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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 04:50:24 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Die griechische Tänzerin
+ und andere Novellen
+
+Author: Arthur Schnitzler
+
+Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Die griechische Tänzerin ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+
+
+
+
+ Die griechische Tänzerin
+
+ und andere Novellen
+ von
+ Arthur Schnitzler
+
+
+S. Fischer, Verlag, Berlin
+
+
+Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung
+Copyright S. Fischer, Verlag
+
+
+
+Inhalt
+
+
+Der blinde Geronimo und sein Bruder ....... 7
+
+Die Toten schweigen ...................... 53
+
+Die Weissagung ........................... 85
+
+Das neue Lied ........................... 128
+
+Die griechische Tänzerin ................ 157
+
+
+
+
+Der blinde Geronimo und sein Bruder
+
+
+Der blinde Geronimo stand von der Bank auf und nahm die Gitarre zur
+Hand, die auf dem Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. Er hatte
+das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen. Nun tastete er sich den
+wohlbekannten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die
+schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten Hofraum
+hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich
+neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand gekehrt, um gegen den
+naßkalten Wind geschützt zu sein, der über den feuchtschmutzigen Boden
+durch die offenen Tore strich.
+
+Unter dem düsteren Bogen des alten Wirtshauses mußten alle Wagen
+passieren, die den Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die Reisenden,
+welche von Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast vor
+der Höhe. Zu langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade hier lief
+die Straße ziemlich eben, ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen
+hin. Der blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in den
+Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.
+
+Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere Wagen. Die meisten
+Reisenden blieben sitzen, in Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere
+stiegen aus und spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her.
+Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab.
+Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst plötzlich und allzu früh
+hereinzubrechen.
+
+Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der Gitarre; er sang mit
+einer ungleichmäßigen, manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie
+immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf wie mit
+einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach oben. Aber die Züge seines
+Gesichtes mit den schwarzen Bartstoppeln und den bläulichen Lippen
+blieben vollkommen unbeweglich. Der ältere Bruder stand neben ihm,
+beinahe regungslos. Wenn ihm jemand eine Münze in den Hut fallen ließ,
+nickte er Dank und sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick
+ins Gesicht. Aber gleich, beinahe ängstlich, wandte er den Blick wieder
+fort und starrte gleich dem Bruder ins Leere. Es war, als schämten sich
+seine Augen des Lichts, das ihnen gewährt war, und von dem sie dem
+blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten.
+
+»Bring mir Wein,« sagte Geronimo, und Carlo ging, gehorsam wie immer.
+Während er die Stufen aufwärts schritt, begann Geronimo wieder zu
+singen. Er hörte längst nicht mehr auf seine eigene Stimme, und so
+konnte er auf das merken, was in seiner Nähe vorging. Jetzt vernahm er
+ganz nahe zwei flüsternde Stimmen, die eines jungen Mannes und einer
+jungen Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen Weg hin
+und her gegangen sein mochten; denn in seiner Blindheit und in seinem
+Rausch war ihm manchmal, als kämen Tag für Tag dieselben Menschen über
+das Joch gewandert, bald von Norden gegen Süden, bald von Süden gegen
+Norden. Und so kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit.
+
+Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas Wein. Der Blinde schwenkte
+es dem jungen Paare zu und sagte: »Ihr Wohl, meine Herrschaften!«
+
+»Danke,« sagte der junge Mann; aber die junge Frau zog ihn fort, denn
+ihr war dieser Blinde unheimlich.
+
+Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich lärmenden Gesellschaft ein:
+Vater, Mutter, drei Kinder, eine Bonne.
+
+»Deutsche Familie,« sagte Geronimo leise zu Carlo.
+
+Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück, und jedes durfte das seine
+in den Hut des Bettlers werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum
+Dank. Der älteste Knabe sah dem Blinden mit ängstlicher Neugier ins
+Gesicht. Carlo betrachtete den Knaben. Er mußte, wie immer beim Anblick
+solcher Kinder, daran denken, daß Geronimo gerade so alt gewesen war,
+als das Unglück geschah, durch das er das Augenlicht verloren hatte.
+Denn er erinnerte sich jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig
+Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute klang ihm der grelle
+Kinderschrei ins Ohr, mit dem der kleine Geronimo auf den Rasen
+hingesunken war, noch heute sah er die Sonne auf der weißen Gartenmauer
+spielen und kringeln und hörte die Sonntagsglocken wieder, die gerade in
+jenem Augenblick getönt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen nach
+der Esche an der Mauer geschossen, und als er den Schrei hörte, dachte
+er gleich, daß er den kleinen Bruder verletzt haben mußte, der eben
+vorbeigelaufen war. Er ließ das Blasrohr aus den Händen gleiten, sprang
+durchs Fenster in den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder hin, der
+auf dem Grase lag, die Hände vors Gesicht geschlagen und jammerte. Über
+die rechte Wange und den Hals floß ihm Blut herunter. In derselben
+Minute kam der Vater vom Felde heim, durch die kleine Gartentür, und nun
+knieten beide ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn eilten herbei;
+die alte Vanetti war die erste, der es gelang, dem Kleinen die Hände
+vom Gesicht zu entfernen. Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo
+damals in der Lehre war und der sich ein bißchen aufs Kurieren verstand;
+und der sah gleich, daß das rechte Auge verloren war. Der Arzt, der
+abends aus Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, er deutete
+schon die Gefahr an, in der das andere Auge schwebte. Und er behielt
+recht. Ein Jahr später war die Welt für Geronimo in Nacht versunken.
+Anfangs versuchte man ihm einzureden, daß er später geheilt werden
+könnte, und er schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit wußte,
+irrte damals tage- und nächtelang auf der Landstraße, zwischen den
+Weinbergen und in den Wäldern umher, und war nahe daran, sich
+umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem er sich anvertraute, klärte
+ihn auf, daß es seine Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu
+widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn
+er bei dem blinden Jungen war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine
+Stirne küssen durfte, ihm Geschichten erzählte, ihn auf den Feldern
+hinter dem Hause und zwischen den Rebengeländen spazieren führte,
+milderte sich seine Pein. Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der
+Schmiede vernachlässigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht trennen
+mochte, und konnte sich nachher nicht mehr entschließen, sein Handwerk
+wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines
+Tages fiel es Carlo auf, daß Geronimo vollkommen aufgehört hatte, von
+seinem Unglück zu reden. Bald wußte er, warum: der Blinde war zur
+Einsicht gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die Straßen, die
+Menschen, das Licht wieder sehen würde. Nun litt Carlo noch mehr als
+früher, so sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen suchte, daß er
+ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er
+am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er
+von einer solchen Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er in den
+Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten
+Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für
+immer erloschen war. Zu jener Zeit war es, daß Carlo auf den Einfall
+kam, Geronimo, der eine angenehme Stimme hatte, in der Musik weiter
+ausbilden zu lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal Sonntags
+herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte der Blinde
+freilich noch nicht, daß die neuerlernte Kunst einmal zu seinem
+Lebensunterhalt dienen würde.
+
+Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück für immer in das Haus
+des alten Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet ein Jahr nach
+dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde
+er von einem Verwandten betrogen; und als er an einem schwülen Augusttag
+auf freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, hinterließ er
+nichts als Schulden. Das kleine Anwesen wurde verkauft, die beiden
+Brüder waren obdachlos und arm und verließen das Dorf.
+
+Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. Damals begann das
+Bettel- und Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo
+daran gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich ihn und den
+Bruder ernähren könnte; aber es wollte nicht gelingen. Auch hatte
+Geronimo nirgend Ruhe; er wollte immer auf dem Wege sein.
+
+Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Straßen und Pässen herumzogen, im
+nördlichen Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der
+dichtere Zug der Reisenden vorüberströmte.
+
+Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht mehr die brennende Qual
+verspürte, mit der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der Anblick
+jeder freundlichen Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes
+nagendes Mitleid in ihm, beständig und ihm unbewußt, wie der Schlag
+seines Herzens und sein Atem. Und er war froh, wenn Geronimo sich
+betrank.
+
+Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. Carlo setzte
+sich, wie er gern tat, auf die untersten Stufen der Treppe, Geronimo
+aber blieb stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen und hielt den Kopf
+nach oben gewandt.
+
+Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube.
+
+»Habt’s viel verdient heut?« rief sie herunter.
+
+Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde bückte sich nach seinem Glas,
+hob es vom Boden auf und trank es Maria zu. Sie saß manchmal abends in
+der Wirtsstube neben ihm; er wußte auch, daß sie schön war.
+
+Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Straße hinaus. Der Wind
+blies, und der Regen prasselte, so daß das Rollen des nahenden Wagens in
+den heftigen Geräuschen unterging. Carlo stand auf und nahm wieder
+seinen Platz an des Bruders Seite ein.
+
+Geronimo begann zu singen, schon während der Wagen einfuhr, in dem nur
+ein Passagier saß. Der Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte
+er hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine Weile in seiner
+Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen grauen Regenmantel; er schien
+auf den Gesang gar nicht zu hören. Nach einer Weile aber sprang er aus
+dem Wagen und lief mit großer Hast hin und her, ohne sich weit vom Wagen
+zu entfernen. Er rieb immerfort die Hände aneinander, um sich zu
+erwärmen. Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken. Er stellte sich
+ihnen gegenüber und sah sie lange wie prüfend an. Carlo neigte leicht
+den Kopf, wie zum Gruße. Der Reisende war ein sehr junger Mensch mit
+einem hübschen, bartlosen Gesicht und unruhigen Augen. Nachdem er eine
+ganze Weile vor den Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore,
+durch das er weiterfahren sollte, und schüttelte bei dem trostlosen
+Ausblick in Regen und Nebel verdrießlich den Kopf.
+
+»Nun?« fragte Geronimo.
+
+»Noch nichts,« erwiderte Carlo. »Er wird wohl geben, wenn er fortfährt.«
+
+Der Reisende kam wieder zurück und lehnte sich an die Deichsel des
+Wagens. Der Blinde begann zu singen. Nun schien der junge Mann plötzlich
+mit großem Interesse zuzuhören. Der Knecht erschien und spannte die
+Pferde wieder ein. Und jetzt erst, als besänne er sich eben, griff der
+junge Mann in die Tasche und gab Carlo einen Frank.
+
+»O danke, danke,« sagte dieser.
+
+Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte sich wieder in
+seinen Mantel. Carlo nahm das Glas vom Boden auf und ging die Holzstufen
+hinauf. Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum Wagen heraus
+und schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Überlegenheit und
+Traurigkeit zugleich. Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er
+lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum zwei Schritte weit von
+ihm stand: »Wie heißt du?«
+
+»Geronimo.«
+
+»Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.« In diesem Augenblick
+erschien der Kutscher auf der obersten Stufe der Treppe.
+
+»Wieso, gnädiger Herr, betrügen?«
+
+»Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankstück gegeben.«
+
+»O Herr, Dank, Dank!«
+
+»Ja; also paß auf.«
+
+»Er ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich nicht.«
+
+Der junge Mann stutzte eine Weile, aber während er noch überlegte, war
+der Kutscher auf den Bock gestiegen und hatte die Pferde angetrieben.
+Der junge Mann lehnte sich zurück mit einer Bewegung des Kopfes, als
+wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen Lauf! und der Wagen fuhr davon.
+
+Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte Gebärden des Dankes nach.
+Jetzt hörte er Carlo, der eben aus der Wirtsstube kam. Der rief
+herunter: »Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat Feuer
+gemacht!«
+
+Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm und tastete sich am
+Geländer die Stufen hinauf. Auf der Treppe schon rief er: »Laß es mich
+anfühlen! Wie lang hab ich schon kein Goldstück angefühlt!«
+
+»Was gibt’s?« fragte Carlo. »Was redest du da?«
+
+Geronimo war oben und griff mit beiden Händen nach dem Kopf seines
+Bruders, ein Zeichen, mit dem er stets Freude oder Zärtlichkeit
+auszudrücken pflegte. »Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute
+Menschen!«
+
+»Gewiß,« sagte Carlo. »Bis jetzt sind es zwei Lire und dreißig
+Zentesimi; und hier ist noch österreichisches Geld, vielleicht eine
+halbe Lira.«
+
+»Und zwanzig Franken – und zwanzig Franken!« rief Geronimo. »Ich weiß es
+ja!« Er torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf die Bank.
+
+»Was weißt du?« fragte Carlo.
+
+»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! Wie lang hab ich schon
+kein Goldstück in der Hand gehabt!«
+
+»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück nehmen? Es sind zwei
+Lire oder drei.«
+
+Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber genug, genug! Willst
+du es etwa vor mir verstecken?«
+
+Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert an. Er setzte sich neben
+ihn, rückte ganz nahe und faßte wie begütigend seinen Arm: »Ich
+verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es
+eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.«
+
+»Aber er hat mir’s doch gesagt!«
+
+»Wer?«
+
+»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.«
+
+»Wie? Ich versteh dich nicht!«
+
+»So hat er zu mir gesagt: ›Wie heißt du?‹ und dann: ›Gib acht, gib acht,
+laß dich nicht betrügen!‹«
+
+»Du mußt geträumt haben, Geronimo – das ist ja Unsinn!«
+
+»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre gut. ›Laß dich nicht
+betrügen; ich habe ihm ein Goldstück ...‹ – nein, so sagte er: ›Ich habe
+ihm ein Zwanzig-Frankstück gegeben.‹«
+
+Der Wirt kam herein. »Nun, was ist’s mit euch? Habt ihr das Geschäft
+aufgegeben? Ein Vierspänner ist gerade angefahren.«
+
+»Komm!« rief Carlo, »komm!«
+
+Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum soll ich kommen? Was hilft’s
+mir denn? Du stehst ja dabei und –«
+
+Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt hinunter!«
+
+Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. Aber auf den Stufen sagte er:
+»Wir reden noch, wir reden noch!«
+
+Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo plötzlich verrückt
+geworden? Denn, wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise
+hatte er noch nie gesprochen.
+
+In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei Engländer; Carlo lüftete den
+Hut vor ihnen, und der Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen
+und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: »Danke« und dann, wie
+vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt;
+er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei Engländern fuhr davon.
+
+Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. Geronimo setzte sich auf
+die Bank, Carlo blieb beim Ofen stehen.
+
+»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo.
+
+»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, wie ich dir gesagt habe.«
+Seine Stimme zitterte ein wenig.
+
+»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo.
+
+»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.«
+
+»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! Wenn einer sagt: ›Ich habe
+deinem Bruder zwanzig Franken gegeben,‹ so ist er wahnsinnig! – Eh, und
+warum hat er gesagt: ›Laß dich nicht betrügen‹ – eh?«
+
+»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber es gibt Menschen, die
+mit uns armen Leuten Späße machen ...«
+
+»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? – Ja, das hast du noch sagen müssen –
+darauf habe ich gewartet!« Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm
+stand.
+
+»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß er vor Bestürzung kaum
+sprechen konnte, »warum sollte ich ... wie kannst du glauben ...?«
+
+»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum ...?«
+
+»Geronimo, ich versichere dir, ich –«
+
+»Eh – und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... ich weiß ja, daß du
+jetzt lachst!«
+
+Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, Leut’ sind da!«
+
+Ganz mechanisch standen die Brüder auf und schritten die Stufen hinab.
+Zwei Wagen waren zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer
+mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo stand neben ihm,
+fassungslos. Was sollte er nur tun? Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie
+war das nur möglich? – Und er betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener
+Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der Seite. Es war ihm, als sähe
+er über diese Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort niemals
+gewahrt hatte.
+
+Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang weiter. Carlo wagte
+nicht, ihn zu unterbrechen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, er
+fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen von
+oben, und Maria rief: »Was singst denn noch immer? Von mir kriegst du ja
+doch nichts!«
+
+Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es klang, als wäre seine
+Stimme und die Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er wieder die
+Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er sich
+neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig: er
+mußte noch einmal versuchen, den Bruder aufzuklären.
+
+»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ... bedenk doch, Geronimo, wie
+kannst du glauben, daß ich –«
+
+Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen durch das Fenster in den
+grauen Nebel hinauszublicken. Carlo redete weiter: »Nun, er braucht ja
+nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt haben ... ja er
+hat sich geirrt ...« Aber er fühlte wohl, daß er selbst nicht glaubte,
+was er sagte.
+
+Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo redete weiter, mit
+plötzlicher Lebhaftigkeit: »Wozu sollte ich denn – du weißt doch, ich
+esse und trinke nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock
+kaufe, so weißt du’s doch ... wofür brauch ich denn so viel Geld? Was
+soll ich denn damit tun?«
+
+Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen hervor: »Lüg nicht, ich höre, wie
+du lügst!«
+
+»Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!« sagte Carlo erschrocken.
+
+»Eh! hast du ihr’s schon gegeben, ja? Oder bekommt sie’s erst nachher?«
+schrie Geronimo.
+
+»Maria?«
+
+»Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du Dieb!« Und als wollte er nicht
+mehr neben ihm am Tische sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den Bruder in
+die Seite.
+
+Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an, dann verließ er das
+Zimmer und ging über die Stiege in den Hof. Er schaute mit weit offenen
+Augen auf die Straße hinaus, die vor ihm in bräunlichen Nebel versank.
+Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte die Hände in die
+Hosentaschen und ging ins Freie. Es war ihm, als hätte ihn sein Bruder
+davongejagt. Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch immer
+nicht fassen. Was für ein Mensch mochte das gewesen sein? Einen Franken
+schenkt er her und sagt, es waren zwanzig! Er mußte doch irgendeinen
+Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in seiner Erinnerung, ob er
+sich nicht irgendwo jemanden zum Feind gemacht, der nun einen anderen
+hergeschickt hatte, um sich zu rächen ... Aber soweit er zurückdenken
+mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, nie irgendeinen ernsten Streit
+mit jemandem vorgehabt. Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes
+getan, als daß er in Höfen oder an Straßenrändern gestanden war mit dem
+Hut in der Hand ... War ihm vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers
+böse?... Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun gehabt ...
+die Kellnerin in La Rosa war die letzte gewesen, im vorigen Frühjahr ...
+aber um die war ihm gewiß niemand neidisch ... Es war nicht zu
+begreifen!... Was mochte es da draußen in der Welt, die er nicht kannte,
+für Menschen geben?... Von überallher kamen sie ... was wußte er von
+ihnen?... Für diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen Sinn gehabt, daß
+er zu Geronimo sagte: Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ...
+Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit einem Male war es offenbar
+geworden, daß Geronimo ihm mißtraute!... Das konnte er nicht ertragen!
+Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen ... Und er eilte zurück.
+
+Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo auf der Bank
+ausgestreckt und schien das Eintreten Carlos nicht zu bemerken. Maria
+brachte den beiden Essen und Trinken. Sie sprachen während der Mahlzeit
+kein Wort. Als Maria die Teller abräumte, lachte Geronimo plötzlich auf
+und sagte zu ihr: »Was wirst du dir denn dafür kaufen?«
+
+»Wofür denn?!«
+
+»Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?«
+
+»Was will er denn von mir?« wandte sie sich an Carlo.
+
+Indes dröhnte unten der Hof von lastenbeladenen Fuhrwerken, laute
+Stimmen tönten herauf und Maria eilte hinunter. Nach ein paar Minuten
+kamen drei Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der Wirt trat zu
+ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften über das schlechte Wetter.
+
+»Heute nacht werdet ihr Schnee haben,« sagte der eine.
+
+Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren Mitte August auf dem Joch
+eingeschneit und beinahe erfroren war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch
+der Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen Eltern, die unten
+in Bormio wohnten.
+
+Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden. Geronimo und Carlo gingen
+hinunter, Geronimo sang, Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden
+gaben ihr Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte manchmal:
+»Wieviel?« und nickte zu den Antworten Carlos leicht mit dem Kopfe.
+Indes versuchte Carlo selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte
+immer nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen und daß
+er ganz wehrlos war.
+
+Als die Brüder wieder die Stufen hinaufschritten, hörten sie die
+Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden und lachen. Der jüngste rief dem
+Geronimo entgegen: »Sing uns doch auch was vor, wir zahlen schon! –
+Nicht wahr?« wandte er sich an die anderen.
+
+Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein kam, sagte: »Fangt heut
+nichts mit ihm an, er ist schlechter Laune.«
+
+Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten ins Zimmer hin und
+fing an zu singen. Als er geendet, klatschten die Fuhrleute in die
+Hände.
+
+»Komm her, Carlo!« rief einer, »wir wollen dir unser Geld auch in den
+Hut werfen wie die Leute unten!« Und er nahm eine kleine Münze und hielt
+die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen, den ihm Carlo
+entgegenstreckte. Da griff der Blinde nach dem Arm des Fuhrmannes und
+sagte: »Lieber mir, lieber mir! Es könnte daneben fallen – daneben!«
+
+»Wieso daneben?«
+
+»Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!«
+
+Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo stand regungslos da.
+Nie hatte Geronimo solche Späße gemacht!...
+
+»Setz dich zu uns!« riefen die Fuhrleute. »Du bist ein lustiger Kerl!«
+Und sie rückten zusammen, um Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und
+wirrer war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit, lauter und
+lustiger als sonst, und hörte nicht auf zu trinken. Als Maria eben
+wieder hereinkam, wollte er sie an sich ziehen; da sagte der eine von
+den Fuhrleuten lachend: »Meinst du vielleicht, sie ist schön? Sie ist ja
+ein altes häßliches Weib!«
+
+Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß. »Ihr seid alle Dummköpfe,«
+sagte er. »Glaubt ihr, ich brauche meine Augen, um zu sehen? Ich weiß
+auch, wo Carlo jetzt ist – eh! – dort am Ofen steht er, hat die Hände in
+den Hosentaschen und lacht.«
+
+Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde am Ofen lehnte und nun
+wirklich das Gesicht zu einem Grinsen verzog, als dürfte er seinen
+Bruder nicht Lügen strafen.
+
+Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch vor Dunkelheit in Bormio
+sein wollten, mußten sie sich beeilen. Sie standen auf und
+verabschiedeten sich lärmend. Die beiden Brüder waren wieder allein in
+der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst manchmal zu schlafen
+pflegten. Das ganze Wirtshaus versank in Ruhe wie immer um diese Zeit
+der ersten Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem Tisch, schien
+zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und her, dann setzte er sich auf die
+Bank. Er war sehr müde. Es schien ihm, als wäre er in einem schweren
+Traum befangen. Er mußte an allerlei denken, an gestern, vorgestern und
+alle Tage, die früher waren, und besonders an warme Sommertage und an
+weiße Landstraßen, über die er mit seinem Bruder zu wandern pflegte, und
+alles war so weit und unbegreiflich, als wenn es nie wieder so sein
+könnte.
+
+Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol und bald darauf in kleinen
+Zwischenpausen Wagen, die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch
+viermal mußten die Brüder in den Hof hinab. Als sie das letztemal
+heraufgingen, war die Dämmerung hereingebrochen, und das Öllämpchen, das
+von der Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die in einem
+nahen Steinbruche beschäftigt waren und ein paar hundert Schritte
+unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo
+setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es war ihm,
+als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er hörte, wie Geronimo
+drüben laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er
+sich noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen
+gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, wie er auf dem Felde
+arbeitete, an den kleinen Garten mit der Esche an der Mauer, an das
+niedrige Häuschen, das ihnen gehörte, an die zwei kleinen Töchter des
+Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an sein eigenes
+Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Wie
+oft hatte Carlo das alles gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang
+anders als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen
+Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging
+wieder auf die Landstraße, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte
+aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo
+beinahe verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis
+hinein, sich am Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen,
+einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. – Plötzlich hörte er das Rollen
+eines Wagens und erblickte den Lichtschimmer von zwei Laternen, die
+immer näher kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, saßen zwei Herren.
+Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen Gesichte fuhr erschrocken
+zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel
+hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete den Hut. Der
+Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer
+Finsternis. Plötzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben
+machte ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er es keine Minute
+länger ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem
+dumpfen Sinnen die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem
+quälenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten ihn nach Hause.
+
+Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden Reisenden, die vorher
+an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an einem Tische
+sitzen und sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten kaum
+auf, als er eintrat.
+
+An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher unter den Arbeitern.
+
+»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt schon an der Tür. »Warum
+läßt du deinen Bruder allein?«
+
+»Was gibt’s denn?« fragte Carlo erschrocken.
+
+»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann’s ja egal sein, aber ihr solltet
+doch denken, daß bald wieder schlechtere Zeiten kommen.«
+
+Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am Arme. »Komm!« sagte er.
+
+»Was willst du?« schrie Geronimo.
+
+»Komm zu Bett,« sagte Carlo.
+
+»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich kann mit meinem Gelde
+tun, was ich will – eh! – alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr
+meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein blinder Mann! Aber
+es gibt Leute – es gibt gute Leute, die sagen mir: ›Ich habe deinem
+Bruder zwanzig Franken gegeben!‹«
+
+Die Arbeiter lachten auf.
+
+»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er zog den Bruder mit sich,
+schleppte ihn beinah die Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo
+sie ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie Geronimo: »Ja, nun ist
+es an den Tag gekommen, ja, nun weiß ich’s! Ah, wartet nur. Wo ist sie?
+Wo ist Maria? Oder legst du’s ihr in die Sparkassa? – Eh, ich singe für
+dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du – und du bist ein Dieb!« Er
+fiel auf den Strohsack hin.
+
+Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein; drüben stand die Tür
+zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses offen, und Maria richtete
+die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem Bruder und sah
+ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bläulichen Lippen, das
+feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre älter aussehend, als
+er war. Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das
+Mißtrauen des Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert haben,
+und nur der Anlaß, vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es
+auszusprechen. Und alles, was Carlo für ihn getan, war vergeblich
+gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens.
+Was sollte er nun tun? – Sollte er noch weiterhin Tag für Tag, wer weiß
+wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn
+betteln und keinen anderen Lohn dafür haben als Mißtrauen und Schimpf?
+Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde
+dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen,
+sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste. Dann mußte
+Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren,
+was es heißt, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und
+er selbst, was sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn
+er für sich allein war, konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht
+zum mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber während diese
+Gedanken durch seinen Kopf zogen, blieben seine Augen immer auf den
+Bruder geheftet. Und er sah ihn plötzlich vor sich, allein am Rande
+einer sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit den weit
+offenen, weißen Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden konnte,
+und mit den Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er
+fühlte, so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so
+hatte auch er niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die
+Liebe zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens war, und wußte zum
+ersten Male mit völliger Deutlichkeit, nur der Glaube, daß der Blinde
+diese Liebe erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so
+geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung nicht mit einem
+Male verzichten. Er fühlte, daß er den Bruder gerade so notwendig
+brauchte als der Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht
+verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden oder ein Mittel
+finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu
+überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen
+könnte! Wenn er dem Blinden morgen früh sagen könnte: »Ich habe es nur
+aufbewahrt, damit du’s nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir
+die Leute nicht stehlen« ... oder sonst irgend etwas ...
+
+Schritte näherten sich auf der Holztreppe; die Reisenden gingen zur
+Ruhe. Plötzlich durchzuckte seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen,
+den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu erzählen und sie um
+die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wußte auch gleich: das war
+vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht
+einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine
+blasse zusammengefahren war, als er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem
+Wagen aufgetaucht war.
+
+Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz finster im Zimmer.
+Jetzt hörte er, wie die Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten
+über die Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore
+geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die Treppe auf und ab, dann war
+es ganz still. Carlo hörte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald
+verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Träumen. Als er erwachte,
+war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster
+war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort mitten in dem
+undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues Viereck. Geronimo schlief noch
+immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte an den Tag,
+der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach diesem
+Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag, und
+Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er
+abends nicht mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden gegangen
+und hatte sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht hätten sie doch
+Erbarmen mit ihm gehabt. Und doch – vielleicht war es gut, daß er sie
+nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... Er setzte sich jäh auf und
+fühlte sein Herz klopfen. Er wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn
+abgewiesen hätten, so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben –
+so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann
+... Das, was ihm gegen seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren,
+war ja unmöglich, vollkommen unmöglich!... Die Tür drüben war versperrt
+– und überdies: sie konnten aufwachen ... Ja, dort – der graue
+leuchtende Fleck mitten im Dunkel war der neue Tag – – –
+
+Carlo stand auf, als zöge es ihn dorthin, und berührte mit der Stirn die
+kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... Um es
+zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unmöglich – und überdies war es
+ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für solche
+Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie würden ja gar
+nicht merken, daß sie ihnen fehlten ... Er ging zur Türe und öffnete sie
+leise. Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu erreichen,
+geschlossen. An einem Nagel im Pfosten hingen Kleidungsstücke. Carlo
+fuhr mit der Hand über sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der
+Tasche ließen, dann wäre das Leben sehr einfach, dann brauchte bald
+niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die Taschen waren leer. Nun, was
+blieb übrig? Wieder zurück ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab
+vielleicht doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen –
+eine weniger gefährliche und rechtlichere. Wenn er wirklich jedesmal
+einige Zentesimi von den Almosen zurückbehielte, bis er zwanzig Franken
+zusammengespart, und dann das Goldstück kaufte ... Aber wie lang konnte
+das dauern – Monate, vielleicht ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut hätte!
+Noch immer stand er auf dem Gang. Er blickte zur Tür hinüber ... Was war
+das für ein Streif, der senkrecht von oben auf den Fußboden fiel? War es
+möglich? Die Tür war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum staunte er
+denn darüber? Seit Monaten schon schloß die Tür nicht. Wozu auch? Er
+erinnerte sich: nur dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute
+geschlafen, zweimal Handwerksburschen und einmal ein Tourist, der sich
+den Fuß verletzt hatte. Die Tür schließt nicht – er braucht jetzt nur
+Mut – ja, und Glück! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, ist,
+daß die beiden aufwachen, und da kann er noch immer eine Ausrede finden.
+Er lugt durch den Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, daß er eben
+nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden Gestalten gewahren
+kann. Er horcht auf: sie atmen ruhig und gleichmäßig. Carlo öffnet die
+Tür leicht und tritt mit seinen nackten Füßen völlig geräuschlos ins
+Zimmer. Die beiden Betten stehen der Länge nach an der gleichen Wand dem
+Fenster gegenüber. In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo
+schleicht bis hin. Er fährt mit der Hand über die Fläche und fühlt ein
+Schlüsselbund, ein Federmesser, ein kleines Buch – weiter nichts ... Nun
+natürlich!... Daß er nur daran denken konnte, sie würden ihr Geld auf
+den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich wieder fort!... Und doch,
+vielleicht braucht es nur einen guten Griff und es ist geglückt ... Und
+er nähert sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel liegt etwas –
+er fühlt danach – es ist ein Revolver ... Carlo zuckt zusammen ... Ob er
+ihn nicht lieber gleich behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch
+den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn bemerkt ... Doch
+nein, er würde ja sagen: Es ist drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!...
+Und er läßt den Revolver liegen.
+
+Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem anderen Sessel unter
+den Wäschestücken ... Himmel! das ist sie ... das ist eine Börse – er
+hält sie in der Hand!... In diesem Moment hört er ein leises Krachen.
+Mit einer raschen Bewegung streckt er sich der Länge nach zu Füßen des
+Bettes hin ... Noch einmal dieses Krachen – ein schweres Aufatmen – ein
+Räuspern – dann wieder Stille, tiefe Stille. Carlo bleibt auf dem Boden
+liegen, die Börse in der Hand, und wartet. Es rührt sich nichts mehr.
+Schon fällt der Dämmer blaß ins Zimmer herein. Carlo wagt nicht
+aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden vorwärts bis zur Tür, die
+weit genug offen steht, um ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den
+Gang hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit einem tiefen
+Atemzug. Er öffnet die Börse; sie ist dreifach geteilt: links und rechts
+nur kleine Silberstücke. Nun öffnet Carlo den mittleren Teil, der durch
+einen Schieber nochmals verschlossen ist, und fühlt drei
+Zwanzigfrankenstücke. Einen Augenblick denkt er daran, zwei davon zu
+nehmen, aber rasch weist er diese Versuchung von sich, nimmt nur ein
+Goldstück heraus und schließt die Börse zu. Dann kniet er nieder, blickt
+durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder völlig still ist, und
+dann gibt er der Börse einen Stoß, so daß sie bis unter das zweite Bett
+gleitet. Wenn der Fremde aufwacht, wird er glauben müssen, daß sie vom
+Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich langsam. Da knarrt der
+Boden leise, und im gleichen Augenblick hört er eine Stimme von drinnen:
+»Was ist’s? Was gibt’s denn?« Carlo macht rasch zwei Schritte rückwärts,
+mit verhaltenem Atem, und gleitet in seine eigene Kammer. Er ist in
+Sicherheit und lauscht ... Noch einmal kracht drüben das Bett, und dann
+ist alles still. Zwischen seinen Fingern hält er das Goldstück. Es ist
+gelungen – gelungen! Er hat die zwanzig Franken, und er kann seinem
+Bruder sagen: ›Siehst du nun, daß ich kein Dieb bin!‹ Und sie werden
+sich noch heute auf die Wanderschaft machen – gegen den Süden zu, nach
+Bormio, dann weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ... nach Edole
+... nach Breno ... an den See von Iseo wie voriges Jahr ... Das wird
+durchaus nicht verdächtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum
+Wirt gesagt: »In ein paar Tagen gehen wir hinunter.«
+
+Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt in grauem Dämmer da. Ah,
+wenn Geronimo nur bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Frühe!
+Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen guten Morgen dem
+Wirt, dem Knecht und Maria auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn
+sie zwei Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es Geronimo
+sagen.
+
+Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an: »Geronimo!«
+
+»Nun, was gibt’s?« Und er stützt sich mit beiden Händen und setzt sich
+auf.
+
+»Geronimo, wir wollen aufstehen.«
+
+»Warum?« Und er richtet die toten Augen auf den Bruder. Carlo weiß, daß
+Geronimo sich jetzt des gestrigen Vorfalles besinnt, aber er weiß auch,
+daß der keine Silbe darüber reden wird, ehe er wieder betrunken ist.
+
+»Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird heuer nicht mehr
+besser; ich denke, wir gehen. Zu Mittag können wir in Boladore sein.«
+
+Geronimo erhob sich. Die Geräusche des erwachenden Hauses wurden
+vernehmbar. Unten im Hof sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf
+und begab sich hinunter. Er war immer früh wach und ging oft schon in
+der Dämmerung auf die Straße hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte:
+»Wir wollen Abschied nehmen.«
+
+»Ah, geht ihr schon heut?« fragte der Wirt.
+
+»Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im Hof steht, und der Wind
+zieht durch.«
+
+»Nun, grüß mir den Baldetti, wenn du nach Bormio hinunterkommst, und er
+soll nicht vergessen, mir das Öl zu schicken.«
+
+»Ja, ich will ihn grüßen. Im übrigen – das Nachtlager von heut.« Er
+griff in den Sack.
+
+»Laß sein, Carlo,« sagte der Wirt. »Die zwanzig Zentesimi schenk ich
+deinem Bruder; ich hab ihm ja auch zugehört. Guten Morgen.«
+
+»Dank,« sagte Carlo. »Im übrigen, so eilig haben wir’s nicht. Wir sehen
+dich noch, wenn du von den Hütten zurückkommst; Bormio bleibt am selben
+Fleck stehen, nicht wahr?« Er lachte und ging die Holzstufen hinauf.
+
+Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte: »Nun, ich bin bereit zu
+gehen.«
+
+»Gleich,« sagte Carlo.
+
+Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel des Raumes stand, nahm er
+ihre wenigen Habseligkeiten und packte sie in ein Bündel. Dann sagte er:
+»Ein schöner Tag, aber sehr kalt.«
+
+»Ich weiß,« sagte Geronimo. Beide verließen die Kammer.
+
+»Geh leise,« sagte Carlo, »hier schlafen die zwei, die gestern abend
+gekommen sind.« Behutsam schritten sie hinunter. »Der Wirt läßt dich
+grüßen,« sagte Carlo; »er hat uns die zwanzig Zentesimi für heut nacht
+geschenkt. Nun ist er bei den Hütten draußen und kommt erst in zwei
+Stunden wieder. Wir werden ihn ja im nächsten Jahre wiedersehen.«
+
+Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die Landstraße, die im
+Dämmerschein vor ihnen lag. Carlo ergriff den linken Arm seines
+Bruders, und beide schritten schweigend talabwärts. Schon nach kurzer
+Wanderung waren sie an der Stelle, wo die Straße in langgezogenen Kehren
+weiterzulaufen beginnt. Nebel stiegen nach aufwärts, ihnen entgegen, und
+über ihnen die Höhen schienen von den Wolken wie eingeschlungen. Und
+Carlo dachte: Nun will ich’s ihm sagen.
+
+Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das Goldstück aus der Tasche
+und reichte es dem Bruder; dieser nahm es zwischen die Finger der
+rechten Hand, dann führte er es an die Wange und an die Stirn, endlich
+nickte er. »Ich hab’s ja gewußt,« sagte er.
+
+»Nun ja,« erwiderte Carlo und sah Geronimo befremdet an.
+
+»Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt hätte, ich hätte es doch
+gewußt.«
+
+»Nun ja,« sagte Carlo ratlos. »Aber du verstehst doch, warum ich da oben
+vor den anderen – ich habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal – –
+Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab ich mir gedacht, daß
+du dir einen neuen Rock kaufst und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich;
+darum habe ich ...«
+
+Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« Und er strich mit der
+einen Hand über seinen Rock. »Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir
+nach dem Süden.«
+
+Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht zu freuen schien, daß
+er sich nicht entschuldigte. Und er redete weiter: »Geronimo, war es
+denn nicht recht von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun haben wir
+es doch, nicht wahr? Nun haben wir es ganz. Wenn ich dir’s oben gesagt
+hätte, wer weiß ... Oh, es ist gut, daß ich dir’s nicht gesagt habe –
+gewiß!«
+
+Da schrie Geronimo: »Hör auf zu lügen, Carlo, ich habe genug davon!«
+
+Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders los. »Ich lüge nicht.«
+
+»Ich weiß doch, daß du lügst!... Immer lügst du!... Schon hundertmal
+hast du gelogen!... Auch das hast du für dich behalten wollen, aber
+Angst hast du bekommen, das ist es!«
+
+Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er faßte wieder den Arm des
+Blinden und ging mit ihm weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach;
+aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger war.
+
+Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen sprach Geronimo: »Es
+wird warm.« Er sagte es gleichgültig, selbstverständlich, wie er es
+schon hundertmal gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: für
+Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo war er immer ein Dieb
+gewesen.
+
+»Hast du schon Hunger?« fragte er.
+
+Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse und Brot aus der
+Rocktasche und aß davon. Und sie gingen weiter.
+
+Die Post von Bormio begegnete ihnen; der Kutscher rief sie an: »Schon
+hinunter?« Dann kamen noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren.
+
+»Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im gleichen Augenblick, nach
+einer raschen Wendung, lag das Veltlin zu ihren Füßen.
+
+Wahrhaftig – nichts hat sich geändert, dachte Carlo ... Nun hab ich gar
+für ihn gestohlen – und auch das ist umsonst gewesen.
+
+Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, der Glanz der Sonne riß
+Löcher hinein. Und Carlo dachte: ›Vielleicht war es doch nicht klug, so
+rasch das Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter dem Bett, das
+ist jedenfalls verdächtig ...‹ Aber wie gleichgültig war das alles! Was
+konnte ihm noch Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das Licht der
+Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen und glaubte es schon
+jahrelang und wird es immer glauben – was konnte ihm noch Schlimmes
+geschehen?
+
+Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in Morgenglanz gebadet, und
+tiefer unten, wo das Tal sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das
+Dorf. Schweigend gingen die beiden weiter, und immer lag Carlos Hand auf
+dem Arm des Blinden. Sie gingen an dem Park des Hotels vorüber, und
+Carlo sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern sitzen und
+frühstücken. »Wo willst du rasten?« fragte Carlo.
+
+»Nun, im ›Adler‹, wie immer.«
+
+Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren,
+kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein
+geben.
+
+»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt.
+
+Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist’s denn so früh? Der
+zehnte oder elfte September – nicht?«
+
+»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.«
+
+»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht haben wir gefroren. Ja
+richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl
+hinaufzuschicken.«
+
+Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe
+befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen
+Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin,
+in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf.
+
+»Gehen wir schon?« fragte Geronimo.
+
+»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, im ›Hirschen‹ halten die
+Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.«
+
+Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden.
+»Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht’s da oben aus? Heut nacht hat
+es wohl geschneit?«
+
+»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte.
+
+Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen
+und Weinbergen, dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel war blau und
+still. ›Warum hab ich’s getan?‹ dachte Carlo. Er blickte den Blinden von
+der Seite an. ›Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat
+er es geglaubt – immer bin ich allein gewesen – und immer hat er mich
+gehaßt.‹ Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter,
+die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er
+die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die
+Sonne leuchtend auf allen Wegen lag.
+
+Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit
+setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an
+einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf.
+Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen
+hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf
+die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein.
+Es war ein Tag wie tausend andere.
+
+»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte
+sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war
+der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither
+kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen
+und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß
+es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete.
+Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam,
+erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai
+waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm
+zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte
+erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war.
+
+»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo.
+
+»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo.
+
+Nun waren sie an ihn herangekommen.
+
+»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen.
+
+»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide
+auf den Posten nach Boladore führen.«
+
+»Eh!« rief der Blinde.
+
+Carlo wurde blaß. ›Wie ist das nur möglich?‹ dachte er. ›Aber es kann
+sich nicht darauf beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht
+wissen.‹
+
+»Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm lachend, »es macht
+euch wohl nichts, wenn ihr mitgeht.«
+
+»Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.
+
+»O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie ist es denn möglich ...
+was sollen wir denn ... oder vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich
+weiß nicht ...«
+
+»Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. Was weiß ich.
+Jedenfalls haben wir die telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen,
+daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, dringend
+verdächtig, da oben den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun, es ist auch
+möglich, daß ihr unschuldig seid. Also vorwärts!«
+
+»Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.
+
+»Ich rede – o ja, ich rede ...«
+
+»Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, auf der Straße
+stehenzubleiben! Die Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an Ort und
+Stelle. Vorwärts!«
+
+Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, und so gingen sie langsam
+weiter, der Gendarm hinter ihnen.
+
+»Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo wieder.
+
+»Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? Es wird sich alles
+herausstellen; ich weiß selber nicht ...«
+
+Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich’s ihm erklären, eh wir vor
+Gericht stehen?... Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun,
+was tut’s. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit sagen. »Herr
+Richter,« werd ich sagen, »es ist doch kein Diebstahl wie ein anderer.
+Es war nämlich so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, um
+vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. »Da fuhr
+gestern ein Herr über den Paß ... es mag ein Irrsinniger gewesen sein –
+oder am End hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...«
+
+Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? ... Man wird ihn gar nicht
+so lange reden lassen. – Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ...
+nicht einmal Geronimo glaubt sie ... – Und er sah ihn von der Seite an.
+Der Kopf des Blinden bewegte sich nach alter Gewohnheit während des
+Gehens wie im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, und die
+leeren Augen stierten in die Luft. – Und Carlo wußte plötzlich, was für
+Gedanken hinter dieser Stirne liefen ... ›So also stehen die Dinge,‹
+mußte Geronimo wohl denken. – ›Carlo bestiehlt nicht nur mich, auch die
+anderen Leute bestiehlt er ... Nun, er hat es gut, er hat Augen, die
+sehen, und er nützt sie aus ...‹ – Ja, das denkt Geronimo, ganz gewiß
+... Und auch, daß man kein Geld bei mir finden wird, kann mir nicht
+helfen, – nicht vor Gericht, nicht vor Geronimo. Sie werden mich
+einsperren und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat ja das
+Geldstück. – Und er konnte nicht mehr weiter denken, er fühlte sich so
+sehr verwirrt. Es schien ihm, als verstünde er überhaupt nichts mehr von
+der ganzen Sache, und wußte nur eines: daß er sich gern auf ein Jahr in
+den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn, wenn nur Geronimo wüßte, daß
+er für ihn allein zum Dieb geworden war.
+
+Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß auch Carlo innehalten mußte.
+
+»Nun, was ist denn?« sagte der Gendarm ärgerlich. »Vorwärts, vorwärts!«
+Aber da sah er mit Verwunderung, daß der Blinde die Gitarre auf den
+Boden fallen ließ, seine Arme erhob und mit beiden Händen nach den
+Wangen des Bruders tastete. Dann näherte er seine Lippen dem Munde
+Carlos, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn.
+
+»Seid ihr verrückt?« fragte der Gendarm. »Vorwärts! vorwärts! Ich habe
+keine Lust zu braten.«
+
+Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne ein Wort zu sprechen. Carlo
+atmete tief auf und legte die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War
+es denn möglich? Der Bruder zürnte ihm nicht mehr? Er begriff am Ende –?
+Und zweifelnd sah er ihn von der Seite an.
+
+»Vorwärts!« schrie der Gendarm. »Wollt ihr endlich –!« Und er gab Carlo
+eins zwischen die Rippen.
+
+Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden leitend, ging wieder
+vorwärts. Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Denn er
+sah Geronimo lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit
+den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo lächelte
+auch. Ihm war, als könnte ihm jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, –
+weder vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. – Er hatte seinen
+Bruder wieder ... Nein, er hatte ihn zum erstenmal ...
+
+
+
+
+Die Toten schweigen
+
+
+Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und
+ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in
+dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, vom Winde bewegt,
+hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen; die Trottoire waren beinahe
+trocken; aber die ungepflasterten Fahrstraßen waren noch feucht, und an
+einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel gebildet.
+
+Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritt von
+der Praterstraße, in irgendeine ungarische Kleinstadt versetzt glauben
+kann. Immerhin – sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie
+keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen.
+
+Er sah auf die Uhr ... Sieben – und schon völlige Nacht. Der Herbst ist
+diesmal früh da. Und der verdammte Sturm.
+
+Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher auf und ab. Die
+Laternenfenster klirrten. »Noch eine halbe Stunde,« sagte er zu sich,
+»dann kann ich gehen. Ah – ich wollte beinahe, es wäre so weit.« Er
+blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide
+Straßen, von denen aus sie kommen könnte.
+
+Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er seinen Hut festhielt,
+der wegzufliegen drohte. – Freitag – Sitzung des Professorenkollegiums –
+da wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben ... Er hörte das
+Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann auch die Glocke von der nahen
+Nepomukkirche zu läuten. Die Straße wurde belebter. Es kamen mehr
+Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, Bedienstete aus den
+Geschäften, die um sieben geschlossen wurden. Alle gingen rasch und
+waren mit dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art von Kampf
+begriffen. Niemand beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädel blickten mit
+leichter Neugier zu ihm auf. – Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt
+rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne Wagen? dachte er. Ist
+sie’s?
+
+Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte sie ihre
+Schritte.
+
+»Du kommst zu Fuß?« sagte er.
+
+»Ich hab den Wagen schon beim Karltheater fortgeschickt. Ich glaube, ich
+bin schon einmal mit demselben Kutscher gefahren.«
+
+Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der
+junge Mann fixierte ihn scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch
+weiter. Die Dame sah ihm nach. »Wer war’s?!« fragte sie ängstlich.
+
+»Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, sei ganz ruhig. –
+Aber jetzt komm rasch; wir wollen einsteigen.«
+
+»Ist das dein Wagen?«
+
+»Ja.«
+
+»Ein offener?«
+
+»Vor einer Stunde war es noch so schön.«
+
+Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein.
+
+»Kutscher,« rief der junge Mann.
+
+»Wo ist er denn?« fragte die junge Frau.
+
+Franz schaute ringsumher. »Das ist unglaublich,« rief er, »der Kerl ist
+nicht zu sehen.«
+
+»Um Gotteswillen!« rief sie leise.
+
+»Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.«
+
+Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen Wirtshause; an einem Tisch
+mit ein paar anderen Leuten saß der Kutscher; jetzt stand er rasch auf.
+
+»Gleich, gnä’ Herr,« sagte er und trank stehend sein Glas Wein aus.
+
+»Was fällt Ihnen denn ein?«
+
+»Bitt schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.«
+
+Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. »Wohin fahr’n mer denn,
+Euer Gnaden?«
+
+»Prater – Lusthaus.«
+
+Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte ganz versteckt, beinahe
+zusammengekauert, in der Ecke unter dem aufgestellten Dach.
+
+Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. – »Willst du mir
+nicht wenigstens guten Abend sagen?«
+
+»Ich bitt dich; laß mich nur einen Moment, ich bin noch ganz atemlos.«
+
+Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide schwiegen eine Weile.
+Der Wagen war in die Praterstraße eingebogen, fuhr an dem
+Tegethoff-Monument vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die
+breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma plötzlich mit
+beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn
+noch von ihren Lippen trennte, und küßte sie.
+
+»Bin ich endlich bei dir!« sagte sie.
+
+»Weißt du denn, wie lang wir uns nicht gesehen haben?« rief er aus.
+
+»Seit Sonntag.«
+
+»Ja, und da auch nur von weitem.«
+
+»Wieso? Du warst ja bei uns.«
+
+»Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu euch komm ich
+überhaupt nie wieder. Aber was hast du denn?«
+
+»Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.«
+
+»Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater spazieren fahren, kümmern
+sich wahrhaftig nicht um uns.«
+
+»Das glaub ich schon. Aber zufällig kann einer hereinschaun.«
+
+»Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen.«
+
+»Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.«
+
+»Wie du willst.«
+
+Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören schien. Da beugte er sich
+vor und berührte ihn mit der Hand. Der Kutscher wandte sich um.
+
+»Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn so auf die Pferde ein?
+Wir haben ja gar keine Eile, hören Sie! Wir fahren in die ... wissen
+Sie, die Allee, die zur Reichsbrücke führt.«
+
+»Auf die Reichsstraßen?«
+
+»Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen Sinn.«
+
+»Bitt schön, gnä’ Herr, der Sturm, der macht die Rösser so wild.«
+
+»Ah freilich, der Sturm.« Franz setzte sich wieder.
+
+Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren zurück.
+
+»Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?« fragte sie.
+
+»Wie hätt’ ich denn können?«
+
+»Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester geladen.«
+
+»Ach so.«
+
+»Warum warst du nicht dort?«
+
+»Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter anderen Leuten zusammen
+zu sein. Nein, nie wieder.«
+
+Sie zuckte die Achseln.
+
+»Wo sind wir denn?« fragte sie dann.
+
+Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstraße ein.
+
+»Da geht’s zur großen Donau,« sagte Franz, »wir sind auf dem Weg zur
+Reichsbrücke. Hier gibt es keine Bekannten!« setzte er spöttisch hinzu.
+
+»Der Wagen schüttelt entsetzlich.«
+
+»Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.«
+
+»Warum fährt er so im Zickzack?«
+
+»Es scheint dir so.«
+
+Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger als nötig hin und her
+warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu
+machen.
+
+»Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma.«
+
+»Da mußt du bald anfangen, denn um neun muß ich zu Hause sein.«
+
+»In zwei Worten kann alles entschieden sein.«
+
+»Gott, was ist denn das?« ... schrie sie auf. Der Wagen war in ein
+Pferdebahngeleise geraten und machte jetzt, als der Kutscher
+herauswenden wollte, eine so scharfe Biegung, daß er fast zu stürzen
+drohte. Franz packte den Kutscher beim Mantel. »Halten Sie,« rief er ihm
+zu. »Sie sind ja betrunken.«
+
+Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. »Aber gnä’ Herr ...«
+
+»Komm, Emma, steigen wir hier aus.«
+
+»Wo sind wir?«
+
+»Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr gar so stürmisch.
+Gehen wir ein Stückchen. Man kann während des Fahrens nicht ordentlich
+reden.«
+
+Emma zog den Schleier herunter und folgte.
+
+»Nicht stürmisch nennst du das?« rief sie aus, als ihr gleich beim
+Aussteigen ein Windstoß entgegenfuhr.
+
+Er nahm ihren Arm. »Nachfahren,« rief er dem Kutscher zu.
+
+Sie spazierten vorwärts. Solang die Brücke allmählich anstieg, sprachen
+sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten,
+blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite
+Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne
+sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und
+sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die beiden eben verlassen
+hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war
+es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein
+ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen
+sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge
+mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich
+aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen.
+Der Donner verlor sich allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in
+plötzlichen Stößen.
+
+Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort.«
+
+»Freilich,« erwiderte Emma leise.
+
+»Wir sollten fort,« sagte Franz lebhaft, »ganz fort, mein ich ...«
+
+»Es geht ja nicht.«
+
+»Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.«
+
+»Und mein Kind?«
+
+»Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.«
+
+»Und wie?« fragte sie leise ... »Davonlaufen bei Nacht und Nebel?«
+
+»Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als ihm einfach zu sagen,
+daß du nicht länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst.«
+
+»Bist du bei Sinnen, Franz?«
+
+»Wenn du willst, erspar ich dir auch das, – ich sag es ihm selber.«
+
+»Das wirst du nicht tun, Franz.«
+
+Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit konnte er nicht mehr
+bemerken, als daß sie den Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte.
+
+Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Hab keine Angst, ich werde
+es nicht tun.«
+
+Sie näherten sich dem anderen Ufer.
+
+»Hörst du nichts?« sagte sie. »Was ist das?«
+
+»Es kommt von drüben,« sagte er.
+
+Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht
+schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, daß es von einer kleinen
+Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt
+war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob
+Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf
+dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben
+seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder
+nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter
+ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen
+das andere Ufer. Sie sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins
+Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die
+Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein.
+
+Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: »Also das letztemal ...«
+
+»Was?« fragte Emma in besorgtem Ton.
+
+»– Daß wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich sag dir adieu.«
+
+»Sprichst du im Ernst?«
+
+»Vollkommen.«
+
+»Siehst du, daß du es bist, der uns immer die paar Stunden verdirbt, die
+wir haben; nicht ich!«
+
+»Ja, ja, du hast recht,« sagte Franz. »Komm, fahren wir zurück.«
+
+Sie nahm seinen Arm fester. »Nein,« sagte sie zärtlich, »jetzt will ich
+nicht. Ich laß mich nicht so fortschicken.«
+
+Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. »Wohin kämen wir,« fragte
+sie dann, »wenn wir hier immer weiter führen?«
+
+»Da geht’s direkt nach Prag, mein Kind.«
+
+»So weit nicht,« sagte sie lächelnd, »aber noch ein bißchen weiter da
+hinaus, wenn du willst.« Sie wies ins Dunkle.
+
+»He, Kutscher!« rief Franz. Der hörte nichts.
+
+Franz schrie: »Halten Sie doch!«
+
+Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm nach. Jetzt sah er, daß der
+Kutscher schlief. Durch heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. »Wir
+fahren noch ein kleines Stück weiter – die gerade Straße – verstehen Sie
+mich?«
+
+»Is’ schon gut, gnä’ Herr ...«
+
+Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche
+drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin.
+Aber die beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen
+sie hin und her warf.
+
+»Ist das nicht auch ganz schön,« flüsterte Emma ganz nahe an seinem
+Munde.
+
+In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe
+– sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff
+ins Leere; es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender
+Geschwindigkeit im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen mußte –
+und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure
+schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig
+einsam wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: Geräusch von
+Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe auf den Boden schlugen, ein leises
+Wimmern; aber sehen konnte sie nichts. Jetzt faßte sie eine tolle Angst;
+sie schrie; ihre Angst ward noch größer, denn sie hörte ihr Schreien
+nicht. Sie wußte plötzlich ganz genau, was geschehen war: der Wagen war
+an irgend etwas gestoßen, wohl an einen der Meilensteine, hatte
+umgeworfen, und sie waren herausgestürzt. Wo ist _er?_ war ihr nächster
+Gedanke. Sie rief seinen Namen. Und sie hörte sich rufen, ganz leise
+zwar, aber sie hörte sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu
+erheben. Es gelang ihr so weit, daß sie auf den Boden zu sitzen kam, und
+als sie mit den Händen ausgriff, fühlte sie einen menschlichen Körper
+neben sich. Und nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge
+durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührte mit
+der ausgestreckten Hand sein Gesicht; sie fühlte etwas Feuchtes und
+Warmes darüber fließen. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da
+geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. Und der Kutscher – wo war
+er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem
+Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl sie Schmerzen in
+allen Gliedern fühlte. Was tu ich nur, was tu ich nur ... es ist doch
+nicht möglich, daß mir gar nichts geschehen ist. »Franz!« rief sie. Eine
+Stimme antwortete ganz in der Nähe: »Wo sind S’ denn, gnä’ Fräul’n, wo
+ist der gnä’ Herr? Es ist doch nix g’schehn? Warten S’, Fräulein, – i
+zünd nur die Latern an, daß wir was sehn; i weiß net, was die Krampen
+heut hab’n. Ich bin net Schuld, meiner Seel ... in ein Schoderhaufen
+sein s’ hinein, die verflixten Rösser.«
+
+Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh taten, vollkommen
+aufgerichtet, und daß dem Kutscher nichts geschehen war, machte sie ein
+wenig ruhiger. Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete und
+Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie auf das Licht. Sie wagte
+es nicht, Franz noch einmal zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag;
+sie dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; er hat
+gewiß die Augen offen ... es wird nichts sein.
+
+Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah plötzlich den Wagen, der
+aber zu ihrer Verwunderung nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief
+gegen den Straßengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad gebrochen.
+Die Pferde standen vollkommen still. Das Licht näherte sich; sie sah den
+Schein allmählich über einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den
+Graben gleiten; dann kroch er auf die Füße Franzens, glitt über seinen
+Körper, beleuchtete sein Gesicht und blieb darauf ruhen. Der Kutscher
+hatte die Laterne auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des
+Liegenden. Emma ließ sich auf die Knie nieder, und es war ihr, als hörte
+ihr Herz zu schlagen auf, wie sie das Gesicht erblickte. Es war blaß;
+die Augen halb offen, so daß sie nur das Weiße von ihnen sah. Von der
+rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut über die Wange und
+verlor sich unter dem Kragen am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne
+gebissen. »Es ist ja nicht möglich!« sagte Emma vor sich hin.
+
+Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte das Gesicht an. Dann
+packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn in die Höhe. »Was
+machen Sie?« schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak vor diesem
+Kopf, der sich selbständig aufzurichten schien.
+
+»Gnä’ Fräul’n, mir scheint, da ist ein großes Malheur geschehn.«
+
+»Es ist nicht wahr,« sagte Emma. »Es kann nicht sein. Ist denn Ihnen
+was geschehen? Und mir ...«
+
+Der Kutscher ließ den Kopf des Regungslosen wieder langsam sinken; – in
+den Schoß Emmas, die zitterte. »Wenn nur wer käm ... wenn nur die
+Bauersleut eine Viertelstund’ später daherkommen wären ...«
+
+»Was sollen wir denn machen?« sagte Emma mit bebenden Lippen.
+
+»Ja, Fräul’n, wenn der Wagen net brochen wär ... aber so, wie er jetzt
+zug’richt ist ... Wir müssen halt warten, bis wer kommt.« Er redete noch
+weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem war es ihr,
+als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war.
+
+»Wie weit ist’s bis zu den nächsten Häusern?« fragte sie.
+
+»Das ist nimmer weit, Fräul’n, da ist ja gleich das Franz Josefsland ...
+Wir müßten die Häuser sehen, wenn’s licht wär, in fünf Minuten müßte man
+dort sein.«
+
+»Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.«
+
+»Ja, Fräul’n, ich glaub schier, es ist g’scheiter, ich bleib mit Ihnen
+da – es kann ja nicht so lang dauern, bis wer kommt, es ist ja
+schließlich die Reichsstraße, und –«
+
+»Da wird’s zu spät, da kann’s zu spät werden. Wir brauchen einen
+Doktor.«
+
+Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, dann schaute er
+kopfschüttelnd Emma an.
+
+»Das können Sie nicht wissen,« – rief Emma, »und ich auch nicht.«
+
+»Ja, Fräul’n ... aber wo find’ i denn ein’ Doktor im Franz Josefsland?«
+
+»So soll von dort jemand in die Stadt und –«
+
+»Fräul’n, wissen’s was! I denk mir, die werden dort vielleicht ein
+Telephon haben. Da könnten wir um die Rettungsgesellschaft
+telephonieren.«
+
+»Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen Sie, um Himmels willen!
+Und Leute bringen Sie mit ... Und ... bitt’ Sie, gehen Sie nur, was tun
+Sie denn noch da?«
+
+Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun auf Emmas Schoß
+ruhte. »Rettungsgesellschaft, Doktor, wird nimmer viel nützen.«
+
+»Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!«
+
+»I geh schon – daß S’ nur nicht Angst kriegen, Fräul’n, da in der
+Finstern.« Und er eilte rasch über die Straße fort. »I kann nix dafür,
+meiner Seel,« murmelte er vor sich hin. »Ist auch eine Idee, mitten in
+der Nacht auf die Reichsstraßen ...«
+
+Emma war mit dem Regungslosen allein auf der dunklen Straße. »Was
+jetzt?« dachte sie. Es ist doch nicht möglich ... das ging ihr immer
+wieder durch den Kopf ... es ist ja nicht möglich. – Es war ihr
+plötzlich, als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich herab zu den
+blassen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch. Das Blut an Schläfe und
+Wangen schien getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die
+gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum glaube ich es denn nicht
+– es ist ja gewiß ... das ist der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie
+fühlte nur mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf meinem
+Schoß. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so daß er
+wieder auf den Boden zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl
+entsetzlicher Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den Kutscher
+weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was soll sie denn da auf der
+Landstraße mit dem toten Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ...
+Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie lang wird sie hier
+warten müssen? Und sie sah wieder den Toten an. Ich bin nicht allein mit
+ihm, fiel ihr ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre
+dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie danken müßte. Es war
+mehr Leben in dieser kleinen Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um
+sie; ja, es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen den
+blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf dem Boden lag ... Und sie
+sah in das Licht so lang, bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen
+begann. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte. Sie
+sprang auf! Das geht ja nicht, das ist ja unmöglich, man darf mich doch
+nicht hier mit ihm finden ... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst
+auf der Straße stehen, zu ihren Füßen den Toten und das Licht; und sie
+sah sich, als ragte sie in sonderbarer Größe in die Dunkelheit hinein.
+Worauf wart ich, dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf wart
+ich? Auf die Leute? – Was brauchen mich denn die? Die Leute werden
+kommen und fragen ... und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden
+fragen, wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. Kein Wort
+werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd ich. Kein Wort ... sie
+können mich ja nicht zwingen.
+
+Stimmen kamen von weitem.
+
+Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die Stimmen kamen von der
+Brücke her. Das konnten also nicht die Leute sein, die der Kutscher
+geholt hatte. Aber wer immer sie waren – jedenfalls werden sie das
+Licht bemerken – und das durfte nicht sein, dann war sie entdeckt.
+
+Und sie stieß mit dem Fuß die Laterne um. Die verlöschte. Nun stand sie
+in tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur
+der weiße Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen kamen näher. Sie
+begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um
+Himmels willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar
+nichts anderes kommt es an – sie ist ja verloren, wenn ein Mensch
+erfährt, daß sie die Geliebte von ... Sie faltet die Hände krampfhaft.
+Sie betet, daß die Leute auf der anderen Seite der Straße vorübergehen
+mögen, ohne sie zu bemerken. Sie lauscht. Ja von drüben ... Was reden
+sie doch?... Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt,
+denn sie reden etwas davon, sie kann Wörter unterscheiden. Ein Wagen ...
+umgefallen ... was sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie
+gehen weiter ... sie sind vorüber ... Gott sei Dank! Und jetzt, was
+jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie er? Er ist zu beneiden, für ihn
+ist alles vorüber ... für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine
+Furcht. Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, daß man sie hier
+finden, daß man sie fragen wird: wer sind Sie?... Daß sie mit auf die
+Polizei muß, daß alle Menschen es erfahren werden, daß ihr Mann – daß
+ihr Kind –
+
+Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden ist wie
+angewurzelt ... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich
+selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht einen Schritt ...
+Vorsichtig ... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... einen
+Schritt hinauf – o, er ist so seicht! – und noch zwei Schritte, bis sie
+in der Mitte der Straße ist ... und dann steht sie einen Augenblick
+still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein
+verfolgen. Dort – dort ist die Stadt. Sie kann nichts von ihr sehen ...
+aber die Richtung ist ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist
+ja gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut sehn; auch die
+Pferde ... und wenn sie sich sehr anstrengt, merkt sie auch etwas wie
+die Umrisse eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie
+reißt die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas hier zurück
+... der Tote ist es, der sie hier behalten will, und es graut sie vor
+seiner Macht ... Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt
+sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, und
+der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie ... geht
+rascher ... läuft ... und fort von da ... zurück ... in das Licht, in
+den Lärm, zu den Menschen! Die Straße läuft sie entlang, hält das Kleid
+hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr im Rücken, es ist, als wenn
+er sie vorwärts triebe. Sie weiß nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es
+ist ihr, als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müßte, der dort, weit
+hinter ihr, neben dem Straßengraben liegt ... dann fällt ihr ein, daß
+sie ja den Lebendigen entkommen will, die gleich dort sein und sie
+suchen werden. Was werden die denken? Wird man ihr nicht nach? Aber man
+kann sie nicht mehr einholen, sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat
+einen großen Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man kann ja
+nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann ahnen, wer die Frau war, die
+mit jenem Mann über die Reichsstraße gefahren ist. Der Kutscher kennt
+sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn er sie später einmal
+sieht. Man wird sich auch nicht darum kümmern, wer sie war. Wen geht es
+an? – Es ist sehr klug, daß sie nicht dort geblieben ist, es ist auch
+nicht gemein. Franz selbst hätte ihr recht gegeben. Sie muß ja nach
+Haus, sie hat ein Kind, sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn
+man sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. Da ist die
+Brücke, die Straße scheint heller ... ja schon hört sie das Wasser
+rauschen wie früher; sie ist da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen –
+wann – wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch nicht lange sein. Nicht
+lang? Vielleicht doch! Vielleicht war sie lange bewußtlos, vielleicht
+ist es längst Mitternacht, vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie
+wird daheim schon vermißt. Nein, nein, das ist ja nicht möglich, sie
+weiß, daß sie gar nicht bewußtlos war; sie erinnert sich jetzt genauer
+als im ersten Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und gleich über
+alles im klaren gewesen ist. Sie läuft über die Brücke und hört ihre
+Schritte hallen. Sie sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt
+sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt ihre Schritte. Wer
+kann das sein, der ihr entgegenkommt? Es ist jemand in Uniform. Sie geht
+ganz langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu merken, daß der
+Mann den Blick fest auf sie gerichtet hält. Wenn er sie fragt? Sie ist
+neben ihm, erkennt die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie geht
+an ihm vorüber. Sie hört, daß er hinter ihr stehen geblieben ist. Mit
+Mühe hält sie sich davon zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig.
