auf und wollte den Zeugen eben entlassen,
+als der Staatsanwalt noch eine Frage an ihn richten zu wollen erkl&auml;rte.</p>
+
+<p>&raquo;Hat der Angeklagte im Sp&auml;tsommer des vorigen Jahres oder noch fr&uuml;her
+eine Per&uuml;cke oder einen falschen Bart oder beides bei Ihnen gekauft oder
+geliehen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bedaure,&laquo; sagte der Friseur mit h&ouml;flich schadenfrohem L&auml;cheln,
+&raquo;aber dergleichen Artikel f&uuml;hre ich nicht. In einem kleinen,
+bescheidenen, abgelegenen Gesch&auml;ft, wie das meinige ist, lohnt sich das
+nicht aus.&laquo;</p>
+
+<p>Es war schon eine vorger&uuml;ckte Abendstunde, und der Vorsitzende hob die
+Sitzung auf. Als der Justizrat die Hand auf die Schulter Derugas <span class='pagenum'><a name="Page_70" id="Page_70">[70]</a></span>legte,
+der mit aufgest&uuml;tztem Kopfe dasa&szlig;, fuhr dieser herum und sah den anderen
+mit blinzelnden Augen unsicher an.</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube, wei&szlig; Gott, Sie haben geschlafen?&laquo; fragte der Justizrat
+zwischen Staunen und Entr&uuml;stung. &raquo;Ich glaube auch,&laquo; sagte Deruga; &raquo;das
+letzte, was ich sah, war der Kerl, der Schneider. Der ekelte und
+langweilte mich so, da&szlig; ich die Augen zumachte, und da war ich sofort
+weg. Ich habe mir das in meiner Universit&auml;tszeit angew&ouml;hnt, wo ich oft
+sehr m&uuml;de war. Ich konnte stundenlang w&auml;hrend der Vorlesungen schlafen,
+ohne da&szlig; es jemand merkte, ausgenommen mein Freund Carlo Gabussi, der
+neben mir sa&szlig;. O traurige Jugend und s&uuml;&szlig;e Erinnerung!&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_71" id="Page_71">[71]</a></span></p>
+<h2><a name="II" id="II"></a><tt>II.</tt></h2>
+
+
+<p>Die Sitzung des n&auml;chsten Tages er&ouml;ffnete <tt>Dr.</tt> Zeunemann mit der
+Erkl&auml;rung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten,
+sofort vernommen zu werden, damit sie m&ouml;glichst bald zu ihrer Familie
+zur&uuml;ckreisen k&ouml;nne. Er habe um so weniger Ansto&szlig; genommen, ihrer Bitte
+zu willfahren, als er sie nicht f&uuml;r wichtig halte und sie nur auf
+Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr
+Aufschl&uuml;sse &uuml;ber die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen
+Frau w&auml;hrend der ersten Zeit seiner Ehe erhalten.</p>
+
+<p>Auf seinen Wink trat eine mittelgro&szlig;e Dame ein, die mit einer
+ziegelroten Schabracke beh&auml;ngt war und auf ihrem brandroten, in vielen
+Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen gro&szlig;en, von einem Niagarafall
+wei&szlig;er und blauer Strau&szlig;enfedern &uuml;berst&uuml;rzten Hut trug. Sie trat <span class='pagenum'><a name="Page_72" id="Page_72">[72]</a></span>ein
+paar Schritte vorw&auml;rts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken
+um sich, ein erwartungsvolles L&auml;cheln auf den Lippen. Augenscheinlich
+hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort
+blieb der Blick h&auml;ngen, ohne zun&auml;chst durch das Ergebnis seiner
+Forschung befriedigt zu werden.</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich indessen stie&szlig; sie einen Schrei aus, rief mit kreischender
+Stimme: &raquo;Dodo!&laquo; und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie
+hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie
+hereingef&uuml;hrt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch
+im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten
+hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Entschuldigen Sie,&laquo; sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch
+hervorzog, &raquo;aber das war zu viel f&uuml;r mich. Dies Wiedersehen nach so viel
+Jahren! Die Ver&auml;nderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, n&auml;rrische
+Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit gl&uuml;henden Kohlen herstellen, Herr
+Pr&auml;sident, so schw&ouml;re ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine
+Unschuld zu beweisen!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_73" id="Page_73">[73]</a></span>&raquo;Die Sache ist leider nicht so einfach,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann mit
+wohlwollender &Uuml;berlegenheit. &raquo;Hingegen k&ouml;nnen Sie uns unsere Arbeit sehr
+erleichtern und dem Angeklagten n&uuml;tzen, wenn Sie, was Sie zu sagen
+haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie hei&szlig;en Rosine Schmid
+geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jawohl,&laquo; sagte die Dame, &raquo;ich geh&ouml;re nicht zu denjenigen Frauen, die
+sich ihres Alters sch&auml;men. &Uuml;brigens tun die M&auml;nner auch, was sie k&ouml;nnen,
+um jung zu erscheinen, besonders beim Milit&auml;r, und w&uuml;rden es noch mehr
+tun, wenn so viel f&uuml;r sie davon abhinge wie f&uuml;r uns Frauen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Frau Hauptmann,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;Sie kennen den Angeklagten
+Sigismondo Enea Deruga, sind aber nicht mit ihm verwandt. Wollen Sie so
+gut sein und mit Vermeidung alles &Uuml;berfl&uuml;ssigen erz&auml;hlen, wann und unter
+welchen Umst&auml;nden Sie ihn kennenlernten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit Vergn&uuml;gen will ich das,&laquo; sagte Frau Hauptmann Schmid lebhaft.
+&raquo;Alles will ich sagen, was ich wei&szlig;, denn dazu bin ich ja her<span class='pagenum'><a name="Page_74" id="Page_74">[74]</a></span>gekommen.
+Und wenn ich ans Ende der Welt reisen m&uuml;&szlig;te, sagte ich zu meinem Mann,
+ich t&auml;te es, um dem Dodo aus der Patsche zu helfen. Das hat er um mich
+verdient, so lieb und gut wie er immer war. Und getan hat er es auch
+nicht, denn wenn er auch etwas toll und originell war, der Topf voll
+M&auml;use, gemordet hat er sicherlich keinen Christenmenschen und am
+wenigsten die gute Seele, seine Frau.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie kommt es, da&szlig; Sie den Angeklagten einen Topf voll M&auml;use nennen?&laquo;
+fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;So nennt man doch,&laquo; erkl&auml;rte Frau Schmid, &raquo;die Figur, die bei den
+Feuerwerken gew&ouml;hnlich zuletzt kommt, wo es so kracht und prasselt, da&szlig;
+man glaubt, einen feuerspeienden Berg vor sich zu haben. Es war eine Art
+Kosenamen, den seine Frau ihm gegeben hatte, weil er zuweilen Anf&auml;lle
+von Wut bekam, wo er Rauch und Feuer spuckte, so da&szlig; sie sich vor ihm
+f&uuml;rchtete.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sonderbarer Kosename,&laquo; meinte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Ach, Herr Pr&auml;sident,&laquo; sagte die Frau <span class='pagenum'><a name="Page_75" id="Page_75">[75]</a></span>Hauptmann lachend, &raquo;er meinte es
+ja im Grunde nicht b&ouml;se, so wenig wie ein Topf voll M&auml;use gef&auml;hrlich
+ist. Darum pa&szlig;te der Name gerade so gut, und wir nannten ihn alle so,
+obgleich es sich f&uuml;r mich, so ein junges M&auml;dchen wie ich war, kaum recht
+schickte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte zu beachten,&laquo; sagte der Staatsanwalt, &raquo;da&szlig; nach Aussage der
+Zeugin die damalige Frau Deruga sich vor ihrem Mann f&uuml;rchtete.&laquo;</p>
+
+<p>Frau Hauptmann Schmid drehte sich schnell nach dem Sprecher herum und
+sagte, w&auml;hrend ihr das Blut ins Gesicht stieg: &raquo;Wenn Sie glauben, Sie
+h&auml;tten damit einen Vorteil &uuml;ber den Herrn Doktor gewonnen, da&szlig; ich
+gesagt habe, er sei aufbrausend, so sind Sie gewaltig im Irrtum. Die
+Aufbrausenden sind die Schlimmsten nicht, und das sagt ja auch das
+Sprichwort: Hunde, die bellen, bei&szlig;en nicht. Ich habe oft zu meinem
+Manne gesagt: 'Meinetwegen m&ouml;chtest du schimpfen und fluchen, ja, sogar
+in Gottes Namen zuschlagen, nur das Maulen und Scheelblicken, das
+Brummen und Nachtragen, das ist mir zuwider, <span class='pagenum'><a name="Page_76" id="Page_76">[76]</a></span>und ich glaube, da&szlig; einer,
+dem es nie &uuml;berl&auml;uft, das Herz nicht auf dem rechten Flecke hat.'&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende machte eine abschlie&szlig;ende Handbewegung und sagte: &raquo;Ihre
+Mitteilungen, Frau Hauptmann, sind uns sehr wertvoll. Vielleicht
+erz&auml;hlen Sie uns zun&auml;chst, auf welche Weise Sie die Bekanntschaft des
+Angeklagten machten!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr gern, sehr gern,&laquo; sagte Frau Hauptmann, &raquo;ich habe auf der langen
+Reise immer an jene Zeit gedacht, darum ist mir alles gegenw&auml;rtig,
+obschon es jetzt zweiundzwanzig Jahre her sind. Ja, zweiundzwanzig Jahre
+ist es her, und einundzwanzig Jahre war ich damals alt. Die Gro&szlig;mutter
+hatte gerade viel Geld bei der Lotterie verloren. Denn, obwohl sie sich
+einbildete, ein Muster von Vernunft zu sein, konnte sie doch nicht
+leben, ohne zu spielen. Und wenn sie sich das Geld h&auml;tte zusammenbetteln
+m&uuml;ssen, gespielt mu&szlig;te werden. Weil nun der Gro&szlig;vater &auml;rgerlich war, was
+er zwar nicht aussprach, denn das traute er sich nicht, aber er machte
+ein langes Gesicht und manchmal eine sp&ouml;ttische <span class='pagenum'><a name="Page_77" id="Page_77">[77]</a></span>Bemerkung, wollte die
+Gro&szlig;mutter es wieder einbringen und richtete das alte Lusth&auml;uschen am
+Gartenzaun zum Vermieten ein, und es wurde eine Anzeige f&uuml;r die Zeitung
+gemacht. Ich wei&szlig; noch wie heute, wie wir abends sp&auml;t um den Tisch unter
+der Lampe sa&szlig;en und uns abrackerten, um die Sache in richtiges Deutsch
+zu bringen. Denn der Gro&szlig;mutter war das Schriftliche nicht gel&auml;ufig, und
+der Gro&szlig;vater wollte nichts damit zu tun haben. Erstens, sagte er,
+schicke es sich f&uuml;r den Offiziersstand nicht, Zimmer zu vermieten &mdash; er
+war n&auml;mlich Hauptmann, aber schon lange nicht mehr im Dienst &mdash;, zweitens
+m&ouml;chte er keine Fremden im Hause leiden, und drittens sei es eine
+Schande, arglosen Leuten die alte Baracke als Wohnung aufzuschwatzen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Gro&szlig;mutter war offenbar keine Deutsche,&laquo; schaltete der Vorsitzende
+ein, &raquo;da ihr das Deutsche nicht gel&auml;ufig war?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nat&uuml;rlich nicht,&laquo; antwortete Frau Schmid, &raquo;sie war ja aus
+Bosnien; aber sie war eine sehr sch&ouml;ne Frau und &uuml;brigens auch gebildet,
+nur nicht in den Wissenschaften.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_78" id="Page_78">[78]</a></span>&raquo;Und Ihre Eltern?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, meine Eltern waren auch von dorther,&laquo; sagte die Frau Hauptmann ein
+wenig err&ouml;tend; &raquo;aber sie waren zu fr&uuml;h gestorben, als da&szlig; ich mich
+ihrer h&auml;tte erinnern k&ouml;nnen, und ich sah eigentlich den Gro&szlig;vater und
+die Gro&szlig;mutter als meine Eltern an. Also, um in meiner Erz&auml;hlung
+fortzufahren, als der Gro&szlig;vater das sagte, geriet die Gro&szlig;mutter in eine
+Furie und sagte, das Lusthaus h&auml;tte der Kaiser Joseph oder Ferdinand
+oder Maximilian, das wei&szlig; ich nicht mehr, f&uuml;r seine Geliebte gebaut, da
+in dieser Gegend noch lauter Wald und Heide gewesen w&auml;re, und es w&auml;re
+noch etwas Malerei an der Decke und eine steinerne Vase, wenn auch
+zerbrochen, an der Treppe. Au&szlig;erdem wolle sie es den Leuten gar nicht
+aufschwatzen, nur zeigen; sie k&ouml;nnten ja die Augen auftun und mit Gott
+wieder heimgehen, wenn es ihnen nicht pa&szlig;te. Wenn die Gro&szlig;mutter in der
+Furie war, sah sie sehr majest&auml;tisch aus; sie hatte eine gebogene Nase,
+wie ein Papagei, aber sch&ouml;ner, Augen wie Diamanten und dickes wei&szlig;es
+Haar, das wie <span class='pagenum'><a name="Page_79" id="Page_79">[79]</a></span>ein Schneeberg &uuml;ber ihrem Kopfe stand. Um sie zu
+beg&uuml;tigen, half der Gro&szlig;vater doch mit bei der Anzeige, und sie lautete
+schlie&szlig;lich so: 'Hier ist ein fesches Sommerhaus zu vermieten, auch
+winters brauchbar, wenn es beliebt. Es liegt im Gr&uuml;nen und hat einige
+M&ouml;bel. Besonders geeignet f&uuml;r ein junges Ehepaar.' Die Gro&szlig;mutter wollte
+n&auml;mlich zuerst schreiben: 'f&uuml;r ein Liebespaar.' Da wurde aber der
+Gro&szlig;vater beinahe b&ouml;se und sagte, die Gro&szlig;mutter w&uuml;rde ihn noch um Ehre
+und guten Namen bringen, und sie w&auml;re &auml;rger als eine Zigeunerin. Da gab
+die Gro&szlig;mutter nach, denn sie hatte eine gro&szlig;e Hochachtung f&uuml;r des
+Gro&szlig;vaters Vornehmheit und Weltkenntnis, und es wurde statt dessen das
+'junge Ehepaar' gesetzt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und auf diese Anzeige hin kamen Herr <tt>Dr.</tt> Deruga und seine Frau?&laquo;
+fragte der Vorsitzende. &raquo;Wann war das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vor zweiundzwanzig Jahren, wie ich schon sagte,&laquo; antwortete Frau
+Schmid; &raquo;es mag im Mai gewesen sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Juli war es,&laquo; sagte Deruga, &raquo;denn die Linde, <span class='pagenum'><a name="Page_80" id="Page_80">[80]</a></span>unter der wir abends
+sa&szlig;en, duftete, und der Rosentriumphbogen &uuml;ber der Gartenpforte bl&uuml;hte,
+als wir das erstemal hindurchgingen.&laquo;</p>
+
+<p>Alle blickten erstaunt nach dem Angeklagten, dessen wohllautende Stimme
+und melodischer Tonfall jetzt erst auffielen; was er sagte, hatte fast
+wie ein kleines Lied geklungen.</p>
+
+<p>Die farbenpr&auml;chtige Frau zeigte wieder eine Neigung auf ihn zuzulaufen,
+unterdr&uuml;ckte sie aber und sagte nur: &raquo;Recht haben Sie, es war Juli! Sie
+wissen es am besten und k&ouml;nnten &uuml;berhaupt alles viel besser und sch&ouml;ner
+erz&auml;hlen als ich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schr&auml;g &uuml;ber unserem Pavillon stand das Sternbild des Wagens,&laquo; sagte
+Deruga, &raquo;und wenn wir nachts Hand in Hand nach Hause kamen, Mingo und
+ich, sah ich ihn an und dachte: Wie bald, fliegender Wagen der Zeit,
+wirst du uns von diesen schnellen, t&ouml;richten Augenblicken fortf&uuml;hren in
+das namenlose Dunkel.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, etwas &Auml;hnliches mu&szlig; ich wohl mal von Ihnen geh&ouml;rt haben,&laquo; fiel Frau
+Schmid lebhaft ein; &raquo;denn im folgenden Sommer, wenn der <span class='pagenum'><a name="Page_81" id="Page_81">[81]</a></span>Wagen am Himmel
+stand, sah er mir immer so leer aus, und doch hatte ich sonst auch
+niemand darin sitzen sehen, nat&uuml;rlich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben also noch zuweilen an uns gedacht, Brutta?&laquo; fragte Deruga.</p>
+
+<p>Frau Hauptmann Schmid zog ihr Taschentuch und brach in Tr&auml;nen aus.</p>
+
+<p>&raquo;Ach,&laquo; schluchzte sie, &raquo;das greift mir ans Herz, wenn Sie mich bei dem
+Namen anreden. Es nennt mich ja seit Jahren niemand mehr so, denn der
+Gro&szlig;vater und die Gro&szlig;mutter sind lange tot, und ich m&ouml;chte gar nicht
+wieder hin nach dem alten Hause. Wer wei&szlig;, ob der Wagen noch
+dar&uuml;bersteht!&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende nahm jetzt den Faden des Verh&ouml;rs wieder auf, indem er
+Frau Schmid bat, sich zu beruhigen, und sie fragte, ob die Eheleute
+Deruga den Eindruck eines gl&uuml;cklichen Paares gemacht und ob sie ihren
+Gro&szlig;eltern gefallen h&auml;tten.</p>
+
+<p>&raquo;Und wie!&laquo; sagte Frau Schmid, &raquo;besonders der Doktor. Das hei&szlig;t, dem
+Gro&szlig;vater gefiel die Frau besser, aber er hielt sich zur&uuml;ck. Da<span class='pagenum'><a name="Page_82" id="Page_82">[82]</a></span>gegen,
+wenn die Gro&szlig;mutter einen leiden mochte, dann merkte man's. Und vom
+ersten Augenblick an sagte sie, das w&auml;re ein Mann f&uuml;r mich gewesen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie kam sie darauf?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Erwies er Ihnen
+Aufmerksamkeiten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Keine Spur!&laquo; sagte Frau Schmid. &raquo;Er spa&szlig;te nur mit mir, wie das so
+seine Art war. Zum Beispiel sagte er mir immer, ich w&auml;re so h&auml;&szlig;lich, da&szlig;
+man mich nur mit einem Auge ansehen k&ouml;nnte, sonst hielte man es nicht
+aus; und wenn ich ihm in den Weg kam, kniff er ein Auge zu, bald das
+eine, bald das andere. Um sie zu schonen, wie er sagte. Die Grimassen,
+die er dabei schnitt, waren zu komisch, da&szlig; ich nicht aufh&ouml;ren konnte zu
+lachen, und die Gro&szlig;mutter lachte auch; aber sie &auml;rgerte sich doch ein
+bi&szlig;chen. Das lie&szlig; sie &uuml;brigens nie an ihm aus, sondern an mir, wie ich
+denn &uuml;berhaupt, um die Wahrheit zu sagen, viel von ihr ausgestanden
+habe; denn sie war rasch und zornig, obwohl sonst eine herrliche Frau,
+die ich bis an mein Lebensende lieben und verehren werde.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_83" id="Page_83">[83]</a></span>&raquo;Empfanden Sie das Benehmen des Angeklagten nicht als unzart?&laquo;
+erkundigte sich der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Bewahre!&laquo; sagte Frau Schmid. &raquo;Wenn einem auf solche Weise gesagt wird,
+da&szlig; man h&auml;&szlig;lich ist, glaubt man h&uuml;bsch zu sein. An Heiraten habe ich nie
+gedacht, er hatte ja eine Frau, und noch dazu eine, die ich
+schw&auml;rmerisch verehrte. Die Gro&szlig;mutter gewann sie erst allm&auml;hlich lieb,
+dann aber war sie fast mehr in sie als in den Doktor verliebt. Anfangs
+hatte sie allerlei an ihr auszusetzen: sie w&auml;re zu alt f&uuml;r den
+Doktor &mdash; tats&auml;chlich z&auml;hlte sie ein paar Jahre mehr &mdash;, und namentlich
+w&auml;re sie nicht feurig genug f&uuml;r einen so h&uuml;bschen und reizenden Mann.
+Ihr Gesicht w&auml;re nicht &uuml;bel, wenn man genau zus&auml;he, aber ihre Augen
+w&auml;ren zu sanft und dadurch langweilig. Immer gleiche Freundlichkeit w&auml;re
+wie Milchbrei; m&uuml;&szlig;te man den t&auml;glich essen, w&uuml;rde einem &uuml;bel. Dagegen
+ein gut gepfeffertes und gezwiebeltes Gulasch w&uuml;rde einem nie zuwider.
+Nur eins lie&szlig; meine Gro&szlig;mutter an ihr gelten; das war ihr Nacken. Die
+arme <span class='pagenum'><a name="Page_84" id="Page_84">[84]</a></span>Frau trug n&auml;mlich immer den Hals frei, obschon das damals nicht so
+in der Mode war wie heutzutage, und wenn sie durch den Garten ging,
+leicht, wie wenn sie Fl&uuml;gel an den F&uuml;&szlig;en h&auml;tte, sagte meine Gro&szlig;mutter:
+'&Uuml;brigens gef&auml;llt sie mir nicht, aber ich m&ouml;chte sie einmal auf den
+Nacken k&uuml;ssen.'</p>
+
+<p>Eines Tages, es mu&szlig; im Oktober gewesen sein, weil wir die Trauben
+abgenommen hatten, war die Gro&szlig;mutter besonders schlechter Laune wie
+jedes Jahr bei der Traubenernte. In der Zwischenzeit bildete sie sich
+n&auml;mlich ein, da&szlig; sie s&uuml;&szlig; w&auml;ren, und kam die Zeit heran, waren sie doch
+wieder sauer. Morgens beim Fr&uuml;hst&uuml;ck gab sie mir eine Ohrfeige, weil ich
+die Kaffeetasse umgeworfen hatte. Das hei&szlig;t, sie hatte mir einen Sto&szlig;
+gegeben, aber sie sagte, das w&auml;re keine Entschuldigung, denn ich h&auml;tte
+sie dumm angeglotzt. Bei der Gelegenheit sagte sie mir auch, wenn ich
+wenigstens gescheit w&auml;re, so m&ouml;chte es hingehen, aber h&auml;&szlig;lich und dumm,
+da k&ouml;nne es einen nicht wundern, da&szlig; der Doktor mich nicht genommen
+habe; da&szlig; <span class='pagenum'><a name="Page_85" id="Page_85">[85]</a></span>er mich als unverheirateter Mann gar nicht gekannt hatte und
+mich aus dem Grunde gar nicht h&auml;tte heiraten k&ouml;nnen, leuchtete ihr
+niemals ein. In der K&uuml;che stellte ich mich auch an wie ein T&ouml;lpel, sagte
+sie, und doch hinge vom Kochen das Gl&uuml;ck der Ehe ab, und da&szlig; sie gro&szlig;e
+St&uuml;cke darauf hielt, danke ich ihr noch tagt&auml;glich, wenn mein Mann sagt,
+in den feinsten Hotels von Wien und Prag schmecke es ihm nicht so gut
+wie zu Hause, und doch ist er weit herumgekommen und versteht sich
+darauf.</p>
+
+<p>An dem Tage nun wollte ich einen Risotto machen, und weil ich schon
+einmal einen unter der Aufsicht der Gro&szlig;mutter gemacht hatte, dachte
+ich, dabei w&uuml;rde es mir gewi&szlig; nicht fehlen. Ich schnitt also meine
+Zwiebeln und Leber und alles und richtete das Zeug an, und pl&ouml;tzlich
+fiel mir ein, da&szlig; ich Hunger h&auml;tte, und da&szlig; gewi&szlig; noch eine Traube
+h&auml;ngen geblieben w&auml;re, die ich mir holen k&ouml;nnte, ohne da&szlig; die Gro&szlig;mutter
+es merkte. Ich sch&uuml;ttete noch ein wenig Fleischbr&uuml;he nach und dachte,
+auf die Art k&ouml;nnte ich es ruhig eine Weile gehen lassen. Eigentlich
+<span class='pagenum'><a name="Page_86" id="Page_86">[86]</a></span>n&auml;mlich mu&szlig; der Risotto fortw&auml;hrend ger&uuml;hrt werden, und das wu&szlig;te ich
+gut genug; aber ein bi&szlig;chen keck und leichtsinnig war ich schon. Jetzt
+kann ich das nicht mehr begreifen, aber in der Jugend kommt man
+unversehens von einem aufs andere, wenn man sich die Zukunft ausmalt:
+Verehrer, K&ouml;rbe, Hochzeit und so weiter, und ich verga&szlig; &uuml;ber solchen
+Tr&auml;umereien wahrhaftig das Mittagessen. Auf einmal steht die Gro&szlig;mutter
+vor mir, in der Nachtjacke, das Gesicht rot wie ein gl&uuml;hender Ofen, und
+schreit: 'Da steht sie und maust, die Dirne, die mir den ganzen Risotto
+verbrannt hat!' Wahrhaftig, ich roch es selbst durch das offene
+K&uuml;chenfenster, unter dem wir standen, und unbegreiflich ist es, da&szlig; ich
+es nicht vorher bemerkt hatte. Und dann fiel sie &uuml;ber mich her, griff
+mit der einen Hand in meine Haare und schlug mit der anderen so auf mich
+los, da&szlig; mir zumute war, als h&auml;tte mich ein Wirbelwind gefa&szlig;t, und
+drehte sich mit mir im Kreise herum. Weh tat es mir nicht, dazu war ich
+zu erstaunt. Aber noch viel mehr erstaunte ich, als pl&ouml;tzlich die
+Gro&szlig;mutter ihrer<span class='pagenum'><a name="Page_87" id="Page_87">[87]</a></span>seits von einem Sturmwind erfa&szlig;t und zur&uuml;ckgerissen
+wurde, und Frau <tt>Dr.</tt> Deruga zwischen uns stand, wie der Engel mit
+dem feurigen Schwerte, der Adam und Eva aus dem Paradiese trieb, mit
+Augen, die nicht blau wie sonst, sondern schwarz waren und knisterten,
+so kam es mir n&auml;mlich vor in meiner Erregung.</p>
+
+<p>'Lassen Sie das Kind los, Sie abscheuliche, gottlose Hy&auml;ne!' rief sie so
+laut und hart, wie sie mit ihrer weichen Stimme konnte; und nach einer
+kleinen Pause sagte sie ein wenig weicher und gelinder: 'Meg&auml;re, wollte
+ich sagen.' Wie sie das gesagt hatte, kam es ihr wohl selbst ein wenig
+komisch vor, da&szlig; sie in den Mundwinkeln zu lachen anfing, und dann
+lachte die Gro&szlig;mutter geradeheraus, und wie ich das h&ouml;rte, lachte ich
+derma&szlig;en, da&szlig; ich ordentlich kreischte, und fiel der Frau Doktor um den
+Hals, der die Tr&auml;nen aus den Augen sprangen vor Lachen.&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend dieser Erz&auml;hlung beobachteten sowohl die Richter wie <tt>Dr.</tt>
+Bernburger in unauff&auml;lliger Weise den Angeklagten, in dessen Mienen sich
+deutlich auspr&auml;gte, wie er die <span class='pagenum'><a name="Page_88" id="Page_88">[88]</a></span>wiedererstehende Vergangenheit
+miterlebte, seine l&auml;nglichen, sch&ouml;ngeschnittenen Augen ergl&auml;nzten wie
+die Schuppen eines silbernen Fisches. Er schien seine Lage und Umgebung
+vollst&auml;ndig vergessen zu haben und sagte unbefangen zu der alten
+Freundin: &raquo;Arme Marmotte,&laquo; (so nannte er seine Frau) &raquo;arme, gute, feige
+Person! So hatte sie sp&auml;ter ihr Junges gegen mich verteidigt, das
+nat&uuml;rlich seine Pr&uuml;gel ebenso verdiente, wie Sie damals, Brutta. Aber
+erz&auml;hlen Sie weiter, erz&auml;hlen Sie: was tat die Gro&szlig;mutter?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Gro&szlig;mutter,&laquo; fuhr die Frau Hauptmann fort, &raquo;waren die Augen auch
+feucht, aber nicht nur vom Lachen, sondern ger&uuml;hrt war sie, ger&uuml;hrt &uuml;ber
+die Frau Doktor, und machte kein Hehl daraus; denn obwohl sie, wie schon
+gesagt, eher scharf und zornig war, so war sie doch ohne Falsch und
+z&ouml;gerte nicht, ein Unrecht zuzugestehen, wenn sie es n&auml;mlich eingesehen
+hatte. Sie stemmte die Arme in die Seite und sagte: 'Also so sieht das
+stille Wasser aus! Eine richtige Feuerflamme kann herausschlagen! Da bin
+ich <span class='pagenum'><a name="Page_89" id="Page_89">[89]</a></span>freilich so dumm wie alt gewesen. Und wenn ich heute unser Herr
+Doktor w&auml;re, w&uuml;rde ich Sie morgen vom Fleck weg heiraten, so gut haben
+Sie mir eben gefallen. Und nun mu&szlig; ich Sie auf den Nacken k&uuml;ssen!' Damit
+umarmte sie die Frau Doktor und k&uuml;&szlig;te sie nicht nur auf den Nacken,
+sondern auch auf beide Backen, und dann sagte sie, der Risotto solle nun
+vergeben und vergessen sein, und sie wolle f&uuml;r das Mittagessen sorgen,
+denn kochen k&ouml;nne sie besser, als man es von einer gottlosen Hy&auml;ne
+erwarten w&uuml;rde. In der Tat brachte sie in einer Stunde das feinste Essen
+zusammen, n&auml;mlich Fleischpastete und Marillenkn&ouml;del, und ich begreife
+heute noch nicht, wie sie es machte, denn das sind Gerichte, zu denen
+man seine Zeit braucht. Helfen mu&szlig;te ich allerdings doch und bekam P&uuml;ffe
+und Kniffe, aber das schadete nicht, weil sie ein vergn&uuml;gtes Gesicht
+dazu machte. Nachher beim Mittagessen, an dem die arme Marmotte, ich
+meine die Frau Doktor, auch teilnehmen mu&szlig;te, sprach die Gro&szlig;mutter viel
+&uuml;ber Erziehung, und da&szlig; namentlich die M&auml;dchen <span class='pagenum'><a name="Page_90" id="Page_90">[90]</a></span>lernen m&uuml;&szlig;ten, nicht so
+heikel und empfindlich zu sein, denn bei den M&auml;nnern w&auml;ren sie nicht auf
+Daunen gebettet, und wenn eine nicht einen Puff vertr&uuml;ge und sich ihrer
+Haut wehren k&ouml;nnte, ginge es ihr schlecht; die Wehleidigen und
+Nachgiebigen w&uuml;rden nur verachtet. Eine Frau, die ihnen keinen Vorteil
+br&auml;chte, s&auml;hen die M&auml;nner nur als eine Last an, deshalb m&uuml;&szlig;te ein
+M&auml;dchen entweder Geld haben oder kochen k&ouml;nnen. Die arme Marmotte r&uuml;hmte
+ihren Mann, da&szlig; er nicht so w&auml;re, aber die Gro&szlig;mutter, die doch bisher
+so viel Wesens von ihm gemacht hatte, sagte, da g&auml;be es keine Ausnahmen.
+In diesem Punkte w&auml;re einer wie der andere, und wenn die Liebe einmal
+einen uneigenn&uuml;tzig machte, ha&szlig;te er die Frau nachher doppelt, die ihn
+so verblendet h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum sagen Sie immer 'arme Marmotte'?&laquo; fragte der Vorsitzende, der mit
+au&szlig;erordentlicher Geduld zugeh&ouml;rt hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, weil sie tot ist,&laquo; antwortete die Frau Hauptmann nach einer Pause
+etwas verbl&uuml;fft.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_91" id="Page_91">[91]</a></span>&raquo;Ach so,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;bei ihren Lebzeiten haben Sie
+nicht so von ihr gesprochen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bewahre,&laquo; sagte Frau Schmid, &raquo;sie kam mir im Gegenteil beneidenswert
+vor. Nun ja, etwas Hilfloses hatte sie an sich, und zuweilen war sie
+auch traurig und sah &auml;ngstlich aus, und da mag ich sie wohl einmal 'arme
+Marmotte' genannt haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, warum sie zuweilen traurig war?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Warum?&laquo; fiel Deruga h&ouml;hnisch ein. &raquo;Das kann ich Ihnen sagen. Weil sie
+ihren Mann nicht so liebte, wie sie sollte, weil sie an einen anderen
+dachte, der besser zu ihr passen w&uuml;rde, und weil sie Angst vor meiner
+Eifersucht hatte. Denn wir Italiener haben nicht Milch oder Wasser in
+den Adern, sondern Blut, und dann werden unsere Augen blutrot, wenn wir
+zornig werden.&laquo;</p>
+
+<p>Frau Hauptmann warf einen erschrockenen und tadelnden Blick auf Deruga
+und sagte, zu den Richtern gewendet:</p>
+
+<p>&raquo;Er macht nur Spa&szlig;! Er war immer ein Spa&szlig;macher und liebte es, die Leute
+zu foppen <span class='pagenum'><a name="Page_92" id="Page_92">[92]</a></span>und zu erschrecken.&laquo; Dann wieder zu ihm her&uuml;ber: &raquo;Warum h&auml;tte
+die arme Marmotte Sie denn geheiratet? Ein Kind konnte ja sehen, wie
+lieb sie Sie hatte.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga hatte bereits den Kopf wieder auf die Hand gest&uuml;tzt, so da&szlig; man
+sein Gesicht nicht sah, und gab kein Zeichen des Anteils mehr.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn sie sich vor ihm f&uuml;rchtete,&laquo; fuhr Frau Schmid, zu den Richtern
+gewendet, fort, &raquo;so war das sicherlich nicht seine Schuld, sondern es
+kam von ihrer au&szlig;erordentlichen Furchtsamkeit. Einmal in der Nacht fiel
+etwas mit einem Betrunkenen vor. Ich erinnere mich nicht mehr genau
+daran, aber ich wei&szlig;, wie sie von uns allen damit geneckt wurde.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende ermunterte Frau Schmid, sich zu besinnen oder zu
+erz&auml;hlen, was sie noch davon wisse. Dann, da ihr nichts einfiel, fragte
+er Deruga, ob er sich vielleicht noch daran erinnere.</p>
+
+<p>Deruga hob den Kopf und sah aus, als habe er keine Ahnung, wovon die
+Rede sei.</p>
+
+<p>&raquo;Ach, Sie wissen doch, Doktorchen,&laquo; redete ihm Frau Schmid zu. &raquo;Es kam
+nachts ein <span class='pagenum'><a name="Page_93" id="Page_93">[93]</a></span>Betrunkener am Pavillon vorbei und gr&ouml;lte so laut, da&szlig; Ihre
+Frau davon aufwachte und dachte, es w&auml;re unter dem Fenster. Es wird im
+November gewesen sein, denn es war eine st&uuml;rmische und regnerische
+Nacht, und Sie hatten keine Lust aufzustehen und stellten sich
+schlafend, w&auml;hrend Ihre Frau fast verging vor Angst. So ungef&auml;hr war es,
+erinnern Sie sich denn nicht mehr daran?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O ja,&laquo; sagte Deruga, &raquo;es stellte sich eine ungew&ouml;hnliche Z&auml;rtlichkeit
+bei meiner Frau ein. Ich wachte auf, weil sie sich an mich schmiegte und
+ihren Kopf dicht an meinen Hals dr&uuml;ckte, und als ich mich noch in dem
+Traum wiegte, es habe sie pl&ouml;tzlich eine Leidenschaft f&uuml;r mich
+&uuml;berkommen, flehte sie mich an, ich solle sie vor dem Betrunkenen
+sch&uuml;tzen. 'Er ist unter dem Fenster,' sagte sie, 'im n&auml;chsten Augenblick
+wird er hereinkommen. Was fangen wir an, o, was fangen wir an! Schlie&szlig;e
+wenigstens das Fenster.' Ich rief: 'Ich werde mich h&uuml;ten, das zu tun; so
+bist du doch einmal z&auml;rtlich gegen mich' &mdash; und ich habe es ausdr&uuml;cklich
+ziemlich <span class='pagenum'><a name="Page_94" id="Page_94">[94]</a></span>b&ouml;sartig gesagt, denn sie lie&szlig; mich los und drehte ihr Gesicht
+nach der anderen Seite und weinte. Ich sagte noch viel bei&szlig;ender als
+vorher, sie solle nicht so dumm sein zu weinen, und &uuml;brigens, wenn sie
+sich so ungl&uuml;cklich f&uuml;hle, brauchte sie nicht f&uuml;r das Leben zu zittern.
+Und wenn sie zum Sterben ungl&uuml;cklich sei, sagte sie, sie m&ouml;chte doch
+nicht, da&szlig; ein ekelhafter, betrunkener Mensch sie anfa&szlig;te und erw&uuml;rgte.
+Da&szlig; sie gar nicht ungl&uuml;cklich w&auml;re, sagte sie nicht. 'Der Kerl liegt
+drau&szlig;en im Stra&szlig;engraben und wird singen, bis er einschl&auml;ft,' sagte ich,
+und dann stellte ich mich schlafend, um sie durch die Furcht zu qu&auml;len.
+Nach einer halben Stunde verstummte das Geheul, und gleich darauf
+schlief sie fest und ruhig, w&auml;hrend ich wachend neben ihr lag und ihren
+h&uuml;bschen wei&szlig;en Hals betrachtete und dar&uuml;ber nachdachte, wie leicht ich
+ihre Kehle zudr&uuml;cken k&ouml;nnte, fast ohne da&szlig; sie es merkte.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt zuckte triumphierend seine geschw&auml;nzten Augenbrauen und
+streckte, den Mund schon zum Reden ge&ouml;ffnet, den Zeige<span class='pagenum'><a name="Page_95" id="Page_95">[95]</a></span>finger aus, als
+der Justizrat die Hand gegen ihn erhob und gleichg&uuml;ltig, wie man einen
+nichtigen Einwand beseitigt, sagte: &raquo;Er hat es ja nicht getan. Hunde,
+die bellen, bei&szlig;en nicht, wie unsere Zeugin schon sagte.&laquo;</p>
+
+<p>Ehe noch der Staatsanwalt einen Laut hervorbringen konnte, erkl&auml;rte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann, nachdem er durch einen verbindlichen Blick nach
+rechts und links die Zustimmung erbeten, aber nicht abgewartet hatte,
+die Sitzung der Mittagspause wegen f&uuml;r geschlossen. Er wollte um drei
+Uhr noch einige Fragen an Frau Hauptmann Schmid richten, und wenn seine
+Kollegen einverstanden w&auml;ren, k&ouml;nne sie dann abreisen. Der Nachtzug nach
+Wien gehe um acht Uhr.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_96" id="Page_96">[96]</a></span></p>
+<h2><a name="III" id="III"></a><tt>III.</tt></h2>
+
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger hatte der Sitzung in Gesellschaft eines ihm
+befreundeten jungen Nervenarztes, des <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck,
+beigewohnt und verlie&szlig; mit ihm zusammen das Justizgeb&auml;ude.</p>
+
+<p>Die beiden Herren waren au&szlig;erordentlich verschieden, aber durch das
+gemeinsame Interesse f&uuml;r Psychologie, und was damit zusammenh&auml;ngt,
+ziemlich vertraut geworden, besonders seit Bernburger, als er infolge
+von &Uuml;berarbeitung an nerv&ouml;sen Depressionen litt, sich von <tt>Dr.</tt> von
+Wydenbruck nach einer eignen Methode hatte behandeln lassen. W&auml;hrend
+Bernburger klein war, von verk&uuml;mmertem Wuchs, mit schw&auml;chlichen
+Gliedma&szlig;en, dabei aber ein ausdrucksvolles Gesicht und unerm&uuml;dlich
+kluge, aufmerksame Augen hatte, war <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck von
+gro&szlig;er, schmaler und eleganter Figur <span class='pagenum'><a name="Page_97" id="Page_97">[97]</a></span>und hatte so verfeinerte Z&uuml;ge, da&szlig;
+sie sich bei scharfer Beobachtung ganz zu verfl&uuml;chtigen schienen. Sein
+Gang hatte etwas Elastisches und Biegsames, als sei er stets bereit,
+auszuweichen oder sich anzupassen, aber in Wirklichkeit streckte er nur
+h&ouml;chst bewegliche F&uuml;hler aus und blieb auf dem Grunde seines Wesens von
+schwerer, glatter Unver&auml;nderlichkeit.</p>
+
+<p>&raquo;Da sind wieder einmal ein paar Hysterische zusammengekommen,&laquo; sagte er,
+als sie die breite, zum Mittelpunkt der Stadt f&uuml;hrende Stra&szlig;e
+hinuntergingen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie halten Deruga doch nicht f&uuml;r hysterisch?&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Bernburger eifrig, an seinem Begleiter hinaufsehend. &raquo;Ich beurteile ihn
+ganz anders. Da&szlig; er den Mord begangen hat, steht mir fest, und zwar hat
+er ihn ohne Erregung, mit einer Ruhe ohnegleichen, ja mit einer
+Selbstverst&auml;ndlichkeit begangen, die es ihm erm&ouml;glicht hat, keinen
+Schnitzer zu begehen, der ihn verraten k&ouml;nnte. Die Verbrecher, die mit
+sorgf&auml;ltiger &Uuml;berlegung zu Werke gehen, machen bekanntlich immer
+irgendeinen Fehler, <span class='pagenum'><a name="Page_98" id="Page_98">[98]</a></span>der ihnen zum Verh&auml;ngnis wird. Deruga hat gemordet,
+wie ein anderer seine Suppe ausl&ouml;ffelt, beil&auml;ufig, beinah mechanisch,
+und darum hat er keine Spur hinterlassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr fein bemerkt,&laquo; lobte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck. &raquo;Nur die
+unbewu&szlig;ten Handlungen sind lebendig und fruchtbar und in ihrer Art
+fehlerlos und unfehlbar. Ich m&ouml;chte hinzusetzen, auch tadellos.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;An sich meinetwegen, in bezug auf die Zweckm&auml;&szlig;igkeit,&laquo; entgegnete
+Bernburger; &raquo;aber das ist jetzt nicht unser Standpunkt. Sonst w&auml;re ja
+jeder unmoralische Mensch in seinen unmoralischen Handlungen tadellos.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist er denn das nicht?&laquo; fragte Wydenbruck. &raquo;Aber Deruga,&laquo; fuhr er fort,
+&raquo;geh&ouml;rt nach meinem Daf&uuml;rhalten nicht dahin. Ich halte ihn und nicht
+minder seine Frau f&uuml;r moralisch zurechnungsf&auml;hig, aber f&uuml;r hysterisch.
+Mord ist in unserer Zeit ein nur den untersten Schichten des Volkes
+angemessenes Verbrechen; tritt er in gebildeten Kreisen auf, so deutet
+er auf Hysterie oder Perversit&auml;t.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_99" id="Page_99">[99]</a></span>&raquo;Das stimmt f&uuml;r uns,&laquo; sagte Bernburger, &raquo;aber nicht f&uuml;r die Italiener.
+&Uuml;brigens gibt es auch bei uns Umst&auml;nde und Leidenschaften, die einen
+Gebildeten auf nat&uuml;rlicher Grundlage zum M&ouml;rder machen k&ouml;nnen, zum
+Beispiel Eifersucht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte die Eifersucht selbst f&uuml;r das D&auml;monische erkl&auml;ren,&laquo; sagte
+der andere. &raquo;Jedenfalls glaube ich, da&szlig; wir es hier mit einer
+hysterischen Mordlust zu tun haben, die nichts als verdr&auml;ngter
+Liebestrieb ist. Obwohl Derugas Frau ihn nach Aussage dieser guten,
+komischen Brutta liebte, findet er keine Befriedigung. Um mehr
+herauszupressen, erregt er Furcht, ihre Angst verdoppelt seinen Genu&szlig;,
+aber seine Gier bleibt unges&auml;ttigt und wird auch &uuml;ber ihrem Leichnam
+nicht erl&ouml;schen. Diese Ungl&uuml;cklichen sind die eigentlichen Vampire der
+Sage.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; es das gibt, bezweifle ich nicht,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger,
+&raquo;vielleicht hat sogar jeder Mensch etwas vom Vampir in sich; doch kann
+ich Ihre Methode, die &auml;u&szlig;eren Beweggr&uuml;nde gar nicht in Betracht zu
+ziehen, nicht billigen. <span class='pagenum'><a name="Page_100" id="Page_100">[100]</a></span>Sie sind vorhanden und &uuml;ben ihre Wirkung aus,
+so oder so.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auf Gesunde, ja,&laquo; antwortete Wydenbruck, &raquo;auf Kranke kaum oder nur, um
+willk&uuml;rlich verwertet zu werden. Auf Hysterie deutet bei Deruga schon
+seine h&ouml;chst merkw&uuml;rdige F&auml;higkeit, sich auszuschalten, wann es ihm
+pa&szlig;t. Er ist &uuml;beraus reizbar, leicht bis zu Tr&auml;nen ergriffen, und im
+n&auml;chsten Augenblick ist er wie von Stein. Er ist dann gewisserma&szlig;en
+nicht mehr da. Wenn er sich darauf legte, k&ouml;nnte er es vielleicht dahin
+bringen, sich tats&auml;chlich zu spalten, und wir h&auml;tten dann die
+Erscheinung der Doppelg&auml;ngerei.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und die Frau?&laquo; forschte Bernburger; &raquo;warum halten Sie die Frau f&uuml;r
+hysterisch?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Furchtsamkeit ist ein hinreichendes Smyptom,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> von
+Wydenbruck. &raquo;Beachten Sie doch, wie Mordlust und Furchtsamkeit
+aufeinander eingestellt sind. Es ist h&ouml;chst merkw&uuml;rdig, wie solche
+Naturen magnetisch zueinander hingezogen werden, um ihre
+Wesenseigent&uuml;mlichkeiten durcheinander aufs h&ouml;chste zu <span class='pagenum'><a name="Page_101" id="Page_101">[101]</a></span>steigern und ihr
+Los zu erf&uuml;llen. Alle Schranken durchbrechend offenbart sich der
+Selbstvernichtungstrieb als r&auml;tselhafte Leidenschaft.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Es war, als h&auml;tten sich diese Gedanken dem Justizrat Fein mitgeteilt.
+Denn als er seinen Klienten nach beendigter Sitzung traf, sagte er zu
+ihm:</p>
+
+<p>&raquo;H&ouml;ren Sie, Doktor, wenn wir Sie als geisteskrank hinzustellen
+versuchten, h&auml;tten wir, glaube ich, Aussicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Machen Sie das, wie Sie wollen,&laquo; sagte Deruga, &raquo;ich &uuml;berlasse ja
+ohnehin alles Ihnen. Da ich ein sehr guter Mensch bin und die Dinge sehe
+und benenne, wie sie sind, ist es leicht m&ouml;glich, da&szlig; man mich f&uuml;r
+verr&uuml;ckt h&auml;lt.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat sprach seine Absicht aus, Deruga zum Mittagessen zu
+begleiten. Meister Reichardt werde schon etwas E&szlig;bares haben, soviel er
+wisse, f&uuml;hre der Alte sogar einen ganz guten Wein. Ohne einen Schluck
+Wein, eine gute Zigarre und eine Tasse guten Kaffee k&ouml;nne er allerdings
+um drei Uhr nicht weiterarbeiten.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_102" id="Page_102">[102]</a></span>&raquo;Das ist recht, da&szlig; Sie mitkommen,&laquo; sagte Deruga, &raquo;so k&ouml;nnen wir noch
+ein bi&szlig;chen miteinander tratschen. Aber h&ouml;ren Sie,&laquo; unterbrach er sich
+pl&ouml;tzlich, &raquo;kommen Sie wirklich aus Teilnahme f&uuml;r mich, oder wollen Sie
+mich aushorchen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, mein Freund,&laquo; lachte der Justizrat, &raquo;wozu bin ich denn eigentlich
+da? Ich vertrete ja Ihre Interessen, und wenn Sie vern&uuml;nftig w&auml;ren,
+erz&auml;hlten Sie von vornherein alles mir, anstatt zur Unzeit und zu Ihrem
+Schaden damit herauszuplatzen. Mensch, Sie machen einem, wei&szlig; Gott, das
+Handwerk schwer.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ich eine alte Freundin nach zwanzig Jahren unverhofft wiedersehe,&laquo;
+entschuldigte sich Deruga, &raquo;komme ich nat&uuml;rlich ins Schwatzen. Sie
+h&auml;tten mich warnen sollen. &Uuml;brigens ist es mir ja gleichg&uuml;ltig.&laquo;</p>
+
+<p>In Derugas kleinem, altmodisch eingerichtetem St&uuml;bchen war der Tisch
+schon bereit, und es brauchte nur ein zweites Gedeck aufgelegt zu
+werden. Nachdem der Justizrat seinen ersten Hunger gestillt hatte,
+lehnte er sich behaglich <span class='pagenum'><a name="Page_103" id="Page_103">[103]</a></span>zur&uuml;ck und sagte: &raquo;Sie scheinen Ihre Frau aber
+doch mordsm&auml;&szlig;ig geliebt zu haben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wieso?&laquo; fragte Deruga k&uuml;hl. &raquo;In den Flitterwochen ist das doch
+selbstverst&auml;ndlich. Seitdem habe ich Gott wei&szlig; wie viele andere
+geliebt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; meinte der Justizrat, &raquo;aber man mu&szlig; doch jedenfalls eine Frau
+sehr lieben, um sich ihretwegen in eine solche Klemme zu bringen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Erstens konnte ich das nicht voraussehen,&laquo; sagte Deruga, &raquo;und zweitens
+t&auml;te ich das f&uuml;r jeden Menschen, und es ist schlimm genug, da&szlig; das nicht
+alle tun. Wenn ein J&auml;ger ein angeschossenes Tier nicht m&ouml;glichst schnell
+vollends t&ouml;tete, w&uuml;rde man ihn mit Recht einen rohen Kerl nennen.
+Menschen dagegen sieht man wochenlang, monatelang Qualen leiden, bevor
+sie sterben k&ouml;nnen, und hilft ihnen nicht. Sch&ouml;ne N&auml;chstenliebe! Als ob
+man einem &uuml;berhaupt ein kostbareres Geschenk machen k&ouml;nnte als den Tod!
+Ich w&auml;re dem, der mir das Leben abk&uuml;rzt, wenn ich nicht mehr dazu tauge,
+bedeutend dankbarer als denen, die es mir gegeben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das hat denn doch seine zwei Seiten, mein <span class='pagenum'><a name="Page_104" id="Page_104">[104]</a></span>Lieber,&laquo; sagte der
+Justizrat. &raquo;Da k&ouml;nnte schlie&szlig;lich jeder Neffe seinen reichen Erbonkel
+umbringen und behaupten, er habe es aus N&auml;chstenliebe getan.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga scho&szlig; das Blut ins Gesicht. &raquo;Was meinen Sie damit?&laquo; sagte er.
+&raquo;Das ist eine gemeine Anspielung, die ich mir verbitte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Erlauben Sie,&laquo; sagte der Justizrat bes&auml;nftigend, &raquo;das war ganz sachlich
+geredet, und wenn Sie empfindlich sind, kommen wir nicht weiter. Der
+Mensch ist einmal ein Kentaur, und au&szlig;er guten Antrieben gibt es auch
+schlechte. Und wenn einer eine Person t&ouml;tet, deren Tod ihm Vorteil
+bringt, so mu&szlig; man wenigstens mit der M&ouml;glichkeit rechnen, er habe es
+mindestens zum Teil des Vorteils wegen getan.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie wissen,&laquo; sagte Deruga, &raquo;da&szlig; ich von dem Testament meiner Frau keine
+Ahnung hatte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das hei&szlig;t, Sie haben es mir gesagt!&laquo; berichtigte der Justizrat
+gelassen.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Sie meinen Worten nicht glauben,&laquo; rief Deruga au&szlig;er sich, &raquo;so
+spreche ich &uuml;berhaupt <span class='pagenum'><a name="Page_105" id="Page_105">[105]</a></span>nicht mehr mit Ihnen. Was f&auml;llt Ihnen ein, meine
+Verteidigung zu &uuml;bernehmen, wenn Sie mich f&uuml;r einen gemeinen Raubm&ouml;rder
+halten? Das ist unanst&auml;ndig gehandelt, ebenso unanst&auml;ndig, wie wenn ich
+meine Frau umgebracht h&auml;tte, um sie zu beerben. Und unanst&auml;ndig ist es,
+unter der Maske des Wohlwollens und der Zuneigung mit mir zu verkehren.&laquo;
+Er war graubleich im Gesicht geworden und hatte unwillk&uuml;rlich mit der
+schlanken, braunen Hand den Griff seines Messers erfa&szlig;t.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, h&ouml;ren Sie mal,&laquo; sagte der Justizrat gutm&uuml;tig, &raquo;wollen Sie mir
+eigentlich zwischen K&auml;se und Kaffee die Kehle durchschneiden? Sie sind
+ein rabiater Italiener, und ich sollte mir jedesmal einen Blechpanzer
+unterschnallen, bevor ich zu Ihnen gehe.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bevor Sie mich beleidigen, allerdings,&laquo; gab Deruga zur&uuml;ck; &raquo;nur w&uuml;rde
+Ihnen das wenig n&uuml;tzen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist das eine Beleidigung,&laquo; fuhr der Justizrat fort, &raquo;wenn ich sage, ich
+halte es f&uuml;r m&ouml;glich, da&szlig; Sie von dem Testament Ihrer Frau Bescheid
+<span class='pagenum'><a name="Page_106" id="Page_106">[106]</a></span>wu&szlig;ten? Sage ich denn, da&szlig; dieser Umstand Sie zur Tat bewog? Ich sage
+nur, man mu&szlig; die M&ouml;glichkeit in Betracht ziehen, da&szlig; dieser Umstand
+mitwirkte.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga lie&szlig; das Messer auf den Tisch fallen und lehnte sich m&uuml;de in
+seinen Stuhl zur&uuml;ck. &raquo;Die M&ouml;glichkeit ist deshalb ausgeschlossen,&laquo; sagte
+er, &raquo;weil die Voraussetzung fehlt. Sie wissen, da&szlig; das Testament mich
+nicht beeinflussen konnte, weil ich keine Ahnung davon hatte. Sie wissen
+das, weil ich es Ihnen sagte und Sie mir glauben m&uuml;ssen. Das sogenannte
+Publikum, das dumm ist und mich nicht kennt, braucht mir nicht zu
+glauben, aber von Ihnen verlange ich es.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat schwieg eine Weile und sagte dann: &raquo;Versuchen Sie, mein
+Bester, einmal einen Teil der Gerechtigkeit selbst zu &uuml;ben, die Sie von
+anderen in so reichem Ma&szlig;e verlangen! Ich habe erst seit kurzem das
+Vergn&uuml;gen, Sie zu kennen, und zwar lernte ich Sie unter sehr
+zweideutigen Umst&auml;nden kennen. Viel Gutes h&ouml;rt man nicht von Ihnen. Sie
+f&uuml;hren ein <span class='pagenum'><a name="Page_107" id="Page_107">[107]</a></span>Lotterleben, arbeiten nur, wenn Sie keinen Pfennig mehr in
+der Tasche haben, obwohl Sie einen eintr&auml;glichen Beruf und viel Verstand
+haben. Sie haben sich absichtlich verkommen lassen, sind sozusagen ein
+mutwilliger Vagabund. W&auml;re es nicht leichtfertig oder dumm von mir, wenn
+ich Ihnen durch dick und d&uuml;nn glaubte, auch wo etwa Tatsachen oder
+berechtigte Mutma&szlig;ungen dagegen sprechen? W&auml;ren Sie nicht der erste,
+mich allenfalls auszulachen und zu sagen: Der Fein ist ein echter
+Deutscher, dumm wie eine Kartoffel?&laquo;</p>
+
+<p>Deruga wandte dem Justizrat mit einem liebensw&uuml;rdigen L&auml;cheln das
+Gesicht wieder zu. &raquo;F&uuml;r einen Deutschen sind Sie wirklich ziemlich
+gescheit,&laquo; sagte er, &raquo;und dabei ein ganz guter Kerl. Aber ich sehe nicht
+ein, warum Sie mich nicht die Wahrheit sagen lie&szlig;en. Dann w&auml;re diese
+langweilige und ekelhafte Geschichte schon zu Ende.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat sah gedankenvoll in den Rauch seiner Zigarre und
+sch&uuml;ttelte den Kopf. &raquo;Ich habe Ihnen nach bester &Uuml;berzeugung geraten,&laquo;
+<span class='pagenum'><a name="Page_108" id="Page_108">[108]</a></span>sagte er. &raquo;Da&szlig; Sie die Tat aus reinen, edlen Motiven begangen haben,
+h&auml;tten Sie nicht beweisen k&ouml;nnen; umgekehrt kann man Ihnen nicht
+beweisen, da&szlig; Sie sie &uuml;berhaupt begangen haben, es m&uuml;&szlig;ten sonst noch
+ganz unvorhergesehene Indizien herauskommen. Ich denke also, wenn Sie
+konsequent leugnen, bringe ich Sie durch. Und das ist doch besser als
+ein paar Jahre Gef&auml;ngnis, wenn Sie vielleicht auch einen ganz
+gem&uuml;tlichen Diogenes darin vorgestellt h&auml;tten. So wagen wir einen hohen
+Einsatz, k&ouml;nnen aber auch einen hohen Gewinn davontragen; im anderen
+Falle bek&auml;men wir auch im besten Falle nur St&uuml;ckwerk!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und Sie sind kein Flickschneider, sondern ein Kleiderk&uuml;nstler,&laquo; sagte
+Deruga. &raquo;Ich geh&ouml;re aber eigentlich in die Bude des Flickschneiders.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein echter Italiener kann ebensogut den Lazzarone wie den Edelmann
+spielen,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Wenn Sie erst frei und im Besitze Ihres
+Verm&ouml;gens sind, werden Sie diesen kurzen Schmerz vergessen und wom&ouml;glich
+ein neues Leben anfangen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_109" id="Page_109">[109]</a></span>&raquo;Ein neues Leben anfangen?&laquo; lachte Deruga. &raquo;Mit sechsundvierzig Jahren!
+Als ob ich nicht l&auml;ngst genug und &uuml;bergenug davon h&auml;tte!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na, da will ich Ihnen weiter nicht hineinreden,&laquo; sagte der Justizrat.
+&raquo;Sie k&ouml;nnen ja auch weiter lumpen. Jedenfalls leuchtete Ihnen mein Rat
+damals ein, und Sie haben ihn aus freien St&uuml;cken angenommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich tue alles, was Sie wollen, damit die Baronin Truschkowitz, diese
+niedertr&auml;chtige Person, das Verm&ouml;gen nicht bekommt,&laquo; sagte Deruga. &raquo;W&auml;re
+das nicht, ich lie&szlig;e mich ruhig k&ouml;pfen oder ins Zuchthaus sperren. Das
+Leben ist einen solchen Kampf nicht wert.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_110" id="Page_110">[110]</a></span></p>
+<h2><a name="IV" id="IV"></a><tt>IV.</tt></h2>
+
+
+<p>Auf der von unsicheren Fr&uuml;hlingssonnenstrahlen durchflackerten, breiten
+Stra&szlig;e, die auf die Front des Justizgeb&auml;udes f&uuml;hrte, stie&szlig; <tt>Dr.</tt>
+von Wydenbruck auf den Oberlandesgerichtsrat Zeunemann, stellte sich vor
+und sprach seine Bewunderung &uuml;ber die Art aus, wie der
+Oberlandesgerichtsrat die Verhandlung f&uuml;hrte. Er sei f&uuml;r den Einblick in
+eine komplizierte Psyche, der ihm da gew&auml;hrt w&uuml;rde, sehr erkenntlich,
+und er sei &uuml;berzeugt, <tt>Dr.</tt> Zeunemann werde noch immer mehr in ihre
+Tiefen und Untiefen hineinleuchten.</p>
+
+<p>&raquo;Ich pflege meine Fragen so zu stellen,&laquo; sagte der
+Oberlandesgerichtsrat, &raquo;da&szlig; alles auf den Fall Bez&uuml;gliche an &auml;u&szlig;eren und
+inneren Tatsachen von selbst hervorkommt. Nicht mit Hebeln und
+Schrauben, wissen Sie, sondern unwillk&uuml;rlich, wie sich ein Blatt
+entrollt.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_111" id="Page_111">[111]</a></span>&raquo;Ja, ich habe das bemerkt,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck entz&uuml;ckt,
+&raquo;es ist wundervoll. Sie schaffen gewisserma&szlig;en nur die geeignete
+Atmosph&auml;re, und das Spiel des Lebens entfaltet sich. Bisher haben Sie
+die Bestrahlung des Tages vorwalten lassen, vielleicht lassen Sie es
+auch einmal Nacht werden, lassen die Schatten aus dem Hades der Seele
+aufsteigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind Psycholog und wollen Ihre Studien machen?&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Von Ihrer reichbesetzten Tafel f&auml;llt vieles ab,&laquo; erwiderte <tt>Dr.</tt>
+von Wydenbruck verbindlich.</p>
+
+<p>Sie blieben auf der breiten Freitreppe stehen, um das Gespr&auml;ch zu
+beenden, w&auml;hrend es drei Uhr schlug. &raquo;Ich kann dazu nicht so viel tun,
+wie Sie glauben,&laquo; erkl&auml;rte der Oberlandesgerichtsrat. &raquo;Ohne Seelenkunde
+kann allerdings heutzutage kein Kriminalist auskommen, aber ich sage mit
+Absicht 'Seelenkunde', um auszudr&uuml;cken, da&szlig; es sich nach meiner Meinung
+um keine eigentliche Wissenschaft handelt, sondern um ein angeborenes
+Gef&uuml;hl, man k&ouml;nnte es Genialit&auml;t nennen. Ich lasse mich weit <span class='pagenum'><a name="Page_112" id="Page_112">[112]</a></span>mehr von
+meinem Gef&uuml;hl als von Berechnung leiten; Sie werden sich wundern, eine
+solche Ansicht von einem Juristen zu h&ouml;ren.&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend Herr <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck Verwunderung und Bewunderung
+ausdr&uuml;ckte, hatte sich der Schwurgerichtssaal gef&uuml;llt, und einer von den
+Geschworenen, Gefl&uuml;gelz&uuml;chter K&ouml;cherle, fragte den Obmann der
+Geschworenen, Kommerzienrat Winkler, neben dem er sa&szlig;, wer die feine
+Dame mit der langgestielten, goldenen Lorgnette in der ersten Reihe des
+Zuschauerraums sei.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist doch die Baronin Truschkowitz, die die ganze Geschichte in Gang
+gebracht hat,&laquo; sagte der Kommerzienrat. &raquo;Kennen Sie denn die nicht?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So sieht die aus?&laquo; rief der andere erstaunt aus. &raquo;Die h&auml;tte ich mir
+sehr sch&auml;big und unterern&auml;hrt vorgestellt, weil sie von der d&uuml;rftigen
+Lage ihrer Kinder redet, und wie sie sich durchs Leben k&auml;mpfen m&uuml;&szlig;ten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Adel,&laquo; sagte der Kommerzienrat, die Achsel zuckend, &raquo;hat eben
+andere Begriffe von <span class='pagenum'><a name="Page_113" id="Page_113">[113]</a></span>dem, was man braucht und beanspruchen darf.
+&Uuml;brigens, wenn einer, der viel hat, noch mehr haben kann, sagt er nie
+Nein.&laquo;</p>
+
+<p>Der Gefl&uuml;gelh&auml;ndler gab das zu, aber er fand es doch geschmacklos, sich
+so kostbar zu tragen, wenn man so redete, als wimmerten seine Kinder
+nach dem t&auml;glichen Brot.</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Toilette ist aber geschmackvoll,&laquo; bemerkte ein anderer.</p>
+
+<p>&raquo;Und teuer,&laquo; setzte der Kommerzienrat hinzu, indem er einen sch&auml;tzenden
+Blick &uuml;ber die Dame gleiten lie&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Der Reiherbusch auf dem Hut etwa hundert Mark, die Brillanten im Stiel
+der Lorgnette vielleicht tausend Mark.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind es echte Brillanten?&laquo; fragte der Gefl&uuml;gelz&uuml;chter mit gro&szlig;en Augen.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das Feuer haben nachgeahmte Steine nicht,&laquo; sagte der Kommerzienrat
+beinahe hitzig. &raquo;Wenn man auch dahin kommt, Brillanten k&uuml;nstlich
+herzustellen, so stimmt es meinetwegen nach der chemischen Formel, aber
+das Feuer der nat&uuml;rlichen Steine ist anders. Das <span class='pagenum'><a name="Page_114" id="Page_114">[114]</a></span>lasse ich mir nicht
+abstreiten. Die Natur ist eben doch unerreichbar.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind das denn auch Brillanten, die sie auf dem Hut hat?&laquo; fragte der
+Gefl&uuml;gelz&uuml;chter.</p>
+
+<p>&raquo;Bewahre,&laquo; antwortete der Kommerzienrat mi&szlig;billigend, &raquo;dazu wei&szlig; eine
+solche Dame zu gut Bescheid in Geschmacksfragen. Das ist eine moderne
+Phantasieagraffe, die etwa f&uuml;nfzig Mark gekostet hat. Aber Sie sind ja
+das reine Kind in solchen Sachen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Stimmt,&laquo; gab der Gefl&uuml;gelz&uuml;chter zu, &raquo;wenn meine Frau nicht ein bi&szlig;chen
+nach mir schaute, w&auml;re ich von einem Bauernknecht nicht zu
+unterscheiden. Und ich will Ihnen ganz offen sagen, was man so eine
+elegante Frau von Welt nennt und eine sogenannte Demimonde-Dame, kenne
+ich nicht auseinander.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was Sie sagen,&laquo; rief der Kommerzienrat. &raquo;Aber das gibt es ja gar nicht!
+Da mu&szlig; man sich doch auskennen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was ist denn zum Beispiel die Truschkowitz f&uuml;r ein Typus?&laquo; fragte der
+Gefl&uuml;gelz&uuml;chter. &raquo;Steht das nicht ungef&auml;hr auf der Grenze?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_115" id="Page_115">[115]</a></span>&raquo;Ich bitte Sie,&laquo; sagte der Kommerzienrat, vor Schreck und &Auml;rger
+err&ouml;tend, &raquo;das ist eine ganz feine Frau von Welt! Der Anzug ist der gute
+Ton und die Diskretion selbst.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na, wissen Sie,&laquo; wandte der andere ein, &raquo;eine gescheite Demimonde-Dame
+sollte das doch nachmachen k&ouml;nnen. So etwas lernt sich doch bald.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; beharrte der Kommerzienrat, noch immer rot und erregt. &raquo;Ein
+gewisses Etwas lernt sich eben nicht. Es l&auml;&szlig;t sich nicht lernen, weil es
+sich nur f&uuml;hlen l&auml;&szlig;t. Da gibt ein Atom den Ausschlag.&laquo;</p>
+
+<p>Der eintretende Gerichtshof unterbrach das Zwiegespr&auml;ch, Frau Hauptmann
+Schmid wurde wieder vorgef&uuml;hrt, und nachdem der Vorsitzende sie nochmals
+ermahnt hatte, die Wahrheit zu sagen und nichts zur&uuml;ckzuhalten, fa&szlig;te er
+das Ergebnis ihrer bisherigen Aussage zusammen:</p>
+
+<p>&raquo;Bald nach seiner Verheiratung mit seiner um einige Jahre &auml;lteren Frau
+bezog der Angeklagte eine Sommerwohnung bei Ihren Gro&szlig;eltern in Laibach.
+Die Derugas machten den <span class='pagenum'><a name="Page_116" id="Page_116">[116]</a></span>Eindruck eines gl&uuml;cklichen Paares, dessen Gl&uuml;ck
+immerhin getr&uuml;bt wurde durch gewisse Eigenheiten des Mannes, namentlich
+seine an J&auml;hzorn streifende Heftigkeit und seine Neigung zur Eifersucht.
+Soweit Sie wissen, war eine Eifersucht unbegr&uuml;ndet. Nicht wahr, ich habe
+Sie recht verstanden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dar&uuml;ber kann ich doch unm&ouml;glich etwas wissen,&laquo; sagte Frau Schmid. &raquo;Denn
+es handelte sich ja um Vergangenes. Da&szlig; die arme Marmotte einen anderen
+gern gehabt hat, kann ja leicht sein, sie war ja gewi&szlig; schon drei&szlig;ig
+Jahre alt, und ich glaube es sogar; denn der Doktor w&auml;re doch n&auml;rrisch
+gewesen, wenn er die Geschichte erfunden h&auml;tte, um sie und sich damit zu
+plagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sagten doch aber heute morgen einmal,&laquo; hielt ihr <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann vor, &raquo;Sie hielten es f&uuml;r ausgeschlossen, da&szlig; Frau <tt>Dr.</tt>
+Deruga sich jemals h&auml;tte etwas zuschulden kommen lassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zuschulden kommen lassen,&laquo; wiederholte Frau Schmid, &raquo;davon ist doch
+keine Rede. Mein Gott, man wird doch einmal einen gern haben d&uuml;rfen,
+ohne da&szlig; einem gleich daraus der Strick gedreht <span class='pagenum'><a name="Page_117" id="Page_117">[117]</a></span>wird. Ich habe doch
+auch unser Doktorchen gern gehabt &mdash; nun, das Gef&uuml;hl ist im Keime
+steckengeblieben &mdash;, aber wenn es auch einmal einen Ku&szlig; gegeben h&auml;tte,
+was w&auml;re dabei? Den Allzuzimperlichen traue ich am wenigsten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben aber keinen Anhaltspunkt daf&uuml;r,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann,
+&raquo;da&szlig; die damalige Frau Deruga etwaige fr&uuml;here Beziehungen derzeit noch
+fortgesetzt h&auml;tte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bewahre!&laquo; rief Frau Hauptmann Schmid fast schreiend, &raquo;was meinen Sie
+denn, dann w&auml;re sie ja eine ganz infame Kr&ouml;te gewesen! Da brauchen Sie
+nur Herrn Doktor selbst zu fragen, der wird es Ihnen schon sagen. Ich
+glaube, er spr&auml;nge Ihnen gleich an die Kehle, wenn Sie ihn so etwas
+fragten!&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann konnte nicht umhin zu l&auml;cheln. &raquo;Darum halte ich
+mich lieber an Sie,&laquo; sagte er. &raquo;Sie halten also f&uuml;r m&ouml;glich, da&szlig; Frau
+Deruga vor ihrer Verheiratung einmal eine Neigung hatte, sind aber
+&uuml;berzeugt, da&szlig; derzeit jede etwaige Beziehung gel&ouml;st war. In Anbetracht
+des Umstandes, da&szlig; der Angeklagte sich als Arzt <span class='pagenum'><a name="Page_118" id="Page_118">[118]</a></span>zuerst in Linz
+niederlie&szlig;, gab er im Dezember die Sommerwohnung bei Ihren Gro&szlig;eltern
+auf. Haben Sie sp&auml;ter noch im Verkehr mit ihm und seiner Frau
+gestanden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie schickten eine Anzeige von der Geburt des kleinen M&auml;dchens,&laquo; sagte
+Frau Schmid, &raquo;das nachher starb. Die Anzeige lie&szlig; ich mir von der
+Gro&szlig;mutter schenken und habe sie noch. Ich hatte immer das Gef&uuml;hl, da&szlig;
+es besondere Menschen w&auml;ren, und wartete lange darauf, da&szlig; sich etwas
+Besonderes mit ihnen begeben w&uuml;rde. Da&szlig; es so k&auml;me, dachte ich freilich
+nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Nachdem noch einige Fragen &uuml;ber die Besuche, die Derugas empfingen, und
+&uuml;ber ihren Geldverbrauch gestellt waren, wurde Frau Hauptmann Schmid
+entlassen, und ein eleganter Herr von etwa sechsunddrei&szlig;ig Jahren folgte
+ihr. Er sah so &uuml;beraus tadellos aus, da&szlig; er an eine Figur aus dem
+Modeblatt erinnerte, und auch sein Gesicht hatte einen dementsprechenden
+regelm&auml;&szlig;igen Zuschnitt; nur war es nicht glatt und rosig, sondern
+bla&szlig;grau, m&uuml;de und etwas eingefallen.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_119" id="Page_119">[119]</a></span>Er machte eine Verbeugung, durch welche er dem Gerichtshof den Respekt
+zuteilte, den er jeder staatlichen Einrichtung, wie weit er pers&ouml;nlich
+auch dar&uuml;ber stehen mochte, zugestand, und lie&szlig; unter anderen
+Personalien feststellen, da&szlig; er Peter Hase hei&szlig;e und in M&uuml;nchen wohnhaft
+sei. Dann wurde er aufgefordert mitzuteilen, wie er die Bekanntschaft
+des Angeklagten gemacht habe.</p>
+
+<p>&raquo;Wir wurden einander im Kavalier-Caf&eacute;, wo er verkehrte, vorgestellt. Es
+ist kein Caf&eacute; ersten Ranges, aber ein sehr behagliches Lokal und
+ziemlich viel von K&uuml;nstlern besucht, weil es eigentlich f&uuml;r
+Nichtk&uuml;nstler gegr&uuml;ndet wurde. Deruga ist dort sehr bekannt, und ich
+hatte &ouml;fters von ihm als von einer eigent&uuml;mlichen Pers&ouml;nlichkeit und
+einem guten Gesellschafter sprechen h&ouml;ren, so da&szlig; ich mich freute, ihn
+kennenzulernen. Er hatte einen bestimmten Platz an einem bestimmten
+Tisch, wo sich ein ziemlich gemischter Kreis um ihn zu versammeln
+pflegte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Waren Herren aus der Gesellschaft darunter?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_120" id="Page_120">[120]</a></span>&raquo;Sowohl solche wie andere,&laquo; antwortete Peter Hase, &raquo;haupts&auml;chlich aus
+der Boh&egrave;me.&laquo; Er sprach das Wort so unbetont aus, da&szlig; es unm&ouml;glich
+gewesen w&auml;re, herauszuf&uuml;hlen, ob er Verachtung oder Sympathie oder sonst
+was f&uuml;r den Begriff empfand. &Uuml;berhaupt hatte er etwas vollkommen
+Beziehungsloses; er schien keine Umwelt als leere, wei&szlig;e Mauern zu
+haben.</p>
+
+<p>&raquo;Traten Sie in ein intimeres Verh&auml;ltnis zu Deruga?&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Das nicht,&laquo; sagte Herr Hase, ohne die Zumutung, er k&ouml;nne zu irgend
+jemandem in intimere Verh&auml;ltnisse treten, im allermindesten zu r&uuml;gen,
+&raquo;aber er interessierte mich immer, wenn ich ihn sah.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich Sie bitten,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;jetzt den Auftritt zu
+schildern, der zwischen Ihnen und Deruga in dem erw&auml;hnten Caf&eacute;
+stattfand?&laquo;</p>
+
+<p>Herr Hase verbeugte sich zustimmend. &raquo;Erlauben Sie mir die
+Richtigstellung,&laquo; begann er, &raquo;da&szlig; von einem Auftritt zwischen <tt>Dr.</tt>
+Deruga und mir insofern nicht die Rede sein kann, als ich mich in keiner
+Weise aktiv dabei beteiligt <span class='pagenum'><a name="Page_121" id="Page_121">[121]</a></span>habe. Es hatte damals ein Grubenungl&uuml;ck
+stattgefunden, bei welchem eine Anzahl Arbeiter verungl&uuml;ckt waren, und
+es wurde f&uuml;r die Hinterbliebenen gesammelt. An jenem Nachmittag kam eine
+Dame mit einer Liste f&uuml;r Unterschriften und Beitr&auml;ge in das Caf&eacute;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eine Dame?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Frau, wenn Sie lieber wollen,&laquo; sagte Herr Hase, &raquo;sie war sehr
+d&uuml;rftig gekleidet. Sie n&auml;herte sich unserem Tisch, und da ich zun&auml;chst
+sa&szlig;, gab ich ihr durch eine Handbewegung oder ein Kopfsch&uuml;tteln zu
+verstehen, sie solle sich nicht bem&uuml;hen; denn ich finde Sammlungen jeder
+Art in Vergn&uuml;gungslokalen unpassend. <tt>Dr.</tt> Deruga, der im Besitz
+einer au&szlig;erordentlichen Beobachtungsgabe ist, hatte den kleinen Vorgang
+bemerkt und rief die Dame oder Frau, die im Begriffe war weiterzugehen,
+zur&uuml;ck. 'Warum kommen Sie nicht zu uns, liebes Kind?' sagte er. 'Kommen
+Sie, wir m&ouml;chten auch etwas zeichnen.' Dann &uuml;berh&auml;ufte er mich mit
+Vorw&uuml;rfen, da&szlig; ich die Dame eigenm&auml;chtig, ohne die Absicht der
+Gesellschaft zu kennen, verscheucht <span class='pagenum'><a name="Page_122" id="Page_122">[122]</a></span>h&auml;tte. Um der Sache ein Ende zu
+machen, griff ich schnell nach der Liste, zeichnete einen Betrag und gab
+sie weiter. Als sie an Deruga kam, &uuml;berlas er die Eintr&auml;ge und &auml;rgerte
+sich, wie ich sofort an seinem Gesicht sehen konnte, &uuml;ber ihre
+Geringf&uuml;gigkeit. 'Sehen Sie, liebes Kind,' sagte er zu der Dame, 'diese
+Herren hier sind reich und haben infolgedessen, da sie sich H&auml;user
+bauen, Autos halten und Sekt trinken m&uuml;ssen, kein Geld f&uuml;r
+Arbeiterfrauen und Arbeiterkinder &uuml;brig, deren es ohnehin zu viele gibt.
+Ich dagegen bin arm, sollte mich eigentlich aufh&auml;ngen und brauche
+infolgedessen nur einen Strick, der wenig kostet; daher bin ich in der
+Lage, dreihundert Mark zu zeichnen, die ich Sie in meiner hier
+angegebenen Wohnung abzuholen bitte. &Uuml;brigens k&ouml;nnen Sie einstweilen als
+Pfand diese Nadel hier mitnehmen.' Er zog dabei eine eigent&uuml;mliche,
+augenscheinlich sehr wertvolle Nadel aus seiner Krawatte und h&auml;ndigte
+sie der Dame ein, die, ohnehin durch sein Benehmen in Verlegenheit
+gesetzt, sich weigerte, sie anzunehmen, aber endlich nachgeben mu&szlig;te.
+Ein paar von den Herren, <span class='pagenum'><a name="Page_123" id="Page_123">[123]</a></span>die <tt>Dr.</tt> Deruga besser kannten als ich,
+sagten zu ihm, wenn jeder etwa f&uuml;nf Mark zeichnete, k&auml;me genug zusammen;
+es sei doch nicht die Absicht, die hinterbliebenen Arbeiterfrauen
+reicher zu machen, als man selbst sei. Er solle Vernunft annehmen und
+eine seinen Verh&auml;ltnissen angemessene Summe geben. Dadurch reizten sie
+<tt>Dr.</tt> Deruga noch mehr, er wurde w&uuml;tend und sprudelte im Zorne
+allerlei &Auml;u&szlig;erungen hervor, die ich nat&uuml;rlich nur ganz ungef&auml;hr
+wiedergeben k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende bat dies zu tun, soweit es sein Ged&auml;chtnis erlaubte.</p>
+
+<p>Herr Hase verbeugte sich zustimmend. &raquo;Er sagte also ungef&auml;hr so: 'Meine
+Verh&auml;ltnisse? Was wissen Sie von meinen Verh&auml;ltnissen? In Ihren Augen
+bin ich ein armer Teufel, und Sie glauben deshalb sich &uuml;ber mich zu
+am&uuml;sieren und mich bevormunden zu k&ouml;nnen. Sie sehen eine Art Hofnarren
+in mir, der dazu da ist, Sie zu unterhalten, &uuml;brigens aber keine
+Anspr&uuml;che zu stellen hat. Ich k&ouml;nnte ebenso wie Sie eine reiche Frau
+heiraten und w&auml;re dann in denselben Verh&auml;ltnissen wie Sie. &Uuml;brigens habe
+<span class='pagenum'><a name="Page_124" id="Page_124">[124]</a></span>ich das nicht einmal n&ouml;tig, denn ich kann jederzeit &uuml;ber das Verm&ouml;gen
+meiner geschiedenen Frau verf&uuml;gen. Nach ihrem Tode werde ich ein reicher
+Mann und wahrscheinlich ebenso geizig und habgierig wie Sie jetzt; also
+nehmen Sie mein Geld, solange ich noch arm bin, liebes Kind!' Ich bitte
+&uuml;brigens nochmals zu bedenken,&laquo; setzte Herr Hase hinzu, &raquo;da&szlig; ich
+erz&auml;hle, was die Erinnerung mir aufbewahrt hat oder mir vorspiegelt. Das
+beste wird sein, wenn Sie <tt>Dr.</tt> Deruga selbst befragen, ob er die
+von mir wiedergegebenen Worte als die seinigen anerkennt.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende hatte kaum den Kopf nach Deruga gewendet, als dieser
+vergn&uuml;gt ausrief: &raquo;Vorz&uuml;glich war die ganze Schilderung und eines so
+ausgezeichneten Schriftstellers w&uuml;rdig. Ich mache einen viel besseren
+Eindruck darin, als ich f&uuml;r m&ouml;glich gehalten h&auml;tte. Wahrscheinlich habe
+ich alles das gesagt, nur hat Herr Hase, anst&auml;ndig wie er ist, alle die
+Beschimpfungen weggelassen, die ich ihm pers&ouml;nlich an den Kopf geworfen
+habe, &uuml;ber seine Herzlosigkeit, Verlogenheit, Nichtigkeit und so
+weiter.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_125" id="Page_125">[125]</a></span>&raquo;Ich habe weggelassen, was nicht unbedingt zur Sache geh&ouml;rt,&laquo; sagte
+Herr Hase gegen den Pr&auml;sidenten gewendet, &raquo;allerdings h&auml;tte ich seine
+Ausf&auml;lle gegen mich vielleicht nicht ganz unterdr&uuml;cken sollen, weil
+daraus deutlich wird, wie sehr er im Augenblick der Erregung unter der
+Herrschaft seines Temperaments steht, und man nur sehr bedingterweise
+Schl&uuml;sse aus den &Auml;u&szlig;erungen ziehen darf, die er in solchen Augenblicken
+tut.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte um die Erlaubnis,&laquo; sagte Justizrat Fein, aufstehend, &raquo;dieser
+sehr richtigen Bemerkung des Zeugen eine &auml;hnliche hinzuzuf&uuml;gen. Das
+Ergebnis der eben vernommenen Aussage ist haupts&auml;chlich, da&szlig; man Deruga
+&uuml;berhaupt nicht zu ernst nehmen darf. Man mu&szlig; in Italien gewesen sein
+und die Italiener kennen, um ihn richtig zu beurteilen. Seine Reden
+erinnern zuweilen an das Pathos, mit dem ein italienischer Quacksalber
+auf dem Markte seine H&uuml;hneraugenpflaster anpreist: 'Meine Damen und
+Herren, und wenn Ihr leiblicher Bruder hier st&uuml;nde, er k&ouml;nnte Sie nicht
+ehrlicher bedienen, als ich es tue. Nicht um meinetwillen, um
+<span class='pagenum'><a name="Page_126" id="Page_126">[126]</a></span>Ihretwillen stehe ich hier, denn was bedeuten die paar Pfennige, die
+Sie mir geben, gegen das, was ich Ihnen verschaffe, ein schmerzloses
+Dasein, einen sieghaften Gang, die Gunst der Frauen, die Bewunderung der
+M&auml;nner!'&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend im Publikum gelacht wurde, legte <tt>Dr.</tt> Zeunemann seine
+Stirn in leichte Falten und sagte: &raquo;Man darf immerhin nicht vergessen,
+da&szlig; die Italiener als schlaue Leute von ihren nationalen
+Eigent&uuml;mlichkeiten sehr guten Gebrauch zu machen wissen, und da&szlig;, wer
+h&auml;ufig Masken tr&auml;gt, deshalb doch ein Gesicht hat, wenn auch mitunter
+schwer zu entscheiden sein mag, welches das echte ist. Ich will aber
+jetzt nicht Philosophie treiben, sondern Tatsachen feststellen, und da
+m&ouml;chte ich darauf hinweisen, da&szlig; uns von dem Angeklagten noch &auml;hnliche
+Ausspr&uuml;che bekannt geworden sind, die er in vollst&auml;ndigem seelischem
+Gleichgewicht machte. Ferner m&ouml;chte ich wissen, ob der Angeklagte damals
+die gezeichnete Summe gezahlt hat?&laquo;</p>
+
+<p>Herr Hase bedauerte, dar&uuml;ber keine Auskunft geben zu k&ouml;nnen. Auf der
+vordersten Reihe <span class='pagenum'><a name="Page_127" id="Page_127">[127]</a></span>der Geschworenensitze erhob sich Kommerzienrat Winkler
+und sagte: &raquo;Die gew&uuml;nschte Auskunft gibt uns vielleicht die Nadel in der
+Krawatte des Angeklagten. Es d&uuml;rfte die verpf&auml;ndete sein, die er also
+augenscheinlich ausgel&ouml;st hat!&laquo;</p>
+
+<p>Deruga best&auml;tigte, da&szlig; es die Nadel sei, die er gegen Bezahlung der
+genannten Summe zur&uuml;ckerhalten habe, zog sie heraus und bot sie zur
+Besichtigung an.</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie denn wirklich die dreihundert Mark gegeben?&laquo; fragte der
+Justizrat Fein. &raquo;Wie hatten Sie denn gleich soviel Geld &uuml;brig?&laquo; Deruga
+zuckte etwas ungeduldig die Schultern. &raquo;Glauben Sie denn,&laquo; sagte er,
+&raquo;ich h&auml;tte mir nicht jeden Augenblick dreihundert Mark verschaffen
+k&ouml;nnen? Ich brauchte mir zum Beispiel nur einen Vorschu&szlig; vom
+italienischen Konsulat geben zu lassen f&uuml;r &Uuml;bersetzungen, Untersuchungen
+oder dergleichen. Deruga hat Gehirn im Sch&auml;del und keine Kartoffeln.&laquo;</p>
+
+<p>Inzwischen hatte der Vorsitzende die Nadel betrachtet und fragte Herrn
+Hase, ob es dieselbe sei, die der Angeklagte an jenem Abend als Pfand
+<span class='pagenum'><a name="Page_128" id="Page_128">[128]</a></span>gegeben habe, was Peter Hase, nachdem er einen diskreten Blick darauf
+geworfen hatte, bejahte.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist ein auffallend sch&ouml;nes St&uuml;ck,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, in
+den Anblick der Nadel versunken, die einen Mohrenkopf mit Turban
+darstellte; der Kopf bestand aus einer schwarzen, der Turban aus einer
+wei&szlig;en Perle, und der letztere war reich mit Rubinen und Smaragden
+besetzt.</p>
+
+<p>&raquo;Ein Geschenk meiner verstorbenen Frau,&laquo; sagte Deruga, indem er die
+Nadel wieder in Empfang nahm. &raquo;Sie meinte, sie sei wie gemacht f&uuml;r einen
+Othello wie mich.&laquo;</p>
+
+<p>Nach diesem Zwischenfall fragte der Vorsitzende den Zeugen, ob er noch
+irgend etwas hinzuzuf&uuml;gen habe. &Uuml;ber Herrn Hases unbewegliches Gesicht
+ging zum ersten Male ein schwaches Err&ouml;ten; seine Aufmerksamkeit war
+n&auml;mlich durch die Baronin Truschkowitz abgelenkt worden, die, in der
+ersten Reihe der Zuschauer sitzend, sich weit vorgebeugt und die von dem
+Pr&auml;sidenten gehaltene Nadel mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit
+betrachtet hatte. Angeredet, drehte er sich erschreckt um und sagte,
+<span class='pagenum'><a name="Page_129" id="Page_129">[129]</a></span>da&szlig; er nichts mehr zur Sache mitzuteilen wisse, aber bereit sei, auf
+fernere Fragen zu antworten.</p>
+
+<p>Peter Hase verlie&szlig; nach Schlu&szlig; der Sitzung das Gerichtsgeb&auml;ude nicht,
+sondern wartete auf <tt>Dr.</tt> Zeunemann, stellte sich ihm vor und bat,
+ein paar Fragen an ihn richten zu d&uuml;rfen, worauf der
+Oberlandesgerichtsrat ihn in sein Zimmer mitnahm. Haupts&auml;chlich w&uuml;nschte
+Herr Hase zu wissen, welche Strafe den Angeklagten etwa treffen k&ouml;nnte,
+falls er wider Erwarten verurteilt w&uuml;rde.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, sehen Sie, Verehrtester,&laquo; antwortete <tt>Dr.</tt> Zeunemann, w&auml;hrend
+er seinen Talar mit dem Gehrock vertauschte, &raquo;bis jetzt geht die Anklage
+nur auf Totschlag, und dabei w&uuml;rde er mit ein paar Jahren Zuchthaus
+davonkommen. Aber unser Staatsanwalt sieht es eigentlich als Mord an,
+und wenn noch irgendein dahinzielendes Indizium auftaucht, kann die
+Geschichte bedenklich werden. Wenn zum Beispiel festgestellt w&uuml;rde, da&szlig;
+der Mann mit dem Inhalt des Testaments bekannt war, ja, dann w&uuml;rde die
+Meinung des Staatsanwalts wahrscheinlich durchdringen, und in <span class='pagenum'><a name="Page_130" id="Page_130">[130]</a></span>dem Falle
+w&uuml;rden wir auch sofort, so leid es mir tut, zur Verhaftung schreiten
+m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich fragen,&laquo; erkundigte sich Herr Hase, &raquo;wie Sie pers&ouml;nlich die
+Sache beurteilen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin zu sehr Psychologe,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;um nicht
+einen gewissen Anteil an problematischen Charakteren zu nehmen. Was f&uuml;r
+eine Grundfarbe dieses Cham&auml;leon eigentlich hat, dar&uuml;ber bin ich, um die
+Wahrheit zu sagen, noch nicht ins klare gekommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum sollte er &uuml;berhaupt eine Grundfarbe haben?&laquo; sagte Herr Hase
+verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig lebhaft. &raquo;Der schimmernde Wechsel ist die Natur dieses
+fabelhaften Gesch&ouml;pfes. Ich habe eine gro&szlig;e Sympathie f&uuml;r Cham&auml;leons,&laquo;
+f&uuml;gte er nach einer Pause hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe, ich verstehe,&laquo; erwiderte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;sch&ouml;n,
+aber schl&uuml;pfrig. Die &auml;sthetische Betrachtungsweise ist sehr verschieden
+von der moralischen und diese nicht immer identisch mit der
+juristischen.&laquo;</p>
+
+<p>Er war im Begriff, einen breitrandigen Filzhut vom Gestell zu nehmen,
+als es klopfte und <span class='pagenum'><a name="Page_131" id="Page_131">[131]</a></span>auf sein unwirsches Herein die Baronin Truschkowitz
+auf der Schwelle erschien, der der Staatsanwalt die T&uuml;r &ouml;ffnete.</p>
+
+<p>&raquo;Lieber Pr&auml;sident,&laquo; sagte sie rasch, indem sie ihm ihre in einem wei&szlig;en,
+festanliegenden Lederhandschuh steckende Hand reichte, &raquo;ich wei&szlig;, da&szlig; es
+im h&ouml;chsten Grade zudringlich ist, Sie in Ihrem Heiligtum und noch dazu
+um diese Zeit zu &uuml;berfallen, aber Sie sind zu ritterlich, um mich
+hinauszuwerfen, und ich bin zu unedel, um Ihre H&ouml;flichkeit nicht
+auszunutzen.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann stie&szlig; einen komischen Seufzer aus. &raquo;Machen Sie es
+wenigstens kurz, Frau Baronin,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>Sie lachte ein helles, jugendliches Lachen, in dem ein girrender Ton
+war, der etwas Verf&uuml;hrerisches hatte. &raquo;Ich mache es schon kurz,&laquo; sagte
+sie, &raquo;wenn nur Sie, Herr Pr&auml;sident, es nicht in die L&auml;nge ziehen. Es
+betrifft die Nadel, die Sie heute in der Hand hatten und jenem Menschen
+zur&uuml;ckgaben. Ich erkannte sie sofort wieder als ein Erbst&uuml;ck meiner
+Urgro&szlig;mutter, das hei&szlig;t, meiner und meiner verstorbenen <span class='pagenum'><a name="Page_132" id="Page_132">[132]</a></span>Kusine
+Urgro&szlig;mutter. Es ist mir unleidlich, dies kostbare Andenken in den
+H&auml;nden jenes Menschen zu wissen, und ich m&ouml;chte Sie bitten zu bewirken,
+da&szlig; sie mir eingeh&auml;ndigt wird.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihnen, Frau Baronin,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann erstaunt, &raquo;ja, geh&ouml;rt
+sie denn Ihnen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;ich bin bekanntlich die n&auml;chste
+Verwandte der Verstorbenen.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann war so betroffen, da&szlig; er sich unwillk&uuml;rlich setzte,
+nicht ohne auch der Baronin durch eine Geb&auml;rde einen Stuhl anzubieten.
+&raquo;Aber die Nadel geh&ouml;rte ja gar nicht Ihrer Kusine,&laquo; sagte er, &raquo;sie hatte
+f&uuml;r gut befunden, sie zu verschenken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Leider,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;aber hernach hat sie sich scheiden lassen,
+und in solcher Lage geben sich anst&auml;ndige Menschen ihre Geschenke
+zur&uuml;ck. Au&szlig;erdem hat er sie doch umgebracht! Da kann man ihn doch nicht
+ihre Nadel tragen lassen.&laquo;</p>
+
+<p>Die ratlosen Blicke, die der Oberlandesgerichtsrat mit dem Staatsanwalt
+wechselte, brachten sie durchaus nicht aus der Fassung. &raquo;Nun?&laquo; <span class='pagenum'><a name="Page_133" id="Page_133">[133]</a></span>fragte
+sie mit einem energisch aufmunternden Nicken. &raquo;Sie sehen, da&szlig; Sie es
+sind, der die Sache in die L&auml;nge zieht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da Sie mir befehlen kurz zu sein,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, der sich
+inzwischen gesammelt hatte, &raquo;so sage ich Ihnen rund heraus, da&szlig; Ihr
+Wunsch unerf&uuml;llbar ist. Selbst wenn <tt>Dr.</tt> Deruga verurteilt w&uuml;rde,
+k&ouml;nnten wir ihm nicht nehmen, was ihm geh&ouml;rt; aber noch ist er nicht
+verurteilt und hat einstweilen Ihre verstorbene Frau Kusine so wenig
+umgebracht wie &mdash; verzeihen Sie &mdash; wie Sie und ich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herr Pr&auml;sident,&laquo; rief die Dame mit einem vorwurfsvollen Blick ihrer
+graublauen Augen aus, &raquo;verlieren denn wirklich gerade die
+Rechtsgelehrten allen Sinn f&uuml;r das nat&uuml;rliche und menschliche Recht?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Recht wird Ihnen werden, Frau Baronin,&laquo; beeilte sich jetzt der
+Staatsanwalt zu versichern. &raquo;Ich bin &uuml;berzeugt, da&szlig;, wenn es unserer
+Einsicht und Arbeit nicht gelingen sollte, die Vorsehung selbst die
+Wahrheit ans Licht bringen wird.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_134" id="Page_134">[134]</a></span>&raquo;Und die Nadel?&laquo; fragte die Baronin. &raquo;Ich sammle solche Sachen, und das
+sch&ouml;nste St&uuml;ck, auf das ich Erbanspr&uuml;che habe, soll in den H&auml;nden eines
+solchen Menschen bleiben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Daf&uuml;r machen Sie Ihre Urgro&szlig;mutter, aber nicht uns verantwortlich,&laquo;
+sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann lachend, indem er aufstand und wieder nach
+seinem Hute griff.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind ein steinharter, gepanzerter, undurchdringlicher Jurist,&laquo;
+schmollte die Baronin.</p>
+
+<p>&raquo;Aber ein weicher, f&uuml;r die Reize sch&ouml;ner Damen sehr empf&auml;nglicher
+Mensch,&laquo; f&uuml;gte <tt>Dr.</tt> Zeunemann vers&ouml;hnlich hinzu.</p>
+
+<p>Als sie alle zusammen aufbrachen, bat die Baronin, mit Peter Hase
+bekannt gemacht zu werden. &raquo;Sie sind mir kein Fremder,&laquo; sagte sie
+liebensw&uuml;rdig zu ihm, &raquo;da ich Ihre B&uuml;cher kenne und bewundere. Es
+tr&ouml;stet mich &uuml;ber den abscheulichen Proze&szlig;, da&szlig; ich ihm eine so
+wertvolle Begegnung verdanke.&laquo;</p>
+
+<p>Sie forderte ihn auf, sie und ihren Mann im Hotel zu besuchen, falls er
+noch einige Zeit hierbleibe, und als sie ihren Wagen warten sah,
+<span class='pagenum'><a name="Page_135" id="Page_135">[135]</a></span>verabschiedete sie sich von den beiden anderen Herren, indem sie
+l&auml;chelnd sagte: &raquo;Ich bekomme die Nadel doch noch, das weissagt mir mein
+Gef&uuml;hl.&laquo;</p>
+
+<p>Die Herren gingen noch ein paar Schritte miteinander. &raquo;Wie reizend und
+anziehend,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;ist doch der g&auml;nzliche Mangel
+an Logik und Objektivit&auml;t an Frauen. Wenigstens f&uuml;r uns M&auml;nner.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und ihre Grausamkeit!&laquo; setzte Herr Hase anerkennend hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Ich halte sie mehr f&uuml;r gedankenlos,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Wie
+alt sch&auml;tzen Sie &uuml;brigens diese Frau? Sie hat eine erwachsene Tochter,
+da mu&szlig; sie doch schon zweiundvierzig Jahre alt sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eher &auml;lter,&laquo; sagte Peter Hase, &raquo;sie ist sehr gepflegt und sehr
+geschickt angezogen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich, nat&uuml;rlich,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;keine Arbeit, keine
+Sorgen, das erh&auml;lt jung.&laquo;</p>
+
+<p>Auch den Kommerzienrat Winkler besch&auml;ftigte die Baronin Truschkowitz,
+und er suchte eine Gelegenheit, <tt>Dr.</tt> Bernburger ein wenig nach ihr
+<span class='pagenum'><a name="Page_136" id="Page_136">[136]</a></span>auszufragen. &raquo;Sie hat Charme, Schick, Grazie,&laquo; sagte er zu ihm, &raquo;aber
+gef&auml;hrlich viel Temperament.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dazu bin ich ja da, um das zu kontrollieren,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Bernburger.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe beobachtet,&laquo; fuhr der Kommerzienrat fort, &raquo;da&szlig; sie es
+vermeidet, Deruga anzusehen, obschon sie sonst scharf aufpa&szlig;t. Sie setzt
+sich so, da&szlig; er nicht in ihr Gesichtsfeld kommt. Haben fr&uuml;her
+irgendwelche Beziehungen zwischen ihnen stattgefunden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie kennt ihn gar nicht,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;aber sie hat
+ihn von jeher geha&szlig;t.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also blinde Voreingenommenheit?&laquo; meinte Herr Winkler.</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;aber das macht ihn nicht
+besser.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat lachte. &raquo;Wie verh&auml;lt sich denn ihr Mann dazu?&laquo; fragte
+er.</p>
+
+<p>&raquo;O, er gibt ihr den Arm und ist neben ihr,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.
+&raquo;&Uuml;brigens ist er ein feiner Mensch. Selbst seine Dummheit hat etwas an
+sich, da&szlig; man unwillk&uuml;rlich den Hut vor ihr abnimmt.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_137" id="Page_137">[137]</a></span>&raquo;Dumm sein, mit der Frau!&laquo; sagte der Kommerzienrat, &raquo;na, ich
+gratuliere!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da k&ouml;nnen Sie sich t&auml;uschen,&laquo; entgegnete der Anwalt. &raquo;Ob sie Respekt
+vor ihm oder Grunds&auml;tze hat, wei&szlig; ich nicht. Vielleicht ist sie eine
+kalte Kokette.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat sch&uuml;ttelte sich. &raquo;Das w&auml;re nichts f&uuml;r mich,&laquo; sagte er.
+&raquo;Ich glaube, da m&ouml;chte ich noch lieber betrogen werden.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_138" id="Page_138">[138]</a></span></p>
+<h2><a name="V" id="V"></a><tt>V.</tt></h2>
+
+
+<p>Der Pr&auml;sident er&ouml;ffnete die Sitzung mit den Worten, da&szlig; die n&auml;chsten
+Zeugenverh&ouml;re sich mit der letzten Lebenszeit der verstorbenen Frau
+Swieter besch&auml;ftigen w&uuml;rden, und da&szlig; er hoffe, es w&uuml;rde von dieser Seite
+aus mehr Licht auf die noch nicht v&ouml;llig aufgekl&auml;rten Vorg&auml;nge fallen.
+Man sei bis jetzt davon ausgegangen, da&szlig; der Angeklagte von dem Inhalt
+des Testaments keine Kenntnis gehabt habe. Die einzige Person, die darum
+gewu&szlig;t habe, sei die n&auml;chste Freundin der Verstorbenen, Fr&auml;ulein
+Kunigunde Schwertfeger. Es sei nicht unm&ouml;glich, da&szlig; durch deren Aussage,
+falls sie n&auml;mlich die bisher beobachtete Zur&uuml;ckhaltung aufg&auml;be, das Bild
+erheblich ver&auml;ndert w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Es war f&uuml;r jedermann sichtbar, da&szlig; es Fr&auml;ulein Schwertfeger
+Selbst&uuml;berwindung kostete, den Saal zu betreten. Sie war einfach und
+nicht <span class='pagenum'><a name="Page_139" id="Page_139">[139]</a></span>nach der Mode gekleidet, eine unauff&auml;llige Erscheinung, die nur,
+wenn man sie eingehend betrachtete, Besonderheit und Reiz verriet.
+Beides fand man dann reichlich in den fast zu gro&szlig;en, offenen, grauen
+Augen, in der zu kurzen Nase, in dem kleinen, stets etwas ge&ouml;ffneten
+Munde und in dem Mienenspiel, das das ohnehin unregelm&auml;&szlig;ige Gesicht
+best&auml;ndig bewegte. Wahrscheinlich, weil sie sich einer kindlichen
+Unf&auml;higkeit zur Verstellung und einer Neigung unbedacht herauszuplaudern
+bewu&szlig;t war, wappnete sie sich unter Fremden gern mit Vorsicht und
+Verschwiegenheit, was ihr, verbunden mit der Scheu vor der
+&Ouml;ffentlichkeit, den Ausdruck eines kleinen Tieres im K&auml;fig gab, das
+gewohnt ist, geneckt zu werden und sich zur Wehr setzen zu m&uuml;ssen.</p>
+
+<p>Nachdem <tt>Dr.</tt> Zeunemann ihr den Eid abgenommen hatte, forderte er
+sie auf, das zur Aufkl&auml;rung des Falles Dienliche ohne Vorbehalt zu
+sagen. Es gebe Leute, f&uuml;gte er hinzu, die sich f&uuml;r wahrheitsliebend
+hielten und doch unter Umst&auml;nden ein Verschweigen, eine L&uuml;ge <span class='pagenum'><a name="Page_140" id="Page_140">[140]</a></span>f&uuml;r
+erlaubt, ja sogar f&uuml;r verdienstlich ans&auml;hen. &raquo;Geh&ouml;ren Sie zu denen?&laquo;
+fragte er.</p>
+
+<p>Sie z&ouml;gerte einen Augenblick und sagte dann, indem sie die gro&szlig;en Augen
+fest auf ihn richtete: &raquo;Ja, das tue ich.&laquo;</p>
+
+<p>Ihre kleinen, verarbeiteten und nicht sch&ouml;n geformten H&auml;nde schlangen
+sich dabei fest ineinander.</p>
+
+<p>&raquo;Das sind ja gute Aussichten,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Haben Sie,
+wenn ich fragen darf, von vornherein die Absicht, uns die Wahrheit nur
+in Ausz&uuml;gen und Bearbeitungen zuzuteilen?&laquo;</p>
+
+<p>Sie sch&uuml;ttelte den Kopf und l&auml;chelte, ein lustiges L&auml;cheln, das im Nu
+ihr ganzes Gesicht &uuml;berrieselte. &raquo;Nein, nein,&laquo; sagte sie treuherzig,
+&raquo;ich habe die Absicht, die Fragen, die Sie an mich richten werden, nach
+bestem Wissen und Verm&ouml;gen wahrheitsgem&auml;&szlig; zu beantworten. Es ist ja
+nicht gesagt, da&szlig; die vorhin erw&auml;hnten Umst&auml;nde hier vorliegen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun das ist brav,&laquo; sagte der Vorsitzende. &raquo;An die schweren Folgen eines
+Meineides <span class='pagenum'><a name="Page_141" id="Page_141">[141]</a></span>brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern. Nur das will ich
+sagen, da&szlig; wir kurzsichtigen Menschen allemal am besten tun, jede L&uuml;ge
+schlechthin f&uuml;r L&uuml;ge, im h&auml;&szlig;lichsten und abscheulichsten Sinne,
+anzusehen und uns an die Wahrheit zu halten. Die Folgen liegen in Gottes
+Hand. Jene Sophismen oder Trugschl&uuml;sse, die uns eine L&uuml;ge f&uuml;r geboten
+erscheinen lassen wollen, k&ouml;nnen gef&auml;hrliche Irrlichter sein.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger nickte ernsthaft.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie uns und den Herren Geschworenen zun&auml;chst ausf&uuml;hrlich
+erz&auml;hlen, was Sie von der Entstehung des Testamentes der verstorbenen
+Frau Swieter wissen! Da Sie von fr&uuml;her Jugend an miteinander befreundet
+waren, wird sie vor der Aufsetzung des Testamentes mit Ihnen davon
+gesprochen, vielleicht Sie um Ihren Rat gefragt haben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O nein,&laquo; antwortete Fr&auml;ulein Schwertfeger schnell, &raquo;sie sagte wohl
+immer: 'Was meinst du dazu, Gundel? Soll ich das tun, Gundel?' Aber das
+war nur eine Form der H&ouml;flichkeit oder Herzlichkeit. In wichtigen Dingen
+<span class='pagenum'><a name="Page_142" id="Page_142">[142]</a></span>beanspruchte sie nie Rat und h&auml;tte ihn nie angenommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Um Rat also hat sie nicht gefragt?&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Aber
+die Beweggr&uuml;nde ihres Willens wird sie doch angegeben haben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das hat sie getan,&laquo; antwortete Fr&auml;ulein Schwertfeger.</p>
+
+<p>&raquo;Die Verstorbene war schon seit acht Jahren krebsleidend,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Hat ihr das nicht schon fr&uuml;her, bevor sie das
+Testament aufsetzte, Anla&szlig; gegeben, &uuml;ber ihre letztwilligen Verf&uuml;gungen
+zu sprechen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit mir nie,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger. &raquo;Und ich glaube, &uuml;berhaupt
+nicht. Die &Auml;rzte suchten sie doch immer &uuml;ber den wahren Charakter ihres
+Leidens zu t&auml;uschen, und sie kam ihnen darin entgegen, erstens, weil ihr
+&uuml;berhaupt leicht etwas weiszumachen war, und dann, weil sie in diesem
+Falle das Bed&uuml;rfnis hatte, get&auml;uscht zu werden. Sie wollte leben und
+hoffen. Dazu kommt, da&szlig; sie sich nach einer Operation immer wieder
+vollkommen gesund f&uuml;hlte.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_143" id="Page_143">[143]</a></span>&raquo;Wie kam es denn,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;da&szlig; sie doch zuletzt an
+das Testament dachte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, das ist klar,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;weil es damals
+wirklich dem Ende zuging und sie das f&uuml;hlte. Als ihr vor einem Jahre der
+schreckliche Anfall kam, nach welchem sie nicht wieder aufgestanden ist,
+war sie sehr betroffen und wu&szlig;te, da&szlig; sie nicht wieder gesund werden
+w&uuml;rde. Sie sprach es nicht aus, aber ich f&uuml;hlte oft, da&szlig; sie es dachte.&laquo;</p>
+
+<p>Aufgefordert, den Vorgang ausf&uuml;hrlich zu schildern, erz&auml;hlte Fr&auml;ulein
+Schwertfeger:</p>
+
+<p>&raquo;Eines Nachmittags, da ich sie wie gew&ouml;hnlich besuchte, empfing sie mich
+mit den Worten, ich k&auml;me im rechten Augenblick. Sie habe eben
+beschlossen, ihr Testament zu machen, und ich m&uuml;sse ihr dabei behilflich
+sein. Wenn sie wieder gesund w&uuml;rde, so mache es ja nichts, aber sie
+m&uuml;sse doch auch die M&ouml;glichkeit in Betracht ziehen, da&szlig; sie diesmal
+nicht davonk&auml;me, und ohnehin sei es leichtfertig von ihr, so alt wie sie
+sei, es noch nicht getan zu haben. Es w&auml;re doch zu sinnlos, wenn die
+Verwandten ihr Geld <span class='pagenum'><a name="Page_144" id="Page_144">[144]</a></span>bek&auml;men, die ihr fast ganz fremd und die au&szlig;erdem
+reich w&auml;ren. Ich sagte, sterben w&uuml;rde sie noch lange nicht. Ich s&auml;he sie
+schon im Geiste vor mir, frisch und stark und leichtf&uuml;&szlig;ig wie fr&uuml;her.
+Darauf antwortete sie nichts, aber in ihren Augen sah ich, was sie
+dachte, und sie las wohl dasselbe in meinen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;War sie aufgeregt?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, indem sie mit einer heldenm&uuml;tigen
+Anstrengung die bei der Erinnerung aufsteigenden Tr&auml;nen verschluckte,
+&raquo;nicht besonders, nur im Anfang zitterte die Stimme ein wenig. Dann
+sagte ich, da&szlig; ich nicht gern mit Testamenten und solchen Sachen zu tun
+h&auml;tte, besonders wenn es sie anginge. Aber sie h&auml;tte ganz recht. Wenn
+man Verm&ouml;gen bes&auml;&szlig;e, m&uuml;sse man ein Testament machen, und sie h&auml;tte es
+schon l&auml;ngst tun sollen. Was sie denn mit ihrem Gelde vorh&auml;tte, wenn
+ihre Verwandten es nicht bekommen sollten? Sie wurde darauf sehr
+verlegen und machte eine lange Vorrede, ich w&uuml;rde gewi&szlig; erstaunt sein
+und sie auslachen und sie schelten, bis sie <span class='pagenum'><a name="Page_145" id="Page_145">[145]</a></span>mir endlich sagte, da&szlig; sie
+<tt>Dr.</tt> Deruga zu ihrem Erben einsetzen wollte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bitte, einen Augenblick,&laquo; unterbrach <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Ihre
+Freundin setzte voraus, da&szlig; der Entschlu&szlig; Sie &uuml;berraschen w&uuml;rde. Hatte
+sie fr&uuml;her einmal andere Pl&auml;ne ge&auml;u&szlig;ert? Wenn man Sie vorher nach den
+Absichten Ihrer Freundin gefragt h&auml;tte, h&auml;tten Sie gar keine Ahnung oder
+Meinung gehabt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Doch, das h&auml;tte ich,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger. &raquo;Ich hatte immer
+geglaubt, sie w&uuml;rde eine Stiftung f&uuml;r arme Kinder machen, zum Andenken
+an ihr eigenes verstorbenes Kind, und weil sie &uuml;berhaupt Kinder so sehr
+liebte. Sie pflegte zu sagen, schlecht ern&auml;hrte, traurige Kinder w&auml;ren
+ein Schandfleck der Gesellschaft. Sie ging darin so weit, da&szlig; sie jedes
+Kind, das sie zuf&auml;llig schreien h&ouml;rte, f&uuml;r ein mi&szlig;handeltes hielt. Ich
+sagte oft zu ihr, um sie zu tr&ouml;sten: 'Wei&szlig;t du, das ist wirklich ein
+eigensinniger Balg.' Aber im Grunde glaubte sie mir nicht. Wir hatten
+auch von Einrichtungen gesprochen, die man zugunsten armer Kinder machen
+k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_146" id="Page_146">[146]</a></span>&raquo;Erinnerten Sie sie denn nicht daran?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann,
+&raquo;oder hielt sie es nicht von selbst f&uuml;r n&ouml;tig, ihre Sinnes&auml;nderung zu
+erkl&auml;ren?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sagte, sie h&auml;tte bei Stiftungen immer den Verdacht, das Geld k&auml;me
+gar nicht denen zugute, f&uuml;r die man es bestimmt h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger stockte, nachdem sie dies erkl&auml;rt hatte, und war
+augenscheinlich ungewi&szlig;, ob sie noch was hinzuf&uuml;gen m&uuml;sse oder
+fortfahren d&uuml;rfe.</p>
+
+<p>&raquo;Und irgendeinen Weg, diese Gefahr zu vermeiden, hatte ihre Freundin nie
+ins Auge gefa&szlig;t?&laquo; ermunterte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>Das Fr&auml;ulein fa&szlig;te nach kurzem Kampfe augenscheinlich Mut und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Sie hatte die Absicht gehabt, ihr Verm&ouml;gen mir zu vermachen, sowohl,
+damit ich mein Leben bequemer einrichten k&ouml;nnte &mdash; meine Freundin stellte
+sich das Leben einer Zeichenlehrerin n&auml;mlich sehr m&uuml;hsam vor &mdash; und dann,
+weil sie wu&szlig;te, ich w&uuml;rde in ihrem Sinne damit f&uuml;r arme Kinder wirken.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_147" id="Page_147">[147]</a></span>&raquo;Ja so!&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;Ihnen hatte sie ihr Verm&ouml;gen
+vermachen wollen. Das ist doch aber keine Kleinigkeit, wenn man in einer
+solchen Sache pl&ouml;tzlich umschwenkt. Das mu&szlig; sie Ihnen doch erkl&auml;rt und
+entschuldigt haben?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger machte ein stolz abwehrendes Gesicht. &raquo;Das mu&szlig;te
+sie gar nicht,&laquo; sagte sie, &raquo;wir waren doch befreundet. Allerdings
+bedr&uuml;ckte es sie, und sie wollte mir weitl&auml;ufig auseinandersetzen, warum
+sie so handelte. Sie h&auml;tte einmal geh&ouml;rt, da&szlig; es <tt>Dr.</tt> Deruga
+schlecht ginge, und da&szlig; er sehr heruntergekommen w&auml;re, und daran m&uuml;sse
+sie fortw&auml;hrend denken. Er sei der Vater ihres geliebten Kindes und
+h&auml;tte sie liebgehabt, und sie k&ouml;nne sich noch immer nicht von dem
+Gedanken entw&ouml;hnen, da&szlig;, was ihr geh&ouml;re, eigentlich auch sein sei. Kurz,
+sie w&uuml;rde nicht ruhig sterben k&ouml;nnen, wenn sie ihn nicht durch ihr
+Verm&ouml;gen vor Not gesch&uuml;tzt wisse. Nat&uuml;rlich lie&szlig; ich sie gar nicht
+ausreden, sondern tr&ouml;stete sie und versicherte sie, da&szlig; das Geld mich
+nur in Verlegenheit setzen w&uuml;rde, weil ich denken w&uuml;rde, ich m&uuml;sse es
+irgendwie ausgeben und <span class='pagenum'><a name="Page_148" id="Page_148">[148]</a></span>wisse nicht wie, und da&szlig; ich mein Leben nicht
+anders einrichten m&ouml;chte, weil ich es einmal so gew&ouml;hnt w&auml;re und ich
+mich wohl dabei f&uuml;hlte. Das Geld w&uuml;rde mich nur an ihren Verlust
+erinnern und mir dadurch verha&szlig;t werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist doch aber sonderbar,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; Ihre Freundin
+Ihnen nicht wenigstens ein Legat ausgesetzt hat wie ihrem
+Dienstm&auml;dchen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das unterlie&szlig; sie auf meinen Wunsch,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger kurz.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte einen Augenblick ums Wort,&laquo; schaltete pl&ouml;tzlich der
+Staatsanwalt ein. &raquo;Nach der Darstellung der Zeugin hatte ich den
+Eindruck, als habe die von ihr mitgeteilte Unterredung, der sich die
+Abfassung des Testamentes anschlo&szlig;, gleich nach der letzten, schweren
+Erkrankung ihrer Freundin, also im M&auml;rz oder April, stattgefunden.
+Dagegen ist das vorliegende Testament vom 19. September, also vierzehn
+Tage vor dem Tode derselben, datiert.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger entgegnete nichts, sondern warf nur einen langen,
+feindseligen Blick <span class='pagenum'><a name="Page_149" id="Page_149">[149]</a></span>auf den Fragesteller, wie auf einen unberufenerweise
+sich Einmischenden, und sah dann wieder den Vorsitzenden an.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie uns dar&uuml;ber aufkl&auml;ren, mein Fr&auml;ulein,&laquo; bat dieser
+freundlich.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Freundin schrieb das Testament zuerst im Fr&uuml;hling,&laquo; sagte
+Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;und am 19. September schrieb sie es noch einmal
+ab.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es blieb also unver&auml;ndert?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Freundin erh&ouml;hte die Summe, die sie der Ursula, ihrem
+Dienstm&auml;dchen, ausgesetzt hatte,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger.</p>
+
+<p>&raquo;Vermutlich,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;hatte das M&auml;dchen sie w&auml;hrend
+ihrer schweren Krankheit so gut verpflegt, da&szlig; sie ihre Dankbarkeit mehr
+zum Ausdruck bringen wollte.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger nickte und sah den Vorsitzenden herzlich an.
+&raquo;Daf&uuml;r,&laquo; setzte sie hinzu, &raquo;fiel jetzt auf meinen Wunsch das Legat fort,
+das in der ersten Fassung mir ausgesetzt war.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_150" id="Page_150">[150]</a></span>&raquo;Wenn es so weiter geht, wird unvermerkt noch ein ganz neues Testament
+aus der unver&auml;nderten Abschrift,&laquo; bemerkte der Staatsanwalt mit
+diabolischem Kichern.</p>
+
+<p>&raquo;Sie hatten also anf&auml;nglich nichts gegen das Legat einzuwenden gehabt,&laquo;
+sagte der Vorsitzende. &raquo;Aus welchem Grunde lehnten Sie es jetzt ab? Es
+war doch nichts zwischen Sie und Ihre Freundin getreten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O nein, nein,&laquo; beteuerte Fr&auml;ulein Schwertfeger lebhaft. &raquo;Ich gab nur
+damals nach, um sie nicht aufzuregen; aber ich beschlo&szlig; von Anfang an,
+das Legat gelegentlich r&uuml;ckg&auml;ngig zu machen, weil es mir nicht pa&szlig;te.&laquo;
+Da sie das sp&ouml;ttisch-ungl&auml;ubige L&auml;cheln des Staatsanwalts bemerkte, warf
+sie mit einer kleinen, trotzigen Geb&auml;rde den Kopf zur&uuml;ck und pre&szlig;te die
+Lippen zusammen.</p>
+
+<p>Nach einer Pause nahm der Vorsitzende das Verh&ouml;r wieder auf, indem er
+fragte: &raquo;Ist die Verstorbene in der Folge, ich meine nach der ersten
+Abfassung, noch &ouml;fters auf das Testament zur&uuml;ckgekommen?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_151" id="Page_151">[151]</a></span>&raquo;Nein,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger entschieden. &raquo;Es war kein
+angenehmer Gespr&auml;chsgegenstand f&uuml;r uns beide.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt lachte h&ouml;rbar, als wolle er sagen, es scheine auch
+jetzt keiner f&uuml;r sie zu sein, worauf sie einen vernichtenden Blick nach
+der Richtung seines Platzes warf.</p>
+
+<p>&raquo;Hat Frau Swieter Ihnen nie erz&auml;hlt oder Andeutungen gemacht,&laquo; fragte
+der Vorsitzende mit freundlicher Dringlichkeit, &raquo;ob irgendein besonderer
+Anla&szlig; vorlag, der sie bewog, ihr Testament zugunsten des Angeklagten zu
+machen? Sie sprach, wie Sie erz&auml;hlten, davon, da&szlig; es ihm schlecht ginge,
+da&szlig; er heruntergekommen sei. Wie war ihr das zu Ohren gekommen? Hatten
+sich vielleicht Gl&auml;ubiger von ihm an sie gewendet? Oder sollte er selbst
+sie um Geld angegangen haben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wei&szlig; ich nicht,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;aber ich glaube es
+nicht, weil sie es mir gewi&szlig; erz&auml;hlt haben w&uuml;rde. Sie h&auml;tte mir dadurch
+ihr Testament ja viel leichter erkl&auml;ren k&ouml;nnen. Da&szlig; es Herrn <tt>Dr.</tt>
+Deruga nicht gut <span class='pagenum'><a name="Page_152" id="Page_152">[152]</a></span>ging, wu&szlig;te sie schon lange; es gibt unz&auml;hlige Wege,
+auf denen einem solche Ger&uuml;chte zu Ohren kommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sprach Ihre Freundin zuweilen mit Ihnen &uuml;ber den Angeklagten?&laquo; fragte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, fast nie,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger. &raquo;Sie glaubte, da&szlig; ich
+kein Verst&auml;ndnis f&uuml;r ihn h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also,&laquo; fiel der Staatsanwalt ein, &raquo;konnten sehr wohl Beziehungen
+zwischen Ihrer Freundin und ihrem geschiedenen Gatten bestehen, ohne da&szlig;
+Sie Kenntnis davon hatten.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger warf den Kopf zur&uuml;ck und kr&auml;uselte ver&auml;chtlich
+ihre kurze Oberlippe.</p>
+
+<p>&raquo;Es soll selbstverst&auml;ndlich nichts Nachteiliges &uuml;ber Ihre Freundin
+ge&auml;u&szlig;ert werden,&laquo; sagte der Vorsitzende vermittelnd. &raquo;Immerhin k&ouml;nnte
+sie Ihnen etwas verschwiegen haben, um nicht ein tadelndes Urteil von
+Ihnen h&ouml;ren zu m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;M&ouml;glich w&auml;re das,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;aber sehr
+unwahrscheinlich. Es liegt jedenfalls kein Grund vor, so etwas
+anzunehmen. Ihr Verm&ouml;gen vermachte sie ihm einfach, weil <span class='pagenum'><a name="Page_153" id="Page_153">[153]</a></span>er der Vater
+ihres Kindes war und sie, ihrer Meinung nach, geliebt hatte. Ich
+erinnere mich, da&szlig; sie fr&uuml;her einmal sagte, die Ehe w&auml;re ihrem Wesen
+nach unaufl&ouml;slich, wenn sie durch Kinder befestigt w&auml;re, und als jemand
+widersprach, sagte sie, vielleicht w&auml;re das nicht allgemein g&uuml;ltig, aber
+sie h&auml;tte die Erfahrung an sich gemacht. Meine Freundin war ihrer
+anschmiegenden Natur nach nicht geeignet, alleinzustehen, und vielleicht
+hatte sie sich unbewu&szlig;t diese Theorie gebildet, um sich wenigstens
+seelisch noch gebunden zu f&uuml;hlen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ich Sie nicht schon &uuml;ber Geb&uuml;hr angestrengt habe,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann h&ouml;flich, &raquo;m&ouml;chte ich Sie bitten, uns zu erkl&auml;ren,
+wie es kommt, da&szlig; Sie und Frau Swieter, so vertraut sie miteinander
+waren, in der Beurteilung des Angeklagten so sehr voneinander abwichen.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger lachte ein wenig. &raquo;Warum ein Mensch einen anderen
+liebt, versteht der Dritte selten. Au&szlig;erdem kann man wohl selbst einem
+Menschen das Unrecht verzeihen, <span class='pagenum'><a name="Page_154" id="Page_154">[154]</a></span>das er einem getan hat; die Freunde
+aber werden am wenigsten dazu geneigt sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Danach sind Sie der Meinung,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; der
+Angeklagte an dem ehelichen Zerw&uuml;rfnis schuld war?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er qu&auml;lte sie durch sein launisches, ma&szlig;loses Wesen,&laquo; sagte Fr&auml;ulein
+Schwertfeger mit Zur&uuml;ckhaltung.</p>
+
+<p>&raquo;Trotzdem, und da Frau Swieter seinerzeit selbst auf der Scheidung
+bestand,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;scheint es, da&szlig; sie fortfuhr, an ihrem
+geschiedenen Manne zu h&auml;ngen. K&ouml;nnen Sie, als ihre Freundin, uns
+vielleicht zum Verstehen dieses Widerspruches helfen?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger dachte eine Weile nach und sagte dann:</p>
+
+<p>&raquo;Widerspr&uuml;che gibt es in jedem einzelnen Menschen und um so mehr in den
+Beziehungen zwischen zweien. Als meine Freundin noch verheiratet war,
+schenkte sie ihrem Manne einmal ein Buch zum Geburtstage; und als er
+eine Widmung darin haben wollte, schrieb sie auf das erste Blatt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza"><span class='pagenum'><a name="Page_155" id="Page_155">[155]</a></span>
+<span class="i0">'Deruga, du bist eben<br /></span>
+<span class="i0">So sch&ouml;n als wunderlich.<br /></span>
+<span class="i0">Man kann nicht ohne dich<br /></span>
+<span class="i0">Und auch nicht mit dir leben.'<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Es ist ein Epigramm, das Lessing auf eine gewisse Klothilde gemacht
+hat.&laquo;</p>
+
+<p>Die Zuh&ouml;rer lachten, aber <tt>Dr.</tt> Zeunemann blieb ganz ernst. &raquo;Noch
+mit einer Frage m&ouml;chte ich Sie bel&auml;stigen,&laquo; sagte er. &raquo;Frau Swieter soll
+au&szlig;erordentlich furchtsam gewesen sein. Die Furcht vor dem hitzigen
+Temperament ihres Gatten soll sie mit zur Scheidung bewogen haben.