+Sie geht noch immer so langsam wie früher. Sie hört das Geklingel der
+Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang nicht Mitternacht sein. Jetzt geht
+sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie
+schon unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Straße entgegenschimmern
+sieht, deren gedämpften Lärm sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese
+einsame Straße, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von weitem
+schrille Pfiffe, immer schriller, immer näher; ein Wagen saust an ihr
+vorüber. Unwillkürlich bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der
+Wagen der Rettungsgesellschaft. Sie weiß, wohin er fährt. Wie schnell!
+denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen Moment lang ist ihr, als müßte
+sie den Leuten nachrufen, als müßte sie mit, als müßte sie wieder dahin
+zurück, woher sie gekommen – einen Moment lang packt sie eine ungeheure
+Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiß, daß sie feig und
+schlecht gewesen ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner
+verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, und wie eine
+Gerettete eilt sie vorwärts. Leute kommen ihr entgegen; sie hat keine
+Angst mehr vor ihnen – das Schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt
+wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die
+Häuserzeile der Praterstraße, und es ist ihr, als werde sie dort von
+einer Flut von Menschen erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf.
+Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe,
+auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten vor neun. Sie hält die Uhr
+ans Ohr – sie ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin
+lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und er ... er ... tot ...
+Schicksal ... Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen ... als wäre nie
+irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es
+hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn
+es das Schicksal anders bestimmt hätte? – Und wenn sie jetzt dort im
+Graben läge und er am Leben geblieben wäre? Er wäre nicht geflohen, nein
+... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib – und sie hat
+ein Kind und einen Gatten. – Sie hat recht gehabt, – es ist ihre Pflicht
+– ja ihre Pflicht. Sie weiß ganz gut, daß sie nicht aus Pflichtgefühl so
+gehandelt ... Aber sie hat doch das Rechte getan. Unwillkürlich ... wie
+... gute Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. Jetzt würden die
+Ärzte sie fragen. Und Ihr Mann, gnädige Frau? O Gott!... Und die
+Zeitungen morgen – und die Familie – sie wäre für alle Zeit vernichtet
+gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben erwecken können. Ja, das war
+die Hauptsache; für nichts hätte sie sich zugrunde gerichtet. – Sie ist
+unter der Eisenbahnbrücke. – Weiter ... weiter ... Hier ist die
+Tegethoffsäule, wo die vielen Straßen ineinander laufen. Es sind heute,
+an dem regnerischen, windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien,
+aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig um sie, denn
+woher sie kommt, dort war die fürchterlichste Stille. Sie hat Zeit. Sie
+weiß, daß ihr Mann heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. – sie
+kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr ein, ihr Kleid zu
+betrachten. Mit Schrecken merkt sie, daß es über und über beschmutzt
+ist. Was wird sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch den Kopf,
+daß morgen die Geschichte von dem Unglücksfall in allen Zeitungen zu
+lesen sein wird. Auch von einer Frau, die mit im Wagen war, und die dann
+nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen stehen, und bei diesem
+Gedanken bebt sie von neuem – _eine_ Unvorsichtigkeit, und all ihre
+Feigheit war umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschlüssel bei sich; sie
+kann ja selbst aufsperren; – sie wird sich nicht hören lassen. Sie
+steigt rasch in einen Fiaker. Schon will sie ihm ihre Adresse angeben,
+da fällt ihr ein, daß das vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm
+irgendeinen Straßennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie durch die
+Praterstraße fährt, möchte sie gern irgend etwas empfinden, aber sie
+kann es nicht; sie fühlt, daß sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in
+Sicherheit sein. Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, da
+sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Straße liegen zu
+lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und
+jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich.
+Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie weiß ganz gewiß, es werden
+Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zugrunde
+gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen
+Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem
+Kinde zu sitzen. Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt durch
+die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, und ziemlich viele
+Menschen eilen vorbei. Da ist ihr plötzlich, als könne alles, was sie in
+den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein böser Traum
+erscheint es ihr ... unfaßbar als Wirkliches, Unabänderliches. In einer
+Seitengasse nach dem Ring läßt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt
+rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, dem sie ihre
+richtige Adresse angibt. Es kommt ihr vor, als wäre sie jetzt überhaupt
+nicht mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es
+ihr durch den Sinn. Sie schließt die Augen, und sie sieht ihn vor sich
+auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen – und plötzlich ist ihr, als
+sitze sie neben ihm und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu
+schwanken, und sie hat Angst, daß sie herausgeschleudert werde, wie
+damals – und sie schreit auf. Da hält der Wagen. Sie fährt zusammen; sie
+ist vor ihrem Haustor. – Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur, mit
+leisen Schritten, so daß der Portier hinter seinem Fenster gar nicht
+aufschaut, die Treppen hinauf, sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört
+zu werden ... durchs Vorzimmer in ihr Zimmer – es ist gelungen! Sie
+macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wohl im
+Schrank. Über Nacht sollen sie trocknen – morgen will sie sie selber
+bürsten und reinigen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt
+einen Schlafrock um.
+
+Jetzt klingelt es draußen. Sie hört das Stubenmädchen an die Wohnungstür
+kommen und öffnen. Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er
+den Stock hinstellt. Sie fühlt, daß sie jetzt stark sein müsse, sonst
+kann noch immer alles vergeblich gewesen sein. Sie eilt ins
+Speisezimmer, so daß sie im selben Augenblick eintritt wie ihr Gatte.
+
+»Ah, du bist schon zu Haus?« sagt er.
+
+»Gewiß,« antwortet sie, »schon lang.«
+
+»Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.« Sie lächelt, ohne sich dazu
+zwingen zu müssen. Es macht sie nur sehr müde, daß sie auch lächeln muß.
+Er küßt sie auf die Stirn.
+
+Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten müssen, ist
+eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offenen
+Buch ruht sein Gesicht. Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr
+gegenüber, nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick hinein.
+Dann legt er sie weg und sagt: »Die anderen sitzen noch zusammen und
+beraten weiter.«
+
+»Worüber?« fragt sie.
+
+Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen Sitzung, sehr lang, sehr
+viel. Emma tut, als höre sie zu, nickt zuweilen.
+
+Aber sie hört nichts, sie weiß nicht, was er spricht, es ist ihr zumute
+wie einem, der furchtbaren Gefahren auf wunderbare Weise entronnen ...
+sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr
+Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen,
+nimmt seinen Kopf und drückt ihn an ihre Brust. Eine unsägliche
+Müdigkeit überkommt sie – sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt,
+daß der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen.
+
+Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit
+dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr
+gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er ... Ach nein, es war kein
+Zweifel möglich ... Diese Augen ... dieser Mund – und dann ... kein
+Hauch von seinen Lippen. – Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle,
+wo sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen geübten Blick.
+Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er
+sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden
+... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn er am Ende fürchtet,
+sie sei verletzt ... wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie
+muß weiter weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, was dann?
+Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland
+mit Leuten ... er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich
+fortgegangen bin – und Franz wird ahnen. Franz wird wissen ... er kennt
+sie ja so gut ... er wird wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein
+gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um
+sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... und es wird ihn so tief
+erschüttern, daß sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, daß
+er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... feig
+und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Ärzte, Sie hätten sie
+gewiß nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht
+hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, o ja – nur hätte
+sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht
+gewesen ist, sag ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah!
+
+»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht.
+
+»Was ... wie?... Was ist?«
+
+»Ja, was ist dir denn?«
+
+»Nichts.« Sie drückt den Jungen fester an sich.
+
+Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß du begonnen hast,
+einzuschlummern und –«
+
+»Und?«
+
+»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.«
+
+»... So?«
+
+»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken hat. Hast du geträumt?«
+
+»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.«
+
+Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das
+lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes
+ist, und doch schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr wird,
+sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: dieses Lächeln wird,
+solange sie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien.
+Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie
+sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das
+Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken
+sich in die ihren. Sie weiß: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht,
+so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat
+ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit
+ihnen anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, sonst ist es
+vorbei, und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten,
+die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter
+und zärtlich an.
+
+Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirn fühlt, denkt
+sie: freilich ... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich
+nie rächen, nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und die
+Toten schweigen.
+
+»Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie
+erschrickt tief. »Was hab ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie
+plötzlich alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze Geschichte
+dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... und noch einmal fragt sie,
+während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab ich
+denn gesagt?«
+
+»Die Toten schweigen,« wiederholt ihr Mann sehr langsam.
+
+»Ja ...« sagt sie, »ja ...«
+
+Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann,
+und lange sehn die beiden einander an. »Bring den Buben zu Bett,« sagt
+er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen ...«
+
+»Ja,« sagt sie.
+
+Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im
+nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird.
+
+Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer
+die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe
+über sie, als würde vieles wieder gut ................
+
+
+
+
+Die Weissagung
+
+
+1
+
+Unweit von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im Walde wie versunken und von
+der Landstraße aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des
+Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit zehn Jahren als Arzt in
+Meran lebt und dem ich im Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit
+dem Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals fünfzig Jahre alt und
+dilettierte in mancherlei Künsten. Er komponierte ein wenig, war tüchtig
+auf Violine und Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten
+aber hatte er in früherer Zeit die Schauspielerei getrieben. Wie es
+hieß, war er als ganz junger Mensch unter angenommenem Namen ein paar
+Jahre lang auf kleinen Bühnen draußen im Reiche umhergezogen. Ob nun der
+dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende Begabung oder mangelndes
+Glück der Anlaß war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn früh
+genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche Verspätung in den Staatsdienst
+treten zu können und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den er
+dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn auch ohne Begeisterung
+erfüllte. Aber als er, kaum über vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode
+des Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit welcher Liebe
+er an dem Gegenstand seiner jugendlichen Träume noch immer hing. Er ließ
+die Villa auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen und
+versammelte dort, insbesondere zur Sommers- und Herbstzeit, einen
+allmählich immer größer werdenden Kreis von Herren und Damen, die
+allerlei leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder vorführten.
+Seine Frau, aus einer alten Tiroler Bürgerfamilie, ohne wirkliche
+Anteilnahme an künstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten mit
+kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah seiner Liebhaberei mit
+einigem Spotte zu, der sich aber um so gutmütiger anließ, als das
+Interesse des Freiherrn ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam.
+Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte strengen
+Beurteilern nicht gewählt genug erscheinen, aber auch Gäste, die sonst
+nach Geburt und Erziehung zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen
+keinerlei Anstoß an der zwanglosen Zusammensetzung eines Kreises, die
+durch die dort geübte Kunst genügend gerechtfertigt schien und von dem
+überdies der Name und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht
+freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen anderen, deren ich
+mich nicht mehr entsinne, begegnete ich auf dem Schlosse einem jungen
+Grafen von der Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier
+aus Riva, einem Generalstabshauptmann mit Frau und Tochter, einer
+Operettensängerin aus Berlin, einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei
+Söhnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von seiner Weltreise
+zurückgekommen war, einem pensionierten Hofschauspieler aus Bückeburg,
+einer verwitweten Gräfin Saima, die als junges Mädchen Schauspielerin
+gewesen war, mit ihrer Tochter, und dem dänischen Maler Petersen.
+
+Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten Gäste. Einige nahmen in
+Bozen Quartier, andere in einem bescheidenen Gasthof, der unten an der
+Wegscheide lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute abzweigte. Aber
+meist in den ersten Nachmittagsstunden war der ganze Kreis oben
+versammelt, und dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen
+Hofschauspielers, zuweilen unter der des Freiherrn, der selbst niemals
+mitwirkte, bis in die späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs
+unter Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer größerem Ernste,
+bis der Tag der Vorstellung herannahte, und je nach Witterung, Laune,
+Vorbereitung, möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung,
+entweder auf dem an den Wald grenzenden Wiesenplatz hinter dem
+Schloßgärtchen oder in dem ebenerdigen Saal mit den drei großen
+Bogenfenstern die Aufführung stattfand.
+
+Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte ich keinen anderen
+Vorsatz, als an einem neuen Ort unter neuen Menschen einen heiteren Tag
+zu verbringen. Aber wie das so kommt, wenn man ohne Ziel und in
+vollkommener Freiheit umherstreift, und überdies bei allmählich
+schwindender Jugend keinerlei Beziehungen bestehen, die lebhafter in die
+Heimat zurückrufen, ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem Bleiben
+bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei, drei und mehr, und so, zu meiner
+eignen Verwunderung wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem
+Schlößchen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr wohnlich
+ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins Tal eingeräumt war. Dieser erste
+Aufenthalt auf dem Guntschnaberg wird für mich stets eine angenehme und,
+trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich herum, sehr stille
+Erinnerung bleiben, da ich mit keinem der Gäste anders als flüchtig
+verkehrte und überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nachdenken und
+Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen Waldspaziergängen
+verbrachte. Auch der Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal
+eines meiner kleinen Stücke darstellen ließ, störte die Ruhe meines
+Aufenthaltes nicht, da niemand von meiner Eigenschaft als Verfasser
+Notiz nahm. Vielmehr bedeutete mir dieser Abend ein höchst anmutiges
+Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf grünem Rasen, unter freiem Himmel
+ein bescheidener Traum meiner Jugendjahre so spät als unerwartet in
+Erfüllung ging.
+
+Die lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich nach, der Urlaub der
+Herren, die in einem Berufe standen, war großenteils abgelaufen, und nur
+manchmal kam Besuch von Freunden, die in der Nähe ansässig waren. Erst
+jetzt gewann ich selbst zu dem Freiherrn ein näheres Verhältnis und fand
+bei ihm zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als sie
+Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte sich keineswegs
+darüber, daß das, was auf seinem Schlosse getrieben wurde, nichts
+anderes war, als eine höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm
+im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in eine dauernde und
+ernsthafte Beziehung zu seiner geliebten Kunst zu treten, so ließ er
+sich an dem Schimmer genügen, der wie aus entlegenen Fernen über das
+harmlose Theaterwesen im Schlosse geglänzt kam, und freute sich
+überdies, daß hier von mancher Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch
+überall mit sich bringt, kein Hauch zu spüren war.
+
+Auf einem unserer Spaziergänge sprach er ohne jede Zudringlichkeit den
+Einfall aus, einmal auf seiner Bühne im Freien ein Stück dargestellt zu
+sehen, das schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und auf die
+natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese Bemerkung kam einem Plan, den
+ich seit einiger Zeit in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem
+Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen.
+
+Bald darauf verließ ich das Schloß.
+
+In den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon sandte ich mit
+freundlichen Worten der Erinnerung an die schönen Tage des vergangenen
+Herbstes dem Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen der Gelegenheit
+wohl entsprechen mochte. Bald darauf traf die Antwort ein, die den Dank
+des Freiherrn und eine herzliche Einladung für den kommenden Herbst
+enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, und in den ersten
+Septembertagen bei einbrechender kühler Witterung reiste ich an den
+Gardasee, ohne daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des Freiherrn
+von Schottenegg recht nahe war. Ja mir ist heute, als hätte ich zu
+dieser Zeit das kleine Schloß und alles dortige Treiben völlig vergessen
+gehabt. Da erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben des
+Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes Erstaunen aus, daß ich
+nichts von mir hören ließe, und enthielt die Mitteilung, daß am 9.
+September die Aufführung des kleinen Stückes stattfände, das ich ihm im
+Frühling übersandt hatte und bei der ich keineswegs fehlen dürfte.
+Besonderes Vergnügen versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in
+dem Stück beschäftigt waren und die es sich jetzt schon nicht nehmen
+ließen, auch außerhalb der Probezeit in ihren zierlichen Kostümen
+umherzulaufen und auf dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle – so schrieb
+er weiter – sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten an seinen Neffen,
+Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, der – wie ich mich gewiß noch
+erinnere – im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern mitgewirkt
+habe, der aber nun auch als Schauspieler ein überraschendes Talent
+erweise.
+
+Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am Tage der Vorstellung im
+Schlosse an, wo mich der Freiherr und seine Frau freundlich empfingen.
+Auch andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den pensionierten
+Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit Tochter, Herrn von Umprecht und
+seine schöne Frau; sowie die vierzehnjährige Tochter des Försters, die
+zu meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den Nachmittag wurde
+große Gesellschaft erwartet und abends bei der Vorstellung sollten mehr
+als hundert Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste des
+Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend ringsum, denen heute, wie
+schon öfter, der Zugang zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war
+diesmal auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern einer
+Bozener Kapelle und einigen Dilettanten bestehend, die eine Ouvertüre
+von Weber und überdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren sollten, welch
+letztere der Freiherr selbst komponiert hatte.
+
+Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht schien mir etwas
+stiller als die anderen. Anfangs hatte ich mich seiner kaum entsinnen
+können, und es fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal mit
+Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je das Wort an mich zu
+richten. Allmählich wurde mir der Ausdruck seines Gesichtes bekannter,
+und plötzlich erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der
+lebenden Bilder mit aufgestützten Armen in Mönchstracht vor einem
+Schachbrett gesessen war. Ich fragte ihn, ob ich mich nicht irrte. Er
+wurde beinahe verlegen, als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete
+für ihn und machte dann eine lächelnde Bemerkung über das neuentdeckte
+schauspielerische Talent seines Neffen. Da lachte Herr von Umprecht in
+einer ziemlich sonderbaren Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen
+Blick zu mir herüber, der eine Art von Einverständnis zwischen uns
+beiden auszudrücken schien und den ich mir durchaus nicht erklären
+konnte. Aber von diesem Augenblick an vermied er es wieder, mich
+anzusehen.
+
+
+2
+
+Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Da stand
+ich wieder am offenen Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan,
+und freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das sonnenglänzende
+Tal, das, eng zu meinen Füßen, allmählich sich dehnte und in der Ferne
+sich völlig aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen.
+
+Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von Umprecht trat ein, blieb an
+der Tür stehen und sagte mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um
+Verzeihung, wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr fort: »Aber
+sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör geschenkt haben, davon bin ich
+überzeugt, werden Sie meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.«
+
+Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er achtete nicht darauf,
+sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten
+Art Ihr Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, Ihnen zu
+danken.«
+
+Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, als daß sich diese
+Worte des Herrn von Umprecht auf seine Rolle bezögen und sie mir
+allzuhöflich schienen, so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht
+unterbrach mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie meine Worte
+gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich anzuhören?« Er setzte sich auf
+das Fensterbrett, kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit
+so ruhig als möglich scheinend, begann er: »Ich bin jetzt Gutsbesitzer,
+wie Sie vielleicht wissen, bin aber früher Offizier gewesen. Und zu
+jener Zeit, vor zehn Jahren – _heute_ vor zehn Jahren – begegnete mir
+das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten ich gewissermaßen
+bis heute gelebt habe und das heute durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun
+seinen Abschluß findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein
+dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich so wenig werden
+aufklären können wie ich; aber Sie sollen wenigstens von seinem
+Vorhandensein erfahren. – Mein Regiment lag damals in einem öden
+polnischen Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem Dienst, der nicht
+immer anstrengend genug war, nur Trunk und Spiel. Überdies hatte man die
+Möglichkeit vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und nicht
+alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser trostlosen Aussicht mit
+Fassung zu tragen. Einer meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat
+unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer Kamerad, früher der
+liebenswürdigste Offizier, fing plötzlich an, ein arger Trinker zu
+werden, wurde unmanierlich, aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig und
+hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten, der ihn seine Charge
+kostete. Der Hauptmann meiner Kompanie war verheiratet und, ich weiß
+nicht, ob mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau eines
+Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb rätselhafterweise heil und
+gesund; der Mann starb im Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin
+ein sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete sich plötzlich
+ein, Philosophie zu verstehen, studierte Kant und Hegel und lernte ganze
+Partien aus deren Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich
+anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und zwar in einer so
+ungeheuerlichen Weise, daß ich an manchen Nachmittagen, wenn ich auf
+meinem Bette lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne lag
+außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig verstreuten Hütten
+bestand; die nächste Stadt, eine gute Reitstunde entfernt, war
+schmierig, widerwärtig, stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten
+wir manchmal mit ihnen zu tun – der Hotelier war ein Jude, der Cafetier,
+der Schuster desgleichen. Daß wir uns möglichst beleidigend gegen sie
+benahmen, das können Sie sich denken. Wir waren besonders gereizt gegen
+dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem Regiment als Major zugeteilt
+war, den Gruß der Juden – ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß ich
+nicht – mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte und überdies mit
+auffallender Absichtlichkeit unseren Regimentsarzt protegierte, der ganz
+offenbar von Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich nicht
+erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen
+Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die
+Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen berufen war. Es war ein
+Taschenspieler, und zwar der Sohn eines Branntweinjuden aus dem
+benachbarten polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in ein
+Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen und hatte einmal irgend
+jemandem einige Kartenkunststücke abgelernt. Er bildete sich auf eigene
+Faust weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien an und
+brachte es allmählich so weit, daß er in der Welt umherziehen und sich
+auf Varietébühnen oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im
+Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die Eltern zu besuchen. Dort
+trat er nie öffentlich auf, und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo
+er mir durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er war ein
+kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals etwa dreißig Jahre alt
+sein mochte, mit einer vollkommen lächerlichen Eleganz gekleidet, die
+zur Jahreszeit gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen Gehrock
+und mit gebügeltem Zylinder herum und trug Westen vom herrlichsten
+Brokat; bei starkem Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der
+Nase.
+
+Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn nach dem Abendessen im
+Kasino an unserem langen Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle
+Nacht, und die Fenster standen offen. Einige Kameraden hatten zu spielen
+begonnen, andere lehnten am Fenster und plauderten, wieder andere
+tranken und rauchten schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und
+meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren zuerst einigermaßen
+erstaunt. Aber ohne weiteres abzuwarten, trat der Gemeldete in guter
+Haltung ein und sprach in leichtem Jargon einige einleitende Worte, mit
+denen er sich für die an ihn ergangene Einladung bedankte. Er wandte
+sich dabei an den Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm – natürlich
+ausschließlich, um uns zu ärgern – die Hand schüttelte. Der
+Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich hin und bemerkte dann, er
+werde zuerst einige Kartenkunststücke zeigen, um sich hierauf im
+Magnetismus und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte kaum zu Ende
+gesprochen, als einige unserer Herren, die in einer Ecke beim
+Kartenspiel saßen, merkten, daß ihnen die Figuren fehlten: auf einen
+Wink des Zauberers kamen sie aber durch das geöffnete Fenster
+hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen ließ, unterhielten
+uns sehr und übertrafen so ziemlich alles, was ich auf diesem Gebiete
+gesehen hatte. Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen
+Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne Grauen sahen wir alle
+zu, wie der philosophische Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des
+Zauberers gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die glatte
+Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben knapp am Rand um das ganze
+Viereck herumeilte und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er
+wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, sagte der Oberst
+zu dem Zauberer: »Sie, wenn er sich den Hals gebrochen hätte, ich
+versichere Sie, Sie wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.« Nie
+werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, mit dem der Jude diese
+Bemerkung wortlos erwiderte. Dann sagte er langsam: »Soll ich Ihnen aus
+der Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig diese Kaserne
+verlassen werden?« Ich weiß nicht, was der Oberst oder wir anderen ihm
+auf diese verwegene Bemerkung sonst entgegnet hätten – aber die
+allgemeine Stimmung war schon so wirr und erregt, daß sich keiner
+wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler die Hand hinreichte und,
+dessen Jargon nachahmend, sagte: »Nu, lesen Sie.« Dies alles ging im Hof
+vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend mit ausgestreckten
+Armen wie ein Gekreuzigter an der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des
+Obersten ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. »Siehst du
+genug, Jud?« fragte ein Oberleutnant, der ziemlich betrunken war. Der
+Gefragte sah sich flüchtig um und sagte ernst: »Mein Künstlername ist
+Marco Polo.« Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter und
+sagte: »Mein Freund Marco Polo hat scharfe Augen.« – »Nun, was sehen
+Sie?« fragte der Oberst höflicher. »Muß ich reden?« fragte Marco Polo.
+»Wir können Sie nicht zwingen,« sagte der Prinz. »Reden Sie!« rief der
+Oberst. »Ich möcht lieber nicht reden,« erwiderte Marco Polo. Der Oberst
+lachte laut. »Nur heraus, es wird nicht so arg sein. Und wenn es arg
+ist, muß es auch noch nicht wahr sein.« – »Es ist sehr arg,« sagte der
+Zauberer, »und wahr ist es auch.« Alle schwiegen. »Nun?« fragte der
+Oberst. »Von Kälte werden Sie nichts mehr zu leiden haben,« erwiderte
+Marco Polo. »Wie?« rief der Oberst aus, »kommt unser Regiment also
+endlich nach Riva?« – »Vom Regiment les’ ich nichts, Herr Oberst. Ich
+seh nur, daß sie im Herbst sein werden ein toter Mann.« Der Oberst
+lachte, aber alle anderen schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war,
+als ob der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden wäre. Plötzlich
+lachte irgendeiner absichtlich sehr laut, andere taten ihm nach, und
+lärmend und lustig ging es zurück ins Kasino. »Nun,« rief der Oberst,
+»mit mir wär’s in Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?«
+Einer rief wie zum Scherz: »Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.« Ein
+anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal
+vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte,
+und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo
+auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren
+Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: »Wo fängt das
+Wunder an?« Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum
+Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte.
+»Prophezeien Sie mir.« Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann
+sagte er: »Hier sieht man schlecht.« Ich merkte, daß die Öllampen zu
+flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern
+schienen. »Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber
+bei Mondschein.« Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die
+offene Tür ins Freie.
+
+Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. »Hören Sie, Marco Polo,«
+sagte ich, »wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an
+unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir’s lieber.« Ohne
+weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. »Der Herr
+Leutnant haben Angst.« Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört
+hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und
+befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. »Ich wünsche
+etwas Bestimmteres zu wissen,« sagte ich, »das ist es. Worte lassen sich
+immer in verschiedener Weise auslegen.« Marco Polo sah mich an. »Was
+wünschen der Herr Leutnant?... Vielleicht das Bild von der künftigen
+Frau Gemahlin?« – »Könnten Sie das?« Marco Polo zuckte die Achseln. »Es
+könnte sein ... es wär möglich ...« – »Aber das will ich nicht,«
+unterbrach ich ihn. »Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel
+in zehn Jahren, mit mir los sein wird.« Marco Polo schüttelte den Kopf.
+»Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.« –
+»Was?« – »Irgendeinen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen
+Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.« Ich verstand ihn nicht
+gleich. »Wie meinen Sie das?« – »So mein ich das: ich kann einen Moment
+aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die
+Gegend, wo wir gerade stehen.« – »Wie?« – »Der Herr Leutnant müssen mir
+nur sagen, was für einen.« Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war
+höchst gespannt. »Gut,« sagte ich, »wenn Sie das können, so will ich
+sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen
+wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?« – »Gewiß, Herr Leutnant,«
+sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber
+auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen
+sehen – fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und
+mondbeglänzt gelegen waren – und ich sah mich selbst, wie man sich
+manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit
+einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre
+hingestreckt, mitten auf einer Wiese – an meiner Seite kniend eine
+schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und
+ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute
+mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen – nicht wahr, Sie staunen?«
+
+Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier schilderte, war genau
+das Bild, mit welchem mein Stück heute abend um zehn Uhr schließen und
+in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr
+Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu
+nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.«
+
+Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes
+Kuwert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las
+laut: »Notariell verschlossen am 14. Januar 1859, zu eröffnen am 9.
+September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich
+wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien.
+
+»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn
+Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das
+sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu
+Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten
+die Erfüllungsmöglichkeiten für jene Prophezeiung in der seltsamsten
+Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit zu werden,
+verschwanden in nichts, wurden zu unerbittlicher Gewißheit,
+verflatterten, kamen wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem
+Berichte zurückkommen. Die Erscheinung selbst hatte gewiß nicht länger
+gedauert als einen Augenblick; denn noch klang von der Kaserne her das
+gleiche laute Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich gehört
+hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. Und nun stand auch Marco
+Polo wieder vor mir, mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht
+sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, nahm den
+Zylinder ab, sagte: »Guten Abend, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie sind
+zufrieden gewesen,« wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße
+vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens am nächsten Tage
+abgereist.
+
+Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder zuging, war, daß es sich
+um eine Geistererscheinung gehandelt haben mußte, die Marco Polo,
+vielleicht von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittels
+irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande gewesen war. Als ich
+durch den Hof kam, sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer
+in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer lehnen. Man hatte seiner
+offenbar vollkommen vergessen. Die anderen hörte ich drin in der
+höchsten Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten beim Arm,
+er wachte sofort auf, war nicht im geringsten verwundert und konnte sich
+nur die Erregung nicht erklären, in welcher sich alle Herren des
+Regiments befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer Art von
+Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, die sich über die
+Seltsamkeiten, deren Zeugen wir gewesen, entwickelt hatte, und redete
+wohl nicht klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: »Nun,
+meine Herren, ich wette, daß ich noch das nächste Frühjahr erlebe!
+Fünfundvierzig zu eins!« Und er wandte sich zu einem unserer Herren,
+einem Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler und Wetter
+genoß. »Nichts zu machen?« Obzwar es klar war, daß der Angeredete der
+Versuchung schwer widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden,
+eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem selbst abzuschließen,
+und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich hat er es bedauert. Denn
+schon nach vierzehn Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver,
+stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb auf der Stelle tot. Und bei
+dieser Gelegenheit merkten wir alle, daß wir es gar nicht anders
+erwartet hatten. Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen
+Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, von der ich in einer
+sonderbaren Scheu niemandem Mitteilung gemacht hatte. Erst zu
+Weihnachten, anläßlich einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich mich
+einem Kameraden, einem gewissen Friedrich von Gulant – Sie haben
+vielleicht von ihm gehört, er hat hübsche Verse gemacht und ist sehr
+jung gestorben ... Nun, der war es, der mit mir zusammen das Schema
+entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen finden werden. Er war
+nämlich der Ansicht, daß solche Vorfälle für die Wissenschaft nicht
+verloren gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen als
+wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm bin ich bei Doktor Artiner
+gewesen, vor dessen Augen das Schema in diesem Kuwert verschlossen
+wurde. In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, und gestern
+erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir zugestellt worden. Ich will es
+gestehen: der Ernst, mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich
+anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht mehr sah und
+besonders, als er kurz darauf starb, fing die ganze Geschichte an, mir
+sehr lächerlich vorzukommen. Vor allem war es mir klar, daß ich mein
+Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in der Welt konnte mich
+dazu zwingen, am 9. September 1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen
+Vollbart auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft konnte
+ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine Frau mit roten Haaren zu
+heiraten und Kinder zu bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht
+ausweichen konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von dem mir die Narbe
+auf der Stirn zurückbleiben konnte. Ich war also fürs erste beruhigt. –
+Ein Jahr nach jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, meine
+jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den Dienst und widmete mich
+der Landwirtschaft. Ich besichtigte verschiedene kleinere Güter und – so
+komisch es klingen mag – ich achtete darauf, daß sich womöglich
+innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die dem Rasenplatz
+jenes Traumes (wie ich den Inhalt jener Erscheinung bei mir zu nennen
+liebte) gleichen könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen,
+als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch eine Besitzung in
+Kärnten mit einer schönen Jagd zufiel. Beim ersten Durchwandern des
+neuen Gebietes gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald
+begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art der Örtlichkeit
+zu gleichen schien, vor der mich zu hüten ich vielleicht allen Anlaß
+hatte. Ich erschrak ein wenig. Meiner Frau hatte ich von der
+Prophezeiung nichts erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit
+meinem Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen Tage« – er
+lächelte wie befreit – »vergiftet hätte. So konnte ich ihr natürlich
+auch meine Bedenken nicht mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit
+der Überlegung, daß ich ja keineswegs den September 1868 auf meinem Gute
+zubringen müßte. – Im Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in
+seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen Zügen Ähnlichkeit mit
+den Zügen des Knaben aus dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich
+zu verwischen, bald wieder sprach sie sich deutlicher aus – und heute
+darf ich mir ja selbst gestehen, daß der Knabe, der heute abends um zehn
+an meiner Bahre stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar
+gleicht. – Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete es sich vor drei
+Jahren, daß die verwitwete Schwester meiner Frau, die bisher in Amerika
+gelebt hatte, starb und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner
+Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, um es bei uns im
+Hause aufzunehmen. Als ich es zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu
+merken, daß es dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. Der Gedanke
+fuhr mir durch den Kopf, das Kind in dem fremden Lande bei fremden
+Leuten zu lassen. Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich
+wieder von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause auf. Wieder
+beruhigte ich mich vollkommen, trotz der zunehmenden Ähnlichkeit der
+Kinder mit den Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich bildete
+mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter des Traumes mich doch
+vielleicht trügen mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener
+Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgehört, an jenen sonderbaren Abend in
+dem polnischen Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine neue
+Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise erschüttert wurde. Ich
+hatte auf ein paar Monate verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir
+meine Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit mit der Frau
+des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht gesehen hatte, schien mir
+vollständig. Ich fand es für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck
+des Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer heftiger, denn
+plötzlich kam mir ein an Wahnsinn grenzender Einfall: wenn ich mich von
+meiner Frau und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr
+schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren gehalten. Meine Frau
+weinte, sank wie gebrochen zu Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte
+mir den Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich einer Reise
+nach München, war ich in der Kunstausstellung von dem Bildnis einer
+rothaarigen Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau hatte schon
+damals den Plan gefaßt, sich bei irgendeiner Gelegenheit diesem Bildnis
+dadurch ähnlich zu machen, daß sie sich die Haare färben ließ. Ich
+beschwor sie natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche dunkle
+Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen war, schien alles wieder
+gut zu sein. Sah ich nicht deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor
+in meiner Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen, auf
+natürliche Weise zu erklären?... Hatten nicht tausend andere Güter mit
+Wiesen und Wald und Frau und Kinder?... Und das einzige, was vielleicht
+Abergläubische schrecken durfte, stand noch aus – bis zum heurigen
+Winter: die Narbe, die Sie nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich
+bin nicht mutlos – erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das sage; ich habe
+mich als Offizier zweimal geschlagen und unter recht gefährlichen
+Bedingungen – auch vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als
+ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im vorigen Jahre aus
+irgendeinem lächerlichen Grund – wegen eines nicht ganz höflichen Grußes
+– von einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es vorgezogen« –
+Herr von Umprecht errötete leicht – »mich zu entschuldigen. Die Sache
+wurde natürlich in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch
+ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen hätte, wäre nicht
+plötzlich eine wahnwitzige Angst über mich gekommen, daß mein Gegner mir
+eine Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal damit einen neuen
+Trumpf in die Hand spielen könnte ... Aber Sie sehen, es half mir
+nichts: die Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier verwundet
+wurde, war vielleicht derjenige innerhalb der ganzen zehn Jahre, der
+mich am tiefsten zum Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war
+heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder drei anderen
+Personen, die mir vollkommen unbekannt waren, in der Eisenbahn zwischen
+Klagenfurt und Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich
+fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, daß etwas Hartes zu
+Boden fällt; ich greife zuerst nach der schmerzenden Stelle – sie
+blutet; dann bücke ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom
+Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. »Ist was geschehen?«
+ruft einer. Man merkt, daß ich blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr
+aber – ich seh es ganz deutlich – ist in die Ecke wie zurückgesunken. In
+der nächsten Haltestelle bringt man Wasser, der Bahnarzt legt mir einen
+notdürftigen Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich an
+der Wunde sterben könnte: ich weiß ja, daß es eine Narbe werden muß. Ein
+Gespräch im Waggon hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat
+beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen Bubenstreich handle; der
+Herr in der Ecke schweigt und starrt vor sich hin. In Villach steige ich
+aus. Plötzlich ist der Mann an meiner Seite und sagt: »Es galt mir.« Eh
+ich antworten, ja nur mich besinnen kann, ist er verschwunden; ich habe
+nie erfahren können, wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht
+... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt glaubte von
+einem beleidigten Gatten oder Bruder, und den ich möglicherweise
+gerettet habe, da eben mir die Narbe bestimmt war ... wer kann es
+wissen?... Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn an
+derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume gesehen hatte. Und mir ward
+es immer klarer, daß ich mit irgendeiner unbekannten höhnischen Macht in
+einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich sah dem Tag, wo das letzte
+in Erfüllung gehen sollte, mit wachsender Unruhe entgegen.
+
+Im Frühling erhielten wir die Einladung meines Onkels. Ich war fest
+entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn ohne daß mir ein deutliches Bild
+in Erinnerung gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß gerade auf
+seinem Gut hier die verruchte Stelle zu finden wäre. Meine Frau hätte
+aber eine Ablehnung nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch,
+mit ihr und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in der bestimmten
+Absicht, sobald als möglich das Schloß wieder zu verlassen und weiter in
+den Süden, nach Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der ersten
+Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch auf Ihr Stück, mein Onkel
+sprach von den kleinen Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat
+mich, meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Es
+war damals bestimmt, daß der Held von einem Berufsschauspieler
+dargestellt werden sollte. Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß
+ich gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. So erklärte
+ich denn eines Abends, daß ich am nächsten Tage das Schloß auf einige
+Zeit zu verlassen und Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte
+versprechen, Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben Abend kam
+ein Brief des Schauspielers, der aus irgendwelchen gleichgültigen
+Gründen dem Freiherrn seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr
+ärgerlich. Er bat mich, das Stück zu lesen – vielleicht könnte ich ihm
+unter unseren Bekannten einen nennen, der geeignet wäre, die Rolle
+darzustellen. So nahm ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es.
+Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir vorging, als ich zu dem
+Schlusse kam und hier Wort für Wort die Situation aufgezeichnet fand,
+die mir für den 9. September dieses Jahres prophezeit worden war. Ich
+konnte den Morgen nicht erwarten, um meinem Onkel zu sagen, daß ich die
+Rolle spielen wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen könnte;
+denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir vor wie in sicherer Hut,
+und wenn mir die Möglichkeit entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war
+ich wieder jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel war gleich
+einverstanden, und von nun an nahm alles seinen einfachen und guten
+Gang. Wir probieren seit einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die
+Situation, die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal
+durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge Komtesse Saima mit
+ihren schönen roten Haaren, die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir,
+und die Kinder stehen an meiner Seite.«
+
+Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, fielen meine Augen wieder
+auf das Kuwert, das noch immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von
+Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich Ihnen noch schuldig,«
+sagte er und öffnete die Siegel. Ein zusammengefaltetes Papier lag
+zutage. Umprecht entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor
+mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener Situationsplan
+zu der Schlußszene des Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch
+aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« versehen; ein Strich mit
+einer männlichen Figur war etwa in der Mitte des Planes eingetragen,
+darüber stand: »Bahre« ... Bei den anderen schematischen Figuren stand
+in kleinen Buchstaben mit roter Tinte zugeschrieben: »Frau mit rotem
+Haar«, »Knabe«, »Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen Händen«.
+Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: »Was bedeutet das: ›Mann mit
+erhobenen Händen?‹«
+
+»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, »hätt ich nun beinahe
+vergessen. Mit dieser Figur verhält es sich folgendermaßen: In jener
+Erscheinung gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, einen
+alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer Brille, einen
+dunkelgrünen Schal um den Hals, mit erhobenen Händen und weit
+aufgerissenen Augen.«
+
+Diesmal stutzte ich.
+
+Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam beunruhigt: »Was
+vermuten Sie eigentlich? Wer sollte das sein?«
+
+»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß irgendeiner von den
+Zuschauern, vielleicht aus der Dienerschaft des Onkels ... oder einer
+von den Bauern am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten und
+auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber will es das
+Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener durch einen jener
+Zufälle, die mich wirklich nicht mehr überraschen, gerade in dem
+Augenblick, wo ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.«
+
+Ich schüttelte den Kopf.
+
+»Wie sagten Sie?... Kahl – Brille – ein grüner Schal?... – Nun
+erscheint mir die Sache noch seltsamer als früher. Die Gestalt des
+Mannes, den Sie damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem Stück
+beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. Es war der
+wahnsinnige Vater der Frau, von dem im ersten Akt die Rede ist, und der
+zum Schluß auf die Szene stürmen sollte.«
+
+»Aber Schal und Brille?«
+
+»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem getan – glauben Sie nicht?«
+
+»Es ist möglich.«
+
+Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht ließ ihren Gatten zu sich
+bitten, da sie ihn gerne vor der Vorstellung sprechen möchte, und er
+empfahl sich. Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam den
+Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem Tisch hatte liegen lassen.
+
+
+3
+
+Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die Vorstellung stattfinden
+sollte. Er lag hinter dem Schlößchen, durch eine anmutige Gartenanlage
+davon geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken abschloß, waren
+etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem Holz aufgestellt; die vorderen
+Reihen waren mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten
+standen einige Notenpulte und Stühle; einen Vorhang gab es nicht. Die
+Trennung der Bühne von dem Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende
+hohe Tannenbäume angedeutet; rechts schloß sich wildes Gesträuch an,
+hinter dem ein bequemer Lehnstuhl, dem Zuschauer unsichtbar, für den
+Souffleur bestimmt, stand. Zur Linken lag der Platz frei und ließ den
+Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war von hohen Bäumen
+gebildet; sie standen dicht aneinandergedrängt nur in der Mitte, und
+links schlichen schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin im
+Wald, innerhalb einer kleinen künstlichen Lichtung, waren Tisch und
+Stühle aufgestellt, wo die Schauspieler ihrer Stichworte harren mochten.
+Für die Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der Bühne und des
+Zuschauerraumes kulissenartig hohe alte Kirchenleuchter mit riesigen
+Kerzen aufgerichtet hatte. Hinter dem Gesträuch zur Rechten war eine Art
+Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst anderem kleinern Gerät, das
+im Stück notwendig war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht am
+Schlusse des Stückes sterben sollte. – Als ich jetzt über die Wiese
+schritt, war sie von der Abendsonne mild überglänzt ... Ich hatte
+natürlich über die Erzählung des Herrn von Umprecht nachgedacht. Nicht
+für unmöglich hielt ich es anfangs, daß Herr von Umprecht zu der Art von
+phantastischen Lügnern gehörte, die eine Mystifikation unter
+Schwierigkeiten von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu
+machen. Ich hielt es selbst für denkbar, daß die Unterschrift des Notars
+gefälscht war und daß Herr von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um
+die Sache folgerecht durchzuführen. Besondere Bedenken stiegen mir über
+den vorläufig unbekannten Mann mit den erhobenen Händen auf, mit dem
+sich Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben konnte. Aber meinen
+Zweifeln widersprach vor allem die Rolle, die dieser Mann in meinem
+ersten Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte – und besonders
+der günstige Eindruck, den ich von der Person des Herrn von Umprecht
+gewonnen hatte. Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer
+Bericht mir erschien – irgend etwas in mir verlangte sogar danach, ihm
+glauben zu dürfen; es mochte die törichte Eitelkeit sein, mich als
+Vollstrecker eines über uns waltenden Willens zu empfinden. – Indes
+hatte einige Bewegung in meiner Nähe angehoben; Diener kamen aus dem
+Schloß, Kerzen wurden angezündet, Leute aus der Umgebung, manche auch in
+bäurischer Kleidung, stiegen langsam den Hügel herauf und stellten sich
+bescheiden zu seiten der Bänke auf. Bald erschien die Frau des Hauses
+mit einigen Herren und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte
+mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom vorigen Jahr. Die
+Mitglieder des Orchesters waren erschienen und begaben sich auf ihre
+Plätze; die Zusammenstellung war ungewöhnlich genug; es waren zwei
+Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontrabaß, eine Flöte und eine
+Oboe. Sie begannen sofort, offenbar verfrüht, eine Ouvertüre von Weber
+zu spielen. Ganz vorne, in der Nähe des Orchesters, stand ein alter
+Bauer, der glatzköpfig war und eine Art von dunklem Tuch um den Hals
+geschlungen hatte. Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht
+ich, später eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu werden und auf die
+Szene zu laufen. Das Tageslicht war völlig dahin, die hohen Kerzen
+flackerten ein wenig, da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter
+dem Gesträuch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen waren die
+Mitwirkenden in die Nähe der Bühne gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder
+an die anderen, die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, daß ich
+noch niemanden außer Herrn von Umprecht, seinen Kindern und der
+Försterstochter gesehen hatte. Nun hörte ich die laute Stimme des
+Regisseurs und das Lachen der jungen Komtessa Saima. Die Bänke waren
+alle besetzt, der Freiherr saß in einer der vordersten Reihen und sprach
+mit der Gräfin Saima. Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die
+Försterstochter vor und sprach den Prolog, der das Stück einleitete. Den
+Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal eines Mannes, der, ergriffen von
+einer plötzlichen Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen ohne
+Abschied verläßt und im Verlaufe eines Tages so viel Schmerzliches und
+Widriges erlebt, daß er wieder zurückzukehren gedenkt, ehe Frau und
+Kinder ihn vermißt haben; aber ein letztes Abenteuer auf dem Rückweg,
+nahe der Tür seines Hauses, hat seine Ermordung zur Folge, und nur mehr
+sterbend kann er die Verlassenen begrüßen, die seiner Flucht und seinem
+Tod als den unlösbarsten Rätseln gegenüberstehen.
+
+Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen sprachen ihre Rollen
+angenehm; ich erfreute mich an der einfachen Darstellung der einfachen
+Vorgänge und dachte im Anfang nicht mehr an die Erzählung des Herrn von
+Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte das Orchester wieder, aber
+niemand hörte darauf, so lebhaft war das Geplauder auf den Bänken. Ich
+selbst saß nicht, sondern stand, ungesehen von den anderen, der Bühne
+ziemlich nahe, auf der linken Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu
+senkte. Der zweite Akt begann; der Wind war etwas stärker geworden, und
+die flackernde Beleuchtung trug zu der Wirkung des Stückes nicht wenig
+bei. Wieder verschwanden die Darsteller im Wald, und das Orchester
+setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zufällig auf den Flötisten, der eine
+Brille trug und glatt rasiert war; aber er hatte lange weiße Haare, und
+von einem Schal war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schloß, die
+Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte ich, daß der
+Flötenspieler, der sein Instrument vor sich hin auf das Pult gelegt
+hatte, in seine Tasche griff, einen großen grünen Schal hervorzog und
+ihn um den Hals wickelte. Ich war im allerhöchsten Grade befremdet. In
+der nächsten Sekunde trat Herr von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick
+plötzlich auf dem Flötisten haften blieb, wie er den grünen Schal
+bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte er sich wieder
+gefaßt und sprach seine Rolle unbeirrt weiter. Ich fragte einen jungen,
+einfach gekleideten Burschen neben mir, ob er den Flötisten kenne, und
+erfuhr von ihm, daß jener ein Schullehrer aus Kaltern war. Das Spiel
+ging weiter, der Schluß nahte heran. Die zwei Kinder irrten, wie es
+vorgeschrieben war, über die Bühne, Lärm im Walde drang näher und näher,
+man hörte schreien und rufen; es machte sich nicht übel, daß der Wind
+stärker wurde und die Zweige sich bewegten; endlich trug man Herrn von
+Umprecht als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein. Die beiden
+Kinder stürzten herbei, die Fackelträger standen regungslos zur Seite.
+Die Frau trat später auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem
+Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder; dieser will die
+Lippen noch einmal öffnen, versucht, sich zu erheben, aber – wie es in
+der Rolle vorgeschrieben – es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt mit einem
+Mal ein ungeheurer Windstoß, daß die Fackeln zu verlöschen drohen; ich
+sehe, wie einer im Orchester aufspringt – es ist der Flötenspieler – zu
+meinem Erstaunen ist er kahl, seine Perücke ist ihm davongeflogen; mit
+erhobenen Händen, den grünen flatternden Schal um den Hals, stürzt er
+der Bühne zu. Unwillkürlich richte ich mein Auge auf Umprecht; seine
+Blicke sind starr, wie verzückt auf den Mann gerichtet; er will etwas
+reden – er vermag es offenbar nicht – er sinkt zurück ... Noch meinen
+viele, daß dies alles zum Stücke gehöre; ich selbst bin nicht sicher,
+wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist; indes ist der Mann an der
+Bahre vorüber, immer noch seiner Perücke nach, und verschwindet im Wald.
+Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windstoß läßt eine der beiden
+Fackeln verlöschen; einige Menschen ganz vorne werden unruhig – ich höre
+die Stimme des Freiherrn: »Ruhe! Ruhe!« – es wird wieder stille – auch
+der Wind regt sich nicht mehr ... aber Umprecht bleibt ausgestreckt
+liegen, rührt sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse Saima
+schreit auf – natürlich glauben die Leute, auch dies sei im Stück so
+vorgeschrieben. Ich aber dränge mich durch die Menschen, stürze auf die
+Bühne, höre, wie es hinter mir unruhig wird – die Leute erheben sich,
+andere folgen mir, die Bahre ist umringt ... »Was gibt’s, was ist
+geschehen?« ... Ich reiße einem Fackelträger seine Fackel aus der Hand,
+beleuchte das Antlitz des Liegenden ... Ich rüttle ihn, reiße ihm das
+Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite gelangt, er fühlt nach dem
+Herzen Umprechts, er greift seinen Puls, er wünscht, daß alles zur Seite
+trete, er flüstert dem Freiherrn ein paar Worte zu ... die Frau des
+Aufgebahrten hat sich hinaufgedrängt, sie schreit auf, wirft sich über
+ihren Mann, die Kinder stehen wie vernichtet da und können es nicht
+fassen ... Niemand will es glauben, was geschehen, und doch teilt es
+einer dem andern mit; – und eine Minute später weiß man es rings in der
+Runde, daß Herr von Umprecht auf der Bahre, auf der man ihn
+hineingetragen, plötzlich gestorben ist ...
+
+Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal hinuntergeeilt, von
+Entsetzen geschüttelt. In einem sonderbaren Grauen habe ich mich nicht
+entschließen können, das Schloß wieder zu betreten. Den Freiherrn sprach
+ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte ich ihm die Geschichte
+Umprechts, wie sie mir von ihm selbst mitgeteilt worden war. Der
+Freiherr wollte sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und
+zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich befremdet, ja angstvoll
+an und gab mir das Blatt zurück – es war weiß, unbeschrieben,
+unbezeichnet ...
+
+Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden; aber das einzige, was
+ich von ihm erfahren konnte, war, daß er vor drei Jahren zum letztenmal
+in einem Hamburger Vergnügungsetablissement niederen Ranges aufgetreten
+ist.
+
+Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das unbegreiflichste bleibt,
+ist der Umstand, daß der Schullehrer, der damals seiner Perücke mit
+erhobenen Händen nachlief und im Walde verschwand, niemals
+wiedergesehen, ja daß nicht einmal sein Leichnam aufgefunden wurde.
+
+ * * * * *
+
+
+Nachwort des Herausgebers
+
+Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe ich persönlich nicht
+gekannt. Er war zu seiner Zeit ein ziemlich bekannter Schriftsteller,
+aber so gut wie verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa
+zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachlaß ging, ohne besondere
+Bestimmung, an den in diesen Blättern genannten Meraner Jugendfreund
+über. Von diesem wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anläßlich eines
+Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen über allerlei dunkle
+Fragen, insbesondere über Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und
+Weissagekunst unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte
+Manuskript zur Veröffentlichung übergeben. Gern möchte ich dessen Inhalt
+für eine frei erfundene Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch
+aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten
+Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Ausgang beigewohnt und den in so
+rätselhafter Weise verschwundenen Schullehrer persönlich gekannt hätte.
+Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so erinnere ich mich noch sehr
+wohl, als ganz junger Mensch in einer Sommerfrische am Wörther See
+seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu haben; er blieb mir im
+Gedächtnis, weil ich gerade zu dieser Zeit im Begriffe war, die
+Reisebeschreibung des berühmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen.
+
+
+
+
+Das neue Lied
+
+
+»Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das
+kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an
+sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach,
+neben ihm einherging – ja er spürte sogar den Weindunst, in den diese
+Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich,
+sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet
+von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach
+Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause
+gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße
+weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die
+drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem
+anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts
+von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der
+Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild
+vor Augen, dem er entflohen war.
+
+Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn
+der von ihm?... warum verteidigte er sich?... und warum gerade vor
+ihm?... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten
+Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld
+trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie
+schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig,
+ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem
+Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern
+abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke
+geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino
+gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft
+Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine
+Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die
+Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und roten
+Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes
+Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße
+Amsel‹, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.«
+
+Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der
+Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße.
+Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde,
+ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß
+heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in
+die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen
+versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das
+alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn,
+und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch
+immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen
+hatten. Die Geschichte mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz
+recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal
+milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den
+Familien von meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab ich doch
+immer zuviel auf mich gehalten.«
+
+Hätte er auf den Vater gehört – dachte Karl jetzt – so wäre ihm
+mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt.
+Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen,
+und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für
+eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei
+ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die
+Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam
+der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim
+Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet:
+Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal
+Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek,
+demselben, der abends im Klownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern
+Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld
+ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so
+regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit
+Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die
+abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit
+der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl
+herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und
+schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder war in einem großen Geschäft
+angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich
+sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen
+von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich
+empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich
+anderweitig versagt bin ...« – Freilich, am liebsten war Karl mit Marie
+allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg
+gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen,
+der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn
+sie kamen geradeswegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen
+mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun
+legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und
+schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie
+auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den
+ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung
+brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen gab es
+manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu
+denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor
+hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine
+Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte
+vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich
+erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden
+zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe:
+»Also heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber
+bitt schön, daß Sie sich nicht verraten.« – »Warum soll denn ich mich
+verraten?« fragte Karl, »was ist denn g’schehn?« – »Ja, mit den Augen
+ist leider keine Hilfe mehr.« – »Wieso denn?« – »Sie sieht halt nichts
+mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben.
+Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich
+zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte
+und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als
+hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell
+gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen
+kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten
+Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst
+wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal
+gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise
+antreten mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam
+weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb
+er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach
+seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön
+grüßen. – Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er
+nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch
+von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen.
+Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch
+gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem
+Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei
+Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte.
+
+Da führte ihn gestern abends – er wollte Bekannte besuchen, die in der
+Nähe wohnten – der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen
+der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken
+wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er
+wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort
+gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit schwarzen und roten Buchstaben
+vor sich sah: »Erstes Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße
+Amsel‹, nach ihrer Genesung,« da blieb er wie gelähmt stehen. Und in
+diesem Augenblick stand der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden
+gewachsen: den weißen Strubbelkopf unbedeckt, den schäbigen schwarzen
+Zylinder in der Hand und mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er
+begrüßte Karl: »Der Herr Breiteneder – nein, so was! Nicht wahr,
+beehren uns heute wieder! Die Fräul’n Marie wird ja ganz weg sein vor
+Freud, wenn sie hört, daß sich die frühern Freund’ doch noch um sie
+umschaun. Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg’standen, Herr von
+Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.« Er redete noch eine
+ganze Menge, und Karl rührte sich nicht, obwohl er am liebsten weit
+fortgewesen wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, und er
+fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts sehe – ob sie nicht doch
+wenigstens einen Schein habe. »Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was
+fällt Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts sieht sie, gar
+nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. »Alles kohlrabenschwarz
+vor ihr ... Aber werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, hat
+alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf – und eine Stimme hat
+das Mädel, schöner als je!... Na, Sie werden ja sehn, Herr von
+Breiteneder. – Und gut is sie – seelengut! Noch viel freundlicher, als
+sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja – haha! – Ah, es kommen heut
+mehrere, die sie kennen ... natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von
+Breiteneder; denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen
+G’schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! Ich hab eine
+gekannt, die war blind und hat Zwillinge gekriegt – haha! – Schauen S’,
+wer da is,« sagte er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an
+der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen und bleich und sah ihn an,
+ohne ein Wort zu sagen. Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wußte kaum,
+was mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: »Nicht der Marie
+sagen, um Gottes willen, Frau Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß
+ich da bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!«
+
+»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und beschäftigte sich mit anderen
+Leuten, die Billette verlangten.
+
+»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber nachher, das wird eine
+Überraschung sein! Da kommen S’ doch mit? Großes Fest – hoho! Habe die
+Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. Karl durchschritt
+den gefüllten Saal, und im Garten, der sich ohne weiteres anschloß,
+setzte er sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei alte
+Leute Platz genommen hatten, eine Frau und ein Mann. Sie sprachen nichts
+miteinander, betrachteten stumm den neuen Gast, und nickten einander
+traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung begann, und Karl
+hörte die altbekannten Sachen wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich
+verändert, weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. Zuerst
+spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte Ouvertüre, von der zu
+Karl nur vereinzelte harte Akkorde drangen, dann trat als erste die
+Ungarin Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, sang
+ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf folgte ein
+humoristischer Vortrag des Komikers Wiegel-Wagel; er trat im
+zeisiggrünen Frack auf, teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen
+wäre, und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren Abschluß seine
+Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. Dann kam ein Duett zwischen
+Herrn und Frau Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach ihnen, in
+schmutziger weißer Klowntracht, folgte der närrische kleine Jedek,
+zeigte zuerst seine Jongleurkünste, irrte mit riesigen Augen unter den
+Leuten umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte er Teller in
+Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem Holzstab einen Marsch darauf,
+ordnete Gläser und spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine
+wehmütige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke auf und lächelte selig.
+Er trat ab, und Rebay hieb wieder auf die Tasten ein, in festlichen
+Klängen. Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die Leute steckten
+die Köpfe zusammen, und plötzlich stand Marie auf dem Podium. Der
+Vater, der sie hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht;
+und sie stand allein. Und Karl sah sie oben stehen, mit den erloschenen
+Augen in dem süßen blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst
+nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. Ohne es selbst zu
+merken war er vom Sessel aufgesprungen, lehnte an der grünen Laterne und
+hätte beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. – Und nun fing sie an
+zu singen. Mit einer ganz fremden Stimme, leise, viel leiser als früher.
+Es war ein Lied, das sie immer gesungen, und das Karl mindestens
+fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm seltsam fremd, und
+erst als der Refrain kam »Mich heißens’ die weiße Amsel, im G’schäft und
+auch zu Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. Sie
+sang alle drei Strophen, Rebay begleitete sie, und nach seiner
+Gewohnheit blickte er öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war,
+setzte Applaus ein, laut und donnernd. Marie lächelte und verbeugte
+sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs Podium hinauf, Marie griff mit
+den Armen in die Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der
+Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied singen mußte, das
+Karl auch schon an die fünfzigmal gehört hatte. Es fing an: »Heut geh
+ich mit mein Schatz aufs Land ...,« und Marie warf den Kopf so vergnügt
+in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und her, als wenn sie wirklich
+mit ihrem Schatz aufs Land gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen
+sehen und im Freien tanzen könnte, wie sie’s in dem Lied erzählte. Und
+dann sang sie das dritte, das neue Lied. –
+
+»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, und Karl fuhr
+zusammen. Es war heller Sonnenschein; weit erglänzte die Straße, ringsum
+war es licht und lebendig. »Da könnt’ man sich hineinsetzen,« fuhr Rebay
+fort, »auf ein Glas Wein; ich hab schon einen argen Durst – es wird ein
+heißer Tag.«
+
+»Ob’s heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. Breiteneder wandte sich
+um ... Wie, der war ihm auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von
+ihm?... Es war der närrische Jedek; man hatte ihn nie anders geheißen,
+aber es war zweifellos, daß er in der nächsten Zeit ernstlich und
+vollkommen verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte er seine
+lange blasse Frau am Leben bedroht, und es war rätselhaft, daß man ihn
+frei herumlaufen ließ. Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit
+neben Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten aufgerissene,
+unerklärlich lustige Augen ins Weite, auf dem Kopf saß ihm das
+stadtbekannte, graue weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der
+Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, den andern plötzlich
+voraus, war er in das kleine Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf
+einer Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, Platz genommen,
+schlug mit dem Spazierstock heftig auf den grüngestrichnen Tisch und
+rief nach dem Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des grünen
+Holzgitters zog die weiße Straße weiter nach oben, an kleinen, traurigen
+Villen vorbei, und verlor sich in den Wald.
+
+Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den Zylinder auf den Tisch, fuhr
+sich durch das weiße Haar, rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner
+Gewohnheit die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, und beugte
+sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin doch nicht auf’n Kopf
+g’fallen, Herr von Breiteneder! Ich weiß doch, was ich tu!... Warum soll
+denn ich schuld sein?... Wissen S’, für wen ich Couplets geschrieben hab
+in meinen jüngeren Jahren?... Für’n Matras! Das ist keine Kleinigkeit!
+Und haben Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und viele sind in
+andere Stück’ eingelegt worden!«
+
+»Lassen S’ das Glas stehn,« sagte Jedek und kicherte in sich hinein.
+
+»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay fort und schob das Glas
+wieder von sich. »Sie kennen mich doch, und Sie wissen, daß ich ein
+anständiger Mensch bin! Auch gibt’s in meinen Couplets niemals eine
+Unanständigkeit, niemals eine Zote!... Und das Couplet, wegen dem der
+alte Ladenbauer damals is verurteilt worden, war von einem andern!...
+Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder – das ist ein
+Numero! Und wissen S’, wie lang ich bei der G’sellschaft Ladenbauer
+bin?... Da hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die G’sellschaft
+gegründet hat. Und die Marie kenn ich von ihrer Geburt an.
+Neunundzwanzig Jahr bin ich bei die Ladenbauers – im nächsten März hab
+ich Jubiläum ... Und ich hab meine Melodien nicht g’stohlen – sie sind
+von mir, alles von mir! Und wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die
+Werkeln g’spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...«
+
+Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen Augen. Jetzt hatte er
+alle drei Gläser vor seinen Platz hingeschoben und begann mit seinen
+Fingern leicht über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen
+rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. Breiteneder hatte diese
+Kunstfertigkeit immer sehr bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug
+er die Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte man zu; einige
+Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr patschte in die Hände.
+Plötzlich schob Jedek alle drei Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und
+starrte auf die weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen
+aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte es vor den Augen,
+und es war ihm, als wenn die Leute hinter Spinneweben tänzelten und
+schwebten. Er rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich
+kommen. Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück –
+aber er hatte doch nicht schuld daran! Und plötzlich stand er auf, denn
+als er an das Ende dachte, wollte es ihm die Brust zersprengen. »Gehen
+wir,« sagte er.
+
+»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete Rebay.
+
+Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch wußte, warum. Er stellte
+sich vor einen Tisch hin, an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit
+seinem Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: »Da soll der
+Teufel ein Glaserer werden – Himmelsackerment!« Die beiden friedlichen
+Leute wurden verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen
+lachten und hielten ihn für betrunken.
+
+Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen Straße, und Jedek,
+wieder ganz ruhig geworden, kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues
+Hütel ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock mit dem Hut
+über die Schultern wie ein Gewehr, während er mit der anderen Hand
+gewaltige grüßende Bewegungen zum Himmel empor vollführte.
+
+»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich entschuldigen will,« sagte
+Rebay mit klappernden Zähnen. »Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus
+nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann wird es mir
+zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht selber mit ihr einstudiert?...
+Bitte sehr, jawohl! Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im Zimmer
+gesessen is, hab ich’s einstudiert mit ihr ... Und wissen S’, wie ich
+auf die Idee kommen bin? Es ist ein Unglück, hab ich mir gedacht, aber
+es ist doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, und ihr
+schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab ich’s g’sagt, die ganz
+verzweifelt war. Frau Ladenbauer, hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts
+verloren – passen S’ nur auf! Und dann, heutzutage, wo es diese
+Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit wieder lesen und
+schreiben lernen ... Und dann hab ich einen gekannt – einen jungen
+Menschen, der ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede Nacht
+von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle möglichen Beleuchtungen
+...«
+
+Breiteneder lachte auf. »Reden S’ im Ernst?« fragte er ihn.
+
+»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen Sie denn? Soll ich mich
+umbringen, ich?... Warum denn? – Meiner Seel, ich hab Unglück genug
+gehabt auf der Welt! – Oder meinen Sie, das ist ein Leben, Herr von
+Breiteneder, wenn man einmal Theaterstück geschrieben hat, wie ich als
+junger Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich so weit, daß
+man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die
+heisern Ludern begleiten muß, und ihnen die Couplets schreiben ...
+Wissen S’, was ich für ein Couplet krieg’?... Sie möchten sich wundern,
+Herr von Breiteneder!«
+
+»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, der jetzt ganz ernst
+und manierlich, ja elegant neben ihnen herging.
+
+»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. Es war ihm plötzlich,
+als verfolgten ihn die beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er
+mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter: »Eine Existenz hab
+ich dem Mädel gründen wollen!... Verstehen S’, eine neue Existenz!...
+Grad mit dem neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es vielleicht nicht
+schön?... Ist es nicht rührend?...«
+
+Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am Rockärmel zurück, erhob
+den Zeigefinger der linken Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die
+Lippen und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das Marie
+Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute nachts gesungen hatte. Er
+pfiff sie geradezu vollendet; denn auch das gehörte zu seinen
+Kunstfertigkeiten.
+
+»Die Melodie hat’s nicht gemacht,« sagte Breiteneder.
+
+»Wieso?« schrie Rebay. – Sie gingen alle rasch, liefen beinahe, trotzdem
+der Weg beträchtlich anstieg. »Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der
+Text ist schuld, glauben S’?... Ja, um Gottes willen, steht denn in dem
+Text was anderes, als was die Marie selbst gewußt hat?... Und in ihrem
+Zimmer, wie ich’s ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges Mal
+geweint. Sie hat g’sagt: »Das ist ein trauriges Lied, Herr Rebay, aber
+schön ist’s!...« »Schön ist’s,« hat sie gesagt ... Ja freilich ist es
+ein trauriges Lied, Herr von Breiteneder – es ist ja auch ein trauriges
+Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich ihr doch kein lustiges Lied
+schreiben?...«
+
+Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die Äste schimmerte die
+Sonne; aus den Büschen tönte Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei
+nebeneinander, so schnell, als wollte einer dem andern davonlaufen.
+Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und die Leut – Kreuzdonnerwetter! –
+haben sie nicht applaudiert wie verrückt?... Ich hab’s ja im voraus
+gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg haben! – Und es hat ihr
+auch eine Freud gemacht ... förmlich gelacht hat sie übers ganze
+Gesicht, und die letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es ist
+auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen ist, sind mir selber
+die Tränen ins Aug gekommen – wissen S’ wegen der Anspielung auf das
+andere Lied, das sie immer singt...« Und er sang, oder er sprach
+vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß wie einen Orgelton:
+»Wie wunderschön war es doch früher _auf der Welt_, – Wo die Sonn’ mir
+hat g’schienen auf Wald und _auf Feld_, – Wo i Sonntag mit mein’ Schatz
+spaziert bin aufs _Land_ – Und er hat mich aus Lieb nur geführt bei der
+_Hand_. – Jetzt geht mir die Sonn’ nimmer auf und die _Stern’_, – Und
+das Glück und die Liebe, die sind mir so _fern!_«
+
+»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab’s ja gehört!«
+
+»Ist’s vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und schwang den Zylinder.