+Glauben Sie, da&szlig; sie sich auch nach der Scheidung noch vor ihm
+gef&uuml;rchtet hat?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O nein, vor Deruga nicht,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger mit &Uuml;berzeugung.
+&raquo;Vor ein paar Jahren las sie einmal in der Zeitung, da&szlig; ein Mann seiner
+von ihm geschiedenen Frau aufgelauert und sie erstochen habe. Mit Bezug
+darauf sagte sie, das k&auml;me h&auml;ufig vor, und Frauen, die sich von ihren
+M&auml;nnern trennen wollten oder getrennt h&auml;tten, m&uuml;&szlig;ten eigentlich
+irgendwie gesch&uuml;tzt werden. Ich sagte, sie solle doch <span class='pagenum'><a name="Page_156" id="Page_156">[156]</a></span>die dummen
+Zeitungen nicht lesen, die H&auml;lfte von allem, was darin st&uuml;nde, w&auml;re
+erlogen. Da lachte sie und sagte, ich meinte wohl, sie f&uuml;rchtete sich?
+Und dann erkl&auml;rte sie mir, Deruga sei zwar bei den kleinen Reibungen,
+die im Zusammenleben unvermeidlich w&auml;ren, ma&szlig;los heftig gewesen und auch
+nicht frei von Rachsucht, aber von langer Dauer sei das nie gewesen, und
+sie sei gewi&szlig;, da&szlig; er gegen sie keinen Groll hege. Daher wei&szlig; ich
+bestimmt, da&szlig; sie keinerlei Furcht vor ihm hatte. Im allgemeinen
+allerdings war sie sehr furchtsam und bevorzugte zum Beispiel zum Wohnen
+den dritten Stock, weil sie da vor Einbrechern am gesch&uuml;tztesten zu sein
+glaubte. Sie f&uuml;rchtete sich auch sehr vor dem Tode, obwohl sie ihn
+andererseits als eine Wiedervereinigung mit ihrem Kinde ersehnte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vermutlich f&uuml;rchtete sie nicht den Tod, sondern das Sterben,&laquo; sagte der
+Vorsitzende, &raquo;das sie sich als qualvoll vorstellte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; stimmte Fr&auml;ulein Schwertfeger zu, &raquo;sie hatte gro&szlig;e Angst vor
+Schmerzen und mu&szlig;te doch so schrecklich aushalten.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_157" id="Page_157">[157]</a></span>Der Staatsanwalt fragte, ob die Kranke infolge der Schmerzen jemals
+St&ouml;rungen oder Tr&uuml;bungen des Bewu&szlig;tseins gehabt h&auml;tte.</p>
+
+<p>&raquo;O nein,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger mit einem L&auml;cheln, den Blick auf
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann gerichtet, &raquo;sie klagte im Gegenteil zuweilen
+dar&uuml;ber, da&szlig; ihr Kopf bei den gr&ouml;&szlig;ten Qualen stets klar bleibe. Einmal
+fragte sie mich, ob ich sie lieb genug h&auml;tte, um ihr ein Gift zu geben,
+das sie von ihrem Leiden erl&ouml;ste. Ich war sehr erschrocken und sagte,
+ich h&auml;tte sie zu lieb dazu, ich k&ouml;nnte so etwas nicht denken, geschweige
+denn es tun. Dann erinnerte ich sie daran, wie sie sich doch des Lebens
+wieder freuen k&ouml;nne, sobald ihr besser sei, und da&szlig; sie vielleicht
+wieder ganz gesund w&uuml;rde, und wie bald dann die Schmerzen vergessen sein
+w&uuml;rden, so wie ich sie kennte. Da lachte sie und tr&ouml;stete mich und
+sagte, ich h&auml;tte ganz recht, sie hoffe noch einmal zu prahlen mit dem,
+was sie so tapfer ausgehalten h&auml;tte. Es gab jedenfalls keinen
+Augenblick, in dem sie nicht genau gewu&szlig;t h&auml;tte, was sie tat.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_158" id="Page_158">[158]</a></span>&raquo;Es er&uuml;brigt nun noch eine Frage, deren Antwort im verneinenden Sinne
+mir zwar schon in Ihren &uuml;brigen Aussagen inbegriffen scheint, die ich
+aber doch ausdr&uuml;cklich stellen mu&szlig;: Hat Frau Swieter ihren geschiedenen
+Mann von dem Inhalt ihres Testamentes in Kenntnis gesetzt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wei&szlig; ich nicht,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger. &raquo;Ich glaube es auch
+nicht. Wozu sollte sie es getan haben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wollen wir zun&auml;chst dahingestellt sein lassen,&laquo; sagte der
+Vorsitzende. &raquo;Gesetzt den Fall, sie h&auml;tte es ihm mitteilen wollen, so
+h&auml;tte sie ihm schreiben m&uuml;ssen. Da sie in jener Zeit nicht mehr
+aufstand, geschweige denn ausging, mu&szlig;te sie den Brief irgend jemandem
+zur Besorgung geben. Durch Sie hat sie es also nicht getan?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger.</p>
+
+<p>&raquo;Hat sie Ihnen &uuml;berhaupt nie Briefe zur Besorgung mitgegeben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;ich erinnere mich nicht;
+aber keinen an <tt>Dr.</tt> Deruga.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er konnte vielleicht anders adressiert sein, um Sie irrezuf&uuml;hren?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_159" id="Page_159">[159]</a></span>&raquo;O nein,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, die Stirn faltend, &raquo;das h&auml;tte
+sie vorher mit ihm verabreden m&uuml;ssen. Solche Schleichwege h&auml;tte sie
+nicht gew&auml;hlt, daf&uuml;r stehe ich ein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube Ihnen, Fr&auml;ulein Schwertfeger,&laquo; sagte der Vorsitzende nach
+einer kleinen Pause. &raquo;Ich verlasse mich auf Ihre Wahrheitsliebe. Sie
+sind Lehrerin, die Jugend ist Ihrem Einflu&szlig; anvertraut, Sie genie&szlig;en die
+Liebe und Verehrung Ihrer Sch&uuml;lerinnen sowohl wie der Eltern derselben
+und werden das nicht um eines Hirngespinstes willen verschweigen wollen.
+Sie haben also weder dem Angeklagten im Auftrage Ihrer Freundin von dem
+Inhalte ihres Testamentes Mitteilung gemacht, noch haben Sie einen Brief
+Ihrer Freundin besorgt, in welchem diese Mitteilung enthalten war oder
+allenfalls h&auml;tte enthalten sein k&ouml;nnen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind also &uuml;berzeugt, da&szlig; der Angeklagte von dem Testamente keine
+Kenntnis hatte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin &uuml;berzeugt davon,&laquo; antwortete sie.</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann bedachte sich und sagte, er <span class='pagenum'><a name="Page_160" id="Page_160">[160]</a></span>wolle das Verh&ouml;r damit
+abschlie&szlig;en, sie w&uuml;rde ohnehin erm&uuml;det sein. In der Tat sah sie sehr
+bla&szlig; aus, so da&szlig; ihre gro&szlig;en Augen beinah schwarz schienen.</p>
+
+<p>&raquo;O ja, ich bin sehr m&uuml;de,&laquo; sagte sie, &raquo;darf ich gehen?&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann erkl&auml;rte ihr, da&szlig; sie zwar jetzt, da Mittagspause
+sei, wie alle anderen gehen d&uuml;rfe, da&szlig; er aber f&uuml;r die Dauer des
+Prozesses um ihre Anwesenheit bitten m&uuml;sse, worauf sie sich durch eine
+kurze Neigung des Kopfes verabschiedete.</p>
+
+<p>&raquo;Ein wackeres Altj&uuml;ngferchen,&laquo; sagte Justizrat Fein zu Deruga, &raquo;obwohl
+sie nicht die beste Meinung von Ihnen hat.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gute, dumme Gans,&laquo; antwortete dieser kurz. Er hatte mit aufgest&uuml;tztem
+Kopf und verdecktem Gesicht dagesessen und richtete sich jetzt auf wie
+jemand, der in dem Labyrinth einer dunklen Musik versunken war, wenn sie
+pl&ouml;tzlich abrei&szlig;t. Der stechende Blick, den er durch den Saal gleiten
+lie&szlig;, blieb zuf&auml;llig an der Baronin Truschkowitz h&auml;ngen, die, eben im
+Aufstehen begriffen, <span class='pagenum'><a name="Page_161" id="Page_161">[161]</a></span>ihrem einige Pl&auml;tze von ihr entfernt sitzenden
+Anwalt ein Zeichen mit den Augen gab, und er sagte: &raquo;Unausstehliche
+Person; pa&szlig;t ganz zu der schmutzigen Sache, die sie vertritt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na, wissen Sie,&laquo; entgegnete der Justizrat. &raquo;Da&szlig; die Baronin sich ungern
+ein Verm&ouml;gen entwinden l&auml;&szlig;t, auf das sie gerechnet hatte, ist
+menschlich, und da&szlig; sie Ihnen allerhand B&ouml;ses zutraut, um so eher zu
+entschuldigen, als sie Sie nicht kennt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Halten Sie das f&uuml;r eine Entschuldigung?&laquo; sagte Deruga scharf. &raquo;Weil sie
+selbst gierig ist, kann sie sich auch bei anderen kein anderes Motiv
+vorstellen; das ist ihre Menschenkenntnis. Ekelhaft!&laquo;</p>
+
+<p>Die Besprochene war unterdessen auf die Freitreppe des Gerichtsgeb&auml;udes
+gelangt und blickte durch die Lorgnette ungeduldig um sich. &raquo;Ich bin
+ganz erregt&laquo;, sagte sie zu <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;&uuml;ber die Art und
+Weise, wie man mit diesem Fr&auml;ulein umgeht. Sie mag ja &uuml;brigens ein
+anst&auml;ndiges M&auml;dchen sein. Aber es ist klar, da&szlig; sie nicht die Wahrheit
+sagt, und ich begreife nicht, da&szlig; man das so gehen l&auml;&szlig;t.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_162" id="Page_162">[162]</a></span>&raquo;Ja, das ist eine heikle Sache, Gn&auml;digste,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Bernburger, &raquo;die Folter ist l&auml;ngst abgeschafft.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das war eben sehr voreilig,&laquo; sagte die Baronin. &raquo;Die Alten waren in
+vieler Hinsicht kl&uuml;ger als wir und wu&szlig;ten recht gut, warum sie sie
+anwendeten. Aber wir m&uuml;ssen doch auch Mittel haben, um die Wahrheit aus
+den Leuten herauszubringen. Ich w&uuml;rde ganz anders vorgehen, wenn ich der
+Pr&auml;sident w&auml;re. Aber Sie kommen mir zerstreut vor, Herr Doktor.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Im Gegenteil,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;ich bin vertieft in unser
+Problem.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und haben Sie bemerkt,&laquo; fuhr die Baronin fort, &raquo;da&szlig; sie gerade das
+zugab, was sie bestreiten wollte, n&auml;mlich da&szlig; meine Kusine sich vor
+ihrem geschiedenen Mann f&uuml;rchtete? Und wie interessant, da&szlig; die M&auml;nner
+eine Neigung haben, ihre geschiedene Frau umzubringen! Man mu&szlig; es sich
+doch sehr &uuml;berlegen, ehe man den Schritt tut.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich hoffe, Kind,&laquo; sagte der neben ihr stehende Baron gutm&uuml;tig, &raquo;das ist
+nicht der einzige Grund, der dich abh&auml;lt, dich scheiden zu lassen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_163" id="Page_163">[163]</a></span>Sie sah ihn mit einem L&auml;cheln an, in dem ein leichter Spott lag, und
+sagte: &raquo;Nein, mein Teurer, du bist viel zu ritterlich, als da&szlig; ich mich
+vor dir f&uuml;rchten k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p>Gleichzeitig winkte sie dem wartenden Schoff&ouml;r, das Auto n&auml;her
+heranzulenken, und entlie&szlig; ihren Anwalt mit fl&uuml;chtigem Gru&szlig;.</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt hatte sich beim Verlassen des Saales an <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann geh&auml;ngt und begleitete ihn unter vorwurfsvollen Reden in sein
+Zimmer. Es sei klar, sonnenklar, sagte er, da&szlig; dies Muster &mdash; er meinte
+Fr&auml;ulein Schwertfeger &mdash; den Brief besorgt habe. Das Muster habe keine
+&Uuml;bung im L&uuml;gen. Er wolle gerecht sein, aber gelogen habe sie. Da m&uuml;sse
+eingeschritten werden! Oder ob wieder einmal durch die Gunst der Frauen
+ein Elender der verdienten Strafe entzogen werden solle? Dieser Mensch
+besitze die Gunst der Frauen, und im Leben wie im Salon h&auml;nge ja
+heutzutage der Mann von der Gunst der Frauen ab. Ob es denn aber nicht
+zum Himmel schreie, wenn auch das Recht durch Weiberlaunen gemacht
+w&uuml;rde!</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_164" id="Page_164">[164]</a></span>Der Staatsanwalt rang w&auml;hrend dieser Reden die H&auml;nde und fuhr sich
+durch die langen, d&uuml;nnen Haare, die verwildert nach allen Seiten hingen.</p>
+
+<p>&raquo;Beruhigen Sie sich, Herr Kollege,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann
+mi&szlig;billigend, &raquo;bei Fr&auml;ulein Schwertfeger trifft Ihre Zwangsvorstellung
+von der Gunst der Frauen nicht zu, sie hat offenbar eine Abneigung gegen
+ihn.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Worte!&laquo; rief der Staatsanwalt verzweifelt. &raquo;Worte, Worte! In der Tat
+beg&uuml;nstigt sie ihn. Wahrscheinlich hat sie selbst an ihn geschrieben.
+Ist es nicht sonnenklar?&laquo; wendete er sich an die beiden Beisitzer.</p>
+
+<p>Diese best&auml;tigten, da&szlig; ihnen das Verhalten von Fr&auml;ulein Schwertfeger
+auffallend vorgekommen sei; aber es lie&szlig;e sich auch anders, zum Beispiel
+durch die den Frauen eigent&uuml;mliche Scheu vor der &Ouml;ffentlichkeit,
+erkl&auml;ren.</p>
+
+<p>&raquo;Ach Gott,&laquo; jammerte der Staatsanwalt, &raquo;wohin soll das f&uuml;hren, wenn ein
+so sch&auml;biges altes Muster schon den Scharfblick bew&auml;hrter Juristen
+tr&uuml;ben kann!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_165" id="Page_165">[165]</a></span>&raquo;Lieber Herr Kollege,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, nach der Uhr sehend,
+&raquo;Sie bed&uuml;rfen ebenso wie wir des Mittagessens und der Mittagsruhe.
+Schlafen Sie ein Viertelst&uuml;ndchen! Und k&uuml;nftig bitte ich Sie die Fragen
+zu stellen, die Sie f&uuml;r zweckm&auml;&szlig;ig halten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was hilft es, Fragen zu stellen, wenn man mit L&uuml;gen abgespeist wird?&laquo;
+sagte der Staatsanwalt bitter. &raquo;Ich wei&szlig; jetzt, was ich wissen wollte,
+n&auml;mlich da&szlig; es sich so verh&auml;lt, wie ich von Anfang sagte: es war kein
+Totschlag, sondern vorbedachter Mord. Als er erfuhr, da&szlig; sie ihm ihr
+Verm&ouml;gen vermacht hatte, beschlo&szlig; er sie zu t&ouml;ten, ehe sie etwa, durch
+ihre Verwandten beeinflu&szlig;t, anderen Sinnes werden und das Testament
+umsto&szlig;en k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Soll ich Ihnen Ihre Insinuationen zur&uuml;ckgeben,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann, &raquo;und den Argwohn &auml;u&szlig;ern, da&szlig; Sie die Dinge durch eine von der
+Baronin Truschkowitz aufgesetzte Brille ansehen? Vergleicht man ihre
+Reize mit denen des Fr&auml;uleins Schwertfeger, so erscheint dieser Verdacht
+beinahe begr&uuml;ndet.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_166" id="Page_166">[166]</a></span>Der Staatsanwalt, dem die Neckerei augenscheinlich schmeichelte, mu&szlig;te
+lachen. Indessen, f&uuml;gte er brummend hinzu, ein Proze&szlig;, bei dem Weiber
+beteiligt w&auml;ren, arte immer in Tratsch aus, es m&uuml;&szlig;ten ihm aber alle
+bezeugen, da&szlig; er von Anfang an der &Uuml;berzeugung gewesen sei, es handele
+sich um Mord.</p>
+
+<p>Ja, sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, und er bezeuge freiwillig noch dazu, da&szlig;
+der Staatsanwalt in seine ersten &Uuml;berzeugungen verliebt zu sein pflege,
+wie eine Mutter in ihr Kind, bis das zweite k&auml;me und jenes verdr&auml;ngte.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_167" id="Page_167">[167]</a></span></p>
+<h2><a name="VI" id="VI"></a><tt>VI.</tt></h2>
+
+
+<p>&raquo;Ursula Z&uuml;ger, achtunddrei&szlig;ig Jahre alt, seit neunzehn Jahren im Dienst
+der verstorbenen Frau Swieter,&laquo; begann der Pr&auml;sident.</p>
+
+<p>Ursula Z&uuml;ger blickte mit &uuml;berlegenem L&auml;cheln in die Runde. Ihr dampft
+vor Gier nach den Tatsachen, die nur ich berichten kann, schien ihre
+Miene zu sagen; fallt nur her &uuml;ber die Beute und s&auml;ttigt euch, ich
+denke, sie soll euch schmecken.</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen bei so langem Zusammenleben mit allen Verh&auml;ltnissen der Frau
+Swieter sehr vertraut gewesen sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das will ich meinen,&laquo; sagte Ursula, &raquo;was meine Gn&auml;dige angeht, das wei&szlig;
+ich von Anfang bis zu Ende, das gibt es nicht anders.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hat die Verstorbene zuweilen von der Vergangenheit, ich meine, von der
+Zeit ihrer Ehe mit dem Angeklagten, mit Ihnen gesprochen?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_168" id="Page_168">[168]</a></span>&raquo;Hui!&laquo; Ursula stie&szlig; einen pfeifenden Ton aus, welcher sagen zu wollen
+schien, da&szlig; dies unz&auml;hlige Male der Fall gewesen sei. &raquo;Namentlich seit
+der Zeit, wo sie krank lag, das arme Wurm. Wenn ich dann abends bei ihr
+sa&szlig;, ging das immer: 'Wissen Sie noch dies und das, Urschel? Wissen Sie
+noch die Geschichte mit dem Bettler?' N&auml;mlich in der ersten Zeit, als
+unser Herr Doktor noch keine Patienten hatte, da kamen ausgerechnet alle
+Bettler, die es in der Stadt gab, und einmal ging der Herr Doktor selbst
+an die T&uuml;r und sagte: 'Sie, guter Freund, ich soll Ihnen was geben?
+Also, was haben Sie heute verdient? Na, sagen Sie die Wahrheit:
+mindestens eine Mark, mindestens! Sie gehen an der Kr&uuml;cke, haben nur ein
+Auge &mdash; sch&ouml;n, sagen wir eine Mark. Ich dagegen nichts. In vier Wochen
+habe ich nicht zehn Mark verdient! Aber wenn Sie eine Zigarette wollen
+und mir ein bi&szlig;chen Gesellschaft leisten' &mdash; und da hat er wahrhaftig
+einmal einem mit eigener Hand eine Zigarette gedreht, der sah aus, als
+ob er geradeswegs aus dem Kehrichtk&uuml;bel k&auml;me, aber <span class='pagenum'><a name="Page_169" id="Page_169">[169]</a></span>sonst ein
+verschmitzter, lustiger Kerl, der kam dann alle paar Tage und sagte
+gleich, wenn ich die T&uuml;r aufmachte, er wolle nichts haben, wolle nur dem
+Herrn Doktor ein bi&szlig;chen Gesellschaft leisten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;Sie tischten der Kranken also lustige
+Erinnerungen auf, um sie zu erheitern.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Versteht sich,&laquo; sagte Ursula. &raquo;Schmerzen und Kummer hatte sie ohnehin
+genug.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Frau Swieter dem Herrn Doktor nichts nachtrug,&laquo; fuhr der
+Vorsitzende fort, &raquo;sich seiner sogar gern erinnerte, wechselte sie wohl
+auch zuweilen Briefe mit ihm?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das dachte ich doch, da&szlig; Sie wieder davon anfingen,&laquo; sagte Ursula
+triumphierend. &raquo;Damit ist es aber ein f&uuml;r allemal nichts. Wo wird sie
+denn mit ihrem geschiedenen Mann Briefe gewechselt haben? Da h&auml;tten sie
+ja ebenso gut zusammenbleiben k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist doch ein Unterschied,&laquo; setzte der Pr&auml;sident auseinander. &raquo;Es
+kann vorkommen, da&szlig; man sich entfernt sehr gut vertr&auml;gt, w&auml;hrend <span class='pagenum'><a name="Page_170" id="Page_170">[170]</a></span>man
+sich unter einem Dach best&auml;ndig in den Haaren liegt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dazu war meine Gn&auml;dige eine viel zu feine Dame,&laquo; sagte Ursula streng.
+&raquo;Von In-den-Haaren-liegen war da gar keine Rede und auch nicht von
+heimlichen Tuscheleien, nachdem sie einmal auseinander waren. Wenn ich
+fr&uuml;her wohl einmal sagte, der Herr Doktor sei doch im Grunde gar kein
+schlechter Mensch gewesen, und es sei doch eigentlich schade, wenn er
+nun auf eine schiefe Bahn geriete, und auch f&uuml;r uns, weil immer etwas
+ging, solange er da war, dann sch&uuml;ttelte meine Gn&auml;dige den Kopf und
+sagte: 'Wenn wir uns auch heute vers&ouml;hnten, w&uuml;rden wir doch &uuml;bers Jahr
+wieder auseinandergehen.' Und recht hatte sie, so ein Mann wie der
+konnte einmal keine Ruhe geben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind also der Meinung,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; Frau Swieter
+weder an den Angeklagten geschrieben, noch von ihm Briefe empfangen
+hat?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Meinung!&laquo; wiederholte Ursula mit blitzenden Augen. &raquo;Von Meinung
+brauchen Sie <span class='pagenum'><a name="Page_171" id="Page_171">[171]</a></span>da gar nicht zu reden, Herr Pr&auml;sident, denn das wei&szlig; ich.
+Deswegen bilde ich mir nicht zu viel ein, wenn ich sage, da&szlig; der liebe
+Gott es nicht besser wissen kann. Erstens kenne ich die Handschrift vom
+Herrn Doktor, und weil sie vor einem Jahre krank wurde, hat sie keinen
+Brief mehr bekommen, der nicht durch meine Hand ging, und geschrieben
+hat sie auch nicht mehr, au&szlig;er was sie mir oder Fr&auml;ulein Schwertfeger,
+aber meistens Fr&auml;ulein Schwertfeger, diktierte. Wir haben auch ihre
+Briefe auf die Post gebracht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, mein liebes Kind,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Ihre Gn&auml;dige war
+doch nicht lahm! Wenn sie durchaus wollte, konnte sie auch aufstehen und
+sich Schreibzeug holen und schreiben, ohne da&szlig; Sie es wu&szlig;ten, und sie
+konnte auch zum Beispiel Herrn <tt>Dr.</tt> Kirchner, ihren Arzt, um die
+Besorgung eines Briefes bitten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das scheint Ihnen so, Herr Pr&auml;sident,&laquo; sagte Ursula nachsichtig,
+&raquo;weil Sie es nicht besser wissen. Aber da&szlig; meine Gn&auml;dige hinter meinem
+R&uuml;cken Briefe schrieb und abschickte, das ist ausgeschlossen. Wenn Sie
+die Verh&auml;ltnisse kennten, <span class='pagenum'><a name="Page_172" id="Page_172">[172]</a></span>w&uuml;rde Ihnen so etwas gar nicht in den Sinn
+kommen. Nein, und wenn sie auch nicht lahm war, und das war sie
+allerdings nicht, so h&auml;tte sie doch solche Zeremonien nicht mit mir
+gemacht, wo gar keine Veranlassung dazu da war; denn sie h&auml;tte ja nur zu
+sagen brauchen: 'Ursula, von dem Brief soll niemand etwas wissen, und
+Sie sollen es auch nicht wissen.' Und dem Herrn <tt>Dr.</tt> Kirchner
+einen Brief mitgeben, dar&uuml;ber mu&szlig; man wirklich lachen, wenn man die
+Verh&auml;ltnisse kennt. Da h&auml;tte sie ja nicht gewu&szlig;t, ob er ihn nicht ein
+halbes Jahr in der Tasche behielte oder auf der Treppe schon verloren
+h&auml;tte. Und warum h&auml;tte sie denn ihre Geheimnisse fremden Leuten
+anvertrauen sollen, wo sie doch Fr&auml;ulein Schwertfeger und mich hatte,
+auf die sie sich verlassen konnte? Also das schlagen Sie sich nur aus
+dem Kopfe, Herr Pr&auml;sident, mit den heimlichen Briefen! Was in unserem
+Hause vorgegangen ist, das wei&szlig; ich, und da konnte nichts vorgehen, was
+ich nicht wu&szlig;te.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden doch zuweilen Besorgungen gemacht haben, liebes Fr&auml;ulein,&laquo;
+sagte der Pr&auml;<span class='pagenum'><a name="Page_173" id="Page_173">[173]</a></span>sident, der sich noch nicht f&uuml;r geschlagen erkl&auml;ren
+mochte. &raquo;Wissen Sie auch, was in der Wohnung vorfiel, wenn Sie nicht da
+waren?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Sie mich damit hereinzulegen denken, wie man so sagt, Herr
+Pr&auml;sident,&laquo; antwortete Ursula unersch&uuml;ttert, &raquo;dann sind Sie
+ausgerutscht, mit Erlaubnis zu sagen. Wenn ich fort war, konnte am
+allerwenigsten etwas vorfallen, weil ich dann n&auml;mlich die Wohnungst&uuml;r
+hinter mir abschlo&szlig;. Meine Gn&auml;dige hatte das selbst angeordnet und
+gesagt: 'Wissen Sie, Ursula, weil ich doch nicht aufstehen soll, nach
+dem, was der Herr Doktor sagt, so ist es am einfachsten, Sie schlie&szlig;en
+die T&uuml;r ab, damit ich sicher bin, da&szlig; niemand hinein kann. Kommt jemand,
+so mag er l&auml;uten und wiederkommen. Brennen wird es ja nicht gerade,
+w&auml;hrend Sie fort sind.' Na, was das betrifft, dar&uuml;ber war ich ganz
+ruhig, denn wo sollte es brennen, wo ich immer nur in der Fr&uuml;he oder
+nachmittags ausging, wenn kein Feuer im Hause war. Fr&auml;ulein Schwertfeger
+hatte eigens den Wohnungsschl&uuml;ssel, damit sie zu jeder Zeit hinein
+konnte. Also, Herr Pr&auml;sident, das <span class='pagenum'><a name="Page_174" id="Page_174">[174]</a></span>m&uuml;ssen Sie nun doch einsehen, da&szlig; in
+meiner Abwesenheit nichts vorfallen konnte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nur ist in Ihrer Abwesenheit Ihre Herrschaft ermordet worden,&laquo; erhob
+sich die kreischende Stimme des Staatsanwalts.</p>
+
+<p>Ursula verstummte; aber, wie es schien, mehr erstarrt &uuml;ber die
+Dreistigkeit, diese Tatsache anzuf&uuml;hren, als von ihrer Beweiskraft
+&uuml;berwunden. &raquo;So weit sind wir noch nicht,&laquo; sagte sie endlich, sich
+aufraffend. &raquo;Ich glaube &uuml;berhaupt nicht an den Mord, weil es unm&ouml;glich
+ist, da&szlig; etwas in der Wohnung vorfiel, solange ich fort war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Au&szlig;er wenn Frau Swieter selbst wollte,&laquo; warf der Vorsitzende ein.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das werden Sie doch aber selbst nicht glauben, Herr Pr&auml;sident,&laquo;
+sagte Ursula, wieder in den fr&uuml;heren Gedankengang einlenkend, &raquo;da&szlig; die
+todkranke Frau aufstand und wom&ouml;glich drei Treppen herunter auf die
+Stra&szlig;e lief, nur um unserem Herrn Doktor einen Brief zu schicken, den
+ich ihr jeden Augenblick mit dem gr&ouml;&szlig;ten Vergn&uuml;gen besorgt h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_175" id="Page_175">[175]</a></span><tt>Dr.</tt> Zeunemann seufzte. &raquo;Verreist sind Sie niemals,&laquo; begann er
+von neuem, &raquo;seit Frau Swieter im vorigen Jahre krank wurde und zu Bette
+lag?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Ursula, &raquo;obwohl sie es mir oft angeboten hat und ich ja
+auch wu&szlig;te, da&szlig; Fr&auml;ulein Schwertfeger gerne solange bei ihr gewohnt
+h&auml;tte, und da&szlig; sie ja auch eine Krankenschwester h&auml;tte nehmen k&ouml;nnen.
+Aber die h&auml;tte doch die Verh&auml;ltnisse nicht so gekannt wie ich, und wenn
+es mir auch leid tat, meine Mutter so lange nicht zu sehen, so habe ich
+mir doch gesagt: die Frau hat dich seit neunzehn Jahren nicht verlassen,
+so verlasse ich sie auch nicht. Ruhe h&auml;tte ich zu Hause auch nicht
+gehabt, und ich glaube, ich f&auml;nde im Grabe keine Ruhe, wenn ich das
+arme, kranke Wurm allein gelassen h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>Ursulas laute Stimme wurde unsicher, und sie fuhr sich mit dem
+Taschentuch &uuml;ber das Gesicht.</p>
+
+<p>Der Vorsitzende wartete ein wenig und forderte sie dann auf, den
+Todestag der Frau <span class='pagenum'><a name="Page_176" id="Page_176">[176]</a></span>Swieter, soweit sie sich erinnern k&ouml;nne, vom Anfang
+bis zum Ende zu schildern.</p>
+
+<p>&raquo;Gerade an dem Tage,&laquo; begann Ursula, &raquo;hatte ich gar nichts B&ouml;ses
+vermutet. Die Nacht war n&auml;mlich sehr schlecht gewesen, ich h&ouml;rte sie
+st&ouml;hnen, lief wohl f&uuml;nfmal hin und fragte, ob ich den Doktor holen
+sollte, aber sie sagte: 'Nein, der hilft mir doch nicht,' und mich
+schickte sie auch fort, weil ich es ihr nur schwerer machte. Denn wenn
+ich da w&auml;re, sagte sie, m&uuml;&szlig;te sie sich beherrschen.</p>
+
+<p>Gegen Morgen bin ich wirklich eingeschlafen, denn vier Uhr habe ich es
+schlagen h&ouml;ren, aber f&uuml;nf nicht mehr, und um sieben weckte mich der
+Kaminkehrer, der anl&auml;utete. Ich war w&uuml;tend, da&szlig; er so laut schellte, und
+lief an die T&uuml;r und sagte, das sei keine Art, so unversehens
+daherzukommen, er habe sich den Tag vorher anzumelden, und jetzt n&auml;hme
+ich ihn schon gar nicht an; ich mochte den unversch&auml;mten Kerl n&auml;mlich
+ohnehin nicht leiden. Ich dachte, meine Gn&auml;dige w&auml;re vielleicht auch
+erst vor kurzem eingeschlafen und nun wieder geweckt, und da klingelte
+sie <span class='pagenum'><a name="Page_177" id="Page_177">[177]</a></span>mir auch schon und fragte, wer drau&szlig;en w&auml;re. Ich sagte, der
+Kaminfeger, und da&szlig; ich ihn geschimpft und wieder weggeschickt h&auml;tte,
+und da lachte sie und sagte, es habe nichts zu sagen, sie w&uuml;rde schon
+wieder einschlafen, es sei ihr jetzt ganz wohl. Aussehen tat sie
+freilich, als wenn sie Fieber h&auml;tte, aber es blieb ganz ruhig bei ihr,
+und da ich um zehn Uhr wieder hereinschaute, lag sie ganz still da, und
+die Haare fielen ihr halb &uuml;bers Gesicht. Ich ging leise heraus und
+beeilte mich, so gut ich konnte, und wie ich wieder da war, guckte ich
+wieder leise herein, und da lag sie mit offenen Augen und l&auml;chelte so
+friedlich und sagte: 'Sind Sie da, Urselchen, mir ist ganz wohl, ich
+habe gar keine Schmerzen mehr.' Sie sah auch wirklich ganz gut aus,
+obgleich sie tiefe Schatten wie breite, schwarze B&auml;nder unter den Augen
+hatte, und wie ich sie so betrachtete, kam sie mir sonderbar vor und ich
+sagte: 'Gn&auml;dige Frau sehen so geheimnisvoll aus.' Meine Seele dachte
+aber nicht daran, da&szlig; das Geheimnis der Tod war, denn sonst h&auml;tte ich es
+ja nicht gesagt.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_178" id="Page_178">[178]</a></span>&raquo;Was antwortete sie darauf?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Sie l&auml;chelte noch gl&uuml;cklicher als vorher und sagte: 'Das Geheimnis ist,
+da&szlig; unser Mingo mich besucht hat.' Mingo hie&szlig; unser Kind, das gestorben
+ist, und wir nannten es <i>der</i> Mingo, weil wir eigentlich bestimmt
+auf einen Buben gerechnet hatten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie hatte also von ihrem verstorbenen Kinde getr&auml;umt,&laquo; sagte der
+Vorsitzende. &raquo;Erz&auml;hlte sie Ihnen davon?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich,&laquo; sagte Ursula, &raquo;wenn sie von unserem Mingo getr&auml;umt hatte,
+sprach sie den ganzen Tag davon. Es war in einem offenen Wagen mit
+sch&ouml;nen schwarzen Pferden gekommen und hatte auf dem R&uuml;cksitz gesessen,
+so wie es sonst zwischen seinen Eltern sa&szlig;. Ganz gerade und stolz hatte
+es dagesessen und ihr mit der kleinen Hand gewinkt, da&szlig; sie sich zu ihm
+setzen sollte, und pl&ouml;tzlich war es dann kein Wagen mehr gewesen,
+sondern eine Art Karussell oder Schaukel, und war nach einer
+wundersch&ouml;nen Musik immer h&ouml;her und h&ouml;her geflogen. Es <span class='pagenum'><a name="Page_179" id="Page_179">[179]</a></span>kam ihr so vor,
+als ob die Schaukel abgerissen w&auml;re, und wie ihr bange wurde, sagte
+unser Mingo ganz ernsthaft: 'Halte dich nur an mir!' Dar&uuml;ber mu&szlig;te sie
+lachen, da&szlig; das winzige Gesch&ouml;pf seiner Mutter eine St&uuml;tze sein wollte,
+und wachte auf.</p>
+
+<p>Zwischen dem Kochen ging ich immer wieder herein und schwatzte mit ihr
+von unserem Mingo, und dann brachte ich ihr das Mittagessen und setzte
+mich zu ihr und redete ihr zu, ordentlich zu essen, weil sie n&auml;mlich
+immer nur an allem nippte. 'Ach, Urselchen, lassen Sie mich nur, ich
+habe heute keinen Hunger,' sagte sie, 'gewi&szlig; kommt unser Bettler, der
+wird froh sein, wenn er so viel bekommt.' Es war n&auml;mlich Donnerstag, und
+am Donnerstag kam meistens ein alter Mann, der sagte, in der ganzen
+Stra&szlig;e g&auml;be es keine so gute K&ouml;chin, wie ich w&auml;re, und so hatten wir
+immer allerlei Spa&szlig; miteinander. Indem sie das sagte, l&auml;utete es auch
+schon an der T&uuml;r, es war aber nicht unser Bettler, sondern ein anderer,
+so wie ein Slowak sah er aus, die Mausefallen verkaufen. Ich hatte ihm
+kaum <span class='pagenum'><a name="Page_180" id="Page_180">[180]</a></span>aufgemacht, da klingelte meine Gn&auml;dige so stark, da&szlig; es mir
+ordentlich durch die Knochen fuhr, und wie ich hinlief, sagte sie, ob es
+der Doktor sei. 'Bewahre,' sagte ich, 'um die Zeit kommt der Doktor
+nicht, es ist ein Bettler.' 'Dann ist es gut,' sagte sie, 'ich wollte
+Ihnen nur sagen, da&szlig; Sie den Doktor heute nicht zu mir hereinlassen. Ich
+bin zu m&uuml;de, um mich qu&auml;len zu lassen. Sie k&ouml;nnen ihm sagen, ich h&auml;tte
+eine schlechte Nacht gehabt und schliefe.'&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist Ihnen das nicht aufgefallen?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Ursula erstaunt, &raquo;es ist auch gar nichts Auffallendes
+daran. Ich mu&szlig;te manchmal den Doktor unter irgendeinem Vorwand
+fortschicken, zum Beispiel, wenn ich ihr gerade etwas Spannendes
+vorlas.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie ihr auch an diesem Tage vorgelesen?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>Ursula sch&uuml;ttelte traurig den Kopf. &raquo;Dazu ist es nicht mehr gekommen,&laquo;
+sagte sie. &raquo;Nachdem ich meine K&uuml;che gemacht hatte wie alle Tage, fragte
+ich sie, ob ich ihr vorlesen sollte, <span class='pagenum'><a name="Page_181" id="Page_181">[181]</a></span>oder ob sie m&ouml;chte, da&szlig; Fr&auml;ulein
+Schwertfeger k&auml;me. 'Nein,' sagte sie, 'Gundel kommt gewi&szlig; von selbst,
+wenn sie Zeit hat, und ich glaube auch, da&szlig; ich wieder einschlafen
+werde. Da k&ouml;nnen Sie zur Bank gehen und die Miete bezahlen, weil Sie
+gestern nicht dazu gekommen sind,' &mdash; es war ja der 2. Oktober &mdash; 'und auf
+dem R&uuml;ckweg k&ouml;nnten Sie mir eine Flasche griechischen Wein mitbringen,
+ich habe solche Lust darauf, und der Doktor hat mir Wein erlaubt.' Dann
+trug sie mir noch auf, dem Hausmeister zu sagen, da&szlig; er auf den Abend
+heizte, damit ich nicht im Kalten s&auml;&szlig;e, weil der Wind so stark auf
+meinem Fenster stand. Er h&auml;tte n&auml;mlich eigentlich schon am Ersten heizen
+m&uuml;ssen, aber der Mensch war ja so faul, da&szlig; er kaum die trockenen
+Bl&auml;tter im Vorgarten zusammenfegte, und in den Keller gehen und heizen,
+das pa&szlig;te ihm erst recht nicht. Wenn man ihn mahnte, hatte er immer
+einen Vorwand, weswegen er nicht dazu gekommen w&auml;re. Er m&ouml;chte lieber
+Heizer in der H&ouml;lle sein, als ein Hausmeister mit drei H&auml;usern und
+achtzehn Parteien, von denen jede <span class='pagenum'><a name="Page_182" id="Page_182">[182]</a></span>verschieden warm haben wollte; das
+war eine beliebte Redensart von ihm. Ich sagte also zu meiner Gn&auml;digen,
+lieber wolle ich frieren, als da&szlig; ich mich mit dem Mehlwurm von
+Hausmeister einlie&szlig;e. Da lachte sie und sagte, nein, ich solle es ihm
+nur recht gef&auml;hrlich ausmalen, wie kalt ich es h&auml;tte und wie b&ouml;se sie
+auf ihn w&auml;re. Und das waren die letzten Worte, die ich von ihr geh&ouml;rt
+habe.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Als Sie nach Hause kamen,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;war sie tot. Sie
+hatten die T&uuml;r abgeschlossen und fanden sie geschlossen wieder vor?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Abgeschlossen war die T&uuml;r nicht, und das kam daher, weil, kurz bevor
+ich kam, Fr&auml;ulein Schwertfeger dagewesen war, und die dachte gew&ouml;hnlich
+nicht ans Abschlie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger wurde gefragt, ob sie die T&uuml;r verschlossen
+gefunden habe, und erkl&auml;rte, da&szlig; sie nicht darauf geachtet habe und
+deshalb nichts dar&uuml;ber sagen k&ouml;nne. Sie sei auf dem Wege in die
+Abendschule und in Eile gewesen, habe eben nur fragen wollen, wie es
+<span class='pagenum'><a name="Page_183" id="Page_183">[183]</a></span>ginge. Da es totenstill in der Wohnung gewesen sei, habe sie
+angenommen, da&szlig; ihre Freundin schliefe, habe leise in das Schlafzimmer
+hineingeguckt und sei dann wieder gegangen. Die T&uuml;r, die vom
+Schlafzimmer ihrer Freundin ins Wohnzimmer gef&uuml;hrt habe, sei wie immer
+weit offen gewesen. Sie habe beim Fortgehen die Wohnungst&uuml;r keinesfalls
+abgeschlossen, denn sie habe das nie getan. Es sei etwa f&uuml;nf Minuten vor
+sechs Uhr gewesen.</p>
+
+<p>&raquo;Wieviel Uhr war es, als Sie nach Hause kamen?&laquo; wendete der Vorsitzende
+sich wieder an Ursula.</p>
+
+<p>&raquo;Als ich um die Ecke von unserer Stra&szlig;e bog,&laquo; sagte Ursula, &raquo;h&ouml;rte ich
+es von der Schlo&szlig;kirche sechs Uhr schlagen, und von da sind es keine
+f&uuml;nf Minuten mehr, besonders weil ich schnell ging. Ich hatte mich
+n&auml;mlich mit dem Warten auf der Bank, und weil ich nach dem Wein hatte
+laufen m&uuml;ssen, versp&auml;tet. Ich ging zuerst in die K&uuml;che und legte meine
+Pakete ab &mdash; ich hatte sonst noch einiges f&uuml;r den Haushalt eingekauft &mdash; und
+meinen Mantel. Dann ging ich leise <span class='pagenum'><a name="Page_184" id="Page_184">[184]</a></span>ins Schlafzimmer; denn da&szlig; meine
+Gn&auml;dige schliefe, nahm ich an, weil sie mich sonst sofort rief, sowie
+ich die T&uuml;r aufmachte. 'Sind Sie's, Urselchen?' rief sie mit ihrer
+weichen Stimme. Sie hatte so eine helle, unschuldige Stimme wie ein
+Kind. Durch die offene T&uuml;re sah ich, wie sie ganz still dalag, den Kopf
+auf der Seite und die Arme &uuml;ber der Decke, und kehrte gleich wieder um,
+froh, da&szlig; sie so gut schlief. Aber als ich im Wohnzimmer war, fiel mir
+auf einmal ein, da&szlig; sie sonst ganz anders lag, wenn sie schlief, n&auml;mlich
+nie flach auf dem R&uuml;cken, sondern etwas zur Seite geneigt, und die eine
+Hand hatte sie unter dem Gesicht. Wie mir das pl&ouml;tzlich einfiel, wurde
+mir so sonderbar zumute, da&szlig; mir wahrhaftig die Knie zitterten, und ich
+mu&szlig;te mir ordentlich Mut machen, eh ich wieder hineinging. Und wie ich
+ihr leise, leise die Haare vom Gesicht nahm, sah ich, da&szlig; sie tot war,
+denn so still liegt ja kein lebendiger Mensch.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Trug sie die Haare immer offen?&laquo; erkundigte sich <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_185" id="Page_185">[185]</a></span>&raquo;O nein,&laquo; antwortete Ursula, mit einem kurzen, geringsch&auml;tzigen
+L&auml;cheln. &raquo;Ich frisierte sie jeden Morgen sehr sch&ouml;n und ordentlich, da
+fehlte gar nichts, aber in der letzten Nacht hatte es sich aufgel&ouml;st bei
+dem Herumw&auml;lzen wegen der Schmerzen, und weil sie so m&uuml;de war, hatte ich
+sie nicht damit plagen wollen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir wissen durch den Arzt, den das M&auml;dchen sofort rufen lie&szlig;,&laquo; sagte
+der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; der Tod eine bis zwei Stunden vorher eingetreten
+war, und zwar, wie der Arzt damals annahm, durch Herzl&auml;hmung. Der
+Zustand der Kranken hatte durchaus mit einer solchen rechnen lassen,
+weshalb von keiner Seite irgendein Argwohn gesch&ouml;pft wurde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Z&auml;hlen Sie, Fr&auml;ulein Z&uuml;ger, noch einmal im Zusammenhang auf, was f&uuml;r
+Personen im Laufe des Tages in der Wohnung gewesen waren!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;In der Wohnung war &uuml;berhaupt niemand,&laquo; sagte Ursula mit nachdr&uuml;cklicher
+Mi&szlig;billigung. &raquo;Angel&auml;utet hatte zuerst in der Fr&uuml;he der Kaminfeger, den
+ich wieder fortschickte. Er kam dann <span class='pagenum'><a name="Page_186" id="Page_186">[186]</a></span>noch einmal wieder, der
+zudringliche Mensch, und da sagte ich ihm, in einem ordentlichen
+Haushalt lie&szlig;e man um zehn Uhr keinen Herd mehr putzen, er solle sich
+das merken. Nachher war der Postbote da; der warf gew&ouml;hnlich die Briefe
+nur herein, aber diesmal l&auml;utete er an, weil er einen ungen&uuml;gend
+frankierten Brief hatte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was f&uuml;r ein Brief war das?&laquo; fragte der Vorsitzende hastig.</p>
+
+<p>&raquo;Der Brief war f&uuml;r mich,&laquo; antwortete Ursula schnippisch triumphierend,
+&raquo;von einer Freundin, die eine Stelle in Frankreich angenommen hatte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und weiter?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Danach l&auml;utete noch einmal die Gem&uuml;sefrau, der ich aber nichts abnahm,
+weil der Spinat letztes Mal bitter gewesen war, und am Mittag der
+Slowak. Sonst war niemand da, und in der Wohnung ist &uuml;berhaupt niemand
+gewesen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt bat ums Wort.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte bemerken, da&szlig; die Wohnung doch nicht so festungsm&auml;&szlig;ig
+verwahrt war, wie das gute M&auml;dchen es darstellen m&ouml;chte. Sie hat <span class='pagenum'><a name="Page_187" id="Page_187">[187]</a></span>selbst
+erz&auml;hlt, da&szlig; sie, als sie dem sogenannten Slowaken die T&uuml;r aufgemacht
+hatte, von Frau Swieter durch die Klingel abgerufen wurde. Er h&auml;tte also
+die Gelegenheit benutzen und eindringen k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Ursula drehte sich ganz nach dem gro&szlig;en, mageren Angreifer um und
+stemmte den Arm in die Seite, w&auml;hrend sie ihn mit spr&uuml;henden Augen von
+oben bis unten ma&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;H&auml;tte er das?&laquo; fragte sie h&ouml;hnend. &raquo;Ja, wenn ich ihm nicht die T&uuml;r vor
+der Nase zugeworfen h&auml;tte. Ich schlug die T&uuml;r fest zu, ehe ich zu meiner
+Gn&auml;digen hineinlief, und sie war auch zu, als ich wiederkam. Den
+Slowaken h&ouml;rte ich noch auf der untersten Treppe. Ich hatte ihm n&auml;mlich
+einen Teller Suppe gegeben und wollte den leeren Teller wieder
+hereinnehmen, aber er hatte sie nicht anger&uuml;hrt. Um Suppe ist es diesen
+Vagabunden ja gew&ouml;hnlich gar nicht zu tun. &Uuml;brigens war es ein ganz
+harmloser Mensch und sah auch gar nicht so zerrissen und schmutzig aus
+wie die richtigen Strolche.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_188" id="Page_188">[188]</a></span>&raquo;Glauben Sie bestimmt,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; Sie den
+Angeklagten in irgendeiner Verkleidung erkannt h&auml;tten?&laquo;</p>
+
+<p>Ursula brauchte einige Zeit, um den Sinn dieser Frage zu fassen.</p>
+
+<p>&raquo;Unseren Herrn Doktor?&laquo; fragte sie endlich mit immer gr&ouml;&szlig;er werdenden
+Augen. &raquo;Meinen Sie, ob unser Herr Doktor der Slowak gewesen sein k&ouml;nnte?
+Ja, wissen Sie, Herr Pr&auml;sident, da k&ouml;nnten Sie mich ebensogut fragen, ob
+Sie unser Herr Doktor sein k&ouml;nnten! Unser Herr Doktor! Und der h&auml;tte
+nicht mit den Augen gezwinkert und gesagt: 'Ursula, kennen Sie mich
+nicht, dumme Person?' &Uuml;berhaupt! Ja, so etwas meinen Sie, Herr
+Pr&auml;sident, weil Sie die Verh&auml;ltnisse nicht kennen!&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann schnitt die immer schneller str&ouml;mende Rede durch
+eine verzweifelte Handbewegung und einen Seufzer ab. &raquo;Bleiben wir bei
+der Sache,&laquo; sagte er. &raquo;Sie halten es f&uuml;r unm&ouml;glich, da&szlig; jemand in die
+Wohnung eindringen konnte?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_189" id="Page_189">[189]</a></span>&raquo;Ausgeschlossen, einfach ausgeschlossen,&laquo; antwortete Ursula.</p>
+
+<p>&raquo;Au&szlig;er wenn Frau Swieter selbst es wollte,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, die wird gerade R&auml;uber und M&ouml;rder eingelassen haben,&laquo; sagte Ursula
+mit zorniger Verachtung.</p>
+
+<p>&raquo;Offensichtliche R&auml;uber und M&ouml;rder nicht,&laquo; rief der Staatsanwalt
+dazwischen, &raquo;vielleicht aber ihren einstigen Gatten, f&uuml;r den sie leider
+noch immer, wie das Testament beweist, ein liebevolles Interesse hatte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und sie wird gerade nach siebzehn Jahren,&laquo; sagte Ursula fast schreiend,
+&raquo;am L&auml;uten erkannt haben, da&szlig; er es war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn sie ihn erwartete, mein gutes Kind, war das nicht n&ouml;tig,&laquo; sagte
+der Staatsanwalt mit dem bei&szlig;enden Tone eines schadenfrohen Teufels.</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann machte eine warnende Handbewegung gegen Ursula, die
+aussah, als ob sie ihrem Gegner an die Kehle springen wollte. &raquo;Ich
+glaube,&laquo; sagte er, die Stimme erhebend, <span class='pagenum'><a name="Page_190" id="Page_190">[190]</a></span>&raquo;wir fangen an, uns im Kreise
+zu drehen. Der Herr Staatsanwalt geht davon aus, da&szlig; eine Verst&auml;ndigung
+irgendwelcher Art zwischen den geschiedenen Eheleuten bestanden haben
+k&ouml;nnte, was aber noch ganz unbewiesen ist, ja wovon eher die
+Unm&ouml;glichkeit nachgewiesen ist. Nach meiner Meinung hat die Zeugin
+nichts Sachdienliches mehr vorzubringen, und wir k&ouml;nnten zur Vernehmung
+des Hausmeisters &uuml;bergehen, wenn die Herren Kollegen und die Herren
+Geschworenen einverstanden sind.&laquo;</p>
+
+<p>Den Kopf steif im Nacken und ein ver&auml;chtliches L&auml;cheln auf den Lippen,
+das dem angek&uuml;ndigten Hausmeister galt, begab sich Ursula auf ihren
+Platz neben Fr&auml;ulein Schwertfeger.</p>
+
+<p>Der Erwartete glich insofern einem Mehlwurm durchaus nicht, als er rot
+im Gesicht mit einem bl&auml;ulichen Anflug &uuml;ber der Nase war. Er schlenderte
+in der bequemen Haltung eines Menschen herein, der dem Leben zu sehr als
+Liebhaber gegen&uuml;bersteht, um jemals Eile zu haben, sah sich gem&auml;chlich
+um und unterzog zuletzt den langen, gr&uuml;nen Tisch, vor dem er zu <span class='pagenum'><a name="Page_191" id="Page_191">[191]</a></span>stehen
+hatte, samt allen darauf befindlichen Gegenst&auml;nden einer beil&auml;ufigen
+Untersuchung. Der Vorsitzende vereidigte ihn und forderte ihn auf, die
+an ihn gerichteten Fragen nicht nur der Wahrheit gem&auml;&szlig;, sondern auch
+ohne Zweideutigkeit und Weitschweifigkeit zu beantworten.</p>
+
+<p>&raquo;I warum nicht,&laquo; sagte der Hausmeister, &raquo;da liegt ja gar nichts dran.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wo pflegen Sie sich tags&uuml;ber aufzuhalten?&laquo; lautete die erste Frage.</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagte der Hausmeister lachend, &raquo;da l&auml;&szlig;t sich freilich nicht so
+eins, zwei, drei darauf antworten. Das ist n&auml;mlich je nachdem, was ich
+gerade zu tun habe. Aber wenn ich sage, da&szlig; ich entweder in einem von
+meinen drei H&auml;usern bin, weil in einer Wohnung etwas zu richten ist,
+oder weil eine Partei mit mir dies oder das reden m&ouml;chte, oder denn im
+Keller bei der Heizung oder im Garten, wo ich so auf und ab spaziere, so
+wird das schon ungef&auml;hr stimmen. In meiner eigenen Wohnung bin ich am
+wenigsten und habe da ja auch nichts zu tun, denn f&uuml;r <span class='pagenum'><a name="Page_192" id="Page_192">[192]</a></span>die Familie
+interessiere ich mich nicht so wie f&uuml;r den Beruf.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind die H&auml;user untertags abgeschlossen?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Gott bewahre,&laquo; sagte der Hausmeister, &raquo;da kann jedermann aus und ein
+gehen, wie er will. Nichts Unrechtes kommt ja bei uns sowieso nicht vor,
+und f&uuml;r alle F&auml;lle ist vor jeder Wohnung eine besondere Wohnungst&uuml;r.
+Nein, von Abschlie&szlig;en ist bei uns keine Rede. Des Morgens um sechs
+schlie&szlig;e ich alle T&uuml;ren auf, vielmehr meine Frau tut das, und abends um
+neun Uhr schlie&szlig;e ich zu, und bei der Methode haben wir uns immer gut
+gestanden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber die Keller sind doch abgeschlossen?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, sehen Sie, Herr Pr&auml;sident,&laquo; antwortete der Hausmeister, &raquo;das l&auml;&szlig;t
+sich wieder nicht so eins, zwei, drei beantworten. Bei Nacht sollten sie
+wohl eigentlich geschlossen sein, denn am Tage ginge das ja gar nicht
+an, schon wegen dem Heizen, und wo die Fr&auml;uleins so oft Kohlen und
+Kartoffeln und dergleichen heraufholen. Das <span class='pagenum'><a name="Page_193" id="Page_193">[193]</a></span>w&uuml;rde ja ein ewiges Auf-
+und Zuschlie&szlig;en. Es geht sowieso den ganzen Tag: 'Herr Hausmeister, ach
+helfen Sie mir doch!' 'Herr Hausmeister, bitte, nur einen Augenblick.'
+Ich sollte immer an hundert Orten zugleich sein. Nein, es ist f&uuml;r alle
+Teile am besten, wenn die Keller ein f&uuml;r allemal offen sind, und daran
+hat auch noch niemand etwas auszusetzen gehabt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sollen aber selbst einmal,&laquo; erinnerte der Vorsitzende, &raquo;einen Mann
+ertappt haben, der sich im Keller eingeschlichen hatte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So,&laquo; sagte der Hausmeister nachdenkend. &raquo;Ach so, das hat wohl die
+Urschel erz&auml;hlt?&laquo; rief er nach einer Pause belustigt aus. &raquo;Ja, vor dem
+brauchte niemand Angst zu haben, der sah so gr&uuml;n im Gesicht aus, als ob
+er die ganze Nacht unreife &Auml;pfel gegessen h&auml;tte. Das war so ein
+Obdachloser, oder es kann ihn auch eins von den M&auml;dels versteckt haben,
+denn die Jungfern haben doch alle ihre Liebhaber, wenn sie sich auch
+noch so zimperlich anstellen.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann machte ein ernstes Gesicht und fragte streng:</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_194" id="Page_194">[194]</a></span>&raquo;Entsinnen Sie sich, wer am 2. Oktober des vergangenen Jahres aus und
+ein gegangen ist?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du lieber Himmel,&laquo; seufzte der Hausmeister, &raquo;wie soll ich das behalten,
+was bei uns t&auml;glich ein und aus geht! Stellen Sie sich vor, Herr
+Pr&auml;sident, drei H&auml;user mit achtzehn Parteien, wobei ich mich noch gar
+nicht mal gerechnet habe; in dem einen sind vier Parteien, in den beiden
+anderen je sieben. Und wie geht es vollends Anfang Oktober zu, wo die
+eine Partei auszieht und die andere einzieht, und die Handwerker, die
+das mit sich bringt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gerade weil es besondere Tage sind,&laquo; beharrte der Pr&auml;sident, &raquo;haben Sie
+sie doch vielleicht im Ged&auml;chtnis behalten. Auch der pl&ouml;tzliche Tod der
+Frau Swieter, die das am meisten zur&uuml;ckliegende Haus bewohnte, hat den
+Tag unter den anderen hervorgehoben. Als sp&auml;ter der Ihnen bekannte
+Verdacht entstand, haben Sie doch sicher in Ihrem Ged&auml;chtnis
+nachgeforscht, wen Sie an jenem Tag aus und ein gehen gesehen haben.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_195" id="Page_195">[195]</a></span>&raquo;Ich will tun, was ich kann, um Ihnen gef&auml;llig zu sein, Herr
+Pr&auml;sident,&laquo; sagte der Hausmeister. &raquo;Der Kaminkehrer, der in der Fr&uuml;he da
+war, wird Sie ja wohl nicht interessieren, und der Postbote ebensowenig,
+und die Handwerker ging das Haus von der Frau Swieter nichts an, weil
+n&auml;mlich in dem Hause kein Umzug stattgefunden hatte. An Bettlern hat es
+auch nicht gefehlt, und was das betrifft, so war die Frau Swieter selbst
+schuld daran. Die anderen Parteien beklagten sich &uuml;ber sie, da&szlig; sie die
+Bettler herz&ouml;ge, weil sie ihnen immer etwas g&auml;be. &Uuml;brigens, mir hat sie
+auch immer jede Kleinigkeit ordentlich bezahlt, sie geh&ouml;rte nicht zu
+denen, die meinen, unsereiner w&auml;re dazu da, allen alles umsonst zu
+machen. Also konnte sie es mit den Bettlern schlie&szlig;lich auch halten, wie
+sie wollte. Sie sind ja auch einmal da und m&uuml;ssen in Gottes Namen zu
+ihrer Sache kommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Denken Sie gut nach,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;ob Sie zwischen vier und
+sechs Uhr nachmittags einen Bettler gesehen haben, einen, der Ihnen
+unbekannt war, der Ihnen auffiel!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_196" id="Page_196">[196]</a></span>&raquo;Zwischen vier und sechs Uhr?&laquo; sagte der Hausmeister tiefsinnig. &raquo;Da
+schickte ich gerade meinen Jungen um eine Ma&szlig; Bier in die Wirtschaft an
+der Ecke und wartete an der Gartent&uuml;r, bis er wiederkam, und dann
+stellte ich die Ma&szlig; auf die Treppe, um ab und zu einen Schluck zu
+nehmen. Indem kam gerade die Frau Hofrat im Parterre vom zweiten Hause
+und schimpfte, was sie wu&szlig;te, da&szlig; ich nicht geheizt hatte, und ich
+sagte: 'Aber Frau Hofrat, bei dem sch&ouml;nen Wetter! Solches Wetter haben
+wir ja den ganzen Sommer &uuml;ber nicht gehabt, und das bi&szlig;chen Wind wird
+Ihnen doch nichts machen, es ist ja S&uuml;dwind,' und so weiter, bis sie es
+denn wahrscheinlich einsah und wieder fortging. Ja, und dann kam einer,
+der hatte wohl etwas gebracht, einen Hut oder Mantille oder dergleichen,
+denn er hatte eine Schachtel, wahrscheinlich f&uuml;r die Pension, da war
+damals so eine Modes&uuml;chtige; und dann kam der Ulkige. Der hatte mich
+erst gar nicht gesehen und wollte an mir vorbeilaufen, als ob ich ein
+Laternenpfahl w&auml;re, und ich wich ihm absichtlich nicht aus, weil ich
+dachte, <span class='pagenum'><a name="Page_197" id="Page_197">[197]</a></span>ich wollte doch sehen, ob er gegen mich anrennte. Da blieb er
+pl&ouml;tzlich dicht vor mir stehen und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer
+Gnaden?' und hielt mir eine Zigarette hin. Ich mu&szlig;te lachen und zog
+meine Schwedischen heraus und machte ihm Feuer, und zum Dank nickte er
+ein bi&szlig;chen und fa&szlig;te an die M&uuml;tze. Ein Bettler war das aber nicht, er
+hatte allerlei zu verkaufen, L&ouml;ffel und Quirle, die trug er an einem
+Strick an der Hand. Wie er eben aus der T&uuml;re gegangen war, warf er die
+Zigarette in das Fliedergeb&uuml;sch an der Pforte, ob sie nun nicht brannte
+oder sonst nicht schmeckte, das wei&szlig; ich ja nicht, und ich wollte sie
+erst auflesen, aber dann dachte ich: Ach la&szlig; sie liegen, eine feine wird
+es doch nicht sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;K&ouml;nnen Sie eine genaue, zuverl&auml;ssige Beschreibung dieses Mannes geben?&laquo;
+fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, Herr Pr&auml;sident,&laquo; sagte der Hausmeister, indem er l&auml;chelnd den
+Kopf sch&uuml;ttelte, als wollte er sagen, um in die Falle zu gehen, dazu
+w&auml;re er doch zu schlau. &raquo;So gern ich Ihnen den Gefallen t&auml;te, damit will
+ich nichts zu tun <span class='pagenum'><a name="Page_198" id="Page_198">[198]</a></span>haben. Ich glaube, da&szlig; er ziemlich lange, schwarze
+Haare hatte, und da&szlig; er sozusagen tr&auml;umerisch dahergeschlendert kam. Und
+wenn Sie ihn da vor mich hinstellen w&uuml;rden, w&uuml;rde ich ihn ja auch wohl
+wiedererkennen. Aber ob nun sein Kittel grau oder gr&uuml;n oder braun war,
+und was er f&uuml;r Stiefel anhatte, und ob er L&ouml;cher in den Str&uuml;mpfen hatte,
+und was dergleichen mehr ist, das k&ouml;nnte ich wahrhaftig nicht sagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie gar nicht dar&uuml;ber nachgedacht, was f&uuml;r ein Mann das sein
+k&ouml;nnte?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Na, das sah ich ja, Herr Pr&auml;sident, da&szlig; er L&ouml;ffel verkaufte,&laquo; sagte der
+Hausmeister, &raquo;dabei war nichts nachzudenken. Das n&auml;hme meine Zeit doch
+viel zu sehr in Anspruch, wenn ich mir &uuml;ber jeden Hausierer Gedanken
+machen wollte. Sie m&uuml;ssen sich nur vorstellen, was f&uuml;r Leute bei uns aus
+und ein gehen! Da ist zum Beispiel im dritten Hause im zweiten Stock der
+Herr R&uuml;bsamen, Komponist und Musikschriftsteller, ein schrecklich
+nerv&ouml;ser Mensch, und wenn ich nicht so viel Geduld mit ihm h&auml;tte, w&auml;re
+er l&auml;ngst <span class='pagenum'><a name="Page_199" id="Page_199">[199]</a></span>ausgezogen. Sie m&uuml;ssen nur sehen, was f&uuml;r Leute zu dem
+kommen, da st&ouml;&szlig;t man sich nachher an nichts mehr. Herren und Damen
+kommen, die ihm was vorsingen oder vorspielen, die reine Zigeunerbande,
+und nachher sind es K&uuml;nstler und feine Leute gewesen. An dem Tage ist
+&uuml;brigens auch der Klavierstimmer bei ihm gewesen, den hat er
+weggeschickt, weil er von der Ursula, dem M&auml;del, gewu&szlig;t hat, da&szlig; ihre
+Gn&auml;dige eine schlechte Nacht gehabt hatte und schlafen sollte. Gutm&uuml;tig
+ist er ja, der Herr R&uuml;bsamen. Der Klavierstimmer ist aber der mit der
+Zigarette nicht gewesen. Denn der hat ein rotes Gesicht und blonde
+Haare, den kenne ich, weil er alle Vierteljahre zum Herrn R&uuml;bsamen
+kommt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Mann ist also aus dem dritten Hause gekommen,&laquo; fragte der
+Pr&auml;sident.</p>
+
+<p>&raquo;Aus dem zweiten k&ouml;nnte er auch gekommen sein, wo die Pension drin ist,&laquo;
+sagte der Hausmeister, &raquo;ich sah ihn erst, als er an das vordere
+herankam, wo ich stand.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte den Hausmeister zu fragen, ob der Angeklagte dem Mann mit der
+Zigarette &auml;hnlich <span class='pagenum'><a name="Page_200" id="Page_200">[200]</a></span>sieht,&laquo; sagte der Staatsanwalt, indem er mit
+imperatorischer Geb&auml;rde den Arm ausstreckte.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie den Angeklagten daraufhin ansehen!&laquo; forderte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann den Hausmeister auf.</p>
+
+<p>Der Hausmeister drehte sich langsam um und betrachtete Deruga, den die
+Untersuchung zu belustigen schien, aufmerksam und erstaunt.</p>
+
+<p>&raquo;Da bin ich &uuml;berfragt, Herr Pr&auml;sident,&laquo; sagte er endlich. &raquo;Ich m&ouml;chte
+schw&ouml;ren, da&szlig; ich den Herrn da noch nie gesehen habe.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen sich ihn mit schwarzer Per&uuml;cke und mit falschem Bart
+vorstellen,&laquo; sagte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Ausgeschlossen,&laquo; rief der Hausmeister mit ungew&ouml;hnlicher
+Entschiedenheit. &raquo;Wenn ich mit solchen Vorstellungen anfange, kenne ich
+schlie&szlig;lich keinen mehr vom anderen, und hernach soll ich f&uuml;r das
+aufkommen, was ich mir vorgestellt habe, und habe unversehens einen
+Meineid auf dem Halse. Denn sehen Sie, Herr Pr&auml;sident, wenn man anf&auml;ngt
+nachzudenken, wie einer ausgesehen hat, und ihn mit dem und jenem
+ver<span class='pagenum'><a name="Page_201" id="Page_201">[201]</a></span>gleicht, so h&auml;lt man zuletzt alles f&uuml;r m&ouml;glich, und am Ende ist es
+doch nur die pure Einbildung gewesen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben also&laquo;, sagte der Vorsitzende, &raquo;kein genaues Erinnerungsbild
+von dem Manne, der Sie um Feuer bat. Besinnen Sie sich noch auf andere
+Personen, die am 2. Oktober zwischen vier und sechs Uhr in Ihren H&auml;usern
+verkehrten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; antwortete der Hausmeister. &raquo;Ich hatte eben meinem Buben
+aufgetragen, den Ma&szlig;krug wieder in die Wirtschaft zu tragen, und sah ihm
+nach, wie er &uuml;ber die Stra&szlig;e ging, da rief mich einer von r&uuml;ckw&auml;rts an
+und fragte nach der n&auml;chsten Haltestelle f&uuml;r Autodroschken. Der war so
+in Eile, da&szlig; er kaum abwartete, bis ich ihm ordentlich Bescheid gegeben
+hatte, und gab mir einen Puff in die Seite, als er an mir vorbeilief.