+»Es gibt nicht viele, die solche Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden
+hat mir der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine Honorare, Herr
+von Breiteneder. Dabei hab ich’s noch einstudiert mit ihr.«
+
+Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang sehr leise den Refrain: »O
+Gott, wie bitter ist mir das geschehn – Daß ich nimmer soll den Frühling
+sehn ...«
+
+»Also _warum_, frag ich!...« rief Rebay. »Warum?... Gleich nachher war
+ich doch bei ihr drin ... Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit
+einem glückseligen Lächeln dag’sessen, hat ihr Viertel Wein getrunken,
+und ich hab ihr die Haar’ gestreichelt und hab ihr g’sagt: »Na, siehst
+du, Marie, wie’s den Leuten g’fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut’
+aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird Aufsehen machen ... Und
+singen tust du’s prachtvoll ...« Und so weiter, was man halt so red’t,
+bei solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch hereingekommen und
+hat ihr gratuliert. Und Blumen hat sie bekommen – von Ihnen waren s’
+nicht, Herr von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung ...
+Also, warum soll da mein Couplet schuld sein? Das ist ja ein Blödsinn!«
+
+Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den Rebay bei den
+Schultern. »Warum haben S’ ihr denn gesagt, daß ich da bin?... Warum
+denn?... Hab ich Sie nicht gebeten, daß Sie’s ihr nicht sagen sollen?«
+
+»Lassen S’ mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt! Von der Alten wird sie’s
+gehört haben!«
+
+»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte sich, »ich war so frei,
+Herr von Breiteneder – ich war so frei. Weil ich g’wußt hab, Sie sein
+da, hab ich ihr g’sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen
+g’fragt hat, während sie krank war, hab ich ihr g’sagt: ›Der Herr
+Breiteneder is da ... hinten bei der Latern is er g’standen,‹ hab ich
+ihr g’sagt, ›und hat sich großartig unterhalten!‹«
+
+»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er mußte die
+Augen fortwenden von dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet
+hielt. Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der sie eben
+vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah sich plötzlich wieder im
+Garten sitzen, und die Stimme der alten Frau Ladenbauer klang ihm im
+Ohr: »Die Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit uns mitkommen
+möchten nach der Vorstellung?« Er erinnerte sich, wie ihm da mit einem
+Male zumute geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die Marie
+alles verziehen. Er trank seinen Wein aus und ließ sich einen besseren
+geben. Er trank so viel, daß ihm das ganze Leben leichter vorkam.
+Geradezu vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen zu,
+klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung aus war, ging
+er wohlgelaunt durch den Garten und den Saal ins Extrazimmer des
+Wirtshauses, an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft nach der
+Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige saßen schon da: der
+Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner Frau, irgendein Herr mit einer Brille,
+den Karl gar nicht kannte – alle begrüßten ihn und waren gar nicht
+besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte er die Stimme der
+Marie hinter sich: »Ich find schon hin, Mutter, ich kenn’ ja den Weg.«
+Er wagte nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben ihm und
+sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder – wie geht’s Ihnen denn?« Und in
+diesem Augenblick erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu
+irgendeinem jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber gewesen
+war, später immer »Sie« und »Herr« gesagt hatte. Und dann aß sie ihr
+Nachtmahl; man hatte ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze
+Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich gar nichts
+geändert. »Gut is’ gangen,« sagte der alte Ladenbauer. »Jetzt kommen
+wieder bessere Zeiten.« Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der
+Marie viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr Wiegel-Wagel
+erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Wiedergenesenen!« Marie
+hielt ihr Glas in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte
+mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie ihre toten Augen in
+die seinen versenken wollte, und als könnte sie tief in ihn
+hineinschauen. Auch der Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und
+offerierte Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, ein
+junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, saß ihr gegenüber und
+unterhielt sich lebhaft mit Herrn Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte
+ihren gelben Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine Ecke,
+wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal kamen Leute von einem
+benachbarten Tisch herüber und gratulierten Marie; sie antwortete in
+ihrer stillen Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste
+verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber warum denn gar so
+stumm?« Jetzt erst merkte er, daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne
+den Mund aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, beteiligte sich
+an der Unterhaltung; nur an Marie richtete er kein Wort. Rebay erzählte
+von der schönen Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, trug
+den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig Jahren verfertigt
+hatte, und spielte die Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als
+böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um eins brach man auf.
+Frau Ladenbauer nahm den Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es
+war ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes daran, daß um
+Marie die Welt nun ganz finster war. Karl ging neben ihr. Die Mutter
+fragte ihn harmlos nach allerlei: wie’s zu Hause ginge, wie er sich auf
+der Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig von allerlei
+Dingen, die er gesehen, insbesondere von den Theatern und
+Singspielhallen, die er besucht hatte, und wunderte sich nur immer, wie
+sicher Marie ihren Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig und
+heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, einem alten,
+rauchigen Lokal, das um diese Zeit schon ganz leer war; und der dicke
+Freund der ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, im
+Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah an Karl gerückt, geradeso
+wie manchmal in früherer Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte.
+Und plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte und
+streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. Nun hätte er so gern
+etwas zu ihr gesagt ... irgend was Liebes, Tröstendes – aber er konnte
+nicht ... Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, als sähe
+ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht ein Menschenblick, sondern
+etwas Unheimliches, Fremdes, das er früher nicht gekannt – und es
+erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben ihm säße ... Ihre
+Hand bebte und entfernte sich sachte von der seinen, und sie sagte
+leise: »Warum hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte
+wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den anderen. Nach
+einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: »Wo ist denn die Marie?« Es war
+die Frau Ladenbauer. Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden war. »Wo
+ist denn die Marie?« riefen andere. Einige standen auf, der alte
+Ladenbauer stand an der Tür des Kaffeehauses und rief auf die Straße
+hinaus: »Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. Einer
+sagte: »Aber wie kann man denn so ein Geschöpf überhaupt allein
+aufstehen und fortgehen lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof des
+Hauses herein: »Bringt’s Kerzen!... Bringt’s Laternen!« Und eine schrie:
+»Jesus Maria!« Das war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer.
+Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den Hof. Die
+Dämmerung kam schon über die Dächer geschlichen. Um den Hof des
+einstöckigen alten Hauses lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte
+ein Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand,
+und schaute herunter. Zwei Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm,
+ein anderer Mann rannte über die knarrende Stiege herunter. Das war es,
+was Karl zuerst sah. Dann sah er irgend etwas vor seinen Augen
+schimmern, jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe und ließ
+ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: »Es hilft ja nichts mehr
+... sie rührt sich nimmer ... Holt’s doch einen Doktor!... Was ist denn
+mit der Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...« Alle
+flüsterten durcheinander, einige eilten auf die Straße hinaus, der einen
+Gestalt folgte Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange Frau
+Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide Hände verzweifelt an die
+Stirn, lief davon und kam nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute.
+Er mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um nicht über die Frau
+Ladenbauer zu stürzen, die auf der Erde kniete, Mariens beide Hände in
+ihrer Hand hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So red
+doch!... so red doch!...« Jetzt kam endlich einer mit einer Laterne, der
+Hausbesorger, in einem braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er
+leuchtete der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber so ein
+Malheur! Und grad da am Brunnen muß sie mit’m Kopf aufg’fallen sein.«
+Und nun sah Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung des Brunnens
+ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich der Mann in Hemdärmeln auf dem
+Gange: »Ich hab was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« Und
+alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte nur immer: »Es sind noch
+keine fünf Minuten, da hab ich’s poltern gehört ...« – »Wie hat sie denn
+nur heraufg’funden?« flüsterte jemand hinter Karl. »Aber bitt’ Sie,«
+erwiderte ein anderer, »das Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich
+durch die Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die Holzstiegen,
+und dann über die Brüstung hinunter – is ja net so schwer!« So flüsterte
+es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es
+sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht
+um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie
+in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung
+des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?«
+Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht
+der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie
+die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen
+toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß
+es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot
+und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und
+er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da,
+lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie
+einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer
+lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das
+zusammengefaltete weiße Spitzentuch gebettet; Karl blieb regungslos
+stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt,
+daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts
+bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über
+die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster
+hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ...
+
+Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß
+allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister
+Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie
+alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig
+miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden,
+der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont
+ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet,
+aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft,
+und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt.
+
+
+
+
+Die griechische Tänzerin
+
+
+Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube nicht daran, daß Frau
+Mathilde Samodeski an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich
+gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute zur ersehnten Ruhe
+hinausträgt; ich habe keine Lust, den Mann zu sehen, der es ebensogut
+weiß als ich, warum sie gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu
+schweigen.
+
+Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings etwas weit, aber der
+Herbsttag ist schön und still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald
+werde ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich im vergangenen
+Frühjahr Mathilde zum letztenmal gesehen habe. Die Fensterladen der
+Villa werden alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche
+Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich wohl den weißen
+Marmor durch die Bäume schimmern sehen, aus dem die griechische Tänzerin
+gemeißelt ist.
+
+An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es kommt mir fast wie eine
+Fügung vor, daß ich mich damals noch im letzten Augenblick entschlossen
+hatte, die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da ich doch im Laufe
+der Jahre die Freude an allem geselligen Treiben so ganz verloren habe.
+Vielleicht war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln in die
+Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. Überdies sollte es ja
+ein Gartenfest sein, mit dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen
+wollten, und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu fürchten.
+Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren kaum an die Möglichkeit
+dachte, Frau Mathilde draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch
+bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische Tänzerin von Samodeski
+für seine Villa gekauft hatte; – und daß Frau von Wartenheimer in den
+Bildhauer verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wußt’ ich nicht
+minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich wohl an Mathilde denken
+können, denn zur Zeit, da sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne
+Stunde mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer am Genfer See
+vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor ihrer Verlobung, den ich nicht so
+leicht vergessen werde. Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz
+meiner grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn als sie im Jahre
+darauf Samodeskis Gattin wurde, empfand ich einige Enttäuschung und war
+vollkommen überzeugt – oder hoffte sogar –, daß sie mit ihm nicht
+glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das Gregor Samodeski kurz
+nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise in seinem Atelier in der
+Gußhausgasse gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen
+oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe ich Mathilde
+wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte sie mich; ihr ganzes Wesen
+machte den Eindruck der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während sie im
+Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal ein seltsamer Blick aus
+ihren Augen, und nach einiger Bemühung habe ich deutlich verstanden, was
+er zu bedeuten hatte. Er sagte: ›Lieber Freund, Sie glauben, daß er mich
+um des Geldes willen geheiratet hat; Sie glauben, daß er mich nicht
+liebt; Sie glauben, daß ich nicht glücklich bin – aber Sie irren sich
+... Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie gut gelaunt ich
+bin, wie meine Augen leuchten.‹
+
+Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, aber immer nur ganz
+flüchtig. Einmal auf einer Reise kreuzten sich unsere Züge; ich speiste
+mit ihr und ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er erzählte
+allerhand Witze, die mich nicht sonderlich amüsierten. Auch im Theater
+sprach ich sie einmal, sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich
+noch immer schöner ist als sie ... der Teufel weiß, wo Herr Samodeski
+damals gewesen ist. Und im letzten Winter hab ich sie im Prater
+gesehen; an einem klaren, kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl
+unter den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen fuhr langsam nach.
+Ich befand mich auf der anderen Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal
+hinüber. Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen Dingen
+beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde schließlich nicht mehr
+besonders. So würde ich mir heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken
+über sie und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht jenes letzte
+Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden hätte. Dieses Abends
+erinnere ich mich heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen
+Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See. Es war schon
+ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. Die Gäste gingen in den Alleen
+spazieren, ich begrüßte den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher
+tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, die in einem Boskett
+versteckt war. Bald kam ich zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von
+hohen Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen Postament, so
+daß sie über dem Wasser zu schweben schien, leuchtete die griechische
+Tänzerin; durch elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens etwas
+theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des Aufsehens, das sie im
+Jahre vorher in der Sezession erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf
+mich machte sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend
+zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare Empfindung habe, daß
+eigentlich nicht er es ist, der die schönen Sachen macht, die ihm
+zuweilen gelingen, sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas
+Unbegreifliches, Glühendes, Dämonisches meinethalben, das ganz bestimmt
+erlöschen wird, wenn er einmal aufhören wird, jung und geliebt zu sein.
+Ich glaube, es gibt mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand
+erfüllt mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung.
+
+In der Nähe des Teiches begegnete ich Mathilden. Sie schritt am Arm
+eines jungen Mannes, der aussah wie ein Korpsstudent und sich mir als
+Verwandter des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr vergnügt
+plaudernd im Garten hin und her, in dem jetzt überall Lichter
+aufgeflackert waren. Die Frau des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen.
+Wir blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen Verwunderung
+sagte ich dem Bildhauer einige höchst anerkennende Worte über die
+griechische Tänzerin. Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar
+lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie das an solchen
+Frühlingsabenden manchmal vorkommt: Leute, die einander sonst
+gleichgültig sind, begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine
+gewisse Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen
+angeregt. Als ich beispielsweise eine Weile später auf einer Bank saß
+und eine Zigarette rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur
+oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu preisen begann, die
+von ihrem Reichtum einen so vornehmen Gebrauch machen wie unser
+Gastgeber. Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich Herrn von
+Wartenheimer sonst für einen ganz einfältigen Snob halte. Dann teilte
+ich wieder dem Herrn ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne
+Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, Ansichten, die
+für ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse gewesen wären; aber unter dem
+Einflusse dieses verführerischen Frühlingsabends stimmte er mir
+begeistert zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die das Fest
+äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil die Lichter zwischen den
+Blättern hervorglänzten und Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen
+wir gerade neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung nicht
+unsinnig. So sehr stand auch ich unter dem Banne der allgemeinen
+Stimmung.
+
+Das Abendessen wurde an kleinen Tischen eingenommen, die, soweit es der
+Platz erlaubte, auf der großen Terrasse, zum andern Teil im anstoßenden
+Salon aufgestellt waren. Die drei großen Glastüren standen weit offen.
+Ich saß an einem Tisch im Freien mit einer der Nichten; an meiner
+anderen Seite hatte Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah
+wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter und Reserveoffizier war.
+Gegenüber von uns, aber schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau
+des Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die ich nicht kannte.
+Er warf seiner Gattin eine scherzhaft verwegene Kußhand zu; sie nickte
+ihm zu und lächelte. Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich
+genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen Augen und dem langen
+schwarzen Spitzbarte, den er manchmal mit zwei Fingern der linken Hand
+am Kinn zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in meinem Leben
+einen Mann so sehr von Worten, Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht
+gesehen habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, als ließe er
+sich das eben nur gefallen. Aber bald sah ich an seiner Art, den Frauen
+leise zuzuflüstern, an seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders
+an der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die scheinbar
+harmlose Unterhaltung von irgendeinem geheimen Feuer genährt wurde.
+Natürlich mußte Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich; aber
+sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit ihrem Nachbarn, bald mit
+mir. Allmählich wandte sie sich zu mir allein, erkundigte sich nach
+verschiedenen äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von meiner
+vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann sprach sie von ihrer
+Kleinen, die merkwürdigerweise schon heute Lieder von Schumann nach dem
+Gehör singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch auf ihre alten
+Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, von alten Kirchenstoffen, die sie
+selbst im vorigen Jahr in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert
+anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses Gespräches ging etwas
+ganz anderes zwischen uns vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie
+versuchte mich durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes zu
+überzeugen – und ich wehrte mich dagegen, ihr zu glauben. Ich mußte
+wieder an jenen japanisch-chinesischen Abend in Samodeskis Atelier
+denken, wo sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte sie
+wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete und daß sie irgend
+etwas ganz Besonderes ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam
+sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und verliebte
+Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem Gatten gegenüber aufmerksam zu
+machen und begann von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn sie
+sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit und an seinem Genie
+ohne jede Unruhe und jedes Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte.
+Aber je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu scheinen, um so
+tiefere Schatten flogen über ihre Stirne hin. Als sie einmal das Glas
+erhob, um Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte sie
+verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht nur ihre Hand,
+sondern der Arm, ihre ganze Gestalt für einige Sekunden in eine solche
+Starrheit, daß mir beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich
+rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran war, ihr Spiel
+endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, wie mit einem letzten
+verzweifelten Versuch: »Ich wette, Sie halten mich für eifersüchtig.«
+Und ehe ich Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: »Oh,
+das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor selbst geglaubt.« Sie sprach
+absichtlich ganz laut, man hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun
+ja,« sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen solchen Mann
+hat: schön und berühmt ... und selber den Ruf, nicht sonderlich hübsch
+zu sein ... Oh, Sie brauchen mir nichts zu erwidern ... ich weiß ja,
+daß ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden bin.« Sie hatte
+möglicherweise recht, aber für ihren Gemahl – davon war ich völlig
+überzeugt – hatte der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und
+was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften Schlankheit
+für ihn wahrscheinlich ihren einzigen Reiz verloren. Doch ich stimmte
+ihr natürlich mit übertriebenen Worten bei; sie schien erfreut und fuhr
+mit wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das geringste Talent zur
+Eifersucht. Das habe ich selbst nicht gleich gewußt; ich bin erst
+allmählich darauf gekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren
+in Paris ... Sie wissen ja, daß wir dort waren?«
+
+Ich erinnerte mich.
+
+»Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire und des Ministers
+Chocquet gemacht und mancherlei anderes. Wir haben dort so angenehm
+gelebt wie junge Leute ... das heißt, jung sind wir ja noch beide ...
+ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir auch gelegentlich in die große
+Welt gingen ... Wir waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter,
+die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen aber machten wir
+uns nicht viel aus dem eleganten Leben. Wir wohnten sogar draußen auf
+Montmartre, in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor auch
+sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den jungen Künstlern, mit
+denen wir dort verkehrten, hatten manche keine Ahnung, daß wir
+verheiratet waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. Oft bin ich
+in der Nacht mit ihm im Café Athenés gesessen, mit Léandre, Carabin und
+vielen anderen. Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer
+Gesellschaft, mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht verkehren
+möchte ... obzwar schließlich – –« Sie warf einen hastigen Blick hinüber
+auf Frau Wartenheimer und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war sehr
+hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte von Henri Chabran dort,
+die seit seinem Tode immer ganz in Schwarz ging und jede Woche einen
+anderen Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle Trauer tragen
+mußten, das verlangte sie ... Sonderbare Leute lernt man kennen. Sie
+können sich denken, daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger
+nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. Aber da ich doch
+immer mit ihm war – oder meistens, so wagten sie sich nicht recht an ihn
+heran, um so weniger, als ich für seine Geliebte galt ... Ja, wenn sie
+gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war –! Und da bin ich einmal auf
+einen sonderbaren Einfall gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut
+hätten – und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute selbst über
+meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und sprach leiser als früher: »Es ist
+übrigens auch möglich, daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand –
+nun, Sie können sich’s ja denken. Seit ein paar Wochen wußte ich, daß
+ich ein Kind zu erwarten hatte. Das machte mich unerhört glücklich. Im
+Anfang war ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch viel
+beweglicher als jemals früher ... Also denken Sie, eines schönen Abends
+habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer
+aus. Natürlich hab ich ihm vor allem das Versprechen abgenommen, daß er
+sich keinerlei Zwang antun dürfte ... nun ja, sonst hätte die ganze
+Geschichte keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen – Sie
+hätten mich nicht erkannt ... niemand hätte mich erkannt. Ein Freund von
+Gregor, ein gewisser Léonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger
+Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön ... Mai ...
+ganz warm ... und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff.
+Denken Sie sich, ich hab meinen Überzieher – einen sehr eleganten gelben
+Überzieher – einfach abgelegt und ihn auf dem Arm getragen ... so wie
+das eben Herren zu tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich
+dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben
+wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay
+sang und Montoya ... »Tu t’en iras les pieds devant« ... Sie
+haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater – nicht wahr?« Jetzt
+warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht
+darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm
+Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, immer heftiger, stürzte
+sozusagen vorwärts. »In der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr
+elegante Dame, die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor,
+aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man kann sich nichts
+Unanständigeres vorstellen. Ich werde nie begreifen, daß ihr Gatte sie
+nicht auf der Stelle erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war
+eine Herzogin ... Nun, Sie müssen nicht lachen, es war gewiß eine Dame
+der großen Welt, trotz ihres Benehmens ... das kann man schon beurteilen
+... Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache einginge ...
+natürlich! – ich hätte gern gesehen, wie man so etwas anfängt ... ich
+wünschte, daß er ihr einen Brief zusteckte – oder sonst was täte – was
+er eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich seine Frau wurde
+... Ja, das wollte ich, trotzdem es nicht ohne Gefahr für ihn gewesen
+wäre. Offenbar steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ... Aber
+Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir gingen sogar recht bald
+fort, wieder hinaus in die schöne Mainacht, Léonce blieb immer mit uns.
+Der hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt und wurde gegen
+seine Gewohnheit geradezu galant. Es war sonst ein sehr verschüchterter
+Mensch – wegen seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: »Man muß wohl
+einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem den Hof machen.« Wir sind
+so vergnügt weiterspaziert wie drei Studenten. Und jetzt kam das
+Interessante: wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte zum
+Programm. Es war auch notwendig, daß endlich irgend etwas geschah.
+Bisher hatten wir ja noch gar nichts erlebt ... nur mich – denken Sie:
+mich selbst – hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. Aber das
+war ja nicht die Absicht gewesen ... Um ein Uhr waren wir im Moulin
+Rouge. Wie es da zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte
+ich mir’s ärger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs dort nicht das
+Geringste, und es sah ganz danach aus, als sollte der ganze Scherz zu
+nichts führen. Ich war ein bißchen ärgerlich. »Du bist ein Kind,« sagte
+Gregor. »Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und sie fallen
+uns zu Füßen –?« Er sagte »uns« aus Höflichkeit für Léonce; es war keine
+Rede davon, daß man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir nun
+schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause zu gehen, nahm die Sache
+eine Wendung. Mir fiel nämlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ...
+die schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen war ... Sie
+war ganz ernst und sah ziemlich anders aus als die meisten anwesenden
+Damen. Sie war gar nicht auffallend gekleidet – in Weiß, vollkommen in
+Weiß ... Ich hatte bemerkt, wie sie zwei oder drei Herren, die sie
+ansprachen, überhaupt gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne
+sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze zu, sehr ruhig,
+interessiert, sachlich möchte ich sagen ... Léonce fragte – ich hatte
+ihn darum gebeten – ein paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon
+irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß er sie im vorigen
+Winter auf einem der Donnerstagsbälle im Quartier Latin gesehen hatte.
+Léonce sprach sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm gab sie
+Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir setzten uns alle an einen
+kleinen Tisch und tranken Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um
+sie – als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre ... Er plauderte mit
+mir, immer nur mit mir ... Das schien sie nun besonders zu reizen. Sie
+wurde immer heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so kommt,
+allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Was so ein
+armes Ding alles erleben kann – oder erleben muß, möglicherweise! Man
+liest ja so oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz Wirkliches
+hört, von einer, die daneben sitzt, da ist es doch ganz sonderbar. Ich
+erinnere mich noch an mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat
+sie irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie Modell. Auch
+Statistin an einem kleinen Theater ist sie gewesen. – Was sie uns vom
+Direktor für Dinge erzählte!... Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn
+ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert gewesen wäre ...
+Dann hatte sie sich in einen Studenten der Medizin verliebt, der in der
+Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der Leichenkammer ab ...
+oder blieb vielmehr mit ihm dort ... nein, es ist nicht möglich, zu
+wiederholen, was sie uns erzählt hat! – Der Mediziner verließ sie
+natürlich auch. Und das wollte sie nicht überleben – gerade das! Und sie
+brachte sich um, das heißt, sie versuchte es. Sie machte sich selbst
+darüber lustig ... in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme ... es
+klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete ihr Kleid ein
+wenig und zeigte über der linken Brust eine kleine rötliche Narbe. Und
+wie wir alle diese kleine Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie –
+nein, schreit sie plötzlich meinen Mann an: »Küssen!« Ich sagte Ihnen
+schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um sie. Auch während sie ihre
+Geschichten erzählte, hörte er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte
+Zigaretten, und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich hab
+ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich etwas beduselt ...
+jedenfalls war es die sonderbarste Stimmung meines Lebens. Und ob er nun
+wollte oder nicht, er mußte die Narbe ... das heißt, er mußte so tun,
+als berührte er die Stelle mit den Lippen. Ja, und dann wurde es immer
+lustiger und toller. Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend –
+und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es für möglich gehalten,
+daß sich ein weibliches Wesen – und noch dazu solch eines – im Verlauf
+einer Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben könnte, wie dieses
+Geschöpf in Gregor. Sie hieß Madeleine.«
+
+Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen absichtlich lauter aussprach
+– jedenfalls schien es mir, als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns
+herüber; seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber unsere Blicke
+begegneten sich und blieben eine ganze Weile ineinander ruhen, nicht
+eben mit besonderer Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin
+zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen weiter, und sie
+wandte sich wieder zu mir.
+
+»Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern, was Madeleine
+später gesprochen hat,« sagte sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich
+will aufrichtig sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen
+verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand meines Mannes nahm und
+küßte. Aber gleich war es wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem
+Augenblick mußte ich an unser Kind denken. Und da hab ich gefühlt, wie
+unauflöslich ich und Gregor miteinander verbunden waren, und wie alles
+andere nichts sein konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, wie
+heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir sind dann noch alle bis
+zum Morgengrauen auf dem Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da
+hörte ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie nach Hause
+begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, um den Spaß zu einem guten und
+in gewissem Sinne vorteilhaften Ende zu führen – Sie wissen ja, was die
+Künstler alle für Egoisten sind ... insofern es sich nämlich um ihre
+Kunst handelt ... – kurz, er sagte ihr, daß er Bildhauer sei, und
+forderte sie auf, nächstens zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren.
+Sie antwortete: »Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich mich hängen! Aber
+ich komm’ doch.«
+
+Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen eines weiblichen Wesens so
+viel Leid ausdrücken – oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich
+gefaßt zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte, fuhr sie fort:
+»Gregor wollte durchaus, ich sollte am nächsten Tag im Atelier sein. Ja,
+er machte mir sogar den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu
+bleiben, wenn sie käme. Nun, es gibt Frauen, viele Frauen, ich weiß es,
+die darauf eingegangen wären. Ich aber finde: entweder man glaubt oder
+man glaubt nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben. Hab ich
+nicht recht?« Und sie sah mich mit großen, fragenden Augen an. Ich
+nickte nur, und sie sprach weiter: »Madeleine kam natürlich am Tag
+darauf und dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher
+gekommen ist ... und daß sie eine der schönsten war, können Sie mir
+glauben. Sie selbst sind erst heute vor ihr in Bewunderung gestanden,
+draußen am Teich.«
+
+»Die Tänzerin?«
+
+»Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und nun denken Sie, daß ich
+in einem solchen oder in einem anderen Falle mißtrauisch gewesen wäre!
+Würde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual gemacht haben? Ich bin
+sehr froh, daß ich keine Anlage zur Eifersucht habe.«
+
+Irgend jemand stand in der offenen Mitteltür und hatte begonnen, einen
+wahrscheinlich sehr witzigen Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn
+die Leute lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete Mathilde, die
+ebensowenig zuhörte wie ich. Und ich sah, wie sie zu ihrem Gatten
+hinüberschaute und ihm einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche
+Liebe verriet, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen heuchelte,
+als wäre es wahrhaftig ihre höchste Pflicht, ihn im Genuß des Daseins
+auf keine Weise zu stören. Und er empfing auch diesen Blick – lächelnd,
+unbeirrt, obwohl er natürlich ebensogut wußte als ich, daß sie litt und
+ihr Leben lang gelitten hat wie ein Tier.
+
+Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem Herzschlag. Ich habe an
+jenem Abend Mathilde zu gut kennen gelernt, und für mich steht es fest:
+so wie sie vor ihrem Gatten die glückliche Frau gespielt hat vom ersten
+Augenblick bis zum letzten, während er sie belogen und zum Wahnsinn
+getrieben hat, so hat sie ihm auch schließlich einen natürlichen Tod
+vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht mehr ertragen
+konnte. Und er hatte auch dieses letzte Opfer hingenommen, als käme es
+ihm zu.
+
+Da stehe ich vor dem Gitter ... Die Läden sind fest geschlossen. Weiß
+und wie verzaubert liegt die kleine Villa im Dämmerschein, und dort
+schimmert der Marmor zwischen den roten Zweigen ...
+
+Vielleicht bin ich übrigens ungerecht gegen Samodeski. Am Ende ist er so
+dumm, daß er die Wahrheit wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu
+denken, daß es für Mathilde im Tode keine größere Wonne gäbe, als zu
+wissen, daß ihr letzter himmlischer Betrug gelungen ist.
+
+Oder irre ich mich gar? Und es war ein natürlicher Tod?... Nein, ich
+lasse mir nicht das Recht nehmen, den Mann zu hassen, den Mathilde so
+sehr geliebt hat. Das wird ja wahrscheinlich für lange Zeit mein
+einziges Vergnügen sein ...
+
+_Ende_
+
+
+
+Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind den »Gesammelten
+Werken« entnommen.
+
+
+
+
+Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler
+
+
+I. Die erzählenden Schriften in drei Bänden
+
+In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M
+
+Inhalt: Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des Weisen. Der
+Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers letzter Brief. Der
+blinde Geronimo und sein Bruder. Leutnant Gustl. Die griechische
+Tänzerin. Frau Berta Garlan. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg.
+Die Fremde. Die Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der
+tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der Mörder. Die dreifache
+Warnung. Die Hirtenflöte. Der Weg ins Freie.
+
+
+II. Die Theaterstücke in vier Bänden
+
+In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M
+
+Inhalt: Anatol. Das Märchen. Liebelei. Freiwild. Das Vermächtnis.
+Paracelsus. Die Gefährtin. Der grüne Kakadu. Der Schleier der Beatrice.
+Lebendige Stunden. Die Frau mit dem Dolche. Die letzten Masken.
+Literatur. Der einsame Weg. Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der
+tapfere Cassian. Zum großen Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi
+oder Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land.
+
+
+
+
+Werke von Arthur Schnitzler
+
+
+Sterben
+
+Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark
+
+Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erzählung zu gemeinsamer
+Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die größte
+Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist und sich
+nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschränkt. Die deutsche
+Literatur könnte sich glücklich preisen, wenn sie viele solche Bücher
+hätte wie diese einfache Erzählung. (Deutsche Revue)
+
+
+Die Frau des Weisen
+
+Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark
+
+Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine
+liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen, mit
+dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der
+Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte.
+Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin
+gerne spielen, müssen Schnitzler gerne lesen. (Neues Wiener Tagblatt)
+
+
+Leutnant Gustl
+
+Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark
+
+Eine bittere Satire vom militärischen Standpunkt aus, aber als Erzählung
+von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig, und wie
+virtuos dabei in der Ausführung! Selten ist das Innere eines in engen
+Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungefähr in fieberhafte
+Aufregung gerät, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt worden als
+in dieser auch stofflich höchst spannenden, aus einem einzigen Monolog
+bestehenden Novelle. (Dresdner Anzeiger)
+
+
+Dämmerseelen
+
+Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark
+
+Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene
+außerordentliche Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der
+zahlreichen europäischen Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden
+erkannt wird. Von jener weltmännischen Gewandtheit, die nur irrtümlich
+als oberflächlich gilt, weil sie schamhaft genug ist, heiße Tränen
+hinter dem heimlichen Wappenschilde des Lächelns zu verbergen, läßt er
+durch die Maske des spielerisch tändelnden Dandys das wahre Antlitz des
+sinnenden ernsten Dichters lugen. (Breslauer Morgenzeitung)
+
+
+Der Weg ins Freie
+
+Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark
+
+Je länger dieses Buch in mir nachklingt, desto stärker wird der
+menschliche Eindruck, den es hinterläßt. Hier ist diese wundervolle
+Vereinigung, daß man überall spürt, wie stark in dem Dichter Schnitzler
+der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der Mensch den
+Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, künstlerisches, und
+beinahe möchte man sagen privates Fühlen so vollkommene Einheit, daß man
+über das Buch hinaus den Eindruck der reinen Individualität empfängt,
+die es geschrieben hat. (Die Zeit, Wien)
+
+
+Masken und Wunder
+
+Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark
+
+Ein geheimnisreicher Name für ein rätselvolles, ernstes und tiefes Buch!
+Von den Seelen merkwürdiger Menschen, zumal von Frauen, ist darin
+gehandelt – skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch mit der
+seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem Wesen
+erfaßt und in den feinsten Gründen ihrer Existenz darlegt.
+(Generalanzeiger, Mannheim)
+
+
+Frau Beate und ihr Sohn
+
+Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50
+
+Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genußtriebs, die uns
+Schnitzler so oft mit überlegener Ironie geschildert hat, arbeitet er in
+dieser Meisternovelle eine erschütternde Tragik heraus. Schnitzler hat
+in dieser novellistischen Tragödie der entweihten Mutterschaft sein
+Stärkstes geboten. (Vossische Zeitung, Berlin)
+
+
+
+
+Gustaf af Geijerstam
+
+Gesammelte Romane in fünf Bänden
+
+
+Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt des
+Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark
+
+
+1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis des Waldes /
+Kristins Myrte / Sammel / Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis.
+
+2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe.
+
+3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht.
+
+4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte.
+
+5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrenhofallee.
+
+
+Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten unter uns.
+Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung seiner Werke –
+rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr billigem Preise, die
+denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe – ist Beweis
+dafür. Den Geijerstam, den man braucht, hat man in dieser Auswahl ganz.
+Sie findet ihre literarische Rechtfertigung zudem in einer Einleitung
+von Friedrich Düsel, und diese Einführung gibt eine seelisch
+eindringliche, man könnte beinahe sagen erschöpfende Analyse von
+Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... In Geijerstam kündigt sich
+eine neue Weltanschauung an, noch viel zu unentwickelt, um in den Rahmen
+von zehn Geboten gefaßt zu werden, doch aber recht eigentlich die
+Weltanschauung des Menschen, der nicht die Kraft, dafür aber die
+Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. – Eine neue Frucht der
+Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht dieser Erzählungen! Aus
+dem Stamm des sozialen Mitleidens ist sie erwachsen. Menschen mit
+verfeinerten Empfindungsorganen werden danach greifen und werden – wie
+das immer war – beides daraus schmecken: Tod und Leben. (Frankfurter
+Zeitung)
+
+
+
+
+Otto Erich Hartleben
+
+Ausgewählte Werke in drei Bänden
+
+
+Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitmüller. Mit dem Bilde des
+Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappbänden gebunden 10 Mark, in
+drei Ganzpergamentbänden 15 Mark.
+
+
+1. Bd.: Gedichte: Einleitung / Die Gedichte vollständig.
+
+2. Bd.: Prosa: Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe /
+Wie der Kleine zum Teufel wurde / Vom gastfreien Pastor / Der
+Einhornapotheker / Der römische Maler / Der bunte Vogel.
+
+3. Bd.: Dramen: Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung zur Ehe / Die
+sittliche Forderung / Rosenmontag.
+
+
+Ein schönes Werk der Pietät. In wundervoller Ausstattung ist hier ein
+Überblick über des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten Band
+ziert ein schönes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband – alles ist zu
+jener vornehmen Harmonie abgetönt, die des Dichters eigene Person
+ausströmte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude hatte, ihm
+im Leben zu begegnen. Diese drei Bände stellen eine Zierde für jede
+Bibliothek dar. (Universum, Leipzig)
+
+Dieses Werk faßt als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckstück, nämlich
+das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in seiner
+Einleitung Bruchstücke aus den Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt, mit
+denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres Ältesten geleitete. Diese
+Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem Sinne Biographisches. Denn sie
+kennzeichnen ihre Verfasserin, diese stille Frau, die nicht Frau Ajas
+Humor, aber Frau Ajas Geduld und ihre Liebe hat. (Hamburger Fremdenblatt)
+
+
+
+
+Peter Nansen
+
+Werke in drei Bänden
+
+
+Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenbände in elegantem Futteral 12
+Mark. Jeder Band einzeln geheftet 3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4
+Mark 50 Pf.
+
+
+1. Band: _Jugend und Liebe._ Eine glückliche Ehe / Aus dem ersten
+Universitätsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete Fenster / Des
+Bürgermeisters Winterüberzieher / Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines
+Verliebten / Ein Weihnachtsmärchen / Der Weihnachtsbaum / Fräulein Mimi
+/ Eine Ballunterhaltung.
+
+2. Band: _Theater._ Judiths Ehe / Eine glückliche Ehe / Kameraden / Ein
+Hochzeitsabend / Die gestörte Verbindung.
+
+3. Band: _Die Romane des Herzens._ Julies Tagebuch / Maria /
+Gottesfriede.
+
+
+Nansens freie Selbständigkeit und seine künstlerische Unbefangenheit,
+die manchen als Rücksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine hohe
+Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach über der Tendenz
+die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern, wie sie ist.
+Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur zu Ehren
+bringen, indem er in erster Linie die »Weibheit« der Frau – wie Laura
+Marholm sagen würde – berücksichtigt; aber diese Absicht ist nicht die
+Hauptsache. Seine Bücher haben dagegen einen eigenen poetischen Wert.
+(Norddeutsche Allgemeine Zeitung)
+
+Peter Nansen stammt aus der elegischen, graziösen Hauptstadt des
+Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien, geistig mit
+Paris verwandt ist. Er gehört zu denen, die das Klima der nordischen
+Literatur wärmer, sinnlicher, verführerischer gemacht haben, so daß wir
+die Franzosen bald ganz entbehren können. (Das Literarische Echo)
+
+
+
+
+[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1914 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer
+Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält
+eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen
+Korrekturen.
+
+p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (entfernt)
+p 024: Anführungszeichen ergänzt: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«
+p 026: Anführungszeichen ergänzt: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«
+p 102: Anführungszeichen ergänzt: »Wie?– -> »Wie?«–
+p 128: Anführungszeichen ergänzt: »Ich bin nicht schuld daran,
+p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.
+p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]
+
+
+
+[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from scans of an
+original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers
+Bibliothek zeitgenössischer Romane". The table below lists all
+corrections applied to the original text.
+
+p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (deleted)
+p 024: added missing quotes: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«
+p 026: added missing quotes: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«
+p 102: added missing quotes: »Wie?– -> »Wie?«–
+p 128: added missing quotes: »Ich bin nicht schuld daran,
+p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.
+p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Die griechische Tänzerin ***
+
+***** This file should be named 17142-0.txt or 17142-0.zip *****
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+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
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+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
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+
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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@@ -0,0 +1,4304 @@
+The Project Gutenberg EBook of Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Die griechische Tänzerin
+ und andere Novellen
+
+Author: Arthur Schnitzler
+
+Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+
+
+
+
+ Die griechische Tänzerin
+
+ und andere Novellen
+ von
+ Arthur Schnitzler
+
+
+S. Fischer, Verlag, Berlin
+
+
+Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung
+Copyright S. Fischer, Verlag
+
+
+
+Inhalt
+
+
+Der blinde Geronimo und sein Bruder ....... 7
+
+Die Toten schweigen ...................... 53
+
+Die Weissagung ........................... 85
+
+Das neue Lied ........................... 128
+
+Die griechische Tänzerin ................ 157
+
+
+
+
+Der blinde Geronimo und sein Bruder
+
+
+Der blinde Geronimo stand von der Bank auf und nahm die Gitarre zur
+Hand, die auf dem Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. Er hatte
+das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen. Nun tastete er sich den
+wohlbekannten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die
+schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten Hofraum
+hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich
+neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand gekehrt, um gegen den
+naßkalten Wind geschützt zu sein, der über den feuchtschmutzigen Boden
+durch die offenen Tore strich.
+
+Unter dem düsteren Bogen des alten Wirtshauses mußten alle Wagen
+passieren, die den Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die Reisenden,
+welche von Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast vor
+der Höhe. Zu langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade hier lief
+die Straße ziemlich eben, ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen
+hin. Der blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in den
+Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.
+
+Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere Wagen. Die meisten
+Reisenden blieben sitzen, in Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere
+stiegen aus und spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her.
+Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab.
+Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst plötzlich und allzu früh
+hereinzubrechen.
+
+Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der Gitarre; er sang mit
+einer ungleichmäßigen, manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie
+immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf wie mit
+einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach oben. Aber die Züge seines
+Gesichtes mit den schwarzen Bartstoppeln und den bläulichen Lippen
+blieben vollkommen unbeweglich. Der ältere Bruder stand neben ihm,
+beinahe regungslos. Wenn ihm jemand eine Münze in den Hut fallen ließ,
+nickte er Dank und sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick
+ins Gesicht. Aber gleich, beinahe ängstlich, wandte er den Blick wieder
+fort und starrte gleich dem Bruder ins Leere. Es war, als schämten sich
+seine Augen des Lichts, das ihnen gewährt war, und von dem sie dem
+blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten.
+
+»Bring mir Wein,« sagte Geronimo, und Carlo ging, gehorsam wie immer.
+Während er die Stufen aufwärts schritt, begann Geronimo wieder zu
+singen. Er hörte längst nicht mehr auf seine eigene Stimme, und so
+konnte er auf das merken, was in seiner Nähe vorging. Jetzt vernahm er
+ganz nahe zwei flüsternde Stimmen, die eines jungen Mannes und einer
+jungen Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen Weg hin
+und her gegangen sein mochten; denn in seiner Blindheit und in seinem
+Rausch war ihm manchmal, als kämen Tag für Tag dieselben Menschen über
+das Joch gewandert, bald von Norden gegen Süden, bald von Süden gegen
+Norden. Und so kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit.
+
+Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas Wein. Der Blinde schwenkte
+es dem jungen Paare zu und sagte: »Ihr Wohl, meine Herrschaften!«
+
+»Danke,« sagte der junge Mann; aber die junge Frau zog ihn fort, denn
+ihr war dieser Blinde unheimlich.
+
+Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich lärmenden Gesellschaft ein:
+Vater, Mutter, drei Kinder, eine Bonne.
+
+»Deutsche Familie,« sagte Geronimo leise zu Carlo.
+
+Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück, und jedes durfte das seine
+in den Hut des Bettlers werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum
+Dank. Der älteste Knabe sah dem Blinden mit ängstlicher Neugier ins
+Gesicht. Carlo betrachtete den Knaben. Er mußte, wie immer beim Anblick
+solcher Kinder, daran denken, daß Geronimo gerade so alt gewesen war,
+als das Unglück geschah, durch das er das Augenlicht verloren hatte.
+Denn er erinnerte sich jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig
+Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute klang ihm der grelle
+Kinderschrei ins Ohr, mit dem der kleine Geronimo auf den Rasen
+hingesunken war, noch heute sah er die Sonne auf der weißen Gartenmauer
+spielen und kringeln und hörte die Sonntagsglocken wieder, die gerade in
+jenem Augenblick getönt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen nach
+der Esche an der Mauer geschossen, und als er den Schrei hörte, dachte
+er gleich, daß er den kleinen Bruder verletzt haben mußte, der eben
+vorbeigelaufen war. Er ließ das Blasrohr aus den Händen gleiten, sprang
+durchs Fenster in den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder hin, der
+auf dem Grase lag, die Hände vors Gesicht geschlagen und jammerte. Über
+die rechte Wange und den Hals floß ihm Blut herunter. In derselben
+Minute kam der Vater vom Felde heim, durch die kleine Gartentür, und nun
+knieten beide ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn eilten herbei;
+die alte Vanetti war die erste, der es gelang, dem Kleinen die Hände
+vom Gesicht zu entfernen. Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo
+damals in der Lehre war und der sich ein bißchen aufs Kurieren verstand;
+und der sah gleich, daß das rechte Auge verloren war. Der Arzt, der
+abends aus Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, er deutete
+schon die Gefahr an, in der das andere Auge schwebte. Und er behielt
+recht. Ein Jahr später war die Welt für Geronimo in Nacht versunken.
+Anfangs versuchte man ihm einzureden, daß er später geheilt werden
+könnte, und er schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit wußte,
+irrte damals tage- und nächtelang auf der Landstraße, zwischen den
+Weinbergen und in den Wäldern umher, und war nahe daran, sich
+umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem er sich anvertraute, klärte
+ihn auf, daß es seine Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu
+widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn
+er bei dem blinden Jungen war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine
+Stirne küssen durfte, ihm Geschichten erzählte, ihn auf den Feldern
+hinter dem Hause und zwischen den Rebengeländen spazieren führte,
+milderte sich seine Pein. Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der
+Schmiede vernachlässigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht trennen
+mochte, und konnte sich nachher nicht mehr entschließen, sein Handwerk
+wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines
+Tages fiel es Carlo auf, daß Geronimo vollkommen aufgehört hatte, von
+seinem Unglück zu reden. Bald wußte er, warum: der Blinde war zur
+Einsicht gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die Straßen, die
+Menschen, das Licht wieder sehen würde. Nun litt Carlo noch mehr als
+früher, so sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen suchte, daß er
+ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er
+am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er
+von einer solchen Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er in den
+Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten
+Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für
+immer erloschen war. Zu jener Zeit war es, daß Carlo auf den Einfall
+kam, Geronimo, der eine angenehme Stimme hatte, in der Musik weiter
+ausbilden zu lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal Sonntags
+herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte der Blinde
+freilich noch nicht, daß die neuerlernte Kunst einmal zu seinem
+Lebensunterhalt dienen würde.
+
+Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück für immer in das Haus
+des alten Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet ein Jahr nach
+dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde
+er von einem Verwandten betrogen; und als er an einem schwülen Augusttag
+auf freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, hinterließ er
+nichts als Schulden. Das kleine Anwesen wurde verkauft, die beiden
+Brüder waren obdachlos und arm und verließen das Dorf.
+
+Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. Damals begann das
+Bettel- und Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo
+daran gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich ihn und den
+Bruder ernähren könnte; aber es wollte nicht gelingen. Auch hatte
+Geronimo nirgend Ruhe; er wollte immer auf dem Wege sein.
+
+Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Straßen und Pässen herumzogen, im
+nördlichen Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der
+dichtere Zug der Reisenden vorüberströmte.
+
+Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht mehr die brennende Qual
+verspürte, mit der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der Anblick
+jeder freundlichen Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes
+nagendes Mitleid in ihm, beständig und ihm unbewußt, wie der Schlag
+seines Herzens und sein Atem. Und er war froh, wenn Geronimo sich
+betrank.
+
+Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. Carlo setzte
+sich, wie er gern tat, auf die untersten Stufen der Treppe, Geronimo
+aber blieb stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen und hielt den Kopf
+nach oben gewandt.
+
+Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube.
+
+»Habt's viel verdient heut?« rief sie herunter.
+
+Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde bückte sich nach seinem Glas,
+hob es vom Boden auf und trank es Maria zu. Sie saß manchmal abends in
+der Wirtsstube neben ihm; er wußte auch, daß sie schön war.
+
+Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Straße hinaus. Der Wind
+blies, und der Regen prasselte, so daß das Rollen des nahenden Wagens in
+den heftigen Geräuschen unterging. Carlo stand auf und nahm wieder
+seinen Platz an des Bruders Seite ein.
+
+Geronimo begann zu singen, schon während der Wagen einfuhr, in dem nur
+ein Passagier saß. Der Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte
+er hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine Weile in seiner
+Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen grauen Regenmantel; er schien
+auf den Gesang gar nicht zu hören. Nach einer Weile aber sprang er aus
+dem Wagen und lief mit großer Hast hin und her, ohne sich weit vom Wagen
+zu entfernen. Er rieb immerfort die Hände aneinander, um sich zu
+erwärmen. Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken. Er stellte sich
+ihnen gegenüber und sah sie lange wie prüfend an. Carlo neigte leicht
+den Kopf, wie zum Gruße. Der Reisende war ein sehr junger Mensch mit
+einem hübschen, bartlosen Gesicht und unruhigen Augen. Nachdem er eine
+ganze Weile vor den Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore,
+durch das er weiterfahren sollte, und schüttelte bei dem trostlosen
+Ausblick in Regen und Nebel verdrießlich den Kopf.
+
+»Nun?« fragte Geronimo.
+
+»Noch nichts,« erwiderte Carlo. »Er wird wohl geben, wenn er fortfährt.«
+
+Der Reisende kam wieder zurück und lehnte sich an die Deichsel des
+Wagens. Der Blinde begann zu singen. Nun schien der junge Mann plötzlich
+mit großem Interesse zuzuhören. Der Knecht erschien und spannte die
+Pferde wieder ein. Und jetzt erst, als besänne er sich eben, griff der
+junge Mann in die Tasche und gab Carlo einen Frank.
+
+»O danke, danke,« sagte dieser.
+
+Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte sich wieder in
+seinen Mantel. Carlo nahm das Glas vom Boden auf und ging die Holzstufen
+hinauf. Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum Wagen heraus
+und schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Überlegenheit und
+Traurigkeit zugleich. Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er
+lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum zwei Schritte weit von
+ihm stand: »Wie heißt du?«
+
+»Geronimo.«
+
+»Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.« In diesem Augenblick
+erschien der Kutscher auf der obersten Stufe der Treppe.
+
+»Wieso, gnädiger Herr, betrügen?«
+
+»Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankstück gegeben.«
+
+»O Herr, Dank, Dank!«
+
+»Ja; also paß auf.«
+
+»Er ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich nicht.«
+
+Der junge Mann stutzte eine Weile, aber während er noch überlegte, war
+der Kutscher auf den Bock gestiegen und hatte die Pferde angetrieben.
+Der junge Mann lehnte sich zurück mit einer Bewegung des Kopfes, als
+wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen Lauf! und der Wagen fuhr davon.
+
+Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte Gebärden des Dankes nach.
+Jetzt hörte er Carlo, der eben aus der Wirtsstube kam. Der rief
+herunter: »Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat Feuer
+gemacht!«
+
+Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm und tastete sich am
+Geländer die Stufen hinauf. Auf der Treppe schon rief er: »Laß es mich
+anfühlen! Wie lang hab ich schon kein Goldstück angefühlt!«
+
+»Was gibt's?« fragte Carlo. »Was redest du da?«
+
+Geronimo war oben und griff mit beiden Händen nach dem Kopf seines
+Bruders, ein Zeichen, mit dem er stets Freude oder Zärtlichkeit
+auszudrücken pflegte. »Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute
+Menschen!«
+
+»Gewiß,« sagte Carlo. »Bis jetzt sind es zwei Lire und dreißig
+Zentesimi; und hier ist noch österreichisches Geld, vielleicht eine
+halbe Lira.«
+
+»Und zwanzig Franken -- und zwanzig Franken!« rief Geronimo. »Ich weiß es
+ja!« Er torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf die Bank.
+
+»Was weißt du?« fragte Carlo.
+
+»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! Wie lang hab ich schon
+kein Goldstück in der Hand gehabt!«
+
+»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück nehmen? Es sind zwei
+Lire oder drei.«
+
+Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber genug, genug! Willst
+du es etwa vor mir verstecken?«
+
+Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert an. Er setzte sich neben
+ihn, rückte ganz nahe und faßte wie begütigend seinen Arm: »Ich
+verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es
+eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.«
+
+»Aber er hat mir's doch gesagt!«
+
+»Wer?«
+
+»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.«
+
+»Wie? Ich versteh dich nicht!«
+
+»So hat er zu mir gesagt: 'Wie heißt du?' und dann: 'Gib acht, gib acht,
+laß dich nicht betrügen!'«
+
+»Du mußt geträumt haben, Geronimo -- das ist ja Unsinn!«
+
+»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre gut. 'Laß dich nicht
+betrügen; ich habe ihm ein Goldstück ...' -- nein, so sagte er: 'Ich habe
+ihm ein Zwanzig-Frankstück gegeben.'«
+
+Der Wirt kam herein. »Nun, was ist's mit euch? Habt ihr das Geschäft
+aufgegeben? Ein Vierspänner ist gerade angefahren.«
+
+»Komm!« rief Carlo, »komm!«
+
+Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum soll ich kommen? Was hilft's
+mir denn? Du stehst ja dabei und --«
+
+Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt hinunter!«
+
+Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. Aber auf den Stufen sagte er:
+»Wir reden noch, wir reden noch!«
+
+Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo plötzlich verrückt
+geworden? Denn, wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise
+hatte er noch nie gesprochen.
+
+In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei Engländer; Carlo lüftete den
+Hut vor ihnen, und der Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen
+und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: »Danke« und dann, wie
+vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt;
+er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei Engländern fuhr davon.
+
+Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. Geronimo setzte sich auf
+die Bank, Carlo blieb beim Ofen stehen.
+
+»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo.
+
+»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, wie ich dir gesagt habe.«
+Seine Stimme zitterte ein wenig.
+
+»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo.
+
+»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.«
+
+»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! Wenn einer sagt: 'Ich habe
+deinem Bruder zwanzig Franken gegeben,' so ist er wahnsinnig! -- Eh, und
+warum hat er gesagt: 'Laß dich nicht betrügen' -- eh?«
+
+»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber es gibt Menschen, die
+mit uns armen Leuten Späße machen ...«
+
+»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? -- Ja, das hast du noch sagen müssen --
+darauf habe ich gewartet!« Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm
+stand.
+
+»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß er vor Bestürzung kaum
+sprechen konnte, »warum sollte ich ... wie kannst du glauben ...?«
+
+»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum ...?«
+
+»Geronimo, ich versichere dir, ich --«
+
+»Eh -- und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... ich weiß ja, daß du
+jetzt lachst!«
+
+Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, Leut' sind da!«
+
+Ganz mechanisch standen die Brüder auf und schritten die Stufen hinab.
+Zwei Wagen waren zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer
+mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo stand neben ihm,
+fassungslos. Was sollte er nur tun? Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie
+war das nur möglich? -- Und er betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener
+Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der Seite. Es war ihm, als sähe
+er über diese Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort niemals
+gewahrt hatte.
+
+Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang weiter. Carlo wagte
+nicht, ihn zu unterbrechen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, er
+fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen von
+oben, und Maria rief: »Was singst denn noch immer? Von mir kriegst du ja
+doch nichts!«
+
+Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es klang, als wäre seine
+Stimme und die Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er wieder die
+Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er sich
+neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig: er
+mußte noch einmal versuchen, den Bruder aufzuklären.
+
+»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ... bedenk doch, Geronimo, wie
+kannst du glauben, daß ich --«
+
+Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen durch das Fenster in den
+grauen Nebel hinauszublicken. Carlo redete weiter: »Nun, er braucht ja
+nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt haben ... ja er
+hat sich geirrt ...« Aber er fühlte wohl, daß er selbst nicht glaubte,
+was er sagte.
+
+Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo redete weiter, mit
+plötzlicher Lebhaftigkeit: »Wozu sollte ich denn -- du weißt doch, ich
+esse und trinke nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock
+kaufe, so weißt du's doch ... wofür brauch ich denn so viel Geld? Was
+soll ich denn damit tun?«
+
+Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen hervor: »Lüg nicht, ich höre, wie
+du lügst!«
+
+»Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!« sagte Carlo erschrocken.
+
+»Eh! hast du ihr's schon gegeben, ja? Oder bekommt sie's erst nachher?«
+schrie Geronimo.
+
+»Maria?«
+
+»Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du Dieb!« Und als wollte er nicht
+mehr neben ihm am Tische sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den Bruder in
+die Seite.
+
+Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an, dann verließ er das
+Zimmer und ging über die Stiege in den Hof. Er schaute mit weit offenen
+Augen auf die Straße hinaus, die vor ihm in bräunlichen Nebel versank.
+Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte die Hände in die
+Hosentaschen und ging ins Freie. Es war ihm, als hätte ihn sein Bruder
+davongejagt. Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch immer
+nicht fassen. Was für ein Mensch mochte das gewesen sein? Einen Franken
+schenkt er her und sagt, es waren zwanzig! Er mußte doch irgendeinen
+Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in seiner Erinnerung, ob er
+sich nicht irgendwo jemanden zum Feind gemacht, der nun einen anderen
+hergeschickt hatte, um sich zu rächen ... Aber soweit er zurückdenken
+mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, nie irgendeinen ernsten Streit
+mit jemandem vorgehabt. Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes
+getan, als daß er in Höfen oder an Straßenrändern gestanden war mit dem
+Hut in der Hand ... War ihm vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers
+böse?... Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun gehabt ...
+die Kellnerin in La Rosa war die letzte gewesen, im vorigen Frühjahr ...
+aber um die war ihm gewiß niemand neidisch ... Es war nicht zu
+begreifen!... Was mochte es da draußen in der Welt, die er nicht kannte,
+für Menschen geben?... Von überallher kamen sie ... was wußte er von
+ihnen?... Für diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen Sinn gehabt, daß
+er zu Geronimo sagte: Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ...
+Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit einem Male war es offenbar
+geworden, daß Geronimo ihm mißtraute!... Das konnte er nicht ertragen!
+Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen ... Und er eilte zurück.
+
+Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo auf der Bank
+ausgestreckt und schien das Eintreten Carlos nicht zu bemerken. Maria
+brachte den beiden Essen und Trinken. Sie sprachen während der Mahlzeit
+kein Wort. Als Maria die Teller abräumte, lachte Geronimo plötzlich auf
+und sagte zu ihr: »Was wirst du dir denn dafür kaufen?«
+
+»Wofür denn?!«
+
+»Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?«
+
+»Was will er denn von mir?« wandte sie sich an Carlo.
+
+Indes dröhnte unten der Hof von lastenbeladenen Fuhrwerken, laute
+Stimmen tönten herauf und Maria eilte hinunter. Nach ein paar Minuten
+kamen drei Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der Wirt trat zu
+ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften über das schlechte Wetter.
+
+»Heute nacht werdet ihr Schnee haben,« sagte der eine.
+
+Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren Mitte August auf dem Joch
+eingeschneit und beinahe erfroren war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch
+der Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen Eltern, die unten
+in Bormio wohnten.
+
+Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden. Geronimo und Carlo gingen
+hinunter, Geronimo sang, Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden
+gaben ihr Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte manchmal:
+»Wieviel?« und nickte zu den Antworten Carlos leicht mit dem Kopfe.
+Indes versuchte Carlo selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte
+immer nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen und daß
+er ganz wehrlos war.
+
+Als die Brüder wieder die Stufen hinaufschritten, hörten sie die
+Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden und lachen. Der jüngste rief dem
+Geronimo entgegen: »Sing uns doch auch was vor, wir zahlen schon! --
+Nicht wahr?« wandte er sich an die anderen.
+
+Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein kam, sagte: »Fangt heut
+nichts mit ihm an, er ist schlechter Laune.«
+
+Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten ins Zimmer hin und
+fing an zu singen. Als er geendet, klatschten die Fuhrleute in die
+Hände.
+
+»Komm her, Carlo!« rief einer, »wir wollen dir unser Geld auch in den
+Hut werfen wie die Leute unten!« Und er nahm eine kleine Münze und hielt
+die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen, den ihm Carlo
+entgegenstreckte. Da griff der Blinde nach dem Arm des Fuhrmannes und
+sagte: »Lieber mir, lieber mir! Es könnte daneben fallen -- daneben!«
+
+»Wieso daneben?«
+
+»Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!«
+
+Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo stand regungslos da.
+Nie hatte Geronimo solche Späße gemacht!...
+
+»Setz dich zu uns!« riefen die Fuhrleute. »Du bist ein lustiger Kerl!«
+Und sie rückten zusammen, um Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und
+wirrer war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit, lauter und
+lustiger als sonst, und hörte nicht auf zu trinken. Als Maria eben
+wieder hereinkam, wollte er sie an sich ziehen; da sagte der eine von
+den Fuhrleuten lachend: »Meinst du vielleicht, sie ist schön? Sie ist ja
+ein altes häßliches Weib!«
+
+Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß. »Ihr seid alle Dummköpfe,«
+sagte er. »Glaubt ihr, ich brauche meine Augen, um zu sehen? Ich weiß
+auch, wo Carlo jetzt ist -- eh! -- dort am Ofen steht er, hat die Hände in
+den Hosentaschen und lacht.«
+
+Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde am Ofen lehnte und nun
+wirklich das Gesicht zu einem Grinsen verzog, als dürfte er seinen
+Bruder nicht Lügen strafen.
+
+Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch vor Dunkelheit in Bormio
+sein wollten, mußten sie sich beeilen. Sie standen auf und
+verabschiedeten sich lärmend. Die beiden Brüder waren wieder allein in
+der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst manchmal zu schlafen
+pflegten. Das ganze Wirtshaus versank in Ruhe wie immer um diese Zeit
+der ersten Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem Tisch, schien
+zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und her, dann setzte er sich auf die
+Bank. Er war sehr müde. Es schien ihm, als wäre er in einem schweren
+Traum befangen. Er mußte an allerlei denken, an gestern, vorgestern und
+alle Tage, die früher waren, und besonders an warme Sommertage und an
+weiße Landstraßen, über die er mit seinem Bruder zu wandern pflegte, und
+alles war so weit und unbegreiflich, als wenn es nie wieder so sein
+könnte.
+
+Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol und bald darauf in kleinen
+Zwischenpausen Wagen, die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch
+viermal mußten die Brüder in den Hof hinab. Als sie das letztemal
+heraufgingen, war die Dämmerung hereingebrochen, und das Öllämpchen, das
+von der Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die in einem
+nahen Steinbruche beschäftigt waren und ein paar hundert Schritte
+unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo
+setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es war ihm,
+als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er hörte, wie Geronimo
+drüben laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er
+sich noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen
+gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, wie er auf dem Felde
+arbeitete, an den kleinen Garten mit der Esche an der Mauer, an das
+niedrige Häuschen, das ihnen gehörte, an die zwei kleinen Töchter des
+Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an sein eigenes
+Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Wie
+oft hatte Carlo das alles gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang
+anders als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen
+Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging
+wieder auf die Landstraße, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte
+aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo
+beinahe verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis
+hinein, sich am Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen,
+einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. -- Plötzlich hörte er das Rollen
+eines Wagens und erblickte den Lichtschimmer von zwei Laternen, die
+immer näher kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, saßen zwei Herren.
+Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen Gesichte fuhr erschrocken
+zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel
+hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete den Hut. Der
+Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer
+Finsternis. Plötzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben
+machte ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er es keine Minute
+länger ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem
+dumpfen Sinnen die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem
+quälenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten ihn nach Hause.
+
+Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden Reisenden, die vorher
+an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an einem Tische
+sitzen und sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten kaum
+auf, als er eintrat.
+
+An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher unter den Arbeitern.
+
+»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt schon an der Tür. »Warum
+läßt du deinen Bruder allein?«
+
+»Was gibt's denn?« fragte Carlo erschrocken.
+
+»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann's ja egal sein, aber ihr solltet
+doch denken, daß bald wieder schlechtere Zeiten kommen.«
+
+Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am Arme. »Komm!« sagte er.
+
+»Was willst du?« schrie Geronimo.
+
+»Komm zu Bett,« sagte Carlo.
+
+»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich kann mit meinem Gelde
+tun, was ich will -- eh! -- alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr
+meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein blinder Mann! Aber
+es gibt Leute -- es gibt gute Leute, die sagen mir: 'Ich habe deinem
+Bruder zwanzig Franken gegeben!'«
+
+Die Arbeiter lachten auf.
+
+»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er zog den Bruder mit sich,
+schleppte ihn beinah die Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo
+sie ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie Geronimo: »Ja, nun ist
+es an den Tag gekommen, ja, nun weiß ich's! Ah, wartet nur. Wo ist sie?
+Wo ist Maria? Oder legst du's ihr in die Sparkassa? -- Eh, ich singe für
+dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du -- und du bist ein Dieb!« Er
+fiel auf den Strohsack hin.
+
+Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein; drüben stand die Tür
+zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses offen, und Maria richtete
+die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem Bruder und sah
+ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bläulichen Lippen, das
+feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre älter aussehend, als
+er war. Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das
+Mißtrauen des Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert haben,
+und nur der Anlaß, vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es
+auszusprechen. Und alles, was Carlo für ihn getan, war vergeblich
+gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens.
+Was sollte er nun tun? -- Sollte er noch weiterhin Tag für Tag, wer weiß
+wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn
+betteln und keinen anderen Lohn dafür haben als Mißtrauen und Schimpf?
+Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde
+dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen,
+sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste. Dann mußte
+Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren,
+was es heißt, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und
+er selbst, was sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn
+er für sich allein war, konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht
+zum mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber während diese
+Gedanken durch seinen Kopf zogen, blieben seine Augen immer auf den
+Bruder geheftet. Und er sah ihn plötzlich vor sich, allein am Rande
+einer sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit den weit
+offenen, weißen Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden konnte,
+und mit den Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er
+fühlte, so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so
+hatte auch er niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die
+Liebe zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens war, und wußte zum
+ersten Male mit völliger Deutlichkeit, nur der Glaube, daß der Blinde
+diese Liebe erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so
+geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung nicht mit einem
+Male verzichten. Er fühlte, daß er den Bruder gerade so notwendig
+brauchte als der Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht
+verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden oder ein Mittel
+finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu
+überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen
+könnte! Wenn er dem Blinden morgen früh sagen könnte: »Ich habe es nur
+aufbewahrt, damit du's nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir
+die Leute nicht stehlen« ... oder sonst irgend etwas ...
+
+Schritte näherten sich auf der Holztreppe; die Reisenden gingen zur
+Ruhe. Plötzlich durchzuckte seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen,
+den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu erzählen und sie um
+die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wußte auch gleich: das war
+vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht
+einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine
+blasse zusammengefahren war, als er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem
+Wagen aufgetaucht war.
+
+Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz finster im Zimmer.
+Jetzt hörte er, wie die Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten
+über die Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore
+geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die Treppe auf und ab, dann war
+es ganz still. Carlo hörte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald
+verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Träumen. Als er erwachte,
+war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster
+war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort mitten in dem
+undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues Viereck. Geronimo schlief noch
+immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte an den Tag,
+der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach diesem
+Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag, und
+Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er
+abends nicht mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden gegangen
+und hatte sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht hätten sie doch
+Erbarmen mit ihm gehabt. Und doch -- vielleicht war es gut, daß er sie
+nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... Er setzte sich jäh auf und
+fühlte sein Herz klopfen. Er wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn
+abgewiesen hätten, so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben --
+so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann
+... Das, was ihm gegen seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren,
+war ja unmöglich, vollkommen unmöglich!... Die Tür drüben war versperrt
+-- und überdies: sie konnten aufwachen ... Ja, dort -- der graue
+leuchtende Fleck mitten im Dunkel war der neue Tag -- -- --
+
+Carlo stand auf, als zöge es ihn dorthin, und berührte mit der Stirn die
+kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... Um es
+zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unmöglich -- und überdies war es
+ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für solche
+Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie würden ja gar
+nicht merken, daß sie ihnen fehlten ... Er ging zur Türe und öffnete sie
+leise. Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu erreichen,
+geschlossen. An einem Nagel im Pfosten hingen Kleidungsstücke. Carlo
+fuhr mit der Hand über sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der
+Tasche ließen, dann wäre das Leben sehr einfach, dann brauchte bald
+niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die Taschen waren leer. Nun, was
+blieb übrig? Wieder zurück ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab
+vielleicht doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen --
+eine weniger gefährliche und rechtlichere. Wenn er wirklich jedesmal
+einige Zentesimi von den Almosen zurückbehielte, bis er zwanzig Franken
+zusammengespart, und dann das Goldstück kaufte ... Aber wie lang konnte
+das dauern -- Monate, vielleicht ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut hätte!
+Noch immer stand er auf dem Gang. Er blickte zur Tür hinüber ... Was war
+das für ein Streif, der senkrecht von oben auf den Fußboden fiel? War es
+möglich? Die Tür war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum staunte er
+denn darüber? Seit Monaten schon schloß die Tür nicht. Wozu auch? Er
+erinnerte sich: nur dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute
+geschlafen, zweimal Handwerksburschen und einmal ein Tourist, der sich
+den Fuß verletzt hatte. Die Tür schließt nicht -- er braucht jetzt nur
+Mut -- ja, und Glück! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, ist,
+daß die beiden aufwachen, und da kann er noch immer eine Ausrede finden.
+Er lugt durch den Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, daß er eben
+nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden Gestalten gewahren
+kann. Er horcht auf: sie atmen ruhig und gleichmäßig. Carlo öffnet die
+Tür leicht und tritt mit seinen nackten Füßen völlig geräuschlos ins
+Zimmer. Die beiden Betten stehen der Länge nach an der gleichen Wand dem
+Fenster gegenüber. In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo
+schleicht bis hin. Er fährt mit der Hand über die Fläche und fühlt ein
+Schlüsselbund, ein Federmesser, ein kleines Buch -- weiter nichts ... Nun
+natürlich!... Daß er nur daran denken konnte, sie würden ihr Geld auf
+den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich wieder fort!... Und doch,
+vielleicht braucht es nur einen guten Griff und es ist geglückt ... Und
+er nähert sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel liegt etwas --
+er fühlt danach -- es ist ein Revolver ... Carlo zuckt zusammen ... Ob er
+ihn nicht lieber gleich behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch
+den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn bemerkt ... Doch
+nein, er würde ja sagen: Es ist drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!...
+Und er läßt den Revolver liegen.
+
+Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem anderen Sessel unter
+den Wäschestücken ... Himmel! das ist sie ... das ist eine Börse -- er
+hält sie in der Hand!... In diesem Moment hört er ein leises Krachen.
+Mit einer raschen Bewegung streckt er sich der Länge nach zu Füßen des
+Bettes hin ... Noch einmal dieses Krachen -- ein schweres Aufatmen -- ein
+Räuspern -- dann wieder Stille, tiefe Stille. Carlo bleibt auf dem Boden
+liegen, die Börse in der Hand, und wartet. Es rührt sich nichts mehr.
+Schon fällt der Dämmer blaß ins Zimmer herein. Carlo wagt nicht
+aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden vorwärts bis zur Tür, die
+weit genug offen steht, um ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den
+Gang hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit einem tiefen
+Atemzug. Er öffnet die Börse; sie ist dreifach geteilt: links und rechts
+nur kleine Silberstücke. Nun öffnet Carlo den mittleren Teil, der durch
+einen Schieber nochmals verschlossen ist, und fühlt drei
+Zwanzigfrankenstücke. Einen Augenblick denkt er daran, zwei davon zu
+nehmen, aber rasch weist er diese Versuchung von sich, nimmt nur ein
+Goldstück heraus und schließt die Börse zu. Dann kniet er nieder, blickt
+durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder völlig still ist, und
+dann gibt er der Börse einen Stoß, so daß sie bis unter das zweite Bett
+gleitet. Wenn der Fremde aufwacht, wird er glauben müssen, daß sie vom
+Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich langsam. Da knarrt der
+Boden leise, und im gleichen Augenblick hört er eine Stimme von drinnen:
+»Was ist's? Was gibt's denn?« Carlo macht rasch zwei Schritte rückwärts,
+mit verhaltenem Atem, und gleitet in seine eigene Kammer. Er ist in
+Sicherheit und lauscht ... Noch einmal kracht drüben das Bett, und dann
+ist alles still. Zwischen seinen Fingern hält er das Goldstück. Es ist
+gelungen -- gelungen! Er hat die zwanzig Franken, und er kann seinem
+Bruder sagen: 'Siehst du nun, daß ich kein Dieb bin!' Und sie werden
+sich noch heute auf die Wanderschaft machen -- gegen den Süden zu, nach
+Bormio, dann weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ... nach Edole
+... nach Breno ... an den See von Iseo wie voriges Jahr ... Das wird
+durchaus nicht verdächtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum
+Wirt gesagt: »In ein paar Tagen gehen wir hinunter.«
+
+Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt in grauem Dämmer da. Ah,
+wenn Geronimo nur bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Frühe!
+Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen guten Morgen dem
+Wirt, dem Knecht und Maria auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn
+sie zwei Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es Geronimo
+sagen.
+
+Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an: »Geronimo!«
+
+»Nun, was gibt's?« Und er stützt sich mit beiden Händen und setzt sich
+auf.
+
+»Geronimo, wir wollen aufstehen.«
+
+»Warum?« Und er richtet die toten Augen auf den Bruder. Carlo weiß, daß
+Geronimo sich jetzt des gestrigen Vorfalles besinnt, aber er weiß auch,
+daß der keine Silbe darüber reden wird, ehe er wieder betrunken ist.
+
+»Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird heuer nicht mehr
+besser; ich denke, wir gehen. Zu Mittag können wir in Boladore sein.«
+
+Geronimo erhob sich. Die Geräusche des erwachenden Hauses wurden
+vernehmbar. Unten im Hof sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf
+und begab sich hinunter. Er war immer früh wach und ging oft schon in
+der Dämmerung auf die Straße hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte:
+»Wir wollen Abschied nehmen.«
+
+»Ah, geht ihr schon heut?« fragte der Wirt.
+
+»Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im Hof steht, und der Wind
+zieht durch.«
+
+»Nun, grüß mir den Baldetti, wenn du nach Bormio hinunterkommst, und er
+soll nicht vergessen, mir das Öl zu schicken.«
+
+»Ja, ich will ihn grüßen. Im übrigen -- das Nachtlager von heut.« Er
+griff in den Sack.
+
+»Laß sein, Carlo,« sagte der Wirt. »Die zwanzig Zentesimi schenk ich
+deinem Bruder; ich hab ihm ja auch zugehört. Guten Morgen.«
+
+»Dank,« sagte Carlo. »Im übrigen, so eilig haben wir's nicht. Wir sehen
+dich noch, wenn du von den Hütten zurückkommst; Bormio bleibt am selben
+Fleck stehen, nicht wahr?« Er lachte und ging die Holzstufen hinauf.
+
+Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte: »Nun, ich bin bereit zu
+gehen.«
+
+»Gleich,« sagte Carlo.
+
+Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel des Raumes stand, nahm er
+ihre wenigen Habseligkeiten und packte sie in ein Bündel. Dann sagte er:
+»Ein schöner Tag, aber sehr kalt.«
+
+»Ich weiß,« sagte Geronimo. Beide verließen die Kammer.
+
+»Geh leise,« sagte Carlo, »hier schlafen die zwei, die gestern abend
+gekommen sind.« Behutsam schritten sie hinunter. »Der Wirt läßt dich
+grüßen,« sagte Carlo; »er hat uns die zwanzig Zentesimi für heut nacht
+geschenkt. Nun ist er bei den Hütten draußen und kommt erst in zwei
+Stunden wieder. Wir werden ihn ja im nächsten Jahre wiedersehen.«
+
+Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die Landstraße, die im
+Dämmerschein vor ihnen lag. Carlo ergriff den linken Arm seines
+Bruders, und beide schritten schweigend talabwärts. Schon nach kurzer
+Wanderung waren sie an der Stelle, wo die Straße in langgezogenen Kehren
+weiterzulaufen beginnt. Nebel stiegen nach aufwärts, ihnen entgegen, und
+über ihnen die Höhen schienen von den Wolken wie eingeschlungen. Und
+Carlo dachte: Nun will ich's ihm sagen.
+
+Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das Goldstück aus der Tasche
+und reichte es dem Bruder; dieser nahm es zwischen die Finger der
+rechten Hand, dann führte er es an die Wange und an die Stirn, endlich
+nickte er. »Ich hab's ja gewußt,« sagte er.
+
+»Nun ja,« erwiderte Carlo und sah Geronimo befremdet an.
+
+»Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt hätte, ich hätte es doch
+gewußt.«
+
+»Nun ja,« sagte Carlo ratlos. »Aber du verstehst doch, warum ich da oben
+vor den anderen -- ich habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal -- --
+Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab ich mir gedacht, daß
+du dir einen neuen Rock kaufst und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich;
+darum habe ich ...«
+
+Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« Und er strich mit der
+einen Hand über seinen Rock. »Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir
+nach dem Süden.«
+
+Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht zu freuen schien, daß
+er sich nicht entschuldigte. Und er redete weiter: »Geronimo, war es
+denn nicht recht von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun haben wir
+es doch, nicht wahr? Nun haben wir es ganz. Wenn ich dir's oben gesagt
+hätte, wer weiß ... Oh, es ist gut, daß ich dir's nicht gesagt habe --
+gewiß!«
+
+Da schrie Geronimo: »Hör auf zu lügen, Carlo, ich habe genug davon!«
+
+Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders los. »Ich lüge nicht.«
+
+»Ich weiß doch, daß du lügst!... Immer lügst du!... Schon hundertmal
+hast du gelogen!... Auch das hast du für dich behalten wollen, aber
+Angst hast du bekommen, das ist es!«
+
+Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er faßte wieder den Arm des
+Blinden und ging mit ihm weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach;
+aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger war.
+
+Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen sprach Geronimo: »Es
+wird warm.« Er sagte es gleichgültig, selbstverständlich, wie er es
+schon hundertmal gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: für
+Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo war er immer ein Dieb
+gewesen.
+
+»Hast du schon Hunger?« fragte er.
+
+Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse und Brot aus der
+Rocktasche und aß davon. Und sie gingen weiter.
+
+Die Post von Bormio begegnete ihnen; der Kutscher rief sie an: »Schon
+hinunter?« Dann kamen noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren.
+
+»Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im gleichen Augenblick, nach
+einer raschen Wendung, lag das Veltlin zu ihren Füßen.
+
+Wahrhaftig -- nichts hat sich geändert, dachte Carlo ... Nun hab ich gar
+für ihn gestohlen -- und auch das ist umsonst gewesen.
+
+Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, der Glanz der Sonne riß
+Löcher hinein. Und Carlo dachte: 'Vielleicht war es doch nicht klug, so
+rasch das Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter dem Bett, das
+ist jedenfalls verdächtig ...' Aber wie gleichgültig war das alles! Was
+konnte ihm noch Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das Licht der
+Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen und glaubte es schon
+jahrelang und wird es immer glauben -- was konnte ihm noch Schlimmes
+geschehen?
+
+Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in Morgenglanz gebadet, und
+tiefer unten, wo das Tal sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das
+Dorf. Schweigend gingen die beiden weiter, und immer lag Carlos Hand auf
+dem Arm des Blinden. Sie gingen an dem Park des Hotels vorüber, und
+Carlo sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern sitzen und
+frühstücken. »Wo willst du rasten?« fragte Carlo.
+
+»Nun, im 'Adler', wie immer.«
+
+Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren,
+kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein
+geben.
+
+»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt.
+
+Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist's denn so früh? Der
+zehnte oder elfte September -- nicht?«
+
+»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.«
+
+»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht haben wir gefroren. Ja
+richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl
+hinaufzuschicken.«
+
+Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe
+befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen
+Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin,
+in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf.
+
+»Gehen wir schon?« fragte Geronimo.
+
+»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, im 'Hirschen' halten die
+Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.«
+
+Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden.
+»Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht's da oben aus? Heut nacht hat
+es wohl geschneit?«
+
+»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte.
+
+Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen
+und Weinbergen, dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel war blau und
+still. 'Warum hab ich's getan?' dachte Carlo. Er blickte den Blinden von
+der Seite an. 'Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat
+er es geglaubt -- immer bin ich allein gewesen -- und immer hat er mich
+gehaßt.' Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter,
+die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er
+die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die
+Sonne leuchtend auf allen Wegen lag.
+
+Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit
+setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an
+einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf.
+Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen
+hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf
+die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein.
+Es war ein Tag wie tausend andere.
+
+»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte
+sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war
+der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither
+kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen
+und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß
+es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete.
+Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam,
+erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai
+waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm
+zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte
+erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war.
+
+»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo.
+
+»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo.
+
+Nun waren sie an ihn herangekommen.
+
+»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen.
+
+»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide
+auf den Posten nach Boladore führen.«
+
+»Eh!« rief der Blinde.
+
+Carlo wurde blaß. 'Wie ist das nur möglich?' dachte er. 'Aber es kann
+sich nicht darauf beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht
+wissen.'
+
+»Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm lachend, »es macht
+euch wohl nichts, wenn ihr mitgeht.«
+
+»Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.
+
+»O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie ist es denn möglich ...
+was sollen wir denn ... oder vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich
+weiß nicht ...«
+
+»Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. Was weiß ich.
+Jedenfalls haben wir die telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen,
+daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, dringend
+verdächtig, da oben den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun, es ist auch
+möglich, daß ihr unschuldig seid. Also vorwärts!«
+
+»Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.
+
+»Ich rede -- o ja, ich rede ...«
+
+»Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, auf der Straße
+stehenzubleiben! Die Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an Ort und
+Stelle. Vorwärts!«
+
+Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, und so gingen sie langsam
+weiter, der Gendarm hinter ihnen.
+
+»Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo wieder.
+
+»Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? Es wird sich alles
+herausstellen; ich weiß selber nicht ...«
+
+Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich's ihm erklären, eh wir vor
+Gericht stehen?... Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun,
+was tut's. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit sagen. »Herr
+Richter,« werd ich sagen, »es ist doch kein Diebstahl wie ein anderer.
+Es war nämlich so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, um
+vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. »Da fuhr
+gestern ein Herr über den Paß ... es mag ein Irrsinniger gewesen sein --
+oder am End hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...«
+
+Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? ... Man wird ihn gar nicht
+so lange reden lassen. -- Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ...
+nicht einmal Geronimo glaubt sie ... -- Und er sah ihn von der Seite an.
+Der Kopf des Blinden bewegte sich nach alter Gewohnheit während des
+Gehens wie im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, und die
+leeren Augen stierten in die Luft. -- Und Carlo wußte plötzlich, was für
+Gedanken hinter dieser Stirne liefen ... 'So also stehen die Dinge,'
+mußte Geronimo wohl denken. -- 'Carlo bestiehlt nicht nur mich, auch die
+anderen Leute bestiehlt er ... Nun, er hat es gut, er hat Augen, die
+sehen, und er nützt sie aus ...' -- Ja, das denkt Geronimo, ganz gewiß
+... Und auch, daß man kein Geld bei mir finden wird, kann mir nicht
+helfen, -- nicht vor Gericht, nicht vor Geronimo. Sie werden mich
+einsperren und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat ja das
+Geldstück. -- Und er konnte nicht mehr weiter denken, er fühlte sich so
+sehr verwirrt. Es schien ihm, als verstünde er überhaupt nichts mehr von
+der ganzen Sache, und wußte nur eines: daß er sich gern auf ein Jahr in
+den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn, wenn nur Geronimo wüßte, daß
+er für ihn allein zum Dieb geworden war.
+
+Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß auch Carlo innehalten mußte.
+
+»Nun, was ist denn?« sagte der Gendarm ärgerlich. »Vorwärts, vorwärts!«
+Aber da sah er mit Verwunderung, daß der Blinde die Gitarre auf den
+Boden fallen ließ, seine Arme erhob und mit beiden Händen nach den
+Wangen des Bruders tastete. Dann näherte er seine Lippen dem Munde
+Carlos, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn.
+
+»Seid ihr verrückt?« fragte der Gendarm. »Vorwärts! vorwärts! Ich habe
+keine Lust zu braten.«
+
+Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne ein Wort zu sprechen. Carlo
+atmete tief auf und legte die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War
+es denn möglich? Der Bruder zürnte ihm nicht mehr? Er begriff am Ende --?
+Und zweifelnd sah er ihn von der Seite an.
+
+»Vorwärts!« schrie der Gendarm. »Wollt ihr endlich --!« Und er gab Carlo
+eins zwischen die Rippen.
+
+Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden leitend, ging wieder
+vorwärts. Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Denn er
+sah Geronimo lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit
+den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo lächelte
+auch. Ihm war, als könnte ihm jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, --
+weder vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. -- Er hatte seinen
+Bruder wieder ... Nein, er hatte ihn zum erstenmal ...
+
+
+
+
+Die Toten schweigen
+
+
+Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und
+ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in
+dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, vom Winde bewegt,
+hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen; die Trottoire waren beinahe
+trocken; aber die ungepflasterten Fahrstraßen waren noch feucht, und an
+einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel gebildet.
+
+Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritt von
+der Praterstraße, in irgendeine ungarische Kleinstadt versetzt glauben
+kann. Immerhin -- sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie
+keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen.
+
+Er sah auf die Uhr ... Sieben -- und schon völlige Nacht. Der Herbst ist
+diesmal früh da. Und der verdammte Sturm.
+
+Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher auf und ab. Die
+Laternenfenster klirrten. »Noch eine halbe Stunde,« sagte er zu sich,
+»dann kann ich gehen. Ah -- ich wollte beinahe, es wäre so weit.« Er
+blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide
+Straßen, von denen aus sie kommen könnte.
+
+Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er seinen Hut festhielt,
+der wegzufliegen drohte. -- Freitag -- Sitzung des Professorenkollegiums --
+da wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben ... Er hörte das
+Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann auch die Glocke von der nahen
+Nepomukkirche zu läuten. Die Straße wurde belebter. Es kamen mehr
+Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, Bedienstete aus den
+Geschäften, die um sieben geschlossen wurden. Alle gingen rasch und
+waren mit dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art von Kampf
+begriffen. Niemand beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädel blickten mit
+leichter Neugier zu ihm auf. -- Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt
+rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne Wagen? dachte er. Ist
+sie's?
+
+Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte sie ihre
+Schritte.
+
+»Du kommst zu Fuß?« sagte er.
+
+»Ich hab den Wagen schon beim Karltheater fortgeschickt. Ich glaube, ich
+bin schon einmal mit demselben Kutscher gefahren.«
+
+Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der
+junge Mann fixierte ihn scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch
+weiter. Die Dame sah ihm nach. »Wer war's?!« fragte sie ängstlich.
+
+»Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, sei ganz ruhig. --
+Aber jetzt komm rasch; wir wollen einsteigen.«
+
+»Ist das dein Wagen?«
+
+»Ja.«
+
+»Ein offener?«
+
+»Vor einer Stunde war es noch so schön.«
+
+Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein.
+
+»Kutscher,« rief der junge Mann.
+
+»Wo ist er denn?« fragte die junge Frau.
+
+Franz schaute ringsumher. »Das ist unglaublich,« rief er, »der Kerl ist
+nicht zu sehen.«
+
+»Um Gotteswillen!« rief sie leise.
+
+»Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.«
+
+Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen Wirtshause; an einem Tisch
+mit ein paar anderen Leuten saß der Kutscher; jetzt stand er rasch auf.
+
+»Gleich, gnä' Herr,« sagte er und trank stehend sein Glas Wein aus.
+
+»Was fällt Ihnen denn ein?«
+
+»Bitt schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.«
+
+Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. »Wohin fahr'n mer denn,
+Euer Gnaden?«
+
+»Prater -- Lusthaus.«
+
+Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte ganz versteckt, beinahe
+zusammengekauert, in der Ecke unter dem aufgestellten Dach.
+
+Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. -- »Willst du mir
+nicht wenigstens guten Abend sagen?«
+
+»Ich bitt dich; laß mich nur einen Moment, ich bin noch ganz atemlos.«
+
+Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide schwiegen eine Weile.
+Der Wagen war in die Praterstraße eingebogen, fuhr an dem
+Tegethoff-Monument vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die
+breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma plötzlich mit
+beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn
+noch von ihren Lippen trennte, und küßte sie.
+
+»Bin ich endlich bei dir!« sagte sie.
+
+»Weißt du denn, wie lang wir uns nicht gesehen haben?« rief er aus.
+
+»Seit Sonntag.«
+
+»Ja, und da auch nur von weitem.«
+
+»Wieso? Du warst ja bei uns.«
+
+»Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu euch komm ich
+überhaupt nie wieder. Aber was hast du denn?«
+
+»Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.«
+
+»Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater spazieren fahren, kümmern
+sich wahrhaftig nicht um uns.«
+
+»Das glaub ich schon. Aber zufällig kann einer hereinschaun.«
+
+»Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen.«
+
+»Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.«
+
+»Wie du willst.«
+
+Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören schien. Da beugte er sich
+vor und berührte ihn mit der Hand. Der Kutscher wandte sich um.
+
+»Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn so auf die Pferde ein?
+Wir haben ja gar keine Eile, hören Sie! Wir fahren in die ... wissen
+Sie, die Allee, die zur Reichsbrücke führt.«
+
+»Auf die Reichsstraßen?«
+
+»Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen Sinn.«
+
+»Bitt schön, gnä' Herr, der Sturm, der macht die Rösser so wild.«
+
+»Ah freilich, der Sturm.« Franz setzte sich wieder.
+
+Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren zurück.
+
+»Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?« fragte sie.
+
+»Wie hätt' ich denn können?«
+
+»Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester geladen.«
+
+»Ach so.«
+
+»Warum warst du nicht dort?«
+
+»Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter anderen Leuten zusammen
+zu sein. Nein, nie wieder.«
+
+Sie zuckte die Achseln.
+
+»Wo sind wir denn?« fragte sie dann.
+
+Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstraße ein.
+
+»Da geht's zur großen Donau,« sagte Franz, »wir sind auf dem Weg zur
+Reichsbrücke. Hier gibt es keine Bekannten!« setzte er spöttisch hinzu.
+
+»Der Wagen schüttelt entsetzlich.«
+
+»Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.«
+
+»Warum fährt er so im Zickzack?«
+
+»Es scheint dir so.«
+
+Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger als nötig hin und her
+warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu
+machen.
+
+»Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma.«
+
+»Da mußt du bald anfangen, denn um neun muß ich zu Hause sein.«
+
+»In zwei Worten kann alles entschieden sein.«
+
+»Gott, was ist denn das?« ... schrie sie auf. Der Wagen war in ein
+Pferdebahngeleise geraten und machte jetzt, als der Kutscher
+herauswenden wollte, eine so scharfe Biegung, daß er fast zu stürzen
+drohte. Franz packte den Kutscher beim Mantel. »Halten Sie,« rief er ihm
+zu. »Sie sind ja betrunken.«
+
+Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. »Aber gnä' Herr ...«
+
+»Komm, Emma, steigen wir hier aus.«
+
+»Wo sind wir?«
+
+»Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr gar so stürmisch.
+Gehen wir ein Stückchen. Man kann während des Fahrens nicht ordentlich
+reden.«
+
+Emma zog den Schleier herunter und folgte.
+
+»Nicht stürmisch nennst du das?« rief sie aus, als ihr gleich beim
+Aussteigen ein Windstoß entgegenfuhr.
+
+Er nahm ihren Arm. »Nachfahren,« rief er dem Kutscher zu.
+
+Sie spazierten vorwärts. Solang die Brücke allmählich anstieg, sprachen
+sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten,
+blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite
+Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne
+sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und
+sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die beiden eben verlassen
+hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war
+es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein
+ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen
+sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge
+mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich
+aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen.
+Der Donner verlor sich allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in
+plötzlichen Stößen.
+
+Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort.«
+
+»Freilich,« erwiderte Emma leise.
+
+»Wir sollten fort,« sagte Franz lebhaft, »ganz fort, mein ich ...«
+
+»Es geht ja nicht.«
+
+»Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.«
+
+»Und mein Kind?«
+
+»Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.«
+
+»Und wie?« fragte sie leise ... »Davonlaufen bei Nacht und Nebel?«
+
+»Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als ihm einfach zu sagen,
+daß du nicht länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst.«
+
+»Bist du bei Sinnen, Franz?«
+
+»Wenn du willst, erspar ich dir auch das, -- ich sag es ihm selber.«
+
+»Das wirst du nicht tun, Franz.«
+
+Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit konnte er nicht mehr
+bemerken, als daß sie den Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte.
+
+Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Hab keine Angst, ich werde
+es nicht tun.«
+
+Sie näherten sich dem anderen Ufer.
+
+»Hörst du nichts?« sagte sie. »Was ist das?«
+
+»Es kommt von drüben,« sagte er.
+
+Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht
+schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, daß es von einer kleinen
+Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt
+war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob
+Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf
+dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben
+seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder
+nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter
+ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen
+das andere Ufer. Sie sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins
+Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die
+Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein.
+
+Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: »Also das letztemal ...«
+
+»Was?« fragte Emma in besorgtem Ton.
+
+»-- Daß wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich sag dir adieu.«
+
+»Sprichst du im Ernst?«
+
+»Vollkommen.«
+
+»Siehst du, daß du es bist, der uns immer die paar Stunden verdirbt, die
+wir haben; nicht ich!«
+
+»Ja, ja, du hast recht,« sagte Franz. »Komm, fahren wir zurück.«
+
+Sie nahm seinen Arm fester. »Nein,« sagte sie zärtlich, »jetzt will ich
+nicht. Ich laß mich nicht so fortschicken.«
+
+Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. »Wohin kämen wir,« fragte
+sie dann, »wenn wir hier immer weiter führen?«
+
+»Da geht's direkt nach Prag, mein Kind.«
+
+»So weit nicht,« sagte sie lächelnd, »aber noch ein bißchen weiter da
+hinaus, wenn du willst.« Sie wies ins Dunkle.
+
+»He, Kutscher!« rief Franz. Der hörte nichts.
+
+Franz schrie: »Halten Sie doch!«
+
+Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm nach. Jetzt sah er, daß der
+Kutscher schlief. Durch heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. »Wir
+fahren noch ein kleines Stück weiter -- die gerade Straße -- verstehen Sie
+mich?«
+
+»Is' schon gut, gnä' Herr ...«
+
+Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche
+drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin.
+Aber die beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen
+sie hin und her warf.
+
+»Ist das nicht auch ganz schön,« flüsterte Emma ganz nahe an seinem
+Munde.
+
+In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe
+-- sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff
+ins Leere; es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender
+Geschwindigkeit im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen mußte --
+und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure
+schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig
+einsam wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: Geräusch von
+Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe auf den Boden schlugen, ein leises
+Wimmern; aber sehen konnte sie nichts. Jetzt faßte sie eine tolle Angst;
+sie schrie; ihre Angst ward noch größer, denn sie hörte ihr Schreien
+nicht. Sie wußte plötzlich ganz genau, was geschehen war: der Wagen war
+an irgend etwas gestoßen, wohl an einen der Meilensteine, hatte
+umgeworfen, und sie waren herausgestürzt. Wo ist _er?_ war ihr nächster
+Gedanke. Sie rief seinen Namen. Und sie hörte sich rufen, ganz leise
+zwar, aber sie hörte sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu
+erheben. Es gelang ihr so weit, daß sie auf den Boden zu sitzen kam, und
+als sie mit den Händen ausgriff, fühlte sie einen menschlichen Körper
+neben sich. Und nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge
+durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührte mit
+der ausgestreckten Hand sein Gesicht; sie fühlte etwas Feuchtes und
+Warmes darüber fließen. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da
+geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. Und der Kutscher -- wo war
+er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem
+Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl sie Schmerzen in
+allen Gliedern fühlte. Was tu ich nur, was tu ich nur ... es ist doch
+nicht möglich, daß mir gar nichts geschehen ist. »Franz!« rief sie. Eine
+Stimme antwortete ganz in der Nähe: »Wo sind S' denn, gnä' Fräul'n, wo
+ist der gnä' Herr? Es ist doch nix g'schehn? Warten S', Fräulein, -- i
+zünd nur die Latern an, daß wir was sehn; i weiß net, was die Krampen
+heut hab'n. Ich bin net Schuld, meiner Seel ... in ein Schoderhaufen
+sein s' hinein, die verflixten Rösser.«
+
+Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh taten, vollkommen
+aufgerichtet, und daß dem Kutscher nichts geschehen war, machte sie ein
+wenig ruhiger. Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete und
+Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie auf das Licht. Sie wagte
+es nicht, Franz noch einmal zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag;
+sie dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; er hat
+gewiß die Augen offen ... es wird nichts sein.
+
+Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah plötzlich den Wagen, der
+aber zu ihrer Verwunderung nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief
+gegen den Straßengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad gebrochen.
+Die Pferde standen vollkommen still. Das Licht näherte sich; sie sah den
+Schein allmählich über einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den
+Graben gleiten; dann kroch er auf die Füße Franzens, glitt über seinen
+Körper, beleuchtete sein Gesicht und blieb darauf ruhen. Der Kutscher
+hatte die Laterne auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des
+Liegenden. Emma ließ sich auf die Knie nieder, und es war ihr, als hörte
+ihr Herz zu schlagen auf, wie sie das Gesicht erblickte. Es war blaß;
+die Augen halb offen, so daß sie nur das Weiße von ihnen sah. Von der
+rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut über die Wange und
+verlor sich unter dem Kragen am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne
+gebissen. »Es ist ja nicht möglich!« sagte Emma vor sich hin.
+
+Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte das Gesicht an. Dann
+packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn in die Höhe. »Was
+machen Sie?« schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak vor diesem
+Kopf, der sich selbständig aufzurichten schien.
+
+»Gnä' Fräul'n, mir scheint, da ist ein großes Malheur geschehn.«
+
+»Es ist nicht wahr,« sagte Emma. »Es kann nicht sein. Ist denn Ihnen
+was geschehen? Und mir ...«
+
+Der Kutscher ließ den Kopf des Regungslosen wieder langsam sinken; -- in
+den Schoß Emmas, die zitterte. »Wenn nur wer käm ... wenn nur die
+Bauersleut eine Viertelstund' später daherkommen wären ...«
+
+»Was sollen wir denn machen?« sagte Emma mit bebenden Lippen.
+
+»Ja, Fräul'n, wenn der Wagen net brochen wär ... aber so, wie er jetzt
+zug'richt ist ... Wir müssen halt warten, bis wer kommt.« Er redete noch
+weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem war es ihr,
+als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war.
+
+»Wie weit ist's bis zu den nächsten Häusern?« fragte sie.
+
+»Das ist nimmer weit, Fräul'n, da ist ja gleich das Franz Josefsland ...
+Wir müßten die Häuser sehen, wenn's licht wär, in fünf Minuten müßte man
+dort sein.«
+
+»Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.«
+
+»Ja, Fräul'n, ich glaub schier, es ist g'scheiter, ich bleib mit Ihnen
+da -- es kann ja nicht so lang dauern, bis wer kommt, es ist ja
+schließlich die Reichsstraße, und --«
+
+»Da wird's zu spät, da kann's zu spät werden. Wir brauchen einen
+Doktor.«
+
+Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, dann schaute er
+kopfschüttelnd Emma an.
+
+»Das können Sie nicht wissen,« -- rief Emma, »und ich auch nicht.«
+
+»Ja, Fräul'n ... aber wo find' i denn ein' Doktor im Franz Josefsland?«
+
+»So soll von dort jemand in die Stadt und --«
+
+»Fräul'n, wissen's was! I denk mir, die werden dort vielleicht ein
+Telephon haben. Da könnten wir um die Rettungsgesellschaft
+telephonieren.«
+
+»Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen Sie, um Himmels willen!
+Und Leute bringen Sie mit ... Und ... bitt' Sie, gehen Sie nur, was tun
+Sie denn noch da?«
+
+Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun auf Emmas Schoß
+ruhte. »Rettungsgesellschaft, Doktor, wird nimmer viel nützen.«
+
+»Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!«
+
+»I geh schon -- daß S' nur nicht Angst kriegen, Fräul'n, da in der
+Finstern.« Und er eilte rasch über die Straße fort. »I kann nix dafür,
+meiner Seel,« murmelte er vor sich hin. »Ist auch eine Idee, mitten in
+der Nacht auf die Reichsstraßen ...«
+
+Emma war mit dem Regungslosen allein auf der dunklen Straße. »Was
+jetzt?« dachte sie. Es ist doch nicht möglich ... das ging ihr immer
+wieder durch den Kopf ... es ist ja nicht möglich. -- Es war ihr
+plötzlich, als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich herab zu den
+blassen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch. Das Blut an Schläfe und
+Wangen schien getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die
+gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum glaube ich es denn nicht
+-- es ist ja gewiß ... das ist der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie
+fühlte nur mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf meinem
+Schoß. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so daß er
+wieder auf den Boden zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl
+entsetzlicher Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den Kutscher
+weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was soll sie denn da auf der
+Landstraße mit dem toten Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ...
+Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie lang wird sie hier
+warten müssen? Und sie sah wieder den Toten an. Ich bin nicht allein mit
+ihm, fiel ihr ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre
+dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie danken müßte. Es war
+mehr Leben in dieser kleinen Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um
+sie; ja, es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen den
+blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf dem Boden lag ... Und sie
+sah in das Licht so lang, bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen
+begann. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte. Sie
+sprang auf! Das geht ja nicht, das ist ja unmöglich, man darf mich doch
+nicht hier mit ihm finden ... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst
+auf der Straße stehen, zu ihren Füßen den Toten und das Licht; und sie
+sah sich, als ragte sie in sonderbarer Größe in die Dunkelheit hinein.
+Worauf wart ich, dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf wart
+ich? Auf die Leute? -- Was brauchen mich denn die? Die Leute werden
+kommen und fragen ... und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden
+fragen, wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. Kein Wort
+werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd ich. Kein Wort ... sie
+können mich ja nicht zwingen.
+
+Stimmen kamen von weitem.
+
+Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die Stimmen kamen von der
+Brücke her. Das konnten also nicht die Leute sein, die der Kutscher
+geholt hatte. Aber wer immer sie waren -- jedenfalls werden sie das
+Licht bemerken -- und das durfte nicht sein, dann war sie entdeckt.
+
+Und sie stieß mit dem Fuß die Laterne um. Die verlöschte. Nun stand sie
+in tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur
+der weiße Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen kamen näher. Sie
+begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um
+Himmels willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar
+nichts anderes kommt es an -- sie ist ja verloren, wenn ein Mensch
+erfährt, daß sie die Geliebte von ... Sie faltet die Hände krampfhaft.
+Sie betet, daß die Leute auf der anderen Seite der Straße vorübergehen
+mögen, ohne sie zu bemerken. Sie lauscht. Ja von drüben ... Was reden
+sie doch?... Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt,
+denn sie reden etwas davon, sie kann Wörter unterscheiden. Ein Wagen ...
+umgefallen ... was sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie
+gehen weiter ... sie sind vorüber ... Gott sei Dank! Und jetzt, was
+jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie er? Er ist zu beneiden, für ihn
+ist alles vorüber ... für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine
+Furcht. Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, daß man sie hier
+finden, daß man sie fragen wird: wer sind Sie?... Daß sie mit auf die
+Polizei muß, daß alle Menschen es erfahren werden, daß ihr Mann -- daß
+ihr Kind --
+
+Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden ist wie
+angewurzelt ... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich
+selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht einen Schritt ...
+Vorsichtig ... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... einen
+Schritt hinauf -- o, er ist so seicht! -- und noch zwei Schritte, bis sie
+in der Mitte der Straße ist ... und dann steht sie einen Augenblick
+still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein
+verfolgen. Dort -- dort ist die Stadt. Sie kann nichts von ihr sehen ...
+aber die Richtung ist ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist
+ja gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut sehn; auch die
+Pferde ... und wenn sie sich sehr anstrengt, merkt sie auch etwas wie
+die Umrisse eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie
+reißt die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas hier zurück
+... der Tote ist es, der sie hier behalten will, und es graut sie vor
+seiner Macht ... Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt
+sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, und
+der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie ... geht
+rascher ... läuft ... und fort von da ... zurück ... in das Licht, in
+den Lärm, zu den Menschen! Die Straße läuft sie entlang, hält das Kleid
+hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr im Rücken, es ist, als wenn
+er sie vorwärts triebe. Sie weiß nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es
+ist ihr, als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müßte, der dort, weit
+hinter ihr, neben dem Straßengraben liegt ... dann fällt ihr ein, daß
+sie ja den Lebendigen entkommen will, die gleich dort sein und sie
+suchen werden. Was werden die denken? Wird man ihr nicht nach? Aber man
+kann sie nicht mehr einholen, sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat
+einen großen Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man kann ja
+nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann ahnen, wer die Frau war, die
+mit jenem Mann über die Reichsstraße gefahren ist. Der Kutscher kennt
+sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn er sie später einmal
+sieht. Man wird sich auch nicht darum kümmern, wer sie war. Wen geht es
+an? -- Es ist sehr klug, daß sie nicht dort geblieben ist, es ist auch
+nicht gemein. Franz selbst hätte ihr recht gegeben. Sie muß ja nach
+Haus, sie hat ein Kind, sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn
+man sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. Da ist die
+Brücke, die Straße scheint heller ... ja schon hört sie das Wasser
+rauschen wie früher; sie ist da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen --
+wann -- wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch nicht lange sein. Nicht
+lang? Vielleicht doch! Vielleicht war sie lange bewußtlos, vielleicht
+ist es längst Mitternacht, vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie
+wird daheim schon vermißt. Nein, nein, das ist ja nicht möglich, sie
+weiß, daß sie gar nicht bewußtlos war; sie erinnert sich jetzt genauer
+als im ersten Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und gleich über
+alles im klaren gewesen ist. Sie läuft über die Brücke und hört ihre
+Schritte hallen. Sie sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt
+sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt ihre Schritte. Wer
+kann das sein, der ihr entgegenkommt? Es ist jemand in Uniform. Sie geht
+ganz langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu merken, daß der
+Mann den Blick fest auf sie gerichtet hält. Wenn er sie fragt? Sie ist
+neben ihm, erkennt die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie geht
+an ihm vorüber. Sie hört, daß er hinter ihr stehen geblieben ist. Mit
+Mühe hält sie sich davon zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig.
+Sie geht noch immer so langsam wie früher. Sie hört das Geklingel der
+Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang nicht Mitternacht sein. Jetzt geht
+sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie
+schon unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Straße entgegenschimmern
+sieht, deren gedämpften Lärm sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese
+einsame Straße, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von weitem
+schrille Pfiffe, immer schriller, immer näher; ein Wagen saust an ihr
+vorüber. Unwillkürlich bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der
+Wagen der Rettungsgesellschaft. Sie weiß, wohin er fährt. Wie schnell!
+denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen Moment lang ist ihr, als müßte
+sie den Leuten nachrufen, als müßte sie mit, als müßte sie wieder dahin
+zurück, woher sie gekommen -- einen Moment lang packt sie eine ungeheure
+Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiß, daß sie feig und
+schlecht gewesen ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner
+verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, und wie eine
+Gerettete eilt sie vorwärts. Leute kommen ihr entgegen; sie hat keine
+Angst mehr vor ihnen -- das Schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt
+wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die
+Häuserzeile der Praterstraße, und es ist ihr, als werde sie dort von
+einer Flut von Menschen erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf.
+Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe,
+auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten vor neun. Sie hält die Uhr
+ans Ohr -- sie ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin
+lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und er ... er ... tot ...
+Schicksal ... Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen ... als wäre nie
+irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es
+hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn
+es das Schicksal anders bestimmt hätte? -- Und wenn sie jetzt dort im
+Graben läge und er am Leben geblieben wäre? Er wäre nicht geflohen, nein
+... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib -- und sie hat
+ein Kind und einen Gatten. -- Sie hat recht gehabt, -- es ist ihre Pflicht
+-- ja ihre Pflicht. Sie weiß ganz gut, daß sie nicht aus Pflichtgefühl so
+gehandelt ... Aber sie hat doch das Rechte getan. Unwillkürlich ... wie
+... gute Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. Jetzt würden die
+Ärzte sie fragen. Und Ihr Mann, gnädige Frau? O Gott!... Und die
+Zeitungen morgen -- und die Familie -- sie wäre für alle Zeit vernichtet
+gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben erwecken können. Ja, das war
+die Hauptsache; für nichts hätte sie sich zugrunde gerichtet. -- Sie ist
+unter der Eisenbahnbrücke. -- Weiter ... weiter ... Hier ist die
+Tegethoffsäule, wo die vielen Straßen ineinander laufen. Es sind heute,
+an dem regnerischen, windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien,
+aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig um sie, denn
+woher sie kommt, dort war die fürchterlichste Stille. Sie hat Zeit. Sie
+weiß, daß ihr Mann heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. -- sie
+kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr ein, ihr Kleid zu
+betrachten. Mit Schrecken merkt sie, daß es über und über beschmutzt
+ist. Was wird sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch den Kopf,
+daß morgen die Geschichte von dem Unglücksfall in allen Zeitungen zu
+lesen sein wird. Auch von einer Frau, die mit im Wagen war, und die dann
+nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen stehen, und bei diesem
+Gedanken bebt sie von neuem -- _eine_ Unvorsichtigkeit, und all ihre
+Feigheit war umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschlüssel bei sich; sie
+kann ja selbst aufsperren; -- sie wird sich nicht hören lassen. Sie
+steigt rasch in einen Fiaker. Schon will sie ihm ihre Adresse angeben,
+da fällt ihr ein, daß das vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm
+irgendeinen Straßennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie durch die
+Praterstraße fährt, möchte sie gern irgend etwas empfinden, aber sie
+kann es nicht; sie fühlt, daß sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in
+Sicherheit sein. Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, da
+sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Straße liegen zu
+lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und
+jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich.
+Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie weiß ganz gewiß, es werden
+Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zugrunde
+gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen
+Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem
+Kinde zu sitzen. Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt durch
+die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, und ziemlich viele
+Menschen eilen vorbei. Da ist ihr plötzlich, als könne alles, was sie in
+den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein böser Traum
+erscheint es ihr ... unfaßbar als Wirkliches, Unabänderliches. In einer
+Seitengasse nach dem Ring läßt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt
+rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, dem sie ihre
+richtige Adresse angibt. Es kommt ihr vor, als wäre sie jetzt überhaupt
+nicht mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es
+ihr durch den Sinn. Sie schließt die Augen, und sie sieht ihn vor sich
+auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen -- und plötzlich ist ihr, als
+sitze sie neben ihm und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu
+schwanken, und sie hat Angst, daß sie herausgeschleudert werde, wie
+damals -- und sie schreit auf. Da hält der Wagen. Sie fährt zusammen; sie
+ist vor ihrem Haustor. -- Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur, mit
+leisen Schritten, so daß der Portier hinter seinem Fenster gar nicht
+aufschaut, die Treppen hinauf, sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört
+zu werden ... durchs Vorzimmer in ihr Zimmer -- es ist gelungen! Sie
+macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wohl im
+Schrank. Über Nacht sollen sie trocknen -- morgen will sie sie selber
+bürsten und reinigen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt
+einen Schlafrock um.
+
+Jetzt klingelt es draußen. Sie hört das Stubenmädchen an die Wohnungstür
+kommen und öffnen. Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er
+den Stock hinstellt. Sie fühlt, daß sie jetzt stark sein müsse, sonst
+kann noch immer alles vergeblich gewesen sein. Sie eilt ins
+Speisezimmer, so daß sie im selben Augenblick eintritt wie ihr Gatte.
+
+»Ah, du bist schon zu Haus?« sagt er.
+
+»Gewiß,« antwortet sie, »schon lang.«
+
+»Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.« Sie lächelt, ohne sich dazu
+zwingen zu müssen. Es macht sie nur sehr müde, daß sie auch lächeln muß.
+Er küßt sie auf die Stirn.
+
+Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten müssen, ist
+eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offenen
+Buch ruht sein Gesicht. Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr
+gegenüber, nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick hinein.
+Dann legt er sie weg und sagt: »Die anderen sitzen noch zusammen und
+beraten weiter.«
+
+»Worüber?« fragt sie.
+
+Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen Sitzung, sehr lang, sehr
+viel. Emma tut, als höre sie zu, nickt zuweilen.
+
+Aber sie hört nichts, sie weiß nicht, was er spricht, es ist ihr zumute
+wie einem, der furchtbaren Gefahren auf wunderbare Weise entronnen ...
+sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr
+Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen,
+nimmt seinen Kopf und drückt ihn an ihre Brust. Eine unsägliche
+Müdigkeit überkommt sie -- sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt,
+daß der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen.
+
+Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit
+dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr
+gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er ... Ach nein, es war kein
+Zweifel möglich ... Diese Augen ... dieser Mund -- und dann ... kein
+Hauch von seinen Lippen. -- Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle,
+wo sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen geübten Blick.
+Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er
+sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden
+... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn er am Ende fürchtet,
+sie sei verletzt ... wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie
+muß weiter weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, was dann?
+Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland
+mit Leuten ... er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich
+fortgegangen bin -- und Franz wird ahnen. Franz wird wissen ... er kennt
+sie ja so gut ... er wird wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein
+gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um
+sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... und es wird ihn so tief
+erschüttern, daß sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, daß
+er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... feig
+und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Ärzte, Sie hätten sie
+gewiß nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht
+hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, o ja -- nur hätte
+sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht
+gewesen ist, sag ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah!
+
+»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht.
+
+»Was ... wie?... Was ist?«
+
+»Ja, was ist dir denn?«
+
+»Nichts.« Sie drückt den Jungen fester an sich.
+
+Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß du begonnen hast,
+einzuschlummern und --«
+
+»Und?«
+
+»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.«
+
+»... So?«
+
+»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken hat. Hast du geträumt?«
+
+»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.«
+
+Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das
+lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes
+ist, und doch schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr wird,
+sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: dieses Lächeln wird,
+solange sie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien.
+Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie
+sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das
+Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken
+sich in die ihren. Sie weiß: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht,
+so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat
+ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit
+ihnen anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, sonst ist es
+vorbei, und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten,
+die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter
+und zärtlich an.
+
+Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirn fühlt, denkt
+sie: freilich ... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich
+nie rächen, nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und die
+Toten schweigen.
+
+»Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie
+erschrickt tief. »Was hab ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie
+plötzlich alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze Geschichte
+dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... und noch einmal fragt sie,
+während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab ich
+denn gesagt?«
+
+»Die Toten schweigen,« wiederholt ihr Mann sehr langsam.
+
+»Ja ...« sagt sie, »ja ...«
+
+Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann,
+und lange sehn die beiden einander an. »Bring den Buben zu Bett,« sagt
+er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen ...«
+
+»Ja,« sagt sie.
+
+Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im
+nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird.
+
+Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer
+die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe
+über sie, als würde vieles wieder gut ................
+
+
+
+
+Die Weissagung
+
+
+1
+
+Unweit von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im Walde wie versunken und von
+der Landstraße aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des
+Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit zehn Jahren als Arzt in
+Meran lebt und dem ich im Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit
+dem Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals fünfzig Jahre alt und
+dilettierte in mancherlei Künsten. Er komponierte ein wenig, war tüchtig
+auf Violine und Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten
+aber hatte er in früherer Zeit die Schauspielerei getrieben. Wie es
+hieß, war er als ganz junger Mensch unter angenommenem Namen ein paar
+Jahre lang auf kleinen Bühnen draußen im Reiche umhergezogen. Ob nun der
+dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende Begabung oder mangelndes
+Glück der Anlaß war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn früh
+genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche Verspätung in den Staatsdienst
+treten zu können und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den er
+dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn auch ohne Begeisterung
+erfüllte. Aber als er, kaum über vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode
+des Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit welcher Liebe
+er an dem Gegenstand seiner jugendlichen Träume noch immer hing. Er ließ
+die Villa auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen und
+versammelte dort, insbesondere zur Sommers- und Herbstzeit, einen
+allmählich immer größer werdenden Kreis von Herren und Damen, die
+allerlei leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder vorführten.
+Seine Frau, aus einer alten Tiroler Bürgerfamilie, ohne wirkliche
+Anteilnahme an künstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten mit
+kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah seiner Liebhaberei mit
+einigem Spotte zu, der sich aber um so gutmütiger anließ, als das
+Interesse des Freiherrn ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam.
+Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte strengen
+Beurteilern nicht gewählt genug erscheinen, aber auch Gäste, die sonst
+nach Geburt und Erziehung zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen
+keinerlei Anstoß an der zwanglosen Zusammensetzung eines Kreises, die
+durch die dort geübte Kunst genügend gerechtfertigt schien und von dem
+überdies der Name und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht
+freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen anderen, deren ich
+mich nicht mehr entsinne, begegnete ich auf dem Schlosse einem jungen
+Grafen von der Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier
+aus Riva, einem Generalstabshauptmann mit Frau und Tochter, einer
+Operettensängerin aus Berlin, einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei
+Söhnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von seiner Weltreise
+zurückgekommen war, einem pensionierten Hofschauspieler aus Bückeburg,
+einer verwitweten Gräfin Saima, die als junges Mädchen Schauspielerin
+gewesen war, mit ihrer Tochter, und dem dänischen Maler Petersen.
+
+Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten Gäste. Einige nahmen in
+Bozen Quartier, andere in einem bescheidenen Gasthof, der unten an der
+Wegscheide lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute abzweigte. Aber
+meist in den ersten Nachmittagsstunden war der ganze Kreis oben
+versammelt, und dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen
+Hofschauspielers, zuweilen unter der des Freiherrn, der selbst niemals
+mitwirkte, bis in die späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs
+unter Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer größerem Ernste,
+bis der Tag der Vorstellung herannahte, und je nach Witterung, Laune,
+Vorbereitung, möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung,
+entweder auf dem an den Wald grenzenden Wiesenplatz hinter dem
+Schloßgärtchen oder in dem ebenerdigen Saal mit den drei großen
+Bogenfenstern die Aufführung stattfand.
+
+Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte ich keinen anderen
+Vorsatz, als an einem neuen Ort unter neuen Menschen einen heiteren Tag
+zu verbringen. Aber wie das so kommt, wenn man ohne Ziel und in
+vollkommener Freiheit umherstreift, und überdies bei allmählich
+schwindender Jugend keinerlei Beziehungen bestehen, die lebhafter in die
+Heimat zurückrufen, ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem Bleiben
+bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei, drei und mehr, und so, zu meiner
+eignen Verwunderung wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem
+Schlößchen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr wohnlich
+ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins Tal eingeräumt war. Dieser erste
+Aufenthalt auf dem Guntschnaberg wird für mich stets eine angenehme und,
+trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich herum, sehr stille
+Erinnerung bleiben, da ich mit keinem der Gäste anders als flüchtig
+verkehrte und überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nachdenken und
+Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen Waldspaziergängen
+verbrachte. Auch der Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal
+eines meiner kleinen Stücke darstellen ließ, störte die Ruhe meines
+Aufenthaltes nicht, da niemand von meiner Eigenschaft als Verfasser
+Notiz nahm. Vielmehr bedeutete mir dieser Abend ein höchst anmutiges
+Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf grünem Rasen, unter freiem Himmel
+ein bescheidener Traum meiner Jugendjahre so spät als unerwartet in
+Erfüllung ging.
+
+Die lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich nach, der Urlaub der
+Herren, die in einem Berufe standen, war großenteils abgelaufen, und nur
+manchmal kam Besuch von Freunden, die in der Nähe ansässig waren. Erst
+jetzt gewann ich selbst zu dem Freiherrn ein näheres Verhältnis und fand
+bei ihm zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als sie
+Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte sich keineswegs
+darüber, daß das, was auf seinem Schlosse getrieben wurde, nichts
+anderes war, als eine höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm
+im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in eine dauernde und
+ernsthafte Beziehung zu seiner geliebten Kunst zu treten, so ließ er
+sich an dem Schimmer genügen, der wie aus entlegenen Fernen über das
+harmlose Theaterwesen im Schlosse geglänzt kam, und freute sich
+überdies, daß hier von mancher Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch
+überall mit sich bringt, kein Hauch zu spüren war.
+
+Auf einem unserer Spaziergänge sprach er ohne jede Zudringlichkeit den
+Einfall aus, einmal auf seiner Bühne im Freien ein Stück dargestellt zu
+sehen, das schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und auf die
+natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese Bemerkung kam einem Plan, den
+ich seit einiger Zeit in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem
+Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen.
+
+Bald darauf verließ ich das Schloß.
+
+In den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon sandte ich mit
+freundlichen Worten der Erinnerung an die schönen Tage des vergangenen
+Herbstes dem Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen der Gelegenheit
+wohl entsprechen mochte. Bald darauf traf die Antwort ein, die den Dank
+des Freiherrn und eine herzliche Einladung für den kommenden Herbst
+enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, und in den ersten
+Septembertagen bei einbrechender kühler Witterung reiste ich an den
+Gardasee, ohne daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des Freiherrn
+von Schottenegg recht nahe war. Ja mir ist heute, als hätte ich zu
+dieser Zeit das kleine Schloß und alles dortige Treiben völlig vergessen
+gehabt. Da erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben des
+Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes Erstaunen aus, daß ich
+nichts von mir hören ließe, und enthielt die Mitteilung, daß am 9.
+September die Aufführung des kleinen Stückes stattfände, das ich ihm im
+Frühling übersandt hatte und bei der ich keineswegs fehlen dürfte.
+Besonderes Vergnügen versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in
+dem Stück beschäftigt waren und die es sich jetzt schon nicht nehmen
+ließen, auch außerhalb der Probezeit in ihren zierlichen Kostümen
+umherzulaufen und auf dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle -- so schrieb
+er weiter -- sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten an seinen Neffen,
+Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, der -- wie ich mich gewiß noch
+erinnere -- im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern mitgewirkt
+habe, der aber nun auch als Schauspieler ein überraschendes Talent
+erweise.
+
+Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am Tage der Vorstellung im
+Schlosse an, wo mich der Freiherr und seine Frau freundlich empfingen.
+Auch andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den pensionierten
+Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit Tochter, Herrn von Umprecht und
+seine schöne Frau; sowie die vierzehnjährige Tochter des Försters, die
+zu meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den Nachmittag wurde
+große Gesellschaft erwartet und abends bei der Vorstellung sollten mehr
+als hundert Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste des
+Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend ringsum, denen heute, wie
+schon öfter, der Zugang zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war
+diesmal auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern einer
+Bozener Kapelle und einigen Dilettanten bestehend, die eine Ouvertüre
+von Weber und überdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren sollten, welch
+letztere der Freiherr selbst komponiert hatte.
+
+Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht schien mir etwas
+stiller als die anderen. Anfangs hatte ich mich seiner kaum entsinnen
+können, und es fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal mit
+Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je das Wort an mich zu
+richten. Allmählich wurde mir der Ausdruck seines Gesichtes bekannter,
+und plötzlich erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der
+lebenden Bilder mit aufgestützten Armen in Mönchstracht vor einem
+Schachbrett gesessen war. Ich fragte ihn, ob ich mich nicht irrte. Er
+wurde beinahe verlegen, als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete
+für ihn und machte dann eine lächelnde Bemerkung über das neuentdeckte
+schauspielerische Talent seines Neffen. Da lachte Herr von Umprecht in
+einer ziemlich sonderbaren Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen
+Blick zu mir herüber, der eine Art von Einverständnis zwischen uns
+beiden auszudrücken schien und den ich mir durchaus nicht erklären
+konnte. Aber von diesem Augenblick an vermied er es wieder, mich
+anzusehen.
+
+
+2
+
+Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Da stand
+ich wieder am offenen Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan,
+und freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das sonnenglänzende
+Tal, das, eng zu meinen Füßen, allmählich sich dehnte und in der Ferne
+sich völlig aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen.
+
+Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von Umprecht trat ein, blieb an
+der Tür stehen und sagte mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um
+Verzeihung, wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr fort: »Aber
+sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör geschenkt haben, davon bin ich
+überzeugt, werden Sie meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.«
+
+Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er achtete nicht darauf,
+sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten
+Art Ihr Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, Ihnen zu
+danken.«
+
+Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, als daß sich diese
+Worte des Herrn von Umprecht auf seine Rolle bezögen und sie mir
+allzuhöflich schienen, so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht
+unterbrach mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie meine Worte
+gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich anzuhören?« Er setzte sich auf
+das Fensterbrett, kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit
+so ruhig als möglich scheinend, begann er: »Ich bin jetzt Gutsbesitzer,
+wie Sie vielleicht wissen, bin aber früher Offizier gewesen. Und zu
+jener Zeit, vor zehn Jahren -- _heute_ vor zehn Jahren -- begegnete mir
+das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten ich gewissermaßen
+bis heute gelebt habe und das heute durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun
+seinen Abschluß findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein
+dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich so wenig werden
+aufklären können wie ich; aber Sie sollen wenigstens von seinem
+Vorhandensein erfahren. -- Mein Regiment lag damals in einem öden
+polnischen Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem Dienst, der nicht
+immer anstrengend genug war, nur Trunk und Spiel. Überdies hatte man die
+Möglichkeit vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und nicht
+alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser trostlosen Aussicht mit
+Fassung zu tragen. Einer meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat
+unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer Kamerad, früher der
+liebenswürdigste Offizier, fing plötzlich an, ein arger Trinker zu
+werden, wurde unmanierlich, aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig und
+hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten, der ihn seine Charge
+kostete. Der Hauptmann meiner Kompanie war verheiratet und, ich weiß
+nicht, ob mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau eines
+Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb rätselhafterweise heil und
+gesund; der Mann starb im Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin
+ein sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete sich plötzlich
+ein, Philosophie zu verstehen, studierte Kant und Hegel und lernte ganze
+Partien aus deren Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich
+anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und zwar in einer so
+ungeheuerlichen Weise, daß ich an manchen Nachmittagen, wenn ich auf
+meinem Bette lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne lag
+außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig verstreuten Hütten
+bestand; die nächste Stadt, eine gute Reitstunde entfernt, war
+schmierig, widerwärtig, stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten
+wir manchmal mit ihnen zu tun -- der Hotelier war ein Jude, der Cafetier,
+der Schuster desgleichen. Daß wir uns möglichst beleidigend gegen sie
+benahmen, das können Sie sich denken. Wir waren besonders gereizt gegen
+dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem Regiment als Major zugeteilt
+war, den Gruß der Juden -- ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß ich
+nicht -- mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte und überdies mit
+auffallender Absichtlichkeit unseren Regimentsarzt protegierte, der ganz
+offenbar von Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich nicht
+erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen
+Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die
+Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen berufen war. Es war ein
+Taschenspieler, und zwar der Sohn eines Branntweinjuden aus dem
+benachbarten polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in ein
+Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen und hatte einmal irgend
+jemandem einige Kartenkunststücke abgelernt. Er bildete sich auf eigene
+Faust weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien an und
+brachte es allmählich so weit, daß er in der Welt umherziehen und sich
+auf Varietébühnen oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im
+Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die Eltern zu besuchen. Dort
+trat er nie öffentlich auf, und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo
+er mir durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er war ein
+kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals etwa dreißig Jahre alt
+sein mochte, mit einer vollkommen lächerlichen Eleganz gekleidet, die
+zur Jahreszeit gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen Gehrock
+und mit gebügeltem Zylinder herum und trug Westen vom herrlichsten
+Brokat; bei starkem Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der
+Nase.
+
+Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn nach dem Abendessen im
+Kasino an unserem langen Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle
+Nacht, und die Fenster standen offen. Einige Kameraden hatten zu spielen
+begonnen, andere lehnten am Fenster und plauderten, wieder andere
+tranken und rauchten schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und
+meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren zuerst einigermaßen
+erstaunt. Aber ohne weiteres abzuwarten, trat der Gemeldete in guter
+Haltung ein und sprach in leichtem Jargon einige einleitende Worte, mit
+denen er sich für die an ihn ergangene Einladung bedankte. Er wandte
+sich dabei an den Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm -- natürlich
+ausschließlich, um uns zu ärgern -- die Hand schüttelte. Der
+Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich hin und bemerkte dann, er
+werde zuerst einige Kartenkunststücke zeigen, um sich hierauf im
+Magnetismus und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte kaum zu Ende
+gesprochen, als einige unserer Herren, die in einer Ecke beim
+Kartenspiel saßen, merkten, daß ihnen die Figuren fehlten: auf einen
+Wink des Zauberers kamen sie aber durch das geöffnete Fenster
+hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen ließ, unterhielten
+uns sehr und übertrafen so ziemlich alles, was ich auf diesem Gebiete
+gesehen hatte. Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen
+Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne Grauen sahen wir alle
+zu, wie der philosophische Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des
+Zauberers gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die glatte
+Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben knapp am Rand um das ganze
+Viereck herumeilte und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er
+wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, sagte der Oberst
+zu dem Zauberer: »Sie, wenn er sich den Hals gebrochen hätte, ich
+versichere Sie, Sie wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.« Nie
+werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, mit dem der Jude diese
+Bemerkung wortlos erwiderte. Dann sagte er langsam: »Soll ich Ihnen aus
+der Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig diese Kaserne
+verlassen werden?« Ich weiß nicht, was der Oberst oder wir anderen ihm
+auf diese verwegene Bemerkung sonst entgegnet hätten -- aber die
+allgemeine Stimmung war schon so wirr und erregt, daß sich keiner
+wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler die Hand hinreichte und,
+dessen Jargon nachahmend, sagte: »Nu, lesen Sie.« Dies alles ging im Hof
+vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend mit ausgestreckten
+Armen wie ein Gekreuzigter an der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des
+Obersten ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. »Siehst du
+genug, Jud?« fragte ein Oberleutnant, der ziemlich betrunken war. Der
+Gefragte sah sich flüchtig um und sagte ernst: »Mein Künstlername ist
+Marco Polo.« Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter und
+sagte: »Mein Freund Marco Polo hat scharfe Augen.« -- »Nun, was sehen
+Sie?« fragte der Oberst höflicher. »Muß ich reden?« fragte Marco Polo.
+»Wir können Sie nicht zwingen,« sagte der Prinz. »Reden Sie!« rief der
+Oberst. »Ich möcht lieber nicht reden,« erwiderte Marco Polo. Der Oberst
+lachte laut. »Nur heraus, es wird nicht so arg sein. Und wenn es arg
+ist, muß es auch noch nicht wahr sein.« -- »Es ist sehr arg,« sagte der
+Zauberer, »und wahr ist es auch.« Alle schwiegen. »Nun?« fragte der
+Oberst. »Von Kälte werden Sie nichts mehr zu leiden haben,« erwiderte
+Marco Polo. »Wie?« rief der Oberst aus, »kommt unser Regiment also
+endlich nach Riva?« -- »Vom Regiment les' ich nichts, Herr Oberst. Ich
+seh nur, daß sie im Herbst sein werden ein toter Mann.« Der Oberst
+lachte, aber alle anderen schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war,
+als ob der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden wäre. Plötzlich
+lachte irgendeiner absichtlich sehr laut, andere taten ihm nach, und
+lärmend und lustig ging es zurück ins Kasino. »Nun,« rief der Oberst,
+»mit mir wär's in Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?«
+Einer rief wie zum Scherz: »Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.« Ein
+anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal
+vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte,
+und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo
+auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren
+Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: »Wo fängt das
+Wunder an?« Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum
+Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte.
+»Prophezeien Sie mir.« Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann
+sagte er: »Hier sieht man schlecht.« Ich merkte, daß die Öllampen zu
+flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern
+schienen. »Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber
+bei Mondschein.« Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die
+offene Tür ins Freie.
+
+Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. »Hören Sie, Marco Polo,«
+sagte ich, »wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an
+unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir's lieber.« Ohne
+weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. »Der Herr
+Leutnant haben Angst.« Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört
+hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und
+befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. »Ich wünsche
+etwas Bestimmteres zu wissen,« sagte ich, »das ist es. Worte lassen sich
+immer in verschiedener Weise auslegen.« Marco Polo sah mich an. »Was
+wünschen der Herr Leutnant?... Vielleicht das Bild von der künftigen
+Frau Gemahlin?« -- »Könnten Sie das?« Marco Polo zuckte die Achseln. »Es
+könnte sein ... es wär möglich ...« -- »Aber das will ich nicht,«
+unterbrach ich ihn. »Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel
+in zehn Jahren, mit mir los sein wird.« Marco Polo schüttelte den Kopf.
+»Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.« --
+»Was?« -- »Irgendeinen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen
+Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.« Ich verstand ihn nicht
+gleich. »Wie meinen Sie das?« -- »So mein ich das: ich kann einen Moment
+aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die
+Gegend, wo wir gerade stehen.« -- »Wie?« -- »Der Herr Leutnant müssen mir
+nur sagen, was für einen.« Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war
+höchst gespannt. »Gut,« sagte ich, »wenn Sie das können, so will ich
+sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen
+wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?« -- »Gewiß, Herr Leutnant,«
+sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber
+auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen
+sehen -- fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und
+mondbeglänzt gelegen waren -- und ich sah mich selbst, wie man sich
+manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit
+einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre
+hingestreckt, mitten auf einer Wiese -- an meiner Seite kniend eine
+schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und
+ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute
+mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen -- nicht wahr, Sie staunen?«
+
+Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier schilderte, war genau
+das Bild, mit welchem mein Stück heute abend um zehn Uhr schließen und
+in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr
+Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu
+nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.«
+
+Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes
+Kuwert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las
+laut: »Notariell verschlossen am 14. Januar 1859, zu eröffnen am 9.
+September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich
+wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien.