+Gleich darauf rief mich meine Frau, weil das Leitungsrohr in der Pension
+im zweiten Hause wieder einmal verstopft war &mdash; da stecken sie n&auml;mlich
+immer ihre Knochen und ausgek&auml;mmten Haare hinein, als ob der Ausgu&szlig; die
+Drecktonne w&auml;re &mdash; na, und als ich da nachge<span class='pagenum'><a name="Page_202" id="Page_202">[202]</a></span>sehen hatte und wieder in den
+Garten kam, sah ich gerade den Doktor ins dritte Haus hineingehen wegen
+der Frau Swieter, die unterdessen gestorben war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was f&uuml;r einen Eindruck machte der Herr auf Sie?&laquo; fragte der
+Vorsitzende, &raquo;der in so gro&szlig;er Eile war?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wei&szlig; ich noch,&laquo; sagte der Hausmeister, &raquo;da&szlig; er einen langen,
+breiten Mantel trug. Denn ich dachte bei mir, in der jetzigen Mode
+tragen die Weiber M&auml;nnerr&ouml;cke und die M&auml;nner Weiberzeug. Von hinten hat
+er wie ein eingemummtes Frauenzimmer ausgesehen. Sonst ist es aber ein
+feiner Herr gewesen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Staatsanwalt bat, noch einmal auf den Mann mit der Zigarette
+zur&uuml;ckkommen zu d&uuml;rfen. Er w&uuml;nsche zu wissen, ob er reines Deutsch oder
+wie ein Ausl&auml;nder gesprochen habe.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wissen Sie&laquo;, sagte der Hausmeister, &raquo;geradeso wie unsereiner reden
+ja die wenigsten. Ich habe schon oft gedacht, was redet der f&uuml;r ein
+Kauderwelsch daher? und nachher war es doch ein Deutscher und nichts
+weiter. 'Haben <span class='pagenum'><a name="Page_203" id="Page_203">[203]</a></span>Sie Feuer, Euer Gnaden?'&laquo; Er wiederholte sich den Satz,
+wie um durch die Worte an Klang und Tonfall erinnert zu werden. &raquo;Eigen
+hat es ja geklungen, aber ganz lieb, ganz spa&szlig;ig, und gutes Deutsch ist
+es doch auch gewesen. Der mit dem Auto dagegen, der hat so geschnauft,
+da&szlig; ich ihn kaum verstehen konnte, und mich hat er, glaub' ich, auch
+nicht gut verstanden, wenigstens lief er zuerst nach der falschen Seite,
+obwohl ich es ihm klar auseinandergesetzt hatte. Es kann aber nat&uuml;rlich
+auch wegen der gro&szlig;en Eile gewesen sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dieser Herr,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;ist wahrscheinlich derselbe, der
+in der Pension nach Zimmern fragte und abschl&auml;gig beschieden werden
+mu&szlig;te. Es ist keine Spur von ihm aufzutreiben gewesen, und wir nehmen
+an, da&szlig; er sich nur vor&uuml;bergehend hier aufgehalten hat.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Beim Schlu&szlig; dieser Sitzung waren alle Beteiligten mit Ausnahme von
+Deruga abgespannt, gereizt und aufgeregt. Herrn von Wydenbrucks Gedanken
+weilten bei dem Traume der <span class='pagenum'><a name="Page_204" id="Page_204">[204]</a></span>verstorbenen Frau, den Ursula geschildert
+hatte, und er sprach sich dar&uuml;ber gegen <tt>Dr.</tt> Bernburger aus, als
+er neben ihm durch die breiten G&auml;nge des Justizgeb&auml;udes ging.</p>
+
+<p>&raquo;Das Kind,&laquo; sagte er, &raquo;das sie besuchte, war nat&uuml;rlich ein Bild f&uuml;r den
+Vater, das Schaukeln deutet auf sinnliche Regungen. Es ist zweifellos,
+da&szlig; sie ihn erwartete.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger, der sehr bla&szlig; aussah, hatte sich eben eine
+Zigarre angez&uuml;ndet und begann sich etwas zu erholen.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist wahr,&laquo; sagte er hastig. &raquo;Die Schl&uuml;sse von zwei
+entgegengesetzten Richtungen treffen sich wie die Bohrer in einem
+Tunnel. Er hatte sie um Geld gebeten, das hatte ihre Erinnerungen
+belebt. Sie erwartete ihn in einer verliebten oder sentimentalen
+Stimmung. Er kam in der Verkleidung eines Hausierers, der h&ouml;lzerne
+L&ouml;ffel verkauft. Entweder lie&szlig; ihn die ins Geheimnis gezogene Ursula
+ein, oder er wu&szlig;te ihre Aufmerksamkeit zu hintergehen, oder Frau Swieter
+selbst &ouml;ffnete ihm. W&auml;re mir das Ergebnis der Voruntersuchung bekannt
+und h&auml;tte ich Fragen <span class='pagenum'><a name="Page_205" id="Page_205">[205]</a></span>stellen k&ouml;nnen, so h&auml;tte ich den Tatbestand auf
+der Stelle herausgebracht. Ich lag auf der Folter, w&auml;hrend dieser
+schwerf&auml;llige Apparat arbeitete.&laquo; <tt>Dr.</tt> Bernburger trocknete seine
+Hand mit dem Taschentuch ab, wobei seine d&uuml;nnen Finger zitterten.</p>
+
+<p>&raquo;Sie glauben also,&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck, &raquo;da&szlig; der Wunsch
+des Wiedersehens von Deruga ausging und seinen Grund in der Geldsorge
+hatte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das halte ich f&uuml;r wahrscheinlich,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.
+&raquo;Jedenfalls hat der Slowak sie get&ouml;tet, und der Slowak war Deruga.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meiner Ansicht nach,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck, &raquo;lag die
+magnetische Anziehung zugrunde, die Hysterische verh&auml;ngnisvoll
+zueinander zieht. Wie sich auch der Wunsch eingekleidet haben mag, dies
+mu&szlig; der Kern gewesen sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ob es m&ouml;glich w&auml;re, da&szlig; die weggeworfene Zigarette noch in dem Geb&uuml;sche
+l&auml;ge?&laquo; sagte Bernburger, seine Gedanken verfolgend. &raquo;Aber wieviel Schnee
+und Regen ist schon darauf gefallen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_206" id="Page_206">[206]</a></span>&raquo;Warum k&ouml;nnte es nicht auch der mit dem Auto gewesen sein?&laquo; wandte
+<tt>Dr.</tt> von Wydenbruck ein.</p>
+
+<p>&raquo;Er zeigte unbefangen, da&szlig; er es eilig hatte. Der andere verlangte
+Feuer, um unbefangen zu erscheinen, und warf die Zigarette gleich darauf
+fort, weil er gar nicht rauchen wollte. &Uuml;brigens haben Raucher meistens
+auch Z&uuml;ndh&ouml;lzer bei sich. Au&szlig;erdem f&uuml;hlte ich es, sowie das M&auml;dchen den
+Slowaken anf&uuml;hrte. Ich sah es wie mit dem zweiten Gesicht.&laquo;</p>
+
+<p>Herr von Wydenbruck betrachtete seinen Freund mit einem neuen Interesse
+von der Seite. &raquo;Das w&auml;re allerdings ausschlaggebend,&laquo; sagte er und
+erkundigte sich, ob sein Freund schon &ouml;fter solche Erscheinungen an sich
+beobachtet h&auml;tte.</p>
+
+<p>In demselben Gange, den die beiden eben durchschritten, stand Deruga mit
+dem Justizrat Fein in einer Fensternische im Gespr&auml;ch, beil&auml;ufig die
+Vor&uuml;bergehenden beobachtend.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ich der Pr&auml;sident w&auml;re,&laquo; sagte Deruga, &raquo;w&uuml;rde ich einen geladenen
+Revolver mit in die Sitzung nehmen und den Zeugen vors Gesicht <span class='pagenum'><a name="Page_207" id="Page_207">[207]</a></span>halten,
+und wenn sie sich dann noch nicht entschl&ouml;ssen, vern&uuml;nftig zu antworten,
+sch&ouml;sse ich sie nieder. Der Mann hat eine unbegreifliche Geduld.&laquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick sah er <tt>Dr.</tt> Bernburger mit seinem Begleiter
+herankommen, nahm rasch eine Zigarette aus seinem Etui, trat ein paar
+Schritte vor und sagte zu <tt>Dr.</tt> Bernburger: &raquo;Haben Sie Feuer, Euer
+Gnaden?&laquo; Dann, nachdem er seine Zigarette angez&uuml;ndet hatte, stellte er
+sich wieder neben den Justizrat, indem er ihm aus ernstem Gesicht
+zublinzelte.</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger war vor Erregung bleich geworden, w&auml;hrend er
+Deruga schweigend die brennende Zigarre hinhielt. Es ist klar, dachte
+er, da&szlig; er sich &uuml;ber mich lustig macht. &Uuml;ber wieviel Scharfblick,
+Geistesgegenwart, Frechheit und Kaltbl&uuml;tigkeit verf&uuml;gt dieser Mensch; es
+ist ihm alles zuzutrauen. Allerdings, wenn er nicht schuldig w&auml;re,
+zeugte sein Benehmen nur von der Sicherheit des Unbeteiligten. Aber die
+seine war die Sicherheit des gewiegten zynischen T&auml;ters; es war die
+Herausforderung eines <span class='pagenum'><a name="Page_208" id="Page_208">[208]</a></span>geistvollen Verbrechers, der sich f&uuml;r
+un&uuml;berf&uuml;hrbar h&auml;lt.</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger war zu erregt und zu vertieft, um seine Gedanken
+laut zu &auml;u&szlig;ern, er ging hastig, seinem Freund um einige Schritte voraus.</p>
+
+<p>&raquo;Er hat Ihre Gedanken erraten,&laquo; sagte dieser. &raquo;Das ist wieder ein
+Symptom von Hysterie, ebenso wie die Kaltbl&uuml;tigkeit. Man wird doch
+zuletzt einsehen m&uuml;ssen, da&szlig; es sich um etwas Krankhaftes, um eine Art
+Lustmord handelt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber die Frau, die er t&ouml;tete, war zweiundf&uuml;nfzig Jahre alt,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Bernburger &auml;rgerlich.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist eben die Perversit&auml;t,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> von Wydenbruck.
+&raquo;Vielleicht verschmolz sie ihm auch dadurch mit dem Erinnerungsbild
+seiner Mutter, wodurch der aus Leidenschaft und Vernichtungslust
+zusammengesetzte Hang verh&auml;ngnisvoll verst&auml;rkt wurde.&laquo;</p>
+
+<p>Unterdessen machte der Justizrat seinem Klienten Vorw&uuml;rfe. &raquo;Sie sind
+wirklich ein Topf voll M&auml;use,&laquo; sagte er. &raquo;Ich m&uuml;&szlig;te Ihnen ein Schlo&szlig;
+<span class='pagenum'><a name="Page_209" id="Page_209">[209]</a></span>vor den Mund h&auml;ngen. Was war nun das wieder f&uuml;r eine Eruption?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach,&laquo; sagte Deruga, &raquo;warum sollte ich den beiden jungen Haifischen
+nicht einen Knochen zwischen die schiefen Z&auml;hne werfen? Sahen Sie nicht,
+wie ihm die Augen aus dem Kopfe quollen vor Gier? Es tut mir nur leid,
+da&szlig; ich nicht zusehen kann, wie sie ihn abnagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit Haifischen ist nicht zu spa&szlig;en,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;und obwohl
+Sie ein nichtsnutziger Italiener sind, m&ouml;chte ich doch nicht gerade, da&szlig;
+er Sie zwischen die Z&auml;hne bek&auml;me.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_210" id="Page_210">[210]</a></span></p>
+<h2><a name="VII" id="VII"></a><tt>VII.</tt></h2>
+
+
+<p>Die Baronin hatte kaum am Arme ihres Mannes den Saal verlassen, als ein
+Gerichtsdiener ihr in den Weg trat und sie im Namen des
+Oberlandesgerichtsrats Zeunemann bat, ihn zu einer kurzen Unterredung in
+seinem Zimmer aufzusuchen. Er sei bereit, setzte der Gerichtsdiener
+hinzu, sie sofort hinzuf&uuml;hren.</p>
+
+<p>&raquo;Du begleitest mich doch,&laquo; sagte sie, zu ihrem Manne hingewendet, der
+sich willig anschlo&szlig;. Er m&uuml;sse zwar gestehen, sagte er, da&szlig; er Hunger
+habe; aber die Herren vom Gericht w&auml;ren sicher im gleichen Fall, und so
+w&uuml;rde es nicht lange dauern.</p>
+
+<p>Der Oberlandesgerichtsrat, sagte sie in franz&ouml;sischer Sprache, w&auml;re ein
+ganz angenehmer Mann, etwas kleinb&uuml;rgerlich eitel, aber gef&auml;llig und im
+Grunde, glaubte sie, ganz auf ihrer Seite.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_211" id="Page_211">[211]</a></span><tt>Dr.</tt> Zeunemann hatte sich bereits umgekleidet und knabberte an
+einem St&uuml;ckchen Schokolade zur St&auml;rkung. &raquo;Ich w&uuml;rde die Herrschaften
+nicht in diesem Augenblick zur&uuml;ckgehalten haben,&laquo; sagte er, ihnen St&uuml;hle
+anbietend, &raquo;wenn es nicht in ihrem eigenen Interesse w&auml;re; mein Wunsch
+ist, Ihnen einen Schreck oder eine unangenehme &Uuml;berraschung, wenn nicht
+ganz zu ersparen, so doch zu mildern.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Einen Schreck, Herr Oberlandesgerichtsrat,&laquo; rief die Baronin aus,
+&raquo;jetzt, wo meine Nerven durch den gr&auml;&szlig;lichen Proze&szlig; ohnehin erregt sind!
+Nein, so grausam k&ouml;nnen Sie nicht sein!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich hoffe, das Unangenehme dadurch abzuschw&auml;chen,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann, &raquo;da&szlig; ich Sie pers&ouml;nlich vorbereite. Ich erhielt heute fr&uuml;h
+einen Brief Ihres Fr&auml;uleins Tochter, in dem sie schreibt, sie habe aus
+der Zeitung von dem Proze&szlig; erfahren. Sie sei au&szlig;er sich, protestiere
+dagegen und verlange, da&szlig; ihr Protest ver&ouml;ffentlicht werde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber das werden Sie doch nicht tun, Herr Oberlandesgerichtsrat,&laquo; rief
+die Baronin, der <span class='pagenum'><a name="Page_212" id="Page_212">[212]</a></span>das Blut ins Gesicht stieg. &raquo;Sie mag unter der Hand
+protestieren, so viel sie will, aber das geht doch die &Ouml;ffentlichkeit
+nichts an. Als ob der Proze&szlig; nicht schon Skandal genug w&auml;re!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht ist Ihr Fr&auml;ulein Tochter aus dem Grunde dagegen gewesen,&laquo;
+meinte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;da&szlig; Sie sich damit befassen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber, lieber Oberlandesgerichtsrat,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;Sie werden
+nicht erwarten, da&szlig; ich auf die t&ouml;richten Einw&auml;nde eines jungen
+M&auml;dchens, eines Kindes, achte, wenn es sich um so wichtige Entschl&uuml;sse
+handelt. W&uuml;rden Sie das tun?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jedenfalls,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;w&uuml;rde ich an Ihrer Stelle
+jetzt zu verhindern suchen, da&szlig; Ihr Fr&auml;ulein Tochter irgend etwas in
+Szene setzt. Sie scheint in gro&szlig;er Entr&uuml;stung und Erregung zu sein, und
+zwar zum Teil deshalb, weil Sie, gn&auml;dige Frau, den Proze&szlig; in ihrem
+Interesse angeregt zu haben behaupten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O, die Undankbarkeit der Kinder,&laquo; seufzte die Baronin. &raquo;H&auml;tte ich all
+dies Entsetzliche und Skandal&ouml;se auf mich genommen, wenn ich es <span class='pagenum'><a name="Page_213" id="Page_213">[213]</a></span>nicht
+f&uuml;r meine Pflicht gehalten h&auml;tte, meiner Tochter die materiellen
+Vorteile zu erk&auml;mpfen, die ihr geb&uuml;hren? Warum sagst du gar nichts,
+Botho?&laquo; wendete sie sich an ihren Mann. &raquo;Ich hoffe, du wirst deine
+Autorit&auml;t gegen Mingo in Anwendung bringen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde versuchen, sie von auffallenden Schritten zur&uuml;ckzuhalten,&laquo;
+sagte der Baron. &raquo;&Uuml;brigens wei&szlig;t du ja, liebes Kind, da&szlig; Mingo nicht
+leicht zu beeinflussen ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr leicht sogar,&laquo; entgegnete die Baronin, ihre Nasenfl&uuml;gel dehnend,
+&raquo;man mu&szlig; nur verstehen, ihr zu imponieren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dazu ist sie wohl zu sehr an uns gew&ouml;hnt,&laquo; entgegnete der Baron ruhig,
+&raquo;und zu sehr von uns verw&ouml;hnt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Von dir!&laquo; berichtigte seine Frau. &raquo;Gottlob, da&szlig; sie zu weit entfernt
+ist, um uns wesentliche Unannehmlichkeiten zu bereiten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Brief, den ich heute erhielt,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;tr&auml;gt
+den Poststempel Ostende.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ostende!&laquo; rief die Baronin, indem sie von ihrem Stuhl aufstand. &raquo;Sie
+ist aus England <span class='pagenum'><a name="Page_214" id="Page_214">[214]</a></span>abgereist, ohne uns um Erlaubnis zu fragen! Das darfst
+du nicht hingehen lassen, Botho!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie hat die Absicht hierherzukommen,&laquo; fuhr <tt>Dr.</tt> Zeunemann fort.</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen, Herr Oberlandesgerichtsrat,&laquo; sagte der Baron, sich
+gleichfalls erhebend, &raquo;da&szlig; Sie uns in so r&uuml;cksichtsvoller Weise gewarnt
+haben. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht eine Minute l&auml;nger in
+Anspruch nehmen!&laquo;</p>
+
+<p>Auch die Baronin bedankte sich mit liebensw&uuml;rdigen Worten und kn&uuml;pfte
+die Bitte daran, von den barocken Einf&auml;llen ihrer Tochter nichts bekannt
+werden zu lassen.</p>
+
+<p>In dem gro&szlig;en Vorsaal zu ebener Erde dr&auml;ngte sich das Publikum noch, so
+da&szlig; das Ehepaar nicht so schnell vorw&auml;rts kommen konnte, wie es
+w&uuml;nschte.</p>
+
+<p>Halb &auml;rgerlich auf ihren Mann, der ihr nicht so oder so die Bahn frei
+machte, halb beleidigt durch die Menschen, die nicht von selbst vor ihr
+zur&uuml;ckwichen, stand die Baronin still, als pl&ouml;tzlich etwas sie bewog,
+den Blick zur Seite zu wenden, und sie ganz in ihrer N&auml;he das <span class='pagenum'><a name="Page_215" id="Page_215">[215]</a></span>Gesicht
+eines Mannes sah, der sie, wie es ihr schien, mit zudringlichem Spott
+betrachtete. Indem sie sich zornig abwendete,<a name="FNanchor_TN1_1" id="FNanchor_TN1_1"></a><a href="#Footnote_TN1_1" class="fnanchor">[TN1]</a> sah sie eine
+auffallende Nadel in seiner Krawatte, und es wurde ihr mit einem Male
+klar, da&szlig; der Mann Deruga war.</p>
+
+<p>Ein Gef&uuml;hl von Schw&auml;che und &Uuml;belkeit &uuml;berkam sie. &raquo;Warum gehen wir nicht
+weiter?&laquo; sagte sie heftig zu ihrem Manne, ihn am Arm vorw&auml;rts dr&auml;ngend.
+Er bemerkte ihre Gereiztheit, verdoppelte seine Anstrengungen, sich
+einen Weg durch die Menge zu bahnen, und brachte sie in wenigen Minuten
+an das wartende Auto. Mit dem Ausdruck &auml;u&szlig;erster Ersch&ouml;pfung warf sie
+sich in die Ecke des R&uuml;cksitzes.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du Deruga gesehen,&laquo; sagte sie zu ihrem Manne, der besorgt nach
+ihrem Befinden fragte, &raquo;und wie frech er mich anstarrte? Es ist
+unbegreiflich, da&szlig; man diesen Menschen frei herumgehen l&auml;&szlig;t. So
+schrecklich hatte ich ihn mir nicht vorgestellt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du hast ihn doch heute nicht zum erstenmal gesehen!&laquo; sagte der Baron
+verwundert.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_216" id="Page_216">[216]</a></span>&raquo;Ich erkenne niemand ohne Glas,&laquo; sagte sie gereizt, &raquo;das wei&szlig;t du doch.
+Ich wei&szlig; nicht, wie ich mich von diesem Eindruck erholen soll. Ist es
+nicht unerh&ouml;rt, da&szlig; ich schutzlos der Rache dieses Mannes ausgesetzt
+bin? Ich werde mich keinen Augenblick mehr meines Lebens sicher f&uuml;hlen.&laquo;</p>
+
+<p>Was das anbelangt, meinte der Baron, k&ouml;nne sie ruhig sein; ein
+Angeklagter oder Verd&auml;chtiger sei immer vorsichtig.</p>
+
+<p>&raquo;Und gewisse Menschen glauben immer das, was am bequemsten ist,&laquo; setzte
+sie hinzu.</p>
+
+<p>Sie werde selbst ruhiger denken, wenn sie gegessen h&auml;tte, prophezeite
+der Baron gutm&uuml;tig. Sie sei &uuml;berhungrig, &uuml;berm&uuml;de und durch die
+schlechte Luft angegriffen. Dazu sei noch der durch Mingo verursachte
+Schreck gekommen. Sie solle sich am Nachmittag ausruhen, anstatt sich
+wieder stundenlang in den dumpfen Gerichtssaal einzusperren und sich
+widerw&auml;rtigen aufregenden Eindr&uuml;cken auszusetzen. Er sei bereit,
+hinzugehen und ihr ausf&uuml;hrlichen Bericht zu erstatten; ohnehin <span class='pagenum'><a name="Page_217" id="Page_217">[217]</a></span>w&uuml;rden
+die n&auml;chsten Vernehmungen nichts Neues bringen.</p>
+
+<p>Dies verhielt sich in der Tat so. Frau von Liebenburg, die Inhaberin der
+Pension im zweiten Hause, erkl&auml;rte vornehm ablehnend, da&szlig; sie nur feines
+Publikum habe, da&szlig; noch nie etwas mit ihren Pension&auml;ren vorgekommen sei,
+da&szlig; sie nichts den Proze&szlig; Betreffendes aussagen k&ouml;nne. Sie k&ouml;nne
+nat&uuml;rlich nicht f&uuml;r jeden einstehen, der bei ihr nach Zimmern frage, und
+Buch f&uuml;hren k&ouml;nne sie auch nicht &uuml;ber jeden, der k&auml;me, aber sie weigere
+sich entschieden, irgend etwas &uuml;ber die bei ihr verkehrenden
+Herrschaften zu sagen. Sie b&auml;te dringend, da&szlig; die bei ihr wohnenden
+feinen Herrschaften nicht mit Fragen und Nachforschungen inkommodiert
+w&uuml;rden, die zu keinem Ergebnis f&uuml;hren k&ouml;nnten.</p>
+
+<p>Nach dieser empfindlichen Dame erschien Frau R&uuml;bsamen, die Frau des
+Komponisten und Musikschriftstellers im zweiten Stock des dritten
+Hauses, und entschuldigte ihren Mann, der leidend sei und &uuml;berhaupt viel
+zu nerv&ouml;s, um als Zeuge auftreten zu k&ouml;nnen, da schon die <span class='pagenum'><a name="Page_218" id="Page_218">[218]</a></span>Vorstellung,
+in einen solchen Proze&szlig; verflochten zu sein, ihn in krankhafte Erregung
+versetzt habe. Er habe nun einmal ein k&uuml;nstlerisches Temperament, man
+k&ouml;nne mit ihm nicht umgehen wie mit gew&ouml;hnlichen Menschen. Er h&auml;tte doch
+auch nichts n&uuml;tzen k&ouml;nnen, denn sein Ged&auml;chtnis sei schwach, und wenn er
+Anstrengungen mache, um sich zu besinnen, bek&auml;me er nerv&ouml;se Zust&auml;nde.</p>
+
+<p>Sie selbst hingegen bes&auml;nne sich noch wohl auf den 2. Oktober, weil die
+Ursula sie am Morgen gebeten habe, wenn m&ouml;glich, ein wenig R&uuml;cksicht zu
+nehmen; Frau Swieter habe eine so schlechte Nacht gehabt und k&ouml;nne
+vielleicht am Tage ein wenig schlafen. Nat&uuml;rlich n&auml;hmen ihr Mann und sie
+gern R&uuml;cksicht. Frau Swieter w&auml;re ja auch eine angenehme Partei gewesen,
+und ihr Mann habe immer gesagt, er k&ouml;nne sie nicht genug sch&auml;tzen, weil
+sie nicht Klavier spielte und auch sonst kein Instrument aus&uuml;bte; nur
+die Krankheit sei ihm peinlich gewesen. Die Vorstellung, einen
+Sterbenden oder Toten im Hause zu haben, sei n&auml;mlich ganz unertr&auml;glich
+f&uuml;r ihren <span class='pagenum'><a name="Page_219" id="Page_219">[219]</a></span>Mann. Jetzt wohne eine Familie &uuml;ber ihnen, die turnten alle
+miteinander morgens und abends, und ihr Mann sage fast t&auml;glich, er w&uuml;rde
+noch so gern auf die arme Frau Swieter R&uuml;cksicht nehmen, wenn er nur die
+Turner nicht &uuml;ber dem Kopfe h&auml;tte. Sie h&auml;tten also das ihrige getan und
+den Klavierstimmer fortgeschickt. Es sei ohnehin die Zeit gewesen, wo
+ihr Mann Mittagsruhe zu halten pflegte.</p>
+
+<p>Eine Stunde sp&auml;ter sei dann ein Herr dagewesen, sie h&auml;tte ihn aber
+eigentlich nicht f&uuml;r einen feinen Herrn angesehen. Der h&auml;tte gebeten,
+Herr R&uuml;bsamen m&ouml;chte doch seine Stimme pr&uuml;fen, ob es der M&uuml;he wert sei,
+sie ausbilden zu lassen. Sie h&auml;tte den Herrn in den Salon gef&uuml;hrt und es
+ihrem Manne gesagt; der h&auml;tte gefragt, was f&uuml;r ein Mann es w&auml;re, worauf
+sie gesagt h&auml;tte, ihr k&auml;me er vor wie ein Kutscher oder h&ouml;chstens ein
+Tapezierer. Solche Leute h&ouml;rten n&auml;mlich oft, da&szlig; irgendein armer Teufel
+durch seine sch&ouml;ne Stimme sein Gl&uuml;ck gemacht h&auml;tte, und wenn sie dann so
+recht br&uuml;llen k&ouml;nnten, da&szlig; die W&auml;nde zitterten, bildeten sie sich ein,
+<span class='pagenum'><a name="Page_220" id="Page_220">[220]</a></span>sie w&auml;ren f&uuml;r die Kunst geboren. Nun, daraufhin h&auml;tte ihr Mann gar
+keine Lust dazu gehabt, das Pr&uuml;fen von Stimmen w&auml;re ohnehin ein
+undankbares Gesch&auml;ft. Wenn man es den Leuten ausreden wollte, w&uuml;rden sie
+oft recht grob, und f&uuml;r einen nerv&ouml;sen Mann wie Herrn R&uuml;bsamen sei das
+Gift.</p>
+
+<p>Ihre Aufgabe w&auml;re es denn in solchen F&auml;llen, so einen Menschen mit guter
+Manier herauszureden, und das h&auml;tte sie auch diesmal getan, indem sie
+gesagt h&auml;tte, ihr Mann sei nicht zu Hause, er m&ouml;chte ein andermal
+wiederkommen. Sie m&uuml;sse aber sagen, er h&auml;tte sich nie wieder blicken
+lassen.</p>
+
+<p>Ob sie den Herrn nach seinem Namen gefragt habe, erkundigte sich
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nein,&laquo; sagte Frau R&uuml;bsamen, &raquo;ich wollte mich m&ouml;glichst wenig
+einlassen. Nun, nach ein paar Jahren hei&szlig;t er vielleicht schon Mirabilio
+oder Birbanti.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das f&uuml;hrt zu nichts,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann leise zu seinem
+Nachbarn, der hinter der Hand g&auml;hnte. &raquo;Ich wu&szlig;te es vorher.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_221" id="Page_221">[221]</a></span>&raquo;Schlu&szlig;, Schlu&szlig;,&laquo; antwortete der Beisitzer ebenso.</p>
+
+<p>Ob um die Mittagszeit ein Bettler oder Hausierer bei ihr angel&auml;utet
+habe, fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann noch, unterbrach aber die Zeugin, da
+sie eine Reihe von M&ouml;glichkeiten zu er&ouml;rtern begann, mit der
+Aufforderung, nur das mitzuteilen, was sie bestimmt wisse. Etwas
+Bestimmtes in bezug darauf zu wissen, wies jedoch Frau R&uuml;bsamen mit
+Entschiedenheit von der Hand, worauf die Untersuchung &uuml;ber verd&auml;chtige
+Besucher des Hauses an dem verh&auml;ngnisvollen Tage einstweilen
+abgeschlossen wurde.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_222" id="Page_222">[222]</a></span></p>
+<h2><a name="VIII" id="VIII"></a><tt>VIII.</tt></h2>
+
+
+<p>&raquo;Das war sch&ouml;n von Ihnen, da&szlig; Sie die Kaution f&uuml;r mich hinterlegt
+haben,&laquo; sagte Deruga zu Peter Hase, indem er ihm die Hand reichte. &raquo;Ganz
+wie Sie, Gentleman durch und durch. Ich bin Ihr ergebener Diener.&laquo;</p>
+
+<p>Ein Anflug von R&ouml;te f&auml;rbte das blasse Gesicht des Schriftstellers.</p>
+
+<p>&raquo;Man hatte mir fest versprochen, da&szlig; mein Name nicht genannt werden
+sollte,&laquo; sagte er, die Augenbrauen zusammenziehend. &raquo;Ich verstehe nicht,
+wie man davon abgehen konnte.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga lachte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe Ihnen nur eine Falle gestellt, und Sie sind hineingegangen,&laquo;
+sagte er. &raquo;Also Sie sind es wirklich. Geben Sie zu, da&szlig; ich ein
+Menschenkenner bin! Wenn ich stillsitzen k&ouml;nnte wie ihr Deutschen, w&auml;re
+ich vielleicht auch ein Dichter.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_223" id="Page_223">[223]</a></span>&raquo;Ein besserer als ich,&laquo; sagte Peter Hase ernsthaft. &raquo;Sie verstehen es
+jedenfalls besser, Ihr Leben zu dichten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das f&auml;llt bei Ihnen wohl eher trocken aus,&laquo; meinte Deruga.
+&raquo;Gesellschaftsl&ouml;we, reiche Frau, Liebling des Publikums, Geheimrat, etwa
+noch der pers&ouml;nliche Adel. Etwas schematisch, aber doch ganz behaglich.
+Wie? Immer in einer so leicht parf&uuml;mierten Atmosph&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte den Abend mit Ihnen zubringen,&laquo; sagte Peter Hase ablenkend.
+&raquo;Wenn Sie nichts Besseres vorhaben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das w&auml;re Bett und Schlaf,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Beides wundervoll, aber ich
+kann es immer haben, Sie dagegen vielleicht nur heute. Machen Sie mit,
+Justizrat?&laquo; wendete er sich an seinen Anwalt.</p>
+
+<p>Dieser sagte, er m&uuml;sse sich nach seiner Familie umsehen, ein halbes
+St&uuml;ndchen habe er aber noch Zeit. Er freue sich, sagte er, als sie in
+dem abgeseilten Raum einer Restauration beim Essen sa&szlig;en, Peter Hase
+kennenzulernen. Er sei zwar nur ein einf&auml;ltiger Fachmensch, habe keine
+Zeit <span class='pagenum'><a name="Page_224" id="Page_224">[224]</a></span>f&uuml;r die sch&ouml;ne Literatur &uuml;brig, doch sei der Ruf von Hases Namen
+zu ihm gedrungen. In seiner Jugend habe er sich f&uuml;r einen Kenner und
+Feinschmecker in den K&uuml;nsten gehalten, das sei aber wohl jugendliche
+Selbst&uuml;berhebung gewesen.</p>
+
+<p>&raquo;Das glaube ich auch,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Ein feines Beefsteak, etwas
+blutig, am Rost gebraten, darauf verstehen Sie sich besser.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat l&auml;chelte gutm&uuml;tig. &raquo;Nun ja,&laquo; sagte er, &raquo;das zu studieren
+hat man auch t&auml;glich Gelegenheit, ein gutes Buch ist selten. Und wissen
+Sie, wahre Geschichten, die w&uuml;rde ich lesen. Dabei kann man etwas
+lernen. Aber mich von fremder Leute Phantasien an der Nase f&uuml;hren zu
+lassen, dazu ist mir meine Zeit zu kostbar.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das Leben ist leider im allgemeinen allt&auml;glich und fade,&laquo; sagte Peter
+Hase, &raquo;und die Dichtung soll ein sch&ouml;ner, bunter Teppich sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagte Deruga, &raquo;ein purpurnes Meer voller Ungeheuer, Wunder,
+Kostbarkeiten und Seltenheiten. Gr&uuml;n wie Glas, s&uuml;&szlig; wie Opal, schwarz wie
+Sturm, unersch&ouml;pflich, unergr&uuml;ndlich, immer von zauberhaften Geburten
+g&auml;rend <span class='pagenum'><a name="Page_225" id="Page_225">[225]</a></span>und gefr&auml;&szlig;ig nach allem Lebendigen. Aber gerade so ist doch das
+Leben.&laquo;</p>
+
+<p>Peter Hase betrachtete Deruga aufmerksam, in dessen schmalen Augen sich
+die Vorstellungen zu spiegeln schienen. &raquo;Sie sind eben ein Dichter dem
+Gef&uuml;hle nach,&laquo; sagte er. &raquo;Ihr Gef&uuml;hl macht es so.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und im Grunde ist es alles derselbe gemeine Stra&szlig;endreck,&laquo; sagte Deruga
+in ver&auml;ndertem Ton.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, da gehen Sie wieder zu weit,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Betrachten wir
+einmal unseren Proze&szlig;! Sie sind mir gerade originell genug, und die
+Baronin Truschkowitz ist jedenfalls auch keine gew&ouml;hnliche Nummer.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich hasse diese Art Weiber,&laquo; fiel Deruga schnell ein. &raquo;Selbsts&uuml;chtig,
+habs&uuml;chtig, beschr&auml;nkt, kalt und ewig nach neuen Sensationen l&uuml;stern.
+Ohne Geld w&auml;re sie eine Dirne.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber, aber, Verehrtester,&laquo; sagte der Justizrat, gelinde scheltend, &raquo;da
+scheinen Sie mir doch ein bi&szlig;chen parteiisch zu sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So,&laquo; sagte Deruga, sich erhitzend, &raquo;finden Sie es anst&auml;ndig, aus
+Geldgier einen Unbe<span class='pagenum'><a name="Page_226" id="Page_226">[226]</a></span>kannten des Mordes zu verd&auml;chtigen? Einen Menschen,
+der ihr nichts zuleide getan hat? Was f&uuml;r eine Gesinnung! Ich sollte
+eine alternde Frau, die mein Weib war, die Mutter meines einzigen,
+meines teuren, heiligen Kindes, t&ouml;ten, weil sie mir kein Geld, oder
+nicht genug Geld geben wollte, wom&ouml;glich, um ein paar Monate fr&uuml;her in
+den Besitz ihres Verm&ouml;gens zu kommen? Ich, das schw&ouml;re ich Ihnen, w&auml;re
+nie auf einen solchen Gedanken gekommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herrgott,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;solche Sachen kommen doch aber vor.
+Man kann das Leben nicht immer in rosa Beleuchtung sehen. Es sind schon
+Menschen um ein paar Taler umgebracht worden. Au&szlig;erdem vergessen Sie
+oder wollen Sie vergessen, da&szlig; die Baronin Ihnen dies Motiv nicht
+ausdr&uuml;cklich untergelegt hat, und wenn man Sie f&uuml;r rachs&uuml;chtig, hitzig
+und tollk&ouml;pfig h&auml;lt, tut man Ihnen eigentlich nicht so unrecht.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga st&uuml;tzte den Kopf in die Hand und antwortete nicht.</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;hle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen,&laquo; hub Peter Hase nach einer
+Pause an, &raquo;da&szlig; ich <span class='pagenum'><a name="Page_227" id="Page_227">[227]</a></span>der Baronin auf ihre Aufforderung hin einen Besuch
+gemacht habe. Sie machte mir den Eindruck einer Dame.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was f&uuml;r einen Eindruck sollte sie auch sonst machen?&laquo; sagte Deruga
+scharf. &raquo;Einer Stra&szlig;enputzerin oder eines Stallknechtes? &Uuml;brigens ist es
+ja einerlei. Sie will vermutlich mit dem ber&uuml;hmten Schriftsteller
+kokettieren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie kokettiert nicht mehr, als es jede Dame tut,&laquo; sagte Peter Hase.
+&raquo;Sogar in einer besonders geschmackvollen, ihrem Alter angemessenen Art
+und Weise. Es kommt mir eher so vor, als w&auml;re der Wunsch in ihr
+aufgetaucht, ich sollte ihre Tochter heiraten. Sie sprach mir immer
+wieder von ihrer Tochter.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; sagte Deruga, h&ouml;hnisch lachend, &raquo;Dirne und Kupplerin, das ist
+ja fast dasselbe. Nur ist es besonders gemein, die eigene Tochter zu
+verkuppeln. Eine Frau, die die M&auml;nner kennen mu&szlig;. Sie werden mir doch
+zugeben, meine Herren, wir haben uns alle geh&ouml;rig im Schlamme gew&auml;lzt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind allerdings nicht so rein wie ein <span class='pagenum'><a name="Page_228" id="Page_228">[228]</a></span>M&auml;dchen aus guter Familie,&laquo;
+sagte Peter Hase unver&auml;ndert ruhig und h&ouml;flich, &raquo;aber ich wei&szlig; nicht, ob
+das &uuml;berhaupt zu w&uuml;nschen w&auml;re. Die Frauen selbst w&uuml;nschen es
+augenscheinlich nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, sie lieben augenscheinlich den Schmutz,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Basta,
+wie denken Sie &uuml;ber die kleine Baronesse?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bevor ich sie gesehen und gesprochen habe,&laquo; sagte Peter Hase, &raquo;enthalte
+ich mich jeder Entscheidung. Da ihr Verm&ouml;gen nicht au&szlig;erordentlich ist,
+mu&szlig; sie ungew&ouml;hnliche Qualit&auml;ten haben, um f&uuml;r eine Heirat in Betracht
+zu kommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auf mein Verm&ouml;gen rechnen Sie also nicht,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Das ist
+anst&auml;ndig und auch sehr verst&auml;ndig. Die Deutschen sind zwar gute Hunde,
+doch ein italienischer Hirsch, wenn er vielleicht auch nicht so schnell
+l&auml;uft, ist gewandter und l&auml;&szlig;t sich nicht fangen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind heute verdrie&szlig;lich, Deruga,&laquo; sagte der Justizrat, indem er
+aufstand, um sich zu empfehlen, &raquo;und in Ihrer Lage w&auml;re ich es
+vielleicht auch. Was die deutschen Hunde betrifft, so kann ich zwar
+nicht besonders gut laufen, <span class='pagenum'><a name="Page_229" id="Page_229">[229]</a></span>aber leidlich bellen und bei&szlig;en, und stelle
+mich Ihnen in dieser Hinsicht zur Verf&uuml;gung. Auf Wiedersehen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gott sei Dank, erst &uuml;bermorgen,&laquo; sagte Deruga, dem ein Versuch,
+liebensw&uuml;rdig zu l&auml;cheln, mi&szlig;lang. &raquo;Morgen ist Sonntag.&laquo;</p>
+
+<p>Er werde doch vielleicht zum Zweck einer kurzen Unterredung vorsprechen,
+sagte Fein.</p>
+
+<p>&raquo;Auch gut,&laquo; erwiderte Deruga, &raquo;ohnehin ist der Sonntag der
+Selbstm&ouml;rderwagen am Zuge des Lebens, Montag ist Totengr&auml;ber.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_230" id="Page_230">[230]</a></span></p>
+<h2><a name="IX" id="IX"></a><tt>IX.</tt></h2>
+
+
+<p>Der Sonntag zeigte sich indessen Deruga unverhofft wohlt&auml;tig, indem ein
+Freund seiner Kindheit und Jugend eintraf, <tt>Dr.</tt> Carlo Gabussi,
+Landarzt in einem Dorfe oberhalb Belluno, den Zeitungsberichte &uuml;ber den
+Proze&szlig; veranla&szlig;t hatten, nach M&uuml;nchen zu kommen, um Deruga allenfalls
+beizustehen. Die Freunde umarmten und k&uuml;&szlig;ten sich wieder und wieder, und
+es dauerte eine Weile, bis sie ein zusammenh&auml;ngendes Gespr&auml;ch zu f&uuml;hren
+imstande waren.</p>
+
+<p>&raquo;Kommst du wirklich meinetwegen, Carlo, lieber Junge?&laquo; sagte Deruga.
+&raquo;Das ist doch der M&uuml;he nicht wert, die Reise, die Kosten und alles das.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unsinn,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;ich war froh, Gelegenheit zu einer Reise zu
+haben. Ich bin ja seit zehn Jahren nicht von meinem gesegneten Dorfe
+heruntergekommen. Wenn ich aber etwas f&uuml;r dich tun k&ouml;nnte, w&auml;re ich
+allerdings gl&uuml;cklich. <span class='pagenum'><a name="Page_231" id="Page_231">[231]</a></span>Denke dir von den vielen Opfern, die du mir
+gebracht hast, einmal etwas wiederzugeben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich dir?&laquo; lachte Deruga. &raquo;Meinst du, da&szlig; du monatelang Tag f&uuml;r Tag bei
+mir sa&szlig;est, als ich krank im Spital lag?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;du bist zwar nicht mir zuliebe krank geworden,
+aber ich konnte doch zu dir kommen und brauchte nicht immer zu Hause zu
+sein, wo es so wenig Unterhaltung f&uuml;r mich gab. Du h&ouml;rtest mir zu, wenn
+ich von meiner Angebeteten erz&auml;hlte, und machtest mir Gedichte f&uuml;r sie.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga fragte, wie es ihr gehe, und ob sie noch immer nicht geheiratet
+h&auml;tten.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Gabussi mit einem Anflug von Wehmut. &raquo;Dadurch, da&szlig; meine
+Mutter bei mir wohnt, und da&szlig; meine arme Schwester lahm ist, kann ich
+nicht gut noch eine Frau unterbringen. Geld verdienen k&ouml;nnte sie auf
+meinem Dorfe auch nicht, denn eine verheiratete Lehrerin wird nicht
+angestellt. Aber ich bin ja so gl&uuml;cklich, da&szlig; ich meine Mutter noch
+habe! Sie ist jetzt so leicht, da&szlig; ich sie auf einem Arme tragen kann,
+und ich trage sie jeden Abend ins Bett, <span class='pagenum'><a name="Page_232" id="Page_232">[232]</a></span>obwohl sie sich f&uuml;rchtet; aber
+ich kann es nicht lassen, und im Grunde hat sie es auch gern. Nat&uuml;rlich,
+meine Lisa hat jetzt einige wei&szlig;e Haare in ihren sch&ouml;nen schwarzen
+Haaren. Sie sehen mir so aus wie eine Silberspur, die Gottes liebkosende
+Hand zur&uuml;ckgelassen hat. Kannst du dir das denken? Und wenn ich sie so
+gut und fr&ouml;hlich zwischen ihren Schulkindern sehe, dann wird mir wohl
+das Herz eng, und ich denke: Wenn ihr so unsere Kinder an der Hand
+hingen! Aber das ist ja selbsts&uuml;chtig und unrecht, wenn ich bedenke, wie
+gut es mir geht, zum Beispiel mit dir verglichen, mein Dodo, mein alter,
+lieber Junge! Wie konntest du aber nur in solchen h&ouml;llischen Wirrwarr
+verwickelt werden! Nein, sprich jetzt nicht davon, wenn du nicht magst!
+Wir haben Zeit, ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Schweinerei soll mir gesegnet sein,&laquo; sagte Deruga, &raquo;denn ohne sie
+h&auml;tte ich dich so bald nicht gesehen, Gabussi! Ein bi&szlig;chen magerer bist
+du geworden, aber sonst ganz das liebe, alte, ehrbare, erschrockene
+Gesicht!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_233" id="Page_233">[233]</a></span>&raquo;Aber du bist mein bronzener David nicht mehr,&laquo; entgegnete Gabussi. &raquo;Du
+siehst grau aus, das kommt vom Mangel an Luft und Bewegung. La&szlig; uns
+spazierengehen &mdash; oder, noch besser, ich nehme einen Wagen, und du zeigst
+mir die Stadt und die Umgegend.&laquo;</p>
+
+<p>Der Tag war grau und weich, und der offene Wagen fuhr langsam durch die
+tauenden Stra&szlig;en, vom Geriesel der Tropfen wie von einem musikalischen
+Geleit begleitet. Deruga sa&szlig; behaglich zur&uuml;ckgelehnt und gab Antwort auf
+die Fragen Gabussis, den die stattlichen Pl&auml;tze und Geb&auml;ude entz&uuml;ckten.
+In einer stillen Stra&szlig;e, in die der Kutscher, dessen Gutd&uuml;nken sie die
+F&uuml;hrung &uuml;berlie&szlig;en, einlenkte, erkannte Deruga pl&ouml;tzlich ein
+schmiedeeisernes Tor. Der gepflasterte Weg, der an den H&auml;usern entlang
+f&uuml;hrte, lag verlassen, und das Fliedergeb&uuml;sch war noch unbelaubt, nur
+eine Weide spannte keimende Zweige in einem feinen Strahlenbogen
+hin&uuml;ber.</p>
+
+<p>&raquo;Was ist dir?&laquo; fragte Gabussi, seinen Arm in den des Freundes schiebend,
+der sich aufgerichtet hatte.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_234" id="Page_234">[234]</a></span>&raquo;Wir fuhren eben an dem Hause vor&uuml;ber, wo die arme Marmotte wohnte,&laquo;
+sagte Deruga.</p>
+
+<p>Gabussi schwieg. Erst nach einer langen Pause sagte er: &raquo;Du warst doch
+einmal gl&uuml;cklich, Dodo.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, damals nicht,&laquo; erwiderte dieser. &raquo;Mein Gem&uuml;t war zu ruhelos, mein
+Herz zu empfindlich und mein Verstand zu scharf. Ich glaube, ich m&uuml;&szlig;te
+ein Gott sein, um mit meinen Gaben gl&uuml;cklich zu sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist doch aber auch sch&ouml;n, so begabt zu sein, wie du bist,&laquo; sagte
+Gabussi. &raquo;Wei&szlig;t du noch, wie oft unser Religionslehrer zu dir sagte:
+'Sigismondo, Verstand hast du, Verstand genug. Aber der Verstand ist ein
+h&ouml;llisches Feuer, die Vernunft ist ein g&ouml;ttliches Licht. Und Vernunft
+hat mancher alte Besenbinder mehr als du.'&laquo;</p>
+
+<p>Deruga lachte. &raquo;Ja, auf den Verstand war er schlecht zu sprechen,&laquo; sagte
+er. &raquo;Und wei&szlig;t du, wie er dich vor mir warnte und prophezeite, es w&uuml;rde
+ein Freimaurer und Atheist aus mir werden, wenn ich nicht etwa gar ein
+Heiliger w&uuml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>Der Wagen hatte inzwischen die st&auml;dtischen Anlagen erreicht, und sie
+sahen einen schnellen, <span class='pagenum'><a name="Page_235" id="Page_235">[235]</a></span>starken Flu&szlig; unter den dicken St&auml;mmen alter
+Weiden und Pappeln durch weite Wiesen flie&szlig;en. Eine schwere Erinnerung
+aus naher Vergangenheit vermischte sich in Deruga wunderbar mit den
+Erinnerungen der Kindheit und stimmte ihn weich und tr&auml;umerisch.</p>
+
+<p>&raquo;Damals, als wir Buben waren,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;da warst du doch
+gl&uuml;cklich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ich nicht tief unter dem Gl&uuml;ck immer gef&uuml;hlt h&auml;tte, wie h&auml;&szlig;lich,
+armselig, falsch und ungerecht alles um mich her war,&laquo; sagte Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Du, der einen solchen Engel zur Mutter hatte!&laquo; rief Gabussi aus. &raquo;Und
+wei&szlig;t du, wie gern du bei uns warst, und wie du stillhieltest, wenn
+meine Mutter dich auf die Stirn k&uuml;&szlig;te und 'kleiner Fremdling' nannte?
+Und wie wir unter dem Dache sa&szlig;en und unsere Aufgaben lernten und uns
+vor jedem Schatten f&uuml;rchteten?&laquo;</p>
+
+<p>Als die Freunde von der Fahrt zur&uuml;ckkehrten, war eine wohlige
+Zufriedenheit &uuml;ber Deruga gekommen.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn diese dumme Geschichte vorbei ist,&laquo; sagte er zu Gabussi, &raquo;werde
+ich ein neues Leben <span class='pagenum'><a name="Page_236" id="Page_236">[236]</a></span>anfangen. Was meinst du, wenn ich zu dir in die
+Berge k&auml;me?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber, Dodo,&laquo; sagte Gabussi au&szlig;er sich vor Freude, &raquo;das w&auml;re ein
+Paradies f&uuml;r mich. Und wie w&uuml;rden meine Mutter und meine Schwester sich
+freuen! Und meine Lisa f&uuml;r mich! Das gr&ouml;&szlig;te Gl&uuml;ck f&uuml;r meine Lisa ist,
+wenn mir etwas Gl&uuml;ckliches begegnet. Zu denken, da&szlig; du mich zuzeiten auf
+meinen G&auml;ngen begleitest und wir plaudern und schwatzen und Erinnerungen
+austauschen wie heute!&laquo;</p>
+
+<p>Sie wurden durch ein feines Klopfen unterbrochen, das schon einige Male
+ungeh&ouml;rt in das laute Gespr&auml;ch geklungen hatte. Als Gabussi zur T&uuml;r ging
+und &ouml;ffnete, sah er ein kleines, zierliches, blondhaariges M&auml;dchen mit
+gro&szlig;en, dunkelbraunen Augen, die ihn &auml;ngstlich, doch mit Feuer, ansahen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich w&uuml;nsche Herrn <tt>Dr.</tt> Deruga zu sprechen,&laquo; sagte eine helle, von
+der Erregung etwas ged&auml;mpfte und zitternde Stimme. &raquo;Sind Sie es?&laquo;</p>
+
+<p>Gabussi sch&uuml;ttelte den Kopf und wies auf seinen Freund, indem er ihn
+zugleich mit den Augen fragte, ob er gehen solle.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_237" id="Page_237">[237]</a></span>&raquo;Nein, bleibe,&laquo; bat Deruga, die Hand auf seinen Arm legend; und er
+fragte das Fr&auml;ulein, mit wem er die Ehre habe zu sprechen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin Mingo von Truschkowitz,&laquo; sagte die kleine Dame, &raquo;und komme, um
+Ihnen zu sagen, da&szlig; es mir sehr leid tut, da&szlig; meine Mutter den Proze&szlig;
+gegen Sie angefangen hat, und da&szlig; ich nichts, gar nichts damit zu tun
+habe. Da meine Tante Ihnen das Verm&ouml;gen vermacht hat, kommt es Ihnen zu.
+&Uuml;berhaupt hat meine Mutter nicht das mindeste Recht darauf, da sie sich
+nie um Frau Swieter bek&uuml;mmert hat.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Armes Kind,&laquo; sagte Deruga, &raquo;es mu&szlig; Ihnen schwer geworden sein, so
+allein zu mir zu kommen. So alt wie Sie w&uuml;rde meine kleine Mingo jetzt
+auch sein,&laquo; setzte er nach einer Pause hinzu, w&auml;hrend welcher seine
+Augen liebevoll auf ihr geruht hatten.</p>
+
+<p>&raquo;Dasselbe,&laquo; sagte Mingo und z&ouml;gerte einen Augenblick, &raquo;sagte Ihre
+verstorbene Frau, als sie mich sah.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie meine Frau einmal besucht?&laquo; fragte Deruga. &raquo;Wann war es?
+Erz&auml;hlen Sie mir davon.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_238" id="Page_238">[238]</a></span>&raquo;Es war vor acht Jahren,&laquo; berichtete Mingo. &raquo;Ich besuchte sie, weil ich
+so vieles von ihr geh&ouml;rt hatte, was mich anzog. Bei uns fand ich alles
+herk&ouml;mmlich und allt&auml;glich und unbedeutend. Ich liebte mir vorzustellen,
+da&szlig; irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihr best&uuml;nde, weil ich so
+hei&szlig;e wie sie. Sie gefiel mir so gut, sie war mir wie ein
+geheimnisvolles M&auml;rchen; aber sie sagte, ich solle nicht wiederkommen,
+wenn es ohne Wissen meiner Eltern geschehen mu&szlig;te. Vielleicht hatte mein
+Besuch sie auch traurig gemacht, weil ich sie an ihr verlorenes Kind
+erinnerte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So lebt doch wenigstens ein kleiner Mingo,&laquo; sagte Deruga warm. &raquo;Nach
+Ihrer Meinung,&laquo; fragte er nach einer Pause, &raquo;bin ich also mit Unrecht
+angeklagt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nach dem, was Ihre Frau mir damals von Ihnen erz&auml;hlte,&laquo; sagte sie mit
+Nachdruck, &raquo;bin ich &uuml;berzeugt, da&szlig; Sie ihr absichtlich nie etwas zuleide
+getan haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe ihr viel zuleide getan,&laquo; sagte Deruga, &raquo;aber aus Liebe.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_239" id="Page_239">[239]</a></span>&raquo;Das z&auml;hlt nicht,&laquo; sagte Mingo entschieden und fuhr z&ouml;gernd fort: &raquo;Ihre
+Frau zeigte mir auch ein Bild von Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es scheint aber nicht, da&szlig; es &auml;hnlich war,&laquo; sagte Deruga lachend, &raquo;oder
+ich habe mich seitdem sehr ver&auml;ndert.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nicht so sehr, wie es mir zuerst schien,&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>Gabussi beteuerte, da&szlig; sein Freund sich nur zu seinem Vorteil ver&auml;ndert
+habe, und forderte das kleine Fr&auml;ulein dringend auf, dies Urteil zu
+best&auml;tigen.</p>
+
+<p>&raquo;Das wei&szlig; ich nicht,&laquo; sagte sie, tief err&ouml;tend, &raquo;aber wie ein alter Mann
+sieht Herr Deruga nicht aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihnen gegen&uuml;ber bin ich sehr alt und weise,&laquo; sagte Deruga g&uuml;tig, &raquo;und
+verm&ouml;ge dieser Weisheit gebe ich Ihnen den Rat: Entzweien Sie sich
+meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter, wenn sie mir auch unrecht tut! Ein
+Kind schuldet seiner Mutter zu viel, um ihr jemals zum Gl&auml;ubiger werden
+zu k&ouml;nnen. Sprechen Sie es aus, wenn Sie anderer Meinung als sie sind,
+aber <span class='pagenum'><a name="Page_240" id="Page_240">[240]</a></span>nicht ohne den Ton z&auml;rtlicher Liebe! Versprechen Sie mir das?&laquo;</p>
+
+<p>Er streckte ihr die Hand hin, in die Mingo v&ouml;llig &uuml;berwunden ihre kleine
+legte.</p>
+
+<p>Carlo Gabussi umarmte, als das Fr&auml;ulein gegangen war, seinen Freund mit
+Begeisterung, lobte die Kleine und erkundigte sich nach der Mutter, die
+eine Teufelin sein m&uuml;sse.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn sie das noch w&auml;re,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Sie ist nur eine glatte, hohle,
+genu&szlig;s&uuml;chtige Frau, zu oberfl&auml;chlich selbst, um lasterhaft zu sein. Ein
+Bild unserer Gesellschaft, wo die gro&szlig;en R&auml;uber geehrt und die kleinen
+gehangen werden. &Auml;u&szlig;erlich ist sie nicht unangenehm.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und warum ha&szlig;t sie dich so?&laquo; fragte Gabussi.</p>
+
+<p>&raquo;Weil ich das Geld bekommen habe, wor&uuml;ber sie bereits zu ihren Gunsten
+verf&uuml;gt hatte,&laquo; sagte Deruga. &raquo;&Uuml;brigens scheine ich ihr gar nicht zu
+mi&szlig;fallen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie meinst du das?&laquo; fragte Gabussi. &raquo;Hast du denn mit ihr gesprochen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bis jetzt nur durch die Augen,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Aber ich verstehe mich
+ja gut auf Weiber. <span class='pagenum'><a name="Page_241" id="Page_241">[241]</a></span>Wenn ich darauf einginge, w&auml;re sie sehr geneigt,
+eine Liebelei mit mir anzufangen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber, Dodo,&laquo; rief Gabussi entr&uuml;stet aus, &raquo;das ist ja eine abscheuliche
+Entartung! Mit einem Manne kokettieren, den man ins Zuchthaus oder etwa
+gar auf das Schafott zu bringen im Begriffe ist. Ich verstehe solche
+Sachen nicht. K&ouml;nnte ich dich nur aus den Weibergeschichten
+herauswickeln, die die letzte Ursache deines Ungl&uuml;cks sind! Du solltest
+wieder heiraten, eine einfache, brave, liebe Frau, und dann zu mir
+hinauf in die Berge kommen. Was hast du von dieser heillosen
+Schlamperei? Luft, Licht, Sauberkeit, das sind die wichtigsten
+Verordnungen der modernen Gesundheitslehre.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r gesunde Seelen ausgezeichnet,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Aber Kranke brauchen
+warmen Dreck und mollige F&auml;ulnis.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unsinn,&laquo; sagte Gabussi in gro&szlig;er Erregung, &raquo;der Satz ist Unsinn, und
+die Voraussetzung, da&szlig; du krank bist, auch. Du bist nur bequem und zu
+gutm&uuml;tig. Versprich mir, da&szlig; du nichts Neues anzettelst! Auch nicht aus
+Mitleid. <span class='pagenum'><a name="Page_242" id="Page_242">[242]</a></span>Schlie&szlig;lich geraten die Frauen durch die Liebe nur noch tiefer
+in den Sumpf. Und versprich mir, sollte diese Baronin wirklich mit dir
+kokettieren wollen, da&szlig; du ihr die verdiente Abfertigung zuteil werden
+l&auml;&szlig;t!&laquo;</p>
+
+<p>Deruga wollte sich aussch&uuml;tten vor Lachen &uuml;ber seinen Freund, der, mit
+den langen Armen gestikulierend, wie ein Bu&szlig;prediger vor ihm stand. &raquo;Ich
+habe h&ouml;chstens Lust,&laquo; sagte er endlich, als er wieder sprechen konnte,
+&raquo;sie noch mehr zu reizen, um sie hernach desto empfindlicher kr&auml;nken und
+besch&auml;men zu k&ouml;nnen. Ich verabscheue diese Person.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach, Dodo!&laquo; seufzte Gabussi, &raquo;das ist schl&uuml;pfrig und gef&auml;hrlich. La&szlig;
+sie doch gehen, wenn du sie verabscheust! Tu es um der entz&uuml;ckenden
+Kleinen willen, wenn du es nicht aus Selbstachtung tust!&laquo;</p>
+
+<p>In Derugas Gesicht kam ein weicher Ausdruck. &raquo;Kleine Mingo,&laquo; sagte er.