+
+»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn
+Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das
+sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu
+Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten
+die Erfüllungsmöglichkeiten für jene Prophezeiung in der seltsamsten
+Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit zu werden,
+verschwanden in nichts, wurden zu unerbittlicher Gewißheit,
+verflatterten, kamen wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem
+Berichte zurückkommen. Die Erscheinung selbst hatte gewiß nicht länger
+gedauert als einen Augenblick; denn noch klang von der Kaserne her das
+gleiche laute Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich gehört
+hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. Und nun stand auch Marco
+Polo wieder vor mir, mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht
+sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, nahm den
+Zylinder ab, sagte: »Guten Abend, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie sind
+zufrieden gewesen,« wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße
+vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens am nächsten Tage
+abgereist.
+
+Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder zuging, war, daß es sich
+um eine Geistererscheinung gehandelt haben mußte, die Marco Polo,
+vielleicht von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittels
+irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande gewesen war. Als ich
+durch den Hof kam, sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer
+in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer lehnen. Man hatte seiner
+offenbar vollkommen vergessen. Die anderen hörte ich drin in der
+höchsten Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten beim Arm,
+er wachte sofort auf, war nicht im geringsten verwundert und konnte sich
+nur die Erregung nicht erklären, in welcher sich alle Herren des
+Regiments befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer Art von
+Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, die sich über die
+Seltsamkeiten, deren Zeugen wir gewesen, entwickelt hatte, und redete
+wohl nicht klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: »Nun,
+meine Herren, ich wette, daß ich noch das nächste Frühjahr erlebe!
+Fünfundvierzig zu eins!« Und er wandte sich zu einem unserer Herren,
+einem Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler und Wetter
+genoß. »Nichts zu machen?« Obzwar es klar war, daß der Angeredete der
+Versuchung schwer widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden,
+eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem selbst abzuschließen,
+und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich hat er es bedauert. Denn
+schon nach vierzehn Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver,
+stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb auf der Stelle tot. Und bei
+dieser Gelegenheit merkten wir alle, daß wir es gar nicht anders
+erwartet hatten. Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen
+Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, von der ich in einer
+sonderbaren Scheu niemandem Mitteilung gemacht hatte. Erst zu
+Weihnachten, anläßlich einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich mich
+einem Kameraden, einem gewissen Friedrich von Gulant -- Sie haben
+vielleicht von ihm gehört, er hat hübsche Verse gemacht und ist sehr
+jung gestorben ... Nun, der war es, der mit mir zusammen das Schema
+entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen finden werden. Er war
+nämlich der Ansicht, daß solche Vorfälle für die Wissenschaft nicht
+verloren gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen als
+wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm bin ich bei Doktor Artiner
+gewesen, vor dessen Augen das Schema in diesem Kuwert verschlossen
+wurde. In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, und gestern
+erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir zugestellt worden. Ich will es
+gestehen: der Ernst, mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich
+anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht mehr sah und
+besonders, als er kurz darauf starb, fing die ganze Geschichte an, mir
+sehr lächerlich vorzukommen. Vor allem war es mir klar, daß ich mein
+Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in der Welt konnte mich
+dazu zwingen, am 9. September 1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen
+Vollbart auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft konnte
+ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine Frau mit roten Haaren zu
+heiraten und Kinder zu bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht
+ausweichen konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von dem mir die Narbe
+auf der Stirn zurückbleiben konnte. Ich war also fürs erste beruhigt. --
+Ein Jahr nach jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, meine
+jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den Dienst und widmete mich
+der Landwirtschaft. Ich besichtigte verschiedene kleinere Güter und -- so
+komisch es klingen mag -- ich achtete darauf, daß sich womöglich
+innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die dem Rasenplatz
+jenes Traumes (wie ich den Inhalt jener Erscheinung bei mir zu nennen
+liebte) gleichen könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen,
+als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch eine Besitzung in
+Kärnten mit einer schönen Jagd zufiel. Beim ersten Durchwandern des
+neuen Gebietes gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald
+begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art der Örtlichkeit
+zu gleichen schien, vor der mich zu hüten ich vielleicht allen Anlaß
+hatte. Ich erschrak ein wenig. Meiner Frau hatte ich von der
+Prophezeiung nichts erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit
+meinem Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen Tage« -- er
+lächelte wie befreit -- »vergiftet hätte. So konnte ich ihr natürlich
+auch meine Bedenken nicht mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit
+der Überlegung, daß ich ja keineswegs den September 1868 auf meinem Gute
+zubringen müßte. -- Im Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in
+seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen Zügen Ähnlichkeit mit
+den Zügen des Knaben aus dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich
+zu verwischen, bald wieder sprach sie sich deutlicher aus -- und heute
+darf ich mir ja selbst gestehen, daß der Knabe, der heute abends um zehn
+an meiner Bahre stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar
+gleicht. -- Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete es sich vor drei
+Jahren, daß die verwitwete Schwester meiner Frau, die bisher in Amerika
+gelebt hatte, starb und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner
+Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, um es bei uns im
+Hause aufzunehmen. Als ich es zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu
+merken, daß es dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. Der Gedanke
+fuhr mir durch den Kopf, das Kind in dem fremden Lande bei fremden
+Leuten zu lassen. Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich
+wieder von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause auf. Wieder
+beruhigte ich mich vollkommen, trotz der zunehmenden Ähnlichkeit der
+Kinder mit den Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich bildete
+mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter des Traumes mich doch
+vielleicht trügen mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener
+Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgehört, an jenen sonderbaren Abend in
+dem polnischen Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine neue
+Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise erschüttert wurde. Ich
+hatte auf ein paar Monate verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir
+meine Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit mit der Frau
+des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht gesehen hatte, schien mir
+vollständig. Ich fand es für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck
+des Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer heftiger, denn
+plötzlich kam mir ein an Wahnsinn grenzender Einfall: wenn ich mich von
+meiner Frau und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr
+schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren gehalten. Meine Frau
+weinte, sank wie gebrochen zu Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte
+mir den Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich einer Reise
+nach München, war ich in der Kunstausstellung von dem Bildnis einer
+rothaarigen Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau hatte schon
+damals den Plan gefaßt, sich bei irgendeiner Gelegenheit diesem Bildnis
+dadurch ähnlich zu machen, daß sie sich die Haare färben ließ. Ich
+beschwor sie natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche dunkle
+Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen war, schien alles wieder
+gut zu sein. Sah ich nicht deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor
+in meiner Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen, auf
+natürliche Weise zu erklären?... Hatten nicht tausend andere Güter mit
+Wiesen und Wald und Frau und Kinder?... Und das einzige, was vielleicht
+Abergläubische schrecken durfte, stand noch aus -- bis zum heurigen
+Winter: die Narbe, die Sie nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich
+bin nicht mutlos -- erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das sage; ich habe
+mich als Offizier zweimal geschlagen und unter recht gefährlichen
+Bedingungen -- auch vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als
+ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im vorigen Jahre aus
+irgendeinem lächerlichen Grund -- wegen eines nicht ganz höflichen Grußes
+-- von einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es vorgezogen« --
+Herr von Umprecht errötete leicht -- »mich zu entschuldigen. Die Sache
+wurde natürlich in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch
+ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen hätte, wäre nicht
+plötzlich eine wahnwitzige Angst über mich gekommen, daß mein Gegner mir
+eine Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal damit einen neuen
+Trumpf in die Hand spielen könnte ... Aber Sie sehen, es half mir
+nichts: die Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier verwundet
+wurde, war vielleicht derjenige innerhalb der ganzen zehn Jahre, der
+mich am tiefsten zum Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war
+heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder drei anderen
+Personen, die mir vollkommen unbekannt waren, in der Eisenbahn zwischen
+Klagenfurt und Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich
+fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, daß etwas Hartes zu
+Boden fällt; ich greife zuerst nach der schmerzenden Stelle -- sie
+blutet; dann bücke ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom
+Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. »Ist was geschehen?«
+ruft einer. Man merkt, daß ich blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr
+aber -- ich seh es ganz deutlich -- ist in die Ecke wie zurückgesunken. In
+der nächsten Haltestelle bringt man Wasser, der Bahnarzt legt mir einen
+notdürftigen Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich an
+der Wunde sterben könnte: ich weiß ja, daß es eine Narbe werden muß. Ein
+Gespräch im Waggon hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat
+beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen Bubenstreich handle; der
+Herr in der Ecke schweigt und starrt vor sich hin. In Villach steige ich
+aus. Plötzlich ist der Mann an meiner Seite und sagt: »Es galt mir.« Eh
+ich antworten, ja nur mich besinnen kann, ist er verschwunden; ich habe
+nie erfahren können, wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht
+... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt glaubte von
+einem beleidigten Gatten oder Bruder, und den ich möglicherweise
+gerettet habe, da eben mir die Narbe bestimmt war ... wer kann es
+wissen?... Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn an
+derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume gesehen hatte. Und mir ward
+es immer klarer, daß ich mit irgendeiner unbekannten höhnischen Macht in
+einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich sah dem Tag, wo das letzte
+in Erfüllung gehen sollte, mit wachsender Unruhe entgegen.
+
+Im Frühling erhielten wir die Einladung meines Onkels. Ich war fest
+entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn ohne daß mir ein deutliches Bild
+in Erinnerung gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß gerade auf
+seinem Gut hier die verruchte Stelle zu finden wäre. Meine Frau hätte
+aber eine Ablehnung nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch,
+mit ihr und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in der bestimmten
+Absicht, sobald als möglich das Schloß wieder zu verlassen und weiter in
+den Süden, nach Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der ersten
+Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch auf Ihr Stück, mein Onkel
+sprach von den kleinen Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat
+mich, meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Es
+war damals bestimmt, daß der Held von einem Berufsschauspieler
+dargestellt werden sollte. Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß
+ich gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. So erklärte
+ich denn eines Abends, daß ich am nächsten Tage das Schloß auf einige
+Zeit zu verlassen und Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte
+versprechen, Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben Abend kam
+ein Brief des Schauspielers, der aus irgendwelchen gleichgültigen
+Gründen dem Freiherrn seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr
+ärgerlich. Er bat mich, das Stück zu lesen -- vielleicht könnte ich ihm
+unter unseren Bekannten einen nennen, der geeignet wäre, die Rolle
+darzustellen. So nahm ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es.
+Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir vorging, als ich zu dem
+Schlusse kam und hier Wort für Wort die Situation aufgezeichnet fand,
+die mir für den 9. September dieses Jahres prophezeit worden war. Ich
+konnte den Morgen nicht erwarten, um meinem Onkel zu sagen, daß ich die
+Rolle spielen wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen könnte;
+denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir vor wie in sicherer Hut,
+und wenn mir die Möglichkeit entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war
+ich wieder jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel war gleich
+einverstanden, und von nun an nahm alles seinen einfachen und guten
+Gang. Wir probieren seit einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die
+Situation, die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal
+durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge Komtesse Saima mit
+ihren schönen roten Haaren, die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir,
+und die Kinder stehen an meiner Seite.«
+
+Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, fielen meine Augen wieder
+auf das Kuwert, das noch immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von
+Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich Ihnen noch schuldig,«
+sagte er und öffnete die Siegel. Ein zusammengefaltetes Papier lag
+zutage. Umprecht entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor
+mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener Situationsplan
+zu der Schlußszene des Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch
+aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« versehen; ein Strich mit
+einer männlichen Figur war etwa in der Mitte des Planes eingetragen,
+darüber stand: »Bahre« ... Bei den anderen schematischen Figuren stand
+in kleinen Buchstaben mit roter Tinte zugeschrieben: »Frau mit rotem
+Haar«, »Knabe«, »Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen Händen«.
+Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: »Was bedeutet das: 'Mann mit
+erhobenen Händen?'«
+
+»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, »hätt ich nun beinahe
+vergessen. Mit dieser Figur verhält es sich folgendermaßen: In jener
+Erscheinung gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, einen
+alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer Brille, einen
+dunkelgrünen Schal um den Hals, mit erhobenen Händen und weit
+aufgerissenen Augen.«
+
+Diesmal stutzte ich.
+
+Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam beunruhigt: »Was
+vermuten Sie eigentlich? Wer sollte das sein?«
+
+»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß irgendeiner von den
+Zuschauern, vielleicht aus der Dienerschaft des Onkels ... oder einer
+von den Bauern am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten und
+auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber will es das
+Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener durch einen jener
+Zufälle, die mich wirklich nicht mehr überraschen, gerade in dem
+Augenblick, wo ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.«
+
+Ich schüttelte den Kopf.
+
+»Wie sagten Sie?... Kahl -- Brille -- ein grüner Schal?... -- Nun
+erscheint mir die Sache noch seltsamer als früher. Die Gestalt des
+Mannes, den Sie damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem Stück
+beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. Es war der
+wahnsinnige Vater der Frau, von dem im ersten Akt die Rede ist, und der
+zum Schluß auf die Szene stürmen sollte.«
+
+»Aber Schal und Brille?«
+
+»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem getan -- glauben Sie nicht?«
+
+»Es ist möglich.«
+
+Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht ließ ihren Gatten zu sich
+bitten, da sie ihn gerne vor der Vorstellung sprechen möchte, und er
+empfahl sich. Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam den
+Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem Tisch hatte liegen lassen.
+
+
+3
+
+Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die Vorstellung stattfinden
+sollte. Er lag hinter dem Schlößchen, durch eine anmutige Gartenanlage
+davon geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken abschloß, waren
+etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem Holz aufgestellt; die vorderen
+Reihen waren mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten
+standen einige Notenpulte und Stühle; einen Vorhang gab es nicht. Die
+Trennung der Bühne von dem Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende
+hohe Tannenbäume angedeutet; rechts schloß sich wildes Gesträuch an,
+hinter dem ein bequemer Lehnstuhl, dem Zuschauer unsichtbar, für den
+Souffleur bestimmt, stand. Zur Linken lag der Platz frei und ließ den
+Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war von hohen Bäumen
+gebildet; sie standen dicht aneinandergedrängt nur in der Mitte, und
+links schlichen schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin im
+Wald, innerhalb einer kleinen künstlichen Lichtung, waren Tisch und
+Stühle aufgestellt, wo die Schauspieler ihrer Stichworte harren mochten.
+Für die Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der Bühne und des
+Zuschauerraumes kulissenartig hohe alte Kirchenleuchter mit riesigen
+Kerzen aufgerichtet hatte. Hinter dem Gesträuch zur Rechten war eine Art
+Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst anderem kleinern Gerät, das
+im Stück notwendig war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht am
+Schlusse des Stückes sterben sollte. -- Als ich jetzt über die Wiese
+schritt, war sie von der Abendsonne mild überglänzt ... Ich hatte
+natürlich über die Erzählung des Herrn von Umprecht nachgedacht. Nicht
+für unmöglich hielt ich es anfangs, daß Herr von Umprecht zu der Art von
+phantastischen Lügnern gehörte, die eine Mystifikation unter
+Schwierigkeiten von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu
+machen. Ich hielt es selbst für denkbar, daß die Unterschrift des Notars
+gefälscht war und daß Herr von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um
+die Sache folgerecht durchzuführen. Besondere Bedenken stiegen mir über
+den vorläufig unbekannten Mann mit den erhobenen Händen auf, mit dem
+sich Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben konnte. Aber meinen
+Zweifeln widersprach vor allem die Rolle, die dieser Mann in meinem
+ersten Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte -- und besonders
+der günstige Eindruck, den ich von der Person des Herrn von Umprecht
+gewonnen hatte. Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer
+Bericht mir erschien -- irgend etwas in mir verlangte sogar danach, ihm
+glauben zu dürfen; es mochte die törichte Eitelkeit sein, mich als
+Vollstrecker eines über uns waltenden Willens zu empfinden. -- Indes
+hatte einige Bewegung in meiner Nähe angehoben; Diener kamen aus dem
+Schloß, Kerzen wurden angezündet, Leute aus der Umgebung, manche auch in
+bäurischer Kleidung, stiegen langsam den Hügel herauf und stellten sich
+bescheiden zu seiten der Bänke auf. Bald erschien die Frau des Hauses
+mit einigen Herren und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte
+mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom vorigen Jahr. Die
+Mitglieder des Orchesters waren erschienen und begaben sich auf ihre
+Plätze; die Zusammenstellung war ungewöhnlich genug; es waren zwei
+Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontrabaß, eine Flöte und eine
+Oboe. Sie begannen sofort, offenbar verfrüht, eine Ouvertüre von Weber
+zu spielen. Ganz vorne, in der Nähe des Orchesters, stand ein alter
+Bauer, der glatzköpfig war und eine Art von dunklem Tuch um den Hals
+geschlungen hatte. Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht
+ich, später eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu werden und auf die
+Szene zu laufen. Das Tageslicht war völlig dahin, die hohen Kerzen
+flackerten ein wenig, da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter
+dem Gesträuch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen waren die
+Mitwirkenden in die Nähe der Bühne gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder
+an die anderen, die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, daß ich
+noch niemanden außer Herrn von Umprecht, seinen Kindern und der
+Försterstochter gesehen hatte. Nun hörte ich die laute Stimme des
+Regisseurs und das Lachen der jungen Komtessa Saima. Die Bänke waren
+alle besetzt, der Freiherr saß in einer der vordersten Reihen und sprach
+mit der Gräfin Saima. Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die
+Försterstochter vor und sprach den Prolog, der das Stück einleitete. Den
+Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal eines Mannes, der, ergriffen von
+einer plötzlichen Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen ohne
+Abschied verläßt und im Verlaufe eines Tages so viel Schmerzliches und
+Widriges erlebt, daß er wieder zurückzukehren gedenkt, ehe Frau und
+Kinder ihn vermißt haben; aber ein letztes Abenteuer auf dem Rückweg,
+nahe der Tür seines Hauses, hat seine Ermordung zur Folge, und nur mehr
+sterbend kann er die Verlassenen begrüßen, die seiner Flucht und seinem
+Tod als den unlösbarsten Rätseln gegenüberstehen.
+
+Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen sprachen ihre Rollen
+angenehm; ich erfreute mich an der einfachen Darstellung der einfachen
+Vorgänge und dachte im Anfang nicht mehr an die Erzählung des Herrn von
+Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte das Orchester wieder, aber
+niemand hörte darauf, so lebhaft war das Geplauder auf den Bänken. Ich
+selbst saß nicht, sondern stand, ungesehen von den anderen, der Bühne
+ziemlich nahe, auf der linken Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu
+senkte. Der zweite Akt begann; der Wind war etwas stärker geworden, und
+die flackernde Beleuchtung trug zu der Wirkung des Stückes nicht wenig
+bei. Wieder verschwanden die Darsteller im Wald, und das Orchester
+setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zufällig auf den Flötisten, der eine
+Brille trug und glatt rasiert war; aber er hatte lange weiße Haare, und
+von einem Schal war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schloß, die
+Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte ich, daß der
+Flötenspieler, der sein Instrument vor sich hin auf das Pult gelegt
+hatte, in seine Tasche griff, einen großen grünen Schal hervorzog und
+ihn um den Hals wickelte. Ich war im allerhöchsten Grade befremdet. In
+der nächsten Sekunde trat Herr von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick
+plötzlich auf dem Flötisten haften blieb, wie er den grünen Schal
+bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte er sich wieder
+gefaßt und sprach seine Rolle unbeirrt weiter. Ich fragte einen jungen,
+einfach gekleideten Burschen neben mir, ob er den Flötisten kenne, und
+erfuhr von ihm, daß jener ein Schullehrer aus Kaltern war. Das Spiel
+ging weiter, der Schluß nahte heran. Die zwei Kinder irrten, wie es
+vorgeschrieben war, über die Bühne, Lärm im Walde drang näher und näher,
+man hörte schreien und rufen; es machte sich nicht übel, daß der Wind
+stärker wurde und die Zweige sich bewegten; endlich trug man Herrn von
+Umprecht als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein. Die beiden
+Kinder stürzten herbei, die Fackelträger standen regungslos zur Seite.
+Die Frau trat später auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem
+Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder; dieser will die
+Lippen noch einmal öffnen, versucht, sich zu erheben, aber -- wie es in
+der Rolle vorgeschrieben -- es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt mit einem
+Mal ein ungeheurer Windstoß, daß die Fackeln zu verlöschen drohen; ich
+sehe, wie einer im Orchester aufspringt -- es ist der Flötenspieler -- zu
+meinem Erstaunen ist er kahl, seine Perücke ist ihm davongeflogen; mit
+erhobenen Händen, den grünen flatternden Schal um den Hals, stürzt er
+der Bühne zu. Unwillkürlich richte ich mein Auge auf Umprecht; seine
+Blicke sind starr, wie verzückt auf den Mann gerichtet; er will etwas
+reden -- er vermag es offenbar nicht -- er sinkt zurück ... Noch meinen
+viele, daß dies alles zum Stücke gehöre; ich selbst bin nicht sicher,
+wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist; indes ist der Mann an der
+Bahre vorüber, immer noch seiner Perücke nach, und verschwindet im Wald.
+Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windstoß läßt eine der beiden
+Fackeln verlöschen; einige Menschen ganz vorne werden unruhig -- ich höre
+die Stimme des Freiherrn: »Ruhe! Ruhe!« -- es wird wieder stille -- auch
+der Wind regt sich nicht mehr ... aber Umprecht bleibt ausgestreckt
+liegen, rührt sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse Saima
+schreit auf -- natürlich glauben die Leute, auch dies sei im Stück so
+vorgeschrieben. Ich aber dränge mich durch die Menschen, stürze auf die
+Bühne, höre, wie es hinter mir unruhig wird -- die Leute erheben sich,
+andere folgen mir, die Bahre ist umringt ... »Was gibt's, was ist
+geschehen?« ... Ich reiße einem Fackelträger seine Fackel aus der Hand,
+beleuchte das Antlitz des Liegenden ... Ich rüttle ihn, reiße ihm das
+Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite gelangt, er fühlt nach dem
+Herzen Umprechts, er greift seinen Puls, er wünscht, daß alles zur Seite
+trete, er flüstert dem Freiherrn ein paar Worte zu ... die Frau des
+Aufgebahrten hat sich hinaufgedrängt, sie schreit auf, wirft sich über
+ihren Mann, die Kinder stehen wie vernichtet da und können es nicht
+fassen ... Niemand will es glauben, was geschehen, und doch teilt es
+einer dem andern mit; -- und eine Minute später weiß man es rings in der
+Runde, daß Herr von Umprecht auf der Bahre, auf der man ihn
+hineingetragen, plötzlich gestorben ist ...
+
+Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal hinuntergeeilt, von
+Entsetzen geschüttelt. In einem sonderbaren Grauen habe ich mich nicht
+entschließen können, das Schloß wieder zu betreten. Den Freiherrn sprach
+ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte ich ihm die Geschichte
+Umprechts, wie sie mir von ihm selbst mitgeteilt worden war. Der
+Freiherr wollte sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und
+zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich befremdet, ja angstvoll
+an und gab mir das Blatt zurück -- es war weiß, unbeschrieben,
+unbezeichnet ...
+
+Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden; aber das einzige, was
+ich von ihm erfahren konnte, war, daß er vor drei Jahren zum letztenmal
+in einem Hamburger Vergnügungsetablissement niederen Ranges aufgetreten
+ist.
+
+Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das unbegreiflichste bleibt,
+ist der Umstand, daß der Schullehrer, der damals seiner Perücke mit
+erhobenen Händen nachlief und im Walde verschwand, niemals
+wiedergesehen, ja daß nicht einmal sein Leichnam aufgefunden wurde.
+
+ * * * * *
+
+
+Nachwort des Herausgebers
+
+Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe ich persönlich nicht
+gekannt. Er war zu seiner Zeit ein ziemlich bekannter Schriftsteller,
+aber so gut wie verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa
+zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachlaß ging, ohne besondere
+Bestimmung, an den in diesen Blättern genannten Meraner Jugendfreund
+über. Von diesem wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anläßlich eines
+Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen über allerlei dunkle
+Fragen, insbesondere über Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und
+Weissagekunst unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte
+Manuskript zur Veröffentlichung übergeben. Gern möchte ich dessen Inhalt
+für eine frei erfundene Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch
+aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten
+Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Ausgang beigewohnt und den in so
+rätselhafter Weise verschwundenen Schullehrer persönlich gekannt hätte.
+Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so erinnere ich mich noch sehr
+wohl, als ganz junger Mensch in einer Sommerfrische am Wörther See
+seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu haben; er blieb mir im
+Gedächtnis, weil ich gerade zu dieser Zeit im Begriffe war, die
+Reisebeschreibung des berühmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen.
+
+
+
+
+Das neue Lied
+
+
+»Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das
+kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an
+sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach,
+neben ihm einherging -- ja er spürte sogar den Weindunst, in den diese
+Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich,
+sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet
+von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach
+Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause
+gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße
+weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die
+drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem
+anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts
+von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der
+Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild
+vor Augen, dem er entflohen war.
+
+Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn
+der von ihm?... warum verteidigte er sich?... und warum gerade vor
+ihm?... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten
+Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld
+trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie
+schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig,
+ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem
+Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern
+abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke
+geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino
+gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft
+Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine
+Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die
+Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und roten
+Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes
+Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die 'weiße
+Amsel', nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.«
+
+Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der
+Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße.
+Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde,
+ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß
+heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in
+die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen
+versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das
+alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn,
+und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch
+immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen
+hatten. Die Geschichte mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz
+recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal
+milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den
+Familien von meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab ich doch
+immer zuviel auf mich gehalten.«
+
+Hätte er auf den Vater gehört -- dachte Karl jetzt -- so wäre ihm
+mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt.
+Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen,
+und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für
+eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei
+ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die
+Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam
+der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim
+Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet:
+Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal
+Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek,
+demselben, der abends im Klownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern
+Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld
+ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so
+regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit
+Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die
+abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit
+der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl
+herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und
+schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder war in einem großen Geschäft
+angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich
+sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen
+von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich
+empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich
+anderweitig versagt bin ...« -- Freilich, am liebsten war Karl mit Marie
+allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg
+gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen,
+der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn
+sie kamen geradeswegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen
+mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun
+legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und
+schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie
+auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den
+ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung
+brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen gab es
+manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu
+denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor
+hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine
+Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte
+vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich
+erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden
+zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe:
+»Also heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber
+bitt schön, daß Sie sich nicht verraten.« -- »Warum soll denn ich mich
+verraten?« fragte Karl, »was ist denn g'schehn?« -- »Ja, mit den Augen
+ist leider keine Hilfe mehr.« -- »Wieso denn?« -- »Sie sieht halt nichts
+mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben.
+Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich
+zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte
+und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als
+hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell
+gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen
+kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten
+Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst
+wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal
+gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise
+antreten mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam
+weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb
+er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach
+seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön
+grüßen. -- Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er
+nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch
+von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen.
+Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch
+gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem
+Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei
+Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte.
+
+Da führte ihn gestern abends -- er wollte Bekannte besuchen, die in der
+Nähe wohnten -- der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen
+der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken
+wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er
+wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort
+gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit schwarzen und roten Buchstaben
+vor sich sah: »Erstes Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die 'weiße
+Amsel', nach ihrer Genesung,« da blieb er wie gelähmt stehen. Und in
+diesem Augenblick stand der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden
+gewachsen: den weißen Strubbelkopf unbedeckt, den schäbigen schwarzen
+Zylinder in der Hand und mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er
+begrüßte Karl: »Der Herr Breiteneder -- nein, so was! Nicht wahr,
+beehren uns heute wieder! Die Fräul'n Marie wird ja ganz weg sein vor
+Freud, wenn sie hört, daß sich die frühern Freund' doch noch um sie
+umschaun. Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg'standen, Herr von
+Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.« Er redete noch eine
+ganze Menge, und Karl rührte sich nicht, obwohl er am liebsten weit
+fortgewesen wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, und er
+fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts sehe -- ob sie nicht doch
+wenigstens einen Schein habe. »Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was
+fällt Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts sieht sie, gar
+nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. »Alles kohlrabenschwarz
+vor ihr ... Aber werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, hat
+alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf -- und eine Stimme hat
+das Mädel, schöner als je!... Na, Sie werden ja sehn, Herr von
+Breiteneder. -- Und gut is sie -- seelengut! Noch viel freundlicher, als
+sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja -- haha! -- Ah, es kommen heut
+mehrere, die sie kennen ... natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von
+Breiteneder; denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen
+G'schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! Ich hab eine
+gekannt, die war blind und hat Zwillinge gekriegt -- haha! -- Schauen S',
+wer da is,« sagte er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an
+der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen und bleich und sah ihn an,
+ohne ein Wort zu sagen. Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wußte kaum,
+was mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: »Nicht der Marie
+sagen, um Gottes willen, Frau Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß
+ich da bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!«
+
+»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und beschäftigte sich mit anderen
+Leuten, die Billette verlangten.
+
+»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber nachher, das wird eine
+Überraschung sein! Da kommen S' doch mit? Großes Fest -- hoho! Habe die
+Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. Karl durchschritt
+den gefüllten Saal, und im Garten, der sich ohne weiteres anschloß,
+setzte er sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei alte
+Leute Platz genommen hatten, eine Frau und ein Mann. Sie sprachen nichts
+miteinander, betrachteten stumm den neuen Gast, und nickten einander
+traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung begann, und Karl
+hörte die altbekannten Sachen wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich
+verändert, weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. Zuerst
+spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte Ouvertüre, von der zu
+Karl nur vereinzelte harte Akkorde drangen, dann trat als erste die
+Ungarin Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, sang
+ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf folgte ein
+humoristischer Vortrag des Komikers Wiegel-Wagel; er trat im
+zeisiggrünen Frack auf, teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen
+wäre, und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren Abschluß seine
+Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. Dann kam ein Duett zwischen
+Herrn und Frau Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach ihnen, in
+schmutziger weißer Klowntracht, folgte der närrische kleine Jedek,
+zeigte zuerst seine Jongleurkünste, irrte mit riesigen Augen unter den
+Leuten umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte er Teller in
+Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem Holzstab einen Marsch darauf,
+ordnete Gläser und spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine
+wehmütige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke auf und lächelte selig.
+Er trat ab, und Rebay hieb wieder auf die Tasten ein, in festlichen
+Klängen. Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die Leute steckten
+die Köpfe zusammen, und plötzlich stand Marie auf dem Podium. Der
+Vater, der sie hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht;
+und sie stand allein. Und Karl sah sie oben stehen, mit den erloschenen
+Augen in dem süßen blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst
+nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. Ohne es selbst zu
+merken war er vom Sessel aufgesprungen, lehnte an der grünen Laterne und
+hätte beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. -- Und nun fing sie an
+zu singen. Mit einer ganz fremden Stimme, leise, viel leiser als früher.
+Es war ein Lied, das sie immer gesungen, und das Karl mindestens
+fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm seltsam fremd, und
+erst als der Refrain kam »Mich heißens' die weiße Amsel, im G'schäft und
+auch zu Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. Sie
+sang alle drei Strophen, Rebay begleitete sie, und nach seiner
+Gewohnheit blickte er öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war,
+setzte Applaus ein, laut und donnernd. Marie lächelte und verbeugte
+sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs Podium hinauf, Marie griff mit
+den Armen in die Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der
+Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied singen mußte, das
+Karl auch schon an die fünfzigmal gehört hatte. Es fing an: »Heut geh
+ich mit mein Schatz aufs Land ...,« und Marie warf den Kopf so vergnügt
+in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und her, als wenn sie wirklich
+mit ihrem Schatz aufs Land gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen
+sehen und im Freien tanzen könnte, wie sie's in dem Lied erzählte. Und
+dann sang sie das dritte, das neue Lied. --
+
+»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, und Karl fuhr
+zusammen. Es war heller Sonnenschein; weit erglänzte die Straße, ringsum
+war es licht und lebendig. »Da könnt' man sich hineinsetzen,« fuhr Rebay
+fort, »auf ein Glas Wein; ich hab schon einen argen Durst -- es wird ein
+heißer Tag.«
+
+»Ob's heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. Breiteneder wandte sich
+um ... Wie, der war ihm auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von
+ihm?... Es war der närrische Jedek; man hatte ihn nie anders geheißen,
+aber es war zweifellos, daß er in der nächsten Zeit ernstlich und
+vollkommen verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte er seine
+lange blasse Frau am Leben bedroht, und es war rätselhaft, daß man ihn
+frei herumlaufen ließ. Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit
+neben Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten aufgerissene,
+unerklärlich lustige Augen ins Weite, auf dem Kopf saß ihm das
+stadtbekannte, graue weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der
+Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, den andern plötzlich
+voraus, war er in das kleine Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf
+einer Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, Platz genommen,
+schlug mit dem Spazierstock heftig auf den grüngestrichnen Tisch und
+rief nach dem Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des grünen
+Holzgitters zog die weiße Straße weiter nach oben, an kleinen, traurigen
+Villen vorbei, und verlor sich in den Wald.
+
+Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den Zylinder auf den Tisch, fuhr
+sich durch das weiße Haar, rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner
+Gewohnheit die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, und beugte
+sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin doch nicht auf'n Kopf
+g'fallen, Herr von Breiteneder! Ich weiß doch, was ich tu!... Warum soll
+denn ich schuld sein?... Wissen S', für wen ich Couplets geschrieben hab
+in meinen jüngeren Jahren?... Für'n Matras! Das ist keine Kleinigkeit!
+Und haben Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und viele sind in
+andere Stück' eingelegt worden!«
+
+»Lassen S' das Glas stehn,« sagte Jedek und kicherte in sich hinein.
+
+»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay fort und schob das Glas
+wieder von sich. »Sie kennen mich doch, und Sie wissen, daß ich ein
+anständiger Mensch bin! Auch gibt's in meinen Couplets niemals eine
+Unanständigkeit, niemals eine Zote!... Und das Couplet, wegen dem der
+alte Ladenbauer damals is verurteilt worden, war von einem andern!...
+Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder -- das ist ein
+Numero! Und wissen S', wie lang ich bei der G'sellschaft Ladenbauer
+bin?... Da hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die G'sellschaft
+gegründet hat. Und die Marie kenn ich von ihrer Geburt an.
+Neunundzwanzig Jahr bin ich bei die Ladenbauers -- im nächsten März hab
+ich Jubiläum ... Und ich hab meine Melodien nicht g'stohlen -- sie sind
+von mir, alles von mir! Und wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die
+Werkeln g'spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...«
+
+Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen Augen. Jetzt hatte er
+alle drei Gläser vor seinen Platz hingeschoben und begann mit seinen
+Fingern leicht über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen
+rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. Breiteneder hatte diese
+Kunstfertigkeit immer sehr bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug
+er die Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte man zu; einige
+Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr patschte in die Hände.
+Plötzlich schob Jedek alle drei Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und
+starrte auf die weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen
+aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte es vor den Augen,
+und es war ihm, als wenn die Leute hinter Spinneweben tänzelten und
+schwebten. Er rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich
+kommen. Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück --
+aber er hatte doch nicht schuld daran! Und plötzlich stand er auf, denn
+als er an das Ende dachte, wollte es ihm die Brust zersprengen. »Gehen
+wir,« sagte er.
+
+»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete Rebay.
+
+Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch wußte, warum. Er stellte
+sich vor einen Tisch hin, an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit
+seinem Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: »Da soll der
+Teufel ein Glaserer werden -- Himmelsackerment!« Die beiden friedlichen
+Leute wurden verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen
+lachten und hielten ihn für betrunken.
+
+Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen Straße, und Jedek,
+wieder ganz ruhig geworden, kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues
+Hütel ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock mit dem Hut
+über die Schultern wie ein Gewehr, während er mit der anderen Hand
+gewaltige grüßende Bewegungen zum Himmel empor vollführte.
+
+»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich entschuldigen will,« sagte
+Rebay mit klappernden Zähnen. »Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus
+nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann wird es mir
+zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht selber mit ihr einstudiert?...
+Bitte sehr, jawohl! Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im Zimmer
+gesessen is, hab ich's einstudiert mit ihr ... Und wissen S', wie ich
+auf die Idee kommen bin? Es ist ein Unglück, hab ich mir gedacht, aber
+es ist doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, und ihr
+schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab ich's g'sagt, die ganz
+verzweifelt war. Frau Ladenbauer, hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts
+verloren -- passen S' nur auf! Und dann, heutzutage, wo es diese
+Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit wieder lesen und
+schreiben lernen ... Und dann hab ich einen gekannt -- einen jungen
+Menschen, der ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede Nacht
+von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle möglichen Beleuchtungen
+...«
+
+Breiteneder lachte auf. »Reden S' im Ernst?« fragte er ihn.
+
+»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen Sie denn? Soll ich mich
+umbringen, ich?... Warum denn? -- Meiner Seel, ich hab Unglück genug
+gehabt auf der Welt! -- Oder meinen Sie, das ist ein Leben, Herr von
+Breiteneder, wenn man einmal Theaterstück geschrieben hat, wie ich als
+junger Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich so weit, daß
+man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die
+heisern Ludern begleiten muß, und ihnen die Couplets schreiben ...
+Wissen S', was ich für ein Couplet krieg'?... Sie möchten sich wundern,
+Herr von Breiteneder!«
+
+»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, der jetzt ganz ernst
+und manierlich, ja elegant neben ihnen herging.
+
+»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. Es war ihm plötzlich,
+als verfolgten ihn die beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er
+mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter: »Eine Existenz hab
+ich dem Mädel gründen wollen!... Verstehen S', eine neue Existenz!...
+Grad mit dem neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es vielleicht nicht
+schön?... Ist es nicht rührend?...«
+
+Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am Rockärmel zurück, erhob
+den Zeigefinger der linken Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die
+Lippen und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das Marie
+Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute nachts gesungen hatte. Er
+pfiff sie geradezu vollendet; denn auch das gehörte zu seinen
+Kunstfertigkeiten.
+
+»Die Melodie hat's nicht gemacht,« sagte Breiteneder.
+
+»Wieso?« schrie Rebay. -- Sie gingen alle rasch, liefen beinahe, trotzdem
+der Weg beträchtlich anstieg. »Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der
+Text ist schuld, glauben S'?... Ja, um Gottes willen, steht denn in dem
+Text was anderes, als was die Marie selbst gewußt hat?... Und in ihrem
+Zimmer, wie ich's ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges Mal
+geweint. Sie hat g'sagt: »Das ist ein trauriges Lied, Herr Rebay, aber
+schön ist's!...« »Schön ist's,« hat sie gesagt ... Ja freilich ist es
+ein trauriges Lied, Herr von Breiteneder -- es ist ja auch ein trauriges
+Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich ihr doch kein lustiges Lied
+schreiben?...«
+
+Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die Äste schimmerte die
+Sonne; aus den Büschen tönte Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei
+nebeneinander, so schnell, als wollte einer dem andern davonlaufen.
+Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und die Leut -- Kreuzdonnerwetter! --
+haben sie nicht applaudiert wie verrückt?... Ich hab's ja im voraus
+gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg haben! -- Und es hat ihr
+auch eine Freud gemacht ... förmlich gelacht hat sie übers ganze
+Gesicht, und die letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es ist
+auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen ist, sind mir selber
+die Tränen ins Aug gekommen -- wissen S' wegen der Anspielung auf das
+andere Lied, das sie immer singt...« Und er sang, oder er sprach
+vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß wie einen Orgelton:
+»Wie wunderschön war es doch früher _auf der Welt_, -- Wo die Sonn' mir
+hat g'schienen auf Wald und _auf Feld_, -- Wo i Sonntag mit mein' Schatz
+spaziert bin aufs _Land_ -- Und er hat mich aus Lieb nur geführt bei der
+_Hand_. -- Jetzt geht mir die Sonn' nimmer auf und die _Stern'_, -- Und
+das Glück und die Liebe, die sind mir so _fern!_«
+
+»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab's ja gehört!«
+
+»Ist's vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und schwang den Zylinder.
+»Es gibt nicht viele, die solche Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden
+hat mir der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine Honorare, Herr
+von Breiteneder. Dabei hab ich's noch einstudiert mit ihr.«
+
+Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang sehr leise den Refrain: »O
+Gott, wie bitter ist mir das geschehn -- Daß ich nimmer soll den Frühling
+sehn ...«
+
+»Also _warum_, frag ich!...« rief Rebay. »Warum?... Gleich nachher war
+ich doch bei ihr drin ... Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit
+einem glückseligen Lächeln dag'sessen, hat ihr Viertel Wein getrunken,
+und ich hab ihr die Haar' gestreichelt und hab ihr g'sagt: »Na, siehst
+du, Marie, wie's den Leuten g'fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut'
+aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird Aufsehen machen ... Und
+singen tust du's prachtvoll ...« Und so weiter, was man halt so red't,
+bei solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch hereingekommen und
+hat ihr gratuliert. Und Blumen hat sie bekommen -- von Ihnen waren s'
+nicht, Herr von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung ...
+Also, warum soll da mein Couplet schuld sein? Das ist ja ein Blödsinn!«
+
+Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den Rebay bei den
+Schultern. »Warum haben S' ihr denn gesagt, daß ich da bin?... Warum
+denn?... Hab ich Sie nicht gebeten, daß Sie's ihr nicht sagen sollen?«
+
+»Lassen S' mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt! Von der Alten wird sie's
+gehört haben!«
+
+»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte sich, »ich war so frei,
+Herr von Breiteneder -- ich war so frei. Weil ich g'wußt hab, Sie sein
+da, hab ich ihr g'sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen
+g'fragt hat, während sie krank war, hab ich ihr g'sagt: 'Der Herr
+Breiteneder is da ... hinten bei der Latern is er g'standen,' hab ich
+ihr g'sagt, 'und hat sich großartig unterhalten!'«
+
+»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er mußte die
+Augen fortwenden von dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet
+hielt. Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der sie eben
+vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah sich plötzlich wieder im
+Garten sitzen, und die Stimme der alten Frau Ladenbauer klang ihm im
+Ohr: »Die Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit uns mitkommen
+möchten nach der Vorstellung?« Er erinnerte sich, wie ihm da mit einem
+Male zumute geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die Marie
+alles verziehen. Er trank seinen Wein aus und ließ sich einen besseren
+geben. Er trank so viel, daß ihm das ganze Leben leichter vorkam.
+Geradezu vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen zu,
+klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung aus war, ging
+er wohlgelaunt durch den Garten und den Saal ins Extrazimmer des
+Wirtshauses, an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft nach der
+Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige saßen schon da: der
+Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner Frau, irgendein Herr mit einer Brille,
+den Karl gar nicht kannte -- alle begrüßten ihn und waren gar nicht
+besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte er die Stimme der
+Marie hinter sich: »Ich find schon hin, Mutter, ich kenn' ja den Weg.«
+Er wagte nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben ihm und
+sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder -- wie geht's Ihnen denn?« Und in
+diesem Augenblick erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu
+irgendeinem jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber gewesen
+war, später immer »Sie« und »Herr« gesagt hatte. Und dann aß sie ihr
+Nachtmahl; man hatte ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze
+Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich gar nichts
+geändert. »Gut is' gangen,« sagte der alte Ladenbauer. »Jetzt kommen
+wieder bessere Zeiten.« Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der
+Marie viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr Wiegel-Wagel
+erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Wiedergenesenen!« Marie
+hielt ihr Glas in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte
+mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie ihre toten Augen in
+die seinen versenken wollte, und als könnte sie tief in ihn
+hineinschauen. Auch der Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und
+offerierte Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, ein
+junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, saß ihr gegenüber und
+unterhielt sich lebhaft mit Herrn Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte
+ihren gelben Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine Ecke,
+wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal kamen Leute von einem
+benachbarten Tisch herüber und gratulierten Marie; sie antwortete in
+ihrer stillen Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste
+verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber warum denn gar so
+stumm?« Jetzt erst merkte er, daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne
+den Mund aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, beteiligte sich
+an der Unterhaltung; nur an Marie richtete er kein Wort. Rebay erzählte
+von der schönen Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, trug
+den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig Jahren verfertigt
+hatte, und spielte die Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als
+böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um eins brach man auf.
+Frau Ladenbauer nahm den Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es
+war ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes daran, daß um
+Marie die Welt nun ganz finster war. Karl ging neben ihr. Die Mutter
+fragte ihn harmlos nach allerlei: wie's zu Hause ginge, wie er sich auf
+der Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig von allerlei
+Dingen, die er gesehen, insbesondere von den Theatern und
+Singspielhallen, die er besucht hatte, und wunderte sich nur immer, wie
+sicher Marie ihren Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig und
+heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, einem alten,
+rauchigen Lokal, das um diese Zeit schon ganz leer war; und der dicke
+Freund der ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, im
+Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah an Karl gerückt, geradeso
+wie manchmal in früherer Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte.
+Und plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte und
+streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. Nun hätte er so gern
+etwas zu ihr gesagt ... irgend was Liebes, Tröstendes -- aber er konnte
+nicht ... Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, als sähe
+ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht ein Menschenblick, sondern
+etwas Unheimliches, Fremdes, das er früher nicht gekannt -- und es
+erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben ihm säße ... Ihre
+Hand bebte und entfernte sich sachte von der seinen, und sie sagte
+leise: »Warum hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte
+wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den anderen. Nach
+einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: »Wo ist denn die Marie?« Es war
+die Frau Ladenbauer. Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden war. »Wo
+ist denn die Marie?« riefen andere. Einige standen auf, der alte
+Ladenbauer stand an der Tür des Kaffeehauses und rief auf die Straße
+hinaus: »Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. Einer
+sagte: »Aber wie kann man denn so ein Geschöpf überhaupt allein
+aufstehen und fortgehen lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof des
+Hauses herein: »Bringt's Kerzen!... Bringt's Laternen!« Und eine schrie:
+»Jesus Maria!« Das war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer.
+Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den Hof. Die
+Dämmerung kam schon über die Dächer geschlichen. Um den Hof des
+einstöckigen alten Hauses lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte
+ein Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand,
+und schaute herunter. Zwei Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm,
+ein anderer Mann rannte über die knarrende Stiege herunter. Das war es,
+was Karl zuerst sah. Dann sah er irgend etwas vor seinen Augen
+schimmern, jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe und ließ
+ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: »Es hilft ja nichts mehr
+... sie rührt sich nimmer ... Holt's doch einen Doktor!... Was ist denn
+mit der Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...« Alle
+flüsterten durcheinander, einige eilten auf die Straße hinaus, der einen
+Gestalt folgte Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange Frau
+Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide Hände verzweifelt an die
+Stirn, lief davon und kam nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute.
+Er mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um nicht über die Frau
+Ladenbauer zu stürzen, die auf der Erde kniete, Mariens beide Hände in
+ihrer Hand hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So red
+doch!... so red doch!...« Jetzt kam endlich einer mit einer Laterne, der
+Hausbesorger, in einem braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er
+leuchtete der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber so ein
+Malheur! Und grad da am Brunnen muß sie mit'm Kopf aufg'fallen sein.«
+Und nun sah Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung des Brunnens
+ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich der Mann in Hemdärmeln auf dem
+Gange: »Ich hab was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« Und
+alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte nur immer: »Es sind noch
+keine fünf Minuten, da hab ich's poltern gehört ...« -- »Wie hat sie denn
+nur heraufg'funden?« flüsterte jemand hinter Karl. »Aber bitt' Sie,«
+erwiderte ein anderer, »das Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich
+durch die Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die Holzstiegen,
+und dann über die Brüstung hinunter -- is ja net so schwer!« So flüsterte
+es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es
+sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht
+um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie
+in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung
+des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?«
+Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht
+der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie
+die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen
+toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß
+es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot
+und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und
+er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da,
+lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie
+einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer
+lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das
+zusammengefaltete weiße Spitzentuch gebettet; Karl blieb regungslos
+stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt,
+daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts
+bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über
+die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster
+hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ...
+
+Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß
+allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister
+Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie
+alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig
+miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden,
+der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont
+ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet,
+aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft,
+und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt.
+
+
+
+
+Die griechische Tänzerin
+
+
+Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube nicht daran, daß Frau
+Mathilde Samodeski an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich
+gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute zur ersehnten Ruhe
+hinausträgt; ich habe keine Lust, den Mann zu sehen, der es ebensogut
+weiß als ich, warum sie gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu
+schweigen.
+
+Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings etwas weit, aber der
+Herbsttag ist schön und still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald
+werde ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich im vergangenen
+Frühjahr Mathilde zum letztenmal gesehen habe. Die Fensterladen der
+Villa werden alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche
+Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich wohl den weißen
+Marmor durch die Bäume schimmern sehen, aus dem die griechische Tänzerin
+gemeißelt ist.
+
+An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es kommt mir fast wie eine
+Fügung vor, daß ich mich damals noch im letzten Augenblick entschlossen
+hatte, die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da ich doch im Laufe
+der Jahre die Freude an allem geselligen Treiben so ganz verloren habe.
+Vielleicht war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln in die
+Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. Überdies sollte es ja
+ein Gartenfest sein, mit dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen
+wollten, und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu fürchten.
+Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren kaum an die Möglichkeit
+dachte, Frau Mathilde draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch
+bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische Tänzerin von Samodeski
+für seine Villa gekauft hatte; -- und daß Frau von Wartenheimer in den
+Bildhauer verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wußt' ich nicht
+minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich wohl an Mathilde denken
+können, denn zur Zeit, da sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne
+Stunde mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer am Genfer See
+vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor ihrer Verlobung, den ich nicht so
+leicht vergessen werde. Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz
+meiner grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn als sie im Jahre
+darauf Samodeskis Gattin wurde, empfand ich einige Enttäuschung und war
+vollkommen überzeugt -- oder hoffte sogar --, daß sie mit ihm nicht
+glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das Gregor Samodeski kurz
+nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise in seinem Atelier in der
+Gußhausgasse gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen
+oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe ich Mathilde
+wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte sie mich; ihr ganzes Wesen
+machte den Eindruck der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während sie im
+Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal ein seltsamer Blick aus
+ihren Augen, und nach einiger Bemühung habe ich deutlich verstanden, was
+er zu bedeuten hatte. Er sagte: 'Lieber Freund, Sie glauben, daß er mich
+um des Geldes willen geheiratet hat; Sie glauben, daß er mich nicht
+liebt; Sie glauben, daß ich nicht glücklich bin -- aber Sie irren sich
+... Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie gut gelaunt ich
+bin, wie meine Augen leuchten.'
+
+Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, aber immer nur ganz
+flüchtig. Einmal auf einer Reise kreuzten sich unsere Züge; ich speiste
+mit ihr und ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er erzählte
+allerhand Witze, die mich nicht sonderlich amüsierten. Auch im Theater
+sprach ich sie einmal, sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich
+noch immer schöner ist als sie ... der Teufel weiß, wo Herr Samodeski
+damals gewesen ist. Und im letzten Winter hab ich sie im Prater
+gesehen; an einem klaren, kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl
+unter den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen fuhr langsam nach.
+Ich befand mich auf der anderen Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal
+hinüber. Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen Dingen
+beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde schließlich nicht mehr
+besonders. So würde ich mir heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken
+über sie und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht jenes letzte
+Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden hätte. Dieses Abends
+erinnere ich mich heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen
+Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See. Es war schon
+ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. Die Gäste gingen in den Alleen
+spazieren, ich begrüßte den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher
+tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, die in einem Boskett
+versteckt war. Bald kam ich zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von
+hohen Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen Postament, so
+daß sie über dem Wasser zu schweben schien, leuchtete die griechische
+Tänzerin; durch elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens etwas
+theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des Aufsehens, das sie im
+Jahre vorher in der Sezession erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf
+mich machte sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend
+zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare Empfindung habe, daß
+eigentlich nicht er es ist, der die schönen Sachen macht, die ihm
+zuweilen gelingen, sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas
+Unbegreifliches, Glühendes, Dämonisches meinethalben, das ganz bestimmt
+erlöschen wird, wenn er einmal aufhören wird, jung und geliebt zu sein.
+Ich glaube, es gibt mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand
+erfüllt mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung.
+
+In der Nähe des Teiches begegnete ich Mathilden. Sie schritt am Arm
+eines jungen Mannes, der aussah wie ein Korpsstudent und sich mir als
+Verwandter des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr vergnügt
+plaudernd im Garten hin und her, in dem jetzt überall Lichter
+aufgeflackert waren. Die Frau des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen.
+Wir blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen Verwunderung
+sagte ich dem Bildhauer einige höchst anerkennende Worte über die
+griechische Tänzerin. Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar
+lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie das an solchen
+Frühlingsabenden manchmal vorkommt: Leute, die einander sonst
+gleichgültig sind, begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine
+gewisse Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen
+angeregt. Als ich beispielsweise eine Weile später auf einer Bank saß
+und eine Zigarette rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur
+oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu preisen begann, die
+von ihrem Reichtum einen so vornehmen Gebrauch machen wie unser
+Gastgeber. Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich Herrn von
+Wartenheimer sonst für einen ganz einfältigen Snob halte. Dann teilte
+ich wieder dem Herrn ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne
+Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, Ansichten, die
+für ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse gewesen wären; aber unter dem
+Einflusse dieses verführerischen Frühlingsabends stimmte er mir
+begeistert zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die das Fest
+äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil die Lichter zwischen den
+Blättern hervorglänzten und Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen
+wir gerade neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung nicht
+unsinnig. So sehr stand auch ich unter dem Banne der allgemeinen
+Stimmung.
+
+Das Abendessen wurde an kleinen Tischen eingenommen, die, soweit es der
+Platz erlaubte, auf der großen Terrasse, zum andern Teil im anstoßenden
+Salon aufgestellt waren. Die drei großen Glastüren standen weit offen.
+Ich saß an einem Tisch im Freien mit einer der Nichten; an meiner
+anderen Seite hatte Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah
+wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter und Reserveoffizier war.
+Gegenüber von uns, aber schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau
+des Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die ich nicht kannte.
+Er warf seiner Gattin eine scherzhaft verwegene Kußhand zu; sie nickte
+ihm zu und lächelte. Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich
+genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen Augen und dem langen
+schwarzen Spitzbarte, den er manchmal mit zwei Fingern der linken Hand
+am Kinn zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in meinem Leben
+einen Mann so sehr von Worten, Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht
+gesehen habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, als ließe er
+sich das eben nur gefallen. Aber bald sah ich an seiner Art, den Frauen
+leise zuzuflüstern, an seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders
+an der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die scheinbar
+harmlose Unterhaltung von irgendeinem geheimen Feuer genährt wurde.
+Natürlich mußte Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich; aber
+sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit ihrem Nachbarn, bald mit
+mir. Allmählich wandte sie sich zu mir allein, erkundigte sich nach
+verschiedenen äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von meiner
+vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann sprach sie von ihrer
+Kleinen, die merkwürdigerweise schon heute Lieder von Schumann nach dem
+Gehör singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch auf ihre alten
+Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, von alten Kirchenstoffen, die sie
+selbst im vorigen Jahr in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert
+anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses Gespräches ging etwas
+ganz anderes zwischen uns vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie
+versuchte mich durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes zu
+überzeugen -- und ich wehrte mich dagegen, ihr zu glauben. Ich mußte
+wieder an jenen japanisch-chinesischen Abend in Samodeskis Atelier
+denken, wo sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte sie
+wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete und daß sie irgend
+etwas ganz Besonderes ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam
+sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und verliebte
+Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem Gatten gegenüber aufmerksam zu
+machen und begann von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn sie
+sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit und an seinem Genie
+ohne jede Unruhe und jedes Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte.
+Aber je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu scheinen, um so
+tiefere Schatten flogen über ihre Stirne hin. Als sie einmal das Glas
+erhob, um Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte sie
+verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht nur ihre Hand,
+sondern der Arm, ihre ganze Gestalt für einige Sekunden in eine solche
+Starrheit, daß mir beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich
+rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran war, ihr Spiel
+endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, wie mit einem letzten
+verzweifelten Versuch: »Ich wette, Sie halten mich für eifersüchtig.«
+Und ehe ich Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: »Oh,
+das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor selbst geglaubt.« Sie sprach
+absichtlich ganz laut, man hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun
+ja,« sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen solchen Mann
+hat: schön und berühmt ... und selber den Ruf, nicht sonderlich hübsch
+zu sein ... Oh, Sie brauchen mir nichts zu erwidern ... ich weiß ja,
+daß ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden bin.« Sie hatte
+möglicherweise recht, aber für ihren Gemahl -- davon war ich völlig
+überzeugt -- hatte der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und
+was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften Schlankheit
+für ihn wahrscheinlich ihren einzigen Reiz verloren. Doch ich stimmte
+ihr natürlich mit übertriebenen Worten bei; sie schien erfreut und fuhr
+mit wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das geringste Talent zur
+Eifersucht. Das habe ich selbst nicht gleich gewußt; ich bin erst
+allmählich darauf gekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren
+in Paris ... Sie wissen ja, daß wir dort waren?«
+
+Ich erinnerte mich.
+
+»Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire und des Ministers
+Chocquet gemacht und mancherlei anderes. Wir haben dort so angenehm
+gelebt wie junge Leute ... das heißt, jung sind wir ja noch beide ...
+ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir auch gelegentlich in die große
+Welt gingen ... Wir waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter,
+die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen aber machten wir
+uns nicht viel aus dem eleganten Leben. Wir wohnten sogar draußen auf
+Montmartre, in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor auch
+sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den jungen Künstlern, mit
+denen wir dort verkehrten, hatten manche keine Ahnung, daß wir
+verheiratet waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. Oft bin ich
+in der Nacht mit ihm im Café Athenés gesessen, mit Léandre, Carabin und
+vielen anderen. Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer
+Gesellschaft, mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht verkehren
+möchte ... obzwar schließlich -- --« Sie warf einen hastigen Blick hinüber
+auf Frau Wartenheimer und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war sehr
+hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte von Henri Chabran dort,
+die seit seinem Tode immer ganz in Schwarz ging und jede Woche einen
+anderen Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle Trauer tragen
+mußten, das verlangte sie ... Sonderbare Leute lernt man kennen. Sie
+können sich denken, daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger
+nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. Aber da ich doch
+immer mit ihm war -- oder meistens, so wagten sie sich nicht recht an ihn
+heran, um so weniger, als ich für seine Geliebte galt ... Ja, wenn sie
+gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war --! Und da bin ich einmal auf
+einen sonderbaren Einfall gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut
+hätten -- und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute selbst über
+meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und sprach leiser als früher: »Es ist
+übrigens auch möglich, daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand --
+nun, Sie können sich's ja denken. Seit ein paar Wochen wußte ich, daß
+ich ein Kind zu erwarten hatte. Das machte mich unerhört glücklich. Im
+Anfang war ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch viel
+beweglicher als jemals früher ... Also denken Sie, eines schönen Abends
+habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer
+aus. Natürlich hab ich ihm vor allem das Versprechen abgenommen, daß er
+sich keinerlei Zwang antun dürfte ... nun ja, sonst hätte die ganze
+Geschichte keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen -- Sie
+hätten mich nicht erkannt ... niemand hätte mich erkannt. Ein Freund von
+Gregor, ein gewisser Léonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger
+Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön ... Mai ...
+ganz warm ... und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff.
+Denken Sie sich, ich hab meinen Überzieher -- einen sehr eleganten gelben
+Überzieher -- einfach abgelegt und ihn auf dem Arm getragen ... so wie
+das eben Herren zu tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich
+dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben
+wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay
+sang und Montoya ... »Tu t'en iras les pieds devant« ... Sie
+haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater -- nicht wahr?« Jetzt
+warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht
+darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm
+Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, immer heftiger, stürzte
+sozusagen vorwärts. »In der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr
+elegante Dame, die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor,
+aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man kann sich nichts
+Unanständigeres vorstellen. Ich werde nie begreifen, daß ihr Gatte sie
+nicht auf der Stelle erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war
+eine Herzogin ... Nun, Sie müssen nicht lachen, es war gewiß eine Dame
+der großen Welt, trotz ihres Benehmens ... das kann man schon beurteilen
+... Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache einginge ...
+natürlich! -- ich hätte gern gesehen, wie man so etwas anfängt ... ich
+wünschte, daß er ihr einen Brief zusteckte -- oder sonst was täte -- was
+er eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich seine Frau wurde
+... Ja, das wollte ich, trotzdem es nicht ohne Gefahr für ihn gewesen
+wäre. Offenbar steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ... Aber
+Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir gingen sogar recht bald
+fort, wieder hinaus in die schöne Mainacht, Léonce blieb immer mit uns.
+Der hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt und wurde gegen
+seine Gewohnheit geradezu galant. Es war sonst ein sehr verschüchterter
+Mensch -- wegen seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: »Man muß wohl
+einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem den Hof machen.« Wir sind
+so vergnügt weiterspaziert wie drei Studenten. Und jetzt kam das
+Interessante: wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte zum
+Programm. Es war auch notwendig, daß endlich irgend etwas geschah.
+Bisher hatten wir ja noch gar nichts erlebt ... nur mich -- denken Sie:
+mich selbst -- hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. Aber das
+war ja nicht die Absicht gewesen ... Um ein Uhr waren wir im Moulin
+Rouge. Wie es da zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte
+ich mir's ärger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs dort nicht das
+Geringste, und es sah ganz danach aus, als sollte der ganze Scherz zu
+nichts führen. Ich war ein bißchen ärgerlich. »Du bist ein Kind,« sagte
+Gregor. »Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und sie fallen
+uns zu Füßen --?« Er sagte »uns« aus Höflichkeit für Léonce; es war keine
+Rede davon, daß man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir nun
+schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause zu gehen, nahm die Sache
+eine Wendung. Mir fiel nämlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ...
+die schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen war ... Sie
+war ganz ernst und sah ziemlich anders aus als die meisten anwesenden
+Damen. Sie war gar nicht auffallend gekleidet -- in Weiß, vollkommen in
+Weiß ... Ich hatte bemerkt, wie sie zwei oder drei Herren, die sie
+ansprachen, überhaupt gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne
+sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze zu, sehr ruhig,
+interessiert, sachlich möchte ich sagen ... Léonce fragte -- ich hatte
+ihn darum gebeten -- ein paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon
+irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß er sie im vorigen
+Winter auf einem der Donnerstagsbälle im Quartier Latin gesehen hatte.
+Léonce sprach sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm gab sie
+Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir setzten uns alle an einen
+kleinen Tisch und tranken Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um
+sie -- als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre ... Er plauderte mit
+mir, immer nur mit mir ... Das schien sie nun besonders zu reizen. Sie
+wurde immer heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so kommt,
+allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Was so ein
+armes Ding alles erleben kann -- oder erleben muß, möglicherweise! Man
+liest ja so oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz Wirkliches
+hört, von einer, die daneben sitzt, da ist es doch ganz sonderbar. Ich
+erinnere mich noch an mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat
+sie irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie Modell. Auch
+Statistin an einem kleinen Theater ist sie gewesen. -- Was sie uns vom
+Direktor für Dinge erzählte!... Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn
+ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert gewesen wäre ...
+Dann hatte sie sich in einen Studenten der Medizin verliebt, der in der
+Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der Leichenkammer ab ...
+oder blieb vielmehr mit ihm dort ... nein, es ist nicht möglich, zu
+wiederholen, was sie uns erzählt hat! -- Der Mediziner verließ sie
+natürlich auch. Und das wollte sie nicht überleben -- gerade das! Und sie
+brachte sich um, das heißt, sie versuchte es. Sie machte sich selbst
+darüber lustig ... in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme ... es
+klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete ihr Kleid ein
+wenig und zeigte über der linken Brust eine kleine rötliche Narbe. Und
+wie wir alle diese kleine Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie --
+nein, schreit sie plötzlich meinen Mann an: »Küssen!« Ich sagte Ihnen
+schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um sie. Auch während sie ihre
+Geschichten erzählte, hörte er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte
+Zigaretten, und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich hab
+ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich etwas beduselt ...
+jedenfalls war es die sonderbarste Stimmung meines Lebens. Und ob er nun
+wollte oder nicht, er mußte die Narbe ... das heißt, er mußte so tun,
+als berührte er die Stelle mit den Lippen. Ja, und dann wurde es immer
+lustiger und toller. Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend --
+und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es für möglich gehalten,
+daß sich ein weibliches Wesen -- und noch dazu solch eines -- im Verlauf
+einer Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben könnte, wie dieses
+Geschöpf in Gregor. Sie hieß Madeleine.«
+
+Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen absichtlich lauter aussprach
+-- jedenfalls schien es mir, als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns
+herüber; seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber unsere Blicke
+begegneten sich und blieben eine ganze Weile ineinander ruhen, nicht
+eben mit besonderer Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin
+zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen weiter, und sie
+wandte sich wieder zu mir.
+
+»Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern, was Madeleine
+später gesprochen hat,« sagte sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich
+will aufrichtig sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen
+verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand meines Mannes nahm und
+küßte. Aber gleich war es wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem
+Augenblick mußte ich an unser Kind denken. Und da hab ich gefühlt, wie
+unauflöslich ich und Gregor miteinander verbunden waren, und wie alles
+andere nichts sein konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, wie
+heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir sind dann noch alle bis
+zum Morgengrauen auf dem Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da
+hörte ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie nach Hause
+begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, um den Spaß zu einem guten und
+in gewissem Sinne vorteilhaften Ende zu führen -- Sie wissen ja, was die
+Künstler alle für Egoisten sind ... insofern es sich nämlich um ihre
+Kunst handelt ... -- kurz, er sagte ihr, daß er Bildhauer sei, und
+forderte sie auf, nächstens zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren.
+Sie antwortete: »Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich mich hängen! Aber
+ich komm' doch.«
+
+Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen eines weiblichen Wesens so
+viel Leid ausdrücken -- oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich
+gefaßt zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte, fuhr sie fort:
+»Gregor wollte durchaus, ich sollte am nächsten Tag im Atelier sein. Ja,
+er machte mir sogar den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu
+bleiben, wenn sie käme. Nun, es gibt Frauen, viele Frauen, ich weiß es,
+die darauf eingegangen wären. Ich aber finde: entweder man glaubt oder
+man glaubt nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben. Hab ich
+nicht recht?« Und sie sah mich mit großen, fragenden Augen an. Ich
+nickte nur, und sie sprach weiter: »Madeleine kam natürlich am Tag
+darauf und dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher
+gekommen ist ... und daß sie eine der schönsten war, können Sie mir
+glauben. Sie selbst sind erst heute vor ihr in Bewunderung gestanden,
+draußen am Teich.«
+
+»Die Tänzerin?«
+
+»Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und nun denken Sie, daß ich
+in einem solchen oder in einem anderen Falle mißtrauisch gewesen wäre!
+Würde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual gemacht haben? Ich bin
+sehr froh, daß ich keine Anlage zur Eifersucht habe.«
+
+Irgend jemand stand in der offenen Mitteltür und hatte begonnen, einen
+wahrscheinlich sehr witzigen Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn
+die Leute lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete Mathilde, die
+ebensowenig zuhörte wie ich. Und ich sah, wie sie zu ihrem Gatten
+hinüberschaute und ihm einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche
+Liebe verriet, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen heuchelte,
+als wäre es wahrhaftig ihre höchste Pflicht, ihn im Genuß des Daseins
+auf keine Weise zu stören. Und er empfing auch diesen Blick -- lächelnd,
+unbeirrt, obwohl er natürlich ebensogut wußte als ich, daß sie litt und
+ihr Leben lang gelitten hat wie ein Tier.
+
+Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem Herzschlag. Ich habe an
+jenem Abend Mathilde zu gut kennen gelernt, und für mich steht es fest:
+so wie sie vor ihrem Gatten die glückliche Frau gespielt hat vom ersten
+Augenblick bis zum letzten, während er sie belogen und zum Wahnsinn
+getrieben hat, so hat sie ihm auch schließlich einen natürlichen Tod
+vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht mehr ertragen
+konnte. Und er hatte auch dieses letzte Opfer hingenommen, als käme es
+ihm zu.
+
+Da stehe ich vor dem Gitter ... Die Läden sind fest geschlossen. Weiß
+und wie verzaubert liegt die kleine Villa im Dämmerschein, und dort
+schimmert der Marmor zwischen den roten Zweigen ...
+
+Vielleicht bin ich übrigens ungerecht gegen Samodeski. Am Ende ist er so
+dumm, daß er die Wahrheit wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu
+denken, daß es für Mathilde im Tode keine größere Wonne gäbe, als zu
+wissen, daß ihr letzter himmlischer Betrug gelungen ist.
+
+Oder irre ich mich gar? Und es war ein natürlicher Tod?... Nein, ich
+lasse mir nicht das Recht nehmen, den Mann zu hassen, den Mathilde so
+sehr geliebt hat. Das wird ja wahrscheinlich für lange Zeit mein
+einziges Vergnügen sein ...
+
+_Ende_
+
+
+
+Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind den »Gesammelten
+Werken« entnommen.
+
+
+
+
+Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler
+
+
+I. Die erzählenden Schriften in drei Bänden
+
+In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M
+
+Inhalt: Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des Weisen. Der
+Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers letzter Brief. Der
+blinde Geronimo und sein Bruder. Leutnant Gustl. Die griechische
+Tänzerin. Frau Berta Garlan. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg.
+Die Fremde. Die Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der
+tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der Mörder. Die dreifache
+Warnung. Die Hirtenflöte. Der Weg ins Freie.
+
+
+II. Die Theaterstücke in vier Bänden
+
+In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M
+
+Inhalt: Anatol. Das Märchen. Liebelei. Freiwild. Das Vermächtnis.
+Paracelsus. Die Gefährtin. Der grüne Kakadu. Der Schleier der Beatrice.
+Lebendige Stunden. Die Frau mit dem Dolche. Die letzten Masken.
+Literatur. Der einsame Weg. Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der
+tapfere Cassian. Zum großen Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi
+oder Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land.
+
+
+
+
+Werke von Arthur Schnitzler
+
+
+Sterben
+
+Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark
+
+Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erzählung zu gemeinsamer
+Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die größte
+Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist und sich
+nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschränkt. Die deutsche
+Literatur könnte sich glücklich preisen, wenn sie viele solche Bücher
+hätte wie diese einfache Erzählung. (Deutsche Revue)
+
+
+Die Frau des Weisen
+
+Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark
+
+Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine
+liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen, mit
+dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der
+Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte.
+Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin
+gerne spielen, müssen Schnitzler gerne lesen. (Neues Wiener Tagblatt)
+
+
+Leutnant Gustl
+
+Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark
+
+Eine bittere Satire vom militärischen Standpunkt aus, aber als Erzählung
+von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig, und wie
+virtuos dabei in der Ausführung! Selten ist das Innere eines in engen
+Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungefähr in fieberhafte
+Aufregung gerät, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt worden als
+in dieser auch stofflich höchst spannenden, aus einem einzigen Monolog
+bestehenden Novelle. (Dresdner Anzeiger)
+
+
+Dämmerseelen
+
+Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark
+
+Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene
+außerordentliche Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der
+zahlreichen europäischen Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden
+erkannt wird. Von jener weltmännischen Gewandtheit, die nur irrtümlich
+als oberflächlich gilt, weil sie schamhaft genug ist, heiße Tränen
+hinter dem heimlichen Wappenschilde des Lächelns zu verbergen, läßt er
+durch die Maske des spielerisch tändelnden Dandys das wahre Antlitz des
+sinnenden ernsten Dichters lugen. (Breslauer Morgenzeitung)
+
+
+Der Weg ins Freie
+
+Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark
+
+Je länger dieses Buch in mir nachklingt, desto stärker wird der
+menschliche Eindruck, den es hinterläßt. Hier ist diese wundervolle
+Vereinigung, daß man überall spürt, wie stark in dem Dichter Schnitzler
+der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der Mensch den
+Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, künstlerisches, und
+beinahe möchte man sagen privates Fühlen so vollkommene Einheit, daß man
+über das Buch hinaus den Eindruck der reinen Individualität empfängt,
+die es geschrieben hat. (Die Zeit, Wien)
+
+
+Masken und Wunder
+
+Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark
+
+Ein geheimnisreicher Name für ein rätselvolles, ernstes und tiefes Buch!
+Von den Seelen merkwürdiger Menschen, zumal von Frauen, ist darin
+gehandelt -- skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch mit der
+seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem Wesen
+erfaßt und in den feinsten Gründen ihrer Existenz darlegt.
+(Generalanzeiger, Mannheim)
+
+
+Frau Beate und ihr Sohn
+
+Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50
+
+Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genußtriebs, die uns
+Schnitzler so oft mit überlegener Ironie geschildert hat, arbeitet er in
+dieser Meisternovelle eine erschütternde Tragik heraus. Schnitzler hat
+in dieser novellistischen Tragödie der entweihten Mutterschaft sein
+Stärkstes geboten. (Vossische Zeitung, Berlin)
+
+
+
+
+Gustaf af Geijerstam
+
+Gesammelte Romane in fünf Bänden
+
+
+Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt des
+Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark
+
+
+1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis des Waldes /
+Kristins Myrte / Sammel / Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis.
+
+2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe.
+
+3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht.
+
+4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte.
+
+5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrenhofallee.
+
+
+Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten unter uns.
+Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung seiner Werke --
+rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr billigem Preise, die
+denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe -- ist Beweis
+dafür. Den Geijerstam, den man braucht, hat man in dieser Auswahl ganz.
+Sie findet ihre literarische Rechtfertigung zudem in einer Einleitung
+von Friedrich Düsel, und diese Einführung gibt eine seelisch
+eindringliche, man könnte beinahe sagen erschöpfende Analyse von
+Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... In Geijerstam kündigt sich
+eine neue Weltanschauung an, noch viel zu unentwickelt, um in den Rahmen
+von zehn Geboten gefaßt zu werden, doch aber recht eigentlich die
+Weltanschauung des Menschen, der nicht die Kraft, dafür aber die
+Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. -- Eine neue Frucht der
+Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht dieser Erzählungen! Aus
+dem Stamm des sozialen Mitleidens ist sie erwachsen. Menschen mit
+verfeinerten Empfindungsorganen werden danach greifen und werden -- wie
+das immer war -- beides daraus schmecken: Tod und Leben. (Frankfurter
+Zeitung)
+
+
+
+
+Otto Erich Hartleben
+
+Ausgewählte Werke in drei Bänden
+
+
+Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitmüller. Mit dem Bilde des
+Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappbänden gebunden 10 Mark, in
+drei Ganzpergamentbänden 15 Mark.
+
+
+1. Bd.: Gedichte: Einleitung / Die Gedichte vollständig.
+
+2. Bd.: Prosa: Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe /
+Wie der Kleine zum Teufel wurde / Vom gastfreien Pastor / Der
+Einhornapotheker / Der römische Maler / Der bunte Vogel.
+
+3. Bd.: Dramen: Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung zur Ehe / Die
+sittliche Forderung / Rosenmontag.
+
+
+Ein schönes Werk der Pietät. In wundervoller Ausstattung ist hier ein
+Überblick über des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten Band
+ziert ein schönes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband -- alles ist zu
+jener vornehmen Harmonie abgetönt, die des Dichters eigene Person
+ausströmte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude hatte, ihm
+im Leben zu begegnen. Diese drei Bände stellen eine Zierde für jede
+Bibliothek dar. (Universum, Leipzig)
+
+Dieses Werk faßt als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckstück, nämlich
+das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in seiner
+Einleitung Bruchstücke aus den Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt, mit
+denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres Ältesten geleitete. Diese
+Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem Sinne Biographisches. Denn sie
+kennzeichnen ihre Verfasserin, diese stille Frau, die nicht Frau Ajas
+Humor, aber Frau Ajas Geduld und ihre Liebe hat. (Hamburger Fremdenblatt)
+
+
+
+
+Peter Nansen
+
+Werke in drei Bänden
+
+
+Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenbände in elegantem Futteral 12
+Mark. Jeder Band einzeln geheftet 3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4
+Mark 50 Pf.
+
+
+1. Band: _Jugend und Liebe._ Eine glückliche Ehe / Aus dem ersten
+Universitätsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete Fenster / Des
+Bürgermeisters Winterüberzieher / Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines
+Verliebten / Ein Weihnachtsmärchen / Der Weihnachtsbaum / Fräulein Mimi
+/ Eine Ballunterhaltung.
+
+2. Band: _Theater._ Judiths Ehe / Eine glückliche Ehe / Kameraden / Ein
+Hochzeitsabend / Die gestörte Verbindung.
+
+3. Band: _Die Romane des Herzens._ Julies Tagebuch / Maria /
+Gottesfriede.
+
+
+Nansens freie Selbständigkeit und seine künstlerische Unbefangenheit,
+die manchen als Rücksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine hohe
+Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach über der Tendenz
+die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern, wie sie ist.
+Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur zu Ehren
+bringen, indem er in erster Linie die »Weibheit« der Frau -- wie Laura
+Marholm sagen würde -- berücksichtigt; aber diese Absicht ist nicht die
+Hauptsache. Seine Bücher haben dagegen einen eigenen poetischen Wert.
+(Norddeutsche Allgemeine Zeitung)
+
+Peter Nansen stammt aus der elegischen, graziösen Hauptstadt des
+Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien, geistig mit
+Paris verwandt ist. Er gehört zu denen, die das Klima der nordischen
+Literatur wärmer, sinnlicher, verführerischer gemacht haben, so daß wir
+die Franzosen bald ganz entbehren können. (Das Literarische Echo)
+
+
+
+
+[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1914 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer
+Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält
+eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen
+Korrekturen.
+
+p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (entfernt)
+p 024: Anführungszeichen ergänzt: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«
+p 026: Anführungszeichen ergänzt: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«
+p 102: Anführungszeichen ergänzt: »Wie?-- -> »Wie?«--
+p 128: Anführungszeichen ergänzt: »Ich bin nicht schuld daran,
+p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.
+p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]
+
+
+
+[Transcriber's Note: This ebook has been prepared from scans of an
+original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers
+Bibliothek zeitgenössischer Romane". The table below lists all
+corrections applied to the original text.
+
+p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (deleted)
+p 024: added missing quotes: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«
+p 026: added missing quotes: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«
+p 102: added missing quotes: »Wie?-- -> »Wie?«--
+p 128: added missing quotes: »Ich bin nicht schuld daran,
+p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.
+p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN ***
+
+***** This file should be named 17142-8.txt or 17142-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17142/
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
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+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
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+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
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+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
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+*** START: FULL LICENSE ***
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+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
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+License as specified in paragraph 1.E.1.
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+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
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+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
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+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
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+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
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+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
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+1.F.
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+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
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+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
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+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
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+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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+ The Project Gutenberg eBook of Die griechische T&auml;nzerin, by Arthur Schnitzler.
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+The Project Gutenberg EBook of Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+Title: Die griechische Tänzerin
+ und andere Novellen
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+Author: Arthur Schnitzler
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+Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142]
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+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN ***
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+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
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+<h1 class="title">Die griechische T&auml;nzerin</h1>
+
+<h3 class="title">und andere Novellen<br />
+von</h3>
+<h2 class="title">Arthur Schnitzler</h2>
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+
+<h5 class="title">S. Fischer, Verlag, Berlin</h5>
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+<p><a class="page" name="Page_4" id="Page_4" title="4"></a></p>
+<p class="copyright">Alle Rechte vorbehalten, besonders die der &Uuml;bersetzung<br />
+Copyright S. Fischer, Verlag</p>
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+<p><a class="page" name="Page_5" id="Page_5" title="5"></a></p>
+<table class="toc">
+<caption>Inhalt</caption>
+<tr><td><a href="#Der_blinde_Geronimo_und_sein_Bruder">Der blinde Geronimo und sein Bruder</a></td>
+<td align="right">7</td></tr>
+<tr><td><a href="#Die_Toten_schweigen">Die Toten schweigen</a></td>
+<td align="right">53</td></tr>
+<tr><td><a href="#Die_Weissagung">Die Weissagung</a></td>
+<td align="right">85</td></tr>
+<tr><td><a href="#Das_neue_Lied">Das neue Lied</a></td>
+<td align="right">128</td></tr>
+<tr><td><a href="#Die_griechische_Taenzerin">Die griechische T&auml;nzerin</a></td>
+<td align="right">157</td></tr>
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+
+
+
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+<h2 class="novelle"><a name="Der_blinde_Geronimo_und_sein_Bruder" id="Der_blinde_Geronimo_und_sein_Bruder"></a>Der blinde Geronimo und sein Bruder</h2>
+
+
+<p class="newsection">Der blinde Geronimo stand von der Bank auf
+und nahm die Gitarre zur Hand, die auf dem
+Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war.
+Er hatte das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen.
+Nun tastete er sich den wohlbekannten
+Weg bis zur offenen T&uuml;re hin, und dann ging er die
+schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten
+Hofraum hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm,
+und beide stellten sich gleich neben der Treppe auf,
+den R&uuml;cken zur Wand gekehrt, um gegen den na&szlig;kalten
+Wind gesch&uuml;tzt zu sein, der &uuml;ber den feuchtschmutzigen
+Boden durch die offenen Tore strich.</p>
+
+<p>Unter dem d&uuml;steren Bogen des alten Wirtshauses
+mu&szlig;ten alle Wagen passieren, die den Weg &uuml;ber das
+Stilfserjoch nahmen. F&uuml;r die Reisenden, welche von
+Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast
+vor der H&ouml;he. Zu langem Aufenthalte lud es nicht
+ein, denn gerade hier lief die Stra&szlig;e ziemlich eben,
+ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen hin. Der
+blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in
+den Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.</p>
+
+<p>Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere
+<a class="page" name="Page_8" id="Page_8" title="8"></a>Wagen. Die meisten Reisenden blieben sitzen, in Plaids
+und M&auml;ntel wohl eingeh&uuml;llt, andere stiegen aus und
+spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her.
+Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen
+klatschte herab. Nach einer Reihe sch&ouml;ner Tage schien
+der Herbst pl&ouml;tzlich und allzu fr&uuml;h hereinzubrechen.</p>
+
+<p>Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der
+Gitarre; er sang mit einer ungleichm&auml;&szlig;igen, manchmal
+pl&ouml;tzlich aufkreischenden Stimme, wie immer, wenn
+er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf
+wie mit einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach
+oben. Aber die Z&uuml;ge seines Gesichtes mit den schwarzen
+Bartstoppeln und den bl&auml;ulichen Lippen blieben
+vollkommen unbeweglich. Der &auml;ltere Bruder stand
+neben ihm, beinahe regungslos. Wenn ihm jemand
+eine M&uuml;nze in den Hut fallen lie&szlig;, nickte er Dank und
+sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick
+ins Gesicht. Aber gleich, beinahe &auml;ngstlich, wandte er
+den Blick wieder fort und starrte gleich dem Bruder
+ins Leere. Es war, als sch&auml;mten sich seine Augen des
+Lichts, das ihnen gew&auml;hrt war, und von dem sie dem
+blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten.</p>
+
+<p>&raquo;Bring mir Wein,&laquo; sagte Geronimo, und Carlo
+ging, gehorsam wie immer. W&auml;hrend er die Stufen
+aufw&auml;rts schritt, begann Geronimo wieder zu singen.
+<a class="page" name="Page_9" id="Page_9" title="9"></a>Er h&ouml;rte l&auml;ngst nicht mehr auf seine eigene Stimme,
+und so konnte er auf das merken, was in seiner N&auml;he
+vorging. Jetzt vernahm er ganz nahe zwei fl&uuml;sternde
+Stimmen, die eines jungen Mannes und einer jungen
+Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen
+Weg hin und her gegangen sein mochten; denn
+in seiner Blindheit und in seinem Rausch war ihm
+manchmal, als k&auml;men Tag f&uuml;r Tag dieselben Menschen
+&uuml;ber das Joch gewandert, bald von Norden gegen
+S&uuml;den, bald von S&uuml;den gegen Norden. Und so
+kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit.</p>
+
+<p>Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas
+Wein. Der Blinde schwenkte es dem jungen Paare
+zu und sagte: &raquo;Ihr Wohl, meine Herrschaften!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Danke,&laquo; sagte der junge Mann; aber die junge
+Frau zog ihn fort, denn ihr war dieser Blinde unheimlich.</p>
+
+<p>Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich l&auml;rmenden
+Gesellschaft ein: Vater, Mutter, drei Kinder, eine
+Bonne.</p>
+
+<p>&raquo;Deutsche Familie,&laquo; sagte Geronimo leise zu Carlo.</p>
+
+<p>Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldst&uuml;ck,
+und jedes durfte das seine in den Hut des Bettlers
+werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum
+Dank. Der &auml;lteste Knabe sah dem Blinden mit &auml;ngst<a class="page" name="Page_10" id="Page_10" title="10"></a>licher
+Neugier ins Gesicht. Carlo betrachtete den
+Knaben. Er mu&szlig;te, wie immer beim Anblick solcher
+Kinder, daran denken, da&szlig; Geronimo gerade so alt
+gewesen war, als das Ungl&uuml;ck geschah, durch das er
+das Augenlicht verloren hatte. Denn er erinnerte sich
+jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig
+Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute
+klang ihm der grelle Kinderschrei ins Ohr, mit dem
+der kleine Geronimo auf den Rasen hingesunken war,
+noch heute sah er die Sonne auf der wei&szlig;en Gartenmauer
+spielen und kringeln und h&ouml;rte die Sonntagsglocken
+wieder, die gerade in jenem Augenblick
+get&ouml;nt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen
+nach der Esche an der Mauer geschossen, und als er
+den Schrei h&ouml;rte, dachte er gleich, da&szlig; er den kleinen
+Bruder verletzt haben mu&szlig;te, der eben vorbeigelaufen
+war. Er lie&szlig; das Blasrohr aus den H&auml;nden gleiten,
+sprang durchs Fenster in den Garten und st&uuml;rzte zu
+dem kleinen Bruder hin, der auf dem Grase lag, die
+H&auml;nde vors Gesicht geschlagen und jammerte. &Uuml;ber
+die rechte Wange und den Hals flo&szlig; ihm Blut herunter.
+In derselben Minute kam der Vater vom Felde heim,
+durch die kleine Gartent&uuml;r, und nun knieten beide
+ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn
+eilten herbei; die alte Vanetti war die erste, der es
+<a class="page" name="Page_11" id="Page_11" title="11"></a>gelang, dem Kleinen die H&auml;nde vom Gesicht zu entfernen.
+Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo
+damals in der Lehre war und der sich ein bi&szlig;chen aufs
+Kurieren verstand; und der sah gleich, da&szlig; das rechte
+Auge verloren war. Der Arzt, der abends aus
+Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja,
+er deutete schon die Gefahr an, in der das andere
+Auge schwebte. Und er behielt recht. Ein Jahr sp&auml;ter
+war die Welt f&uuml;r Geronimo in Nacht versunken.
+Anfangs versuchte man ihm einzureden, da&szlig; er sp&auml;ter
+geheilt werden k&ouml;nnte, und er schien es zu glauben.
+Carlo, der die Wahrheit wu&szlig;te, irrte damals tage- und
+n&auml;chtelang auf der Landstra&szlig;e, zwischen den Weinbergen
+und in den W&auml;ldern umher, und war nahe
+daran, sich umzubringen. Aber der geistliche Herr,
+dem er sich anvertraute, kl&auml;rte ihn auf, da&szlig; es seine
+Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu
+widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid
+ergriff ihn. Nur wenn er bei dem blinden Jungen
+war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine Stirne
+k&uuml;ssen durfte, ihm Geschichten erz&auml;hlte, ihn auf den
+Feldern hinter dem Hause und zwischen den Rebengel&auml;nden
+spazieren f&uuml;hrte, milderte sich seine Pein.
+Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der Schmiede
+vernachl&auml;ssigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht
+<a class="page" name="Page_12" id="Page_12" title="12"></a>trennen mochte, und konnte sich nachher nicht mehr
+entschlie&szlig;en, sein Handwerk wieder aufzunehmen,
+trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines
+Tages fiel es Carlo auf, da&szlig; Geronimo vollkommen
+aufgeh&ouml;rt hatte, von seinem Ungl&uuml;ck zu reden. Bald
+wu&szlig;te er, warum: der Blinde war zur Einsicht
+gekommen, da&szlig; er nie den Himmel, die H&uuml;gel, die
+Stra&szlig;en, die Menschen, das Licht wieder sehen w&uuml;rde.
+Nun litt Carlo noch mehr als fr&uuml;her, so sehr er sich
+auch selbst damit zu beruhigen suchte, da&szlig; er ohne
+jede Absicht das Ungl&uuml;ck herbeigef&uuml;hrt hatte. Und
+manchmal, wenn er am fr&uuml;hen Morgen den Bruder
+betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er von einer
+solchen Angst erfa&szlig;t, ihn erwachen zu sehen, da&szlig; er
+in den Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu
+m&uuml;ssen, wie die toten Augen jeden Tag von neuem
+das Licht zu suchen schienen, das ihnen f&uuml;r immer
+erloschen war. Zu jener Zeit war es, da&szlig; Carlo auf
+den Einfall kam, Geronimo, der eine angenehme
+Stimme hatte, in der Musik weiter ausbilden zu
+lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal
+Sonntags her&uuml;berkam, lehrte ihn die Gitarre spielen.
+Damals ahnte der Blinde freilich noch nicht, da&szlig; die
+neuerlernte Kunst einmal zu seinem Lebensunterhalt
+dienen w&uuml;rde.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_13" id="Page_13" title="13"></a>Mit jenem traurigen Sommertag schien das Ungl&uuml;ck
+f&uuml;r immer in das Haus des alten Lagardi
+eingezogen zu sein. Die Ernte mi&szlig;riet ein Jahr nach
+dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte
+erspart hatte, wurde er von einem Verwandten betrogen;
+und als er an einem schw&uuml;len Augusttag auf
+freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb,
+hinterlie&szlig; er nichts als Schulden. Das kleine Anwesen
+wurde verkauft, die beiden Br&uuml;der waren obdachlos
+und arm und verlie&szlig;en das Dorf.</p>
+
+<p>Carlo war zwanzig, Geronimo f&uuml;nfzehn Jahre alt.
+Damals begann das Bettel- und Wanderleben, das
+sie bis heute f&uuml;hrten. Anfangs hatte Carlo daran
+gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich
+ihn und den Bruder ern&auml;hren k&ouml;nnte; aber es wollte
+nicht gelingen. Auch hatte Geronimo nirgend Ruhe;
+er wollte immer auf dem Wege sein.</p>
+
+<p>Zwanzig Jahre war es nun, da&szlig; sie auf Stra&szlig;en
+und P&auml;ssen herumzogen, im n&ouml;rdlichen Italien und
+im s&uuml;dlichen Tirol, immer dort, wo eben der dichtere
+Zug der Reisenden vor&uuml;berstr&ouml;mte.</p>
+
+<p>Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht
+mehr die brennende Qual versp&uuml;rte, mit der ihn fr&uuml;her
+jedes Leuchten der Sonne, der Anblick jeder freundlichen
+Landschaft erf&uuml;llt hatte, es war doch ein stetes
+<a class="page" name="Page_14" id="Page_14" title="14"></a>nagendes Mitleid in ihm, best&auml;ndig und ihm unbewu&szlig;t,
+wie der Schlag seines Herzens und sein Atem. Und
+er war froh, wenn Geronimo sich betrank.</p>
+
+<p>Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren.
+Carlo setzte sich, wie er gern tat, auf die
+untersten Stufen der Treppe, Geronimo aber blieb
+stehen, lie&szlig; die Arme schlaff herabh&auml;ngen und hielt
+den Kopf nach oben gewandt.</p>
+
+<p>Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube.</p>
+
+<p>&raquo;Habt&#8217;s viel verdient heut?&laquo; rief sie herunter.</p>
+
+<p>Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde b&uuml;ckte
+sich nach seinem Glas, hob es vom Boden auf und
+trank es Maria zu. Sie sa&szlig; manchmal abends in der
+Wirtsstube neben ihm; er wu&szlig;te auch, da&szlig; sie sch&ouml;n war.</p>
+
+<p>Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Stra&szlig;e
+hinaus. Der Wind blies, und der Regen prasselte,
+so da&szlig; das Rollen des nahenden Wagens in den
+heftigen Ger&auml;uschen unterging. Carlo stand auf und
+nahm wieder seinen Platz an des Bruders Seite ein.</p>
+
+<p>Geronimo begann zu singen, schon w&auml;hrend der
+Wagen einfuhr, in dem nur ein Passagier sa&szlig;. Der
+Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte er
+hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine
+Weile in seiner Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen
+grauen Regenmantel; er schien auf den Gesang gar
+<a class="page" name="Page_15" id="Page_15" title="15"></a>nicht zu h&ouml;ren. Nach einer Weile aber sprang er
+aus dem Wagen und lief mit gro&szlig;er Hast hin und her,
+ohne sich weit vom Wagen zu entfernen. Er rieb
+immerfort die H&auml;nde aneinander, um sich zu erw&auml;rmen.
+Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken.
+Er stellte sich ihnen gegen&uuml;ber und sah sie lange wie
+pr&uuml;fend an. Carlo neigte leicht den Kopf, wie zum
+Gru&szlig;e. Der Reisende war ein sehr junger Mensch
+mit einem h&uuml;bschen, bartlosen Gesicht und unruhigen
+Augen. Nachdem er eine ganze Weile vor den
+Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore,
+durch das er weiterfahren sollte, und sch&uuml;ttelte bei
+dem trostlosen Ausblick in Regen und Nebel verdrie&szlig;lich
+den Kopf.</p>
+
+<p>&raquo;Nun?&laquo; fragte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Noch nichts,&laquo; erwiderte Carlo. &raquo;Er wird wohl
+geben, wenn er fortf&auml;hrt.&laquo;</p>
+
+<p>Der Reisende kam wieder zur&uuml;ck und lehnte sich
+an die Deichsel des Wagens. Der Blinde begann zu
+singen. Nun schien der junge Mann pl&ouml;tzlich mit
+gro&szlig;em Interesse zuzuh&ouml;ren. Der Knecht erschien
+und spannte die Pferde wieder ein. Und jetzt erst,
+als bes&auml;nne er sich eben, griff der junge Mann in die
+Tasche und gab Carlo einen Frank.</p>
+
+<p>&raquo;O danke, danke,&laquo; sagte dieser.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_16" id="Page_16" title="16"></a>Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte
+sich wieder in seinen Mantel. Carlo nahm das Glas
+vom Boden auf und ging die Holzstufen hinauf.
+Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum
+Wagen heraus und sch&uuml;ttelte den Kopf mit einem
+Ausdruck von &Uuml;berlegenheit und Traurigkeit zugleich.
+Pl&ouml;tzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er
+l&auml;chelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum
+zwei Schritte weit von ihm stand: &raquo;Wie hei&szlig;t du?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Geronimo.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, Geronimo, la&szlig; dich nur nicht betr&uuml;gen.&laquo;
+In diesem Augenblick erschien der Kutscher auf der
+obersten Stufe der Treppe.</p>
+
+<p>&raquo;Wieso, gn&auml;diger Herr, betr&uuml;gen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankst&uuml;ck
+gegeben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O Herr, Dank, Dank!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja; also pa&szlig; auf.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er ist mein Bruder, Herr; er betr&uuml;gt mich nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Der junge Mann stutzte eine Weile, aber w&auml;hrend
+er noch &uuml;berlegte, war der Kutscher auf den Bock
+gestiegen und hatte die Pferde angetrieben. Der
+junge Mann lehnte sich zur&uuml;ck mit einer Bewegung
+des Kopfes, als wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen
+Lauf! und der Wagen fuhr davon.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_17" id="Page_17" title="17"></a>Der Blinde winkte mit beiden H&auml;nden lebhafte
+Geb&auml;rden des Dankes nach. Jetzt h&ouml;rte er Carlo, der
+eben aus der Wirtsstube kam. Der rief herunter:
+&raquo;Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat
+Feuer gemacht!&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm
+und tastete sich am Gel&auml;nder die Stufen hinauf. Auf
+der Treppe schon rief er: &raquo;La&szlig; es mich anf&uuml;hlen!
+Wie lang hab ich schon kein Goldst&uuml;ck angef&uuml;hlt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was gibt&#8217;s?&laquo; fragte Carlo. &raquo;Was redest du da?&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo war oben und griff mit beiden H&auml;nden
+nach dem Kopf seines Bruders, ein Zeichen, mit dem
+er stets Freude oder Z&auml;rtlichkeit auszudr&uuml;cken pflegte.
+&raquo;Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute Menschen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;,&laquo; sagte Carlo. &raquo;Bis jetzt sind es zwei Lire
+und drei&szlig;ig Zentesimi; und hier ist noch &ouml;sterreichisches
+Geld, vielleicht eine halbe Lira.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und zwanzig Franken &#8211; und zwanzig Franken!&laquo;
+rief Geronimo. &raquo;Ich wei&szlig; es ja!&laquo; Er torkelte in die
+Stube und setzte sich schwer auf die Bank.</p>
+
+<p>&raquo;Was wei&szlig;t du?&laquo; fragte Carlo.</p>
+
+<p>&raquo;So la&szlig; doch die Sp&auml;&szlig;e! Gib es mir in die Hand!
+Wie lang hab ich schon kein Goldst&uuml;ck in der Hand
+gehabt!&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_18" id="Page_18" title="18"></a>&raquo;Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldst&uuml;ck
+nehmen? Es sind zwei Lire oder drei.&laquo;</p>
+
+<p>Der Blinde schlug auf den Tisch. &raquo;Jetzt ist es aber
+genug, genug! Willst du es etwa vor mir verstecken?&laquo;</p>
+
+<p>Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert
+an. Er setzte sich neben ihn, r&uuml;ckte ganz nahe und fa&szlig;te
+wie beg&uuml;tigend seinen Arm: &raquo;Ich verstecke nichts vor
+dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es
+eingefallen, mir ein Goldst&uuml;ck zu geben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber er hat mir&#8217;s doch gesagt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wer?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie? Ich versteh dich nicht!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So hat er zu mir gesagt: &#8250;Wie hei&szlig;t du?&#8249; und
+dann: &#8250;Gib acht, gib acht, la&szlig; dich nicht betr&uuml;gen!&#8249;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du mu&szlig;t getr&auml;umt haben, Geronimo &#8211; das ist
+ja Unsinn!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unsinn? Ich hab es doch geh&ouml;rt, und ich h&ouml;re
+gut. &#8250;La&szlig; dich nicht betr&uuml;gen; ich habe ihm ein Goldst&uuml;ck
+...&#8249; &#8211; nein, so sagte er: &#8250;Ich habe ihm ein
+Zwanzig-Frankst&uuml;ck gegeben.&#8249;&laquo;</p>
+
+<p>Der Wirt kam herein. &raquo;Nun, was ist&#8217;s mit euch?
+Habt ihr das Gesch&auml;ft aufgegeben? Ein Viersp&auml;nner
+ist gerade angefahren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Komm!&laquo; rief Carlo, &raquo;komm!&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_19" id="Page_19" title="19"></a>Geronimo blieb sitzen. &raquo;Warum denn? Warum
+soll ich kommen? Was hilft&#8217;s mir denn? Du stehst
+ja dabei und &#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Carlo ber&uuml;hrte ihn am Arm. &raquo;Still, komm jetzt
+hinunter!&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder.
+Aber auf den Stufen sagte er: &raquo;Wir reden noch, wir
+reden noch!&laquo;</p>
+
+<p>Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo
+pl&ouml;tzlich verr&uuml;ckt geworden? Denn, wenn er
+auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise hatte er
+noch nie gesprochen.</p>
+
+<p>In dem eben angekommenen Wagen sa&szlig;en zwei
+Engl&auml;nder; Carlo l&uuml;ftete den Hut vor ihnen, und der
+Blinde sang. Der eine Engl&auml;nder war ausgestiegen
+und warf einige M&uuml;nzen in Carlos Hut. Carlo sagte:
+&raquo;Danke&laquo; und dann, wie vor sich hin: &raquo;Zwanzig Zentesimi.&laquo;
+Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt; er
+begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei
+Engl&auml;ndern fuhr davon.</p>
+
+<p>Die Br&uuml;der gingen schweigend die Stufen hinauf.
+Geronimo setzte sich auf die Bank, Carlo blieb beim
+Ofen stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Warum sprichst du nicht?&laquo; fragte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Nun,&laquo; erwiderte Carlo, &raquo;es kann nur so sein,
+<a class="page" name="Page_20" id="Page_20" title="20"></a>wie ich dir gesagt habe.&laquo; Seine Stimme zitterte ein
+wenig.</p>
+
+<p>&raquo;Was hast du gesagt?&laquo; fragte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Es war vielleicht ein Wahnsinniger.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Wahnsinniger? Das w&auml;re ja vortrefflich!
+Wenn einer sagt: &#8250;Ich habe deinem Bruder zwanzig
+Franken gegeben,&#8249; so ist er wahnsinnig! &#8211; Eh, und
+warum hat er gesagt: &#8250;La&szlig; dich nicht betr&uuml;gen&#8249; &#8211; eh?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber
+es gibt Menschen, die mit uns armen Leuten Sp&auml;&szlig;e
+machen ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eh!&laquo; schrie Geronimo, &raquo;Sp&auml;&szlig;e? &#8211; Ja, das hast
+du noch sagen m&uuml;ssen &#8211; darauf habe ich gewartet!&laquo;
+Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm stand.</p>
+
+<p>&raquo;Aber, Geronimo!&laquo; rief Carlo, und er f&uuml;hlte, da&szlig;
+er vor Best&uuml;rzung kaum sprechen konnte, &raquo;warum
+sollte ich ... wie kannst du glauben ...?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum
+...?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Geronimo, ich versichere dir, ich &#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eh &#8211; und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ...
+ich wei&szlig; ja, da&szlig; du jetzt lachst!&laquo;</p>
+
+<p>Der Knecht rief von unten: &raquo;He, blinder Mann,
+Leut&#8217; sind da!&laquo;</p>
+
+<p>Ganz mechanisch standen die Br&uuml;der auf und
+<a class="page" name="Page_21" id="Page_21" title="21"></a>schritten die Stufen hinab. Zwei Wagen waren
+zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer
+mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo
+stand neben ihm, fassungslos. Was sollte er nur tun?
+Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie war das nur
+m&ouml;glich? &#8211; Und er betrachtete Geronimo, der mit
+zerbrochener Stimme seine Lieder sang, angstvoll von
+der Seite. Es war ihm, als s&auml;he er &uuml;ber diese Stirne
+Gedanken fliehen, die er fr&uuml;her dort niemals gewahrt
+hatte.</p>
+
+<p>Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang
+weiter. Carlo wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Er
+wu&szlig;te nicht, was er sagen sollte, er f&uuml;rchtete, da&szlig; seine
+Stimme wieder zittern w&uuml;rde. Da t&ouml;nte Lachen
+von oben, und Maria rief: &raquo;Was singst denn noch
+immer? Von mir kriegst du ja doch nichts!&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es
+klang, als w&auml;re seine Stimme und die Saiten zugleich
+abgerissen. Dann ging er wieder die Stufen hinauf,
+und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er
+sich neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm
+nichts anderes &uuml;brig: er mu&szlig;te noch einmal versuchen,
+den Bruder aufzukl&auml;ren.</p>
+
+<p>&raquo;Geronimo,&laquo; sagte er, &raquo;ich schw&ouml;re dir ... bedenk
+doch, Geronimo, wie kannst du glauben, da&szlig; ich &#8211;&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_22" id="Page_22" title="22"></a>Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen
+durch das Fenster in den grauen Nebel hinauszublicken.
+Carlo redete weiter: &raquo;Nun, er braucht ja
+nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt
+haben ... ja er hat sich geirrt ...&laquo; Aber er f&uuml;hlte
+wohl, da&szlig; er selbst nicht glaubte, was er sagte.</p>
+
+<p>Geronimo r&uuml;ckte ungeduldig fort. Aber Carlo
+redete weiter, mit pl&ouml;tzlicher Lebhaftigkeit: &raquo;Wozu
+sollte ich denn &#8211; du wei&szlig;t doch, ich esse und trinke
+nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock
+kaufe, so wei&szlig;t du&#8217;s doch ... wof&uuml;r brauch ich denn
+so viel Geld? Was soll ich denn damit tun?&laquo;</p>
+
+<p>Da stie&szlig; Geronimo zwischen den Z&auml;hnen hervor:
+&raquo;L&uuml;g nicht, ich h&ouml;re, wie du l&uuml;gst!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich l&uuml;ge nicht, Geronimo, ich l&uuml;ge nicht!&laquo; sagte
+Carlo erschrocken.</p>
+
+<p>&raquo;Eh! hast du ihr&#8217;s schon gegeben, ja? Oder bekommt
+sie&#8217;s erst nachher?&laquo; schrie Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Maria?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wer denn, als Maria? Eh, du L&uuml;gner, du Dieb!&laquo;
+Und als wollte er nicht mehr neben ihm am Tische
+sitzen, stie&szlig; er mit dem Ellbogen den Bruder in die Seite.</p>
+
+<p>Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an,
+dann verlie&szlig; er das Zimmer und ging &uuml;ber die Stiege
+in den Hof. Er schaute mit weit offenen Augen auf
+<a class="page" name="Page_23" id="Page_23" title="23"></a>die Stra&szlig;e hinaus, die vor ihm in br&auml;unlichen Nebel
+versank. Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte
+die H&auml;nde in die Hosentaschen und ging ins Freie.
+Es war ihm, als h&auml;tte ihn sein Bruder davongejagt.
+Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch
+immer nicht fassen. Was f&uuml;r ein Mensch mochte das
+gewesen sein? Einen Franken schenkt er her und
+sagt, es waren zwanzig! Er mu&szlig;te doch irgendeinen
+Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in
+seiner Erinnerung, ob er sich nicht irgendwo jemanden
+zum Feind gemacht, der nun einen anderen hergeschickt
+hatte, um sich zu r&auml;chen ... Aber soweit er
+zur&uuml;ckdenken mochte, nie hatte er jemanden beleidigt,
+nie irgendeinen ernsten Streit mit jemandem vorgehabt.
+Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes
+getan, als da&szlig; er in H&ouml;fen oder an Stra&szlig;enr&auml;ndern
+gestanden war mit dem Hut in der Hand ... War ihm
+vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers b&ouml;se?...
+Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun
+gehabt ... die Kellnerin in La Rosa war die letzte
+gewesen, im vorigen Fr&uuml;hjahr ... aber um die war
+ihm gewi&szlig; niemand neidisch ... Es war nicht zu
+begreifen!... Was mochte es da drau&szlig;en in der
+Welt, die er nicht kannte, f&uuml;r Menschen geben?...
+Von &uuml;berallher kamen sie ... was wu&szlig;te er von
+<a class="page" name="Page_24" id="Page_24" title="24"></a>ihnen?... F&uuml;r diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen
+Sinn gehabt, da&szlig; er zu Geronimo sagte: Ich
+habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ...
+Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit
+einem Male war es offenbar geworden, da&szlig; Geronimo
+ihm mi&szlig;traute!... Das konnte er nicht ertragen!
+Irgend etwas mu&szlig;te er dagegen unternehmen ...
+Und er eilte zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo
+auf der Bank ausgestreckt und schien das Eintreten
+Carlos nicht zu bemerken. Maria brachte den beiden
+Essen und Trinken. Sie sprachen w&auml;hrend der Mahlzeit
+kein Wort. Als Maria die Teller abr&auml;umte, lachte
+Geronimo pl&ouml;tzlich auf und sagte zu ihr: &raquo;Was wirst
+du dir denn daf&uuml;r kaufen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wof&uuml;r denn?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was will er denn von mir?&laquo; wandte sie sich an
+Carlo.</p>
+
+<p>Indes dr&ouml;hnte unten der Hof von lastenbeladenen
+Fuhrwerken, laute Stimmen t&ouml;nten herauf und Maria
+eilte hinunter. Nach ein paar Minuten kamen drei
+Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der
+Wirt trat zu ihnen und begr&uuml;&szlig;te sie. Sie schimpften
+&uuml;ber das schlechte Wetter.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_25" id="Page_25" title="25"></a>&raquo;Heute nacht werdet ihr Schnee haben,&laquo; sagte
+der eine.</p>
+
+<p>Der zweite erz&auml;hlte, wie er vor zehn Jahren Mitte
+August auf dem Joch eingeschneit und beinahe erfroren
+war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch der
+Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen
+Eltern, die unten in Bormio wohnten.</p>
+
+<p>Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden.
+Geronimo und Carlo gingen hinunter, Geronimo sang,
+Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden gaben ihr
+Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte
+manchmal: &raquo;Wieviel?&laquo; und nickte zu den Antworten
+Carlos leicht mit dem Kopfe. Indes versuchte Carlo
+selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte immer
+nur das dumpfe Gef&uuml;hl, da&szlig; etwas Schreckliches geschehen
+und da&szlig; er ganz wehrlos war.</p>
+
+<p>Als die Br&uuml;der wieder die Stufen hinaufschritten,
+h&ouml;rten sie die Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden
+und lachen. Der j&uuml;ngste rief dem Geronimo
+entgegen: &raquo;Sing uns doch auch was vor, wir zahlen
+schon! &#8211; Nicht wahr?&laquo; wandte er sich an die anderen.</p>
+
+<p>Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein
+kam, sagte: &raquo;Fangt heut nichts mit ihm an, er ist
+schlechter Laune.&laquo;</p>
+
+<p>Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten
+<a class="page" name="Page_26" id="Page_26" title="26"></a>ins Zimmer hin und fing an zu singen. Als er geendet,
+klatschten die Fuhrleute in die H&auml;nde.</p>
+
+<p>&raquo;Komm her, Carlo!&laquo; rief einer, &raquo;wir wollen dir
+unser Geld auch in den Hut werfen wie die Leute
+unten!&laquo; Und er nahm eine kleine M&uuml;nze und hielt
+die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen,
+den ihm Carlo entgegenstreckte. Da griff der Blinde
+nach dem Arm des Fuhrmannes und sagte: &raquo;Lieber
+mir, lieber mir! Es k&ouml;nnte daneben fallen &#8211; daneben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wieso daneben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!&laquo;</p>
+
+<p>Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo
+stand regungslos da. Nie hatte Geronimo solche Sp&auml;&szlig;e
+gemacht!...</p>
+
+<p>&raquo;Setz dich zu uns!&laquo; riefen die Fuhrleute. &raquo;Du bist
+ein lustiger Kerl!&laquo; Und sie r&uuml;ckten zusammen, um
+Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und wirrer
+war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit,
+lauter und lustiger als sonst, und h&ouml;rte nicht auf zu
+trinken. Als Maria eben wieder hereinkam, wollte
+er sie an sich ziehen; da sagte der eine von den Fuhrleuten
+lachend: &raquo;Meinst du vielleicht, sie ist sch&ouml;n?
+Sie ist ja ein altes h&auml;&szlig;liches Weib!&laquo;</p>
+
+<p>Aber der Blinde zog Maria auf seinen Scho&szlig;. &raquo;Ihr
+seid alle Dummk&ouml;pfe,&laquo; sagte er. &raquo;Glaubt ihr, ich
+<a class="page" name="Page_27" id="Page_27" title="27"></a>brauche meine Augen, um zu sehen? Ich wei&szlig; auch,
+wo Carlo jetzt ist &#8211; eh! &#8211; dort am Ofen steht er,
+hat die H&auml;nde in den Hosentaschen und lacht.&laquo;</p>
+
+<p>Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde
+am Ofen lehnte und nun wirklich das Gesicht zu einem
+Grinsen verzog, als d&uuml;rfte er seinen Bruder nicht
+L&uuml;gen strafen.</p>
+
+<p>Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch
+vor Dunkelheit in Bormio sein wollten, mu&szlig;ten sie
+sich beeilen. Sie standen auf und verabschiedeten sich
+l&auml;rmend. Die beiden Br&uuml;der waren wieder allein in
+der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst
+manchmal zu schlafen pflegten. Das ganze Wirtshaus
+versank in Ruhe wie immer um diese Zeit der ersten
+Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem
+Tisch, schien zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und
+her, dann setzte er sich auf die Bank. Er war sehr
+m&uuml;de. Es schien ihm, als w&auml;re er in einem schweren
+Traum befangen. Er mu&szlig;te an allerlei denken, an
+gestern, vorgestern und alle Tage, die fr&uuml;her waren,
+und besonders an warme Sommertage und an wei&szlig;e
+Landstra&szlig;en, &uuml;ber die er mit seinem Bruder zu
+wandern pflegte, und alles war so weit und unbegreiflich,
+als wenn es nie wieder so sein k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>Am sp&auml;ten Nachmittage kam die Post aus Tirol
+<a class="page" name="Page_28" id="Page_28" title="28"></a>und bald darauf in kleinen Zwischenpausen Wagen,
+die den gleichen Weg nach dem S&uuml;den nahmen. Noch
+viermal mu&szlig;ten die Br&uuml;der in den Hof hinab. Als
+sie das letztemal heraufgingen, war die D&auml;mmerung
+hereingebrochen, und das &Ouml;ll&auml;mpchen, das von der
+Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die
+in einem nahen Steinbruche besch&auml;ftigt waren und
+ein paar hundert Schritte unterhalb des Wirtshauses
+ihre Holzh&uuml;tten aufgeschlagen hatten. Geronimo setzte
+sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische.
+Es war ihm, als dauerte seine Einsamkeit schon sehr
+lange. Er h&ouml;rte, wie Geronimo dr&uuml;ben laut, beinahe
+schreiend, von seiner Kindheit erz&auml;hlte: da&szlig; er sich
+noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen
+Augen gesehen, Personen und Dinge: an den Vater,
+wie er auf dem Felde arbeitete, an den kleinen Garten
+mit der Esche an der Mauer, an das niedrige H&auml;uschen,
+das ihnen geh&ouml;rte, an die zwei kleinen T&ouml;chter des
+Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an
+sein eigenes Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel
+entgegengeblickt hatte. Wie oft hatte Carlo das alles
+geh&ouml;rt. Heute ertrug er es nicht. Es klang anders
+als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam
+einen neuen Sinn und schien sich gegen ihn zu richten.
+Er schlich hinaus und ging wieder auf die Land<a class="page" name="Page_29" id="Page_29" title="29"></a>stra&szlig;e,
+die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte
+aufgeh&ouml;rt, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke
+erschien Carlo beinahe verlockend, weiterzugehen,
+immer weiter, tief in die Finsternis hinein, sich am
+Ende irgendwohin in den Stra&szlig;engraben zu legen,
+einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. &#8211; Pl&ouml;tzlich
+h&ouml;rte er das Rollen eines Wagens und erblickte den
+Lichtschimmer von zwei Laternen, die immer n&auml;her
+kamen. In dem Wagen, der vor&uuml;berfuhr, sa&szlig;en zwei
+Herren. Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen
+Gesichte fuhr erschrocken zusammen, als Carlos
+Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel
+hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, l&uuml;ftete
+den Hut. Der Wagen und die Lichter verschwanden.
+Carlo stand wieder in tiefer Finsternis. Pl&ouml;tzlich schrak
+er zusammen. Das erstemal in seinem Leben machte
+ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als k&ouml;nnte er
+es keine Minute l&auml;nger ertragen. In einer sonderbaren
+Art vermengten sich in seinem dumpfen Sinnen
+die Schauer, die er f&uuml;r sich selbst empfand, mit einem
+qu&auml;lenden Mitleid f&uuml;r den blinden Bruder und jagten
+ihn nach Hause.</p>
+
+<p>Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden
+Reisenden, die vorher an ihm vorbeigefahren waren,
+bei einer Flasche Rotwein an einem Tische sitzen und
+<a class="page" name="Page_30" id="Page_30" title="30"></a>sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten
+kaum auf, als er eintrat.</p>
+
+<p>An dem anderen Tische sa&szlig; Geronimo wie fr&uuml;her
+unter den Arbeitern.</p>
+
+<p>&raquo;Wo steckst du denn, Carlo?&laquo; sagte ihm der Wirt
+schon an der T&uuml;r. &raquo;Warum l&auml;&szlig;t du deinen Bruder
+allein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was gibt&#8217;s denn?&laquo; fragte Carlo erschrocken.</p>
+
+<p>&raquo;Geronimo traktiert die Leute. Mir kann&#8217;s ja egal
+sein, aber ihr solltet doch denken, da&szlig; bald wieder
+schlechtere Zeiten kommen.&laquo;</p>
+
+<p>Carlo trat rasch zu dem Bruder und fa&szlig;te ihn am
+Arme. &raquo;Komm!&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Was willst du?&laquo; schrie Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Komm zu Bett,&laquo; sagte Carlo.</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; mich, la&szlig; mich! Ich verdiene das Geld, ich
+kann mit meinem Gelde tun, was ich will &#8211; eh! &#8211;
+alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr meint
+wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein
+blinder Mann! Aber es gibt Leute &#8211; es gibt gute
+Leute, die sagen mir: &#8250;Ich habe deinem Bruder
+zwanzig Franken gegeben!&#8249;&laquo;</p>
+
+<p>Die Arbeiter lachten auf.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist genug,&laquo; sagte Carlo, &raquo;komm!&laquo; Und er
+zog den Bruder mit sich, schleppte ihn beinah die
+<a class="page" name="Page_31" id="Page_31" title="31"></a>Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo sie
+ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie
+Geronimo: &raquo;Ja, nun ist es an den Tag gekommen,
+ja, nun wei&szlig; ich&#8217;s! Ah, wartet nur. Wo ist sie? Wo
+ist Maria? Oder legst du&#8217;s ihr in die Sparkassa? &#8211;
+Eh, ich singe f&uuml;r dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst
+du &#8211; und du bist ein Dieb!&laquo; Er fiel auf den Strohsack
+hin.</p>
+
+<p>Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht
+herein; dr&uuml;ben stand die T&uuml;r zu dem einzigen Fremdenzimmer
+des Wirtshauses offen, und Maria richtete
+die Betten f&uuml;r die Nachtruhe her. Carlo stand vor
+seinem Bruder und sah ihn daliegen mit dem gedunsenen
+Gesicht, mit den bl&auml;ulichen Lippen, das
+feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre
+&auml;lter aussehend, als er war. Und langsam begann
+er zu verstehen. Nicht von heute konnte das Mi&szlig;trauen
+des Blinden sein, l&auml;ngst mu&szlig;te es in ihm geschlummert
+haben, und nur der Anla&szlig;, vielleicht der Mut hatte
+ihm gefehlt, es auszusprechen. Und alles, was Carlo
+f&uuml;r ihn getan, war vergeblich gewesen; vergeblich
+die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens.
+Was sollte er nun tun? &#8211; Sollte er noch weiterhin
+Tag f&uuml;r Tag, wer wei&szlig; wie lange noch, ihn durch die
+ewige Nacht f&uuml;hren, ihn betreuen, f&uuml;r ihn betteln
+<a class="page" name="Page_32" id="Page_32" title="32"></a>und keinen anderen Lohn daf&uuml;r haben als Mi&szlig;trauen
+und Schimpf? Wenn ihn der Bruder f&uuml;r einen Dieb
+hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde dasselbe oder
+Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen,
+sich f&uuml;r immer von ihm trennen, das w&auml;re das kl&uuml;gste.
+Dann mu&szlig;te Geronimo wohl sein Unrecht einsehen,
+denn dann erst w&uuml;rde er erfahren, was es hei&szlig;t,
+betrogen und bestohlen werden, einsam und elend
+sein. Und er selbst, was sollte er beginnen? Nun,
+er war ja noch nicht alt; wenn er f&uuml;r sich allein war,
+konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht zum
+mindesten fand er &uuml;berall sein Unterkommen. Aber
+w&auml;hrend diese Gedanken durch seinen Kopf zogen,
+blieben seine Augen immer auf den Bruder geheftet.
+Und er sah ihn pl&ouml;tzlich vor sich, allein am Rande einer
+sonnbegl&auml;nzten Stra&szlig;e auf einem Stein sitzen, mit
+den weit offenen, wei&szlig;en Augen zum Himmel
+starrend, der ihn nicht blenden konnte, und mit den
+H&auml;nden in die Nacht greifend, die immer um ihn war.
+Und er f&uuml;hlte, so wie der Blinde niemand anderen
+auf der Welt hatte als ihn, so hatte auch er niemand
+anderen als diesen Bruder. Er verstand, da&szlig; die Liebe
+zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens
+war, und wu&szlig;te zum ersten Male mit v&ouml;lliger Deutlichkeit,
+nur der Glaube, da&szlig; der Blinde diese Liebe
+<a class="page" name="Page_33" id="Page_33" title="33"></a>erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend
+so geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung
+nicht mit einem Male verzichten. Er f&uuml;hlte, da&szlig; er
+den Bruder gerade so notwendig brauchte als der
+Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht
+verlassen. Er mu&szlig;te entweder das Mi&szlig;trauen erdulden
+oder ein Mittel finden, um den Blinden von
+der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu &uuml;berzeugen
+... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldst&uuml;ck verschaffen
+k&ouml;nnte! Wenn er dem Blinden morgen fr&uuml;h
+sagen k&ouml;nnte: &raquo;Ich habe es nur aufbewahrt, damit
+du&#8217;s nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir
+die Leute nicht stehlen&laquo; ... oder sonst irgend etwas ...</p>
+
+<p>Schritte n&auml;herten sich auf der Holztreppe; die
+Reisenden gingen zur Ruhe. Pl&ouml;tzlich durchzuckte
+seinen Kopf der Einfall, dr&uuml;ben anzuklopfen, den
+Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu
+erz&auml;hlen und sie um die zwanzig Franken zu bitten.
+Aber er wu&szlig;te auch gleich: das war vollkommen aussichtslos!
+Sie w&uuml;rden ihm die ganze Geschichte nicht
+einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken
+der eine blasse zusammengefahren war, als
+er, Carlo, pl&ouml;tzlich im Dunkel vor dem Wagen aufgetaucht
+war.</p>
+
+<p>Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz
+<a class="page" name="Page_34" id="Page_34" title="34"></a>finster im Zimmer. Jetzt h&ouml;rte er, wie die Arbeiter
+laut redend und mit schweren Schritten &uuml;ber die
+Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide
+Tore geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die
+Treppe auf und ab, dann war es ganz still. Carlo
+h&ouml;rte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald
+verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Tr&auml;umen.
+Als er erwachte, war noch tiefe Dunkelheit um
+ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster war;
+wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort
+mitten in dem undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues
+Viereck. Geronimo schlief noch immer den
+schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte
+an den Tag, der morgen war; und ihn schauderte.
+Er dachte an die Nacht nach diesem Tage, an den
+Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm
+lag, und Grauen erf&uuml;llte ihn vor der Einsamkeit,
+die ihm bevorstand. Warum war er abends nicht
+mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden
+gegangen und hatte sie um die zwanzig Franken
+gebeten? Vielleicht h&auml;tten sie doch Erbarmen mit
+ihm gehabt. Und doch &#8211; vielleicht war es gut, da&szlig;
+er sie nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?...
+Er setzte sich j&auml;h auf und f&uuml;hlte sein Herz klopfen.
+Er wu&szlig;te, warum es gut war: Wenn sie ihn abgewiesen
+<a class="page" name="Page_35" id="Page_35" title="35"></a>h&auml;tten, so w&auml;re er ihnen jedenfalls verd&auml;chtig geblieben
+&#8211; so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der
+matt zu leuchten begann ... Das, was ihm gegen
+seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren, war
+ja unm&ouml;glich, vollkommen unm&ouml;glich!... Die T&uuml;r
+dr&uuml;ben war versperrt &#8211; und &uuml;berdies: sie konnten
+aufwachen ... Ja, dort &#8211; der graue leuchtende Fleck
+mitten im Dunkel war der neue Tag &#8211; &#8211; &#8211;</p>
+
+<p>Carlo stand auf, als z&ouml;ge es ihn dorthin, und
+ber&uuml;hrte mit der Stirn die kalte Scheibe. Warum
+war er denn aufgestanden? Um zu &uuml;berlegen?...
+Um es zu versuchen?... Was denn?... Es war ja
+unm&ouml;glich &#8211; und &uuml;berdies war es ein Verbrechen.
+Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken f&uuml;r
+solche Leute, die zum Vergn&uuml;gen tausend Meilen weit
+reisen? Sie w&uuml;rden ja gar nicht merken, da&szlig; sie ihnen
+fehlten ... Er ging zur T&uuml;re und &ouml;ffnete sie leise.
+Gegen&uuml;ber war die andere, mit zwei Schritten zu
+erreichen, geschlossen. An einem Nagel im Pfosten
+hingen Kleidungsst&uuml;cke. Carlo fuhr mit der Hand &uuml;ber
+sie ... Ja, wenn die Leute ihre B&ouml;rsen in der Tasche
+lie&szlig;en, dann w&auml;re das Leben sehr einfach, dann brauchte
+bald niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die
+Taschen waren leer. Nun, was blieb &uuml;brig? Wieder
+zur&uuml;ck ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab vielleicht
+<a class="page" name="Page_36" id="Page_36" title="36"></a>doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen
+&#8211; eine weniger gef&auml;hrliche und rechtlichere.
+Wenn er wirklich jedesmal einige Zentesimi von den
+Almosen zur&uuml;ckbehielte, bis er zwanzig Franken zusammengespart,
+und dann das Goldst&uuml;ck kaufte ...
+Aber wie lang konnte das dauern &#8211; Monate, vielleicht
+ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut h&auml;tte! Noch immer
+stand er auf dem Gang. Er blickte zur T&uuml;r hin&uuml;ber ...
+Was war das f&uuml;r ein Streif, der senkrecht von oben
+auf den Fu&szlig;boden fiel? War es m&ouml;glich? Die T&uuml;r
+war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum
+staunte er denn dar&uuml;ber? Seit Monaten schon schlo&szlig;
+die T&uuml;r nicht. Wozu auch? Er erinnerte sich: nur
+dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute geschlafen,
+zweimal Handwerksburschen und einmal ein
+Tourist, der sich den Fu&szlig; verletzt hatte. Die T&uuml;r
+schlie&szlig;t nicht &#8211; er braucht jetzt nur Mut &#8211; ja, und
+Gl&uuml;ck! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen
+kann, ist, da&szlig; die beiden aufwachen, und da kann er
+noch immer eine Ausrede finden. Er lugt durch den
+Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, da&szlig; er eben
+nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden
+Gestalten gewahren kann. Er horcht auf: sie atmen
+ruhig und gleichm&auml;&szlig;ig. Carlo &ouml;ffnet die T&uuml;r leicht
+und tritt mit seinen nackten F&uuml;&szlig;en v&ouml;llig ger&auml;uschlos
+<a class="page" name="Page_37" id="Page_37" title="37"></a>ins Zimmer. Die beiden Betten stehen der L&auml;nge
+nach an der gleichen Wand dem Fenster gegen&uuml;ber.
+In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo schleicht
+bis hin. Er f&auml;hrt mit der Hand &uuml;ber die Fl&auml;che
+und f&uuml;hlt ein Schl&uuml;sselbund, ein Federmesser, ein
+kleines Buch &#8211; weiter nichts ... Nun nat&uuml;rlich!...
+Da&szlig; er nur daran denken konnte, sie w&uuml;rden ihr
+Geld auf den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich
+wieder fort!... Und doch, vielleicht braucht es nur
+einen guten Griff und es ist gegl&uuml;ckt ... Und er n&auml;hert
+sich dem Bett neben der T&uuml;r; hier auf dem Sessel
+liegt etwas &#8211; er f&uuml;hlt danach &#8211; es ist ein Revolver ...
+Carlo zuckt zusammen ... Ob er ihn nicht lieber gleich
+behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch
+den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn
+bemerkt ... Doch nein, er w&uuml;rde ja sagen: Es ist
+drei Uhr, gn&auml;diger Herr, aufstehn!... Und er l&auml;&szlig;t
+den Revolver liegen.</p>
+
+<p>Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem
+anderen Sessel unter den W&auml;schest&uuml;cken ... Himmel!
+das ist sie ... das ist eine B&ouml;rse &#8211; er h&auml;lt sie in der
+Hand!... In diesem Moment h&ouml;rt er ein leises
+Krachen. Mit einer raschen Bewegung streckt er sich
+der L&auml;nge nach zu F&uuml;&szlig;en des Bettes hin ... Noch
+einmal dieses Krachen &#8211; ein schweres Aufatmen &#8211;
+<a class="page" name="Page_38" id="Page_38" title="38"></a>ein R&auml;uspern &#8211; dann wieder Stille, tiefe Stille.
+Carlo bleibt auf dem Boden liegen, die B&ouml;rse in der
+Hand, und wartet. Es r&uuml;hrt sich nichts mehr. Schon
+f&auml;llt der D&auml;mmer bla&szlig; ins Zimmer herein. Carlo
+wagt nicht aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden
+vorw&auml;rts bis zur T&uuml;r, die weit genug offen steht, um
+ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den Gang
+hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit
+einem tiefen Atemzug. Er &ouml;ffnet die B&ouml;rse; sie ist
+dreifach geteilt: links und rechts nur kleine Silberst&uuml;cke.
+Nun &ouml;ffnet Carlo den mittleren Teil, der durch einen
+Schieber nochmals verschlossen ist, und f&uuml;hlt drei
+Zwanzigfrankenst&uuml;cke. Einen Augenblick denkt er
+daran, zwei davon zu nehmen, aber rasch weist er
+diese Versuchung von sich, nimmt nur ein Goldst&uuml;ck
+heraus und schlie&szlig;t die B&ouml;rse zu. Dann kniet er nieder,
+blickt durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder
+v&ouml;llig still ist, und dann gibt er der B&ouml;rse einen Sto&szlig;,
+so da&szlig; sie bis unter das zweite Bett gleitet. Wenn der
+Fremde aufwacht, wird er glauben m&uuml;ssen, da&szlig; sie
+vom Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich
+langsam. Da knarrt der Boden leise, und im gleichen
+Augenblick h&ouml;rt er eine Stimme von drinnen: &raquo;Was
+ist&#8217;s? Was gibt&#8217;s denn?&laquo; Carlo macht rasch zwei
+Schritte r&uuml;ckw&auml;rts, mit verhaltenem Atem, und gleitet
+<a class="page" name="Page_39" id="Page_39" title="39"></a>in seine eigene Kammer. Er ist in Sicherheit und
+lauscht ... Noch einmal kracht dr&uuml;ben das Bett, und
+dann ist alles still. Zwischen seinen Fingern h&auml;lt er
+das Goldst&uuml;ck. Es ist gelungen &#8211; gelungen! Er hat
+die zwanzig Franken, und er kann seinem Bruder
+sagen: &#8250;Siehst du nun, da&szlig; ich kein Dieb bin!&#8249; Und
+sie werden sich noch heute auf die Wanderschaft
+machen &#8211; gegen den S&uuml;den zu, nach Bormio, dann
+weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ...
+nach Edole ... nach Breno ... an den See von
+Iseo wie voriges Jahr ... Das wird durchaus nicht
+verd&auml;chtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum
+Wirt gesagt: &raquo;In ein paar Tagen gehen wir hinunter.&laquo;</p>
+
+<p>Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt
+in grauem D&auml;mmer da. Ah, wenn Geronimo nur
+bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Fr&uuml;he!
+Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen
+guten Morgen dem Wirt, dem Knecht und Maria
+auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn sie zwei
+Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es
+Geronimo sagen.</p>
+
+<p>Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an:
+&raquo;Geronimo!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, was gibt&#8217;s?&laquo; Und er st&uuml;tzt sich mit beiden
+H&auml;nden und setzt sich auf.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_40" id="Page_40" title="40"></a>&raquo;Geronimo, wir wollen aufstehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum?&laquo; Und er richtet die toten Augen auf
+den Bruder. Carlo wei&szlig;, da&szlig; Geronimo sich jetzt des
+gestrigen Vorfalles besinnt, aber er wei&szlig; auch, da&szlig;
+der keine Silbe dar&uuml;ber reden wird, ehe er wieder
+betrunken ist.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird
+heuer nicht mehr besser; ich denke, wir gehen. Zu
+Mittag k&ouml;nnen wir in Boladore sein.&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo erhob sich. Die Ger&auml;usche des erwachenden
+Hauses wurden vernehmbar. Unten im Hof
+sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf und
+begab sich hinunter. Er war immer fr&uuml;h wach und
+ging oft schon in der D&auml;mmerung auf die Stra&szlig;e
+hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte: &raquo;Wir wollen
+Abschied nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ah, geht ihr schon heut?&laquo; fragte der Wirt.</p>
+
+<p>&raquo;Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im
+Hof steht, und der Wind zieht durch.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun, gr&uuml;&szlig; mir den Baldetti, wenn du nach Bormio
+hinunterkommst, und er soll nicht vergessen, mir
+das &Ouml;l zu schicken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ich will ihn gr&uuml;&szlig;en. Im &uuml;brigen &#8211; das Nachtlager
+von heut.&laquo; Er griff in den Sack.</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; sein, Carlo,&laquo; sagte der Wirt. &raquo;Die zwanzig
+<a class="page" name="Page_41" id="Page_41" title="41"></a>Zentesimi schenk ich deinem Bruder; ich hab ihm
+ja auch zugeh&ouml;rt. Guten Morgen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dank,&laquo; sagte Carlo. &raquo;Im &uuml;brigen, so eilig haben
+wir&#8217;s nicht. Wir sehen dich noch, wenn du von den
+H&uuml;tten zur&uuml;ckkommst; Bormio bleibt am selben Fleck
+stehen, nicht wahr?&laquo; Er lachte und ging die Holzstufen
+hinauf.</p>
+
+<p>Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte:
+&raquo;Nun, ich bin bereit zu gehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gleich,&laquo; sagte Carlo.</p>
+
+<p>Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel
+des Raumes stand, nahm er ihre wenigen Habseligkeiten
+und packte sie in ein B&uuml;ndel. Dann sagte er:
+&raquo;Ein sch&ouml;ner Tag, aber sehr kalt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;,&laquo; sagte Geronimo. Beide verlie&szlig;en die
+Kammer.</p>
+
+<p>&raquo;Geh leise,&laquo; sagte Carlo, &raquo;hier schlafen die zwei,
+die gestern abend gekommen sind.&laquo; Behutsam schritten
+sie hinunter. &raquo;Der Wirt l&auml;&szlig;t dich gr&uuml;&szlig;en,&laquo; sagte
+Carlo; &raquo;er hat uns die zwanzig Zentesimi f&uuml;r heut
+nacht geschenkt. Nun ist er bei den H&uuml;tten drau&szlig;en
+und kommt erst in zwei Stunden wieder. Wir
+werden ihn ja im n&auml;chsten Jahre wiedersehen.&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die
+Landstra&szlig;e, die im D&auml;mmerschein vor ihnen lag.