+&raquo;Ihr m&ouml;chte ich wirklich nichts zuleide tun.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Siehst du,&laquo; sagte Gabussi eifrig. &raquo;Es war ein Ungl&uuml;ck, da&szlig; du deine
+Tochter verlieren <span class='pagenum'><a name="Page_243" id="Page_243">[243]</a></span>mu&szlig;test. An ihrer Hand w&auml;rest du gewi&szlig; nur reine,
+sch&ouml;ne Wege gegangen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Oder ich h&auml;tte sie mit mir in den Schlamm gezogen,&laquo; sagte Deruga,
+pl&ouml;tzlich verd&uuml;stert.</p>
+
+<p>&raquo;Mensch, f&uuml;hre nicht so verzweifelte Reden!&laquo; schalt Gabussi, &raquo;sonst
+k&ouml;nnte sogar ich an dir irre werden.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga umarmte und k&uuml;&szlig;te seinen Freund. &raquo;Immer der alte,&laquo; lachte er.
+&raquo;Hast du vergessen, da&szlig; man mich nicht so ernst nehmen mu&szlig;? Ich bin kein
+am Spalier gezogener Pfirsich. Man kann meine Worte nicht so ohne
+weiteres genie&szlig;en, es mu&szlig; erst etwas Schmutz herausgekocht und
+abgesch&auml;umt werden. Hast du das vergessen?&laquo;</p>
+
+<p>Auch Gabussi lachte nun. &raquo;Du hast recht, ich bin ein schwerf&auml;lliger
+Dummkopf,&laquo; sagte er. &raquo;Es ist kein Wunder, wenn dich in deiner
+ungl&uuml;cklichen Lage manchmal tolle Launen &uuml;berkommen. Der mu&szlig; vor allen
+Dingen ein Ende gemacht werden.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat, den er befragte, sprach sich ziemlich hoffnungsvoll aus.
+Deruga habe zwar <span class='pagenum'><a name="Page_244" id="Page_244">[244]</a></span>nicht durchaus einen guten Eindruck gemacht, und es
+bleibe zu vieles im Dunkeln, als da&szlig; jeder Verdacht aufgehoben w&uuml;rde,
+aber die vorhandenen Indizien gen&uuml;gten seiner Ansicht nach durchaus
+nicht, da&szlig; gewissenhafte Geschworene daraufhin ein Schuldig aussprechen
+k&ouml;nnten. Gabussis freundschaftliche Gef&uuml;hle waren davon nicht
+befriedigt; er bestand darauf, als Zeuge aufzutreten, damit die Menschen
+Deruga mit seinen Augen, das hei&szlig;t, wie er wirklich w&auml;re, s&auml;hen und ihn
+freispr&auml;chen, nicht, weil er nicht &uuml;berf&uuml;hrt werden k&ouml;nnte, sondern von
+seiner Schuldlosigkeit &uuml;berzeugt.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind mit Vorurteilen an dich herangetreten,&laquo; sagte er. &raquo;Sie haben
+nur einen Ausschnitt von dir kennengelernt. K&ouml;nnte man ein Gem&auml;lde
+richtig beurteilen, wenn man nur ein millimetergro&szlig;es St&uuml;ckchen davon
+betrachtet? Ich will ihnen von deiner Kindheit und deinen Jugendjahren
+erz&auml;hlen, so wie du bist, ohne &Uuml;bertreibung und k&uuml;nstliche Beleuchtung.
+Das ist eine induktive Methode, die den wissenschaftlichen Deutschen
+zusagen mu&szlig;.&laquo;</p><p><span class='pagenum'><a name="Page_245" id="Page_245">[245]</a></span></p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Gabussis Erscheinung machte einen g&uuml;nstigen Eindruck. Man fand, da&szlig;
+seine ehrlichen braunen Augen, sein schlichtes Auftreten und freim&uuml;tiges
+Reden eines Deutschen w&uuml;rdig w&auml;ren. Da er ein paar Semester in Wien
+studiert hatte, sprach er ziemlich gut Deutsch, wenn er langsam und
+vorsichtig vorging. Er sei, erz&auml;hlte er, mit dem Angeklagten seit fr&uuml;her
+Kindheit bekannt, sie h&auml;tten dieselbe Schule und sp&auml;ter dasselbe
+Gymnasium besucht. Dodo, wie er genannt wurde, sei in seinem, Gabussis,
+elterlichen Hause gern gesehen worden. Man habe bewundert, wie viel er
+geleistet, unter wie schwierigen Verh&auml;ltnissen er sich durchgearbeitet
+habe.</p>
+
+<p>&raquo;Worin bestanden die schwierigen Verh&auml;ltnisse?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Seine Familienverh&auml;ltnisse waren ung&uuml;nstig,&laquo; erkl&auml;rte Gabussi. &raquo;Er
+wurde zu Hause viel besch&auml;ftigt, so da&szlig; er oft die Nacht zu Hilfe nehmen
+mu&szlig;te, um mit den Schularbeiten fertig zu werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie kam das?&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;was war sein Vater?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_246" id="Page_246">[246]</a></span>&raquo;Sein Vater war damals Obstverk&auml;ufer,&laquo; antwortete Gabussi. &raquo;Er hatte
+ein kleines Gew&ouml;lbe hinter dem alten Rathause.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So,&laquo; sagte der Vorsitzende, in den Akten bl&auml;tternd. &raquo;Nach Derugas
+Angabe war sein Vater Kaufmann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;ein Obstverk&auml;ufer ist doch ein Kaufmann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;brigens,&laquo; setzte er hinzu, indem er einen beunruhigten Blick auf
+seinen Freund warf, &raquo;hat er nicht immer dieselbe Besch&auml;ftigung gehabt.
+Er war ein guter, aber ruheloser Mann.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende bat den Zeugen, Derugas Vater etwas ausf&uuml;hrlicher zu
+charakterisieren.</p>
+
+<p>Er habe ihn zu wenig gesehen und gesprochen, um ein ma&szlig;gebendes Urteil
+f&auml;llen zu k&ouml;nnen, sagte Gabussi. Wenn er dagewesen w&auml;re, habe er meist
+schwerm&uuml;tig und ohne Anteil zu nehmen in einem Winkel gesessen, nur
+selten einmal sei er mutwillig gewesen und habe dann laut gelacht und
+gescherzt.</p>
+
+<p>&raquo;Er war also nicht immer da?&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_247" id="Page_247">[247]</a></span>&raquo;Nein,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;er bekam zuweilen einen Anfall, der ihn zwang,
+die Familie zu verlassen und sich irgendwo herumzutreiben. Er blieb dann
+oft wochenlang, ja monatelang aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Trank er?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;O nicht besonders viel,&laquo; sagte Gabussi; &raquo;er war nur sehr eigent&uuml;mlich.
+Er bekam von Zeit zu Zeit eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas zu
+erleben, einen Drang nach Abenteuern. F&uuml;r das Familienleben war er nicht
+geschaffen, und das war f&uuml;r seine Frau und seine Kinder ein Ungl&uuml;ck.
+Gl&uuml;cklicherweise war seine Frau ein Engel, einfach ein Engel, und Dodo,
+der &auml;lteste Sohn, nicht weniger. Er war ihr Ebenbild innen und au&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es waren also noch mehr Geschwister da?&laquo; schaltete der Vorsitzende ein.
+&raquo;Was ist aus ihnen geworden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O nichts besonders Gutes,&laquo; sagte Gabussi z&ouml;gernd. &raquo;Sie haben des Vaters
+ungl&uuml;ckliche Sucht nach Abenteuern geerbt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und der &Auml;lteste hatte nichts davon?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_248" id="Page_248">[248]</a></span>&raquo;Im Gegenteil,&laquo; sagte Gabussi mit Feuer. &raquo;Er war schon als Kind die
+St&uuml;tze seiner Mutter. Er pflegte die kleinen Geschwister, er half in der
+K&uuml;che, im Hause und im Gesch&auml;ft, und sang dazu wie eine Lerche. Auch
+seine Mutter war stets heiter und von Dank gegen Gott erf&uuml;llt, da&szlig; er
+ihr einen solchen Sohn gegeben hatte. 'Den holdseligsten seiner Engel
+hat er mir geschickt,' pflegte sie zu sagen, 'so da&szlig; ich schon auf Erden
+in der himmlischen Seligkeit bin.' Verursachte es ihr Kummer, da&szlig; er so
+angestrengt arbeiten mu&szlig;te, tr&ouml;stete sie sich dadurch, da&szlig; Gott seinem
+Liebling die Kraft geben werde. W&auml;hrend er nachts seine Schularbeiten
+machte oder sp&auml;ter den Studien oblag, sa&szlig; sie neben ihm und n&auml;hte oder
+flickte. So lebten sie in Wahrheit im Paradies, solange der Vater fort
+war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mi&szlig;handelte er Frau und Kinder?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Dar&uuml;ber kann ich nicht viel sagen,&laquo; antwortete Gabussi, indem er wieder
+einen beunruhigten Blick nach seinem Freunde warf, &raquo;denn weder Dodo noch
+seine Mutter &auml;u&szlig;erten sich <span class='pagenum'><a name="Page_249" id="Page_249">[249]</a></span>dar&uuml;ber. Nach ihrem Tode gab es allerdings
+zuweilen Auftritte zwischen Vater und Sohn; denn die Arme hatte ihn
+stets etwas in Schranken gehalten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gesch&auml;ft und Haushalt kamen vermutlich herunter?&laquo; fragte der
+Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Mein Freund tat, was m&ouml;glich war,&laquo; erz&auml;hlte Gabussi. &raquo;Er war Vater und
+Mutter f&uuml;r seine unerwachsenen Geschwister, obwohl er damals selbst ein
+zarter J&uuml;ngling war. Er fuhr sogar zuweilen abends, wenn es dunkelte,
+Waren auf seinem Karren in die H&auml;user. Der Vater wurde allerdings mehr
+und mehr unzurechnungsf&auml;hig. Namentlich reizte er selbst die j&uuml;ngeren
+Kinder zu Unarten und b&ouml;sen Streichen. Er w&uuml;rde unerme&szlig;liches Unheil
+angerichtet haben, wenn er sich nicht vor Dodo gef&uuml;rchtet h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;War er hinf&auml;llig und gebrechlich geworden?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Durchaus nicht,&laquo; sagte Gabussi lebhaft, &raquo;er war ein gro&szlig;er, muskul&ouml;ser
+Mann, viel st&auml;rker als Dodo. Aber im Zorne schienen sich Dodos <span class='pagenum'><a name="Page_250" id="Page_250">[250]</a></span>Kr&auml;fte
+zu verhundertfachen. Seine arme Mutter w&uuml;rde gesagt haben, da&szlig; Gott ihn
+mit seinem Atem erf&uuml;llte, um seinen Liebling zu sch&uuml;tzen. Ich habe
+seinen Vater vor ihm davonschleichen sehen wie einen Hund, der wei&szlig;, da&szlig;
+er Pr&uuml;gel verdient.&laquo;</p>
+
+<p>Langsam richtete sich der Justizrat zu seiner vollen H&ouml;he auf. &raquo;Meine
+Herren,&laquo; sagte er, &raquo;ich glaube zu wissen, was viele von Ihnen jetzt
+denken: Da sehen wir wieder das unbez&auml;hmbare, gef&auml;hrliche Temperament
+dieses Menschen! Wer sich an seinem Vater vergreift, warum sollte der
+sich nicht an seiner Frau vergreifen &mdash; und so weiter. Ich, meine Herren,
+habe im Gegenteil gedacht: Wieder bricht diese beinahe krankhafte
+Heftigkeit hervor, wenn es sich darum handelt, B&ouml;ses zu verh&uuml;ten oder zu
+bestrafen. Wir haben in Deruga einen ungew&ouml;hnlich reizbaren Menschen,
+aber was ihn reizt, ist das Schlechte, H&auml;&szlig;liche, Unharmonische. Da&szlig; er
+sich aus selbsts&uuml;chtigen Gr&uuml;nden an jemandem vergriffen oder jemandem
+unrecht getan habe, daf&uuml;r liegt bis jetzt kein Beispiel vor.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_251" id="Page_251">[251]</a></span>&raquo;Eifersucht ist denn doch wohl Selbstsucht,&laquo; entgegnete der
+Staatsanwalt, &raquo;besonders wenn keine Ursache dazu gegeben wird. Auch geht
+es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder,
+richtiger ausgedr&uuml;ckt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das
+reifere und h&ouml;here Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir
+sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verh&auml;ngnisvollen Anlagen
+mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen
+der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau f&uuml;r ihn
+bedeutete. Etwas &Auml;hnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der
+Trennung von seiner durchaus anst&auml;ndigen, guten Frau beginnt sein Fall.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sein Fall!&laquo; sagte der Justizrat gelassen, &raquo;da mu&szlig; ich protestieren,
+oder den Ausdruck dahin pr&auml;zisieren, da&szlig; es sich um ein Abweichen von
+der herk&ouml;mmlichen, ausgetretenen Laufbahn handelt. Es ist allerdings bei
+Deruga eine gewisse Vernachl&auml;ssigung der &auml;u&szlig;eren Stellung, &auml;u&szlig;erer
+W&uuml;rden, &auml;u&szlig;erer Ehren eingetreten. <span class='pagenum'><a name="Page_252" id="Page_252">[252]</a></span>Damit braucht aber der Verfall des
+sittlichen Menschen nicht Hand in Hand zu gehen. Es kann sogar eine
+gr&ouml;&szlig;ere Verinnerlichung damit zusammenh&auml;ngen. Als Staatsangeh&ouml;riger bin
+ich allerdings f&uuml;r die b&uuml;rgerliche Ordnung. Wir d&uuml;rfen aber doch nicht
+vergessen, da&szlig; auch der Staat und jede von Menschen geschaffene Form von
+Kr&auml;ften lebt, die ihm von au&szlig;en, sagen wir meinetwegen aus dem Chaos,
+zustr&ouml;men.&laquo;</p>
+
+<p>Ein ironisches L&auml;cheln verzerrte das Gesicht des Staatsanwalts. &raquo;Das ist
+Philosophie,&laquo; sagte er, &raquo;und mit Philosophie l&auml;&szlig;t man sich auch die
+Notwendigkeit von Massenm&ouml;rdern und Giftmischern beweisen. Wir dagegen
+haben es ganz schlechtweg und einf&auml;ltig mit strafbaren Handlungen zu
+tun. Christus durfte sich erlauben, die Z&ouml;llner und S&uuml;nder zu lieben,
+wir m&uuml;ssen uns bescheiden, sie zu strafen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende machte die Handbewegung, mit der man Kreidestriche von
+einer Tafel l&ouml;scht. &raquo;Das f&uuml;hrt zu weit,&laquo; sagte er, und dann zum Zeugen
+gewendet: &raquo;Haben Sie selbst jemals Auftritte mit Ihrem Freunde gehabt?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_253" id="Page_253">[253]</a></span>&raquo;Ich? Niemals, niemals!&laquo; sagte Gabussi lebhaft, &raquo;und doch ist gewi&szlig;
+nicht leicht mit mir auszukommen. Mein phlegmatisches Temperament, das
+mir die Natur nun einmal gegeben hat, mu&szlig; eine feurige Natur, wie mein
+Freund ist, schon an sich reizen. Meine Langsamkeit im Auffassen h&auml;tte
+ihn oft ungeduldig machen k&ouml;nnen. Anstatt dessen war er stets
+opferwillig und hilfsbereit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Engel,&laquo; setzte der Staatsanwalt grinsend hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Hatte der Angeklagte noch viele Freunde au&szlig;er Ihnen?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Er stand mit fast allen gut,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;aber befreundet war er
+nur mit mir. Ich bin &uuml;berzeugt, da&szlig; kein einziger sein Inneres so gut
+kannte wie ich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist eigentlich sonderbar,&laquo; meinte der Vorsitzende, &raquo;bei einem
+Menschen, dessen feuriges, geselliges Temperament Sie selbst
+hervorheben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, so m&ouml;chte man denken,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;und wenn man ihn unter
+seinen Schulgef&auml;hrten <span class='pagenum'><a name="Page_254" id="Page_254">[254]</a></span>und sp&auml;ter unter seinen Studiengenossen sah, so
+mu&szlig;te man meinen, er sei mit allen verbr&uuml;dert. Ich erinnere mich, da&szlig;
+ich mich zuerst nicht an ihn heranwagte, weil ich dachte, ich mit meiner
+Schwerf&auml;lligkeit k&ouml;nne ihm nichts sein, der von so vielen wie von einer
+Familie umringt war. Aber diese Umg&auml;nglichkeit, die er an sich hatte,
+und die jeden anzog, war nur der Schleier, in den er seine Seele h&uuml;llte,
+um sie unzug&auml;nglich zu machen. Niemand ist schwerer zu kennen, als er,
+der das Herz auf der Zunge zu haben scheint. Es gibt zur&uuml;ckhaltende
+Menschen, die durch Schweigsamkeit oder unnahbares Wesen die anderen von
+sich abwehren. Das war seine Art nicht. Er richtete durch Gespr&auml;chigkeit
+und Vertraulichkeit eine Mauer um sich auf.&laquo;</p>
+
+<p>In dem Ma&szlig;e, wie Gabussi eifriger wurde, um dem Pr&auml;sidenten seines
+Freundes Eigenart zu erkl&auml;ren, wuchs das verst&auml;ndnisvolle Interesse des
+Vorsitzenden. &raquo;Ich begreife Sie, ich begreife Sie,&laquo; sagte er, &raquo;das kommt
+bei leidenschaftlichen, &uuml;berm&auml;&szlig;ig reizbaren Naturen vor. Sie m&uuml;ssen
+immer auf der Hut sein, da&szlig; <span class='pagenum'><a name="Page_255" id="Page_255">[255]</a></span>sie nicht zu viel von sich verausgaben, und
+schaffen doch ihrer Lebhaftigkeit einen gewissen Ausweg.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja, so ist es,&laquo; best&auml;tigte Gabussi. &raquo;Er war im Grunde weich und
+leicht verletzlich, sch&auml;mte sich, das den anderen zu zeigen, die so viel
+gleichg&uuml;ltiger und h&auml;rter waren, und verh&uuml;llte sich auf seine Art. Er
+war kein Tier, das zu seinem Schutze Stacheln oder Schuppen
+hervorbringt, er konnte nur bunte F&auml;den spinnen und mit solchem
+Blendwerk sich unkenntlich machen. Das bewahrte ihn wohl vor der
+allzunahen Ber&uuml;hrung wesensfremder Menschen, nicht aber vor allen
+schmerzhaften Zusammenst&ouml;&szlig;en mit der Au&szlig;enwelt, die sein Herz bluten
+machten. Ach, was f&uuml;r eine Tragik, da&szlig; er so oft beschuldigt wurde,
+anderen Leid zugef&uuml;gt zu haben, der immerfort durch andere litt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr interessant,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Aber worunter litt er
+denn so sehr? Nun ja, unter seinem Vater. Daf&uuml;r hatte er doch aber eine
+gute, liebevolle Mutter, er hatte Sie und den Verkehr mit Ihrer
+Familie.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_256" id="Page_256">[256]</a></span>&raquo;Seine Mutter liebte er allerdings unendlich,&laquo; erkl&auml;rte Gabussi, &raquo;und
+durch sie litt er gewi&szlig; nicht, wohl aber durch die Lage, in der er sie
+sah. Seine Seele f&uuml;hlte sich nie heimisch in der Umgebung, in die sie
+gepflanzt war. Er hatte einen lebhaften Sch&ouml;nheitssinn, und alles
+Geschmacklose, sowohl an den Gegenst&auml;nden wie an den Menschen, stie&szlig; ihn
+ab. Da er in &auml;rmlichen oder wenigstens sehr beschr&auml;nkten Verh&auml;ltnissen
+geboren war und aufwuchs, kam es mir immer wunderbar vor, da&szlig; er gegen
+alles Kleinliche und H&auml;&szlig;liche, und was sie mitbringen, so &uuml;beraus
+empfindlich war. Ich selbst habe das erst allm&auml;hlich verstehen lernen,
+anfangs klangen mir seine darauf bez&uuml;glichen Klagen wie Dichtungen in
+arabischer oder persischer Sprache. Es bildete oft den Gegenstand
+unseres Gespr&auml;chs und war ein Punkt, wo wir nie zusammenkamen. Da ich
+ihn nicht begriff, war ich oft ungerecht gegen ihn, wenn er zum Beispiel
+Reichtum als das Allererstrebenswerteste hinstellte. Ich predigte dann
+wie ein rechter Moralphilosoph auf ihn ein, vielmehr an ihm vor&uuml;ber.
+Denn von den <span class='pagenum'><a name="Page_257" id="Page_257">[257]</a></span>Bed&uuml;rfnissen, die ihn Reichtum ersehnen lie&szlig;en, hatte ich
+keine Ahnung. Meine einfachere, derbere Seele fand sich in jeder
+Umgebung zurecht, sie ist gewisserma&szlig;en ein Naturlaut, und wenn man sie
+nur nicht in einen gl&auml;nzenden Salon versetzt, so kann sie harmonisch
+einstimmen. Mit einer reichen Symphonie ist es anders. Mein Freund
+brauchte Sch&ouml;nheit um sich herum, in der sich die unendlich vielen,
+daher oft einander widerstrebenden T&ouml;ne aufl&ouml;sten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hier ist also doch ein Punkt, wo Sie voneinander abwichen,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Allerdings,&laquo; gab Gabussi zu, &raquo;aber &uuml;ber freundschaftliche
+Meinungsverschiedenheit ging das nie hinaus. Wir lie&szlig;en uns beide
+gelten, und er beneidete mich wohl sogar manchmal, weil ich so viel
+leichter zufriedenzustellen bin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es wundert mich,&laquo; fuhr <tt>Dr.</tt> Zeunemann gem&uuml;tlich fort, &raquo;da&szlig; Ihr
+Freund bei seinem leichtverletzlichen Sch&ouml;nheitssinn das Studium der
+Medizin ergriff, bei dem es so viel Absto&szlig;endes zu &uuml;berwinden gibt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;da kam ihm wieder seine <span class='pagenum'><a name="Page_258" id="Page_258">[258]</a></span>Hilfsbereitschaft und
+Liebe f&uuml;r alle Kranken und Leidenden zugute. Er hatte insofern eine
+geradezu geniale Begabung f&uuml;r seinen Beruf. Dazu kam, da&szlig; er auf diesem
+Wege am ehesten zu Gelde zu kommen dachte, was sowohl wegen seiner
+Familie w&uuml;nschenswert war, wie er es auch aus den erw&auml;hnten R&uuml;cksichten
+f&uuml;r sich erstrebte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und woran liegt es denn Ihrer Ansicht nach,&laquo; fragte der Vorsitzende,
+&raquo;da&szlig; es ihm damit doch nicht gegl&uuml;ckt ist?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jedenfalls nicht daran,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;da&szlig; er unt&uuml;chtig gewesen w&auml;re.
+Aber ich sagte schon, da&szlig; seine Seele reich und vielstimmig war. Er
+sehnte sich nach Geld und verachtete es andererseits; er warf zwei H&auml;nde
+voll weg f&uuml;r eine Handvoll, die er eingenommen hatte. Er arbeitete flink
+und gut; aber er tr&auml;umte noch besser. Er war geboren mit allen Tugenden,
+Reichtum auf edle Art zu genie&szlig;en, mit keiner von denen, die Reichtum
+machen. Beim Reichwerden kommt es ebensosehr wie auf die F&auml;higkeit des
+Erwerbens auf die des Festhaltens an, und die hatte er nicht. Es war
+jener tragische Zwiespalt <span class='pagenum'><a name="Page_259" id="Page_259">[259]</a></span>in ihm, der meiner Ansicht nach nur dadurch
+auszugleichen ist, da&szlig; man die Nichtigkeit des Reichtums einsieht und
+alles dessen, was der Reichtum verschafft. Auch der &Auml;rmste kann
+Sch&ouml;nheit im &Uuml;berflu&szlig; genie&szlig;en, wenn er sich in die Natur zur&uuml;ckzieht.
+Es war der einzige Fehler, den Deruga beging, da&szlig; er das nicht von
+Anfang an getan hat. In der gro&szlig;en Welt konnten die Konflikte seiner
+Seele keine L&ouml;sung finden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir haben Ihnen ein sehr feines Bild Ihres Freundes zu verdanken,&laquo;
+sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann freundlich. &raquo;Nicht minder brauchbar, weil von
+Freundeshand entworfen.&laquo; Dann schlo&szlig; er das Verh&ouml;r ab, nachdem er noch
+einige belanglose Fragen gestellt hatte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Als der Justizrat mit den beiden Freunden das Haus verlie&szlig;, war die Zeit
+des Feierabends. Die Stra&szlig;en f&uuml;llten sich mit Menschen, aber in den
+Anlagen hinter dem Gerichtsgeb&auml;ude war es still wie immer. Mit dem
+Lichte schienen die Gegenst&auml;nde ihr buntes Kleid abgeworfen zu <span class='pagenum'><a name="Page_260" id="Page_260">[260]</a></span>haben
+und in sanft schimmernder Nacktheit am Ufer der unendlichen Nacht zu
+feiern, bevor sie in das tiefe Bad hinuntertauchten. Gabussi erkl&auml;rte
+sich mit dem Ergebnis seiner Aussagen nicht ganz zufrieden. Es sei alles
+anders herausgekommen, sagte er, als er beabsichtigt hatte. Man werde
+da, ohne zu wissen wie, von einer Str&ouml;mung ergriffen, die einen von der
+eingeschlagenen Richtung abbr&auml;chte.</p>
+
+<p>&raquo;Was du sagtest, war alles sch&ouml;n und gut,&laquo; tr&ouml;stete Deruga. &raquo;Es kam mir
+nur &uuml;berfl&uuml;ssig vor, wie wenn man einem Deutschen einen feinen Mail&auml;nder
+Risotto vorsetzt, der doch nur die Nase dazu r&uuml;mpft und nach seinen
+Kartoffeln verlangt. Was macht das aber? F&uuml;r mich war es sch&ouml;n, mit dir
+von der Vergangenheit zu tr&auml;umen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;das vergangene Leiden dient, wie Shakespeare
+sagt, zu desto s&uuml;&szlig;erem Geschw&auml;tz.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;W&auml;hrend umgekehrt nichts weher tut, wie unser Dante sagt, als sich im
+Ungl&uuml;ck vergangenen Gl&uuml;ckes zu erinnern,&laquo; f&uuml;gte Gabussi hinzu.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_261" id="Page_261">[261]</a></span>Bei dem Abhange, wo jetzt ein erstes Schneegl&ouml;ckchen die gelbliche
+Spitze herausstreckte, blieb Deruga stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Da ist eins von den kleinen Gesch&ouml;pfen,&laquo; sagte er, &raquo;es guckt wie eine
+Maus aus ihrem Loch hervor.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie,&laquo; triumphierte der Justizrat. &raquo;Sie lachten mich damals aus,
+als ich ihm die trockenen Bl&auml;tter vom Kopf wegstocherte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie hatten auch unrecht,&laquo; entgegnete Deruga, &raquo;denn nun holt es
+wahrscheinlich die Katze.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meinen Sie den Nachtfrost?&laquo; fragte der Justizrat. &raquo;Diese fr&uuml;hen
+Pflanzen k&ouml;nnen viel vertragen, sie sind darauf eingerichtet. H&ouml;ren Sie,
+mein Lieber,&laquo; setzte er hinzu, indem er seinen Klienten fortzuziehen
+suchte, &raquo;Sie werden sentimental, das gef&auml;llt mir nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga r&uuml;hrte sich nicht von der Stelle und starrte versunken auf die
+feuchte Erde. Eine Zeile aus einem alten Gedicht lag ihm im Sinn, und er
+f&uuml;hrte sie an, als er sich darauf besonnen hatte:</p>
+
+<p>&raquo;<tt>La doglia mia cresoe coll' ombra.</tt>&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_262" id="Page_262">[262]</a></span>&raquo;Das klingt wie ein Ton von einer Amati,&laquo; sagte der Justizrat, die
+Musik des Verses mit sichtlichem Genusse schl&uuml;rfend. &raquo;Was hei&szlig;t das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mein Weh w&auml;chst mit den Schatten,&laquo; &uuml;bersetzte Deruga. &raquo;Das will also
+sagen, mit der wiederaufgehenden Sonne verschwindet es und bedeutet
+nicht mehr als eine Abendstimmung.&laquo; Er sch&uuml;ttelte sich, als werfe er die
+tr&uuml;be Laune von sich, und wandte sich rasch dem Ausgange zu.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn du erst bei mir in meinem Bergdorfe bist,&laquo; sagte Gabussi, &raquo;werden
+dich solche Stimmungen bald ganz verlassen. Das ist der Kohlenstaub der
+gro&szlig;en Stadt, den der reine Himmel der H&ouml;hen verzehrt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ob mir diese Luft wirklich so gut anschlagen w&uuml;rde, wie du meinst?&laquo;
+sagte Deruga. &raquo;Ich bin nun einmal kein Bauer.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du wirst einer werden,&laquo; rief Gabussi lebhaft aus. &raquo;Wenn du erst gelernt
+hast, dich f&uuml;r nichts als unsere paar K&uuml;he und Ziegen zu interessieren,
+dann wirst du gesund sein.&laquo; Er forderte den Justizrat zur Best&auml;tigung
+seiner Meinung auf.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_263" id="Page_263">[263]</a></span>&raquo;Ein bi&szlig;chen zu verbauern, t&auml;te Ihnen gewi&szlig; gut,&laquo; sagte dieser
+vorsichtig.</p>
+
+<p>&raquo;Sie meinen,&laquo; sagte Deruga, &raquo;wenn man den verzwickten Kerl in seine
+Bestandteile aufl&ouml;sen und einen ganz neuen daraus machen k&ouml;nnte, dann
+w&auml;re ihm allenfalls geholfen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat lachte.</p>
+
+<p>&raquo;Aber wenn man den alten Deruga gar nicht mehr herauskennte,&laquo; meinte er,
+&raquo;das w&auml;re doch schade.&laquo;</p>
+
+<p>Als Gabussi mit Deruga allein auf seinem Zimmer war, fuhr er fort, ihm
+das Leben auf seinem Dorfe auszumalen. Deruga k&ouml;nne ihn auf seinen
+G&auml;ngen begleiten, er verstehe ja mit einfachen Leuten umzugehen und
+werde bald der Gott der ganzen Gegend sein. &Uuml;brigens w&uuml;rden seine Frauen
+genug mit ihm zu schwatzen haben, und wenn er au&szlig;erdem noch eine
+Besch&auml;ftigung haben m&uuml;sse, so k&ouml;nne er ja diese oder jene medizinische
+Frage bearbeiten. Auch zu handwerklicher Besch&auml;ftigung gebe es
+Gelegenheit. Die Leute dort oben w&auml;ren um mehr als hundert Jahre zur&uuml;ck,
+h&auml;tten Werkzeuge <span class='pagenum'><a name="Page_264" id="Page_264">[264]</a></span>aus der Urwelt. Da w&auml;re ein Feld f&uuml;r seine
+Erfindungsgabe und Geschicklichkeit.</p>
+
+<p>&raquo;Ach,&laquo; sagte Deruga, &raquo;wie wenig du mich kennst! Begreifst du nicht, da&szlig;
+ich mich nach acht Tagen langweilen und nach vierzehn Tagen dich oder
+mich umbringen w&uuml;rde?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Langweilen?&laquo; wiederholte Gabussi erstaunt, seine gro&szlig;en Augen noch
+weiter &ouml;ffnend. &raquo;Langweilst du dich denn in der Stadt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, hier geht es an,&laquo; sagte Deruga, &raquo;dies Gewimmel von W&uuml;rmern auf
+der F&auml;ulnis unterh&auml;lt mich. Ich verabscheue es, aber ich gebrauche es.
+Es ist die Form des Lebens, die ich aufnehmen kann. Deine Berge wirken
+wie nasse Kn&ouml;del auf meinen Magen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe dich nicht,&laquo; sagte Gabussi, sich ereifernd, &raquo;das kann dein
+Ernst nicht sein. Einem guten Menschen mu&szlig; das Gro&szlig;e und Einfache wohl
+tun.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach, Gabussi,&laquo; erwiderte Deruga ungeduldig, &raquo;der Mensch ist kein
+Dreieck, worauf man den Pythagor&auml;ischen Lehrsatz anwenden kann. Glaube
+mir, da&szlig; ich schlie&szlig;lich deine gute, alte <span class='pagenum'><a name="Page_265" id="Page_265">[265]</a></span>Schwester verf&uuml;hren w&uuml;rde,
+nur um die klare Atmosph&auml;re ein bi&szlig;chen zu tr&uuml;ben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dodo, wenn deine arme Mutter dich so reden h&ouml;rte!&laquo; klagte Gabussi. &raquo;Es
+sind nur Reden, nur Worte; doch die Worte schon zerrei&szlig;en mir das Herz.&laquo;</p>
+
+<p>Die Unterredung setzte sich bis tief in die Nacht fort, ohne da&szlig; die
+Freunde zu einem Verst&auml;ndnis gekommen w&auml;ren. Gabussi bestand darauf, in
+M&uuml;nchen zu bleiben, bis der Proze&szlig; beendigt w&auml;re, und dann, falls er
+nach Wunsch erledigt w&auml;re, Deruga sofort mitzunehmen, wogegen dieser
+eine stets wachsende Abneigung ausdr&uuml;ckte. Vielmehr redete er Gabussi
+zu, ohne Zeitverlust abzureisen, da er zu Hause von Mutter und Schwester
+und von seinen Kranken ungeduldig erwartet w&uuml;rde, hier aber jetzt nichts
+n&uuml;tzen k&ouml;nne. Gabussi gab endlich nach, aber er war traurig und
+entt&auml;uscht.</p>
+
+<p>Im Augenblick der Trennung umarmte Deruga ihn mit der alten Herzlichkeit
+und mit Tr&auml;nen in den Augen. &raquo;Vergi&szlig; das verzweifelte Zeug, das ich
+geredet habe,&laquo; sagte er, &raquo;und glaube nur <span class='pagenum'><a name="Page_266" id="Page_266">[266]</a></span>das eine, da&szlig; mein Herz immer
+dasselbe ist. Und wenn dich morgen der Schlag trifft und zu einem
+schlottrigen Idioten machte, der seinen Mund nicht mehr finden kann, so
+w&uuml;rde ich dich zu mir nehmen und dich eigenh&auml;ndig f&uuml;ttern, solange du
+lebtest. Dasselbe la&szlig; mich von dir glauben! Was f&uuml;r ein Strudel von
+Dreck w&auml;re das Leben, wenn es nicht unwandelbare Herzen g&auml;be!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gott sei Dank,&laquo; sagte Gabussi, dessen gro&szlig;e braune Augen gl&auml;nzten, &raquo;ich
+glaube, ich h&auml;tte dem Himmel &uuml;ber meinem Kopfe mi&szlig;traut, wenn ich den
+Glauben an dich verlieren m&uuml;&szlig;te!&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_267" id="Page_267">[267]</a></span></p>
+<h2><a name="X" id="X"></a><tt>X.</tt></h2>
+
+
+<p>Die Baronin sa&szlig; mit ihrer Tochter vor dem mit Gas geheizten Kamin und
+betrachtete ihre auf das Gitter gest&uuml;tzten schmalen F&uuml;&szlig;e, w&auml;hrend sie
+sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Was meinst du, Mingo, wenn ich dir die Erlaubnis zum Studieren g&auml;be?&laquo;</p>
+
+<p>Mingo stand im R&uuml;cken ihrer Mutter am Fensterrand und starrte auf das
+nach einem raschen, starken Fr&uuml;hlingsregen schwarzblanke Pflaster, in
+dem die eben angez&uuml;ndeten Lichter sich spiegelten. Ihre Stimme klang
+schwach und m&uuml;de zu der Fragenden hin&uuml;ber, wie sie die Gegenfrage
+stellte: &raquo;Hast du denn die Absicht, es mir zu erlauben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe gedacht,&laquo; antwortete die Baronin, &raquo;da&szlig; ich es doch nie &uuml;bers
+Herz bringen werde, dich zu einer dir unsympathischen Heirat zu zwingen,
+und da&szlig; also daran gedacht werden <span class='pagenum'><a name="Page_268" id="Page_268">[268]</a></span>mu&szlig;, was aus dir werden soll, wenn du
+sp&auml;t oder gar nicht heiratest. Glaubst du denn, da&szlig; das Studium dich
+gl&uuml;cklich machen wird?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gl&uuml;cklich?&laquo; sagte die schwache Stimme vom Fenster her. &raquo;Ach, Mama! Aber
+es wird mich doch auf eine interessante und n&uuml;tzliche Art besch&auml;ftigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Fr&uuml;her,&laquo; sagte die Baronin erstaunt und fast ein wenig unwillig, &raquo;als
+du mich mit diesem Wunsche so sehr qu&auml;ltest, tatest du, als ob deine
+Seligkeit davon abhinge.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo trat vom Fenster weg und kauerte sich in einen Sessel, den sie
+neben den ihrer Mutter ger&uuml;ckt hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Ob wohl alle W&uuml;nsche verblassen?&laquo; sagte sie, &raquo;wenn sie ihrer
+Verwirklichung nahekommen? Aber, Mama, vielleicht kann ich mich nur
+heute abend nicht so recht freuen, weil ich m&uuml;de bin. Wenn du mir jetzt
+die Erlaubnis mit ins Bett gibst, werde ich morgen fr&uuml;h ganz gl&uuml;cklich
+damit erwachen.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin warf einen nachdenklichen, freundlichen Blick auf ihre
+Tochter.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_269" id="Page_269">[269]</a></span>&raquo;Nein, geh' noch nicht zu Bett, Kleines,&laquo; sagte sie. &raquo;Ich finde es so
+h&uuml;bsch, mit dir allein zu plaudern. Wei&szlig;t du, das Heiraten steht dir ja
+immer noch frei, aber es ist lange nicht so unterhaltend, wie du es dir
+jetzt wohl vorstellst, besonders wenn man nur um des Geldes willen
+heiratet.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hast du Papa um des Geldes willen geheiratet?&laquo; fragte Mingo.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, nicht in dem Sinne, da&szlig; er mir ohne Geld unannehmbar gewesen
+w&auml;re,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;im Gegenteil, er gefiel mir gut und zog mich
+an. Nur h&auml;tte das vielleicht nicht zu einer Heirat gef&uuml;hrt, wenn er
+nicht so verm&ouml;gend gewesen w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gefiel er dir sp&auml;ter nicht mehr so gut?&laquo; fragte Mingo zaghaft.</p>
+
+<p>&raquo;O, gefallen,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;mu&szlig; er einem doch. Er ist so
+au&szlig;erordentlich vornehm, nie aufdringlich, nie geschmacklos. Nur
+langweilig ist er, kannst du dir das denken?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; nickte Mingo, &raquo;ich kann es mir vorstellen. Aber ich dachte, wenn
+man sich liebt!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_270" id="Page_270">[270]</a></span>&raquo;Ach, kleine Torheit,&laquo; lachte die Baronin. &raquo;Liebe allein f&uuml;llt nicht
+einen einzigen Abend aus, wenn man einmal verheiratet ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach,&laquo; sagte Mingo und tr&auml;umte mit ihren gro&szlig;en, dunklen Augen auf die
+rotwogende Kupferplatte des Kamins. &raquo;Aber man hat doch Kinder,&laquo; fuhr sie
+nach einer Weile fort.</p>
+
+<p>Die Baronin lachte ihr junges, anmutiges Lachen. &raquo;Du Kind bist mir bald
+genug davongelaufen.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo f&uuml;hlte pl&ouml;tzlich eine gro&szlig;e Welle von Liebe und Mitleid f&uuml;r die
+Mutter in sich aufsteigen, setzte sich mit einem Sprung auf ihren Scho&szlig;,
+schlang die Arme um sie und k&uuml;&szlig;te sie. &raquo;Du, meine Frisur und meine
+Spitzen,&laquo; rief die Baronin erschreckt; doch war ihr anzumerken, da&szlig; sie
+sich der Ersch&uuml;tterung dieses Z&auml;rtlichkeitsausbruchs nicht ungern
+hingab.</p>
+
+<p>&raquo;Siehst du,&laquo; sagte Mingo fr&ouml;hlicher als vorher, &raquo;da&szlig; es doch besser ist
+zu studieren! Das ist nicht langweilig und l&auml;uft nicht fort.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r mich ist es zu sp&auml;t,&laquo; meinte die Baronin; &raquo;aber f&uuml;r dich mag es das
+Richtige sein!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_271" id="Page_271">[271]</a></span>Mingo tr&ouml;stete, ihre Mutter sei so klug; wenn sie wolle, k&ouml;nne sie es
+auch.</p>
+
+<p>Die Baronin sch&uuml;ttelte den Kopf. &raquo;Mein Verstand hat nie geturnt,&laquo; sagte
+sie, &raquo;er kann mit Grazie &uuml;ber einen Bach h&uuml;pfen und eine Blume pfl&uuml;cken
+und dergleichen, aber nichts, wozu man Muskeln braucht. Anstrengen kann
+ich mich in gar keiner Weise mehr. Vielleicht h&auml;tte ich es fr&uuml;her
+gekonnt, wenn die Notwendigkeit oder sonst ein starker Antrieb dagewesen
+w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mama,&laquo; sagte Mingo, die noch immer auf dem Scho&szlig;e ihrer Mutter sa&szlig;,
+&raquo;warst du nie verliebt? Vor deiner Heirat oder nachher?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, so eigentlich verliebt nie,&laquo; antwortete die Baronin. &raquo;Wei&szlig;t du,
+fr&uuml;her, als ich in deinem Alter war, hielt ich f&uuml;r Liebe das
+schmeichlerische Gef&uuml;hl, das man hat, wenn man angebetet wird. Je besser
+einem der gefiel, der einen anbetete, desto angenehmer war es; selbst zu
+lieben, hatte ich gar kein Talent oder Bed&uuml;rfnis. Und als ich
+verheiratet war, hatte ich mir vorgenommen, mir nichts Ernstliches
+zuschulden <span class='pagenum'><a name="Page_272" id="Page_272">[272]</a></span>kommen zu lassen, und das stand mir immer im Wege.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo hatte sich inzwischen zu F&uuml;&szlig;en ihrer Mutter auf den Boden gekauert
+und starrte wieder in den geheimnisvoll wogenden, kupfernen Feuerkessel.
+&raquo;Dann wei&szlig;t du gar nicht, wie es ist, von einer Leidenschaft hingerissen
+zu sein?&laquo; fragte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Du scheinst es mir fast vorzuwerfen,&laquo; sagte die Baronin mit einem
+Anflug von Sch&auml;rfe im Ton, aber nach einer Weile fuhr sie milder fort:
+&raquo;Es mag sein, da&szlig; ich deswegen nicht schlechter w&auml;re. &Uuml;brigens nahm ich
+mich nicht eigentlich um deines Vaters willen zusammen, sondern es war
+ein Ausflu&szlig; meiner Natur. Gro&szlig;e Aufregungen und Umw&auml;lzungen lagen mir
+nicht, und das, was ich einmal gew&auml;hlt hatte, wollte ich durchf&uuml;hren.
+Ich halte das f&uuml;r ein Erfordernis des guten Geschmacks.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Mama,&laquo; sagte Mingo, indem sie auf die gepflegte, mit vielen
+kostbaren Ringen allzu belastete Hand ihrer Mutter einen Ku&szlig; dr&uuml;ckte,
+&raquo;und Papa und ich haben Ursache, dir dank<span class='pagenum'><a name="Page_273" id="Page_273">[273]</a></span>bar zu sein. Nur f&uuml;r dich
+macht es mich fast traurig.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mach' dir dar&uuml;ber keine Gedanken, mein Kleines,&laquo; sagte die Baronin.
+&raquo;Was einem nicht ansteht, das w&uuml;rde einen auch nicht gl&uuml;cklich machen.
+Ich habe mir einen anderen Weg zu meinem Gl&uuml;cke ausgedacht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was meinst du, Mama?&laquo; fragte Mingo erschreckt.</p>
+
+<p>Die Baronin err&ouml;tete, ohne da&szlig; es im roten Widerschein der Kaminglut
+sichtbar geworden w&auml;re. &raquo;Das erz&auml;hle ich dir ein andermal, Liebling,&laquo;
+sagte sie. &raquo;Ich h&ouml;re eben ein Auto vorfahren. Das wird dein Vater sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mama,&laquo; sagte Mingo rasch. &raquo;Du hast mir noch nicht versprochen, da&szlig; du
+von dem Proze&szlig; zur&uuml;cktreten willst. Ohne das kann mich nichts, nichts
+gl&uuml;cklich machen. Ich will gern auf das Studium verzichten und immer, so
+lange ich lebe, bei dir bleiben, damit du dich nicht langweilst, wenn du
+mir nur das zuliebe tust.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Rege dich nicht auf, Mingo,&laquo; sagte die Baronin abwehrend, &raquo;du wei&szlig;t,
+da&szlig; ich das nicht <span class='pagenum'><a name="Page_274" id="Page_274">[274]</a></span>liebe. Nichts in der Welt ist wert, da&szlig; man sich
+dar&uuml;ber aufregt. Ich habe dir gesagt, da&szlig; ich es mit dem Anwalt
+besprechen will!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach, dein Anwalt,&laquo; sagte Mingo, &raquo;der hat dich ja gerade hineingehetzt.
+Er ist ein widerw&auml;rtiger Mensch! Er hat etwas Kriechendes, Schleimiges,
+Saugendes, als ob er zum Spion geboren w&auml;re. Ich begreife nicht, da&szlig; du
+mit einem solchen Menschen verkehren magst.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist doch kein Verkehr,&laquo; entgegnete die Baronin. &raquo;Ich bediene mich
+seiner Gaben, die ihn f&uuml;r diese Arbeit geeignet machen. Wenn er ein
+Edelmann w&auml;re, w&uuml;rde er mir vermutlich weniger n&uuml;tzen k&ouml;nnen. Es mag
+sein, da&szlig; er auch mich ausn&uuml;tzt, aber er k&ouml;nnte das ja gar nicht, wenn
+er nicht meinte, da&szlig; ich recht habe, und da&szlig; meine Sache Erfolg haben
+kann. Du tust, als handle es sich um eine Privatangelegenheit, aber es
+handelt sich um ein Verbrechen, an dem die &Ouml;ffentlichkeit Interesse
+hat.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du sollst die Hand nicht darin haben,&laquo; dr&auml;ngte Mingo. &raquo;Du hast mir
+selbst zugegeben, <span class='pagenum'><a name="Page_275" id="Page_275">[275]</a></span>da&szlig; du an deiner &Uuml;berzeugung von seiner Schuld irre
+geworden bist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meine &Uuml;berzeugung ist nicht ma&szlig;gebend,&laquo; sagte die Baronin. &raquo;Die
+Geschworenen sind dazu da, das Recht zu finden. Es handelt sich einfach
+um das Recht. Ich will nichts f&uuml;r mich erzwingen, was nicht dem Rechte
+gem&auml;&szlig; ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O Mama, Mama,&laquo; rief Mingo. &raquo;Der Schein ist aber auf dir, als wolltest
+du dir das Verm&ouml;gen erzwingen, das dir nun einmal nicht bestimmt war.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin war sichtlich verletzt. &raquo;Ein Kind, das im &Uuml;berflu&szlig;
+aufgewachsen ist, pflegt nicht nachzudenken, woher er flie&szlig;t,&laquo; sagte
+sie. &raquo;Du hast es leicht, das Geld gering zu sch&auml;tzen. Habe ich ein Recht
+darauf, so w&auml;re es l&auml;cherlich von mir, darauf zu verzichten. Ob ich das
+Recht darauf habe, das hei&szlig;t, ob Deruga es nicht hat und ich meine
+Anspr&uuml;che mit einiger Aussicht auf Erfolg werde geltend machen k&ouml;nnen,
+das wird dieser Proze&szlig; ergeben. Dann ist es immer noch Zeit, zu erw&auml;gen,
+ob ich es mit einer Klage wegen des Verm&ouml;gens versuchen soll.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_276" id="Page_276">[276]</a></span>&raquo;Einstweilen k&ouml;nntest du aber doch deinem Anwalt sagen, da&szlig; er seine
+Nachforschungen aufgibt,&laquo; bat Mingo.</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde mich mit ihm besprechen,&laquo; sagte die Baronin ausweichend, &raquo;und
+seine Auffassung h&ouml;ren. H&auml;lt er Deruga jetzt f&uuml;r unschuldig, so bin ich
+die erste, mich dar&uuml;ber zu freuen. Pers&ouml;nliche W&uuml;nsche in diesen
+Angelegenheiten kommen weder dir noch mir zu.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_277" id="Page_277">[277]</a></span></p>
+<h2><a name="XI" id="XI"></a><tt>XI.</tt></h2>
+
+
+<p>Einen Tag nach der Abreise Gabussis besuchte der Justizrat seinen
+Klienten, der allein im kalten Zimmer sa&szlig;. Er hatte das Fenster
+ge&ouml;ffnet, weil der kleine eiserne Ofen zu stark heizte, und hatte
+vergessen, es wieder zu schlie&szlig;en, nachdem es l&auml;ngst kalt geworden war.</p>
+
+<p>Zuweilen trieb der Wind einen Regengu&szlig; hinein, ohne da&szlig; der Einsame, der
+verdrossen vor sich hinstarrte, es bemerkte.</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Freund ist also abgereist,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Das ist schade,
+da werden Sie sehr niedergeschlagen sein!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin froh, da&szlig; er fort ist,&laquo; entgegnete Deruga. &raquo;Gabussi ist mir der
+liebste Mensch auf Erden, aber es gibt Zeiten, wo er mir im Wege ist. Er
+kann sein Leben lang n&uuml;chtern sein, aber ich mu&szlig; mich zuweilen
+betrinken.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_278" id="Page_278">[278]</a></span>&raquo;So,&laquo; sagte der Justizrat, der inzwischen das Fenster geschlossen und
+sich gesetzt hatte, &raquo;und jetzt ist der Zeitpunkt f&uuml;r Ihre Saturnalien?
+Passend gew&auml;hlt.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga zuckte die Achseln. &raquo;Ich richte mich dabei nach dem Kalender,
+dessen System jeder in seinem K&ouml;rper tr&auml;gt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie Sie wollen,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Mich hat etwas ganz anderes
+hergef&uuml;hrt. Kennen Sie eine Frau Valeska Durich aus Prag?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagte dieser, &raquo;ein aus Dummheit und Verliebtheit zusammengesetztes
+Wesen. Formel <tt>D<sub>2</sub>V</tt>.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen es wissen,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;denn sie scheint eben in
+Sie verliebt zu sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann wirklich nichts daf&uuml;r,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Wenn Sie eine halbe
+Stunde mit ihr zusammen w&auml;ren und sie wom&ouml;glich etwas grob behandelten,
+w&uuml;rde sie sich auch in Sie verlieben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, wir werden sehen,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Sie will n&auml;mlich
+herkommen.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga lachte auf und zeigte sich dann ge&auml;rgert. Was die dumme Person
+wolle? Der <span class='pagenum'><a name="Page_279" id="Page_279">[279]</a></span>Justizrat solle ihr schreiben, da&szlig; er, Deruga, in
+Untersuchungshaft sei und nichts mit ihr zu tun haben k&ouml;nne und wolle.</p>
+
+<p>&raquo;Das k&auml;me wohl zu sp&auml;t,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Sie will durchaus
+bezeugen, da&szlig; Sie vom Abend des 1. Oktober bis zum Nachmittag des
+dritten bei ihr gewesen seien. Da h&auml;tten wir denn ein Alibi.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Im Ernst?&laquo; sagte Deruga aufhorchend. &raquo;Das will die dumme Person? Nun,
+das ist ja eigentlich sehr angenehm. Besser k&ouml;nnte der Knoten gar nicht
+gel&ouml;st werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das will ich denn doch nicht gerade sagen,&laquo; meinte der Justizrat
+bed&auml;chtig. &raquo;Es ist doch keine Kleinigkeit, wenn einer einen Meineid auf
+sich nimmt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist ihre Sache,&laquo; sagte Deruga heftig. &raquo;Herrgott, dieser kleinliche
+Wortkram! Es gibt L&uuml;gen, die einen anst&auml;ndigeren Ursprung haben als
+manche Wahrheit. &Uuml;berhaupt ist das ihre Sache. Ich habe so viele
+Bel&auml;stigungen von ihr ertragen, warum sollte ich nicht auch den Vorteil
+annehmen?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_280" id="Page_280">[280]</a></span>&raquo;Nat&uuml;rlich,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;wenn es ohne ernstlichen Schaden
+ihrerseits geschehen kann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist merkw&uuml;rdig, da&szlig; Sie auf einmal so bedenklich geworden sind,&laquo;
+sagte Deruga scharf. &raquo;Durch Sie bin ich in diese Lage gekommen. W&auml;re ich
+meiner Regung gefolgt, so w&auml;re es l&auml;ngst so oder so zu Ende. Nun sich
+ein Mittel findet, mir den Proze&szlig; in Ihrem Sinne vom Halse zu schaffen,
+machen Sie moralische Ausfl&uuml;chte.&laquo; Er war vor Erregung rot geworden und
+warf einen w&uuml;tenden Blick auf den Justizrat, der ihn nachdenklich
+betrachtete.</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig;te mir doch erst Klarheit verschaffen,&laquo; sagte dieser, &raquo;und
+wissen, wie Sie zu der neuen Wendung stehen. Schlie&szlig;lich, wenn Sie
+einverstanden sind! Hatten Sie denn wirklich etwas mit der Dame?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mit ihr?&laquo; sagte Deruga. &raquo;Sie hatte etwas mit mir. Sie qu&auml;lte mich
+mit ihrer Verliebtheit. &Uuml;brigens irren Sie sich, wenn Sie sie als
+opferm&uuml;tige Heldin auffassen. Sie ist zu dumm, um die Folgen ihrer
+Handlungen zu <span class='pagenum'><a name="Page_281" id="Page_281">[281]</a></span>&uuml;bersehen, und so verliebt, da&szlig; ihr jedes Mittel recht
+ist, um mich zu gewinnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Worin sie sich aber verrechnet?&laquo; setzte der Justizrat hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich,&laquo; sagte Deruga scharf, &raquo;dachten Sie, ich solle sie aus
+Dankbarkeit heiraten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O nein,&laquo; entgegnete der Justizrat, &raquo;Sie wollen jetzt viel h&ouml;her
+hinaus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt?&laquo; wiederholte Deruga auffahrend, &raquo;was meinen Sie damit? Was
+erlauben Sie sich? Meinen Sie, Sie k&ouml;nnen mich als dummen Jungen
+behandeln, weil ich angeklagt und vogelfrei bin? Ich halte mich
+allerdings f&uuml;r zu gut, mich an eine solche dumme und ungebildete Person
+wegzuwerfen. Die Weiber sind mir &uuml;berhaupt widerlich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit Ausnahmen,&laquo; sagte der Justizrat k&uuml;hl.</p>
+
+<p>&raquo;Das stimmt,&laquo; fuhr Deruga in hitzigem Tone fort. &raquo;Zum Beispiel mit
+Ausnahme der Baronin Truschkowitz. Sie ist habgierig, eitel,
+selbsts&uuml;chtig; aber daf&uuml;r klug, elegant und ganz und gar unmoralisch. So
+m&uuml;ssen Frauenzimmer sein, damit man sich gut mit ihnen unterhalten
+kann.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_282" id="Page_282">[282]</a></span>&raquo;Geschmackssache,&laquo; sagte der Justizrat. &raquo;Einen Meineid w&uuml;rde sie
+jedenfalls nicht f&uuml;r Sie schw&ouml;ren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, sie ist weder einf&auml;ltig noch h&uuml;ndisch,&laquo; sagte Deruga, &raquo;und ich
+mag die Hunde nicht. Was k&uuml;mmert Sie die Valeska? Lassen Sie sie
+zugrunde gehen, wenn sie will! Sie haben f&uuml;r mich zu sorgen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das tue ich,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;und ich zweifle eben, ob es
+ehrenhaft von Ihnen w&auml;re, wenn Sie ein solches Opfer ann&auml;hmen.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga lachte h&ouml;hnisch. &raquo;Eins von diesen pomp&ouml;sen Worten,&laquo; sagte er,
+&raquo;die in eurer Gesellschaft &uuml;blich sind. Ehre, Moral, Ideal, Gott,
+Unsterblichkeit, lauter gemalte S&auml;ulen auf Sackleinewand. Man braucht
+euch keine drei&szlig;ig Silberlinge zu bieten, damit ihr Gott verratet.
+&Uuml;brigens, wer sagt denn, da&szlig; die Valeska einen Meineid schw&ouml;rt? Woher
+wissen Sie, da&szlig; ich nicht vom 1. bis 3. Oktober bei ihr war?&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat stand auf, um zu gehen. &raquo;Genug f&uuml;r heute,&laquo; sagte er; &raquo;aber
+ich nehme an, da&szlig; das nicht Ihr letztes Wort ist.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_283" id="Page_283">[283]</a></span>&raquo;Und ich bitte Sie,&laquo; sagte Deruga, &raquo;fangen Sie nicht wieder davon an,
+wenn Sie wollen, da&szlig; wir gute Freunde bleiben! Weder Sie noch ich sind
+Valeskas H&uuml;ter. Sie tun am besten, sich an die Tatsache zu gew&ouml;hnen, da&szlig;
+sie leichtsinnig genug war, mich vom 1. bis zum 3. Oktober vorigen
+Jahres bei sich zu beherbergen.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_284" id="Page_284">[284]</a></span></p>
+<h2><a name="XII" id="XII"></a><tt>XII.</tt></h2>
+
+
+<p>Die Baronin hatte Peter Hase zum Mittagessen eingeladen, damit er ihre
+Tochter kennenlerne. Das Diner fand in einem kleinen, behaglichen Salon
+ihres Hotels statt, dessen in Wei&szlig;, Schwarz und Gold gehaltene W&auml;nde mit
+Blumenb&uuml;schen von ausschweifender Pracht geflammt waren.</p>
+
+<p>Die Baronin teilte ihrem Gaste l&auml;chelnd mit, da&szlig; er ihrer Tochter noch
+in jeder Beziehung unbekannt sei.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Tochter,&laquo; sagte sie, &raquo;hat von ihrem Vater eine gewisse
+Gleichg&uuml;ltigkeit gegen die Literatur geerbt; vielleicht darf ich
+gleichbedeutend sagen, einen gewissen Mangel an Phantasie.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte es guten Geschmack nennen,&laquo; sagte Peter Hase, &raquo;denn Jugend
+und B&uuml;cher geh&ouml;ren nicht zusammen. Auch steht Herr Baron <span class='pagenum'><a name="Page_285" id="Page_285">[285]</a></span>vielleicht auf
+dem Standpunkt der Alten, welche die Dichter als L&uuml;gner verachteten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin zu wenig belesen, um dar&uuml;ber urteilen zu k&ouml;nnen,&laquo; sagte der
+Baron, &raquo;aber so viel ist richtig, da&szlig; ich Zeitungen gerne lese, weil sie
+Wahres berichten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach Papa, Zeitungen,&laquo; lachte Mingo, &raquo;die sollen ja gerade am meisten
+l&uuml;gen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Zeitungen sind vielleicht das interessanteste moderne Epos,&laquo; sagte
+Peter Hase, &raquo;und jedenfalls ist das Leben die sch&ouml;nste Dichtung.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin wiegte zweifelnd den Kopf. &raquo;Ich glaube,&laquo; sagte sie, &raquo;auch in
+bezug auf das Leben sind die gro&szlig;en Talente unter den Menschen selten.
+Wenige leben ein gro&szlig;es, sch&ouml;n geschwungenes Leben. Bei den meisten
+f&auml;llt es zerfahren, kleinlich, allt&auml;glich und sehr langweilig aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r fl&uuml;chtige Leser,&laquo; sagte Peter Hase, &raquo;man mu&szlig; sich hinein
+vertiefen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach, es lohnt nicht,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;und wo es vielleicht lohnte,
+ekelt es einen. Die Erfahrung haben Sie vielleicht auch bei der
+ge<span class='pagenum'><a name="Page_286" id="Page_286">[286]</a></span>heimnisvollen Dame gemacht, die unserem Proze&szlig; pl&ouml;tzlich eine neue
+Wendung zu geben scheint.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Dame stellte sich allerdings zun&auml;chst mehr allt&auml;glich als
+geheimnisvoll dar,&laquo; sagte Peter Hase. &raquo;Ein vegetatives Wesen, gutm&uuml;tig,
+schwach, tr&auml;ge, aber mit einer Anlage zum Heroismus, wie primitive
+Frauen sie manchmal haben.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo, die bis dahin mit fast unh&ouml;flicher Teilnahmlosigkeit dagesessen
+hatte, blickte tief err&ouml;tend auf und sagte hastig: &raquo;Wer ist die Dame,
+warum war sie da?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist eine Dame, die aussagte, da&szlig; Herr Deruga w&auml;hrend der
+verh&auml;ngnisvollen Oktobertage bei ihr gewesen sei, also die Tat, der man
+ihn verd&auml;chtigt, nicht begangen haben k&ouml;nnte,&laquo; erkl&auml;rte Peter Hase. Er
+sprach mit Zur&uuml;ckhaltung, da er den Gegenstand f&uuml;r gesellige
+Unterhaltung nicht geeignet, ganz besonders aber f&uuml;r eine junge Dame
+nicht f&uuml;r passend hielt.</p>
+
+<p>&raquo;Siehst du, Mama,&laquo; rief Mingo triumphierend. &raquo;Aber wer ist die Dame, da&szlig;
+er so lange bei ihr war? Ist er mit ihr befreundet?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_287" id="Page_287">[287]</a></span>&raquo;Nun, unverheiratete M&auml;nner haben eben Beziehungen zu gewissen Frauen,
+Frauen der unteren St&auml;nde,&laquo; erkl&auml;rte die Baronin. &raquo;Das ersetzt ihnen das
+Familienleben. Und sie bevorzugen ungebildete, anspruchslose Frauen,
+weil sie sich ihnen gegen&uuml;ber gehen lassen k&ouml;nnen. Sich gehen zu lassen,
+ist M&auml;nnern ein wesentliches Bed&uuml;rfnis.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte es eine Schutzvorrichtung der Natur nennen,&laquo; sagte Peter
+Hase, &raquo;die gerade dem Kulturmenschen als eine Entspannung seiner stets
+gespannten Kr&auml;fte notwendig ist. Aber es ist eine tragische Verkettung,
+da&szlig; gerade der Kulturmensch es mehr und mehr verlernt, sich gehen zu
+lassen, bis die unterdr&uuml;ckten Triebe sich zuletzt im Wahnsinn Luft
+machen.&laquo;</p>
+
+<p>In Mingos Gesicht war zu lesen, da&szlig; sie diese Untersuchung weder
+verstand noch Interesse daf&uuml;r hatte. &raquo;Wie war die Frau?&laquo; fragte sie,
+angelegentlich zu Peter Hase hingewendet. &raquo;War sie ganz ungebildet? War
+sie eine arme Frau?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, das doch nicht,&laquo; sagte Peter Hase ernst und schonend. &raquo;Sie ist
+die Tochter eines Haus<span class='pagenum'><a name="Page_288" id="Page_288">[288]</a></span>meisters an einem Knabengymnasium, und es
+scheint, da&szlig; sie dadurch fr&uuml;h bedenklichen Einfl&uuml;ssen ausgesetzt war.
+Offenbar sucht sie in r&uuml;hrender Art an dem, was sie f&uuml;r Bildung ansieht,
+festzuhalten; sie betonte, wenn immer es m&ouml;glich war, die Liebe zur
+Natur, zu allem Guten, Sch&ouml;nen und Wahren, wie man zu sagen pflegt, und
+sie sprach geflissentlich von der Freundschaft, die sie mit Deruga
+verb&auml;nde. Das Wort Liebe oder Liebesverh&auml;ltnis lie&szlig; sie nicht gern
+gelten. Ich hatte den Eindruck, da&szlig; sie das Bed&uuml;rfnis hatte, ihrem Leben
+einen Hintergrund von Sch&ouml;nheit und Besonderheit zu geben, soweit sie es
+versteht.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin zuckte ungeduldig die Schultern, und der Baron suchte das
+Gespr&auml;ch in eine andere Bahn zu lenken, indem er sagte, &auml;hnliche Z&uuml;ge
+f&auml;nden sich viel bei den leichtfertigen Frauen der meisten V&ouml;lker, und
+allerlei aus Japan, China, Indien und anderen L&auml;ndern erz&auml;hlte, die er
+bereist hatte. Er sei in seiner Jugend weit herumgekommen, sagte er,
+aber schlie&szlig;lich habe er gefunden, da&szlig; sich in Paris am besten leben
+lasse.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_289" id="Page_289">[289]</a></span>&raquo;O, ja, Paris ist stets das mehr oder weniger Gegebene,&laquo; sagte die
+Baronin mit einem unterdr&uuml;ckten Seufzer und einem verschmitzten
+Ausdruck, der sie allerliebst kleidete.</p>
+
+<p>Er liebe auch Paris, sagte Peter Hase, und sei im Begriff gewesen, zu
+einem mehrw&ouml;chigen Aufenthalt hinzureisen, als Derugas Proze&szlig; ihn
+abgehalten h&auml;tte.</p>
+
+<p>&raquo;Dieser Mensch scheint eine ungemeine Anziehungskraft zu besitzen,&laquo;
+sagte die Baronin.</p>
+
+<p>Peter Hase warf einen unauff&auml;lligen Blick zu Mingo her&uuml;ber, um zu sehen,
+wie das Besprochene sie ber&uuml;hrte. Ihre gro&szlig;en Augen hingen mit Spannung
+und Anteil an seinem Gesicht. &raquo;Man begegnet so selten,&laquo; sagte er,
+&raquo;innerhalb der Kultur einem ganz nat&uuml;rlichen Menschen, wie Deruga ist;
+ein Kind, von der Beschaffenheit und in den Verh&auml;ltnissen eines Mannes.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie wollen ihn vielleicht in einem Roman verwerten,&laquo; spottete die
+Baronin.</p>
+
+<p>&raquo;Kaum,&laquo; erwiderte Peter Hase ernsthaft. &raquo;Er ist doch wohl
+zusammenhanglos f&uuml;r den Bau der <span class='pagenum'><a name="Page_290" id="Page_290">[290]</a></span>Dichtung, wo alles Zweck sein mu&szlig; und
+nirgends eine Fuge klaffen darf.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unschuldig verurteilt,&laquo; fuhr die Baronin fort. &raquo;Das w&auml;re doch ein
+Titel, der ziehen w&uuml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es wird nicht dahin kommen,&laquo; sagte Peter Hase, ruhig feststellend. &raquo;Die
+Sache wird irgendwie im Sande verlaufen. Ich schlie&szlig;e aus Derugas
+Charakter, da&szlig; er bunte Erlebnisse, aber keine gro&szlig;en, tragischen,
+ersch&uuml;tternden haben wird.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;H&ouml;rst du, Mama?&laquo; rief Mingo. &raquo;Auch Herr Hase ist von seiner Unschuld
+&uuml;berzeugt. Jeder ist es. Du bist es dir selbst schuldig, nichts mehr
+gegen ihn zu unternehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich sagte dir schon,&laquo; fiel die Baronin ein, &raquo;da&szlig; ich mit dem Anwalt
+sprechen werde. Seine Sache ist eigentlich nicht meine. In der Tat
+bedaure ich jetzt, da&szlig; ich so schwach war, mich von ihm in diese Sache
+hineinziehen zu lassen. Ich kam nicht auf den Gedanken, da&szlig; es ihm in
+erster Linie daran lag, sich durch einen aufsehenerregenden Proze&szlig;
+bekannt zu machen. Er spiegelte mir vor, da&szlig; ich berufen sei, ein
+Verbrechen ans <span class='pagenum'><a name="Page_291" id="Page_291">[291]</a></span>Licht zu ziehen, und ben&uuml;tzte mich als Mittel, um
+ber&uuml;hmt zu werden.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin hatte kaum ausgesprochen, als der Kellner den <tt>Dr.</tt>
+Bernburger anmeldete, den sie zu einer Besprechung ins Hotel gebeten
+hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist ungeschickt,&laquo; sagte die Baronin z&ouml;gernd, und Peter Hase erhob
+sich, um nicht zu st&ouml;ren. Nein, sagte sie, er d&uuml;rfe auf keinen Fall
+schon gehen, sie h&auml;tten ja noch nicht einmal den Kaffee genommen. Im
+Grunde sei es ihr lieb, wenn sie die Unterhaltung nicht allein zu f&uuml;hren
+brauche, Gesch&auml;ftliches sei ihr ohnehin zuwider, diese Angelegenheit
+aber vollends verha&szlig;t.</p>
+
+<p>Den nun eintretenden Anwalt begr&uuml;&szlig;te sie mit einem hochm&uuml;tigen
+Kopfneigen, dem sie nachtr&auml;glich eine etwas h&ouml;flichere Wendung gab, als
+sie bemerkte, da&szlig; er sie durchschaute und bel&auml;chelte. Sie erkl&auml;rte ihm,
+da&szlig; die Anwesenden von allem unterrichtet w&auml;ren, und da&szlig; ihre Gegenwart
+nicht st&ouml;re, und sagte dann mit einem kalten Blick:</p>
+
+<p>&raquo;Die Sache entwickelt sich anders, Herr Doktor, als Sie mir anf&auml;nglich
+einredeten.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_292" id="Page_292">[292]</a></span>&raquo;Ich sch&auml;tze den selbst&auml;ndigen Charakter der Frau Baronin zu hoch,&laquo;
+entgegnete <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;als da&szlig; ich wagen m&ouml;chte, ihr etwas
+einzureden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun gut,&laquo; sagte die Baronin unwillig, &raquo;Sie schilderten mir die Vorg&auml;nge
+jedenfalls so &uuml;berzeugend, wie ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie Sie sich nur w&uuml;nschen konnten,&laquo; fiel <tt>Dr.</tt> Bernburger l&auml;chelnd
+ein. &raquo;Ich bin von der Wahrscheinlichkeit der Vorg&auml;nge, wie ich sie
+damals darstellte, heute noch ebenso &uuml;berzeugt wie damals.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und die neue Zeugin?&laquo; fragte die Baronin.</p>
+
+<p>&raquo;Eine verliebte Person,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger wegwerfend, &raquo;die
+sich ein Verdienst um ihren Angebeteten erwerben m&ouml;chte. Sie ist
+durchaus nicht wichtig und wurde nicht einmal vereidigt, weil der
+Gerichtshof sie wegen ihrer Beziehungen zum Angeklagten von vornherein
+nicht f&uuml;r glaubw&uuml;rdig hielt. &Uuml;brigens w&uuml;rden sich wohl Zeugen auftreiben
+lassen, um die Unwahrheit ihrer Aussage darzutun.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, Mama,&laquo; rief Mingo, in lichter Entr&uuml;stung aufspringend, &raquo;damit
+sollst du nichts zu tun <span class='pagenum'><a name="Page_293" id="Page_293">[293]</a></span>haben. Dies Spionieren und Hetzen ist unw&uuml;rdig.
+Ich leide es nicht, da&szlig; du dich dazu hergibst.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger betrachtete das junge M&auml;dchen l&auml;chelnd durch seine
+Brille. &raquo;Ginge der Verbrecher nicht dunkle Wege,&laquo; sagte er, &raquo;brauchte
+man ihm nicht auf dunklen Wegen nachzuschleichen. Die Methode des
+Verbrechers bestimmt die Methode dessen, der ihn entlarven soll. Wenn
+ein Dieb mit Ihrer B&ouml;rse davonl&auml;uft, und Sie wollen ihn wieder haben,
+m&uuml;ssen Sie ihm nachspringen; oder einen anderen f&uuml;r sich springen
+lassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich verlange von niemandem, wozu ich mir selbst zu gut bin,&laquo; sagte
+Mingo feindlich. &raquo;&Uuml;brigens hat uns niemand unsere B&ouml;rse genommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mische dich nicht in Dinge, Kind,&laquo; sagte die Baronin verweisend, &raquo;die
+du zu wenig kennst, um sie beurteilen zu k&ouml;nnen. Ich habe indessen doch
+das Gef&uuml;hl,&laquo; wandte sie sich an <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;da&szlig; wir keine
+gl&uuml;ckliche Rolle in dieser Angelegenheit spielen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es kommt auf den schlie&szlig;lichen Erfolg an,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger,
+&raquo;und wie ich Ihnen <span class='pagenum'><a name="Page_294" id="Page_294">[294]</a></span>schon sagte, hat sich meine &Uuml;berzeugung bisher nur
+gefestigt. Mir ist es, als h&auml;tte ich den Vorgang mit erlebt. Ich k&ouml;nnte
+ihn in einem Drama vorf&uuml;hren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und warum tun Sie es nicht?&laquo; rief die Baronin gereizt aus. &raquo;Ich glaube,
+die Stimmung wendet sich allgemein dem Angeklagten zu.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herr <tt>Dr.</tt> Deruga hat augenscheinlich viel Gl&uuml;ck bei Frauen,&laquo;
+sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, &raquo;in deren Augen ein Mann &uuml;berhaupt durch
+den Verdacht eines Verbrechens zu gewinnen pflegt. Ferner begehen viele
+Menschen den Fehler, zu glauben, ein Verbrecher m&uuml;sse von der Natur mit
+einem besonderen Stempel gezeichnet sein. M&uuml;sse roh, brutal, gemein,
+entstellt aussehen. Man bedenkt nicht, da&szlig; der Grund der meisten
+Verbrechen die Schw&auml;che des T&auml;ters ist, indem er einem Antriebe nicht
+genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und was f&uuml;r eine gro&szlig;e
+Rolle der Zufall dabei spielt. Es ist nicht ohne Ursache, da&szlig; in
+fr&uuml;heren Zeiten viele Verbrecher selbst glaubten, der Teufel habe es
+ihnen eingeblasen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_295" id="Page_295">[295]</a></span>Der Baron meinte, solche Vorstellungen w&auml;ren gef&auml;hrlich, indem sie
+einem fast den Mut raubten, den Verbrecher zu verfolgen und zu
+bestrafen.</p>
+
+<p>Der Anwalt zuckte die Schultern. &raquo;H&ouml;rte man damit auf,&laquo; sagte er, &raquo;so
+g&auml;be es ja nur noch Antriebe zum B&ouml;sen beziehungsweise Verbotenen, und
+alle Hemmungen fielen fort. Es ist wohl das beste, da&szlig; jeder schlechtweg
+das tut, was ihm sein Amt vorschreibt, ohne sich Skrupel &uuml;ber die Folgen
+und innersten Gr&uuml;nde zu machen. Justizrat Fein bringt unentwegt neue
+Entlastungszeugen vor; er hat jetzt wieder einen Professor ausgespielt,
+der eine Zeitlang mit Deruga und seiner Frau dasselbe Haus bewohnte, und
+der, wie es scheint, best&auml;tigen soll, was wir l&auml;ngst wissen, da&szlig; Deruga
+ein sogenannter guter Kerl ist, dem man zwar &Uuml;bereilungen, aber nicht
+&uuml;berlegte Schlechtigkeiten zutraut. Ich w&uuml;rde meine Pflicht nicht tun,
+wenn ich mich nicht bem&uuml;hte, Beweise f&uuml;r unsere &Uuml;berzeugung
+aufzutreiben, und ich hoffe noch immer, da&szlig; es mir gelingen wird, etwas
+Abschlie&szlig;endes zu finden. Ich verfolge eine Spur, von der ich aber
+schwei<span class='pagenum'><a name="Page_296" id="Page_296">[296]</a></span>gen m&ouml;chte, bis ich selbst vollkommene Klarheit gewonnen habe.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo betrachtete <tt>Dr.</tt> Bernburger mit unverhohlenem Abscheu. &raquo;Das
+geschieht aber nicht f&uuml;r dich, Mama,&laquo; sagte sie in flehend befehlendem
+Tone, &raquo;nicht in deinem Auftrage.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bitte, mische dich nicht ein,&laquo; sagte die Baronin gereizt, &raquo;verlasse uns
+lieber, wenn du dich nicht beherrschen kannst! Weder du noch ich haben
+ein pers&ouml;nliches Interesse an der Angelegenheit, sondern einzig ein
+sachliches. Es kann uns nur angenehm sein, wenn die Wahrheit
+festgestellt wird.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ich habe ein pers&ouml;nliches Interesse,&laquo; rief Mingo leidenschaftlich
+aus. &raquo;Ich wei&szlig;, da&szlig; er schuldlos ist. Allen Beweisen zum Trotz, die etwa
+ausspioniert werden, ist er schuldlos und besser als wir alle.&laquo; Ihre
+Stimme zitterte, die Tr&auml;nen waren ihr nahe.</p>
+
+<p>Der Baron und Peter Hase waren gleichzeitig aufgestanden, wie um die
+Kleine zu besch&uuml;tzen. Der Baron stellte sich neben sie und schlug einen
+Spaziergang vor: man m&uuml;sse bei <span class='pagenum'><a name="Page_297" id="Page_297">[297]</a></span>den immer noch kurzen Tagen die
+Helligkeit ben&uuml;tzen. <tt>Dr.</tt> Bernburger hatte das Gef&uuml;hl, in Ungnade
+und mit Verachtung beladen entlassen zu sein. Die Bitterkeit, die in
+seinem Innern kochte, verdichtete sich mehr und mehr zum rachs&uuml;chtigen
+Ha&szlig; gegen Deruga, w&auml;hrend er der Baronin gegen&uuml;ber nur den inst&auml;ndigen
+Wunsch hatte, ihr zu beweisen, da&szlig; er recht gehabt habe.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_298" id="Page_298">[298]</a></span></p>
+<h2><a name="XIII" id="XIII"></a><tt>XIII.</tt></h2>
+
+
+<p>&raquo;Wir wurden mit Deruga dadurch bekannt,&laquo; erz&auml;hlte Professor Vonderm&uuml;hl,
+&raquo;da&szlig; wir im gleichen Hause wohnten. Kurze Zeit nachdem sie eingezogen
+waren, bekam meine Frau in der Nacht einen Magenkrampf, und um ihr
+m&ouml;glichst schnell Hilfe zu schaffen, ging ich hinauf und bat Deruga zu
+kommen. Er zeigte die liebensw&uuml;rdigste Bereitwilligkeit, und auch seine
+Frau bot ihren Beistand an. Seit der Zeit sahen wir uns h&auml;ufig und haben
+in enger Freundschaft verkehrt, bis Derugas ihr Kind verloren und sich
+bald hernach scheiden lie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie jemals etwas von Mi&szlig;helligkeiten zwischen den Ehegatten
+bemerkt?&laquo; fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Frau hatte den Eindruck,&laquo; sagte der Professor, &raquo;da&szlig; sie sich zwar
+liebhatten, aber nicht zueinander pa&szlig;ten. Deruga hatte trotz <span class='pagenum'><a name="Page_299" id="Page_299">[299]</a></span>seiner
+Vertr&auml;glichkeit ein unstetes, unberechenbares Temperament und h&auml;tte
+straffer Leitung bedurft; seine Frau vermochte solche nicht auszu&uuml;ben,
+sondern war z&auml;rtlich, anschmiegsam, gleichsam eine Pflanze, die im
+Schutze einer Mauer h&auml;tte wachsen sollen. Die Verschiedenheit trat wohl
+nach dem Tode des Kindes, das ein Band zwischen ihnen bildete, sch&auml;rfer
+zutage.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kam es zuweilen zwischen ihnen zu heftigen Ausbr&uuml;chen?&laquo; fragte der
+Vorsitzende.</p>
+
+<p>&raquo;Eines Abends,&laquo; erz&auml;hlte der Professor, &raquo;sa&szlig;en meine Frau und ich nach
+dem Abendessen auf unserem kleinen Balkon, der vom Wohnzimmer nach dem
+Garten hinausging. In Derugas Wohnzimmer, das &uuml;ber dem unsrigen lag,
+mu&szlig;te die T&uuml;r offenstehen, denn wir konnten ihre Stimmen h&ouml;ren, und wie
+ihr Gespr&auml;ch allm&auml;hlich in einen Wortwechsel ausartete. Wir lachten
+dar&uuml;ber, und meine Frau sagte: 'Der schreckliche Mensch, sein Teufel ist
+wieder los' &mdash; was ein Ausdruck von ihr war, um gewisse Launen, denen
+Deruga unterworfen war, zu bezeichnen. Sie schlug vor, wir wollten
+hineingehen, um der <span class='pagenum'><a name="Page_300" id="Page_300">[300]</a></span>Frau willen den Auftritt zu unterbrechen. Ich
+jedoch war dagegen, da mir eine Einmischung in solchem Augenblick
+zudringlich erschien, vielleicht auch aus Bequemlichkeit oder sonst
+einer egoistischen Regung. Wir waren noch in der Auseinandersetzung
+dar&uuml;ber begriffen, als wir Frau Deruga einen unterdr&uuml;ckten Schrei
+aussto&szlig;en h&ouml;rten, einen Schrei des Schreckens, des Schmerzes, der Angst,
+wie es schien. Da sprang meine Frau auf und lief, ohne meine Zustimmung
+abzuwarten, in das obere Stockwerk hinauf, so da&szlig; ich M&uuml;he hatte, mit
+ihr Schritt zu halten. Als ich atemlos oben ankam, hatte Ursula, das
+M&auml;dchen, meiner Frau schon die T&uuml;r ge&ouml;ffnet und begr&uuml;&szlig;te uns mit
+strahlenden Augen. Sie mochte froh sein, da&szlig; ihre Herrschaft in diesem
+Augenblick nicht allein blieb.</p>
+
+<p>Deruga empfing uns mit gewohnter Herzlichkeit, von Verlegenheit oder
+Mi&szlig;stimmung war ihm nichts anzumerken, au&szlig;er da&szlig; er ein paar Redensarten
+wiederholte wie: 'Ach, die Ehe!' 'Man sollte sich das Heiraten
+gr&uuml;ndlicher &uuml;berlegen als das Aufh&auml;ngen!' und dergleichen. <span class='pagenum'><a name="Page_301" id="Page_301">[301]</a></span>Meine Frau,
+die sehr temperamentvoll war und keine Menschenfurcht kannte, sagte
+scheltend, indem sie sich vor ihn hinstellte: 'Wir Frauen sollten
+allerdings vorsichtiger sein, und zumal die Ihrige hat un&uuml;berlegt
+gehandelt, als sie sich einem solchen W&uuml;terich anvertraute. Weil Ihre
+Frau allzu gut ist, darum machen Sie Radau! Sie haben einen kleinen
+Teufel in sich, der Gl&uuml;ck und Frieden nicht vertr&auml;gt, sondern immer
+Schwefelgestank und H&ouml;llenspektakel um sich haben mu&szlig;.' Deruga nahm
+solche Strafpredigten von meiner Frau gern an, weil er f&uuml;hlte, da&szlig; sie
+wahrer Freundschaft entsprangen, und sie ihrerseits lieh auch seinen
+Rechtfertigungen Geh&ouml;r, in welcher Form immer sie gegeben wurden.
+Diesmal schien er seine Heftigkeit zu bereuen und sagte in
+verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig ruhigem Tone: 'Ich gebe zu, da&szlig; meine Frau lieb und
+sanft ist, aber ich verw&uuml;nsche, verfluche und hasse dieses Sanftsein.
+Wenn sie mich liebte, wie sie sollte und k&ouml;nnte, w&uuml;rde sie mich einmal
+anzischen wie eine Schlange und mir sagen, da&szlig; ich ein Scheusal w&auml;re,
+mich in Ha&szlig; oder Liebe umschlingen <span class='pagenum'><a name="Page_302" id="Page_302">[302]</a></span>und erw&uuml;rgen. Wenn ich eine
+auss&auml;tzige alte Frau oder ein verendender Hund w&auml;re, w&uuml;rde sie mich mit
+derselben Liebe und Sanftheit behandeln, die mich zur Wut reizt.' Die
+arme Frau sah ihn, wie ich mich gut erinnere, mit gro&szlig;en Augen an und
+sagte in ihrer Art zornig: 'Ich sagte dir doch eben, da&szlig; du ein Scheusal
+w&auml;rest,' wor&uuml;ber wir alle lachen mu&szlig;ten. Er umarmte sie und behielt ihre
+Hand in der seinen, w&auml;hrend er ihr erkl&auml;rte, da&szlig; das doch nicht das
+Richtige gewesen sei.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie erw&auml;hnten vorhin,&laquo; unterbrach der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; Frau Deruga
+einen Schrei ausgesto&szlig;en habe. Erfuhren Sie, ob sie nur aus Angst
+geschrien oder ob ihr Mann sie t&auml;tlich angegriffen hatte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das kam nicht zur Sprache,&laquo; sagte der Professor. &raquo;Vermutlich hatte er
+sie unsanft angepackt. Sie sah bleich und verst&ouml;rt aus. Als wir nach
+einer Stunde aufbrechen wollten, fragte meine Frau sie, ob wir sie nun
+auch mit dem Unhold allein lassen k&ouml;nnten. Worauf sie lachend erwiderte:
+'F&uuml;r heute hat der Vulkan ausgespien.' Das sagte sie laut und
+unbefangen, <span class='pagenum'><a name="Page_303" id="Page_303">[303]</a></span>und auch Deruga lachte. Meine Frau konnte lange nicht
+einschlafen, weil es ihr unheimlich war, doch gelang es mir, sie zu
+beruhigen, indem ich ihr sagte, sie n&auml;hme die Sache zu ernst, Derugas
+Liebe zu seiner Frau habe sich gerade eben deutlich gezeigt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie jemals,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;klaren Aufschlu&szlig; erhalten
+&uuml;ber den Grund der Aufwallungen des Angeklagten gegen seine Frau? Oder
+lag derselbe nach Ihrer Meinung nur in seinem Temperament und in der
+Verschiedenheit der Gatten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Deruga deutete gelegentlich an,&laquo; sagte der Professor, &raquo;da&szlig; er Ursache
+zur Eifersucht habe, und zwar bezog sich dieselbe auf einen Mann, zu dem
+seine Frau, bevor sie Deruga heiratete, eine Zuneigung gehabt hatte, den
+sie aber, weil er gebunden war, nicht hatte heiraten k&ouml;nnen. Der
+Umstand, da&szlig; die alte Frau dieses Mannes starb, scheint seine Eifersucht
+und seinen Argwohn so sehr gesteigert zu haben, da&szlig; ihr Leben an seiner
+Seite unbehaglich wurde. Man war vielfach der Ansicht, sie habe die
+Scheidung <span class='pagenum'><a name="Page_304" id="Page_304">[304]</a></span>betrieben, um jenen anderen zu heiraten, was aber die
+folgenden Ereignisse nicht best&auml;tigten, denn sie ist bekanntlich ledig
+geblieben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Halten Sie f&uuml;r m&ouml;glich,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;da&szlig; die Furcht vor
+dem Angeklagten dabei den Ausschlag gab? Er k&ouml;nnte Drohungen gegen sie
+und den Mann ausgesto&szlig;en haben, falls sie ihn heiratete?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r m&ouml;glich mu&szlig; ich das halten,&laquo; sagte der Professor nach einigem
+Besinnen, &raquo;aber etwas Bestimmtes kann ich nicht dar&uuml;ber sagen. Meine
+Frau w&uuml;rde besser unterrichtet sein, da sie sehr mit Frau Deruga
+befreundet und gerade damals viel mit ihr zusammen war. Zwar pflegte sie
+mir alles genau zu erz&auml;hlen; aber ich habe nicht alles genau genug
+behalten, um es unter solchen Umst&auml;nden wiedererz&auml;hlen zu k&ouml;nnen. Das
+wei&szlig; ich sicher, da&szlig; Frau Deruga, nachdem sie geschieden war, sich eine
+Zeitlang mit der Absicht trug, jenen Mann zu heiraten, da&szlig; sie aber
+davon abstand. Der Betreffende hat sich dann anderweitig verheiratet,
+soll aber ungl&uuml;cklich geworden sein und ist vor einigen Jahren
+gestorben.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_305" id="Page_305">[305]</a></span><tt>Dr.</tt> Zeunemann bemerkte, aus den Schilderungen des Professors
+scheine hervorzugehen, da&szlig; seine Frau diesen Verkehr mehr als er
+gepflegt habe; ob etwa zwischen ihm und Deruga keine Sympathie bestanden
+habe.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nein,&laquo; sagte der Professor, &raquo;das w&auml;re kein zutreffender Ausdruck.
+Er teilte meine wissenschaftlichen Interessen nicht, und mir ist das
+Schweben und Gaukeln &uuml;ber den Tiefen, das Ausspielen von Hypothesen und
+Paradoxen, das Phantasieren im Unm&ouml;glichen nicht gegeben. Ich war zu
+schwerf&auml;llig f&uuml;r die oft grotesken Spr&uuml;nge seines Geistes. Sie
+belustigten mich wohl, aber im Grunde wu&szlig;te ich nichts damit anzufangen.
+So kam es, und auch weil ich sehr besch&auml;ftigt war, da&szlig; meine Frau die
+Beziehungen mehr pflegte, wozu sie schon durch ihre Jugend besser pa&szlig;te.
+Sie war bedeutend j&uuml;nger als ich und mu&szlig;te doch vor mir sterben.&laquo;</p>
+
+<p>Ob seine Frau nach dem Wegzuge von Frau Deruga mit dieser im
+Briefwechsel gestanden habe, fragte der Vorsitzende.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_306" id="Page_306">[306]</a></span>Es w&auml;ren allerdings Briefe der Frau Deruga vorhanden gewesen, sagte der
+Professor, er h&auml;tte sie aber nach dem Tode seiner Frau verbrannt, damit
+sie nicht sp&auml;ter Unberufenen in die H&auml;nde fielen. Er habe darin
+gebl&auml;ttert, bevor er sie zerst&ouml;rt h&auml;tte, und erinnere sich einer Stelle,
+wo sie geschrieben h&auml;tte, der Frieden und die Freudigkeit, die sie sich
+von der Aufl&ouml;sung ihrer Ehe erwartet h&auml;tte, lie&szlig;e noch immer auf sich
+warten.</p>
+
+<p>&raquo;'Ich ertappe mich jetzt oft darauf,' so etwa schrieb sie, 'da&szlig; ich
+anstatt wie sonst vorw&auml;rts, in die Zukunft zu blicken, stehenbleibe und
+mich zur&uuml;ckwende. Sollte das die Besinnung des Alters sein? Ach nein,
+wie konnte ich auch erwarten, da&szlig; ich jemals anderswohin sollte blicken
+k&ouml;nnen als dahin, wo mein Kind war, in die Vergangenheit! F&uuml;r mich gibt
+es keine Zukunft auf Erden mehr.' Diese Stelle ergriff mich, weil ich
+damals, nach dem Tode meiner Frau, selbst anfing, nach r&uuml;ckw&auml;rts, statt
+nach vorw&auml;rts zu leben, und sie hat sich mir aus diesem Grunde
+eingepr&auml;gt.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_307" id="Page_307">[307]</a></span>Diese Briefstelle, sagte der Vorsitzende, deute nicht darauf, da&szlig; die
+Verstorbene eine zweite Heirat ersehnt h&auml;tte und nur durch Furcht vor
+dem Angeklagten davon zur&uuml;ckgehalten w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Dazu m&ouml;chte ich folgendes bemerken,&laquo; sagte der Professor. &raquo;Aus anderen
+m&uuml;ndlichen oder schriftlichen &Auml;u&szlig;erungen der Verstorbenen w&auml;re
+vielleicht auf jenen Wunsch und jene Furcht zu schlie&szlig;en. H&auml;tte man aber
+noch so viele Beweise von Derugas damaligem Geladensein, so scheint es
+mir doch fraglich, ob das mit einem so viele Jahre sp&auml;ter begangenen
+Mord in Verbindung gebracht werden k&ouml;nne. Es ist wahr, da&szlig; die
+menschlichen Handlungen Ketten sind, deren Glieder ein G&ouml;tterauge ins
+Unendliche mu&szlig; verfolgen k&ouml;nnen; aber ob wir Menschen uns in den
+labyrinthischen Verzweigungen nicht verirren m&uuml;ssen?&laquo;</p>
+
+<p>Der Vorsitzende blickte schweigend vor sich nieder, w&auml;hrend der
+Staatsanwalt unter kritischen Grimassen den Kopf wiegte. Dann stellte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann die Schlu&szlig;frage an den Professor, ob ihm noch
+andere Gr&uuml;nde bekannt w&auml;ren, mit denen <span class='pagenum'><a name="Page_308" id="Page_308">[308]</a></span>die Scheidung der Derugas damals
+erkl&auml;rt worden w&auml;re oder erkl&auml;rt werden k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Frau wu&szlig;te,&laquo; sagte der Professor, &raquo;da&szlig; Frau Deruga ihren Mann bis
+zu einem gewissen Grade f&uuml;r den Tod ihres Kindes verantwortlich machte
+und deshalb einen krankhaften Ha&szlig; auf ihn warf. Es ist das so zu
+verstehen, da&szlig; Deruga f&uuml;r Abh&auml;rtung und R&uuml;cksichtslosigkeit in der
+k&ouml;rperlichen Erziehung des Kindes war, w&auml;hrend seine Frau es eher
+verz&auml;rtelte. Dieser Gegensatz bildete &ouml;fters Anla&szlig; zu Streitigkeiten.
+Auf die Dauer konnte die verst&auml;ndige Frau sich aber doch nicht dagegen
+verblenden, da&szlig; Deruga das Kind, auf seine Art, ebenso wie sie geliebt
+hatte und den Verlust ebenso wie sie betrauerte, und sie suchte die
+ungerechte Abneigung zu &uuml;berwinden, worauf auch meine Frau mit der
+ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperamentes drang. Ich kann also nicht
+glauben, da&szlig; diese durch den &uuml;berm&auml;&szlig;igen Schmerz zu erkl&auml;rende
+Gef&uuml;hlsverkehrung den Entschlu&szlig; zur Scheidung bewirkt habe, wenn auch
+vielleicht das Verh&auml;ltnis dadurch gelockert wurde.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_309" id="Page_309">[309]</a></span>Es entspann sich nun zwischen den Juristen ein Wortwechsel &uuml;ber den vom
+Staatsanwalt gestellten Antrag, Fr&auml;ulein Schwertfeger noch einmal zu
+vernehmen, ob sie etwas Aufkl&auml;rendes &uuml;ber Frau Swieters geplante und
+nicht vollzogene Ehe aussagen k&ouml;nne. Justizrat Fein verwarf es als
+zeitraubend und &uuml;berfl&uuml;ssig, welcher Meinung sich <tt>Dr.</tt> Zeunemann
+anschlo&szlig;, der sagte, noch mehr Einzelheiten, wie sie auch ausfielen,
+w&uuml;rden den Proze&szlig; nicht weiterbringen. F&uuml;r die Eigenart Derugas, die
+darin bestehe, da&szlig; er sich im labilen Gleichgewicht befinde, lie&szlig;en sich
+vermutlich noch zahlreiche Beispiele aufbringen. Es handle sich aber
+nicht hier darum, die Geschichte seiner Seele zu erforschen, sondern die
+Geschichte seines Lebens vom 1. bis zum 3. Oktober festzustellen. Darauf
+bez&uuml;glich habe Fr&auml;ulein Schwertfeger nichts mehr zu sagen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte die Herren dringend,&laquo; sagte der Justizrat, &raquo;sich auf
+Tatsachen zu beschr&auml;nken, damit wir den Knoten nicht noch mehr
+verwirren, anstatt ihn aufzul&ouml;sen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_310" id="Page_310">[310]</a></span>&raquo;Was f&uuml;r Tatsachen?&laquo; fragte der Staatsanwalt, so pl&ouml;tzlich von seinem
+Sitz aufschnellend, da&szlig; der Justizrat die Antwort nicht gleich bereit
+hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Tatsachen, die sich auf den angeblichen Mord beziehen,&laquo; entgegnete er
+nach einer Pause. &raquo;Aus Mangel an Tatsachen werden Allt&auml;glichkeiten
+hervorgezerrt und aufgebauscht. Verliebte pflegen den Gegenstand ihrer
+Liebe im Falle der Untreue mit dem Tode zu bedrohen, ohne da&szlig; der
+Gegenstand selbst oder jemand anders darauf Gewicht legt. Dergleichen
+hat nicht mehr Bedeutung als die Schw&uuml;re der Liebe.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es kommt darauf an, was nachfolgt,&laquo; sagte der Staatsanwalt. &raquo;&Uuml;brigens
+w&auml;ren uns allen Tatsachen auf der Handfl&auml;che lieber; da der Angeklagte,
+der es k&ouml;nnte, sie uns aber nicht liefert, so bleibt uns nichts &uuml;brig,
+als den Grund zu untersuchen, aus dem die Handlungen wachsen, n&auml;mlich
+das menschliche Gem&uuml;t.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Angeklagte lieferte sie uns nicht?&laquo; begann der Justizrat. Allein
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann <span class='pagenum'><a name="Page_311" id="Page_311">[311]</a></span>bat, den fruchtlosen Streit zu beenden, und
+forderte Fr&auml;ulein Schwertfeger auf, dem erhobenen Wunsche genug zu tun
+und noch einige wenige Fragen zu beantworten.</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger, die blasser und elender aussah als am ersten
+Tage, lie&szlig; das unsichtbare Visier &uuml;ber ihr Gesicht herab und fragte,
+indem sie z&ouml;gernd vortrat, ob sie dazu verpflichtet sei, durchaus
+private Angelegenheiten hier an die &Ouml;ffentlichkeit zu bringen. Sie k&ouml;nne
+sich das nicht denken.</p>
+
+<p>&raquo;Im Staate ist das Private durchgehend mit dem &Ouml;ffentlichen verkn&uuml;pft,&laquo;
+sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann sanft belehrend. &raquo;Nur soweit die
+&Ouml;ffentlichkeit Interesse daran hat, bitte ich Sie noch um einige
+Aufschl&uuml;sse &uuml;ber die Verh&auml;ltnisse Ihrer verstorbenen Freundin. Frau
+Swieter hatte vor ihrer Heirat mit dem Angeklagten freundschaftliche
+Beziehungen zu einem Manne, die sie abbrach, da sie zu einer Ehe nicht
+f&uuml;hren konnten, und die vermutlich, solange die Ehe mit dem Angeklagten
+bestand, nicht wieder angekn&uuml;pft wurden.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_312" id="Page_312">[312]</a></span>&raquo;Nat&uuml;rlich nicht,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger hochm&uuml;tig. &raquo;Sie sahen
+sich erst wieder, als Frau Swieter hierher &uuml;bersiedelte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dabei lebte die beiderseitige Neigung auf, und die Wiedervereinigten
+beschlossen, sich zu heiraten. Ist es nicht so?&laquo; fragte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann.</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; antwortete das Fr&auml;ulein trocken.</p>
+
+<p>&raquo;Was war die Ursache, da&szlig; dieser Beschlu&szlig; nicht ausgef&uuml;hrt wurde?&laquo;
+fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann weiter. &raquo;Es ist unm&ouml;glich, da&szlig; Sie, als
+n&auml;chste Freundin der Verstorbenen, nicht davon unterrichtet sein
+sollten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es lag nicht in der Natur meiner Freundin, sich bis aufs letzte
+auszusprechen,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;und es liegt nicht in
+meiner, Verschwiegenes zu erpressen. Meine Freundin war damals sehr
+aufgeregt und &auml;u&szlig;erte sich ungleich. Einmal sagte sie mir unter Tr&auml;nen,
+ihre alte Liebe sei so stark wie je, wolle sie sich aber an die Brust
+des Geliebten werfen, so stehe ihr Mann, das Kind an der Hand
+dazwischen, und dieser Schatten ihrer Einbildung sei undurchdringlicher
+als eine Mauer.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_313" id="Page_313">[313]</a></span>&raquo;Haben Sie das so aufgefa&szlig;t,&laquo; fragte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;als f&uuml;rchte
+sie sich vor ihres Mannes Rache, oder als dr&auml;nge sich die Erinnerung
+zwischen sie und ein neues Gl&uuml;ck?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe es damals so aufgefa&szlig;t,&laquo; lautete die Antwort, &raquo;als sei
+<tt>Dr.</tt> Deruga schuld daran, da&szlig; meine Freundin den Mann nicht
+heiratete, den sie liebte. Es tat mir sehr, sehr leid, da&szlig; diese Heirat
+nicht zustande kam. Ich kannte diesen Mann viel besser als <tt>Dr.</tt>
+Deruga und hatte viel mehr Sympathie f&uuml;r ihn, schon deshalb, weil ich
+glaubte, meine Freundin w&uuml;rde es gut bei ihm haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Sie jenen Herrn gut kannten,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;so
+haben Sie vielleicht mit ihm dar&uuml;ber gesprochen und wissen, wie er es
+auffa&szlig;te?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er fa&szlig;te es so auf,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger mit sehr b&ouml;sem
+Gesicht, &raquo;als f&uuml;rchte Frau Swieter, Deruga w&uuml;rde ihn t&ouml;ten, wenn er sie
+heiratete. Es ist unm&ouml;glich, da&szlig; sie ihm das gesagt hat, weil ihn das
+weniger traurig machen mu&szlig;te, als wenn er gewu&szlig;t h&auml;tte, welchen <span class='pagenum'><a name="Page_314" id="Page_314">[314]</a></span>Anteil
+Deruga an ihrem Gem&uuml;tsleben hatte. Es kann auch sein, da&szlig; er das glauben
+wollte, weil es seinen Stolz am wenigsten verletzte. Er war stolz und
+herrschs&uuml;chtig.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Ihre Freundin ihn so sehr liebte,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;so
+mu&szlig; ein starkes Motiv sie abgehalten haben, ihn zu heiraten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger. &raquo;Sie hat damals auch sehr
+gelitten. Sie &uuml;berwand es aber verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig bald und sagte sp&auml;ter
+stets, sie glaube, richtig gehandelt zu haben.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_315" id="Page_315">[315]</a></span></p>
+<h2><a name="XIV" id="XIV"></a><tt>XIV.</tt></h2>
+
+
+<p>Es war Abend, als <tt>Dr.</tt> Bernburger m&uuml;de in seine Wohnung kam. Er
+warf sich auf den sch&auml;bigen Diwan, den er alt gekauft hatte, und sah
+sich fr&ouml;stelnd nach irgend etwas um, womit er sich zudecken k&ouml;nnte.
+Drinnen war es k&auml;lter als drau&szlig;en, aber abgesehen davon, da&szlig; er aus
+Sparsamkeit am Abend wom&ouml;glich nicht mehr einheizte, f&uuml;hlte er sich auch
+zu ersch&ouml;pft und unlustig dazu. Mi&szlig;vergn&uuml;gt sah er sich in dem kahlen,
+an ein Zimmer in einem Hotel zweiten Ranges erinnernden Raum um und
+dachte dar&uuml;ber nach, woher und wozu er diesen Hang nach einer sch&ouml;nen,
+behaglichen Umgebung habe, den er vielleicht nie w&uuml;rde befriedigen
+k&ouml;nnen. Um seiner Verstimmung zu entrinnen und sich zu erw&auml;rmen,
+beschlo&szlig; er, in ein Caf&eacute; zu gehen. Da fand er vor der Glast&uuml;r, die seine
+Wohnung abschlo&szlig;, eine kleine, <span class='pagenum'><a name="Page_316" id="Page_316">[316]</a></span>verhutzelte Frau stehen, die schon eine
+Weile nach der Klingel gesucht hatte und ihn fragte, ob hier ein Herr
+Rechtsanwalt wohne. Der sei er, sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger; aber jetzt
+werde nicht mehr gearbeitet, sie solle am folgenden Tage in seine
+Sprechstunde kommen. Die kleine Frau setzte auseinander, da&szlig; sie das
+nicht k&ouml;nne, weil sie tags&uuml;ber bei den Herrschaften sei, um zu waschen;
+ihr Mann habe sie ja verlassen, und sie m&uuml;sse die Kinder allein
+durchbringen. Sie komme auch jetzt von der Arbeit, und zwar komme sie,
+weil der Herr T&ouml;nep&ouml;hl vom Vorderen Anger sie geschickt habe.</p>
+
+<p>Bei der Nennung dieses Namens durchfuhr den Anwalt ein Gedanke, der ihm
+das Blut ins Gesicht trieb und ihn bewog, mit der kleinen Frau in sein
+Zimmer zur&uuml;ckzukehren. W&auml;hrend er Licht machte, bat er sie, sich zu
+setzen und zu erz&auml;hlen, was sie herf&uuml;hre, und da sie, als er damit
+fertig war, noch immer bescheiden an der T&uuml;r stand, n&ouml;tigte er sie
+selbst auf einen Stuhl und nahm ihr den gro&szlig;en Deckelkorb ab, den sie in
+der Hand trug. Sie l&auml;chelte verlegen und dankbar und begann ihre
+Erz&auml;hlung:</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_317" id="Page_317">[317]</a></span>Vorgestern sei sie zu Herrn T&ouml;nep&ouml;hl, dem T&auml;ndler im Vorderen Anger,
+gekommen, um ein Paar Schuhe f&uuml;r ihren &Auml;ltesten zu kaufen, und da habe
+ihr ein Paar besonders gut gefallen, weil es ungef&auml;hr die rechte Gr&ouml;&szlig;e
+gehabt h&auml;tte; aber es sei zu teuer gewesen. Da habe sie zu Herrn
+T&ouml;nep&ouml;hl gesagt, sie habe einen Arbeitskittel von ihrem seligen
+Mann &mdash; sie sage n&auml;mlich immer 'ihr seliger Mann', seit er auf und davon
+gegangen sei &mdash; der s&auml;he wie neu aus, ob er den nicht dagegen annehmen
+wolle. Herr T&ouml;nep&ouml;hl habe barsch gesagt, wie er &uuml;berhaupt sehr
+hochfahrend gegen die armen Leute sei, f&uuml;r solches Lumpenzeug habe er
+keine Kunden. Da habe seine Frau, die in einem alten Koffer gekramt
+habe, dazwischen geschrien, er solle nicht ein solcher T&ouml;lpel sein, der
+Herr Rechtsanwalt habe ihm doch viel Geld f&uuml;r einen alten Kittel
+versprochen, und er, der Mann, habe dem Herrn Rechtsanwalt fest
+zugesagt, sich danach umzusehen, und nun s&auml;he man, was f&uuml;r ein
+Windbeutel er sei. Darauf habe Herr T&ouml;nep&ouml;hl seinerseits geschimpft, sie
+sei d&uuml;mmer als ein Hering. <span class='pagenum'><a name="Page_318" id="Page_318">[318]</a></span>Der Herr Rechtsanwalt w&uuml;rde ihm den Kittel
+an den Kopf werfen, denn er wolle einen, der auf der Stra&szlig;e gefunden
+sei. Nun sei n&auml;mlich der alte Anzug, den sie gemeint habe, gar nicht von
+ihrem seligen Manne gewesen, sondern sie habe ihn gefunden, aber wegen
+der Grobheit des Herrn T&ouml;nep&ouml;hl habe sie sich nicht getraut, das zu
+sagen, damit er nicht eine gro&szlig;e Angelegenheit daraus mache und
+behaupte, sie habe ihn gestohlen.</p>
+
+<p>Sie sei also fortgegangen, habe aber an der T&uuml;re noch mit Frau T&ouml;nep&ouml;hl
+geschwatzt und sie gefragt, was f&uuml;r ein Herr Rechtsanwalt das sei, und
+sie habe ihr alles erz&auml;hlt und auch, da&szlig; es sich um einen gro&szlig;en Proze&szlig;
+handle, und da&szlig; man ein gutes St&uuml;ck Geld verdienen k&ouml;nnte, wenn man den
+rechten Anzug br&auml;chte. Darauf habe sie gedacht, sie wolle den Kittel in
+Gottes Namen dem Herrn Rechtsanwalt bringen, er werde ihr ja nichts
+B&ouml;ses antun und sie ins Ungl&uuml;ck st&uuml;rzen, wo sie ja nur komme, weil ihm
+so viel daran gelegen sei.</p>
+
+<p>Nun freilich, sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, er sei ihr sehr dankbar, und
+ob er den Anzug brauchen <span class='pagenum'><a name="Page_319" id="Page_319">[319]</a></span>k&ouml;nne oder nicht, er wolle sie f&uuml;r die M&uuml;he
+entsch&auml;digen. Sie sei eine brave, kleine Frau und solle recht gr&uuml;ndlich
+erz&auml;hlen, wie sie zu diesem Kittel gekommen sei.</p>
+
+<p>Es sei der 3. Oktober gewesen, erz&auml;hlte die Frau. Sie erinnere sich
+deswegen so gut daran, weil sie an dem Tage schon vor f&uuml;nf Uhr aus dem
+Hause gegangen sei. Die Frau Kommerzienrat Steinh&auml;ger habe sie n&auml;mlich
+ersucht, eine Stunde fr&uuml;her zu kommen und eine oder zwei Stunden l&auml;nger
+zu bleiben, damit sie wom&ouml;glich an einem Tage mit der W&auml;sche fertig
+w&uuml;rde; es habe sich ein ausw&auml;rtiger Besuch auf den folgenden Tag bei ihr
+angemeldet, und das passe so schlecht, wenn W&auml;sche sei. Weil nun die
+Frau Kommerzienrat sonst eine gute Frau w&auml;re, habe sie es ihr zugesagt,
+und so sei sie denn schon vor f&uuml;nf Uhr durch die Bahnhofsanlagen
+gekommen, als noch kein Mensch unterwegs gewesen sei. Ein starker Wind
+habe geweht, so da&szlig; die hohen B&auml;ume sich gebogen h&auml;tten, und die d&uuml;rren
+Bl&auml;tter w&auml;ren ihr wie Flederm&auml;use um den Kopf geflogen.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_320" id="Page_320">[320]</a></span>Auf der Br&uuml;cke habe sie einen Augenblick stillstehen m&uuml;ssen, so habe
+der Wind gegen sie angeblasen, und da habe sie etwa hundert Schritt
+weiter am Ufer etwas Schwarzes gesehen. Zuerst habe sie gemeint, es sei
+ein Kind oder ein Hund, weil es scheinbar Arme oder Beine ausgestreckt
+h&auml;tte, und sie sei schnell hingelaufen, anstatt dessen sei es ein mit
+Bindfaden umschn&uuml;rter Anzug gewesen. Offenbar sei er in Papier
+eingewickelt gewesen, das habe aber das Wasser gr&ouml;&szlig;tenteils aufgel&ouml;st
+und weggerissen. Sie habe den Anzug losgemacht und ausgerungen und
+beschlossen, ihn mitzunehmen. Denn der, dem er geh&ouml;rt habe, m&uuml;sse ihn
+doch weggeworfen haben, also sei es kein Unrecht, und vielleicht k&ouml;nne
+ihr seliger Mann ihn gebrauchen, wenn er etwa einmal wiederk&auml;me, oder
+sonst ihr &Auml;ltester, wenn er erwachsen sei. Ob der Herr Rechtsanwalt
+meine, da&szlig; sie unrecht getan h&auml;tte?</p>
+
+<p>Sie betrachtete ihn &auml;ngstlich gespannt aus ihren braunen Augen, die wie
+zwei kleine, flei&szlig;ige Nachtl&auml;mpchen aus dem verschrumpften Gesicht
+herausleuchteten.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_321" id="Page_321">[321]</a></span>Aber nein, sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger, da k&ouml;nne mancher reiche und
+angesehene Mann froh sein, wenn er nicht mehr als das auf dem Gewissen
+h&auml;tte. Das sei ja herrenloses Gut gewesen. Sie habe recht getan, sie sei
+ein wackeres Frauchen. Gewi&szlig; habe sie den Kittel in ihrem Henkelkorbe?</p>
+
+<p>Ja, sagte die kleine Frau erleichtert, sie habe ihn gleich mitgebracht,
+um nicht noch einmal kommen zu m&uuml;ssen. Denn es sei ein gro&szlig;er Umweg f&uuml;r
+sie, und ihre Kinder pflegten sie abends ungeduldig zu erwarten.</p>
+
+<p>Sie nahm ein Paket aus dem Korb, und <tt>Dr.</tt> Bernburger faltete den
+Anzug auseinander.</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie,&laquo; sagte er, &raquo;ich kaufe Ihnen den Anzug ab, ob es nun der
+rechte ist oder nicht. Sind Sie zufrieden, wenn ich Ihnen vorderhand
+zehn Mark gebe? Sie sollen aber noch mehr bekommen, wenn es sich
+herausstellt, da&szlig; es der ist, den ich suche.&laquo;</p>
+
+<p>Die kleine Frau wurde rot vor schreckhafter Freude. Nun k&ouml;nne sie ihrem
+&Auml;ltesten die sch&ouml;nen Schuhe kaufen, sagte sie.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_322" id="Page_322">[322]</a></span>Aber sie solle Herrn T&ouml;nep&ouml;hl nichts von dem Gesch&auml;ft sagen, das sie
+miteinander gemacht h&auml;tten, rief <tt>Dr.</tt> Bernburger ihr die Treppe
+herunter nach. Der brauche nichts davon zu wissen.</p>
+
+<p>Hei&szlig;, fast blind vor Triumph trat <tt>Dr.</tt> Bernburger in das Zimmer
+zur&uuml;ck, dessen K&auml;lte und Leere er nicht mehr f&uuml;hlte. Sein Gedankengang
+war also richtig gewesen! Einmal kreuzte doch der Weg des Gl&uuml;ckes den
+seines Verstandes. Wie w&uuml;rden sie staunen, wenn er ihnen das R&auml;tsel
+l&ouml;ste und zugleich das Beweisst&uuml;ck vorlegte! W&uuml;rde man angesichts dessen
+noch zweifeln k&ouml;nnen? Vielleicht war irgendein Abzeichen an dem Anzuge,
+welches die Ermittlung des Gesch&auml;ftes, wo er gekauft war, erlaubte. Eine
+genaue Untersuchung des Anzuges ergab nichts Derartiges, dagegen war
+deutlich zu erkennen, da&szlig; ein neues gutes St&uuml;ck vorlag, dem durch
+absichtlich eingesetzte Flicken der Schein eines d&uuml;rftigen, oft
+getragenen Arbeitergewandes zu geben versucht worden war.</p>
+
+<p>Indem <tt>Dr.</tt> Bernburger den Rock hin und her wendete, entdeckte er
+eine zugekn&ouml;pfte Seiten<span class='pagenum'><a name="Page_323" id="Page_323">[323]</a></span>tasche, &ouml;ffnete sie, griff hinein und zog einen
+Briefumschlag heraus, der eine von der N&auml;sse verwischte, aber lesbare
+Aufschrift trug. Er las: &raquo;Herrn <tt>Dr.</tt> S.E. Deruga,&laquo; dann die Stadt
+und die Stra&szlig;e.</p>
+
+<p>Trotzdem dieser Brief ihm nur best&auml;tigte, was er erwartet hatte, war er
+nicht nur &uuml;berrascht, sondern fast erschrocken. Versteinert starrte er
+auf den Brief, der da lag wie die Gaukelei erregter Einbildungskraft und
+doch Wirklichkeit war, der Zauberschl&uuml;ssel, der ihm die Pforte zu
+Ansehen und Reichtum &ouml;ffnen w&uuml;rde. Da&szlig; der Umschlag einen Brief
+enthielt, hatte er gef&uuml;hlt, aber noch z&ouml;gerte er ihn herauszunehmen und
+zu lesen. Ihm selbst zum &Auml;rger klopfte ihm das Herz. Wozu die Aufregung?
+Er zwang sich, die peinliche Spannung zu beendigen, indem er las. Der
+Brief lautete:</p>
+
+<div class="blockquot"><p>&raquo;Dodo, lieber Dodo, ich bin todkrank und mu&szlig; sterben,
+aber vorher mu&szlig; ich schrecklich leiden und habe
+niemand, der mir hilft. Du bist der einzige, der mich
+lieb genug hat, um mich zu t&ouml;ten. Komm und befreie
+Deine <span class='pagenum'><a name="Page_324" id="Page_324">[324]</a></span>arme Marmotte, von der Du wei&szlig;t, wie sie sich
+vor Schmerzen f&uuml;rchtet. Dies ist das erste Wort, das
+ich nach siebzehn Jahren an Dich richte, und es ist
+eine Bitte. Ach, Dodo, an kein anderes Herz als an
+Deines w&uuml;rde ich eine solche Bitte zu richten wagen.
+Komme bald, Du wirst wissen, wie es geschehen kann. Da&szlig;
+ich Dir geschrieben habe, wird kein Mensch erfahren.</p>
+
+<p>Deine Marmotte.&laquo;</p></div>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger las und las wieder. Es war ihm ern&uuml;chtert und
+erm&uuml;det zumute. War dieser Brief vielleicht eine List, ein nachtr&auml;glich
+angefertigtes Machwerk, das Deruga oder seine Freunde ihm in die H&auml;nde
+gespielt hatten? Nachdem er ihn sorgf&auml;ltig untersucht und eingesehen
+hatte, da&szlig; ein Betrug ausgeschlossen war, schob er ihn in den Umschlag
+und steckte ihn in seine Brusttasche. Dann nahm er Hut und Mantel, um
+ins Caf&eacute; zu gehen. Als er nur wenige Schritte von dem Restaurant
+entfernt war, wo er zu Abend zu essen pflegte, kehrte er um und suchte
+ein anderes Lokal auf, um nicht von Bekannten angesprochen zu werden;
+<span class='pagenum'><a name="Page_325" id="Page_325">[325]</a></span>er hatte das Bewu&szlig;tsein zerstreut zu sein und wollte nicht auffallen.</p>
+
+<p>W&auml;hrend er a&szlig;, mu&szlig;te er denken, da&szlig; ihn nichts abhielte, den Brief in
+den kleinen eisernen Ofen zu werfen, der ein paar Schritt von ihm
+brannte. In einem Nu w&uuml;rden die hastigen Flammen das verh&auml;ngnisvolle
+Zeugnis vernichtet haben. Er hatte nicht die Absicht es zu tun, aber die
+Vorstellung war so lebhaft in ihm, da&szlig; ihm angst wurde, er m&uuml;sse es
+dennoch, wie man unter dem Eindruck des Schwindels wohl f&uuml;rchtet, man
+w&uuml;rde sich wider Willen von einer H&ouml;he in den Abgrund werfen.</p>
+
+<p>Wie dumm, dachte er, da&szlig; er der alten Frau, durch die er in eine so
+peinliche Lage versetzt war, zehn Mark gegeben hatte! W&uuml;rde er es &uuml;ber
+sich bringen, von dem Mantel Gebrauch zu machen und den Brief zu
+verschweigen? Wenn er es tat, so war er der Bewunderung und Dankbarkeit
+der Baronin sicher. Welche Genugtuung w&uuml;rde es ihm geben, sie von seinem
+Scharfsinn, von der Richtigkeit seiner Auffassung, die er von Anfang an
+gehabt hatte, zu &uuml;berzeugen! Was <span class='pagenum'><a name="Page_326" id="Page_326">[326]</a></span>w&uuml;rde sie dagegen sagen, wenn er ihr
+den Brief zeigte: &raquo;Sie versprachen mir, Deruga als Verbrecher zu
+entlarven, und sie verschaffen ihm einen Heiligenschein! Sie verstehen
+es, Wort zu halten!&laquo; Wahrscheinlich w&uuml;rde sie ihm verbieten, von dem
+Brief Gebrauch zu machen; und das war schlie&szlig;lich f&uuml;r ihn die
+gl&uuml;cklichste L&ouml;sung, indem sie ihm zur Pflicht machte, was er aus
+eigener Verantwortung ungern getan h&auml;tte. Und wie w&uuml;rde Deruga sich
+verhalten? <tt>Dr.</tt> Bernburger begriff nicht, warum er den wahren
+Hergang verschwiegen hatte. Sollte er auch seinem Anwalt nichts davon
+gesagt haben?</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich &uuml;berkam ihn der Wunsch, in die Anlagen zu gehen und die Stelle
+aufzusuchen, wo die Waschfrau den Anzug gefunden haben wollte; in der
+Restauration mochte er ohnehin nicht bleiben, und schlafen h&auml;tte er
+ebensowenig k&ouml;nnen. Er hatte fast eine Stunde zu gehen, bis er an die
+Br&uuml;cke kam, die &uuml;ber den Kanal f&uuml;hrte. Der Schnee, der in der letzten
+Nacht gefallen war, hatte sich aufgel&ouml;st und in Schmutz <span class='pagenum'><a name="Page_327" id="Page_327">[327]</a></span>verwandelt, und
+er h&ouml;rte in der Dunkelheit die N&auml;sse unter seinen F&uuml;&szlig;en klatschen. Die
+h&ouml;lzerne Br&uuml;cke war schl&uuml;pfrig, und das Wasser stand sehr hoch; schwarz
+und heimlich-hastig flo&szlig; es unter ihm fort. Nach einer Weile unterschied
+er etwas weiter unten die wild sich b&auml;umenden Wurzeln einer alten Ulme,
+die das Ufer umklammerte; dort mochte das B&uuml;ndel Kleider, das der Flu&szlig;
+trieb, sich festgeh&auml;ngt haben.</p>
+
+<p>Lange starrte der sp&auml;te Wanderer auf die Stelle und ging dann weiter,
+bis er nach einigen Schritten vor einer halbkreisf&ouml;rmigen Steinbank
+stand, von der aus man in der sch&ouml;nen Jahreszeit einen angenehmen Blick
+auf die Wiesen hatte, die sich weithin zwischen dunklen Geb&uuml;schen
+erstreckten. Vielleicht, dachte er, hatte in der st&uuml;rmischen
+Oktobernacht Deruga dort gesessen und, nachdem er sich umgekleidet, die
+Stunde erwartet, wo der Zug abging, mit dem er heimfahren wollte.
+Vielleicht war er sehr bewegt und zugleich sehr ersch&ouml;pft gewesen und
+hatte hier ausgeruht, wo niemand ihn beobachtete. Unwillk&uuml;rlich
+durchwatete auch <tt>Dr.</tt> <span class='pagenum'><a name="Page_328" id="Page_328">[328]</a></span>Bernburger die aufgeweichte Erde und setzte
+sich auf die steinerne Bank, ohne zu beachten, wie na&szlig; sie war. Was
+mochte Deruga gef&uuml;hlt und gedacht haben, nachdem er die Frau, die er
+einst geliebt und geha&szlig;t hatte, wiedergesehen und f&uuml;r immer verlassen
+hatte? Was f&uuml;r Erinnerungen mochten ihn zusammen mit den raschelnden
+Bl&auml;ttern umschwirrt haben?</p>
+
+<p>Indes er so sann, troff es kalt auf ihn herunter, und pl&ouml;tzlich &uuml;berlief
+ihn ein Schauer, und er stand auf und ging schnell, ohne sich umzusehen,
+der Stadt zu.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_329" id="Page_329">[329]</a></span></p>
+<h2><a name="XV" id="XV"></a><tt>XV.</tt></h2>
+
+
+<p>Am anderen Morgen f&uuml;hlte <tt>Dr.</tt> Bernburger sich so abgespannt, da&szlig;
+es ihm erlaubt schien, sich als krank zu entschuldigen, und nachdem er
+das telephonisch besorgt hatte, legte er sich wieder zu Bett in der
+Hoffnung, noch einmal einschlafen zu k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Das Klingeln des Telephons weckte ihn, und mit einem lebhaften Gef&uuml;hl
+des &Uuml;berdrusses beschlo&szlig; er zu tun, als gehe es ihn nichts an. Aber als
+es von neuem begann, stand er mit einem Seufzer auf, um zu h&ouml;ren, was es
+gebe. Er erkannte sofort die Stimme der Baronin, der der Apparat eine
+schrille F&auml;rbung gab.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind krank?&laquo; sagte sie. Das sei allerdings im h&ouml;chsten Grade
+ungeschickt. Sie sei im Begriff abzureisen, und es sei darum gerade
+jetzt notwendig, da&szlig; er pers&ouml;nlich am Platze sei.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_330" id="Page_330">[330]</a></span>Er sei nicht zum Vergn&uuml;gen krank, antwortete Bernburger. Die Krankheit
+sei wohl nicht so arg, sagte die Baronin, da&szlig; er nicht auf eine
+Viertelstunde ins Hotel kommen k&ouml;nne. Sie m&uuml;sse ihn durchaus vor der
+Abreise sprechen.</p>
+
+<p>Er bedauere, antwortete Bernburger, er l&auml;ge zu Bett.</p>
+
+<p>&raquo;Aber Herr Doktor, Sie sind ja am Telephon,&laquo; sagte die Baronin mit dem
+Lachen, von dem er wu&szlig;te, wie verf&uuml;hrerisch es klang, wenn es ihr darauf
+ankam.</p>
+
+<p>&raquo;So komme ich in Gottes Namen,&laquo; rief er &auml;rgerlich auf sich und sie.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist recht, Doktor,&laquo; antwortete ihre Stimme, &raquo;Sie k&ouml;nnen sich ja
+einen Wagen nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sehen gar nicht krank aus, Doktor,&laquo; so empfing ihn die Baronin.