+<a class="page" name="Page_42" id="Page_42" title="42"></a>Carlo ergriff den linken Arm seines Bruders, und
+beide schritten schweigend talabw&auml;rts. Schon nach
+kurzer Wanderung waren sie an der Stelle, wo die
+Stra&szlig;e in langgezogenen Kehren weiterzulaufen
+beginnt. Nebel stiegen nach aufw&auml;rts, ihnen entgegen,
+und &uuml;ber ihnen die H&ouml;hen schienen von den
+Wolken wie eingeschlungen. Und Carlo dachte: Nun
+will ich&#8217;s ihm sagen.</p>
+
+<p>Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das
+Goldst&uuml;ck aus der Tasche und reichte es dem Bruder;
+dieser nahm es zwischen die Finger der rechten Hand,
+dann f&uuml;hrte er es an die Wange und an die Stirn,
+endlich nickte er. &raquo;Ich hab&#8217;s ja gewu&szlig;t,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; erwiderte Carlo und sah Geronimo
+befremdet an.</p>
+
+<p>&raquo;Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt h&auml;tte,
+ich h&auml;tte es doch gewu&szlig;t.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja,&laquo; sagte Carlo ratlos. &raquo;Aber du verstehst
+doch, warum ich da oben vor den anderen &#8211; ich
+habe gef&uuml;rchtet, da&szlig; du das Ganze auf einmal &#8211; &#8211;
+Und sieh, Geronimo, es w&auml;re doch an der Zeit, hab
+ich mir gedacht, da&szlig; du dir einen neuen Rock kaufst
+und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich; darum
+habe ich ...&laquo;</p>
+
+<p>Der Blinde sch&uuml;ttelte heftig den Kopf. &raquo;Wozu?&laquo;
+<a class="page" name="Page_43" id="Page_43" title="43"></a>Und er strich mit der einen Hand &uuml;ber seinen Rock.
+&raquo;Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir nach
+dem S&uuml;den.&laquo;</p>
+
+<p>Carlo begriff nicht, da&szlig; Geronimo sich gar nicht
+zu freuen schien, da&szlig; er sich nicht entschuldigte. Und
+er redete weiter: &raquo;Geronimo, war es denn nicht recht
+von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun
+haben wir es doch, nicht wahr? Nun haben wir es
+ganz. Wenn ich dir&#8217;s oben gesagt h&auml;tte, wer wei&szlig; ...
+Oh, es ist gut, da&szlig; ich dir&#8217;s nicht gesagt habe &#8211;
+gewi&szlig;!&laquo;</p>
+
+<p>Da schrie Geronimo: &raquo;H&ouml;r auf zu l&uuml;gen, Carlo,
+ich habe genug davon!&laquo;</p>
+
+<p>Carlo blieb stehen und lie&szlig; den Arm des Bruders
+los. &raquo;Ich l&uuml;ge nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; doch, da&szlig; du l&uuml;gst!... Immer l&uuml;gst
+du!... Schon hundertmal hast du gelogen!... Auch
+das hast du f&uuml;r dich behalten wollen, aber Angst hast
+du bekommen, das ist es!&laquo;</p>
+
+<p>Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er
+fa&szlig;te wieder den Arm des Blinden und ging mit ihm
+weiter. Es tat ihm weh, da&szlig; Geronimo so sprach;
+aber er war eigentlich erstaunt, da&szlig; er nicht trauriger
+war.</p>
+
+<p>Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen
+<a class="page" name="Page_44" id="Page_44" title="44"></a>sprach Geronimo: &raquo;Es wird warm.&laquo; Er sagte es
+gleichg&uuml;ltig, selbstverst&auml;ndlich, wie er es schon hundertmal
+gesagt, und Carlo f&uuml;hlte in diesem Augenblick:
+f&uuml;r Geronimo hatte sich nichts ge&auml;ndert. F&uuml;r Geronimo
+war er immer ein Dieb gewesen.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du schon Hunger?&laquo; fragte er.</p>
+
+<p>Geronimo nickte, zugleich nahm er ein St&uuml;ck K&auml;se
+und Brot aus der Rocktasche und a&szlig; davon. Und sie
+gingen weiter.</p>
+
+<p>Die Post von Bormio begegnete ihnen; der
+Kutscher rief sie an: &raquo;Schon hinunter?&laquo; Dann kamen
+noch andere Wagen, die alle aufw&auml;rts fuhren.</p>
+
+<p>&raquo;Luft aus dem Tal,&laquo; sagte Geronimo, und im
+gleichen Augenblick, nach einer raschen Wendung,
+lag das Veltlin zu ihren F&uuml;&szlig;en.</p>
+
+<p>Wahrhaftig &#8211; nichts hat sich ge&auml;ndert, dachte
+Carlo ... Nun hab ich gar f&uuml;r ihn gestohlen &#8211; und
+auch das ist umsonst gewesen.</p>
+
+<p>Die Nebel unter ihnen wurden immer d&uuml;nner,
+der Glanz der Sonne ri&szlig; L&ouml;cher hinein. Und Carlo
+dachte: &#8250;Vielleicht war es doch nicht klug, so rasch das
+Wirtshaus zu verlassen ... Die B&ouml;rse liegt unter
+dem Bett, das ist jedenfalls verd&auml;chtig ...&#8249; Aber wie
+gleichg&uuml;ltig war das alles! Was konnte ihm noch
+Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das
+<a class="page" name="Page_45" id="Page_45" title="45"></a>Licht der Augen zerst&ouml;rt, glaubte sich von ihm bestohlen
+und glaubte es schon jahrelang und wird es immer
+glauben &#8211; was konnte ihm noch Schlimmes geschehen?</p>
+
+<p>Da unter ihnen lag das gro&szlig;e wei&szlig;e Hotel wie in
+Morgenglanz gebadet, und tiefer unten, wo das Tal
+sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das Dorf.
+Schweigend gingen die beiden weiter, und immer
+lag Carlos Hand auf dem Arm des Blinden. Sie
+gingen an dem Park des Hotels vor&uuml;ber, und Carlo
+sah auf der Terrasse G&auml;ste in lichten Sommergew&auml;ndern
+sitzen und fr&uuml;hst&uuml;cken. &raquo;Wo willst du rasten?&laquo;
+fragte Carlo.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, im &#8250;Adler&#8249;, wie immer.&laquo;</p>
+
+<p>Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des
+Dorfes angelangt waren, kehrten sie ein. Sie setzten
+sich in die Schenke und lie&szlig;en sich Wein geben.</p>
+
+<p>&raquo;Was macht ihr so fr&uuml;h bei uns?&laquo; fragte der Wirt.</p>
+
+<p>Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. &raquo;Ist&#8217;s
+denn so fr&uuml;h? Der zehnte oder elfte September &#8211;
+nicht?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Im vergangenen Jahr war es gewi&szlig; viel sp&auml;ter,
+als ihr herunterkamt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist so kalt oben,&laquo; sagte Carlo. &raquo;Heut nacht
+haben wir gefroren. Ja richtig, ich soll dir bestellen,
+du m&ouml;chtest nicht vergessen, das &Ouml;l hinaufzuschicken.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_46" id="Page_46" title="46"></a>Die Luft in der Schenke war dumpf und schw&uuml;l.
+Eine sonderbare Unruhe befiel Carlo; er wollte gern
+wieder im Freien sein, auf der gro&szlig;en Stra&szlig;e, die
+nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo,
+&uuml;berallhin, in die Ferne f&uuml;hrt! Pl&ouml;tzlich stand er auf.</p>
+
+<p>&raquo;Gehen wir schon?&laquo; fragte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein,
+im &#8250;Hirschen&#8249; halten die Wagen Mittagsrast; es ist
+ein guter Ort.&laquo;</p>
+
+<p>Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend
+vor seinem Laden. &raquo;Guten Morgen,&laquo; rief er. &raquo;Nun,
+wie sieht&#8217;s da oben aus? Heut nacht hat es wohl
+geschneit?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja,&laquo; sagte Carlo und beschleunigte seine
+Schritte.</p>
+
+<p>Das Dorf lag hinter ihnen, wei&szlig; dehnte sich die
+Stra&szlig;e zwischen Wiesen und Weinbergen, dem rauschenden
+Flu&szlig; entlang. Der Himmel war blau und
+still. &#8250;Warum hab ich&#8217;s getan?&#8249; dachte Carlo. Er
+blickte den Blinden von der Seite an. &#8250;Sieht sein
+Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat er es
+geglaubt &#8211; immer bin ich allein gewesen &#8211; und
+immer hat er mich geha&szlig;t.&#8249; Und ihm war, als schritte
+er unter einer schweren Last weiter, die er doch
+niemals von den Schultern werfen d&uuml;rfte, und als
+<a class="page" name="Page_47" id="Page_47" title="47"></a>k&ouml;nnte er die Nacht sehen, durch die Geronimo an
+seiner Seite schritt, w&auml;hrend die Sonne leuchtend auf
+allen Wegen lag.</p>
+
+<p>Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang.
+Von Zeit zu Zeit setzte sich Geronimo auf einen
+Meilenstein, oder sie lehnten beide an einem Br&uuml;ckengel&auml;nder,
+um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein
+Dorf. Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende
+waren ausgestiegen und gingen hin und her; aber die
+beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf die
+offene Stra&szlig;e. Die Sonne stieg immer h&ouml;her; Mittag
+mu&szlig;te nahe sein. Es war ein Tag wie tausend andere.</p>
+
+<p>&raquo;Der Turm von Boladore,&laquo; sagte Geronimo. Carlo
+blickte auf. Er wunderte sich, wie genau Geronimo
+die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war
+der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch
+von ziemlich weither kam ihnen jemand entgegen. Es
+schien Carlo, als sei er am Wege gesessen und pl&ouml;tzlich
+aufgestanden. Die Gestalt kam n&auml;her. Jetzt sah Carlo,
+da&szlig; es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der
+Landstra&szlig;e begegnete. Trotzdem schrak Carlo leicht
+zusammen. Aber als der Mann n&auml;her kam, erkannte
+er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst
+im Mai waren die beiden Bettler im Wirtshaus des
+Raggazzi in Morignone mit ihm zusammen gesessen,
+<a class="page" name="Page_48" id="Page_48" title="48"></a>und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte erz&auml;hlt,
+wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht
+worden war.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist einer stehen geblieben,&laquo; sagte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Tenelli, der Gendarm,&laquo; sagte Carlo.</p>
+
+<p>Nun waren sie an ihn herangekommen.</p>
+
+<p>&raquo;Guten Morgen, Herr Tenelli,&laquo; sagte Carlo und
+blieb vor ihm stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist nun einmal so,&laquo; sagte der Gendarm, &raquo;ich
+mu&szlig; euch vorl&auml;ufig beide auf den Posten nach Boladore
+f&uuml;hren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eh!&laquo; rief der Blinde.</p>
+
+<p>Carlo wurde bla&szlig;. &#8250;Wie ist das nur m&ouml;glich?&#8249;
+dachte er. &#8250;Aber es kann sich nicht darauf beziehen.
+Man kann es ja hier unten noch nicht wissen.&#8249;</p>
+
+<p>&raquo;Es scheint ja euer Weg zu sein,&laquo; sagte der Gendarm
+lachend, &raquo;es macht euch wohl nichts, wenn ihr
+mitgeht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum redest du nichts, Carlo?&laquo; fragte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie
+ist es denn m&ouml;glich ... was sollen wir denn ... oder
+vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich wei&szlig; nicht ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig.
+Was wei&szlig; ich. Jedenfalls haben wir die
+telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen,
+<a class="page" name="Page_49" id="Page_49" title="49"></a>da&szlig; wir euch aufhalten sollen, weil ihr verd&auml;chtig seid,
+dringend verd&auml;chtig, da oben den Leuten Geld
+gestohlen zu haben. Nun, es ist auch m&ouml;glich, da&szlig; ihr
+unschuldig seid. Also vorw&auml;rts!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum sprichst du nichts, Carlo?&laquo; fragte Geronimo.</p>
+
+<p>&raquo;Ich rede &#8211; o ja, ich rede ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun geht endlich! Was hat es f&uuml;r einen Sinn,
+auf der Stra&szlig;e stehenzubleiben! Die Sonne brennt.
+In einer Stunde sind wir an Ort und Stelle. Vorw&auml;rts!&laquo;</p>
+
+<p>Carlo ber&uuml;hrte den Arm Geronimos wie immer,
+und so gingen sie langsam weiter, der Gendarm
+hinter ihnen.</p>
+
+<p>&raquo;Carlo, warum redest du nicht?&laquo; fragte Geronimo
+wieder.</p>
+
+<p>&raquo;Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen?
+Es wird sich alles herausstellen; ich wei&szlig; selber nicht ...&laquo;</p>
+
+<p>Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich&#8217;s ihm
+erkl&auml;ren, eh wir vor Gericht stehen?... Es geht
+wohl nicht. Der Gendarm h&ouml;rt uns zu ... Nun,
+was tut&#8217;s. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit
+sagen. &raquo;Herr Richter,&laquo; werd ich sagen, &raquo;es ist doch
+kein Diebstahl wie ein anderer. Es war n&auml;mlich
+so: ...&laquo; Und nun m&uuml;hte er sich, die Worte zu finden,
+<a class="page" name="Page_50" id="Page_50" title="50"></a>um vor Gericht die Sache klar und verst&auml;ndlich darzustellen.
+&raquo;Da fuhr gestern ein Herr &uuml;ber den Pa&szlig; ...
+es mag ein Irrsinniger gewesen sein &#8211; oder am End
+hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...&laquo;</p>
+
+<p>Aber was f&uuml;r ein Unsinn! Wer wird es glauben?
+... Man wird ihn gar nicht so lange reden lassen. &#8211;
+Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ...
+nicht einmal Geronimo glaubt sie ... &#8211; Und er sah
+ihn von der Seite an. Der Kopf des Blinden bewegte
+sich nach alter Gewohnheit w&auml;hrend des Gehens wie
+im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos,
+und die leeren Augen stierten in die Luft. &#8211; Und
+Carlo wu&szlig;te pl&ouml;tzlich, was f&uuml;r Gedanken hinter dieser
+Stirne liefen ... &#8250;So also stehen die Dinge,&#8249; mu&szlig;te
+Geronimo wohl denken. &#8211; &#8250;Carlo bestiehlt nicht nur
+mich, auch die anderen Leute bestiehlt er ... Nun,
+er hat es gut, er hat Augen, die sehen, und er n&uuml;tzt
+sie aus ...&#8249; &#8211; Ja, das denkt Geronimo, ganz gewi&szlig;
+... Und auch, da&szlig; man kein Geld bei mir finden
+wird, kann mir nicht helfen, &#8211; nicht vor Gericht,
+nicht vor Geronimo. Sie werden mich einsperren
+und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat
+ja das Geldst&uuml;ck. &#8211; Und er konnte nicht mehr weiter
+denken, er f&uuml;hlte sich so sehr verwirrt. Es schien ihm,
+als verst&uuml;nde er &uuml;berhaupt nichts mehr von der ganzen
+<a class="page" name="Page_51" id="Page_51" title="51"></a>Sache, und wu&szlig;te nur eines: da&szlig; er sich gern auf ein
+Jahr in den Arrest setzen lie&szlig;e ... oder auf zehn, wenn
+nur Geronimo w&uuml;&szlig;te, da&szlig; er f&uuml;r ihn allein zum Dieb
+geworden war.</p>
+
+<p>Und pl&ouml;tzlich blieb Geronimo stehen, so da&szlig; auch
+Carlo innehalten mu&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, was ist denn?&laquo; sagte der Gendarm &auml;rgerlich.
+&raquo;Vorw&auml;rts, vorw&auml;rts!&laquo; Aber da sah er mit Verwunderung,
+da&szlig; der Blinde die Gitarre auf den Boden
+fallen lie&szlig;, seine Arme erhob und mit beiden H&auml;nden
+nach den Wangen des Bruders tastete. Dann n&auml;herte
+er seine Lippen dem Munde Carlos, der zuerst nicht
+wu&szlig;te, wie ihm geschah, und k&uuml;&szlig;te ihn.</p>
+
+<p>&raquo;Seid ihr verr&uuml;ckt?&laquo; fragte der Gendarm. &raquo;Vorw&auml;rts!
+vorw&auml;rts! Ich habe keine Lust zu braten.&laquo;</p>
+
+<p>Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne
+ein Wort zu sprechen. Carlo atmete tief auf und legte
+die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War es
+denn m&ouml;glich? Der Bruder z&uuml;rnte ihm nicht mehr?
+Er begriff am Ende &#8211;? Und zweifelnd sah er ihn
+von der Seite an.</p>
+
+<p>&raquo;Vorw&auml;rts!&laquo; schrie der Gendarm. &raquo;Wollt ihr
+endlich &#8211;!&laquo; Und er gab Carlo eins zwischen die
+Rippen.</p>
+
+<p>Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden
+<a class="page" name="Page_52" id="Page_52" title="52"></a>leitend, ging wieder vorw&auml;rts. Er schlug einen viel
+rascheren Schritt ein als fr&uuml;her. Denn er sah Geronimo
+l&auml;cheln in einer milden gl&uuml;ckseligen Art, wie er es seit
+den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte.
+Und Carlo l&auml;chelte auch. Ihm war, als k&ouml;nnte ihm
+jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, &#8211; weder
+vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. &#8211;
+Er hatte seinen Bruder wieder ... Nein, er hatte
+ihn zum erstenmal ...</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_53" id="Page_53" title="53"></a></p>
+<h2 class="novelle"><a name="Die_Toten_schweigen" id="Die_Toten_schweigen"></a>Die Toten schweigen</h2>
+
+
+<p class="newsection">Er ertrug es nicht l&auml;nger, ruhig im Wagen zu
+sitzen; er stieg aus und ging auf und ab. Es
+war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in
+dieser stillen, abseits liegenden Stra&szlig;e flackerten,
+vom Winde bewegt, hin und her. Es hatte aufgeh&ouml;rt
+zu regnen; die Trottoire waren beinahe trocken; aber
+die ungepflasterten Fahrstra&szlig;en waren noch feucht,
+und an einzelnen Stellen hatten sich kleine T&uuml;mpel
+gebildet.</p>
+
+<p>Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier,
+hundert Schritt von der Praterstra&szlig;e, in irgendeine
+ungarische Kleinstadt versetzt glauben kann. Immerhin
+&#8211; sicher d&uuml;rfte man hier wenigstens sein; hier
+wird sie keinen ihrer gef&uuml;rchteten Bekannten treffen.</p>
+
+<p>Er sah auf die Uhr ... Sieben &#8211; und schon v&ouml;llige
+Nacht. Der Herbst ist diesmal fr&uuml;h da. Und der
+verdammte Sturm.</p>
+
+<p>Er stellte den Kragen in die H&ouml;he und ging rascher
+auf und ab. Die Laternenfenster klirrten. &raquo;Noch
+eine halbe Stunde,&laquo; sagte er zu sich, &raquo;dann kann ich
+gehen. Ah &#8211; ich wollte beinahe, es w&auml;re so weit.&laquo;
+Er blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Aus<a class="page" name="Page_54" id="Page_54" title="54"></a>blick
+auf beide Stra&szlig;en, von denen aus sie kommen
+k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>Ja, heute wird sie kommen, dachte er, w&auml;hrend er
+seinen Hut festhielt, der wegzufliegen drohte. &#8211;
+Freitag &#8211; Sitzung des Professorenkollegiums &#8211; da
+wagt sie sich fort und kann sogar l&auml;nger ausbleiben ...
+Er h&ouml;rte das Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann
+auch die Glocke von der nahen Nepomukkirche zu
+l&auml;uten. Die Stra&szlig;e wurde belebter. Es kamen mehr
+Menschen an ihm vor&uuml;ber: meist, wie ihm schien,
+Bedienstete aus den Gesch&auml;ften, die um sieben
+geschlossen wurden. Alle gingen rasch und waren mit
+dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art
+von Kampf begriffen. Niemand beachtete ihn; nur
+ein paar Ladenm&auml;del blickten mit leichter Neugier
+zu ihm auf. &#8211; Pl&ouml;tzlich sah er eine bekannte Gestalt
+rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne
+Wagen? dachte er. Ist sie&#8217;s?</p>
+
+<p>Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte
+sie ihre Schritte.</p>
+
+<p>&raquo;Du kommst zu Fu&szlig;?&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ich hab den Wagen schon beim Karltheater
+fortgeschickt. Ich glaube, ich bin schon einmal mit
+demselben Kutscher gefahren.&laquo;</p>
+
+<p>Ein Herr ging an ihnen vor&uuml;ber und betrachtete
+<a class="page" name="Page_55" id="Page_55" title="55"></a>die Dame fl&uuml;chtig. Der junge Mann fixierte ihn
+scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch weiter.
+Die Dame sah ihm nach. &raquo;Wer war&#8217;s?!&laquo; fragte sie
+&auml;ngstlich.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten,
+sei ganz ruhig. &#8211; Aber jetzt komm rasch; wir wollen
+einsteigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist das dein Wagen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein offener?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vor einer Stunde war es noch so sch&ouml;n.&laquo;</p>
+
+<p>Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein.</p>
+
+<p>&raquo;Kutscher,&laquo; rief der junge Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Wo ist er denn?&laquo; fragte die junge Frau.</p>
+
+<p>Franz schaute ringsumher. &raquo;Das ist unglaublich,&laquo;
+rief er, &raquo;der Kerl ist nicht zu sehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Um Gotteswillen!&laquo; rief sie leise.</p>
+
+<p>&raquo;Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.&laquo;</p>
+
+<p>Der junge Mann &ouml;ffnete die T&uuml;r zu dem kleinen
+Wirtshause; an einem Tisch mit ein paar anderen
+Leuten sa&szlig; der Kutscher; jetzt stand er rasch auf.</p>
+
+<p>&raquo;Gleich, gn&auml;&#8217; Herr,&laquo; sagte er und trank stehend
+sein Glas Wein aus.</p>
+
+<p>&raquo;Was f&auml;llt Ihnen denn ein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bitt sch&ouml;n, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_56" id="Page_56" title="56"></a>Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden.
+&raquo;Wohin fahr&#8217;n mer denn, Euer Gnaden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Prater &#8211; Lusthaus.&laquo;</p>
+
+<p>Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte
+ganz versteckt, beinahe zusammengekauert, in der
+Ecke unter dem aufgestellten Dach.</p>
+
+<p>Franz fa&szlig;te ihre beiden H&auml;nde. Sie blieb regungslos.
+&#8211; &raquo;Willst du mir nicht wenigstens guten Abend
+sagen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitt dich; la&szlig; mich nur einen Moment, ich
+bin noch ganz atemlos.&laquo;</p>
+
+<p>Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide
+schwiegen eine Weile. Der Wagen war in die Praterstra&szlig;e
+eingebogen, fuhr an dem Tegethoff-Monument
+vor&uuml;ber, und nach wenigen Sekunden flog er die
+breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma
+pl&ouml;tzlich mit beiden Armen den Geliebten. Er schob
+leise den Schleier zur&uuml;ck, der ihn noch von ihren
+Lippen trennte, und k&uuml;&szlig;te sie.</p>
+
+<p>&raquo;Bin ich endlich bei dir!&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig;t du denn, wie lang wir uns nicht gesehen
+haben?&laquo; rief er aus.</p>
+
+<p>&raquo;Seit Sonntag.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, und da auch nur von weitem.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wieso? Du warst ja bei uns.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_57" id="Page_57" title="57"></a>&raquo;Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort.
+Zu euch komm ich &uuml;berhaupt nie wieder. Aber was
+hast du denn?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater
+spazieren fahren, k&uuml;mmern sich wahrhaftig nicht
+um uns.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das glaub ich schon. Aber zuf&auml;llig kann einer
+hereinschaun.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist unm&ouml;glich, jemanden zu erkennen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie du willst.&laquo;</p>
+
+<p>Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu h&ouml;ren
+schien. Da beugte er sich vor und ber&uuml;hrte ihn mit
+der Hand. Der Kutscher wandte sich um.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn
+so auf die Pferde ein? Wir haben ja gar keine Eile,
+h&ouml;ren Sie! Wir fahren in die ... wissen Sie, die
+Allee, die zur Reichsbr&uuml;cke f&uuml;hrt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auf die Reichsstra&szlig;en?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen
+Sinn.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bitt sch&ouml;n, gn&auml;&#8217; Herr, der Sturm, der macht die
+R&ouml;sser so wild.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ah freilich, der Sturm.&laquo; Franz setzte sich wieder.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_58" id="Page_58" title="58"></a>Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren
+zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?&laquo;
+fragte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Wie h&auml;tt&#8217; ich denn k&ouml;nnen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester
+geladen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach so.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum warst du nicht dort?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter
+anderen Leuten zusammen zu sein. Nein, nie wieder.&laquo;</p>
+
+<p>Sie zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>&raquo;Wo sind wir denn?&laquo; fragte sie dann.</p>
+
+<p>Sie fuhren unter der Eisenbahnbr&uuml;cke in die Reichsstra&szlig;e
+ein.</p>
+
+<p>&raquo;Da geht&#8217;s zur gro&szlig;en Donau,&laquo; sagte Franz, &raquo;wir
+sind auf dem Weg zur Reichsbr&uuml;cke. Hier gibt es keine
+Bekannten!&laquo; setzte er sp&ouml;ttisch hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Der Wagen sch&uuml;ttelt entsetzlich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum f&auml;hrt er so im Zickzack?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es scheint dir so.&laquo;</p>
+
+<p>Aber er fand selbst, da&szlig; der Wagen sie heftiger
+als n&ouml;tig hin und her warf. Er wollte nichts davon
+sagen, um sie nicht noch &auml;ngstlicher zu machen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_59" id="Page_59" title="59"></a>&raquo;Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden,
+Emma.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da mu&szlig;t du bald anfangen, denn um neun mu&szlig;
+ich zu Hause sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;In zwei Worten kann alles entschieden sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gott, was ist denn das?&laquo; ... schrie sie auf. Der
+Wagen war in ein Pferdebahngeleise geraten und
+machte jetzt, als der Kutscher herauswenden wollte,
+eine so scharfe Biegung, da&szlig; er fast zu st&uuml;rzen drohte.
+Franz packte den Kutscher beim Mantel. &raquo;Halten
+Sie,&laquo; rief er ihm zu. &raquo;Sie sind ja betrunken.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kutscher brachte die Pferde m&uuml;hsam zum
+Stehen. &raquo;Aber gn&auml;&#8217; Herr ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Komm, Emma, steigen wir hier aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wo sind wir?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schon an der Br&uuml;cke. Es ist auch jetzt nicht mehr
+gar so st&uuml;rmisch. Gehen wir ein St&uuml;ckchen. Man
+kann w&auml;hrend des Fahrens nicht ordentlich reden.&laquo;</p>
+
+<p>Emma zog den Schleier herunter und folgte.</p>
+
+<p>&raquo;Nicht st&uuml;rmisch nennst du das?&laquo; rief sie aus, als
+ihr gleich beim Aussteigen ein Windsto&szlig; entgegenfuhr.</p>
+
+<p>Er nahm ihren Arm. &raquo;Nachfahren,&laquo; rief er dem
+Kutscher zu.</p>
+
+<p>Sie spazierten vorw&auml;rts. Solang die Br&uuml;cke
+allm&auml;hlich anstieg, sprachen sie nichts; und als sie
+<a class="page" name="Page_60" id="Page_60" title="60"></a>beide das Wasser unter sich rauschen h&ouml;rten, blieben
+sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie.
+Der breite Strom dehnte sich grau und in unbestimmten
+Grenzen hin, in der Ferne sahen sie rote
+Lichter, die &uuml;ber dem Wasser zu schweben schienen
+und sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die
+beiden eben verlassen hatten, senkten sich zitternde
+Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war es, als verl&ouml;re
+sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien
+ein ferneres Donnern zu ert&ouml;nen, das immer n&auml;her
+kam; unwillk&uuml;rlich sahen sie beide nach der Stelle,
+wo die roten Lichter schimmerten; Bahnz&uuml;ge mit
+hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin,
+die pl&ouml;tzlich aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich
+wieder zu versinken schienen. Der Donner verlor sich
+allm&auml;hlich, es wurde still; nur der Wind kam in
+pl&ouml;tzlichen St&ouml;&szlig;en.</p>
+
+<p>Nach langem Schweigen sagte Franz: &raquo;Wir sollten
+fort.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Freilich,&laquo; erwiderte Emma leise.</p>
+
+<p>&raquo;Wir sollten fort,&laquo; sagte Franz lebhaft, &raquo;ganz fort,
+mein ich ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es geht ja nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und mein Kind?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_61" id="Page_61" title="61"></a>&raquo;Er w&uuml;rde es dir lassen, ich bin fest &uuml;berzeugt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wie?&laquo; fragte sie leise ... &raquo;Davonlaufen bei
+Nacht und Nebel?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als
+ihm einfach zu sagen, da&szlig; du nicht l&auml;nger bei ihm
+leben kannst, weil du einem andern geh&ouml;rst.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bist du bei Sinnen, Franz?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn du willst, erspar ich dir auch das, &#8211; ich
+sag es ihm selber.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wirst du nicht tun, Franz.&laquo;</p>
+
+<p>Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit
+konnte er nicht mehr bemerken, als da&szlig; sie den
+Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte.</p>
+
+<p>Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig:
+&raquo;Hab keine Angst, ich werde es nicht tun.&laquo;</p>
+
+<p>Sie n&auml;herten sich dem anderen Ufer.</p>
+
+<p>&raquo;H&ouml;rst du nichts?&laquo; sagte sie. &raquo;Was ist das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es kommt von dr&uuml;ben,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein
+kleines rotes Licht schwebte ihnen entgegen; bald
+sahen sie, da&szlig; es von einer kleinen Laterne kam, die
+an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt
+war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen
+beladen war und ob Menschen mitfuhren. Gleich
+dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf dem
+<a class="page" name="Page_62" id="Page_62" title="62"></a>letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht
+gewahren, der eben seine Pfeife anz&uuml;ndete. Die
+Wagen fuhren vorbei. Dann h&ouml;rten sie wieder nichts
+als das dumpfe Ger&auml;usch des Fiakers, der zwanzig
+Schritte hinter ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte
+sich die Br&uuml;cke leicht gegen das andere Ufer. Sie
+sahen, wie die Stra&szlig;e vor ihnen zwischen B&auml;umen ins
+Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen
+in der Tiefe die Auen; sie sahen wie in Abgr&uuml;nde
+hinein.</p>
+
+<p>Nach langem Schweigen sagte Franz pl&ouml;tzlich:
+&raquo;Also das letztemal ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was?&laquo; fragte Emma in besorgtem Ton.</p>
+
+<p>&raquo;&#8211; Da&szlig; wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich
+sag dir adieu.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sprichst du im Ernst?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vollkommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Siehst du, da&szlig; du es bist, der uns immer die paar
+Stunden verdirbt, die wir haben; nicht ich!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja, du hast recht,&laquo; sagte Franz. &raquo;Komm,
+fahren wir zur&uuml;ck.&laquo;</p>
+
+<p>Sie nahm seinen Arm fester. &raquo;Nein,&laquo; sagte sie
+z&auml;rtlich, &raquo;jetzt will ich nicht. Ich la&szlig; mich nicht so
+fortschicken.&laquo;</p>
+
+<p>Sie zog ihn zu sich herab und k&uuml;&szlig;te ihn lang.
+<a class="page" name="Page_63" id="Page_63" title="63"></a>&raquo;Wohin k&auml;men wir,&laquo; fragte sie dann, &raquo;wenn wir hier
+immer weiter f&uuml;hren?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da geht&#8217;s direkt nach Prag, mein Kind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So weit nicht,&laquo; sagte sie l&auml;chelnd, &raquo;aber noch ein
+bi&szlig;chen weiter da hinaus, wenn du willst.&laquo; Sie wies
+ins Dunkle.</p>
+
+<p>&raquo;He, Kutscher!&laquo; rief Franz. Der h&ouml;rte nichts.</p>
+
+<p>Franz schrie: &raquo;Halten Sie doch!&laquo;</p>
+
+<p>Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm
+nach. Jetzt sah er, da&szlig; der Kutscher schlief. Durch
+heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. &raquo;Wir fahren
+noch ein kleines St&uuml;ck weiter &#8211; die gerade Stra&szlig;e &#8211;
+verstehen Sie mich?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Is&#8217; schon gut, gn&auml;&#8217; Herr ...&laquo;</p>
+
+<p>Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb
+mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde
+&uuml;ber die aufgeweichte Stra&szlig;e hin. Aber die beiden
+im Wagen hielten einander fest umarmt, w&auml;hrend der
+Wagen sie hin und her warf.</p>
+
+<p>&raquo;Ist das nicht auch ganz sch&ouml;n,&laquo; fl&uuml;sterte Emma
+ganz nahe an seinem Munde.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick war ihr, als fl&ouml;ge der Wagen
+pl&ouml;tzlich in die H&ouml;he &#8211; sie f&uuml;hlte sich fortgeschleudert,
+wollte sich an etwas klammern, griff ins Leere; es
+schien ihr, als drehe sie sich mit rasender Geschwindig<a class="page" name="Page_64" id="Page_64" title="64"></a>keit
+im Kreise herum, so da&szlig; sie die Augen schlie&szlig;en
+mu&szlig;te &#8211; und pl&ouml;tzlich f&uuml;hlte sie sich auf dem Boden
+liegen, und eine ungeheure schwere Stille brach herein,
+als wenn sie fern von aller Welt und v&ouml;llig einsam
+w&auml;re. Dann h&ouml;rte sie verschiedenes durcheinander:
+Ger&auml;usch von Pferdehufen, die ganz in ihrer N&auml;he
+auf den Boden schlugen, ein leises Wimmern; aber
+sehen konnte sie nichts. Jetzt fa&szlig;te sie eine tolle Angst;
+sie schrie; ihre Angst ward noch gr&ouml;&szlig;er, denn sie h&ouml;rte
+ihr Schreien nicht. Sie wu&szlig;te pl&ouml;tzlich ganz genau,
+was geschehen war: der Wagen war an irgend etwas
+gesto&szlig;en, wohl an einen der Meilensteine, hatte umgeworfen,
+und sie waren herausgest&uuml;rzt. Wo ist <em class="gesperrt">er?</em>
+war ihr n&auml;chster Gedanke. Sie rief seinen Namen.
+Und sie h&ouml;rte sich rufen, ganz leise zwar, aber sie h&ouml;rte
+sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu
+erheben. Es gelang ihr so weit, da&szlig; sie auf den Boden
+zu sitzen kam, und als sie mit den H&auml;nden ausgriff,
+f&uuml;hlte sie einen menschlichen K&ouml;rper neben sich. Und
+nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge
+durchdringen. Franz lag neben ihr, v&ouml;llig regungslos.
+Sie ber&uuml;hrte mit der ausgestreckten Hand sein Gesicht;
+sie f&uuml;hlte etwas Feuchtes und Warmes dar&uuml;ber
+flie&szlig;en. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da
+geschehen? Franz war verwundet und bewu&szlig;tlos.
+<a class="page" name="Page_65" id="Page_65" title="65"></a>Und der Kutscher &#8211; wo war er denn? Sie rief nach
+ihm. Keine Antwort. Noch immer sa&szlig; sie auf dem
+Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl
+sie Schmerzen in allen Gliedern f&uuml;hlte. Was tu ich
+nur, was tu ich nur ... es ist doch nicht m&ouml;glich, da&szlig;
+mir gar nichts geschehen ist. &raquo;Franz!&laquo; rief sie. Eine
+Stimme antwortete ganz in der N&auml;he: &raquo;Wo sind S&#8217;
+denn, gn&auml;&#8217; Fr&auml;ul&#8217;n, wo ist der gn&auml;&#8217; Herr? Es ist doch
+nix g&#8217;schehn? Warten S&#8217;, Fr&auml;ulein, &#8211; i z&uuml;nd nur
+die Latern an, da&szlig; wir was sehn; i wei&szlig; net, was die
+Krampen heut hab&#8217;n. Ich bin net Schuld, meiner
+Seel ... in ein Schoderhaufen sein s&#8217; hinein, die
+verflixten R&ouml;sser.&laquo;</p>
+
+<p>Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh
+taten, vollkommen aufgerichtet, und da&szlig; dem Kutscher
+nichts geschehen war, machte sie ein wenig ruhiger.
+Sie h&ouml;rte, wie der Mann die Laternenklappe &ouml;ffnete
+und Streichh&ouml;lzchen anrieb. Angstvoll wartete sie
+auf das Licht. Sie wagte es nicht, Franz noch einmal
+zu ber&uuml;hren, der vor ihr auf dem Boden lag; sie
+dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer;
+er hat gewi&szlig; die Augen offen ... es wird nichts sein.</p>
+
+<p>Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah
+pl&ouml;tzlich den Wagen, der aber zu ihrer Verwunderung
+nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief gegen den
+<a class="page" name="Page_66" id="Page_66" title="66"></a>Stra&szlig;engraben zu gestellt war, als w&auml;re ein Rad
+gebrochen. Die Pferde standen vollkommen still. Das
+Licht n&auml;herte sich; sie sah den Schein allm&auml;hlich &uuml;ber
+einen Meilenstein, &uuml;ber den Schotterhaufen in den
+Graben gleiten; dann kroch er auf die F&uuml;&szlig;e Franzens,
+glitt &uuml;ber seinen K&ouml;rper, beleuchtete sein Gesicht und
+blieb darauf ruhen. Der Kutscher hatte die Laterne
+auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des
+Liegenden. Emma lie&szlig; sich auf die Knie nieder, und
+es war ihr, als h&ouml;rte ihr Herz zu schlagen auf, wie sie
+das Gesicht erblickte. Es war bla&szlig;; die Augen halb
+offen, so da&szlig; sie nur das Wei&szlig;e von ihnen sah. Von
+der rechten Schl&auml;fe rieselte langsam ein Streifen Blut
+&uuml;ber die Wange und verlor sich unter dem Kragen
+am Halse. In die Unterlippe waren die Z&auml;hne
+gebissen. &raquo;Es ist ja nicht m&ouml;glich!&laquo; sagte Emma
+vor sich hin.</p>
+
+<p>Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte
+das Gesicht an. Dann packte er mit beiden H&auml;nden
+den Kopf und hob ihn in die H&ouml;he. &raquo;Was machen
+Sie?&laquo; schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak
+vor diesem Kopf, der sich selbst&auml;ndig aufzurichten
+schien.</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;&#8217; Fr&auml;ul&#8217;n, mir scheint, da ist ein gro&szlig;es
+Malheur geschehn.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_67" id="Page_67" title="67"></a>&raquo;Es ist nicht wahr,&laquo; sagte Emma. &raquo;Es kann nicht
+sein. Ist denn Ihnen was geschehen? Und mir ...&laquo;</p>
+
+<p>Der Kutscher lie&szlig; den Kopf des Regungslosen
+wieder langsam sinken; &#8211; in den Scho&szlig; Emmas, die
+zitterte. &raquo;Wenn nur wer k&auml;m ... wenn nur die
+Bauersleut eine Viertelstund&#8217; sp&auml;ter daherkommen
+w&auml;ren ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was sollen wir denn machen?&laquo; sagte Emma
+mit bebenden Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Fr&auml;ul&#8217;n, wenn der Wagen net brochen w&auml;r ...
+aber so, wie er jetzt zug&#8217;richt ist ... Wir m&uuml;ssen halt
+warten, bis wer kommt.&laquo; Er redete noch weiter, ohne
+da&szlig; Emma seine Worte auffa&szlig;te; aber w&auml;hrend dem
+war es ihr, als k&auml;me sie zur Besinnung, und sie wu&szlig;te,
+was zu tun war.</p>
+
+<p>&raquo;Wie weit ist&#8217;s bis zu den n&auml;chsten H&auml;usern?&laquo;
+fragte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist nimmer weit, Fr&auml;ul&#8217;n, da ist ja gleich
+das Franz Josefsland ... Wir m&uuml;&szlig;ten die H&auml;user
+sehen, wenn&#8217;s licht w&auml;r, in f&uuml;nf Minuten m&uuml;&szlig;te
+man dort sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Fr&auml;ul&#8217;n, ich glaub schier, es ist g&#8217;scheiter, ich
+bleib mit Ihnen da &#8211; es kann ja nicht so lang dauern, bis
+wer kommt, es ist ja schlie&szlig;lich die Reichsstra&szlig;e, und &#8211;&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_68" id="Page_68" title="68"></a>&raquo;Da wird&#8217;s zu sp&auml;t, da kann&#8217;s zu sp&auml;t werden.
+Wir brauchen einen Doktor.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen,
+dann schaute er kopfsch&uuml;ttelnd Emma an.</p>
+
+<p>&raquo;Das k&ouml;nnen Sie nicht wissen,&laquo; &#8211; rief Emma,
+&raquo;und ich auch nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Fr&auml;ul&#8217;n ... aber wo find&#8217; i denn ein&#8217; Doktor
+im Franz Josefsland?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So soll von dort jemand in die Stadt und &#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Fr&auml;ul&#8217;n, wissen&#8217;s was! I denk mir, die werden
+dort vielleicht ein Telephon haben. Da k&ouml;nnten wir
+um die Rettungsgesellschaft telephonieren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen
+Sie, um Himmels willen! Und Leute bringen Sie
+mit ... Und ... bitt&#8217; Sie, gehen Sie nur, was tun
+Sie denn noch da?&laquo;</p>
+
+<p>Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun
+auf Emmas Scho&szlig; ruhte. &raquo;Rettungsgesellschaft,
+Doktor, wird nimmer viel n&uuml;tzen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;I geh schon &#8211; da&szlig; S&#8217; nur nicht Angst kriegen,
+Fr&auml;ul&#8217;n, da in der Finstern.&laquo; Und er eilte rasch &uuml;ber
+die Stra&szlig;e fort. &raquo;I kann nix daf&uuml;r, meiner Seel,&laquo;
+murmelte er vor sich hin. &raquo;Ist auch eine Idee, mitten
+in der Nacht auf die Reichsstra&szlig;en ...&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_69" id="Page_69" title="69"></a>Emma war mit dem Regungslosen allein auf der
+dunklen Stra&szlig;e. &raquo;Was jetzt?&laquo; dachte sie. Es ist doch
+nicht m&ouml;glich ... das ging ihr immer wieder durch den
+Kopf ... es ist ja nicht m&ouml;glich. &#8211; Es war ihr pl&ouml;tzlich,
+als h&ouml;rte sie neben sich atmen. Sie beugte sich
+herab zu den blassen Lippen. Nein, von da kam kein
+Hauch. Das Blut an Schl&auml;fe und Wangen schien
+getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die
+gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum
+glaube ich es denn nicht &#8211; es ist ja gewi&szlig; ... das ist
+der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie f&uuml;hlte nur
+mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf
+meinem Scho&szlig;. Und mit zitternden H&auml;nden r&uuml;ckte
+sie den Kopf weg, so da&szlig; er wieder auf den Boden
+zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gef&uuml;hl entsetzlicher
+Verlassenheit &uuml;ber sie. Warum hatte sie den
+Kutscher weggeschickt? Was f&uuml;r ein Unsinn! Was
+soll sie denn da auf der Landstra&szlig;e mit dem toten
+Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ...
+Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie
+lang wird sie hier warten m&uuml;ssen? Und sie sah wieder
+den Toten an. Ich bin nicht allein mit ihm, fiel ihr
+ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als w&auml;re
+dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie
+danken m&uuml;&szlig;te. Es war mehr Leben in dieser kleinen
+<a class="page" name="Page_70" id="Page_70" title="70"></a>Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um sie; ja,
+es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen
+den blassen f&uuml;rchterlichen Mann, der neben ihr auf
+dem Boden lag ... Und sie sah in das Licht so lang,
+bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen begann.
+Und pl&ouml;tzlich hatte sie das Gef&uuml;hl, als wenn sie
+erwachte. Sie sprang auf! Das geht ja nicht, das ist
+ja unm&ouml;glich, man darf mich doch nicht hier mit ihm
+finden ... Es war ihr, als s&auml;he sie sich jetzt selbst auf
+der Stra&szlig;e stehen, zu ihren F&uuml;&szlig;en den Toten und
+das Licht; und sie sah sich, als ragte sie in sonderbarer
+Gr&ouml;&szlig;e in die Dunkelheit hinein. Worauf wart ich,
+dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf
+wart ich? Auf die Leute? &#8211; Was brauchen mich
+denn die? Die Leute werden kommen und fragen ...
+und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden fragen,
+wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts.
+Kein Wort werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen
+werd ich. Kein Wort ... sie k&ouml;nnen mich ja nicht
+zwingen.</p>
+
+<p>Stimmen kamen von weitem.</p>
+
+<p>Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die
+Stimmen kamen von der Br&uuml;cke her. Das konnten
+also nicht die Leute sein, die der Kutscher geholt
+hatte. Aber wer immer sie waren &#8211; jedenfalls
+<a class="page" name="Page_71" id="Page_71" title="71"></a>werden sie das Licht bemerken &#8211; und das durfte
+nicht sein, dann war sie entdeckt.</p>
+
+<p>Und sie stie&szlig; mit dem Fu&szlig; die Laterne um. Die
+verl&ouml;schte. Nun stand sie in tiefer Finsternis. Nichts
+sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur der wei&szlig;e
+Schotterhaufen gl&auml;nzte ein wenig. Die Stimmen
+kamen n&auml;her. Sie begann am ganzen K&ouml;rper zu
+zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um Himmels
+willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das
+und auf gar nichts anderes kommt es an &#8211; sie ist ja
+verloren, wenn ein Mensch erf&auml;hrt, da&szlig; sie die Geliebte
+von ... Sie faltet die H&auml;nde krampfhaft. Sie
+betet, da&szlig; die Leute auf der anderen Seite der Stra&szlig;e
+vor&uuml;bergehen m&ouml;gen, ohne sie zu bemerken. Sie
+lauscht. Ja von dr&uuml;ben ... Was reden sie doch?...
+Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen
+bemerkt, denn sie reden etwas davon, sie kann W&ouml;rter
+unterscheiden. Ein Wagen ... umgefallen ... was
+sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie
+gehen weiter ... sie sind vor&uuml;ber ... Gott sei Dank!
+Und jetzt, was jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie
+er? Er ist zu beneiden, f&uuml;r ihn ist alles vor&uuml;ber ...
+f&uuml;r ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine Furcht.
+Sie aber zittert vor vielem. Sie f&uuml;rchtet, da&szlig; man sie
+hier finden, da&szlig; man sie fragen wird: wer sind Sie?...
+<a class="page" name="Page_72" id="Page_72" title="72"></a>Da&szlig; sie mit auf die Polizei mu&szlig;, da&szlig; alle Menschen es
+erfahren werden, da&szlig; ihr Mann &#8211; da&szlig; ihr Kind &#8211;</p>
+
+<p>Und sie begreift nicht, da&szlig; sie so lange schon dagestanden
+ist wie angewurzelt ... Sie kann ja fort,
+sie n&uuml;tzt ja keinem hier, und sich selbst bringt sie ins
+Ungl&uuml;ck. Und sie macht einen Schritt ... Vorsichtig
+... sie mu&szlig; durch den Stra&szlig;engraben ... hin&uuml;ber ...
+einen Schritt hinauf &#8211; o, er ist so seicht! &#8211; und
+noch zwei Schritte, bis sie in der Mitte der Stra&szlig;e
+ist ... und dann steht sie einen Augenblick still, sieht
+vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle
+hinein verfolgen. Dort &#8211; dort ist die Stadt. Sie
+kann nichts von ihr sehen ... aber die Richtung ist
+ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist ja
+gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut
+sehn; auch die Pferde ... und wenn sie sich sehr
+anstrengt, merkt sie auch etwas wie die Umrisse eines
+menschlichen K&ouml;rpers, der auf dem Boden liegt. Sie
+rei&szlig;t die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas
+hier zur&uuml;ck ... der Tote ist es, der sie hier behalten
+will, und es graut sie vor seiner Macht ... Aber
+gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt sie: der
+Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Stra&szlig;e,
+und der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun
+aber geht sie ... geht rascher ... l&auml;uft ... und fort
+<a class="page" name="Page_73" id="Page_73" title="73"></a>von da ... zur&uuml;ck ... in das Licht, in den L&auml;rm, zu
+den Menschen! Die Stra&szlig;e l&auml;uft sie entlang, h&auml;lt
+das Kleid hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr
+im R&uuml;cken, es ist, als wenn er sie vorw&auml;rts triebe.
+Sie wei&szlig; nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es ist ihr,
+als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen m&uuml;&szlig;te,
+der dort, weit hinter ihr, neben dem Stra&szlig;engraben
+liegt ... dann f&auml;llt ihr ein, da&szlig; sie ja den Lebendigen
+entkommen will, die gleich dort sein und sie suchen
+werden. Was werden die denken? Wird man ihr
+nicht nach? Aber man kann sie nicht mehr einholen,
+sie ist ja gleich bei der Br&uuml;cke, sie hat einen gro&szlig;en
+Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man
+kann ja nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann
+ahnen, wer die Frau war, die mit jenem Mann
+&uuml;ber die Reichsstra&szlig;e gefahren ist. Der Kutscher
+kennt sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn
+er sie sp&auml;ter einmal sieht. Man wird sich auch nicht
+darum k&uuml;mmern, wer sie war. Wen geht es an? &#8211;
+Es ist sehr klug, da&szlig; sie nicht dort geblieben ist, es
+ist auch nicht gemein. Franz selbst h&auml;tte ihr recht
+gegeben. Sie mu&szlig; ja nach Haus, sie hat ein Kind,
+sie hat einen Mann, sie w&auml;re ja verloren, wenn man
+sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden h&auml;tte.
+Da ist die Br&uuml;cke, die Stra&szlig;e scheint heller ... ja
+<a class="page" name="Page_74" id="Page_74" title="74"></a>schon h&ouml;rt sie das Wasser rauschen wie fr&uuml;her; sie ist
+da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen &#8211; wann
+&#8211; wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch
+nicht lange sein. Nicht lang? Vielleicht doch! Vielleicht
+war sie lange bewu&szlig;tlos, vielleicht ist es l&auml;ngst Mitternacht,
+vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie
+wird daheim schon vermi&szlig;t. Nein, nein, das ist ja
+nicht m&ouml;glich, sie wei&szlig;, da&szlig; sie gar nicht bewu&szlig;tlos
+war; sie erinnert sich jetzt genauer als im ersten
+Augenblick, wie sie aus dem Wagen gest&uuml;rzt und
+gleich &uuml;ber alles im klaren gewesen ist. Sie l&auml;uft
+&uuml;ber die Br&uuml;cke und h&ouml;rt ihre Schritte hallen. Sie
+sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt sie,
+wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie m&auml;&szlig;igt
+ihre Schritte. Wer kann das sein, der ihr entgegenkommt?
+Es ist jemand in Uniform. Sie geht ganz
+langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu
+merken, da&szlig; der Mann den Blick fest auf sie gerichtet
+h&auml;lt. Wenn er sie fragt? Sie ist neben ihm, erkennt
+die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie
+geht an ihm vor&uuml;ber. Sie h&ouml;rt, da&szlig; er hinter ihr
+stehen geblieben ist. Mit M&uuml;he h&auml;lt sie sich davon
+zur&uuml;ck, wieder zu laufen; es w&auml;re verd&auml;chtig. Sie geht
+noch immer so langsam wie fr&uuml;her. Sie h&ouml;rt das
+Geklingel der Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang
+<a class="page" name="Page_75" id="Page_75" title="75"></a>nicht Mitternacht sein. Jetzt geht sie wieder schneller;
+sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie schon
+unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Stra&szlig;e
+entgegenschimmern sieht, deren ged&auml;mpften L&auml;rm
+sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese einsame
+Stra&szlig;e, und dann ist die Erl&ouml;sung da. Jetzt h&ouml;rt
+sie von weitem schrille Pfiffe, immer schriller, immer
+n&auml;her; ein Wagen saust an ihr vor&uuml;ber. Unwillk&uuml;rlich
+bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der Wagen
+der Rettungsgesellschaft. Sie wei&szlig;, wohin er f&auml;hrt.
+Wie schnell! denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen
+Moment lang ist ihr, als m&uuml;&szlig;te sie den Leuten nachrufen,
+als m&uuml;&szlig;te sie mit, als m&uuml;&szlig;te sie wieder dahin
+zur&uuml;ck, woher sie gekommen &#8211; einen Moment lang
+packt sie eine ungeheure Scham, wie sie sie nie empfunden;
+und sie wei&szlig;, da&szlig; sie feig und schlecht gewesen
+ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner
+verklingen h&ouml;rt, kommt eine wilde Freude &uuml;ber sie,
+und wie eine Gerettete eilt sie vorw&auml;rts. Leute
+kommen ihr entgegen; sie hat keine Angst mehr vor
+ihnen &#8211; das Schwerste ist &uuml;berstanden. Der L&auml;rm
+der Stadt wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr;
+schon sieht sie die H&auml;userzeile der Praterstra&szlig;e, und
+es ist ihr, als werde sie dort von einer Flut von Menschen
+erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf.
+<a class="page" name="Page_76" id="Page_76" title="76"></a>Wie sie jetzt zu einer Stra&szlig;enlaterne kommt, hat sie
+schon die Ruhe, auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn
+Minuten vor neun. Sie h&auml;lt die Uhr ans Ohr &#8211; sie
+ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin
+lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und
+er ... er ... tot ... Schicksal ... Es ist ihr, als w&auml;re
+ihr alles verziehen ... als w&auml;re nie irgendeine Schuld
+auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es
+hat sich erwiesen. Sie h&ouml;rt, wie sie diese Worte laut
+spricht. Und wenn es das Schicksal anders bestimmt
+h&auml;tte? &#8211; Und wenn sie jetzt dort im Graben l&auml;ge
+und er am Leben geblieben w&auml;re? Er w&auml;re nicht
+geflohen, nein ... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann.
+Sie ist ein Weib &#8211; und sie hat ein Kind und einen
+Gatten. &#8211; Sie hat recht gehabt, &#8211; es ist ihre Pflicht
+&#8211; ja ihre Pflicht. Sie wei&szlig; ganz gut, da&szlig; sie nicht
+aus Pflichtgef&uuml;hl so gehandelt ... Aber sie hat doch
+das Rechte getan. Unwillk&uuml;rlich ... wie ... gute
+Menschen immer. Jetzt w&auml;re sie schon entdeckt.
+Jetzt w&uuml;rden die &Auml;rzte sie fragen. Und Ihr Mann,
+gn&auml;dige Frau? O Gott!... Und die Zeitungen
+morgen &#8211; und die Familie &#8211; sie w&auml;re f&uuml;r alle Zeit
+vernichtet gewesen und h&auml;tte ihn doch nicht zum Leben
+erwecken k&ouml;nnen. Ja, das war die Hauptsache;
+f&uuml;r nichts h&auml;tte sie sich zugrunde gerichtet. &#8211; Sie ist
+<a class="page" name="Page_77" id="Page_77" title="77"></a>unter der Eisenbahnbr&uuml;cke. &#8211; Weiter ... weiter ...
+Hier ist die Tegethoffs&auml;ule, wo die vielen Stra&szlig;en
+ineinander laufen. Es sind heute, an dem regnerischen,
+windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien,
+aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt m&auml;chtig
+um sie, denn woher sie kommt, dort war die f&uuml;rchterlichste
+Stille. Sie hat Zeit. Sie wei&szlig;, da&szlig; ihr Mann
+heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. &#8211;
+sie kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt f&auml;llt es ihr
+ein, ihr Kleid zu betrachten. Mit Schrecken merkt
+sie, da&szlig; es &uuml;ber und &uuml;ber beschmutzt ist. Was wird
+sie dem Stubenm&auml;dchen sagen? Es f&auml;hrt ihr durch
+den Kopf, da&szlig; morgen die Geschichte von dem Ungl&uuml;cksfall
+in allen Zeitungen zu lesen sein wird. Auch
+von einer Frau, die mit im Wagen war, und die
+dann nicht mehr zu finden war, wird &uuml;berall zu lesen
+stehen, und bei diesem Gedanken bebt sie von neuem
+&#8211; <em class="gesperrt">eine</em> Unvorsichtigkeit, und all ihre Feigheit war
+umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschl&uuml;ssel bei sich;
+sie kann ja selbst aufsperren; &#8211; sie wird sich nicht h&ouml;ren
+lassen. Sie steigt rasch in einen Fiaker. Schon will
+sie ihm ihre Adresse angeben, da f&auml;llt ihr ein, da&szlig; das
+vielleicht unklug w&auml;re, und sie ruft ihm irgendeinen
+Stra&szlig;ennamen zu, der ihr eben einf&auml;llt. Wie sie
+durch die Praterstra&szlig;e f&auml;hrt, m&ouml;chte sie gern irgend
+<a class="page" name="Page_78" id="Page_78" title="78"></a>etwas empfinden, aber sie kann es nicht; sie f&uuml;hlt,
+da&szlig; sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in Sicherheit
+sein. Alles andere ist ihr gleichg&uuml;ltig. Im Augenblick,
+da sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der
+Stra&szlig;e liegen zu lassen, hat alles in ihr verstummen
+m&uuml;ssen, was um ihn klagen und jammern wollte.
+Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um
+sich. Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie wei&szlig;
+ganz gewi&szlig;, es werden Tage kommen, wo sie verzweifeln
+wird; vielleicht wird sie daran zugrunde
+gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht,
+mit trockenen Augen und ruhig zu Hause am selben
+Tisch mit ihrem Gatten und ihrem Kinde zu sitzen.
+Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen f&auml;hrt
+durch die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet,
+und ziemlich viele Menschen eilen vorbei. Da ist
+ihr pl&ouml;tzlich, als k&ouml;nne alles, was sie in den letzten
+Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein
+b&ouml;ser Traum erscheint es ihr ... unfa&szlig;bar als Wirkliches,
+Unab&auml;nderliches. In einer Seitengasse nach
+dem Ring l&auml;&szlig;t sie den Wagen halten, steigt aus, biegt
+rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen,
+dem sie ihre richtige Adresse angibt. Es kommt ihr
+vor, als w&auml;re sie jetzt &uuml;berhaupt nicht mehr f&auml;hig,
+einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, f&auml;hrt es
+<a class="page" name="Page_79" id="Page_79" title="79"></a>ihr durch den Sinn. Sie schlie&szlig;t die Augen, und sie
+sieht ihn vor sich auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen
+&#8211; und pl&ouml;tzlich ist ihr, als sitze sie neben ihm
+und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu
+schwanken, und sie hat Angst, da&szlig; sie herausgeschleudert
+werde, wie damals &#8211; und sie schreit auf. Da h&auml;lt
+der Wagen. Sie f&auml;hrt zusammen; sie ist vor ihrem
+Haustor. &#8211; Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur,
+mit leisen Schritten, so da&szlig; der Portier hinter seinem
+Fenster gar nicht aufschaut, die Treppen hinauf,
+sperrt leise die T&uuml;r auf, um nicht geh&ouml;rt zu werden ...
+durchs Vorzimmer in ihr Zimmer &#8211; es ist gelungen!
+Sie macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt
+sie wohl im Schrank. &Uuml;ber Nacht sollen sie trocknen
+&#8211; morgen will sie sie selber b&uuml;rsten und reinigen.
+Dann w&auml;scht sie sich Gesicht und H&auml;nde und nimmt
+einen Schlafrock um.</p>
+
+<p>Jetzt klingelt es drau&szlig;en. Sie h&ouml;rt das Stubenm&auml;dchen
+an die Wohnungst&uuml;r kommen und &ouml;ffnen.
+Sie h&ouml;rt die Stimme ihres Mannes; sie h&ouml;rt, wie er
+den Stock hinstellt. Sie f&uuml;hlt, da&szlig; sie jetzt stark sein
+m&uuml;sse, sonst kann noch immer alles vergeblich gewesen
+sein. Sie eilt ins Speisezimmer, so da&szlig; sie im selben
+Augenblick eintritt wie ihr Gatte.</p>
+
+<p>&raquo;Ah, du bist schon zu Haus?&laquo; sagt er.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_80" id="Page_80" title="80"></a>&raquo;Gewi&szlig;,&laquo; antwortet sie, &raquo;schon lang.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.&laquo;
+Sie l&auml;chelt, ohne sich dazu zwingen zu m&uuml;ssen. Es
+macht sie nur sehr m&uuml;de, da&szlig; sie auch l&auml;cheln mu&szlig;.
+Er k&uuml;&szlig;t sie auf die Stirn.</p>
+
+<p>Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten
+m&uuml;ssen, ist eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein
+Buch liegen, auf dem offenen Buch ruht sein Gesicht.
+Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr gegen&uuml;ber,
+nimmt eine Zeitung und wirft einen fl&uuml;chtigen Blick
+hinein. Dann legt er sie weg und sagt: &raquo;Die anderen
+sitzen noch zusammen und beraten weiter.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wor&uuml;ber?&laquo; fragt sie.</p>
+
+<p>Und er beginnt zu erz&auml;hlen, von der heutigen
+Sitzung, sehr lang, sehr viel. Emma tut, als h&ouml;re
+sie zu, nickt zuweilen.</p>
+
+<p>Aber sie h&ouml;rt nichts, sie wei&szlig; nicht, was er spricht,
+es ist ihr zumute wie einem, der furchtbaren Gefahren
+auf wunderbare Weise entronnen ... sie f&uuml;hlt nichts
+als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und w&auml;hrend
+ihr Mann immer weiter erz&auml;hlt, r&uuml;ckt sie ihren Sessel
+n&auml;her zu ihrem Jungen, nimmt seinen Kopf und dr&uuml;ckt
+ihn an ihre Brust. Eine uns&auml;gliche M&uuml;digkeit &uuml;berkommt
+sie &#8211; sie kann sich nicht beherrschen, sie f&uuml;hlt, da&szlig;
+der Schlummer &uuml;ber sie kommt; sie schlie&szlig;t die Augen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_81" id="Page_81" title="81"></a>Pl&ouml;tzlich f&auml;hrt ihr eine M&ouml;glichkeit durch den
+Sinn, an die sie seit dem Augenblick, da sie sich aus
+dem Graben erhoben hat, nicht mehr gedacht. Wenn
+er nicht tot w&auml;re! Wenn er ... Ach nein, es war
+kein Zweifel m&ouml;glich ... Diese Augen ... dieser
+Mund &#8211; und dann ... kein Hauch von seinen Lippen.
+&#8211; Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt F&auml;lle, wo
+sich ge&uuml;bte Blicke irren. Und sie hat gewi&szlig; keinen
+ge&uuml;bten Blick. Wenn er lebt, wenn er schon wieder
+zu Bewu&szlig;tsein gekommen ist, wenn er sich pl&ouml;tzlich
+mitten in der Nacht auf der Landstra&szlig;e allein gefunden
+... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn
+er am Ende f&uuml;rchtet, sie sei verletzt ... wenn er den
+&Auml;rzten sagt, hier war eine Frau, sie mu&szlig; weiter
+weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja,
+was dann? Man wird sie suchen. Der Kutscher wird
+zur&uuml;ckkommen vom Franz Josefsland mit Leuten ...
+er wird erz&auml;hlen ... die Frau war ja da, wie ich
+fortgegangen bin &#8211; und Franz wird ahnen. Franz
+wird wissen ... er kennt sie ja so gut ... er wird
+wissen, da&szlig; sie davongelaufen ist, und ein gr&auml;&szlig;licher
+Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen
+nennen, um sich zu r&auml;chen. Denn er ist ja verloren ...
+und es wird ihn so tief ersch&uuml;ttern, da&szlig; sie ihn in seiner
+letzten Stunde allein gelassen, da&szlig; er r&uuml;cksichtslos
+<a class="page" name="Page_82" id="Page_82" title="82"></a>sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ...
+feig und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine
+Herren &Auml;rzte, Sie h&auml;tten sie gewi&szlig; nicht um ihren
+Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht
+h&auml;tte. Sie h&auml;tten sie ruhig gehen lassen, und ich auch,
+o ja &#8211; nur h&auml;tte sie dableiben m&uuml;ssen, bis Sie gekommen
+sind. Aber da sie so schlecht gewesen ist, sag
+ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah!</p>
+
+<p>&raquo;Was hast du?&laquo; sagt der Professor sehr ernst,
+indem er aufsteht.</p>
+
+<p>&raquo;Was ... wie?... Was ist?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, was ist dir denn?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nichts.&laquo; Sie dr&uuml;ckt den Jungen fester an sich.</p>
+
+<p>Der Professor sieht sie lang an. &raquo;Wei&szlig;t du, da&szlig;
+du begonnen hast, einzuschlummern und &#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann hast du pl&ouml;tzlich aufgeschrien.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;... So?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdr&uuml;cken
+hat. Hast du getr&auml;umt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; nicht. Ich wei&szlig; gar nichts.&laquo;</p>
+
+<p>Und sich selbst gegen&uuml;ber im Wandspiegel sieht sie
+ein Gesicht, das l&auml;chelt, grausam, und mit verzerrten
+Z&uuml;gen. Sie wei&szlig;, da&szlig; es ihr eigenes ist, und doch
+schaudert ihr davor ... Und sie merkt, da&szlig; es starr
+<a class="page" name="Page_83" id="Page_83" title="83"></a>wird, sie kann den Mund nicht bewegen, sie wei&szlig; es:
+dieses L&auml;cheln wird, solange sie lebt, um ihre Lippen
+spielen. Und sie versucht zu schreien. Da f&uuml;hlt sie,
+wie sich zwei H&auml;nde auf ihre Schultern legen, und sie
+sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das
+im Spiegel das Antlitz ihres Gatten dr&auml;ngt; seine
+Augen, fragend und drohend, senken sich in die ihren.