+&raquo;Mein Mann und ich haben uns pl&ouml;tzlich entschlossen nach Paris zu
+reisen,&laquo; fuhr sie fort, &raquo;da mich der schreckliche Proze&szlig;, wie ich Ihnen
+schon sagte, so sehr angegriffen hat.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_331" id="Page_331">[331]</a></span>&raquo;Die Stellungnahme Ihres Fr&auml;uleins Tochter,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Bernburger mit absichtlicher Dreistigkeit, &raquo;mu&szlig; sehr erschwerend f&uuml;r Sie
+sein.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin err&ouml;tete. &raquo;Sie wissen,&laquo; sagte sie, &raquo;da&szlig; ich meine Handlungen
+durch das Urteil der Jugend nicht beeinflussen lasse. Meine Tochter wird
+uns begleiten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind um den Aufenthaltswechsel sehr zu beneiden,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Bernburger.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, der Fr&uuml;hling ist in Deutschland unertr&auml;glich,&laquo; sagte die Baronin.
+&raquo;Vielleicht wird er gerade deshalb von deutschen Dichtern so besonders
+viel besungen; man r&uuml;hmt ja das, was man nicht kennt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sich niemals kennenzulernen w&auml;re also das Geheimnis der gl&uuml;cklichen
+Ehe,&laquo; erwiderte <tt>Dr.</tt> Bernburger und setzte, sich selbst
+verweisend, hinzu: &raquo;Aber ich sehe, meine Schw&auml;che macht mich zerstreut
+und geschw&auml;tzig. Was w&uuml;nschen Frau Baronin mir zu sagen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wollte Ihnen den Proze&szlig; auf Herz und Gewissen legen,&laquo; sagte sie.
+&raquo;Als wir uns das letztemal sahen, war ich schwankend ge<span class='pagenum'><a name="Page_332" id="Page_332">[332]</a></span>worden; eine
+Folge meiner Unklugheit, pers&ouml;nlich anwesend zu sein, wie ich jetzt
+eingesehen habe. Die vielen Einzelheiten, die wechselnden Aussagen, alle
+die starken Eindr&uuml;cke machen einen nerv&ouml;s, wenn man nicht daran gew&ouml;hnt
+ist. Ich will nun, ohne mich pers&ouml;nlich darum zu k&uuml;mmern, dem Proze&szlig;
+seinen Lauf lassen und das Ergebnis erwarten. Da&szlig; es gerecht ausf&auml;llt,
+daf&uuml;r sind die Anw&auml;lte und Richter da.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jawohl,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann mich doch auf Sie verlassen?&laquo; fragte sie. &raquo;Ihre Krankheit wird
+doch nicht lange dauern? Ich w&auml;re Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir
+zuweilen Bericht erstatten wollten. Sie sagten das letztemal, da&szlig; Sie
+eine entscheidende Entdeckung zu machen hofften.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger hatte die Baronin starr angesehen und fuhr bei
+ihren letzten Worten zusammen. &raquo;Leider,&laquo; stie&szlig; er etwas gewaltsam
+hervor, &raquo;mu&szlig; ich Ihnen mitteilen, da&szlig; ich mich gezwungen sehe, die
+Vertretung Ihrer Angelegenheit niederzulegen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_333" id="Page_333">[333]</a></span>Die erste Regung der Baronin bei diesen unerwarteten Worten war
+gekr&auml;nkte Entr&uuml;stung, die sie so stark erf&uuml;llte, da&szlig; sie kaum Fassung
+gewinnen konnte, sich zu &auml;u&szlig;ern.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist unerh&ouml;rt, das ist unm&ouml;glich,&laquo; rief sie endlich aus, w&auml;hrend ein
+kalter, stechender Ausdruck in ihre grauen Augen trat. &raquo;Sie wollen sich
+aus der Verlegenheit zur&uuml;ckziehen, in die Sie mich verwickelt haben.
+Aber ich entlasse Sie nicht. Und diese Krankheit haben Sie nur
+vorgesch&uuml;tzt, ich durchschaue es gleich. Es ist der erste Schritt, uns,
+mich ehrlos im Stiche zu lassen.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Bernburger wurde bleich, aber er blieb bei wachsender
+Entschlossenheit ruhig. &raquo;Ich f&uuml;hle mich in der Tat krank,&laquo; sagte er,
+&raquo;und der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Es ist um Ihretwillen, da&szlig; ich
+zur&uuml;cktreten will.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke f&uuml;r Ihr r&uuml;cksichtsvolles Opfer,&laquo; sagte die Baronin sp&ouml;ttisch.
+&raquo;Aber ich nehme es nicht an. Ich vertraue Ihnen trotz Ihrer Krankheit.&laquo;</p>
+
+<p>Inzwischen hatte die aufgeregte und scharfe Stimme ihrer Mutter Mingos
+Aufmerksamkeit <span class='pagenum'><a name="Page_334" id="Page_334">[334]</a></span>erregt, die sich im Nebenzimmer befand. Sie trat ein und
+betrachtete die Streitenden mit verwundert fragenden Blicken. Ohne da&szlig;
+er sich dessen bewu&szlig;t wurde, fl&ouml;&szlig;te ihre Anwesenheit dem jungen
+Rechtsanwalt Mut ein.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ich Ihnen den Namen und die Art meiner Krankheit nenne, Frau
+Baronin,&laquo; sagte er, &raquo;werden Sie mich besser begreifen. Sie besteht
+darin, da&szlig; ich anderer &Uuml;berzeugung geworden bin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So pl&ouml;tzlich?&laquo; fragte die Baronin. &raquo;Noch vor zwei oder drei Tagen
+sprachen Sie sich ganz anders aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es kommt vor, da&szlig; einem die Augen ganz pl&ouml;tzlich ge&ouml;ffnet werden,&laquo;
+sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.</p>
+
+<p>Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Mingo seine hei&szlig;e, feuchte Hand
+ergriff, deren Ber&uuml;hrung sie sonst vermieden hatte, und ausrief: &raquo;O,
+Herr Doktor, sagen Sie uns alles! Ich danke Ihnen, Mama freut sich
+ebenso wie ich, wenn Sie es auch nicht gleich zugibt! Wie gut von Ihnen,
+da&szlig; Sie Ihren Irrtum eingestehen!&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_335" id="Page_335">[335]</a></span>Sie hielt seine Hand noch immer mit leidenschaftlichem Druck fest, und
+ihre Augen standen voll Tr&auml;nen, w&auml;hrend ihre Lippen zitterten. Auch in
+dem Gesicht der Baronin l&ouml;sten sich die gespannten Mienen, obwohl sie
+Zur&uuml;ckhaltung und &Uuml;berlegenheit zu bewahren suchte.</p>
+
+<p>&raquo;Seien Sie aufrichtig gegen mich, Herr Doktor,&laquo; sagte sie mit gem&auml;&szlig;igter
+Strenge. &raquo;Das wenigstens darf ich von Ihnen verlangen. Beruht Ihre
+Sinnes&auml;nderung auf psychischen Eindr&uuml;cken oder auf neuen Tatsachen, die
+Sie erfahren haben?&laquo;</p>
+
+<p>Erst jetzt forderte sie ihn durch eine Handbewegung auf, sich zu setzen,
+und da er einen Stuhl nehmen wollte, bot sie ihm mit l&auml;chelnder
+Anspielung auf seine Krankheit einen Sessel an. &raquo;Auch ein Glas Wein
+m&uuml;ssen Sie trinken,&laquo; f&uuml;gte sie hinzu, indem sie Mingo durch einen Blick
+bedeutete zu klingeln. &raquo;Sie sehen wirklich angegriffen aus. Ich glaube,
+ich war vorhin zu hart gegen Sie, aber Sie haben es selbst durch Ihre
+Unaufrichtigkeit und vor allem durch <span class='pagenum'><a name="Page_336" id="Page_336">[336]</a></span>Ihre Zweifel verschuldet. Ich
+glaube, wenn Sie die schlechte Meinung in Rechnung ziehen, die Sie von
+mir hatten, bin ich Ihnen nichts mehr schuldig.&laquo;</p>
+
+<p>Als <tt>Dr.</tt> Bernburger seine Erz&auml;hlung beendet hatte, war Mingos
+blasses Gesicht von Tr&auml;nen &uuml;berstr&ouml;mt, die zu verbergen sie keinen
+Versuch machte; zu sprechen war sie nicht imstande. Ihrer Mutter war es
+nicht anzusehen, da&szlig; sie bewegt war.</p>
+
+<p>&raquo;Erkl&auml;ren Sie mir nun, Herr Doktor, in welcher Weise sich durch Ihren
+Fund die Lage ver&auml;ndert hat,&laquo; sagte sie. &raquo;Was werden die Folgen sein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Lage hat sich nur ver&auml;ndert, wenn Sie wollen,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Bernburger. &raquo;Wenn Sie es verlangen, habe ich die Pflicht, meinen Fund zu
+verschweigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das kommt nat&uuml;rlich nicht in Frage,&laquo; rief die Baronin schnell aus. &raquo;Ich
+habe nie etwas anderes gewollt, als da&szlig; ein Verbrechen ges&uuml;hnt w&uuml;rde.
+Was Herr Deruga getan hat, halte ich eher f&uuml;r eine gro&szlig;m&uuml;tige Tat. Ich
+wei&szlig; aber nicht, wie die Justiz sich dazu stellt.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_337" id="Page_337">[337]</a></span>&raquo;Durch den Brief,&laquo; erkl&auml;rte der Anwalt, &raquo;ist einwandfrei festgestellt,
+da&szlig; <tt>Dr.</tt> Deruga seine geschiedene Frau auf ihre Bitte get&ouml;tet hat,
+und seine Tat f&auml;llt demnach unter eine Rubrik, die 'T&ouml;tung auf
+Verlangen' betitelt ist. Vermutlich wird er zu einigen Jahren Gef&auml;ngnis
+verurteilt. Wird er aber auch freigesprochen, so haben Sie, Frau
+Baronin, mit einem Versuch, ihm die Erbschaft streitig zu machen, doch
+kaum noch Aussicht auf Erfolg.&laquo;</p>
+
+<p>Ein schnelles, tiefes Rot flog &uuml;ber das Gesicht der Baronin. &raquo;Davon ist
+nicht mehr die Rede,&laquo; sagte sie mit einer abwehrenden Handbewegung.
+&raquo;Jetzt begreife ich die Verf&uuml;gung meiner verstorbenen Kusine vollkommen.
+Alles, was ich getan habe, ging aus vollkommener Verkennung der
+Verh&auml;ltnisse hervor. Ihrem Eifer, lieber Herr Doktor, habe ich es zu
+verdanken, da&szlig; ich noch rechtzeitig meinen Irrtum einsehen konnte.&laquo; Sie
+reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen f&uuml;hrte.</p>
+
+<p>Mingo vermochte immer noch nicht zu sprechen. Erst als <tt>Dr.</tt>
+Bernburger fortgegangen war, rief <span class='pagenum'><a name="Page_338" id="Page_338">[338]</a></span>sie, indem sie ihrer Mutter um den
+Hals fiel: &raquo;Was f&uuml;r ein guter Mensch, dieser unscheinbare Bernburger!
+Wie unrecht habe ich ihm getan! Und was f&uuml;r sch&ouml;ne traurige Augen hat er
+hinter der Brille!&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin k&uuml;&szlig;te Mingo auf die Stirn und sagte: &raquo;S&uuml;&szlig;liche Augen, gut,
+da&szlig; die Brille davor ist.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_339" id="Page_339">[339]</a></span></p>
+<h2><a name="XVI" id="XVI"></a><tt>XVI.</tt></h2>
+
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann er&ouml;ffnete die n&auml;chste Sitzung durch eine
+&uuml;berraschende Mitteilung: <tt>Dr.</tt> Bernburger, der von der Baronin
+Truschkowitz mit Nachforschungen &uuml;ber den Tod ihrer Kusine betraut
+gewesen sei, habe einige Tatsachen gesammelt, die geeignet w&auml;ren, dem
+Proze&szlig; eine andere Wendung zu geben. Nachdem er die Genehmigung der
+Baronin erhalten habe, bitte er dieselben dem Gericht vorlegen zu
+d&uuml;rfen.</p>
+
+<p>Das unvorhergesehene Ereignis schreckte selbst Deruga aus seiner bisher
+beobachteten schl&auml;frigen Haltung. Unwillk&uuml;rlich spannten seine Muskeln
+sich wie zu einem Kampfe, als <tt>Dr.</tt> Bernburger vortrat, von dem er
+sich eines t&uuml;ckischen Angriffs aus dem Hinterhalt versah.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Herren Richter und Geschworenen,&laquo; begann <tt>Dr.</tt> Bernburger,
+&raquo;ich habe einen wich<span class='pagenum'><a name="Page_340" id="Page_340">[340]</a></span>tigen Fund gemacht, den ich Ihnen keine Stunde
+vorenthalten zu sollen glaube, da er den dunklen Fall, der Sie
+besch&auml;ftigt, mit einem Schlage ins klare Licht setzt. Meine Herren, ich
+ging von der &Uuml;berzeugung aus, da&szlig; Deruga den Mord an Frau Swieter
+begangen haben m&uuml;sse, weil er erstens der einzige war, der ein Interesse
+an ihrem Tode hatte, und zweitens der einzige, dessen Schicksal mit dem
+ihrigen eng und in tragischster Weise verflochten gewesen war; sodann,
+weil es mir schien, da&szlig; ohne den Willen der Frau Swieter oder ihres
+Dienstm&auml;dchens oder beider niemand ihre Wohnung h&auml;tte betreten k&ouml;nnen.
+Diese meine Ansicht wurde durch die Zeugenaussagen best&auml;rkt und darin
+ver&auml;ndert, da&szlig; ich von Frau Swieters Dienstm&auml;dchen absah und sie allein
+f&uuml;r diejenige ansah, die den M&ouml;rder eingelassen hatte.</p>
+
+<p>Ich stellte mir den Vorgang so vor, da&szlig; entweder Frau Swieter ihren
+geschiedenen Gatten zu sich gerufen habe, um von ihm Abschied zu nehmen,
+oder aber, was ich f&uuml;r wahrscheinlicher hielt, da&szlig; er sie aufgesucht
+habe, um Geld von ihr <span class='pagenum'><a name="Page_341" id="Page_341">[341]</a></span>zu erbitten; und da&szlig; irgendeine unvorhergesehene
+Wendung des Gespr&auml;chs ihn zum M&ouml;rder gemacht habe. In beiden F&auml;llen lie&szlig;
+sich das durch die besonderen Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden
+hatten, sowie durch Derugas unbez&auml;hmbares Temperament erkl&auml;ren. Ich nahm
+an, da&szlig; er sich angemeldet oder sich durch irgendein ihnen beiden aus
+fr&uuml;herer Zeit bekanntes Zeichen bemerkbar gemacht habe. Er brauchte ja
+nur unter ihrem Fenster ihren Namen zu rufen, eine Melodie zu singen
+oder zu pfeifen, um von ihr erkannt zu werden.</p>
+
+<p>Als die wackere Ursula von dem Slowaken erz&auml;hlte, der um die Mittagszeit
+angel&auml;utet hatte und nachher verschwunden war, stand es bei mir fest,
+da&szlig; dies Deruga gewesen sei. Ich stellte mir vor, da&szlig; er irgendwo im
+Hause, vermutlich im Keller, die Zeit erwartet hatte, wo Ursula ausging,
+dann von Frau Swieter eingelassen wurde und das Haus verlie&szlig;, kurz bevor
+Ursula zur&uuml;ckzuerwarten war. Auf dem Wege zum Gartentor begegnete er dem
+Hausmeister, der ihn neugierig betrachtete und <span class='pagenum'><a name="Page_342" id="Page_342">[342]</a></span>dadurch, oder nur durch
+seine Anwesenheit, das Bewu&szlig;tsein des begangenen Frevels und die Gefahr
+der Entdeckung in ihm rege machte. Er wollte sich unbefangen stellen,
+und es fiel ihm nichts Besseres ein, als eine Zigarette aus der Tasche
+zu ziehen und zu fragen: 'Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?' Da er aber
+nicht in der Stimmung war, zu rauchen, und zu aufgeregt, um folgerichtig
+zu handeln, beging er eine Unvorsichtigkeit und warf die eben
+angez&uuml;ndete Zigarette in das Geb&uuml;sch am Gartentor.&laquo;</p>
+
+<p>Die Zuh&ouml;rer folgten der Erz&auml;hlung mit einer Spannung, als ob sie die
+angef&uuml;hrten Ereignisse zum ersten Male h&ouml;rten. Die Aufmerksamkeit war
+zwischen <tt>Dr.</tt> Bernburger und Deruga geteilt, der nicht daran
+dachte, sein Gesicht wie sonst den Blicken zu entziehen, indem er es in
+der Hand verbarg.</p>
+
+<p>&raquo;Meine &Uuml;berzeugung, da&szlig; der Slowak Deruga gewesen sein m&uuml;sse,&laquo; fuhr
+<tt>Dr.</tt> Bernburger fort, &raquo;war so stark, da&szlig; ich sagen kann, ich wu&szlig;te
+es. Ich verfolgte nun alle seine Schritte von dem <span class='pagenum'><a name="Page_343" id="Page_343">[343]</a></span>Augenblick an, wo er
+am Bahnhof in Prag die Fahrkarte, wie ja festgestellt war, l&ouml;ste. Er
+trug damals einen gew&ouml;hnlichen Anzug, vermutlich einen Gehrock, denn
+wenn er im Kittel seine Wohnung verlassen h&auml;tte, w&auml;re es aufgefallen und
+gemerkt worden; den Kittel hatte er im Paket bei sich. Die Frage war
+nun, wo er sich umgekleidet hatte. Geschah es im Eisenbahnzuge? Irgendwo
+in den Bahnhofsr&auml;umen? Oder etwa des Nachts im Freien? Er mu&szlig;te einen
+solchen Ort w&auml;hlen, wo er sich nicht nur umkleiden, sondern auch den
+gew&ouml;hnlichen Anzug zur&uuml;cklassen, sp&auml;ter wiederfinden und gegen den
+Kittel vertauschen konnte. Den Kittel hatte er entweder im Paket mit
+nach Hause genommen oder, wahrscheinlicher, unterwegs weggeworfen oder
+versteckt. War das letztere der Fall, so konnte er gefunden und an einen
+Tr&ouml;dler verkauft worden sein, und trotz der schwachen Aussicht auf
+Erfolg, die eine darauf gerichtete Nachforschung haben konnte, machte
+ich mir die M&uuml;he, in einer gro&szlig;en Reihe derartiger Gesch&auml;fte
+nachzufragen.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_344" id="Page_344">[344]</a></span>Ich erhielt keine irgendwie brauchbare Auskunft und hatte bereits die
+Hoffnung, auf diesem Wege eine Spur zu finden, aufgegeben, als sich eine
+alte Frau bei mir meldete, die zuf&auml;llig in dem Laden eines Tr&ouml;dlers von
+meinem Wunsche Kunde erhalten hatte. Diese Frau, eine W&auml;scherin, war am
+Morgen des 3. Oktober bald nach f&uuml;nf Uhr morgens durch die
+Bahnhofsanlagen gegangen und hatte von der Br&uuml;cke herunter, die &uuml;ber den
+Kanal f&uuml;hrt, etwas Dunkles im Wasser gesehen, das sie zuerst f&uuml;r etwas
+Lebendiges hielt. Als sie es n&auml;her untersuchte, ergab sich, da&szlig; es ein
+Anzug war, in der Art, wie Arbeiter ihn tragen, der sich an der Wurzel
+eines Baumes festgeh&auml;ngt hatte, und nachdem sie ihn ausgerungen hatte,
+nahm sie ihn als herrenloses Gut mit.&laquo;</p>
+
+<p>Bei diesen Worten trat <tt>Dr.</tt> Bernburger an den Tisch, legte das
+Paket, das er unter dem Arm gehalten hatte, auf den Tisch, wickelte es
+auf und breitete den Anzug auseinander, &uuml;ber den die Richter und der
+Rechtsanwalt, von ihren Sitzen aufstehend, sich beugten.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_345" id="Page_345">[345]</a></span>&raquo;Der Anzug,&laquo; fuhr <tt>Dr.</tt> Bernburger fort, &raquo;w&uuml;rde nur eben eine Spur
+gewesen sein. Den Beweis, da&szlig; er dem Angeklagten geh&ouml;rte, erbrachte mir
+ein Brief, den ich in einer zugekn&ouml;pften Seitentasche des Kittels fand.
+Er ist trotz der stellenweise verwischten Schrift vollkommen lesbar, und
+ich bitte um die Erlaubnis, ihn vorlesen zu d&uuml;rfen.&laquo;</p>
+
+<p>Im Laufe seines Berichtes hatte sich die Erregung des Erz&auml;hlers mehr und
+mehr verraten. Beim Lesen des Briefes &uuml;berschlug sich seine Stimme
+mehrere Male, und als er ihn zum Schlusse auf den Tisch legte, zitterte
+seine Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Donnerwetter!&laquo;</p>
+
+<p>Mit diesem Ausdruck des Erstaunens unterbrach Justizrat Fein zuerst die
+eingetretene Stille.</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann hatte inzwischen den Brief ergriffen, hielt ihn
+dicht vor die Augen, pr&uuml;fte sorgf&auml;ltig die Schrift, den Poststempel und
+das Papier und fragte: &raquo;Wie mag er denn bef&ouml;rdert worden sein?&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_346" id="Page_346">[346]</a></span>&raquo;Dar&uuml;ber wird uns wohl Fr&auml;ulein Schwertfeger Auskunft geben k&ouml;nnen,&laquo;
+sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger.</p>
+
+<p>Nach einer neuen Pause wendete sich der Vorsitzende langsam zu Deruga
+mit der Frage, ob er etwas zu der Mitteilung des <tt>Dr.</tt> Bernburger
+zu bemerken habe.</p>
+
+<p>Deruga sch&uuml;ttelte stumm den Kopf, ohne aufzublicken.</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&ouml;chten gern eine Best&auml;tigung von Ihnen h&ouml;ren,&laquo; begann <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann von neuem, &raquo;da&szlig; die Darstellung des <tt>Dr.</tt> Bernburger
+zutreffend ist, oder eine Richtigstellung.&laquo;</p>
+
+<p>Bevor er jedoch den Satz vollendet hatte, unterbrach ihn der
+Staatsanwalt, mit seinen langen Armen gestikulierend und auf Deruga
+deutend. &raquo;Sehen Sie denn nicht, Herr Kollege,&laquo; sagte er, &raquo;da&szlig; der Mann
+krank geworden ist? Lassen Sie ihm doch jetzt Ruhe, das mu&szlig; ja den
+st&auml;rksten Magen angreifen! Ein Glas Wasser! Schnell!&laquo; winkte er dem
+n&auml;chsten Gerichtsdiener, ihn mit drohenden Blicken zur Eile antreibend.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_347" id="Page_347">[347]</a></span>Justizrat Fein hatte inzwischen seinen Arm um Derugas Schulter gelegt
+und auf ihn eingeredet. Dann wandte er sich gegen den Richtertisch und
+sagte: &raquo;Mein Klient f&uuml;hlt sich nicht wohl und bittet um die Erlaubnis,
+sich zur&uuml;ckziehen zu d&uuml;rfen. Er wird morgen alle w&uuml;nschbaren Erkl&auml;rungen
+geben.&laquo;</p>
+
+<p>Die beiden verlie&szlig;en zusammen den Saal, und als sie drau&szlig;en waren, sagte
+der Justizrat: &raquo;H&ouml;ren Sie, Doktor, ich komme mir zum erstenmal in meinem
+Leben wie ein gemeiner Kerl vor.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da seien Sie froh,&laquo; erwiderte Deruga mit seinem gewinnenden L&auml;cheln.
+&raquo;In Ihrem Alter k&ouml;nnte es leicht das zehnte oder hundertste Mal sein.
+&Uuml;brigens hatten Sie ganz recht, die Menschen sind dumme, schwache Tiere.
+Warum h&auml;tten Sie mir glauben sollen?&laquo;</p>
+
+<p>Der Justizrat sch&uuml;ttelte den Kopf. &raquo;Ein alter Praktiker wie ich&laquo;, sagte
+er, &raquo;m&uuml;&szlig;te unterscheiden k&ouml;nnen. Aber, da&szlig; ich Sie von Anfang an gern
+leiden mochte, Deruga, das haben Sie hoffentlich bemerkt.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_348" id="Page_348">[348]</a></span>&raquo;Ja, obwohl Sie mich nebenbei f&uuml;r einen Hundsfott hielten,&laquo; sagte
+Deruga.</p>
+
+<p>Der Justizrat musterte ihn mit liebevollen Blicken.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sehen schlecht aus. Trinken wir eine Flasche Wein zusammen!&laquo;</p>
+
+<p>Deruga entschuldigte sich mit starken Kopfschmerzen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; nicht, was mich so mitgenommen hat,&laquo; sagte er. &raquo;Ich glaube, es
+war das Gef&uuml;hl, wie dieser Herr mir Schritt f&uuml;r Schritt nachgeschlichen
+ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eigentlich,&laquo; sagte der Justizrat, sich besinnend, &raquo;habe ich der
+Kanaille unrecht getan. Er hat sich wie ein anst&auml;ndiger Mensch
+benommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schade, nicht?&laquo; sagte Deruga, worauf sie sich trennten.</p>
+
+<p>Im Gerichtsgeb&auml;ude standen die am Proze&szlig; beteiligten Juristen noch
+zusammen, um <tt>Dr.</tt> Bernburger geschart, den sie nach verschiedenen
+Einzelheiten ausfragten. Der Staatsanwalt sch&uuml;ttelte ihm zum dritten
+Male beide H&auml;nde <span class='pagenum'><a name="Page_349" id="Page_349">[349]</a></span>und lobte seinen Eifer. Seine d&uuml;nnen Haare waren
+zerzaust, und seine hellen Augen blinkten feucht unter den
+fuchsschw&auml;nzigen Augenbrauen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich gelte f&uuml;r scharf,&laquo; sagte er, &raquo;und das bin ich auch und will es
+bleiben. Aber diesem Italiener gegen&uuml;ber mag man gern einmal Mensch
+sein. Der ist durch und durch Mensch, ohne gemein zu sein, das gef&auml;llt
+mir an ihm.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind durch und durch Staatsanwalt, ohne gemein zu sein,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Das ist vielleicht noch schwerer.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was ist seltener, Sch&ouml;nheit im Kost&uuml;m oder Sch&ouml;nheit bei nacktem
+Leibe?&laquo; sagte der Staatsanwalt gedankenvoll. &raquo;Nun, ich will jedenfalls
+das Kost&uuml;m nicht ganz abrei&szlig;en, sondern juristisch-menschlich sein,
+indem ich alle die von <tt>Dr.</tt> Bernburger beigebrachten Tatsachen
+ignoriere und, als w&auml;re nichts geschehen, die Anklage auf Totschlag
+aufrechterhalte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vorz&uuml;glich, vorz&uuml;glich,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Bernburger. &raquo;Sonst h&auml;tte ich
+ihm am Ende einen schlechten Dienst geleistet.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_350" id="Page_350">[350]</a></span>&raquo;Auf die Art ginge Feins Plan durch,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann.
+&raquo;Etwas willk&uuml;rlich finde ich es aber bei der Lage der Dinge.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wieso, mein Bester?&laquo; rief der Staatsanwalt lebhaft aus. &raquo;Wie ist denn
+die Lage der Dinge eigentlich? Allerdings, wir wissen jetzt, da&szlig; die
+gute Frau Swieter ihre Leiden durch den Tod abzuk&uuml;rzen w&uuml;nschte, da&szlig; sie
+ihren geschiedenen Mann bat, ihr diesen Dienst zu leisten, und da&szlig;
+Deruga sie daraufhin t&ouml;tete. Aber wissen wir denn, ob er es wirklich aus
+Mitleid getan hat? Ob er nicht eigenn&uuml;tzige Nebenabsichten hatte? Wissen
+wir, ob er ihren Tod nicht l&auml;ngst herbeiw&uuml;nschte? Ob er nicht &uuml;ber den
+Brief frohlockte, der ihm die gew&uuml;nschte Handhabe bot? Dergleichen w&auml;re
+nicht zum ersten Male vorgekommen. Vergegenw&auml;rtigen Sie sich nur die
+Geschwindigkeit, mit der er den heiklen Auftrag &uuml;bernahm! Das Gift hatte
+er augenscheinlich schon bereit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;H&ouml;ren Sie auf,&laquo; unterbrach <tt>Dr.</tt> Zeunemann lachend. &raquo;Wenn das so
+weiter geht, erheben Sie die Anklage auf Mord.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_351" id="Page_351">[351]</a></span>&raquo;Juristisch w&auml;re es vielleicht richtiger,&laquo; meinte der Staatsanwalt
+nachdenklich, &raquo;aber ich habe mir vorgenommen, menschlich zu urteilen,
+und au&szlig;erdem liefe ich, glaub' ich, Gefahr, von den M&auml;naden zerrissen zu
+werden, wenn ich ihren Liebling angreife.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Im anderen Falle werden sie Sie aus Dankbarkeit zerrei&szlig;en,&laquo; sagte
+<tt>Dr.</tt> Zeunemann. &raquo;Ein Opfer der Frauen zu sein, ist nun einmal Ihr
+Los!&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_352" id="Page_352">[352]</a></span></p>
+<h2><a name="XVII" id="XVII"></a><tt>XVII.</tt></h2>
+
+
+<p>Nachmittags lie&szlig; sich die Baronin bei Deruga melden. Er erhob sich aus
+dem unbequemen Sofa, auf dem er gelegen und geschlafen hatte, und
+blinzelte verdrossen gegen das Licht. &raquo;Lieber Doktor,&laquo; sagte sie, indem
+sie ihm die Hand entgegenstreckte, &raquo;ich komme, mir Ihre Verzeihung zu
+holen. Dem reuigen S&uuml;nder vergibt selbst Gott. Sie werden nicht
+unerbittlicher sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich ma&szlig;e mir nicht an, mit Gott vergleichbar zu sein,&laquo; sagte Deruga,
+&raquo;aber es kommt nichts darauf an, da ich Ihnen nichts zu verzeihen habe.
+Sie verfolgten ja nicht mich, sondern traten f&uuml;r das vermeintliche Recht
+ein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie weichen einer Vers&ouml;hnung aus,&laquo; sagte die Baronin. &raquo;Ich verstehe Sie
+wohl; aber ich lasse mich nicht so leicht abweisen. Von einem Manne, der
+so lieben kann wie Sie, ertr&auml;gt <span class='pagenum'><a name="Page_353" id="Page_353">[353]</a></span>man wohl auch Ha&szlig; und noch Schlimmeres.
+Welche Frau g&auml;be nicht alles hin, was sie hat, um einmal so geliebt zu
+werden, wie Sie geliebt haben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wahrhaftig!&laquo; rief Deruga, &raquo;von Ihnen will das, glaub' ich, etwas
+sagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das klingt boshaft,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;und doch kr&auml;nkt es mich nicht,
+weil ich f&uuml;hle, da&szlig; Sie es nicht b&ouml;se meinen. Es ist wahr, ich w&uuml;&szlig;te
+nicht, wie ich ohne Geld und sogar ohne ziemlich viel Geld sollte leben
+k&ouml;nnen. Mein Gott, jeder hat seine Gewohnheiten. Aber habs&uuml;chtig bin ich
+nicht, am Gelde an und f&uuml;r sich liegt mir nichts. Und wissen Sie, warum
+ich so au&szlig;er mir war, da&szlig; die Erbschaft mir entging? Ich war sehr
+erpicht auf das Geld gewesen, das leugne ich nicht, und Ihnen, nur Ihnen
+will ich sagen, warum. Ich habe mich in meiner Ehe unbeschreiblich
+gelangweilt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, die Langeweile ist das gr&ouml;&szlig;te Problem und die gr&ouml;&szlig;te Gefahr des
+Lebens,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Aber Ihr Mann scheint eine liebe, feine Person
+zu sein.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_354" id="Page_354">[354]</a></span>&raquo;Nat&uuml;rlich,&laquo; stimmte die Baronin zu, &raquo;man kann sich nichts Angenehmeres
+denken. Er ist wie reine Luft, man sp&uuml;rt ihn gar nicht, und ich bildete
+mir auch fast ein, ihn ein wenig zu lieben, als ich ihn heiratete. Aber
+ich habe mich in seiner Gesellschaft so gelangweilt, da&szlig; ich ihm
+wahrscheinlich untreu geworden w&auml;re, wenn sich das mit meinen
+Grunds&auml;tzen vertragen h&auml;tte. Da es sich aber um den einzigen Grundsatz
+handelt, zu dem ich mich bekenne, habe ich daran festgehalten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie hatten doch eine Tochter,&laquo; wandte Deruga ein.</p>
+
+<p>&raquo;Sie fand es vermutlich bei uns ebenso langweilig wie ich,&laquo; sagte die
+Baronin, &raquo;denn seit sie herangewachsen war und mir eine Gesellschafterin
+h&auml;tte sein k&ouml;nnen, ergriff sie jede Gelegenheit, um von Hause fort zu
+sein. Inzwischen verk&uuml;rzte ich mir die Zeit mit einem Zukunftsplane:
+dem, mich von meinem Manne freizumachen, sobald meine Tochter versorgt,
+das hei&szlig;t, verheiratet w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>In Derugas Mienen malte sich aufrichtiges Erstaunen.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_355" id="Page_355">[355]</a></span>&raquo;Sie denken wirklich daran, sich jetzt noch scheiden zu lassen?&laquo; sagte
+er.</p>
+
+<p>Ein reizendes L&auml;cheln, das sie jung machte, glitt &uuml;ber das Gesicht der
+Baronin.</p>
+
+<p>&raquo;In meinem Alter, wollen Sie sagen? Solange ich den Wunsch habe, bin ich
+offenbar jung genug dazu,&laquo; entgegnete sie.</p>
+
+<p>&raquo;Und dann wollen Sie einen am&uuml;santeren Mann heiraten?&laquo; fragte Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;O, heiraten!&laquo; wiederholte sie. &raquo;Darauf kommt es mir nicht an, auch
+nicht auf f&ouml;rmliche Scheidung, nur darauf, frei zu sein und die
+Atmosph&auml;re der Langenweile zu verlassen.&laquo;</p>
+
+<p>Deruga zuckte die Schultern. &raquo;Im Grunde herrscht auf der ganzen Erde
+dasselbe Klima,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nein,&laquo; rief sie lebhaft, &raquo;ich kann mir zum Beispiel nicht denken,
+wie man sich in Ihrer Gesellschaft je langweilen sollte!&laquo; Sie hatte so
+eine freie Art, die Dinge naiv wie ein Kind herauszusagen, da&szlig; selbst
+Deruga, der sich f&uuml;r einen Kenner der Frauen hielt, nicht unterscheiden
+konnte, ob die Bl&uuml;te echt oder k&uuml;nstlich war.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_356" id="Page_356">[356]</a></span>&raquo;Das hat auch seine Kehrseite,&laquo; antwortete er gutm&uuml;tig. &raquo;Erinnern Sie
+sich nicht an den Vers, den mir die arme Marmotte in ein Buch schrieb:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">'Deruga, du bist eben<br /></span>
+<span class="i0">So sch&ouml;n als wunderlich;<br /></span>
+<span class="i0">Man kann nicht ohne dich<br /></span>
+<span class="i0">Und auch nicht mit dir leben.'&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Die Baronin err&ouml;tete ein wenig, vermochte aber noch mit leidlicher
+Unbefangenheit zu sagen: &raquo;Nun ja, das t&auml;gliche Sich-an-einander-Reiben,
+das die Ehe mit sich bringt, das w&uuml;rde ich freilich wohl nicht wieder
+auf mich nehmen, und ich halte es auch f&uuml;r verderblich und gemein. Aber
+nun,&laquo; setzte sie hinzu, indem sie aufstand, &raquo;geben Sie mir zum Abschied
+einen Vers&ouml;hnungsh&auml;ndedruck!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gern, Baronin,&laquo; sagte er, indem er ihr die Hand reichte. &raquo;Ihre Strafe
+haben Sie ja ohnehin, indem das Geld Ihnen entgangen ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das Geld,&laquo; sagte sie wehm&uuml;tig, &raquo;das mir den K&auml;fig &ouml;ffnen sollte.
+Wir waren vorhin davon abgekommen: Einzig der Umstand, <span class='pagenum'><a name="Page_357" id="Page_357">[357]</a></span>da&szlig; ich kein
+eigenes Verm&ouml;gen habe und nicht wu&szlig;te, wovon ich leben sollte, wenn ich
+meinen Mann verlie&szlig;e, stand vor der Erf&uuml;llung meines Wunsches. Das Erbe
+meiner armen, kranken Kusine sollte mir das neue Leben geben! Nun aber
+genug von mir! Erlauben Sie mir, Ihnen dies Zimmer, f&uuml;r die Zeit, wo Sie
+es noch bewohnen werden, ein wenig zu erheitern? Mit Blumen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn es Ihnen Freude macht,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>W&auml;hrend sie z&ouml;gernd auf der Schwelle stand, ruhten ihre Augen auf seiner
+wohlgeformten braunen Hand, die sie immer noch hielt, und dann ging sie
+mit einem L&auml;cheln.</p>
+
+<p>Ihr war zumute, wie sie die etwas abgelegene, d&uuml;stere Stra&szlig;e entlang
+ging, als habe sie sich noch nie, in ihrem ganzen Leben nie, in einer
+solchen das ganze Leben durchgl&uuml;henden Aufregung befunden. Es war eine
+prickelnde, zugleich &auml;ngstigende und wohltuende Empfindung, in der sich,
+so schien es ihr, alle ihre Kr&auml;fte steigerten und veredelten. Freilich,
+noch ein wenig mehr, so k&ouml;nnte es unbehaglich werden, ja, schon <span class='pagenum'><a name="Page_358" id="Page_358">[358]</a></span>jetzt
+lief ein leises Angstgef&uuml;hl mit unter, das jedoch die Wonne des
+allgemeinen Aufruhrs noch &uuml;bert&ouml;nte.</p>
+
+<p>Die Baronin beschlo&szlig;, einen Spaziergang zu machen. Es war noch nicht
+sp&auml;t, die Lichter auf den Stra&szlig;en und in den Schaufenstern wurden
+allm&auml;hlich entz&uuml;ndet und loderten wie feuergelbe Tupfen in das
+Durcheinander der d&auml;mmerblassen Farben. Langsam und l&auml;chelnd ging sie
+ziellos weiter. Wie reizend war es, sich so jung zu f&uuml;hlen und wie ein
+verliebtes M&auml;dchen verbotene Wege zu gehen! Ja, es war fast, als ginge
+sie zu einem Stelldichein. Als sie an einem Blumengesch&auml;ft vorbeikam,
+das das Aussehen eines pomp&ouml;sen Urwaldes hatte, fiel es ihr ein, etwas
+f&uuml;r Derugas Zimmer auszusuchen. Sie w&auml;hlte lange und fragte kaum nach
+den Preisen, die sie sonst, besonders wenn es sich um Geschenke
+handelte, durchaus nicht unber&uuml;cksichtigt lie&szlig;. Zuf&auml;llig erblickte sie
+in einem Spiegel ihre Gestalt: schlank, tadellos, voll nat&uuml;rlicher
+Eleganz. Ein frohes Gef&uuml;hl von Gl&uuml;ck und Stolz durchzuckte sie. War sie
+auch <span class='pagenum'><a name="Page_359" id="Page_359">[359]</a></span>keine frische, im Morgentau glitzernde Blume, so ersetzte den
+fehlenden Schmelz und das Farbenprangen die sichtbar gewordene Form und
+ein Parf&uuml;m, das erst die D&auml;mmerung entwickelt. Sie f&uuml;hlte, da&szlig; sie noch
+anziehen, noch bezaubern konnte; und h&auml;tte sie selbst nicht lieben
+k&ouml;nnen sollen? Sie hatte ja noch nie geliebt.</p>
+
+<p>Sie k&auml;mpfte mit sich, ob sie am folgenden Morgen zur Sitzung gehen
+sollte, denn es war ihr, als k&ouml;nne es Deruga mi&szlig;fallen, und als liege
+&uuml;berhaupt etwas Geschmackloses und Gef&uuml;hlswidriges darin, wenn sie sich
+jetzt auf dem Platze zeigte, den sie fr&uuml;her aus Neugier und dem
+ungeduldigen Wunsche eingenommen hatte, ihre Sache triumphieren zu
+sehen. Doch war es ihr unm&ouml;glich, dem Drange zu widerstehen, der sie in
+Derugas N&auml;he trieb, sei es auch nur, um sich Gewi&szlig;heit &uuml;ber sein
+Befinden zu verschaffen.</p>
+
+<p>&raquo;Hat man unrecht gehabt,&laquo; sagte sie beim Fr&uuml;hst&uuml;ck zu ihrem Mann und
+ihrer Tochter, &raquo;so mu&szlig; man es dadurch wieder gutmachen, da&szlig; man es
+eingesteht. Ich m&ouml;chte nicht nach <span class='pagenum'><a name="Page_360" id="Page_360">[360]</a></span>Paris reisen, ehe ich wei&szlig;, was aus
+Deruga wird, und was wir etwa f&uuml;r ihn tun k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Baron war derselben Meinung, und Mingo err&ouml;tete vor Freude.</p>
+
+<p>&raquo;Liebe Mama,&laquo; sagte sie, &raquo;ich bin froh, da&szlig; du doch ein guter Mensch
+bist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Mingo,&laquo; sagte die Baronin verweisend, indem sie sich doch nicht
+enthalten konnte, zu lachen.</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich mitgehen, Mama?&laquo; bat sie, die aufgesprungen war und ihre
+Mutter umarmt hatte. &raquo;Du wei&szlig;t, wie ich darunter gelitten habe, nun
+m&ouml;chte ich auch dabei sein, nachdem es sich so sch&ouml;n gewendet hat. Er
+wird doch sicher freigesprochen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Daran ist wohl nicht zu zweifeln,&laquo; sagte der Baron, indes die Baronin
+sich von Mingos Umarmung freimachte und ein peinliches Gef&uuml;hl von
+Eifersucht, das pl&ouml;tzlich in ihr aufstieg, zu unterdr&uuml;cken suchte. Ihr
+Blick glitt schnell pr&uuml;fend &uuml;ber Mingo hin, deren Dasein sie pl&ouml;tzlich
+als Einengung und Hemmung empfand. Aber sie wollte ja studieren, sagte
+sie sich, und <span class='pagenum'><a name="Page_361" id="Page_361">[361]</a></span>das war ja ein gutes, richtiges Gef&uuml;hl von ihr, da&szlig; sie
+noch an sich arbeiten und sich entwickeln wollte. Die Ber&uuml;hrung der
+frischen Lippen war doch uns&auml;glich lieblich. Die Baronin legte ihre Hand
+liebkosend unter das noch kinderrunde Gesicht ihrer Tochter und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde Deruga gelegentlich erz&auml;hlen, da&szlig; du von Anfang an sein
+tapferer, kleiner Ritter gewesen bist.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo leuchtete vor Stolz. &raquo;Und ich stecke mein Schwert nicht ein, bis
+er frei ist,&laquo; sagte sie.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_362" id="Page_362">[362]</a></span></p>
+<h2><a name="XVIII" id="XVIII"></a><tt>XVIII.</tt></h2>
+
+
+<p>Die Ungeduld des auf die Aussage Derugas gespannten Publikums wurde
+nicht sofort befriedigt, da als erste Zeugin Fr&auml;ulein Gundel
+Schwertfeger vernommen wurde. Der Vorsitzende legte ihr den Brief der
+verstorbenen Frau Swieter an Deruga vor und fragte sie, ob er ihr
+bekannt sei.</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, kaum einen fl&uuml;chtigen Blick darauf
+werfend, &raquo;es ist derselbe, den ich einige Tage vor Mingos Tode zur Post
+gegeben habe.&laquo;</p>
+
+<p><tt>Dr.</tt> Zeunemann r&auml;usperte sich ein wenig und sah vor sich auf den
+Tisch. &raquo;Sie haben uns das im Beginn des Prozesses verschwiegen,&laquo; sagte
+er.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, ich habe gelogen,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger mit trotziger
+Tapferkeit, w&auml;hrend ihre gro&szlig;en, grauen Augen sich verdunkelten. &raquo;Es war
+das erstemal in meinem Leben, und <span class='pagenum'><a name="Page_363" id="Page_363">[363]</a></span>ich mu&szlig;te es tun, weil ich sonst
+meiner verstorbenen Freundin das Wort gebrochen h&auml;tte. Dazu konnte ich
+mich nicht entschlie&szlig;en, gerade weil sie tot ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie uns jetzt vielleicht,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann sanft,
+&raquo;kurz erz&auml;hlen, was sich wegen des Briefes zwischen Ihnen begab?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meine Freundin fragte mich, ob ich ihr etwas zuliebe tun wolle. Ich
+sagte, ich w&uuml;rde alles tun, was in meinen Kr&auml;ften st&auml;nde, die leider
+gering w&auml;ren. Sie k&uuml;&szlig;te mich und sagte, es w&auml;re nicht viel an sich, aber
+f&uuml;r mich bedeutete es vielleicht viel: ich sollte n&auml;mlich einen Brief an
+Deruga besorgen, ohne da&szlig; es jetzt oder sp&auml;ter jemand erf&uuml;hre. Ich
+versprach zu tun, was sie w&uuml;nschte, und fragte, ob sie mir sagen k&ouml;nnte,
+was sie ihm schriebe, und warum es niemand erfahren d&uuml;rfte. Sie sagte,
+sie habe das Bed&uuml;rfnis, ihm f&uuml;r den Fall, da&szlig; sie nicht lange mehr leben
+sollte, Lebewohl zu sagen, und da&szlig; sie das heimlich halten wolle,
+entspringe nur der vielleicht t&ouml;richten Furcht, man w&uuml;rde sie nicht
+verstehen und l&auml;cherlich finden.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_364" id="Page_364">[364]</a></span>&raquo;Haben Sie sich damals,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;gar keine Gedanken
+gemacht, ob es sich wirklich so verhalte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Damals dachte ich,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger, &raquo;sie habe ihm
+vielleicht geschrieben, sie w&uuml;nsche ihn noch einmal zu sehen, bevor sie
+st&uuml;rbe, und habe sich gescheut, mir das zu sagen. Als dann die Anklage
+gegen Deruga erhoben wurde, sah ich ein, wie gef&auml;hrlich der Brief f&uuml;r
+ihn werden k&ouml;nne, sei es, da&szlig; sie ihn gebeten hatte zu kommen, oder da&szlig;
+sie ihn von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt hatte; und
+ich nahm mir vor, lieber zu l&uuml;gen, als ihn ins Ungl&uuml;ck zu bringen, da
+ich wu&szlig;te, welchen Schmerz das meiner Freundin bereitet h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Steht vielleicht damit im Zusammenhang,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann,
+&raquo;da&szlig; Sie das Verm&auml;chtnis Ihrer Freundin ausschlugen und sp&auml;ter sogar die
+Ihnen vermachten Wertsachen verschenkten?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Schwertfeger wurde dunkelrot.</p>
+
+<p>&raquo;Es schien mir allerdings nun so auszusehen,&laquo; <span class='pagenum'><a name="Page_365" id="Page_365">[365]</a></span>sagte sie, &raquo;als wolle
+meine Freundin mich f&uuml;r mein Stillschweigen belohnen. Sp&auml;ter vollends,
+als der Verdacht gegen Deruga aufkam, den ich teilte, w&auml;re ich mir
+selbst vorgekommen wie eine Bestochene und wie eine Helfershelferin bei
+der abscheulichen Tat, wenn ich das Geringste von den Kostbarkeiten
+meiner Freundin behalten h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist Ihnen also niemals,&laquo; fragte der Vorsitzende, &raquo;die M&ouml;glichkeit
+des Zusammenhangs aufgetaucht, so wie sie sich jetzt dargestellt hat?
+Ihre Freundin hat Ihnen doch selbst einmal gesagt, wie Sie gelegentlich
+erw&auml;hnten, da&szlig; sie demjenigen dankbar sein w&uuml;rde, der ihrem Leiden ein
+Ende bereitete, indem er sie t&ouml;tete?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich hielt das nur f&uuml;r eine augenblickliche Regung,&laquo; sagte Fr&auml;ulein
+Schwertfeger. &raquo;Jetzt erst habe ich eingesehen, wie sehr sich meine
+Freundin im allgemeinen beherrschte, wenn ich bei ihr war. Dazu kommt,
+da&szlig; ich Deruga nichts Gutes, aber wohl Schlechtes zutraute. Ich habe ihm
+sehr unrecht getan.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber das bedachten Sie nie,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann mit mildem
+Vorwurf, &raquo;da&szlig; der <span class='pagenum'><a name="Page_366" id="Page_366">[366]</a></span>Gerechtigkeit dadurch Abbruch gesch&auml;he, wenn Deruga
+seine geschiedene Frau gemordet h&auml;tte und unbestraft bliebe?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich dachte,&laquo; sagte Fr&auml;ulein Schwertfeger trotzig, &raquo;ich wollte tun, was
+mein Gewissen mich hie&szlig;e, und das &uuml;brige Gott &uuml;berlassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Als Mensch,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann nach einer Pause, &raquo;kann ich
+Ihre Handlungsweise nicht tadeln, obwohl sie nicht als Muster f&uuml;r andere
+F&auml;lle gelten d&uuml;rfte.&laquo;</p>
+
+<p>Nachdem Fr&auml;ulein Schwertfeger entlassen war, kam Derugas Vernehmung. Um
+von den Geschworenen besser verstanden zu werden, wurde er aufgefordert,
+die Anklagebank zu verlassen und sich auf den f&uuml;r die Zeugen bestimmten
+Platz zu begeben.</p>
+
+<p>Er sah bla&szlig;, gleichg&uuml;ltig, verdrossen und verschlossen aus, fast als
+habe er es auf eine absto&szlig;ende Wirkung abgesehen und empfinde Genugtuung
+dar&uuml;ber.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben zugestanden,&laquo; begann der Vorsitzende ernst, &raquo;Ihre geschiedene
+Gattin get&ouml;tet zu haben, was Sie bis jetzt leugneten. Sie <span class='pagenum'><a name="Page_367" id="Page_367">[367]</a></span>reisten zu
+diesem Zwecke und mit dahinzielender Absicht von Prag ab?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; nicht,&laquo; sagte Deruga unmutig, &raquo;warum Sie mich noch einmal mit
+Fragen behelligen. Sie wissen, da&szlig; meine Frau sich sehnte, von
+unertr&auml;glichen Leiden befreit zu werden, und da&szlig; sie sich an mich
+wendete, weil sie das Zutrauen zu mir hatte. Ich f&uuml;hlte menschlich
+genug, um ihre Bitte zu erh&ouml;ren. Die &Auml;rzte im allgemeinen haben den Mut
+zu einer so vern&uuml;nftigen Tat nicht. Ich reiste sofort hin und tat es.
+Das sollte gen&uuml;gen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es kommt uns nicht nur darauf an, die Tat zu wissen,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann, &raquo;sondern auch die Absichten kennenzulernen, die den T&auml;ter
+leiteten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was wollen Sie damit sagen?&laquo; fuhr Deruga heftig auf. &raquo;Was f&uuml;r Absichten
+k&ouml;nnte ich gehabt haben, au&szlig;er der armen Person zu helfen? Da&szlig; ich von
+der Erbschaft nichts wu&szlig;te, geht aus ihrem Briefe hervor.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aus dem Brief geht allerdings hervor,&laquo; sagte der Vorsitzende mit
+gelassener W&uuml;rde, <span class='pagenum'><a name="Page_368" id="Page_368">[368]</a></span>&raquo;da&szlig; Sie mit Ihrer geschiedenen Frau seit Ihrer
+Scheidung in keiner Verbindung standen, da&szlig; Sie also damals von der
+Erbschaft nichts wu&szlig;ten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Damals!&laquo; rief Deruga. &raquo;Wollen Sie damit sagen, da&szlig; ich hingereist w&auml;re,
+um meiner Frau anzubieten, ich wolle ihr den Gefallen tun, wenn sie mir
+soundso viel Geld daf&uuml;r g&auml;be? Und um den Preis ihres Verm&ouml;gens h&auml;tte ich
+mich kaufen lassen? Ich wei&szlig; nicht, nach was f&uuml;r einem Ma&szlig;stab Sie die
+Menschen beurteilen. Ekelhafte Welt, wo Menschen richten, die nur
+gemeine Triebe zu kennen scheinen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; Sie bitten,&laquo; sagte der Vorsitzende, &raquo;Ihre Ausdr&uuml;cke zu m&auml;&szlig;igen.
+Die gefallenen Worte lasse ich deshalb hingehen, weil ich eine
+krankhafte Erregung bei Ihnen voraussetze. Nachdem ich Sie aber gewarnt
+habe, w&uuml;rde ich mich im Wiederholungsfalle zu ernsten Ma&szlig;regeln
+gezwungen sehen.&laquo;</p>
+
+<p>Inzwischen war Justizrat Fein aufgestanden und bat, ein paar Worte mit
+seinem Klienten reden zu d&uuml;rfen.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_369" id="Page_369">[369]</a></span>&raquo;Aber, liebster Doktor,&laquo; sagte er halblaut, indem er ihn am Rock fa&szlig;te,
+&raquo;was f&uuml;r Geschichten machen Sie? Es h&auml;ngt jetzt alles davon ab, da&szlig; Sie
+einen guten Eindruck machen. Nachher ist alles vor&uuml;ber. Nehmen Sie sich
+doch zusammen, tun Sie es mir zuliebe! Bilden Sie sich ein, Sie
+erz&auml;hlten die ganze Begebenheit mir! Der arme Teufel tut am Ende nur
+seine Pflicht, wenn er alle M&ouml;glichkeiten ins Auge fa&szlig;t. Sie k&ouml;nnten ja
+auch ein Schweinehund sein, wie es viele gibt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; nicht, warum sich mein Blut emp&ouml;rt,&laquo; entgegnete Deruga, &raquo;wenn
+ich diesen Areopag von Stallhammeln sehe, die &uuml;ber hungrige W&ouml;lfe zu
+Gericht sitzen. W&auml;re ich doch ein Raubm&ouml;rder oder Brandstifter! Hier
+sch&auml;me ich mich, ein anst&auml;ndiger Mensch zu sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das sind Sie ja gar nicht,&laquo; sagte der Justizrat beruhigend, &raquo;das hei&szlig;t,
+nicht in dem Sinne, wie Sie es eben meinten. Und haben Sie denn gar kein
+Gef&uuml;hl f&uuml;r das wackere alte J&uuml;ngferchen auf der Zeugenbank? Erz&auml;hlen Sie
+der die Geschichte! Denken Sie, wie froh sie <span class='pagenum'><a name="Page_370" id="Page_370">[370]</a></span>sein wird, wenn sie Sie
+f&uuml;r keinen B&ouml;sewicht mehr zu halten braucht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dumme, eigensinnige Gans,&laquo; brummte Deruga, aber sein Blick war
+freundlicher geworden, und er erkl&auml;rte sich bereit, die Fragen, die man
+an ihn richten w&uuml;rde, zu beantworten.</p>
+
+<p>&raquo;Als Sie den Brief Ihrer geschiedenen Frau erhielten,&laquo; begann <tt>Dr.</tt>
+Zeunemann von neuem, &raquo;fa&szlig;ten Sie da sofort den Beschlu&szlig;, ihren Wunsch zu
+erf&uuml;llen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Als ich ihre Handschrift sah,&laquo; sagte Deruga in ruhig erz&auml;hlendem Tone,
+&raquo;die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und die ganz unver&auml;ndert
+war, so da&szlig; ich sie sofort erkannte, da erfa&szlig;te mich sofort das Gef&uuml;hl
+von Unruhe, Wut und Ha&szlig;, das mich immer &uuml;berkommen hatte, wenn ich
+zuf&auml;llig einmal an sie erinnert wurde, was aber in den letzten Jahren
+nur sehr selten geschehen war. Was kann sie von mir wollen? dachte ich.
+Will sie mir sagen, es tue ihr leid, da&szlig; sie mein Leben zerst&ouml;rt habe?
+Bildet sie sich ein, es bestehe noch irgendein Band zwischen uns? Bildet
+sie sich ein, ich k&ouml;nne <span class='pagenum'><a name="Page_371" id="Page_371">[371]</a></span>je vergessen, was ich durch sie gelitten habe?
+So ungef&auml;hr. Als ich den Brief gelesen hatte, war das alles
+verschwunden, und ich empfand nur Mitleid und Liebe. Ich empfand, was
+ich noch nie zuvor empfunden hatte: reine, gro&szlig;e, ungetr&uuml;bte Liebe f&uuml;r
+das leidende Gesch&ouml;pf, das ich soviel gequ&auml;lt hatte, eine Liebe, die nur
+in dem Wunsche bestand, sie zu tr&ouml;sten und ihr zu helfen. Ich erinnerte
+mich an ihre Angst vor Schmerzen, und wie oft sie mich gefragt hatte, ob
+ich sie lieb genug haben w&uuml;rde, sie zu t&ouml;ten, wenn sie einmal von einer
+sehr schmerzhaften Krankheit befallen werden sollte, wie dankbar sie mir
+war, wenn ich es versprach, und wie dann ihre Sicherheit und
+&Uuml;berlegenheit verschwand und sie wie ein Kind sich an mich schmiegte. Es
+war alles ausgel&ouml;scht, was mich einst an Eifersucht, Empfindlichkeit und
+Rachsucht gegen sie verbittert hatte, vor dem einen Gef&uuml;hl, da&szlig; sie mich
+nicht vergeblich angerufen haben sollte, und da&szlig; ich sie von ihren
+Leiden befreien wollte, wenn ich sie nicht etwa heilen k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_372" id="Page_372">[372]</a></span>Die Pause, die Deruga machte, ben&uuml;tzte der Staatsanwalt, um durch
+weitausholende Gestikulationen und im Fl&uuml;sterton gezischte Anweisungen
+einen Diener zu beauftragen, da&szlig; er dem Angeklagten, der angegriffen zu
+sein scheine, einen Sessel br&auml;chte.</p>
+
+<p>Nachdem er sich bedankt hatte, fuhr Deruga fort:</p>
+
+<p>&raquo;Meine Regung war, sofort abzureisen, aber ich &uuml;berlegte mir, was f&uuml;r
+h&ouml;chst bedenkliche Folgen die Tat f&uuml;r mich haben k&ouml;nnte, und ich
+beschlo&szlig;, dieselben, wenn m&ouml;glich, abzuwenden. Die Art und Weise
+betreffend, wie ich Mingo t&ouml;ten wollte, beschlo&szlig; ich, es durch Curare zu
+tun, wovon ich zuf&auml;llig eine gen&uuml;gende Dosis besa&szlig;. Chloroform, das in
+gewisser Beziehung vorzuziehen gewesen w&auml;re, schlo&szlig; ich deshalb aus,
+weil der Geruch es sofort verraten h&auml;tte. Allerdings h&auml;tte man gerade
+dabei am ersten auf Selbstmord geschlossen, au&szlig;er wenn sich feststellen
+lie&szlig;, da&szlig; kein Chloroform im Hause gewesen war; sicherer erschien es
+mir, auf alle F&auml;lle ein Gift zu w&auml;hlen, das im Augenblick <span class='pagenum'><a name="Page_373" id="Page_373">[373]</a></span>keine Spur
+hinterlie&szlig;, damit der Verdacht eines gewaltsamen Endes &uuml;berhaupt nicht
+aufkam.</p>
+
+<p>Da meine Frau nicht geschrieben hatte, wie ich zu ihr gelangen k&ouml;nnte,
+dachte ich, zuerst deswegen bei ihr anzufragen, unterlie&szlig; es jedoch,
+weil ich mir sagte, der Brief w&uuml;rde vielleicht einer Dienerin oder
+Pflegerin in die H&auml;nde fallen, die voraussichtlich nicht in das
+Geheimnis gezogen werden durfte. Nachdem ich vielerlei geplant und
+verworfen hatte, entschlo&szlig; ich mich, als Vagabund oder Hausierer
+verkleidet in ihrer Wohnung vorzusprechen und die Gelegenheit
+auszukundschaften; ich traute mir zu, da&szlig; ich auf diese Art irgendeinen
+Weg ausfindig machen w&uuml;rde, und rechnete auf die gl&uuml;cklichen Einf&auml;lle,
+die dem Unternehmenden gew&ouml;hnlich zu Hilfe kommen. Darauf brachte mich
+auch der Umstand, da&szlig; ich vor Jahren einmal auf einem Maskenballe als
+Mausefallenverk&auml;ufer aufgetreten und nicht nur von niemandem erkannt,
+sondern von verschiedenen sogar f&uuml;r einen echten, zum Spa&szlig;
+eingeschmuggelten Slowaken gehalten worden war. Ich wickelte <span class='pagenum'><a name="Page_374" id="Page_374">[374]</a></span>den Anzug,
+den ich aufgehoben hatte, in ein Papier ein und nahm ihn als einziges
+Gep&auml;ck mit, um mich entweder in der Eisenbahn oder im Bahnhof
+umzukleiden.</p>
+
+<p>Unterwegs &uuml;berlegte ich mir, da&szlig; der Kleiderwechsel im Zuge bemerkt
+werden und Verdacht erregen k&ouml;nnte, wodurch ich vielleicht aufgehalten
+w&uuml;rde, und im Bahnhof fand ich keine Gelegenheit. Da es noch sehr fr&uuml;h,
+etwa halb sechs Uhr war, nahm ich an, da&szlig; ich in den Bahnhofsanlagen
+vollkommen unbeobachtet sein w&uuml;rde. In der Tat war es rings &ouml;de und
+still, und als ich die halbrunde, steinerne Bank sah, die uns Herr
+<tt>Dr.</tt> Bernburger beschrieben hat, schien mir das der geeignete Ort
+zu sein, wo ich mich umkleiden und meinen b&uuml;rgerlichen Anzug, den ich ja
+zur Heimreise brauchte, verbergen k&ouml;nnte. Nachdem ich den
+Vagabundenkittel angezogen hatte, wickelte ich den anderen Anzug ein und
+verbarg ihn unter der Bank. Zum &Uuml;berflu&szlig; h&auml;ufte ich noch welkes Laub
+dar&uuml;ber, das &uuml;berall verstreut war.</p>
+
+<p>Zun&auml;chst ging ich in ein kleines Caf&eacute; in der &auml;u&szlig;eren Stadt und
+fr&uuml;hst&uuml;ckte, weniger um mich <span class='pagenum'><a name="Page_375" id="Page_375">[375]</a></span>zu erfrischen, als um den Eindruck zu
+pr&uuml;fen, den ich machte, und ich stellte fest, da&szlig; ich durchaus f&uuml;r das
+genommen wurde, was ich vorstellen wollte. Bis zum Mittag trieb ich mich
+herum, dann begab ich mich in die Gartenstra&szlig;e. Ich war durchaus nicht
+aufgeregt, au&szlig;er da&szlig; ich mich sehnte, die Marmotte wiederzusehen. An den
+Zweck, der mich hergef&uuml;hrt hatte, dachte ich kaum noch, nur daran,
+wieviel wir uns zu erz&auml;hlen haben w&uuml;rden.</p>
+
+<p>Als Ursula mir die T&uuml;r &ouml;ffnete, wurde es mir schwer, mich nicht zu
+verraten, denn ich freute mich, sie wiederzusehen; ich h&auml;tte sie gern
+begr&uuml;&szlig;t und gefragt, ob sie mich denn nicht erkennte. Als Mingo l&auml;utete
+und Ursula im Weglaufen die T&uuml;r zuschlug, steckte ich rasch einen der
+h&ouml;lzernen L&ouml;ffel, die ich als Verkaufsgegenst&auml;nde bei mir hatte,
+dazwischen. Es war eine Eingebung des Augenblicks, der ich vielleicht
+nicht gefolgt w&auml;re, wenn ich Zeit zur &Uuml;berlegung gehabt h&auml;tte, denn das
+Wagnis konnte leicht mi&szlig;gl&uuml;cken. Immerhin traute ich mir zu, mich mit
+Ursula, wenn sie mir auf die Spur <span class='pagenum'><a name="Page_376" id="Page_376">[376]</a></span>k&auml;me, auf irgendeine Weise zu
+verst&auml;ndigen. Ich stellte den Teller Suppe, den Ursula mir gebracht
+hatte, auf die Treppe und ging aufs Geratewohl in die n&auml;chste Zimmert&uuml;r;
+sie f&uuml;hrte in das Fremdenzimmer, das unbenutzt war. Von dort aus h&ouml;rte
+ich, wie Ursula wiederkam, die Wohnungst&uuml;r &ouml;ffnete und brummte, als sie
+drau&szlig;en den vollen Teller fand. Nachdem sie in der K&uuml;che verschwunden
+war, ging ich vorsichtig weiter und erblickte durch die offenstehende
+T&uuml;r des Nebenzimmers Mingos Bett. Ich sagte leise: 'Marmotte, da ist
+Dodo!' und sie antwortete ebenso: 'Dodo! Warte, bis Ursula fort ist.'</p>
+
+<p>W&auml;hrend ich allein in dem Fremdenzimmer sa&szlig; und wartete, habe ich die
+Seligkeit des Himmels genossen. Mehrere Stunden lang f&uuml;hlte ich die mit
+nichts auf Erden vergleichbare Wonne, die vielleicht gemarterte Heilige
+empfunden haben, wenn der Schmerz aufh&ouml;rte und Engel mit der Krone des
+ewigen Lebens sich aus den Wolken auf sie niederlie&szlig;en. Mein Herz war
+ganz und gar voll von der g&ouml;ttlichen <span class='pagenum'><a name="Page_377" id="Page_377">[377]</a></span>Liebe, die nichts will als das
+Gl&uuml;ck des Geliebten. Ich hatte sie nun wiedergesehen, die Frau, deren
+blo&szlig;er Name fr&uuml;her einen Ausbruch von Leidenschaften, Liebe, Ha&szlig;,
+Rachsucht in mir entfesselt hatte. Was ist noch an uns von dem Kinde,
+das wir vor drei&szlig;ig, vierzig, f&uuml;nfzig Jahren einmal waren? Unser ganzer
+K&ouml;rper hat sich seitdem erneuert, wir haben vielleicht keinen Gedanken
+und keine Empfindung mehr von denen, die wir damals hatten, und doch,
+da&szlig; wir es sind, ist das Sicherste, was wir wissen. Ach, von der
+Marmotte, die ich einmal mein genannt hatte, war nichts mehr da, und
+doch hatte ich in dem einzigen Augenblick in ihrem von den Jahren und
+der Krankheit zerst&ouml;rten Gesicht dasselbe Gesicht gesehen, das ihr als
+Kind schon eigen gewesen sein mochte: aus Unschuld, Liebe und G&uuml;te
+zusammengezaubert. Es war nur als eine geistige Erscheinung da, und ich
+wei&szlig; nicht, mit was f&uuml;r Augen ich es gesehen habe. Das K&ouml;rperliche war
+das einer alternden, todkranken Frau, einer Pflanze &auml;hnlich, die, vom
+Nachtfrost &uuml;berrascht, mumienhaft im <span class='pagenum'><a name="Page_378" id="Page_378">[378]</a></span>Sonnenschein steht. Es war nichts
+mehr an meiner armen Marmotte, was die Leidenschaft irgendeines Mannes
+h&auml;tte erregen k&ouml;nnen, aber sie war mir so teuer, so kostbar und heilig,
+da&szlig; ich nicht gez&ouml;gert h&auml;tte, mein Leben hinzugeben, wenn ich ihr Gl&uuml;ck
+damit h&auml;tte erkaufen k&ouml;nnen. Armes, ohnm&auml;chtiges Gesch&ouml;pf, dachte ich,
+du sollst nicht mehr leiden! Was es mich auch kosten mag, wie hart die
+Folgen f&uuml;r mich sein m&ouml;gen, ich will dir Frieden bringen. Und wenn alle
+deine Qualen auf mich &uuml;bergingen, so wollte ich sie annehmen und mich
+freuen, da&szlig; du statt dessen ruhen k&ouml;nntest.</p>
+
+<p>Vorher hatte ich gedacht, ich m&uuml;sse mir erst Gewi&szlig;heit &uuml;ber den
+Charakter und Grad ihrer Krankheit verschaffen, aber ihr Anblick zeigte
+mir &uuml;berfl&uuml;ssig, wie fortgeschritten sie war. Sowie ich Ursula die T&uuml;r
+hinter sich schlie&szlig;en und die Treppe hinuntergehen h&ouml;rte, erhob ich
+mich, und gleichzeitig rief mich auch die Marmotte. Ich setzte mich auf
+den Rand ihres Bettes und sagte, wie ich mich gefreut h&auml;tte, da&szlig; Ursula
+noch bei ihr w&auml;re, und wie ich kaum h&auml;tte unter<span class='pagenum'><a name="Page_379" id="Page_379">[379]</a></span>lassen k&ouml;nnen, sie
+auszulachen, weil sie mich nicht erkannt h&auml;tte. 'Ich h&auml;tte dich gleich
+erkannt,' sagte sie, und dann schwatzten wir von der Vergangenheit und
+tauschten kleine Erinnerungen aus. Auch von ihrer Krankheit, ihren
+Operationen, und wie sie behandelt wurde, erz&auml;hlte sie mir auf mein
+Befragen. Ihre Stimme war unver&auml;ndert, nur fast s&uuml;&szlig;er als fr&uuml;her. Sie
+klang so, wie man wohl des Abends im Gebirge ein entferntes Alphorn
+h&ouml;rt, in dem die rosigen, gr&uuml;nen und grauen Farben des d&auml;mmernden
+Horizontes mitzut&ouml;nen scheinen. W&auml;hrend wir sprachen, hielt sie eine
+meiner H&auml;nde fest zwischen den ihren, und einmal k&uuml;&szlig;te sie sie und
+sagte: 'Du liebe, gute, sch&ouml;ne Hand, ich habe oft an dich gedacht, und
+da&szlig; du mich erl&ouml;sen w&uuml;rdest!'</p>
+
+<p>Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da sah ich in ihrem Gesicht,
+da&szlig; ein Anfall von Schmerzen im Anzuge war, Und ich dachte, nun sei der
+Augenblick gekommen. Ich h&auml;tte etwas mitgebracht, um ihr die Schmerzen
+zu vertreiben, sagte ich, und wolle es jetzt in <span class='pagenum'><a name="Page_380" id="Page_380">[380]</a></span>der K&uuml;che
+zurechtmachen, damit wir ungest&ouml;rt weiterplaudern k&ouml;nnten. 'Wird es weh
+tun?' fragte sie, indem sie mich &auml;ngstlich ansah, und ihre Mundwinkel
+zitterten. Arme, kleine, furchtsame Marmotte! Trotzdem sie den Tod
+herbeiw&uuml;nschte, f&uuml;rchtete sie sich vor ihm. Ich lachte und sagte: 'Was
+denkst du, so schnell geht es nicht. Erst will ich dich ein wenig
+beobachten, denn vielleicht kannst du durch verst&auml;ndige Behandlung noch
+einmal gesund gemacht werden.' Mit den Worten ging ich in die K&uuml;che,
+suchte mir ein Glas und mischte das Gift so mit Limonade und Zucker, da&szlig;
+man seine Bitterkeit nicht schmeckte. Als ich zur&uuml;ckkam, hatte sie
+starke Schmerzen, und w&auml;hrend ich sie aufrichtete, um sie trinken zu
+lassen, erz&auml;hlte sie mir, da&szlig; sie in der letzten Nacht von unserm Mingo
+getr&auml;umt hatte. 'Wie sehne ich mich danach, sie wiederzusehen,' sagte
+sie, 'und sp&auml;ter, wenn du auch kommst, stehen wir Hand in Hand und
+warten auf dich.' Ich nickte, st&uuml;tzte sie mit meinem Arm und setzte das
+Glas an die Lippen. Sie sah mich dankbar an und trank begierig.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_381" id="Page_381">[381]</a></span>Ich wartete, bis sie gestorben war, dann legte ich sie nieder, k&uuml;&szlig;te
+sie auf die Stirn und sagte: 'Adieu, liebe, s&uuml;&szlig;e Marmotte.' Dann stellte
+ich in den beiden Zimmern alles so, wie es vorher gewesen war, ging in
+die K&uuml;che, reinigte das Glas, vertilgte &uuml;berhaupt jede Spur meiner
+Anwesenheit und ging fort. Im Hause begegnete mir niemand, aber auf dem
+gepflasterten Wege, der zum Gartentor f&uuml;hrte, sah ich den Hausmeister
+stehen. Bis dahin war ich vollkommen ruhig gewesen oder hatte geglaubt,
+es zu sein. Aber als ich den Hausmeister sah, kam es mir vor, als m&uuml;sse
+ich ihm auffallen und m&uuml;sse irgend etwas tun, um unbefangen zu
+erscheinen. Unwillk&uuml;rlich fa&szlig;te ich in die Tasche und zog eine Zigarette
+heraus, stellte mich vor ihn hin und sagte: 'Haben Sie Feuer, Euer
+Gnaden?' Als ich einen Zug getan hatte, ekelte es mich, und ich warf die
+Zigarette ins Geb&uuml;sch, ohne in dem Augenblick daran zu denken, da&szlig; das
+auffallen k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>Der n&auml;chste Zug nach Prag ging in der Fr&uuml;he, und es war erst halb sechs
+Uhr nachmittags. <span class='pagenum'><a name="Page_382" id="Page_382">[382]</a></span>Ich schlenderte wieder in die &auml;u&szlig;eren Stadtteile und
+setzte mich dort in ein Caf&eacute;. Als es Nacht wurde, begab ich mich in die
+Bahnhofsanlagen. Es schien mir noch zu fr&uuml;h zu sein, um mich
+umzukleiden. Da ich jedoch nicht mehr gehen mochte, setzte ich mich auf
+die steinerne Bank, unter der ich meinen Anzug verborgen hatte, um die
+Dunkelheit zu erwarten. Die himmlischen Gef&uuml;hle, die mich bei Marmotte
+gehoben hatten, waren verschwunden, ich war schrecklich ern&uuml;chtert, und
+mich fror. Ich hatte den ganzen Tag nichts zu mir genommen als etwas
+schwarzen Kaffee, und ich war so schwach und abgespannt, da&szlig; ich kaum
+wu&szlig;te, wozu ich eigentlich dasa&szlig;. Ich kam mir abgeschmackt und
+l&auml;cherlich vor.</p>
+
+<p>Gegen Mitternacht erhob sich ein starker Wind, der mich bis in die
+Knochen schaudern machte und die tr&uuml;be Erstarrung, in die ich versunken
+war, durchbrach. Da weit und breit Totenstille herrschte, stand ich auf,
+zog das Paket unter den welken Bl&auml;ttern hervor, mit denen ich es bedeckt
+hatte, und kleidete mich <span class='pagenum'><a name="Page_383" id="Page_383">[383]</a></span>um. Den Arbeitskittel wollte ich nicht
+mitnehmen und dachte erst daran, ihn wieder unter die Bank zu legen. Da
+fiel mir pl&ouml;tzlich ein, da&szlig; ich ihn, um ihn aus der Welt zu schaffen,
+noch besser in den Kanal werfen k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>Ich stand schon auf der Br&uuml;cke, als ich an mein Geld dachte, das noch in
+dem Kittel war. Auf dem Wege zum Bahnhof malte ich mir aus, wie
+verh&auml;ngnisvoll es f&uuml;r mich h&auml;tte werden k&ouml;nnen, wenn ich ohne Geld
+geblieben w&auml;re, und dabei fiel mir endlich ein, da&szlig; ich auch Mingos
+Brief bei mir gehabt hatte f&uuml;r den Fall, da&szlig; ich ihre Wohnung verg&auml;&szlig;e.
+Es tat mir leid, den Brief verloren zu haben, aber ich war zu m&uuml;de und
+zu gleichg&uuml;ltig, um umzukehren und einen Versuch zu machen, ob ich das
+Paket noch aus dem Wasser fischen k&ouml;nnte, was ohnehin unwahrscheinlich
+war. Auch graute mir, obwohl ich solchen Stimmungen sonst nicht
+unterworfen bin, vor der verlassenen Stelle, und es war mir zumute, als
+w&uuml;rde ich mich selbst auf der wei&szlig;en Bank vor dem schwarzen Wasser
+sitzen sehen, wenn ich zur&uuml;ckkehrte. Im Eisenbahnwagen <span class='pagenum'><a name="Page_384" id="Page_384">[384]</a></span>schlief ich
+sofort ein und schlief fest, bis ich zu Hause ankam. Ich hatte den
+Eindruck, da&szlig; niemand mich kommen sah und niemandem meine Abwesenheit
+aufgefallen war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum haben Sie den Sachverhalt nicht sofort der Wahrheit gem&auml;&szlig;
+dargestellt?&laquo; fragte der Vorsitzende, der w&auml;hrend der langen Erz&auml;hlung
+mit seinem Bleistift gespielt hatte und in den Anblick desselben
+versunken schien. &raquo;Das h&auml;tte Ihnen von vornherein eine andere Stellung
+gesichert.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wenn man mir geglaubt h&auml;tte!&laquo; sagte Deruga. &raquo;Den einzigen Beweis,
+den ich beibringen konnte, den Brief meiner Frau, hatte ich verloren,
+und ich dachte nicht an die M&ouml;glichkeit, ihn wiederzufinden. Freilich
+war ich &uuml;berzeugt, selbst wenn sich der Kittel herbeischaffen lie&szlig;e,
+w&uuml;rde das Wasser den Brief zerst&ouml;rt haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sonderbare Geschichte das!&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann nach der Sitzung
+zu den &uuml;brigen Herren. &raquo;Ich gestehe, der Mensch hat mich beinahe
+ger&uuml;hrt. Ein derartiges gegen<span class='pagenum'><a name="Page_385" id="Page_385">[385]</a></span>seitiges Wohlwollen findet man selten bei
+Eheleuten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die waren ja auch geschieden,&laquo; sagte der Staatsanwalt listig.</p>
+
+<p>Alle Herren lachten. &raquo;&Uuml;brigens,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann, &raquo;f&uuml;r ein
+bi&szlig;chen nerv&ouml;s und empfindsam halte ich unseren Italiener doch. Ich
+hatte nicht unrecht, wenn ich ihn mit einem Cham&auml;leon verglich.&laquo;</p>
+
+<p>Das wurde zugegeben. Aber es sei schlie&szlig;lich kein Verbrechen, ein
+Cham&auml;leon zu sein. Viele f&auml;nden es sogar reizvoll.</p>
+
+<p>&raquo;Ein Spielzeug f&uuml;r Damen,&laquo; sagte der Staatsanwalt vergn&uuml;gt, &raquo;und um der
+Damen willen mu&szlig; er freigesprochen werden. Ich hoffe, unsere
+Geschworenen vergessen nicht, da&szlig; es die Damen sind, die im &ouml;ffentlichen
+wie im privaten Leben den Ausschlag geben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Besonders vergessen Sie hoffentlich nicht,&laquo; sagte <tt>Dr.</tt> Zeunemann,
+&raquo;da&szlig; es Frauen gibt, die weder im &ouml;ffentlichen noch im privaten Leben
+hervortreten und doch tapferer sind als unser starkes Geschlecht.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_386" id="Page_386">[386]</a></span>Man wollte allerseits an dem Vorsitzenden eine Vorliebe f&uuml;r Fr&auml;ulein
+Gundel Schwertfeger bemerkt haben und neckte ihn damit.</p>
+
+<p>Ja, er s&auml;he auf den Kern, rechtfertigte sich <tt>Dr.</tt> Zeunemann, lasse
+sich nicht durch Schein und Schimmer verblenden wie der ewig junge
+Staatsanwalt.</p>
+
+<p>&raquo;Sie hat gelogen wie eine Heilige,&laquo; sagte dieser, &raquo;und mir ist es recht,
+wenn das Gericht ihr eine Aureole statt der Strafe zuerkennt, denn das
+Martyrium hat sie schon hinter sich. Hernach werde ich aber mit
+verdoppelter Kraft den Buchstaben des Gesetzes schwingen.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_387" id="Page_387">[387]</a></span></p>
+<h2><a name="XIX" id="XIX"></a><tt>XIX.</tt></h2>
+
+
+<p>Es d&auml;mmerte schon, als Mingo ins Hotel kam, wo ihre Mutter am Kamin sa&szlig;
+und in einem Buch bl&auml;tterte.</p>
+
+<p>&raquo;Wo warst du denn?&laquo; fragte sie mi&szlig;billigend, indem sie das Buch in den
+Scho&szlig; legte. &raquo;Ich habe mich deinetwegen beunruhigt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Mama,&laquo; sagte Mingo erstaunt, &raquo;das habe ich nicht vorausgesetzt.
+Wenn wir getrennt sind, hast du doch keine Ahnung, wann ich nach Hause
+komme, und sorgst dich nie um mich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist etwas anderes, Mingo,&laquo; antwortete die Baronin gereizt. &raquo;Ich
+w&auml;re nicht mehr am Leben, wollte ich mir Gedanken um dich machen, wenn
+du anderswo bist. Hier mu&szlig;t du dich nach mir und den herrschenden Sitten
+richten. Ein junges M&auml;dchen aus guter Familie darf in der Dunkelheit
+nicht allein durch die Stra&szlig;en laufen.&laquo;</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_388" id="Page_388">[388]</a></span>&raquo;Daran dachte ich nicht,&laquo; entschuldigte sich Mingo kleinlaut, &raquo;weil ich
+es so gew&ouml;hnt bin. Ich war so gl&uuml;cklich, Mama.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gl&uuml;cklich? Warum?&laquo; fragte die Baronin. &raquo;Weil wir nach Paris reisen,
+oder weil Peter Hase uns begleitet? Oder weil du studieren darfst?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach nein, Mama,&laquo; antwortete Mingo, &raquo;weil der schreckliche Proze&szlig; nun
+bald zu Ende ist, und weil er freigesprochen wird. Er wird doch
+freigesprochen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube bestimmt,&laquo; sagte die Baronin.</p>
+
+<p>Mingo, die sich inzwischen auf ein Kissen zu F&uuml;&szlig;en ihrer Mutter gekauert
+hatte, rief aus: &raquo;Aber seine Unschuld ist doch sonnenklar!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist er doch nicht unschuldig,&laquo; sagte
+die Baronin.</p>
+
+<p>Mingos Gesicht dr&uuml;ckte &auml;ngstlichen Zweifel aus, allm&auml;hlich verzog es
+sich, so da&szlig; es kl&auml;glich und hilflos wie das eines kleinen Kindes
+aussah, und in Tr&auml;nen ausbrechend umklammerte sie mit beiden Armen die
+Knie ihrer Mutter. &raquo;O Mama, das ertr&uuml;g' ich nicht, das ertr&uuml;g' ich
+nicht,&laquo; schluchzte sie.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_389" id="Page_389">[389]</a></span>Die Baronin schob sie sacht mit den H&auml;nden zur&uuml;ck und fragte befremdet,
+fast tadelnd: &raquo;Was ist dir? Was hast du, Kind?&laquo; w&auml;hrend sie sich eines
+stechenden Schmerzes zu erwehren suchte, der ihr Herz zusammenzog.</p>
+
+<p>&raquo;Sto&szlig;' mich doch nicht fort, Mama,&laquo; schluchzte Mingo, ihre Mutter fest
+umklammernd, &raquo;ich kann ja nichts daf&uuml;r, da&szlig; es so ist! Hilf mir doch,
+ich habe ja nur dich! Ich kann nicht ohne ihn leben.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin beugte sich herab, zog die kleine Gestalt auf ihren Scho&szlig;
+und pre&szlig;te das tr&auml;nen&uuml;berstr&ouml;mte Gesicht an ihres. &raquo;Meine kleine Mingo,&laquo;
+sagte sie z&auml;rtlich, &raquo;so sehr liebst du ihn?&laquo;</p>
+
+<p>Noch schluchzend dr&auml;ngte sich das M&auml;dchen dicht an ihre Mutter. &raquo;Ich
+wollte gern sterben, wenn ich ihn damit gl&uuml;cklich machen k&ouml;nnte,&laquo; sagte
+sie leise.</p>
+
+<p>Die Baronin streichelte sie und dr&uuml;ckte sie fest an sich. &raquo;Meine liebe
+Kleine,&laquo; sagte sie bes&auml;nftigend, &raquo;es ist nat&uuml;rlich, da&szlig; er in dieser
+Lage einen starken Eindruck auf dein liebevolles, phantastisches Gem&uuml;t
+gemacht hat. Er &uuml;bt einen <span class='pagenum'><a name="Page_390" id="Page_390">[390]</a></span>gro&szlig;en Zauber aus, das ist wahr. Aber glaube
+mir, das ist nicht der Mann, der dich begl&uuml;cken k&ouml;nnte, ganz abgesehen
+davon, da&szlig; sein Alter und seine Stellung im Leben den Gedanken an eine
+Heirat mit dir von vornherein ausschlie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Seine Stellung im Leben,&laquo; rief Mingo, sich entr&uuml;stet aufrichtend. &raquo;O
+Mama, und wenn er ein Stra&szlig;enkehrer w&auml;re, er st&auml;nde hoch, hoch &uuml;ber mir
+und allen M&auml;nnern, die ich kenne. O Mama, ich kann es nicht ertragen,
+da&szlig; du so kleinlich denkst oder sprichst. Und was frage ich nach seinem
+Alter? Will ich denn etwas von ihm? Wenn meine Jugend sein Herz einen
+Augenblick erfreuen k&ouml;nnte, wie man sich an einer Blume erfreut, so w&auml;re
+ich gl&uuml;cklich, sie ihm hingeben zu d&uuml;rfen.&laquo;</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich brach sie ab, da sie sah, da&szlig; die sch&ouml;nen grauen,
+schwarzums&auml;umten Augen ihrer Mutter feucht und da&szlig; auf ihren blassen
+Wangen Tr&auml;nenspuren waren. Sie nahm das kleine, spitzenbesetzte
+Taschentuch, das die Baronin in der Hand hielt, trocknete damit behutsam
+ihr <span class='pagenum'><a name="Page_391" id="Page_391">[391]</a></span>Gesicht und fragte nachdenklich: &raquo;Sind das meine Tr&auml;nen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wessen wohl sonst?&laquo; fragte die Baronin l&auml;chelnd.</p>
+
+<p>&raquo;Aber du hast ja auch Tr&auml;nen in den Augen,&laquo; fuhr Mingo fort. &raquo;Ach Mama,
+was f&uuml;r ein b&ouml;ses Kind bin ich, dir solchen Kummer zu machen! Aber ich
+kann ja nichts daf&uuml;r, es ist ganz gewi&szlig; st&auml;rker als ich! Alles, alles,
+was ich habe, wollte ich geben, wenn er mich nur ein bi&szlig;chen liebhaben
+k&ouml;nnte! Wenn er mich wenigstens um sich leiden m&ouml;chte! Ich wei&szlig; nicht,
+was aus mir werden soll ohne ihn.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meine s&uuml;&szlig;e, kleine Mingo,&laquo; begann die Baronin.</p>
+
+<p>&raquo;Sage: mein s&uuml;&szlig;er, kleiner Mingo,&laquo; bat Mingo.</p>
+
+<p>&raquo;Mein s&uuml;&szlig;er, kleiner Mingo,&laquo; wiederholte die Baronin, &raquo;k&uuml;hle vor allen
+Dingen dein Gesicht, denn du m&ouml;chtest gewi&szlig; nicht gern, da&szlig; dein Vater,
+der jeden Augenblick kommen kann, dich so &uuml;berraschte. Ich f&uuml;rchte, er
+w&uuml;rde wenig Verst&auml;ndnis f&uuml;r deine Gef&uuml;hle haben. Und dann la&szlig; uns
+zun&auml;chst ruhig das Urteil erwarten! <span class='pagenum'><a name="Page_392" id="Page_392">[392]</a></span>Sollte er nicht freigesprochen
+werden, so kann er weitergehen; wir brauchen also selbst im schlimmsten
+Falle die Hoffnung nicht aufzugeben. Was dann wird, h&auml;ngt nicht von uns
+ab. Dich zu lieben, k&ouml;nnen wir ihn nicht zwingen, aber ich glaube, da&szlig;
+er schon um seiner verstorbenen Tochter willen Sympathie f&uuml;r dich hat.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Glaubst du?&laquo; fragte Mingo, w&auml;hrend sie sich das erhitzte Gesicht mit
+einem nassen Tuche betupfen lie&szlig;. Die ungewohnte m&uuml;tterliche
+Z&auml;rtlichkeit hatte etwas lieblich Einwiegendes, und sie hielt
+unwillk&uuml;rlich die Mutter fest umarmt, als wolle sie die wohlt&auml;tige
+Anwandlung verhindern, einem Traume gleich zu verschwinden.</p>
+
+<p>&raquo;Du scheinst pl&ouml;tzlich wieder ein kleines Kind geworden zu sein,&laquo; sagte
+die Baronin, &raquo;und zu denken, wie kleine Kinder tun: Mama wird mir Sonne
+und Mond geben, wenn ich will.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo sah die Baronin mit gro&szlig;en, wundergl&auml;ubigen Augen an und nickte.
+&raquo;Das kommt, weil du so gut zu mir bist,&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>Erst gegen Morgen schlief die Baronin ein und erwachte mit m&uuml;dem,
+unfrohem Herzen. <span class='pagenum'><a name="Page_393" id="Page_393">[393]</a></span>Mingos z&auml;rtliche Begr&uuml;&szlig;ung, kleine Aufmerksamkeiten
+und verstohlene Blicke ermunterten sie doch allm&auml;hlich.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, Mingo,&laquo; sagte sie, &raquo;ich nehme dich heute nur mit in die Sitzung,
+wenn du brav sein willst. Auftritte sind mir verha&szlig;t, besonders in der
+&Ouml;ffentlichkeit.&laquo; Mingo versprach es und wurde auf keine zu schwere Probe
+gestellt. Denn die Reden waren kurz, und die Geschworenen lehnten nach
+kaum halbst&uuml;ndiger Beratung die Schuldfrage ab.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>In der allgemeinen Bewegung, die entstand, erschien nur Deruga
+gleichg&uuml;ltig; einzig als er, nachdem die Baronin ihn begl&uuml;ckw&uuml;nscht
+hatte, Mingos Auge voll Sorge und Liebe auf sich gerichtet sah, wurden
+seine Mienen weich.</p>
+
+<p>&raquo;Kleiner Mingo,&laquo; sagte er, indem er ihr zunickte, &raquo;sind Sie nun
+zufrieden? Sehen Sie, die Menschen sind gar nicht so b&ouml;se!&laquo;</p>
+
+<p>Im ersten Augenblick &uuml;berw&auml;ltigte sie das Gl&uuml;ck dieser Anrede; aber als
+sie neben ihrer Mutter im Wagen sa&szlig; und alles Erlebte wieder
+<span class='pagenum'><a name="Page_394" id="Page_394">[394]</a></span>durchtr&auml;umte, schien es, als habe der bewunderte Mann sie doch recht
+karg abgespeist. Mit wem mochte er seinen Triumph jetzt so recht
+ausgiebig feiern? War er &uuml;berhaupt froh? Es hatte so viel Widerwillen
+und Verachtung in dem Gesicht gelegen, das doch so innig l&auml;cheln konnte.
+Ob er gl&uuml;cklicher sein w&uuml;rde, wenn er w&uuml;&szlig;te, wie ganz und gar sie ihm
+ergeben war?</p>
+
+<p>&raquo;Mingo,&laquo; sagte die Baronin am Nachmittag, als sie allein miteinander
+waren, &raquo;ich werde jetzt Deruga aufsuchen, um zu erfahren, welches seine
+Absichten f&uuml;r die n&auml;chste Zukunft sind, und ihn bitten, da&szlig; er mich als
+seine Verwandte betrachtet. Dich nehme ich nicht mit, weil du sehr wenig
+imstande bist, deine Empfindungen zu beherrschen, und es nicht
+schicklich ist, wie du auch finden wirst, wenn ein M&auml;dchen sich einem
+Manne antr&auml;gt.&laquo;</p>
+
+<p>Mingo war nicht der Meinung. Sich diesem einzigen Manne gegen&uuml;ber hinter
+Schicklichkeitsregeln zu verschanzen, schien ihr unw&uuml;rdig, das einzig
+Nat&uuml;rliche und Richtige vielmehr, ihm zu sagen: Ich bin dein, nimm mich
+hin. <span class='pagenum'><a name="Page_395" id="Page_395">[395]</a></span>Da sie aber wu&szlig;te, da&szlig; sie ihre Mutter f&uuml;r diese Auffassung nicht
+w&uuml;rde gewinnen k&ouml;nnen, und da sie sich au&szlig;erdem vor einer Begegnung mit
+Deruga ebensosehr f&uuml;rchtete, wie sie sie herbeisehnte, erkl&auml;rte sie sich
+dankbar einverstanden.</p>
+
+<p>&raquo;Aber ich darf ihn doch gr&uuml;&szlig;en lassen,&laquo; fragte sie. Die Baronin l&auml;chelte
+und k&uuml;&szlig;te sie. &raquo;Geh' inzwischen mit deinem Vater spazieren,&laquo; sagte sie,
+&raquo;da&szlig; dir die Zeit nicht lang wird.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_396" id="Page_396">[396]</a></span></p>
+<h2><a name="XX" id="XX"></a><tt>XX.</tt></h2>
+
+
+<p>Als die Baronin bei Deruga eingetreten war, der an einem Tische sa&szlig; und
+schrieb, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte dann: &raquo;Sie sehen
+nicht aus wie ein Sieger. Mir entf&auml;llt der Mut, Ihnen Gl&uuml;ck zu
+w&uuml;nschen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie irren sich,&laquo; antwortete Deruga, &raquo;ich habe soeben einen Entschlu&szlig;
+gefa&szlig;t, um dessentwillen ich zu begl&uuml;ckw&uuml;nschen bin: Ich will den
+Schauplatz, der mir nicht gef&auml;llt, verlassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das habe ich vorausgesetzt,&laquo; sagte die Baronin. &raquo;H&auml;tten Sie nicht Lust,
+uns nach Paris zu begleiten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, ich will weiter, viel weiter fort,&laquo; sagte Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, das ist auch gut,&laquo; meinte die Baronin. &raquo;In der Ferne werden Sie
+die h&auml;&szlig;lichen Eindr&uuml;cke, die Sie hier gehabt haben, vergessen, und wenn
+Sie wissen, da&szlig; Sie in dem tr&uuml;ben <span class='pagenum'><a name="Page_397" id="Page_397">[397]</a></span>Wust einen kostbaren Schatz gewonnen
+haben, n&auml;mlich ein reines, warmes, treues Herz, so wird Sie das
+allm&auml;hlich zur&uuml;ckziehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin nicht so verwegen, mir einzubilden, ich h&auml;tte Ihr Herz
+gewonnen, Frau Baronin,&laquo; sagte Deruga, gutm&uuml;tig spottend, &raquo;auf das Ihre
+Schilderung auch wohl so ganz nicht pa&szlig;t.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nicht so ganz,&laquo; sagte die Baronin, indem sie mit wehm&uuml;tiger
+Koketterie den Kopf wiegte, &raquo;immerhin dachte ich an eines, das dem
+meinigen nah, sehr nah verwandt ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kleiner Mingo,&laquo; sagte Deruga tr&auml;umerisch, und dann rascher, zu seinem
+Gast gewendet: &raquo;Ach, glauben Sie denn, Baronin, ich k&ouml;nnte es ertragen,
+ein Wesen an meiner Seite zu haben, das mich immer an meinen kleinen
+Mingo erinnerte, den ich verloren habe? Wenn Sie das f&uuml;r m&ouml;glich halten,
+so wissen Sie nicht, was Elternliebe ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O doch, ich habe es erfahren,&laquo; sagte die Baronin, indem sie langsam den
+verschleierten Blick auf ihn richtete.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_398" id="Page_398">[398]</a></span>&raquo;Ich glaube Ihnen,&laquo; sagte Deruga, &raquo;aber vielleicht k&ouml;nnen Sie sich
+nicht in meine Lage denken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist nat&uuml;rlich,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;da&szlig; ich zun&auml;chst die meine und
+die meines Kindes empfinde. Da&szlig; eine Mutter ihre Tochter nicht gern
+einem um so viel &auml;lteren Manne gibt, das versteht sich doch wohl von
+selbst. Wenn ich trotzdem mich entschlossen habe, Ihnen von dieser
+Neigung zu sprechen, so geschah es, weil ihre St&auml;rke und unschuldige
+Zuversicht mich r&uuml;hrten und mir den Glauben erweckten, es k&ouml;nne doch
+vielleicht &mdash; wie man so sagt &mdash; Gottes Wille sein. Dazu kommt freilich, da&szlig;
+ich mich davor f&uuml;rchte, das Kind leiden zu sehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wirkliches Leiden,&laquo; sagte Deruga, &raquo;w&uuml;rde ihr die Erf&uuml;llung ihres
+Wunsches bringen. Sie kennt mich nicht. Und auch Sie, Baronin, kennen
+mich offenbar nicht gen&uuml;gend.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Natur will nicht, da&szlig; wir Frauen die M&auml;nner ganz kennen,&laquo; sagte die
+Baronin leicht err&ouml;tend. &raquo;Hat sie uns nicht blind gemacht, so m&uuml;ssen wir
+uns wohl oder &uuml;bel die Augen ver<span class='pagenum'><a name="Page_399" id="Page_399">[399]</a></span>binden. Aber von Ihnen, gerade von
+Ihnen glaubte ich, da&szlig; es nur von Ihrem Willen abhinge, wenn nicht ein
+gro&szlig;er, so doch ein sehr guter Mensch zu sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn das wahr w&auml;re,&laquo; sagte Deruga, &raquo;so w&auml;re ich es ja. Mein Wille h&auml;ngt
+aber nicht von mir ab, sondern von meinem Blut, von meinen Nerven, von
+den Eindr&uuml;cken, die ich empfange, von tausenderlei Str&ouml;mungen und
+Stockungen, &uuml;ber die ich nicht Herr bin. Ich habe Augenblicke gehabt, wo
+es mir vor mir selbst ekelte, und ich will verhindern, da&szlig; sie
+wiederkommen, nachdem ich einmal hoch &uuml;ber allen irdischen Niedrigkeiten
+war.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und k&ouml;nnten Sie das nicht am besten dadurch verhindern,&laquo; sagte die
+Baronin, liebevoll dringend, &raquo;da&szlig; Sie Ihr Leben mit einem jungen,
+reinen, vertrauenden verb&auml;nden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ich stark w&auml;re, ja,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Aber da ich schwach bin,
+bleibt mir doch nur der andere Weg, da&szlig; ich fortgehe.&laquo;</p>
+
+<p>Etwas in seinen Mienen oder im Ton seiner Worte machte, da&szlig; die Baronin
+ihn pl&ouml;tzlich <span class='pagenum'><a name="Page_400" id="Page_400">[400]</a></span>richtig verstand. Ihre Hand, die auf der Lehne seines
+Stuhles lag, zitterte, und sie wurde bleich. Eine schreckliche Angst, er
+k&ouml;nne jetzt gleich, ihr gegen&uuml;ber Hand an sich legen, befiel sie, und
+zugleich durchzitterte sie der Gedanke, da&szlig; dies die beste L&ouml;sung f&uuml;r
+sie w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist entsetzlich, mir das zu sagen,&laquo; st&ouml;hnte sie, die Augen
+schlie&szlig;end und den Kopf zur&uuml;cklehnend.</p>
+
+<p>&raquo;Nicht so sehr,&laquo; sagte Deruga, &raquo;ich h&auml;tte es nicht gesagt, wenn ich
+nicht w&uuml;&szlig;te, wie verst&auml;ndig Sie sind. Ich will Ihnen gestehen, als mich
+Ihre Augen zum ersten Male mit einem Blick trafen, der aus Abneigung und
+pl&ouml;tzlich erregter Zuneigung gemischt war, wurde eine starke Begierde zu
+leben in mir wach, wie ich sie jahrelang nicht empfunden hatte. Denn
+eigentlich lebte ich nur so hin, weil ich einmal da war, ohne da&szlig; etwas
+mich sonderlich reizte. Der Trieb, den Sie in mir entz&uuml;ndeten, war
+nichts Hohes oder Sch&ouml;nes, es war ein Durcheinander von Genu&szlig;sucht,
+Eitelkeit und Selbstliebe, was eben bei uns M&auml;nnern der Leidenschaft
+haupts&auml;chlich <span class='pagenum'><a name="Page_401" id="Page_401">[401]</a></span>zugrunde liegt. Der Reichtum, der mir in den Scho&szlig;
+gefallen war, bekam pl&ouml;tzlich doppelten Wert f&uuml;r mich. Von ihm getragen,
+wollte ich leben um jeden Preis, was f&uuml;r Opfer es auch kosten m&ouml;chte,
+leben, um ungeschr&auml;nkt zu genie&szlig;en. Wer wei&szlig;, wie es gekommen w&auml;re, wenn
+der gute <tt>Dr.</tt> Bernburger nicht den Brief von meiner armen Marmotte
+gefunden h&auml;tte!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da verbla&szlig;te die neue vor der alten Liebe,&laquo; sagte die Baronin leise.</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&ouml;gen es immerhin so ausdr&uuml;cken,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Vom Finger der
+Erinnerung ber&uuml;hrt, stieg die g&ouml;ttliche Zeit vor mir auf, die mir einmal
+geschenkt war. Ich sah, wie flach, zerbrechlich, allt&auml;glich und ekelhaft
+alles das war, was mich gl&auml;nzend und genu&szlig;reich umgaukelt hatte,
+verglichen mit der Seligkeit, die ich empfand, als ich meiner armen,
+kranken Marmotte den Tod gab. Ja, ich w&uuml;rde reicher und angesehener
+sein, es w&uuml;rden mir feinere, h&ouml;her gestellte Frauen zu Verf&uuml;gung stehen
+als fr&uuml;her, aber ich w&uuml;rde mit jedem Schritt tiefer in den Schlamm der
+Allt&auml;glichkeit versinken <span class='pagenum'><a name="Page_402" id="Page_402">[402]</a></span>und mich weiter von jenem G&ouml;ttergl&uuml;ck
+entfernen, bis ich meine F&auml;higkeit dazu endlich vergessen und verloren
+h&auml;tte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Man kann nicht immer auf den H&ouml;hen verweilen,&laquo; wandte die Baronin
+zaghaft ein.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wenigstens kann es nicht,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Aber ich war doch einmal
+begnadet, in &auml;therischer Luft zu atmen. Mir schmeckt eure Zeit nicht
+mehr nach jenen ewigen Augenblicken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht,&laquo; sagte die Baronin z&ouml;gernd, &raquo;k&ouml;nnte Mingo Sie umstimmen,
+wenn sie zu Ihnen k&auml;me.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das w&auml;re zum Ungl&uuml;ck f&uuml;r uns beide,&laquo; sagte Deruga. &raquo;Lassen Sie dem
+Kinde eine sch&ouml;ne, heilige Erinnerung, die vielleicht einmal dunkle
+Stellen des Lebens verkl&auml;ren kann. Mich begl&uuml;ckt der Gedanke, da&szlig; sie
+ein unbeflecktes Bild von mir in liebevollem Herzen festh&auml;lt.
+Versprechen Sie mir, es nicht zu zerst&ouml;ren, Baronin!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist ja mir so teuer wie ihr,&laquo; sagte sie mit erstickter Stimme. Sie
+dr&uuml;ckte das Taschentuch an die Augen und sa&szlig; ihm lange stumm gegen&uuml;ber.
+Pl&ouml;tzlich kam ihr inmitten ver<span class='pagenum'><a name="Page_403" id="Page_403">[403]</a></span>worrener Gef&uuml;hle und Gedanken ein
+Einfall, dem nachgebend sie sich schnell aufrichtete und fragte: &raquo;Und
+die verh&auml;ngnisvolle Erbschaft? Was wird aus der, wenn Sie &mdash; fortgehen?&laquo;</p>
+
+<p>Deruga lachte. &raquo;Wahrhaftig, Baronin,&laquo; sagte er, &raquo;wenn Gundel
+Schwertfeger nicht w&auml;re, w&uuml;rde ich sie Ihnen von Herzen g&ouml;nnen. Aber,
+sehen Sie, Gundel Schwertfeger kommt das Geld eigentlich zu, weil die
+Marmotte es ihr zugedacht hatte, und weil sie es in ihrem Sinne anwenden
+wird. Und um mich hat sie es verdient, das treue, tapfere Herz, obwohl
+ich ihr einmal b&ouml;se war, weil sie mich zu hart beurteilte. Im Grunde
+galt mein Zorn nur ihrer Unbestechlichkeit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach,&laquo; sagte die Baronin schmollend, &raquo;Sie und das Fr&auml;ulein Schwertfeger
+geh&ouml;ren zu den Leuten, die nur ein Herz f&uuml;r die Leiden der Armen haben.
+Glauben Sie mir, verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig bin ich &auml;rmer als die &auml;rmste
+Tagl&ouml;hnersfrau.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, aber nur verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig,&laquo; lachte Deruga.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, lassen wir das,&laquo; sagte die Baronin, &raquo;nur um eines bitte ich Sie:
+Lassen Sie die <span class='pagenum'><a name="Page_404" id="Page_404">[404]</a></span>Nadel, den Mohrenkopf, den Sie in der Krawatte tragen,
+nicht in fremde H&auml;nde fallen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sollen ihn als Andenken erhalten,&laquo; sagte Deruga, &raquo;wenn ich meine
+Reise antrete. Machen Sie sich aber niemals Gedanken, Baronin, als
+h&auml;tten Sie den Aufbruch verschuldet! Schon oft, lange vor diesem Proze&szlig;,
+habe ich die Absicht gehabt, diese &ouml;de Station zu verlassen, wo ich mich
+ebenso langweilte wie Sie in Ihrer Ehe. Vielleicht erinnern Sie sich,
+da&szlig; ich einmal im Anfang der Verhandlungen erz&auml;hlte, wie ich fortgereist
+und aufs Geratewohl querfeldein gegangen sei, um irgendwo drau&szlig;en in der
+Einsamkeit wie ein Tier zu sterben. Das war keine Erfindung, wenn es
+auch nicht gerade an dem Tag vorgefallen war.&laquo;</p>
+
+<p>Die Baronin war aufgestanden und hielt ihm z&ouml;gernd die Hand hin. &raquo;Lieber
+Doktor,&laquo; sagte sie, &raquo;alles, was Sie nur eben sagten, war der Ausdruck
+einer Stimmung, die nach den vorausgegangenen Eindr&uuml;cken erkl&auml;rlich ist,
+die aber vor&uuml;bergehen wird. Ihre zahlreichen Freunde werden darauf
+hinzuwirken suchen, und ich bin &uuml;berzeugt, <span class='pagenum'><a name="Page_405" id="Page_405">[405]</a></span>schon morgen werden Sie
+irdischer, menschlicher empfinden. Ich w&auml;re nicht imstande Ihnen
+Lebewohl zu sagen, wenn ich nicht fest darauf rechnete.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;K&uuml;&szlig; die Hand, Baronin, und gr&uuml;&szlig;en Sie Mingo!&laquo;</p>
+
+<p>Auf der Treppe zog die Baronin einen Spitzenschleier aus der kleinen
+Handtasche, die sie in der Hand trug, und band ihn vor ihr Gesicht, &uuml;ber
+das unaufhaltsame Tr&auml;nen flossen. Erst nachdem sie eine Zeitlang in den
+entlegenen, einsamen Stra&szlig;en dieser Gegend auf und ab gegangen war,
+versiegten sie und vermochte sie sich zu fassen. Nach Hause zu gehen,
+f&uuml;hlte sie sich immerhin noch nicht f&auml;hig und beschlo&szlig;, auf Umwegen in
+die innere Stadt, wo die eleganten Gesch&auml;fte waren, zur&uuml;ckzukehren und
+einige f&uuml;r die Abreise notwendige Eink&auml;ufe zu machen.</p>
+
+<p>Der Gedanke an Paris hatte etwas Befreiendes f&uuml;r sie. Auf der neuen
+Szene, dachte sie, w&uuml;rden neue Auftritte mit neuen Eindr&uuml;cken kommen und
+sie heilen; denn sie bed&uuml;rfte es doch mehr als Mingo. Ja, f&uuml;r Mingo war
+es gut so, das f&uuml;hlte sie mit jedem Augenblick <span class='pagenum'><a name="Page_406" id="Page_406">[406]</a></span>deutlicher. Eine kurze
+Zeit leidenschaftlicher Wonne h&auml;tte sie vermutlich, wenn sie Deruga
+geheiratet h&auml;tte, mit einem Leben voll Entt&auml;uschungen und mannigfacher
+Bitterkeit erkauft; denn was f&uuml;r Sch&auml;tze sein Herz auch bergen mochte,
+ihr gegen&uuml;ber w&auml;re er bald der alternde, launenhafte, &uuml;berdr&uuml;ssige,
+erloschene Mann geworden. Der Schmerz hingegen, den sie jetzt erfuhr,
+w&uuml;rde sich bald, wie Deruga vorausgesagt hatte, in eine heilig beh&uuml;tete
+Erinnerung verwandeln, bei der man gern in Tr&auml;umen verweilt. Vielleicht
+war sie infolge der Erregungen, die sie durchgemacht hatte, gerade in
+der rechten Verfassung, um f&uuml;r Peter Hases Werbung empf&auml;nglich zu sein,
+der sie begleitete, oder es w&uuml;rde einem anderen gelingen, sie zu
+interessieren. Dies Erlebnis hatte den Boden ihrer Seele erst lockern
+m&uuml;ssen, der sich bisher vor der Liebe verschlossen hatte. Es lag jetzt
+nur an ihr, sich eine reiche Ernte f&uuml;r die Zukunft zu sichern.</p>
+
+<p>Sie dagegen, so dachte die Baronin, hatte einen d&uuml;rren Herbst und einen
+&ouml;den Winter zu erwarten. Es schauderte sie, und sie zog das
+<span class='pagenum'><a name="Page_407" id="Page_407">[407]</a></span>Pelzgeh&auml;nge, das sie an den k&uuml;hlen Fr&uuml;hlingstagen noch trug, dicht um
+sich zusammen. Gab es denn irgendwo auf Erden die g&ouml;ttliche Zeit, das
+himmliche Klima, wovon Deruga gefabelt hatte? Ach, mit was f&uuml;r
+fremdartigen Gedanken hatte er sie gest&ouml;rt! Nein, das Verstiegene und
+&Uuml;berschw&auml;ngliche hatte sie sich immer fern gehalten und wollte es auch
+ferner tun, das ihrem guten Geschmack widerstrebte. Das Leben war reich
+an heiteren, reizenden Augenblicken; die Kunst, diese Schmetterlinge
+einzufangen, sich an ihrem Schmelz zu erfreuen, ohne sie zu betasten,
+wollte sie sich immer mehr zu eigen machen. Konnte sie dazu eine bessere
+Gelegenheit finden als in Paris, in Gesellschaft ihrer Tochter und Peter
+Hasens? War nicht endlich auch ihr Mann ein sch&auml;tzbarer Begleiter?
+Ansehnlich, elegant, zuvorkommend, eben durch seine langweilige
+Farblosigkeit bequem? Ihr Schritt wurde immer elastischer und ihre
+Mienen heiterer. Als sie im Hotel ankam, str&ouml;mte ihr Wesen einen so
+frischen Reisemut aus, da&szlig; ein wenig davon auf Mingo &uuml;berging.</p>
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_408" id="Page_408">[408]</a></span>Ein paar Tage sp&auml;ter erhielt sie in Paris ein Paketchen, in dem Derugas
+Nadel mit dem Mohrenkopf war. Ihre Augen wurden feucht, aber sie verbarg
+das Kleinod schnell in einer Schatulle, wo sie ihre Kostbarkeiten zu
+verschlie&szlig;en pflegte, um es erst dann wieder hervorzunehmen, wenn ihr
+Herz ganz still und sicher geworden w&auml;re.</p><p><span class='pagenum'><a name="Page_409" id="Page_409">[409]</a></span></p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Ank&uuml;ndigungen auf den folgenden Seiten werden freundlicher Beachtung
+empfohlen</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_410" id="Page_410">[410]</a></span></p>
+
+<div>
+<table border="1" cellpadding="20">
+<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein &amp; Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr>
+<tr><td>
+<p><br /></p>
+<h3>Der Stein der Weisen</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Max Gei&szlig;ler</h4>
+<p><br />
+Die letzten f&uuml;nfundzwanzig Jahre deutschen Lebens
+umfa&szlig;t Max Gei&szlig;lers neuer Roman, der ganz eingesponnen
+ist in den Frieden des Bergwaldes. Durchs Wettertal
+f&auml;hrt im Juli 1890 der Doktor Valerius Degenhart aus
+Frankfurt am Main, der Tr&auml;umer, der aus der
+zerr&uuml;ttenden Berufsarbeit sich nach der gro&szlig;en Stille
+sehnt. Im Wettertal l&auml;&szlig;t er, als seine unmoderne
+Reisekutsche verungl&uuml;ckt, zu dauernder Rast sich
+nieder. Zwischen Himmel und Erde, vor einer Natur von
+unsagbarer Sch&ouml;nheit baut er sich sein Haus, die
+Streitburg. Wenig &Auml;u&szlig;eres geschieht in diesem Buch.
+Doch es hat eine Melodie tiefinnerster Seligkeit, die
+im Herzen nachklingt wie der Glanz endloser Sommertage.
+<br /><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>Die Arche</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Werner Scheff</h4>
+<p><br />
+In diesem utopischen Roman eines neuen Autors ist die
+stolzeste Tat vorhergeahnt, die im Weltkrieg der Geist
+der deutschen Technik verwirklichte, und mit
+sch&ouml;pferischer Phantasie &uuml;bertragen auf ferne Zukunft.
+Noch wu&szlig;ten nur die Eingeweihten vom Bau der
+&raquo;Deutschland&laquo;, als Werner Scheff seine &raquo;Arche&laquo; schrieb,
+die mit der Taufe des gro&szlig;en Untersee-Passagierbotes,
+der &raquo;Gloria&laquo;, im August 1947 beginnt. Hammerhart, voll
+n&uuml;chternen Zweckbewu&szlig;tseins, bis in die letzten Dinge
+der Konstruktion durchdacht ist seine Gestaltung des
+k&uuml;hnen Ingenieurtraums. Mit ungeheuersten M&ouml;glichkeiten
+des Weltenschicksals, mit einem Weltuntergang, ist sie
+verbunden. Aber rein und trostvoll in ihrem milden
+Glauben an die Ewigkeit der Kultur ist die Stimmung des
+Schlusses.</p></td></tr>
+<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_411" id="Page_411">[411]</a></span></p>
+<div>
+<table border="1" cellpadding="20">
+<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein &amp; Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr>
+<tr><td>
+<p><br /></p>
+<h3>Lotte Hagedorn</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Felix Philipp.</h4>
+<p><br />
+In das Erleben einer fr&uuml;heren Generation tr&auml;gt Felix
+Philipps neues Werk zur&uuml;ck. Mit einem Spaziergang nach
+den Linden, den am Himmelfahrtstag 1869 der
+Kommissionsrat Schlegel unternimmt, setzt die
+Geschichte der Lotte Hagedorn ein. An jenem Junitage
+des Jahres 1871 endet sie, an dem durch das
+Brandenburger Tor die aus Frankreich heimkehrenden,
+kranzgeschm&uuml;ckten Truppen umjubelt einzogen. Stimmungen
+von altv&auml;terischem Reiz begleiten diesen zarten und
+r&uuml;hrenden Roman eines Frauenherzens. Den Zusammenbruch
+eines Bankhauses in der J&auml;gerstra&szlig;e, dessen Inhaber
+elegant und frivol ist wie die Bankiers des
+napoleonischen Paris, schildern die st&auml;rksten Kapitel.
+Sie bringen in diese Welt der b&uuml;rgerlichen Sparsamkeit
+etwas wie eine erste Vorahnung der Gr&uuml;nderjahre.
+<br /><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>Candida</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Albert von Trentini</h4>
+<p><br />
+Das neue Werk Trentinis hat ein Motiv von gro&szlig;er
+K&uuml;hnheit: die Zerst&ouml;rung einer gl&uuml;henden Leidenschaft
+durch einen Unfall, der das Antlitz der Geliebten j&auml;h
+entstellt. In einer Sprache voll feierlichen Glanzes
+gibt der junge &ouml;sterreichische Dichter den Kampf zweier
+Menschen wieder, des Mannes, dessen Gef&uuml;hl erstarrt,
+der Frau, die stolz und einsam dem selbstgewollten
+Schicksal entgegenschreitet, bis &uuml;ber Stolz und
+Einsamkeit die zitternde Liebe der Seelen triumphiert.
+Rom, seine G&auml;rten und Tempel, die nachtdunkle
+Steinw&uuml;ste des Kolosseums sind der Schauplatz des
+ersten Teils; in der unber&uuml;hrten Natur der Tiroler
+Alpen, in Berlin und M&uuml;nchen geht die Handlung zu Ende.
+</p></td></tr>
+<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_412" id="Page_412">[412]</a></span></p>
+
+<div>
+<table border="1" cellpadding="20">
+<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein &amp; Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr>
+<tr><td>
+<p><br /></p>
+<h3>Sch&uuml;sse vor Warschau</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Christian Bouchholtz</h4>
+<p><br />
+Der wei&szlig;e polnische Winter ist in diesem Roman eines
+jungen Berliner Schriftstellers, der als Kanonier an
+der Bzura lag, einen Tagemarsch vor Warschau, und bei
+Brochow, Chopins Geburtsort. In kecken Skizzen malt er
+die Stra&szlig;en von Lowicz, die Typen des polnischen
+Bauernvolks, die rohgezimmerten Panjeh&uuml;tten, die
+dumpfen Stuben mit der goldgl&auml;nzenden, schwarzen
+Madonna von Czenstochau, B&auml;uerinnen und Burschen, die
+den Krakowiak tanzen, den Brand einer zerschossenen
+Zuckerfabrik. Ein Spionagefall ist das erregende Moment
+der Handlung und tr&auml;gt in sie die Gegenwart von Verrat
+und Tod. Eine M&auml;dchenfigur, sch&ouml;n, k&uuml;nstlich,
+lasterhaft, steht mitten in dieser romantischen
+Atmosph&auml;re des Werkes.
+<br /><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>Vari&eacute;t&eacute;</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Joachim Delbr&uuml;ck</h4>
+<p><br />
+Ein Kenner des Vari&eacute;t&eacute;s, seines Glanzes und seiner
+Not, seines internationalen Marktes, seiner
+unerbittlich harten Auslese, seiner tragischen und
+seiner grotesken Z&uuml;ge, hat diesen Roman verfa&szlig;t. Doch
+nicht die &uuml;berraschend wahre Darstellung des
+Artistentums ist das Entscheidende, sondern die
+k&uuml;nstlerische Note des Werkes. Ein impressionistisches
+Gem&auml;lde von starkem Farbenreiz wird alles, was Joachim
+Delbr&uuml;ck schildert: die lichtstrotzende Rampe der
+Skala, eine goldflimmernde Akrobatentruppe, d&auml;nische
+Garde in Scharlachrot, Kopenhagens Freiluftstimmungen
+aus silbergrauer Herbstzeit. Die Seele vieler St&auml;dte
+ist in Delbr&uuml;cks feinem und buntem Roman, mit dem eine
+neue, pers&ouml;nliche Begabung sich durchsetzt.
+</p></td></tr>
+<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_413" id="Page_413">[413]</a></span></p>
+
+<div>
+<table border="1" cellpadding="20">
+<tr><td><h2><i>Verlag Ullstein &amp; Co, Berlin-Wien</i></h2></td></tr>
+<tr><td>
+<p><br /></p>
+<h3>Das Reich von morgen</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Karl Figdor</h4>
+<p><br />
+Der Roman von Karl Figdor ist ein farbiges und
+spannendes Werk, das der erz&auml;hlenden Literatur Neuland
+erobert. Nach Mesopotamien f&uuml;hrt er, dem zukunftsvollen
+Gebiet zwischen den beiden Riesenstr&ouml;men, und an die
+Strecke der deutschen Bagdadbahn. Ein deutscher
+Ingenieur, Sektionsleiter beim Bau der Br&uuml;cke von
+Dscherablus, und ein blondes deutsches M&auml;dchen, deren
+Schicksal nach einer gro&szlig;en Lebenskrise vereinigt wird,
+stehen im Vordergrund des Romans. Der H&ouml;hepunkt des
+ersten Teiles ist die dramatische Schilderung einer
+Meuterei arabischer und kurdischer Arbeiter. Dann tr&auml;gt
+die Handlung mitten hinein in die Tage des Krieges,
+zur&uuml;ck nach Berlin, zur&uuml;ck in die deutsche Heimat.
+<br /><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>Die neuen Weiber von Weinsberg</h3>
+<p><br /></p>
+<h4>von Karin Michaelis</h4>
+<p><br />
+Aus inniger Liebe zu unserem Volke ist dieses Werk der
+D&auml;nin Karin Michaelis geboren. Deutschlands und
+&Ouml;sterreichs Antlitz im Frieden l&auml;&szlig;t es uns schauen, in
+den Jahren des Gl&uuml;ckes, und zeigt es uns verwandelt in
+schwerer Kriegszeit. Mit einem Wahrheitsmut, der ihr
+tiefe Dankbarkeit sichert, stellt Karin Michaelis
+unsere und unserer Bundesgenossen Leistung dar. Mit
+schwesterlichem Gef&uuml;hl, jubelnd und klagend,
+verherrlicht sie die Willensmacht, die duldende und
+hoffende Gr&ouml;&szlig;e der deutschen Frauen. Voll zarter und
+gewaltiger Stimmungen ist dieser Roman, der als ein
+dichterisches Zeugnis f&uuml;r die Reinheit des deutschen
+Wesens &uuml;ber unsere Tage hinaus dauern wird.
+</p></td></tr>
+<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_414" id="Page_414">[414]</a></span></p>
+
+<div>
+<table border="1" cellpadding="12" width="100%">
+<tr><td><h2>Romane aus dem Verlag Ullstein &amp; Co</h2></td></tr>
+<tr><td>
+<p><br /></p>
+<p class="center">Auf eigener Erde von <i>Max Dreyer</i><br />
+*<br />
+Die Spur des Ersten von <i>Fedor von Zobeltitz</i><br />
+*<br />
+Fasching von <i>Paul Oskar H&ouml;cker</i><br />
+*<br />
+Der Eid des Stephan Huller von <i>Felix Hollaender</i><br />
+*<br />
+Ein Augenblick im Paradies von <i>Ida Boy-Ed</i><br />
+*<br />
+Die Streiche der schlimmen Paulette<br />
+von <i>Karl Hans Strobl</i><br />
+*<br />
+Pantherk&auml;tzchen von <i>Marie Madeleine</i><br />
+*<br />
+Das Bataillon Sporck von <i>Richard Skowronnek</i><br />
+*<br />
+Kleine Mama von <i>Paul Oskar H&ouml;cker</i><br />
+*<br />
+Zu Befehl! von <i>Heinz Tovote</i><br />
+*<br />
+Eine Frau wie du! von <i>Ida Boy-Ed</i><br />
+*<br />
+Peter Vo&szlig;, der Millionendieb<br />
+von <i>Ewald Gerhard Seeliger</i><br />
+*<br />
+Der Katzentisch von <i>Viktor von Kohlenegg</i><br />
+*<br />
+Die Gl&uuml;cksfalle von <i>Fedor von Zobeltitz</i><br />
+*<br />
+Die Meisterin von Europa von <i>Paul Oskar H&ouml;cker</i><br />
+*<br />
+Die Belowsche Ede von <i>Georgh Hirschfeld</i><br />
+</p></td></tr>
+<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_415" id="Page_415">[415]</a></span></p>
+
+<div>
+<table border="1" cellpadding="12" width="100%">
+<tr><td><h2>Romane aus dem Verlag Ullstein &amp; Co</h2></td></tr>
+<tr><td>
+<p><br /></p>
+<p class="center">Tschun von <i>Elisabeth von Heyking</i><br />
+*<br />
+Das Geschlecht der Schelme von<i> Fedor von Zobeltitz</i><br />
+*<br />
+Die Sieger von <i>Felix Philippi</i><br />
+*<br />
+Moj von <i>Hans von Hoffensthal</i><br />
+*<br />
+Der R&auml;cher von <i>Stefan Zeromski</i><br />
+*<br />
+Vor der Ehe von <i>Ida Boy-Ed</i><br />
+*<br />
+Der heilige Ha&szlig; von <i>Richard Vo&szlig;</i><br />
+*<br />
+Die klingende Schelle von <i>Felix Salten</i><br />
+*<br />
+Die junge Exzellenz von <i>Paul Oskar H&ouml;cker</i><br />
+*<br />
+Die Treppe von <i>Viktor von Kohlenegg</i><br />
+*<br />
+Blockade von <i>Meta Schoepp</i><br />
+*<br />
+Der gew&uuml;rzige Hund von <i>Helene B&ouml;hlau</i><br />
+*<br />
+Ein Kriegsurlaub<br />
+von <i>Friedrich Werner van Dest&eacute;ren</i><br />
+*<br />
+Das Buch der Liebe von <i>Marie Eugenie delle Grazie</i><br />
+*<br />
+Das Tor der W&uuml;nsche von<i> Friedel Merzenich</i><br />
+*<br />
+Frauenschneider Gutschmidt von <i>Otto von Gottberg</i><br />
+</p></td></tr>
+<tr><td><h2><i>Jeder Band 3 Mark</i></h2></td></tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p><span class='pagenum'><a name="Page_416" id="Page_416">[416]</a></span></p>
+
+<div class="footnotes">
+<p>ANMERKUNGEN ZUR TRANSKRIPTION</p>
+
+<div class="comment"><p>Stellen im Text, die im Original gesperrt gedruckt sind, werden hier <i>kursiv</i> dargestellt.</p></div>
+
+<div class="comment"><p>Stellen im Text, die im Original nicht in Fraktur, sondern in Antigua gedruckt sind, werden hier <tt>nicht-proportional</tt> dargestellt.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_TN1_1" id="Footnote_TN1_1"></a><a href="#FNanchor_TN1_1"><span class="label">[TN1]</span></a> Korrektur des Originals, im Original ist hier abwendetete
+zu finden</p></div>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der Fall Deruga, by Ricarda Huch
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FALL DERUGA ***
+
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+Produced by Ralph Janke, Markus Brenner and the Online
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+
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+*** START: FULL LICENSE ***
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+works. See paragraph 1.E below.
+
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+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
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+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
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+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
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+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
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+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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+
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+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
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+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
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+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
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+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
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+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
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+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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