+Sie wei&szlig;: &uuml;bersteht sie diese letzte Pr&uuml;fung nicht,
+so ist alles verloren. Und sie f&uuml;hlt, wie sie wieder
+stark wird, sie hat ihre Z&uuml;ge, ihre Glieder in der
+Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit ihnen
+anfangen, was sie will; aber sie mu&szlig; ihn ben&uuml;tzen,
+sonst ist es vorbei, und sie greift mit ihren beiden
+H&auml;nden nach denen ihres Gatten, die noch auf ihren
+Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter
+und z&auml;rtlich an.</p>
+
+<p>Und w&auml;hrend sie die Lippen ihres Mannes auf
+ihrer Stirn f&uuml;hlt, denkt sie: freilich ... ein b&ouml;ser Traum.
+Er wird es niemandem sagen, wird sich nie r&auml;chen,
+nie ... er ist tot ... er ist ganz gewi&szlig; tot ... und
+die Toten schweigen.</p>
+
+<p>&raquo;Warum sagst du das?&laquo; h&ouml;rt sie pl&ouml;tzlich die
+Stimme ihres Mannes. Sie erschrickt tief. &raquo;Was hab
+ich denn gesagt?&laquo; Und es ist ihr, als habe sie pl&ouml;tzlich
+alles ganz laut erz&auml;hlt ... als habe sie die ganze
+<a class="page" name="Page_84" id="Page_84" title="84"></a>Geschichte dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ...
+und noch einmal fragt sie, w&auml;hrend sie vor seinem
+entsetzten Blick zusammenbricht: &raquo;Was hab ich denn
+gesagt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Toten schweigen,&laquo; wiederholt ihr Mann
+sehr langsam.</p>
+
+<p>&raquo;Ja ...&laquo; sagt sie, &raquo;ja ...&laquo;</p>
+
+<p>Und in seinen Augen liest sie, da&szlig; sie ihm nichts
+mehr verbergen kann, und lange sehn die beiden
+einander an. &raquo;Bring den Buben zu Bett,&laquo; sagt er
+dann zu ihr; &raquo;ich glaube, du hast mir noch etwas zu
+erz&auml;hlen ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagt sie.</p>
+
+<p>Und sie wei&szlig;, da&szlig; sie diesem Manne, den sie durch
+Jahre betrogen hat, im n&auml;chsten Augenblick die ganze
+Wahrheit sagen wird.</p>
+
+<p>Und w&auml;hrend sie mit ihrem Jungen langsam durch
+die T&uuml;r schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf
+sich gerichtet f&uuml;hlend, kommt eine gro&szlig;e Ruhe &uuml;ber
+sie, als w&uuml;rde vieles wieder gut ................</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_85" id="Page_85" title="85"></a></p>
+<h2 class="novelle"><a name="Die_Weissagung" id="Die_Weissagung"></a>Die Weissagung</h2>
+
+
+<h3 class="subsection">1</h3>
+
+<p class="newsubsection">Unweit von Bozen, auf einer m&auml;&szlig;igen H&ouml;he, im
+Walde wie versunken und von der Landstra&szlig;e
+aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des
+Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit
+zehn Jahren als Arzt in Meran lebt und dem ich im
+Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit dem
+Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals
+f&uuml;nfzig Jahre alt und dilettierte in mancherlei K&uuml;nsten.
+Er komponierte ein wenig, war t&uuml;chtig auf Violine
+und Klavier, auch zeichnete er nicht &uuml;bel. Am ernstesten
+aber hatte er in fr&uuml;herer Zeit die Schauspielerei
+getrieben. Wie es hie&szlig;, war er als ganz junger Mensch
+unter angenommenem Namen ein paar Jahre lang
+auf kleinen B&uuml;hnen drau&szlig;en im Reiche umhergezogen.
+Ob nun der dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende
+Begabung oder mangelndes Gl&uuml;ck der
+Anla&szlig; war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn
+fr&uuml;h genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche
+Versp&auml;tung in den Staatsdienst treten zu k&ouml;nnen
+und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den
+er dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn
+<a class="page" name="Page_86" id="Page_86" title="86"></a>auch ohne Begeisterung erf&uuml;llte. Aber als er, kaum
+&uuml;ber vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode des
+Vaters, das Amt verlie&szlig;, sollte sich erst zeigen, mit
+welcher Liebe er an dem Gegenstand seiner jugendlichen
+Tr&auml;ume noch immer hing. Er lie&szlig; die Villa
+auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen
+und versammelte dort, insbesondere zur Sommers-
+und Herbstzeit, einen allm&auml;hlich immer gr&ouml;&szlig;er werdenden
+Kreis von Herren und Damen, die allerlei
+leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder
+vorf&uuml;hrten. Seine Frau, aus einer alten Tiroler
+B&uuml;rgerfamilie, ohne wirkliche Anteilnahme an
+k&uuml;nstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten
+mit kameradschaftlicher Z&auml;rtlichkeit zugetan, sah seiner
+Liebhaberei mit einigem Spotte zu, der sich aber um
+so gutm&uuml;tiger anlie&szlig;, als das Interesse des Freiherrn
+ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam.
+Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte
+strengen Beurteilern nicht gew&auml;hlt genug erscheinen,
+aber auch G&auml;ste, die sonst nach Geburt und Erziehung
+zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen keinerlei
+Ansto&szlig; an der zwanglosen Zusammensetzung eines
+Kreises, die durch die dort ge&uuml;bte Kunst gen&uuml;gend
+gerechtfertigt schien und von dem &uuml;berdies der Name
+und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht
+<a class="page" name="Page_87" id="Page_87" title="87"></a>freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen
+anderen, deren ich mich nicht mehr entsinne, begegnete
+ich auf dem Schlosse einem jungen Grafen von der
+Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem J&auml;geroffizier
+aus Riva, einem Generalstabshauptmann
+mit Frau und Tochter, einer Operettens&auml;ngerin aus
+Berlin, einem Bozener Lik&ouml;rfabrikanten mit zwei
+S&ouml;hnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von
+seiner Weltreise zur&uuml;ckgekommen war, einem pensionierten
+Hofschauspieler aus B&uuml;ckeburg, einer verwitweten
+Gr&auml;fin Saima, die als junges M&auml;dchen
+Schauspielerin gewesen war, mit ihrer Tochter, und
+dem d&auml;nischen Maler Petersen.</p>
+
+<p>Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten
+G&auml;ste. Einige nahmen in Bozen Quartier, andere in
+einem bescheidenen Gasthof, der unten an der Wegscheide
+lag, wo eine schm&auml;lere Stra&szlig;e nach dem Gute
+abzweigte. Aber meist in den ersten Nachmittagsstunden
+war der ganze Kreis oben versammelt, und
+dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen
+Hofschauspielers, zuweilen unter der des
+Freiherrn, der selbst niemals mitwirkte, bis in die
+sp&auml;ten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs
+unter Scherzen und Lachen, allm&auml;hlich aber mit immer
+gr&ouml;&szlig;erem Ernste, bis der Tag der Vorstellung heran<a class="page" name="Page_88" id="Page_88" title="88"></a>nahte,
+und je nach Witterung, Laune, Vorbereitung,
+m&ouml;glichst mit R&uuml;cksicht auf den Schauplatz der Handlung,
+entweder auf dem an den Wald grenzenden
+Wiesenplatz hinter dem Schlo&szlig;g&auml;rtchen oder in dem
+ebenerdigen Saal mit den drei gro&szlig;en Bogenfenstern
+die Auff&uuml;hrung stattfand.</p>
+
+<p>Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte
+ich keinen anderen Vorsatz, als an einem neuen Ort
+unter neuen Menschen einen heiteren Tag zu verbringen.
+Aber wie das so kommt, wenn man ohne
+Ziel und in vollkommener Freiheit umherstreift, und
+&uuml;berdies bei allm&auml;hlich schwindender Jugend keinerlei
+Beziehungen bestehen, die lebhafter in die Heimat
+zur&uuml;ckrufen, lie&szlig; ich mich vom Freiherrn zu l&auml;ngerem
+Bleiben bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei,
+drei und mehr, und so, zu meiner eignen Verwunderung
+wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem
+Schl&ouml;&szlig;chen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr
+wohnlich ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins
+Tal einger&auml;umt war. Dieser erste Aufenthalt auf
+dem Guntschnaberg wird f&uuml;r mich stets eine angenehme
+und, trotz aller Lustigkeit und alles L&auml;rms um mich
+herum, sehr stille Erinnerung bleiben, da ich mit
+keinem der G&auml;ste anders als fl&uuml;chtig verkehrte und
+&uuml;berdies einen gro&szlig;en Teil meiner Zeit, zu Nach<a class="page" name="Page_89" id="Page_89" title="89"></a>denken
+und Arbeit gleicherma&szlig;en angeregt, auf einsamen
+Waldspazierg&auml;ngen verbrachte. Auch der
+Umstand, da&szlig; der Freiherr aus H&ouml;flichkeit einmal
+eines meiner kleinen St&uuml;cke darstellen lie&szlig;, st&ouml;rte die
+Ruhe meines Aufenthaltes nicht, da niemand von
+meiner Eigenschaft als Verfasser Notiz nahm. Vielmehr
+bedeutete mir dieser Abend ein h&ouml;chst anmutiges
+Erlebnis, da mit dieser Auff&uuml;hrung auf gr&uuml;nem Rasen,
+unter freiem Himmel ein bescheidener Traum meiner
+Jugendjahre so sp&auml;t als unerwartet in Erf&uuml;llung ging.</p>
+
+<p>Die lebhafte Bewegung im Schlosse lie&szlig; allm&auml;hlich
+nach, der Urlaub der Herren, die in einem Berufe
+standen, war gro&szlig;enteils abgelaufen, und nur manchmal
+kam Besuch von Freunden, die in der N&auml;he
+ans&auml;ssig waren. Erst jetzt gewann ich selbst zu dem
+Freiherrn ein n&auml;heres Verh&auml;ltnis und fand bei ihm
+zu einiger &Uuml;berraschung mehr Selbstbescheidung, als
+sie Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er t&auml;uschte
+sich keineswegs dar&uuml;ber, da&szlig; das, was auf seinem
+Schlosse getrieben wurde, nichts anderes war, als eine
+h&ouml;here Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm
+im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in
+eine dauernde und ernsthafte Beziehung zu seiner
+geliebten Kunst zu treten, so lie&szlig; er sich an dem
+Schimmer gen&uuml;gen, der wie aus entlegenen Fernen
+<a class="page" name="Page_90" id="Page_90" title="90"></a>&uuml;ber das harmlose Theaterwesen im Schlosse gegl&auml;nzt
+kam, und freute sich &uuml;berdies, da&szlig; hier von mancher
+Erb&auml;rmlichkeit, die das Berufliche doch &uuml;berall mit
+sich bringt, kein Hauch zu sp&uuml;ren war.</p>
+
+<p>Auf einem unserer Spazierg&auml;nge sprach er ohne
+jede Zudringlichkeit den Einfall aus, einmal auf seiner
+B&uuml;hne im Freien ein St&uuml;ck dargestellt zu sehen, das
+schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und
+auf die nat&uuml;rliche Umgebung geschaffen w&auml;re. Diese
+Bemerkung kam einem Plan, den ich seit einiger Zeit
+in mir trug, so ungezwungen entgegen, da&szlig; ich dem
+Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erf&uuml;llen.</p>
+
+<p>Bald darauf verlie&szlig; ich das Schlo&szlig;.</p>
+
+<p>In den ersten Tagen des n&auml;chsten Fr&uuml;hlings schon
+sandte ich mit freundlichen Worten der Erinnerung
+an die sch&ouml;nen Tage des vergangenen Herbstes dem
+Freiherrn ein St&uuml;ck, wie es den Forderungen der
+Gelegenheit wohl entsprechen mochte. Bald darauf
+traf die Antwort ein, die den Dank des Freiherrn und
+eine herzliche Einladung f&uuml;r den kommenden Herbst
+enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge,
+und in den ersten Septembertagen bei einbrechender
+k&uuml;hler Witterung reiste ich an den Gardasee, ohne
+daran zu denken, da&szlig; ich nun dem Schlosse des
+Freiherrn von Schottenegg recht nahe war. Ja mir
+<a class="page" name="Page_91" id="Page_91" title="91"></a>ist heute, als h&auml;tte ich zu dieser Zeit das kleine Schlo&szlig;
+und alles dortige Treiben v&ouml;llig vergessen gehabt. Da
+erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben
+des Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes
+Erstaunen aus, da&szlig; ich nichts von mir h&ouml;ren lie&szlig;e,
+und enthielt die Mitteilung, da&szlig; am 9. September
+die Auff&uuml;hrung des kleinen St&uuml;ckes stattf&auml;nde, das ich
+ihm im Fr&uuml;hling &uuml;bersandt hatte und bei der ich
+keineswegs fehlen d&uuml;rfte. Besonderes Vergn&uuml;gen
+versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in
+dem St&uuml;ck besch&auml;ftigt waren und die es sich jetzt schon
+nicht nehmen lie&szlig;en, auch au&szlig;erhalb der Probezeit in
+ihren zierlichen Kost&uuml;men umherzulaufen und auf
+dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle &#8211; so schrieb
+er weiter &#8211; sei nach einer Reihe von Zuf&auml;lligkeiten
+an seinen Neffen, Herrn Franz von Umprecht, &uuml;bergegangen,
+der &#8211; wie ich mich gewi&szlig; noch erinnere &#8211;
+im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern
+mitgewirkt habe, der aber nun auch als Schauspieler
+ein &uuml;berraschendes Talent erweise.</p>
+
+<p>Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am
+Tage der Vorstellung im Schlosse an, wo mich der
+Freiherr und seine Frau freundlich empfingen. Auch
+andere Bekannte hatte ich zu begr&uuml;&szlig;en: den pensionierten
+Hofschauspieler, die Gr&auml;fin Saima mit
+<a class="page" name="Page_92" id="Page_92" title="92"></a>Tochter, Herrn von Umprecht und seine sch&ouml;ne Frau;
+sowie die vierzehnj&auml;hrige Tochter des F&ouml;rsters, die zu
+meinem St&uuml;cke den Prolog sprechen sollte. F&uuml;r den
+Nachmittag wurde gro&szlig;e Gesellschaft erwartet und
+abends bei der Vorstellung sollten mehr als hundert
+Zuschauer anwesend sein, nicht nur pers&ouml;nliche G&auml;ste
+des Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend
+ringsum, denen heute, wie schon &ouml;fter, der Zugang
+zu dem B&uuml;hnenplatz freistand. &Uuml;berdies war diesmal
+auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern
+einer Bozener Kapelle und einigen Dilettanten
+bestehend, die eine Ouvert&uuml;re von Weber
+und &uuml;berdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren
+sollten, welch letztere der Freiherr selbst komponiert
+hatte.</p>
+
+<p>Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht
+schien mir etwas stiller als die anderen. Anfangs
+hatte ich mich seiner kaum entsinnen k&ouml;nnen, und es
+fiel mir auf, da&szlig; er mich sehr oft, manchmal mit
+Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je
+das Wort an mich zu richten. Allm&auml;hlich wurde mir
+der Ausdruck seines Gesichtes bekannter, und pl&ouml;tzlich
+erinnerte ich mich, da&szlig; er voriges Jahr in einem der
+lebenden Bilder mit aufgest&uuml;tzten Armen in M&ouml;nchstracht
+vor einem Schachbrett gesessen war. Ich fragte
+<a class="page" name="Page_93" id="Page_93" title="93"></a>ihn, ob ich mich nicht irrte. Er wurde beinahe verlegen,
+als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete f&uuml;r
+ihn und machte dann eine l&auml;chelnde Bemerkung &uuml;ber
+das neuentdeckte schauspielerische Talent seines Neffen.
+Da lachte Herr von Umprecht in einer ziemlich sonderbaren
+Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen
+Blick zu mir her&uuml;ber, der eine Art von Einverst&auml;ndnis
+zwischen uns beiden auszudr&uuml;cken schien und den ich
+mir durchaus nicht erkl&auml;ren konnte. Aber von diesem
+Augenblick an vermied er es wieder, mich anzusehen.</p>
+
+
+<h3 class="subsection">2</h3>
+
+<p class="newsubsection">Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer
+zur&uuml;ckgezogen. Da stand ich wieder am offenen
+Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan, und
+freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das
+sonnengl&auml;nzende Tal, das, eng zu meinen F&uuml;&szlig;en,
+allm&auml;hlich sich dehnte und in der Ferne sich v&ouml;llig
+aufschlo&szlig;, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen.</p>
+
+<p>Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von
+Umprecht trat ein, blieb an der T&uuml;r stehen und sagte
+mit einiger Befangenheit: &raquo;Ich bitte um Verzeihung,
+wenn ich Sie st&ouml;re.&laquo; Dann trat er n&auml;her und fuhr
+fort: &raquo;Aber sobald Sie mir eine Viertelstunde Geh&ouml;r
+<a class="page" name="Page_94" id="Page_94" title="94"></a>geschenkt haben, davon bin ich &uuml;berzeugt, werden Sie
+meinen Besuch f&uuml;r gen&uuml;gend entschuldigt halten.&laquo;</p>
+
+<p>Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er
+achtete nicht darauf, sondern fuhr mit Lebhaftigkeit
+fort: &raquo;Ich bin n&auml;mlich in der seltsamsten Art Ihr
+Schuldner geworden und f&uuml;hle mich verpflichtet,
+Ihnen zu danken.&laquo;</p>
+
+<p>Da mir nat&uuml;rlich nichts anderes beifallen konnte,
+als da&szlig; sich diese Worte des Herrn von Umprecht auf
+seine Rolle bez&ouml;gen und sie mir allzuh&ouml;flich schienen,
+so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht unterbrach
+mich sofort: &raquo;Sie k&ouml;nnen nicht wissen, wie
+meine Worte gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich
+anzuh&ouml;ren?&laquo; Er setzte sich auf das Fensterbrett,
+kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit
+so ruhig als m&ouml;glich scheinend, begann er: &raquo;Ich bin
+jetzt Gutsbesitzer, wie Sie vielleicht wissen, bin aber
+fr&uuml;her Offizier gewesen. Und zu jener Zeit, vor zehn
+Jahren &#8211; <em class="gesperrt">heute</em> vor zehn Jahren &#8211; begegnete mir
+das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten
+ich gewisserma&szlig;en bis heute gelebt habe und das heute
+durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun seinen Abschlu&szlig;
+findet. Zwischen uns beiden besteht n&auml;mlich ein
+d&auml;monischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich
+so wenig werden aufkl&auml;ren k&ouml;nnen wie ich; aber Sie
+<a class="page" name="Page_95" id="Page_95" title="95"></a>sollen wenigstens von seinem Vorhandensein erfahren.
+&#8211; Mein Regiment lag damals in einem &ouml;den polnischen
+Nest. An Zerstreuungen gab es au&szlig;er dem
+Dienst, der nicht immer anstrengend genug war, nur
+Trunk und Spiel. &Uuml;berdies hatte man die M&ouml;glichkeit
+vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu m&uuml;ssen, und
+nicht alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser
+trostlosen Aussicht mit Fassung zu tragen. Einer
+meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat
+unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer
+Kamerad, fr&uuml;her der liebensw&uuml;rdigste Offizier, fing
+pl&ouml;tzlich an, ein arger Trinker zu werden, wurde unmanierlich,
+aufbrausend, nahezu unzurechnungsf&auml;hig
+und hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten,
+der ihn seine Charge kostete. Der Hauptmann meiner
+Kompanie war verheiratet und, ich wei&szlig; nicht, ob
+mit oder ohne Grund, so eifers&uuml;chtig, da&szlig; er seine Frau
+eines Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb
+r&auml;tselhafterweise heil und gesund; der Mann starb im
+Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin ein
+sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete
+sich pl&ouml;tzlich ein, Philosophie zu verstehen, studierte
+Kant und Hegel und lernte ganze Partien aus deren
+Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich
+anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und
+<a class="page" name="Page_96" id="Page_96" title="96"></a>zwar in einer so ungeheuerlichen Weise, da&szlig; ich an
+manchen Nachmittagen, wenn ich auf meinem Bette
+lag, f&uuml;rchtete, verr&uuml;ckt zu werden. Unsere Kaserne
+lag au&szlig;erhalb des Dorfes, das aus h&ouml;chstens drei&szlig;ig
+verstreuten H&uuml;tten bestand; die n&auml;chste Stadt, eine
+gute Reitstunde entfernt, war schmierig, widerw&auml;rtig,
+stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten
+wir manchmal mit ihnen zu tun &#8211; der Hotelier war
+ein Jude, der Cafetier, der Schuster desgleichen. Da&szlig;
+wir uns m&ouml;glichst beleidigend gegen sie benahmen,
+das k&ouml;nnen Sie sich denken. Wir waren besonders
+gereizt gegen dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem
+Regiment als Major zugeteilt war, den Gru&szlig; der
+Juden &#8211; ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, wei&szlig;
+ich nicht &#8211; mit ausgesuchter H&ouml;flichkeit erwiderte
+und &uuml;berdies mit auffallender Absichtlichkeit unseren
+Regimentsarzt protegierte, der ganz offenbar von
+Juden abstammte. Das w&uuml;rde ich Ihnen nat&uuml;rlich
+nicht erz&auml;hlen, wenn nicht gerade diese Laune des
+Prinzen mich mit demjenigen Menschen zusammengef&uuml;hrt
+h&auml;tte, der in so geheimnisvoller Weise die
+Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen
+berufen war. Es war ein Taschenspieler, und zwar der
+Sohn eines Branntweinjuden aus dem benachbarten
+polnischen St&auml;dtchen. Er war als junger Bursche in
+<a class="page" name="Page_97" id="Page_97" title="97"></a>ein Gesch&auml;ft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen
+und hatte einmal irgend jemandem einige Kartenkunstst&uuml;cke
+abgelernt. Er bildete sich auf eigene Faust
+weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien
+an und brachte es allm&auml;hlich so weit, da&szlig; er in
+der Welt umherziehen und sich auf Variet&eacute;b&uuml;hnen
+oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im
+Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die
+Eltern zu besuchen. Dort trat er nie &ouml;ffentlich auf,
+und so sah ich ihn zuerst auf der Stra&szlig;e, wo er mir
+durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er
+war ein kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals
+etwa drei&szlig;ig Jahre alt sein mochte, mit einer vollkommen
+l&auml;cherlichen Eleganz gekleidet, die zur Jahreszeit
+gar nicht pa&szlig;te: er spazierte in einem schwarzen
+Gehrock und mit geb&uuml;geltem Zylinder herum und
+trug Westen vom herrlichsten Brokat; bei starkem
+Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der
+Nase.</p>
+
+<p>Einmal sa&szlig;en wir unser f&uuml;nfzehn oder sechzehn
+nach dem Abendessen im Kasino an unserem langen
+Tisch wie gew&ouml;hnlich. Es war eine schw&uuml;le Nacht,
+und die Fenster standen offen. Einige Kameraden
+hatten zu spielen begonnen, andere lehnten am Fenster
+und plauderten, wieder andere tranken und rauchten
+<a class="page" name="Page_98" id="Page_98" title="98"></a>schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und
+meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren
+zuerst einigerma&szlig;en erstaunt. Aber ohne weiteres
+abzuwarten, trat der Gemeldete in guter Haltung ein
+und sprach in leichtem Jargon einige einleitende
+Worte, mit denen er sich f&uuml;r die an ihn ergangene
+Einladung bedankte. Er wandte sich dabei an den
+Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm &#8211; nat&uuml;rlich
+ausschlie&szlig;lich, um uns zu &auml;rgern &#8211; die Hand sch&uuml;ttelte.
+Der Taschenspieler nahm das wie selbstverst&auml;ndlich
+hin und bemerkte dann, er werde zuerst einige Kartenkunstst&uuml;cke
+zeigen, um sich hierauf im Magnetismus
+und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte
+kaum zu Ende gesprochen, als einige unserer Herren,
+die in einer Ecke beim Kartenspiel sa&szlig;en, merkten, da&szlig;
+ihnen die Figuren fehlten: auf einen Wink des Zauberers
+kamen sie aber durch das ge&ouml;ffnete Fenster
+hereingeflogen. Auch die Kunstst&uuml;cke, die er folgen
+lie&szlig;, unterhielten uns sehr und &uuml;bertrafen so ziemlich
+alles, was ich auf diesem Gebiete gesehen hatte.
+Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen
+Experimente, die er dann vollf&uuml;hrte. Nicht ohne
+Grauen sahen wir alle zu, wie der philosophische
+Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des Zauberers
+gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die
+<a class="page" name="Page_99" id="Page_99" title="99"></a>glatte Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben
+knapp am Rand um das ganze Viereck herumeilte
+und sich dann in den Hof hinabgleiten lie&szlig;. Als er
+wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand,
+sagte der Oberst zu dem Zauberer: &raquo;Sie, wenn er
+sich den Hals gebrochen h&auml;tte, ich versichere Sie, Sie
+w&auml;ren nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.&laquo;
+Nie werde ich den Blick voll Verachtung vergessen,
+mit dem der Jude diese Bemerkung wortlos erwiderte.
+Dann sagte er langsam: &raquo;Soll ich Ihnen aus der
+Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig
+diese Kaserne verlassen werden?&laquo; Ich wei&szlig; nicht, was
+der Oberst oder wir anderen ihm auf diese verwegene
+Bemerkung sonst entgegnet h&auml;tten &#8211; aber die allgemeine
+Stimmung war schon so wirr und erregt,
+da&szlig; sich keiner wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler
+die Hand hinreichte und, dessen Jargon nachahmend,
+sagte: &raquo;Nu, lesen Sie.&laquo; Dies alles ging im
+Hof vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend
+mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter an
+der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des Obersten
+ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. &raquo;Siehst
+du genug, Jud?&laquo; fragte ein Oberleutnant, der ziemlich
+betrunken war. Der Gefragte sah sich fl&uuml;chtig um
+und sagte ernst: &raquo;Mein K&uuml;nstlername ist Marco Polo.&laquo;
+<a class="page" name="Page_100" id="Page_100" title="100"></a>Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter
+und sagte: &raquo;Mein Freund Marco Polo hat scharfe
+Augen.&laquo; &#8211; &raquo;Nun, was sehen Sie?&laquo; fragte der Oberst
+h&ouml;flicher. &raquo;Mu&szlig; ich reden?&laquo; fragte Marco Polo.
+&raquo;Wir k&ouml;nnen Sie nicht zwingen,&laquo; sagte der Prinz.
+&raquo;Reden Sie!&laquo; rief der Oberst. &raquo;Ich m&ouml;cht lieber
+nicht reden,&laquo; erwiderte Marco Polo. Der Oberst
+lachte laut. &raquo;Nur heraus, es wird nicht so arg sein.
+Und wenn es arg ist, mu&szlig; es auch noch nicht wahr
+sein.&laquo; &#8211; &raquo;Es ist sehr arg,&laquo; sagte der Zauberer, &raquo;und
+wahr ist es auch.&laquo; Alle schwiegen. &raquo;Nun?&laquo; fragte
+der Oberst. &raquo;Von K&auml;lte werden Sie nichts mehr
+zu leiden haben,&laquo; erwiderte Marco Polo. &raquo;Wie?&laquo;
+rief der Oberst aus, &raquo;kommt unser Regiment also
+endlich nach Riva?&laquo; &#8211; &raquo;Vom Regiment les&#8217; ich nichts,
+Herr Oberst. Ich seh nur, da&szlig; sie im Herbst sein werden
+ein toter Mann.&laquo; Der Oberst lachte, aber alle anderen
+schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war, als ob
+der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden
+w&auml;re. Pl&ouml;tzlich lachte irgendeiner absichtlich sehr laut,
+andere taten ihm nach, und l&auml;rmend und lustig ging
+es zur&uuml;ck ins Kasino. &raquo;Nun,&laquo; rief der Oberst, &raquo;mit
+mir w&auml;r&#8217;s in Ordnung. Ist keiner von den anderen
+Herren neugierig?&laquo; Einer rief wie zum Scherz:
+&raquo;Nein, wir w&uuml;nschen nichts zu erfahren.&laquo; Ein anderer
+<a class="page" name="Page_101" id="Page_101" title="101"></a>fand pl&ouml;tzlich, da&szlig; man gegen diese Art, sich das
+Schicksal vorhersagen zu lassen, aus religi&ouml;sen Gr&uuml;nden
+eingenommen sein m&uuml;&szlig;te, und ein junger Leutnant
+erkl&auml;rte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo auf
+Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit
+einem unserer &auml;lteren Herren rauchend in einer Ecke
+stehen und h&ouml;rte ihn sagen: &raquo;Wo f&auml;ngt das Wunder
+an?&laquo; Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich
+eben zum Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne
+da&szlig; es jemand h&ouml;rte. &raquo;Prophezeien Sie mir.&laquo; Er
+griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann sagte
+er: &raquo;Hier sieht man schlecht.&laquo; Ich merkte, da&szlig; die &Ouml;llampen
+zu flackern begonnen hatten und da&szlig; die
+Linien meiner Hand zu zittern schienen. &raquo;Kommen
+Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber
+bei Mondschein.&laquo; Er hielt mich an der Hand, und ich
+folgte ihm durch die offene T&uuml;r ins Freie.</p>
+
+<p>Mir kam pl&ouml;tzlich ein sonderbarer Gedanke. &raquo;H&ouml;ren
+Sie, Marco Polo,&laquo; sagte ich, &raquo;wenn Sie nichts anderes
+k&ouml;nnen als das, was Sie eben an unserem Herrn
+Oberst gezeigt haben, dann lassen wir&#8217;s lieber.&laquo; Ohne
+weiteres lie&szlig; der Zauberer meine Hand los und
+l&auml;chelte. &raquo;Der Herr Leutnant haben Angst.&laquo; Ich
+wandte mich rasch um, ob uns niemand geh&ouml;rt h&auml;tte;
+aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten
+<a class="page" name="Page_102" id="Page_102" title="102"></a>und befanden uns auf der Landstra&szlig;e, die der Stadt
+zuf&uuml;hrte. &raquo;Ich w&uuml;nsche etwas Bestimmteres zu
+wissen,&laquo; sagte ich, &raquo;das ist es. Worte lassen sich immer
+in verschiedener Weise auslegen.&laquo; Marco Polo sah
+mich an. &raquo;Was w&uuml;nschen der Herr Leutnant?...
+Vielleicht das Bild von der k&uuml;nftigen Frau Gemahlin?&laquo;
+&#8211; &raquo;K&ouml;nnten Sie das?&laquo; Marco Polo zuckte die Achseln.
+&raquo;Es k&ouml;nnte sein ... es w&auml;r m&ouml;glich ...&laquo; &#8211; &raquo;Aber
+das will ich nicht,&laquo; unterbrach ich ihn. &raquo;Ich m&ouml;chte
+wissen, was sp&auml;ter einmal, zum Beispiel in zehn
+Jahren, mit mir los sein wird.&laquo; Marco Polo sch&uuml;ttelte
+den Kopf. &raquo;Das kann ich nicht sagen ... aber was
+anderes kann ich vielleicht.&laquo; &#8211; &raquo;Was?&laquo; &#8211; &raquo;Irgendeinen
+Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem k&uuml;nftigen
+Leben k&ouml;nnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.&laquo; Ich
+verstand ihn nicht gleich. &raquo;Wie meinen Sie das?&laquo; &#8211;
+&raquo;So mein ich das: ich kann einen Moment aus
+Ihrem k&uuml;nftigen Leben hineinzaubern in die Welt,
+mitten in die Gegend, wo wir gerade stehen.&laquo; &#8211; &raquo;Wie?&laquo;
+&#8211; &raquo;Der Herr Leutnant m&uuml;ssen mir nur sagen, was
+f&uuml;r einen.&laquo; Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war
+h&ouml;chst gespannt. &raquo;Gut,&laquo; sagte ich, &raquo;wenn Sie das
+k&ouml;nnen, so will ich sehen, was heut in zehn Jahren
+in derselben Sekunde mit mir geschehen wird ...
+Verstehen Sie mich, Marco Polo?&laquo; &#8211; &raquo;Gewi&szlig;, Herr
+<a class="page" name="Page_103" id="Page_103" title="103"></a>Leutnant,&laquo; sagte Marco Polo und sah mich starr an.
+Und schon war er fort ... aber auch die Kaserne war
+fort, die ich eben noch im Mondschein hatte gl&auml;nzen
+sehen &#8211; fort die armen H&uuml;tten, die in der Ebene
+verstreut und mondbegl&auml;nzt gelegen waren &#8211; und
+ich sah mich selbst, wie man sich manchmal im Traume
+selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit
+einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn,
+auf einer Bahre hingestreckt, mitten auf einer Wiese
+&#8211; an meiner Seite kniend eine sch&ouml;ne Frau mit
+rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben
+und ein M&auml;dchen neben mir, dunklen Wald im
+Hintergrund und zwei Jagdleute mit Fackeln in der
+N&auml;he ... Sie staunen &#8211; nicht wahr, Sie staunen?&laquo;</p>
+
+<p>Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier
+schilderte, war genau das Bild, mit welchem mein
+St&uuml;ck heute abend um zehn Uhr schlie&szlig;en und in dem
+er den sterbenden Helden spielen sollte. &raquo;Sie zweifeln,&laquo;
+fuhr Herr von Umprecht fort, &raquo;und ich bin fern
+davon, es Ihnen &uuml;bel zu nehmen. Aber mit Ihrem
+Zweifel soll es gleich ein Ende haben.&laquo;</p>
+
+<p>Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und
+zog ein verschlossenes Kuwert heraus. &raquo;Bitte, sehen
+Sie, was auf der R&uuml;ckseite steht.&laquo; Ich las laut: &raquo;Notariell
+verschlossen am 14. Januar 1859, zu er&ouml;ffnen
+<a class="page" name="Page_104" id="Page_104" title="104"></a>am 9. September 1868.&laquo; Darunter stand die Namenszeichnung
+des mir pers&ouml;nlich wohlbekannten Notars
+Doktor Artiner in Wien.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist heute,&laquo; sagte Herr von Umprecht. &raquo;Und
+heute sind es eben zehn Jahre, da&szlig; mir das r&auml;tselhafte
+Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das sich
+nun auf diese Weise l&ouml;st, ohne sich aufzukl&auml;ren. Denn
+von Jahr zu Jahr, als triebe ein launisches Schicksal
+sein Spiel mit mir, schwankten die Erf&uuml;llungsm&ouml;glichkeiten
+f&uuml;r jene Prophezeiung in der seltsamsten
+Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit
+zu werden, verschwanden in nichts, wurden
+zu unerbittlicher Gewi&szlig;heit, verflatterten, kamen
+wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem
+Berichte zur&uuml;ckkommen. Die Erscheinung selbst hatte
+gewi&szlig; nicht l&auml;nger gedauert als einen Augenblick;
+denn noch klang von der Kaserne her das gleiche laute
+Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich
+geh&ouml;rt hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war.
+Und nun stand auch Marco Polo wieder vor mir,
+mit einem L&auml;cheln um die Lippen, von dem ich nicht
+sagen kann, ob es schmerzlich oder h&ouml;hnisch sein sollte,
+nahm den Zylinder ab, sagte: &raquo;Guten Abend, Herr
+Leutnant, ich hoffe, Sie sind zufrieden gewesen,&laquo;
+wandte sich um und ging langsam auf der Landstra&szlig;e
+<a class="page" name="Page_105" id="Page_105" title="105"></a>vorw&auml;rts in der Richtung der Stadt. Er ist &uuml;brigens
+am n&auml;chsten Tage abgereist.</p>
+
+<p>Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder
+zuging, war, da&szlig; es sich um eine Geistererscheinung
+gehandelt haben mu&szlig;te, die Marco Polo, vielleicht
+von einem unbekannten Gehilfen unterst&uuml;tzt, mittels
+irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande
+gewesen war. Als ich durch den Hof kam,
+sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer
+in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer
+lehnen. Man hatte seiner offenbar vollkommen
+vergessen. Die anderen h&ouml;rte ich drin in der h&ouml;chsten
+Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten
+beim Arm, er wachte sofort auf, war nicht im geringsten
+verwundert und konnte sich nur die Erregung nicht
+erkl&auml;ren, in welcher sich alle Herren des Regiments
+befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer
+Art von Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung,
+die sich &uuml;ber die Seltsamkeiten, deren Zeugen
+wir gewesen, entwickelt hatte, und redete wohl nicht
+kl&uuml;ger als die anderen. Pl&ouml;tzlich schrie der Oberst:
+&raquo;Nun, meine Herren, ich wette, da&szlig; ich noch das
+n&auml;chste Fr&uuml;hjahr erlebe! F&uuml;nfundvierzig zu eins!&laquo;
+Und er wandte sich zu einem unserer Herren, einem
+Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler
+<a class="page" name="Page_106" id="Page_106" title="106"></a>und Wetter geno&szlig;. &raquo;Nichts zu machen?&laquo; Obzwar es
+klar war, da&szlig; der Angeredete der Versuchung schwer
+widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden,
+eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem
+selbst abzuschlie&szlig;en, und so schwieg er l&auml;chelnd. Wahrscheinlich
+hat er es bedauert. Denn schon nach vierzehn
+Tagen, am zweiten Morgen der gro&szlig;en Kaiserman&ouml;ver,
+st&uuml;rzte unser Oberst vom Pferde und blieb
+auf der Stelle tot. Und bei dieser Gelegenheit merkten
+wir alle, da&szlig; wir es gar nicht anders erwartet hatten.
+Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen
+Unruhe an die n&auml;chtliche Prophezeiung zu denken,
+von der ich in einer sonderbaren Scheu niemandem
+Mitteilung gemacht hatte. Erst zu Weihnachten, anl&auml;&szlig;lich
+einer Urlaubsreise nach Wien, er&ouml;ffnete ich
+mich einem Kameraden, einem gewissen Friedrich
+von Gulant &#8211; Sie haben vielleicht von ihm geh&ouml;rt, er
+hat h&uuml;bsche Verse gemacht und ist sehr jung gestorben
+... Nun, der war es, der mit mir zusammen das
+Schema entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen
+finden werden. Er war n&auml;mlich der Ansicht,
+da&szlig; solche Vorf&auml;lle f&uuml;r die Wissenschaft nicht verloren
+gehen d&uuml;rften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen
+als wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm
+bin ich bei Doktor Artiner gewesen, vor dessen Augen
+<a class="page" name="Page_107" id="Page_107" title="107"></a>das Schema in diesem Kuwert verschlossen wurde.
+In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt,
+und gestern erst ist es, meinem Wunsche gem&auml;&szlig;, mir
+zugestellt worden. Ich will es gestehen: der Ernst,
+mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich
+anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht
+mehr sah und besonders, als er kurz darauf starb, fing
+die ganze Geschichte an, mir sehr l&auml;cherlich vorzukommen.
+Vor allem war es mir klar, da&szlig; ich mein
+Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in
+der Welt konnte mich dazu zwingen, am 9. September
+1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen Vollbart
+auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft
+konnte ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine
+Frau mit roten Haaren zu heiraten und Kinder zu
+bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht ausweichen
+konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von
+dem mir die Narbe auf der Stirn zur&uuml;ckbleiben konnte.
+Ich war also f&uuml;rs erste beruhigt. &#8211; Ein Jahr nach
+jener Weissagung heiratete ich Fr&auml;ulein von Heimsal,
+meine jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den
+Dienst und widmete mich der Landwirtschaft. Ich besichtigte
+verschiedene kleinere G&uuml;ter und &#8211; so komisch es
+klingen mag &#8211; ich achtete darauf, da&szlig; sich wom&ouml;glich
+innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die
+<a class="page" name="Page_108" id="Page_108" title="108"></a>dem Rasenplatz jenes Traumes (wie ich den Inhalt
+jener Erscheinung bei mir zu nennen liebte) gleichen
+k&ouml;nnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschlie&szlig;en,
+als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch
+eine Besitzung in K&auml;rnten mit einer sch&ouml;nen Jagd
+zufiel. Beim ersten Durchwandern des neuen Gebietes
+gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald
+begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigent&uuml;mlicher Art
+der &Ouml;rtlichkeit zu gleichen schien, vor der mich zu h&uuml;ten
+ich vielleicht allen Anla&szlig; hatte. Ich erschrak ein wenig.
+Meiner Frau hatte ich von der Prophezeiung nichts
+erz&auml;hlt; sie ist so abergl&auml;ubisch, da&szlig; ich ihr mit meinem
+Gest&auml;ndnis gewi&szlig; das ganze Leben bis zum heutigen
+Tage&laquo; &#8211; er l&auml;chelte wie befreit &#8211; &raquo;vergiftet h&auml;tte.
+So konnte ich ihr nat&uuml;rlich auch meine Bedenken nicht
+mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit der
+&Uuml;berlegung, da&szlig; ich ja keineswegs den September
+1868 auf meinem Gute zubringen m&uuml;&szlig;te. &#8211; Im
+Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in
+seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen
+Z&uuml;gen &Auml;hnlichkeit mit den Z&uuml;gen des Knaben aus
+dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich zu verwischen,
+bald wieder sprach sie sich deutlicher aus &#8211;
+und heute darf ich mir ja selbst gestehen, da&szlig; der
+Knabe, der heute abends um zehn an meiner Bahre
+<a class="page" name="Page_109" id="Page_109" title="109"></a>stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar
+gleicht. &#8211; Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete
+es sich vor drei Jahren, da&szlig; die verwitwete Schwester
+meiner Frau, die bisher in Amerika gelebt hatte, starb
+und ein T&ouml;chterchen hinterlie&szlig;. Auf Bitten meiner
+Frau fuhr ich &uuml;ber das Meer, holte das M&auml;dchen ab,
+um es bei uns im Hause aufzunehmen. Als ich es
+zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu merken, da&szlig; es
+dem M&auml;dchen aus dem Traume vollkommen gliche.
+Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, das Kind in
+dem fremden Lande bei fremden Leuten zu lassen.
+Nat&uuml;rlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich wieder
+von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause
+auf. Wieder beruhigte ich mich vollkommen, trotz
+der zunehmenden &Auml;hnlichkeit der Kinder mit den
+Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich
+bildete mir ein, da&szlig; die Erinnerung an die Kindergesichter
+des Traumes mich doch vielleicht tr&uuml;gen
+mochte. Mein Leben flo&szlig; eine Zeitlang in vollkommener
+Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgeh&ouml;rt,
+an jenen sonderbaren Abend in dem polnischen
+Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine
+neue Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise
+ersch&uuml;ttert wurde. Ich hatte auf ein paar Monate
+verreisen m&uuml;ssen; als ich zur&uuml;ckkam, trat mir meine
+<a class="page" name="Page_110" id="Page_110" title="110"></a>Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre &Auml;hnlichkeit
+mit der Frau des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht
+gesehen hatte, schien mir vollst&auml;ndig. Ich fand es
+f&uuml;r gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck des
+Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer
+heftiger, denn pl&ouml;tzlich kam mir ein an Wahnsinn
+grenzender Einfall: wenn ich mich von meiner Frau
+und den Kindern trennte, so m&uuml;&szlig;te ja all die Gefahr
+schwinden, und ich h&auml;tte das Schicksal zum Narren
+gehalten. Meine Frau weinte, sank wie gebrochen zu
+Boden, bat mich um Verzeihung und erkl&auml;rte mir den
+Grund ihrer Ver&auml;nderung. Vor einem Jahre, anl&auml;&szlig;lich
+einer Reise nach M&uuml;nchen, war ich in der
+Kunstausstellung von dem Bildnis einer rothaarigen
+Frau besonders entz&uuml;ckt gewesen, und meine Frau
+hatte schon damals den Plan gefa&szlig;t, sich bei irgendeiner
+Gelegenheit diesem Bildnis dadurch &auml;hnlich zu machen,
+da&szlig; sie sich die Haare f&auml;rben lie&szlig;. Ich beschwor sie
+nat&uuml;rlich, ihrem Haar m&ouml;glichst bald die nat&uuml;rliche
+dunkle Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen
+war, schien alles wieder gut zu sein. Sah ich nicht
+deutlich, da&szlig; ich mein Schicksal nach wie vor in meiner
+Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen,
+auf nat&uuml;rliche Weise zu erkl&auml;ren?... Hatten
+nicht tausend andere G&uuml;ter mit Wiesen und Wald
+<a class="page" name="Page_111" id="Page_111" title="111"></a>und Frau und Kinder?... Und das einzige, was
+vielleicht Abergl&auml;ubische schrecken durfte, stand noch
+aus &#8211; bis zum heurigen Winter: die Narbe, die Sie
+nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich bin
+nicht mutlos &#8211; erlauben Sie mir, da&szlig; ich Ihnen das
+sage; ich habe mich als Offizier zweimal geschlagen
+und unter recht gef&auml;hrlichen Bedingungen &#8211; auch
+vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als
+ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im
+vorigen Jahre aus irgendeinem l&auml;cherlichen Grund
+&#8211; wegen eines nicht ganz h&ouml;flichen Gru&szlig;es &#8211; von
+einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es
+vorgezogen&laquo; &#8211; Herr von Umprecht err&ouml;tete leicht &#8211;
+&raquo;mich zu entschuldigen. Die Sache wurde nat&uuml;rlich
+in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich wei&szlig; ja doch
+ganz bestimmt, da&szlig; ich mich auch damals geschlagen
+h&auml;tte, w&auml;re nicht pl&ouml;tzlich eine wahnwitzige Angst
+&uuml;ber mich gekommen, da&szlig; mein Gegner mir eine
+Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal
+damit einen neuen Trumpf in die Hand spielen
+k&ouml;nnte ... Aber Sie sehen, es half mir nichts: die
+Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier
+verwundet wurde, war vielleicht derjenige innerhalb
+der ganzen zehn Jahre, der mich am tiefsten zum
+Bewu&szlig;tsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war
+<a class="page" name="Page_112" id="Page_112" title="112"></a>heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder
+drei anderen Personen, die mir vollkommen unbekannt
+waren, in der Eisenbahn zwischen Klagenfurt und
+Villach. Pl&ouml;tzlich klirren die Fensterscheiben, und ich
+f&uuml;hle einen Schmerz an der Stirn; zugleich h&ouml;re ich,
+da&szlig; etwas Hartes zu Boden f&auml;llt; ich greife zuerst nach
+der schmerzenden Stelle &#8211; sie blutet; dann b&uuml;cke
+ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom
+Fu&szlig;boden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren.
+&raquo;Ist was geschehen?&laquo; ruft einer. Man merkt, da&szlig; ich
+blute, und bem&uuml;ht sich um mich. Ein Herr aber &#8211; ich
+seh es ganz deutlich &#8211; ist in die Ecke wie zur&uuml;ckgesunken.
+In der n&auml;chsten Haltestelle bringt man
+Wasser, der Bahnarzt legt mir einen notd&uuml;rftigen
+Verband an, aber ich f&uuml;rchte nat&uuml;rlich nicht, da&szlig; ich
+an der Wunde sterben k&ouml;nnte: ich wei&szlig; ja, da&szlig; es
+eine Narbe werden mu&szlig;. Ein Gespr&auml;ch im Waggon
+hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat
+beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen
+Bubenstreich handle; der Herr in der Ecke schweigt und
+starrt vor sich hin. In Villach steige ich aus. Pl&ouml;tzlich
+ist der Mann an meiner Seite und sagt: &raquo;Es galt
+mir.&laquo; Eh ich antworten, ja nur mich besinnen kann,
+ist er verschwunden; ich habe nie erfahren k&ouml;nnen,
+wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht
+<a class="page" name="Page_113" id="Page_113" title="113"></a>... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt
+glaubte von einem beleidigten Gatten oder Bruder,
+und den ich m&ouml;glicherweise gerettet habe, da eben mir
+die Narbe bestimmt war ... wer kann es wissen?...
+Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn
+an derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume
+gesehen hatte. Und mir ward es immer klarer, da&szlig;
+ich mit irgendeiner unbekannten h&ouml;hnischen Macht
+in einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich
+sah dem Tag, wo das letzte in Erf&uuml;llung gehen sollte,
+mit wachsender Unruhe entgegen.</p>
+
+<p>Im Fr&uuml;hling erhielten wir die Einladung meines
+Onkels. Ich war fest entschlossen, ihr nicht zu folgen,
+denn ohne da&szlig; mir ein deutliches Bild in Erinnerung
+gekommen w&auml;re, schien es mir doch m&ouml;glich, da&szlig;
+gerade auf seinem Gut hier die verruchte Stelle zu
+finden w&auml;re. Meine Frau h&auml;tte aber eine Ablehnung
+nicht verstanden, und so entschlo&szlig; ich mich doch, mit ihr
+und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in
+der bestimmten Absicht, sobald als m&ouml;glich das Schlo&szlig;
+wieder zu verlassen und weiter in den S&uuml;den, nach
+Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der
+ersten Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespr&auml;ch
+auf Ihr St&uuml;ck, mein Onkel sprach von den kleinen
+Kinderrollen, die darin enthalten w&auml;ren, und bat mich,
+<a class="page" name="Page_114" id="Page_114" title="114"></a>meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts
+dagegen. Es war damals bestimmt, da&szlig; der Held von
+einem Berufsschauspieler dargestellt werden sollte.
+Nach einigen Tagen packte mich die Angst, da&szlig; ich
+gef&auml;hrlich erkranken und nicht w&uuml;rde abreisen k&ouml;nnen.
+So erkl&auml;rte ich denn eines Abends, da&szlig; ich am n&auml;chsten
+Tage das Schlo&szlig; auf einige Zeit zu verlassen und
+Seeb&auml;der zu nehmen ged&auml;chte. Ich mu&szlig;te versprechen,
+Anfang September wieder zur&uuml;ck zu sein. Am selben
+Abend kam ein Brief des Schauspielers, der aus
+irgendwelchen gleichg&uuml;ltigen Gr&uuml;nden dem Freiherrn
+seine Rolle zur&uuml;ckstellte. Mein Onkel war sehr &auml;rgerlich.
+Er bat mich, das St&uuml;ck zu lesen &#8211; vielleicht
+k&ouml;nnte ich ihm unter unseren Bekannten einen nennen,
+der geeignet w&auml;re, die Rolle darzustellen. So nahm
+ich denn das St&uuml;ck auf mein Zimmer mit und las es.
+Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir
+vorging, als ich zu dem Schlusse kam und hier Wort
+f&uuml;r Wort die Situation aufgezeichnet fand, die mir
+f&uuml;r den 9. September dieses Jahres prophezeit
+worden war. Ich konnte den Morgen nicht erwarten,
+um meinem Onkel zu sagen, da&szlig; ich die Rolle spielen
+wollte. Ich f&uuml;rchtete, da&szlig; er Einwendungen machen
+k&ouml;nnte; denn seit ich das St&uuml;ck gelesen, kam ich mir
+vor wie in sicherer Hut, und wenn mir die M&ouml;glichkeit
+<a class="page" name="Page_115" id="Page_115" title="115"></a>entging, in Ihrem St&uuml;ck zu spielen, so war ich wieder
+jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel
+war gleich einverstanden, und von nun an nahm alles
+seinen einfachen und guten Gang. Wir probieren seit
+einigen Wochen Tag f&uuml;r Tag, ich habe die Situation,
+die mir heute bevorsteht, schon f&uuml;nfzehn- oder zwanzigmal
+durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge
+Komtesse Saima mit ihren sch&ouml;nen roten Haaren,
+die H&auml;nde vor dem Antlitz, kniet vor mir, und die
+Kinder stehen an meiner Seite.&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend Herr von Umprecht diese Worte sprach,
+fielen meine Augen wieder auf das Kuwert, das noch
+immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von
+Umprecht l&auml;chelte. &raquo;Wahrhaftig, den Beweis bin ich
+Ihnen noch schuldig,&laquo; sagte er und &ouml;ffnete die Siegel.
+Ein zusammengefaltetes Papier lag zutage. Umprecht
+entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor
+mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener
+Situationsplan zu der Schlu&szlig;szene des
+St&uuml;ckes, Hintergrund und Seiten waren schematisch
+aufgezeichnet und mit der Bezeichnung &raquo;Wald&laquo;
+versehen; ein Strich mit einer m&auml;nnlichen Figur war
+etwa in der Mitte des Planes eingetragen, dar&uuml;ber
+stand: &raquo;Bahre&laquo; ... Bei den anderen schematischen
+Figuren stand in kleinen Buchstaben mit roter Tinte
+<a class="page" name="Page_116" id="Page_116" title="116"></a>zugeschrieben: &raquo;Frau mit rotem Haar&laquo;, &raquo;Knabe&laquo;,
+&raquo;M&auml;dchen&laquo;, &raquo;Fackeltr&auml;ger&laquo;, &raquo;Mann mit erhobenen
+H&auml;nden&laquo;. Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht:
+&raquo;Was bedeutet das: &#8250;Mann mit erhobenen H&auml;nden?&#8249;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Daran,&laquo; sagte Herr von Umprecht z&ouml;gernd,
+&raquo;h&auml;tt ich nun beinahe vergessen. Mit dieser Figur
+verh&auml;lt es sich folgenderma&szlig;en: In jener Erscheinung
+gab es n&auml;mlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet,
+einen alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer
+Brille, einen dunkelgr&uuml;nen Schal um den Hals, mit
+erhobenen H&auml;nden und weit aufgerissenen Augen.&laquo;</p>
+
+<p>Diesmal stutzte ich.</p>
+
+<p>Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam
+beunruhigt: &raquo;Was vermuten Sie eigentlich? Wer
+sollte das sein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich nehme an,&laquo; sagte Umprecht ruhig, &raquo;da&szlig;
+irgendeiner von den Zuschauern, vielleicht aus der
+Dienerschaft des Onkels ... oder einer von den Bauern
+am Schlu&szlig; des St&uuml;ckes in besondere Bewegung geraten
+und auf unsere B&uuml;hne st&uuml;rzen k&ouml;nnte ... vielleicht aber
+will es das Schicksal, da&szlig; ein aus dem Irrenhause Entsprungener
+durch einen jener Zuf&auml;lle, die mich wirklich
+nicht mehr &uuml;berraschen, gerade in dem Augenblick, wo
+ich auf der Bahre liege, &uuml;ber die B&uuml;hne gerannt k&auml;me.&laquo;</p>
+
+<p>Ich sch&uuml;ttelte den Kopf.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_117" id="Page_117" title="117"></a>&raquo;Wie sagten Sie?... Kahl &#8211; Brille &#8211; ein gr&uuml;ner
+Schal?... &#8211; Nun erscheint mir die Sache noch seltsamer
+als fr&uuml;her. Die Gestalt des Mannes, den Sie
+damals gesehen, ist tats&auml;chlich von mir in meinem
+St&uuml;ck beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet.
+Es war der wahnsinnige Vater der Frau, von
+dem im ersten Akt die Rede ist, und der zum Schlu&szlig;
+auf die Szene st&uuml;rmen sollte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Schal und Brille?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das h&auml;tte wohl der Schauspieler aus Eigenem
+getan &#8211; glauben Sie nicht?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist m&ouml;glich.&laquo;</p>
+
+<p>Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht
+lie&szlig; ihren Gatten zu sich bitten, da sie ihn gerne vor
+der Vorstellung sprechen m&ouml;chte, und er empfahl sich.
+Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam
+den Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem
+Tisch hatte liegen lassen.</p>
+
+
+<h3 class="subsection">3</h3>
+
+<p class="newsubsection">Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die
+Vorstellung stattfinden sollte. Er lag hinter dem
+Schl&ouml;&szlig;chen, durch eine anmutige Gartenanlage davon
+geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken ab<a class="page" name="Page_118" id="Page_118" title="118"></a>schlo&szlig;,
+waren etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem
+Holz aufgestellt; die vorderen Reihen waren
+mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten
+standen einige Notenpulte und St&uuml;hle; einen Vorhang
+gab es nicht. Die Trennung der B&uuml;hne von dem
+Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende hohe
+Tannenb&auml;ume angedeutet; rechts schlo&szlig; sich wildes
+Gestr&auml;uch an, hinter dem ein bequemer Lehnstuhl,
+dem Zuschauer unsichtbar, f&uuml;r den Souffleur bestimmt,
+stand. Zur Linken lag der Platz frei und lie&szlig; den
+Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war
+von hohen B&auml;umen gebildet; sie standen dicht aneinandergedr&auml;ngt
+nur in der Mitte, und links schlichen
+schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin
+im Wald, innerhalb einer kleinen k&uuml;nstlichen Lichtung,
+waren Tisch und St&uuml;hle aufgestellt, wo die Schauspieler
+ihrer Stichworte harren mochten. F&uuml;r die
+Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der
+B&uuml;hne und des Zuschauerraumes kulissenartig hohe
+alte Kirchenleuchter mit riesigen Kerzen aufgerichtet
+hatte. Hinter dem Gestr&auml;uch zur Rechten war eine
+Art Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst
+anderem kleinern Ger&auml;t, das im St&uuml;ck notwendig
+war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht
+am Schlusse des St&uuml;ckes sterben sollte. &#8211; Als ich jetzt
+<a class="page" name="Page_119" id="Page_119" title="119"></a>&uuml;ber die Wiese schritt, war sie von der Abendsonne
+mild &uuml;bergl&auml;nzt ... Ich hatte nat&uuml;rlich &uuml;ber die
+Erz&auml;hlung des Herrn von Umprecht nachgedacht.
+Nicht f&uuml;r unm&ouml;glich hielt ich es anfangs, da&szlig; Herr
+von Umprecht zu der Art von phantastischen L&uuml;gnern
+geh&ouml;rte, die eine Mystifikation unter Schwierigkeiten
+von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu
+machen. Ich hielt es selbst f&uuml;r denkbar, da&szlig; die
+Unterschrift des Notars gef&auml;lscht war und da&szlig; Herr
+von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um die
+Sache folgerecht durchzuf&uuml;hren. Besondere Bedenken
+stiegen mir &uuml;ber den vorl&auml;ufig unbekannten
+Mann mit den erhobenen H&auml;nden auf, mit dem sich
+Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben
+konnte. Aber meinen Zweifeln widersprach vor
+allem die Rolle, die dieser Mann in meinem ersten
+Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte
+&#8211; und besonders der g&uuml;nstige Eindruck, den ich von
+der Person des Herrn von Umprecht gewonnen hatte.
+Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer
+Bericht mir erschien &#8211; irgend etwas in mir verlangte
+sogar danach, ihm glauben zu d&uuml;rfen; es mochte die
+t&ouml;richte Eitelkeit sein, mich als Vollstrecker eines &uuml;ber
+uns waltenden Willens zu empfinden. &#8211; Indes hatte
+einige Bewegung in meiner N&auml;he angehoben; Diener
+<a class="page" name="Page_120" id="Page_120" title="120"></a>kamen aus dem Schlo&szlig;, Kerzen wurden angez&uuml;ndet,
+Leute aus der Umgebung, manche auch in b&auml;urischer
+Kleidung, stiegen langsam den H&uuml;gel herauf und
+stellten sich bescheiden zu seiten der B&auml;nke auf. Bald
+erschien die Frau des Hauses mit einigen Herren
+und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte
+mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom
+vorigen Jahr. Die Mitglieder des Orchesters waren
+erschienen und begaben sich auf ihre Pl&auml;tze; die
+Zusammenstellung war ungew&ouml;hnlich genug; es
+waren zwei Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontraba&szlig;,
+eine Fl&ouml;te und eine Oboe. Sie begannen sofort,
+offenbar verfr&uuml;ht, eine Ouvert&uuml;re von Weber zu
+spielen. Ganz vorne, in der N&auml;he des Orchesters,
+stand ein alter Bauer, der glatzk&ouml;pfig war und eine
+Art von dunklem Tuch um den Hals geschlungen hatte.
+Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht
+ich, sp&auml;ter eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu
+werden und auf die Szene zu laufen. Das Tageslicht
+war v&ouml;llig dahin, die hohen Kerzen flackerten ein wenig,
+da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter dem
+Gestr&auml;uch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen
+waren die Mitwirkenden in die N&auml;he der B&uuml;hne
+gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder an die anderen,
+die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, da&szlig; ich
+<a class="page" name="Page_121" id="Page_121" title="121"></a>noch niemanden au&szlig;er Herrn von Umprecht, seinen
+Kindern und der F&ouml;rsterstochter gesehen hatte. Nun
+h&ouml;rte ich die laute Stimme des Regisseurs und das
+Lachen der jungen Komtessa Saima. Die B&auml;nke
+waren alle besetzt, der Freiherr sa&szlig; in einer der vordersten
+Reihen und sprach mit der Gr&auml;fin Saima.
+Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die F&ouml;rsterstochter
+vor und sprach den Prolog, der das St&uuml;ck
+einleitete. Den Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal
+eines Mannes, der, ergriffen von einer pl&ouml;tzlichen
+Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen
+ohne Abschied verl&auml;&szlig;t und im Verlaufe eines Tages
+so viel Schmerzliches und Widriges erlebt, da&szlig; er
+wieder zur&uuml;ckzukehren gedenkt, ehe Frau und Kinder
+ihn vermi&szlig;t haben; aber ein letztes Abenteuer auf
+dem R&uuml;ckweg, nahe der T&uuml;r seines Hauses, hat seine
+Ermordung zur Folge, und nur mehr sterbend kann
+er die Verlassenen begr&uuml;&szlig;en, die seiner Flucht und
+seinem Tod als den unl&ouml;sbarsten R&auml;tseln gegen&uuml;berstehen.</p>
+
+<p>Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen
+sprachen ihre Rollen angenehm; ich erfreute mich an
+der einfachen Darstellung der einfachen Vorg&auml;nge
+und dachte im Anfang nicht mehr an die Erz&auml;hlung
+des Herrn von Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte
+<a class="page" name="Page_122" id="Page_122" title="122"></a>das Orchester wieder, aber niemand h&ouml;rte darauf,
+so lebhaft war das Geplauder auf den B&auml;nken. Ich
+selbst sa&szlig; nicht, sondern stand, ungesehen von den
+anderen, der B&uuml;hne ziemlich nahe, auf der linken
+Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu senkte. Der
+zweite Akt begann; der Wind war etwas st&auml;rker geworden,
+und die flackernde Beleuchtung trug zu der
+Wirkung des St&uuml;ckes nicht wenig bei. Wieder verschwanden
+die Darsteller im Wald, und das Orchester
+setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zuf&auml;llig auf den
+Fl&ouml;tisten, der eine Brille trug und glatt rasiert war;
+aber er hatte lange wei&szlig;e Haare, und von einem Schal
+war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schlo&szlig;, die
+Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte
+ich, da&szlig; der Fl&ouml;tenspieler, der sein Instrument vor
+sich hin auf das Pult gelegt hatte, in seine Tasche griff,
+einen gro&szlig;en gr&uuml;nen Schal hervorzog und ihn um
+den Hals wickelte. Ich war im allerh&ouml;chsten Grade
+befremdet. In der n&auml;chsten Sekunde trat Herr
+von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick pl&ouml;tzlich auf
+dem Fl&ouml;tisten haften blieb, wie er den gr&uuml;nen Schal
+bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte
+er sich wieder gefa&szlig;t und sprach seine Rolle unbeirrt
+weiter. Ich fragte einen jungen, einfach gekleideten
+Burschen neben mir, ob er den Fl&ouml;tisten kenne, und
+<a class="page" name="Page_123" id="Page_123" title="123"></a>erfuhr von ihm, da&szlig; jener ein Schullehrer aus Kaltern
+war. Das Spiel ging weiter, der Schlu&szlig; nahte heran.
+Die zwei Kinder irrten, wie es vorgeschrieben war,
+&uuml;ber die B&uuml;hne, L&auml;rm im Walde drang n&auml;her und
+n&auml;her, man h&ouml;rte schreien und rufen; es machte sich
+nicht &uuml;bel, da&szlig; der Wind st&auml;rker wurde und die Zweige
+sich bewegten; endlich trug man Herrn von Umprecht
+als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein.
+Die beiden Kinder st&uuml;rzten herbei, die Fackeltr&auml;ger
+standen regungslos zur Seite. Die Frau trat sp&auml;ter
+auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem
+Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder;
+dieser will die Lippen noch einmal &ouml;ffnen, versucht,
+sich zu erheben, aber &#8211; wie es in der Rolle vorgeschrieben
+&#8211; es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt
+mit einem Mal ein ungeheurer Windsto&szlig;, da&szlig; die
+Fackeln zu verl&ouml;schen drohen; ich sehe, wie einer im
+Orchester aufspringt &#8211; es ist der Fl&ouml;tenspieler &#8211;
+zu meinem Erstaunen ist er kahl, seine Per&uuml;cke ist ihm
+davongeflogen; mit erhobenen H&auml;nden, den gr&uuml;nen
+flatternden Schal um den Hals, st&uuml;rzt er der B&uuml;hne
+zu. Unwillk&uuml;rlich richte ich mein Auge auf Umprecht;
+seine Blicke sind starr, wie verz&uuml;ckt auf den Mann
+gerichtet; er will etwas reden &#8211; er vermag es offenbar
+nicht &#8211; er sinkt zur&uuml;ck ... Noch meinen viele, da&szlig;
+<a class="page" name="Page_124" id="Page_124" title="124"></a>dies alles zum St&uuml;cke geh&ouml;re; ich selbst bin nicht
+sicher, wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist;
+indes ist der Mann an der Bahre vor&uuml;ber, immer
+noch seiner Per&uuml;cke nach, und verschwindet im Wald.
+Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windsto&szlig;
+l&auml;&szlig;t eine der beiden Fackeln verl&ouml;schen; einige Menschen
+ganz vorne werden unruhig &#8211; ich h&ouml;re die
+Stimme des Freiherrn: &raquo;Ruhe! Ruhe!&laquo; &#8211; es wird
+wieder stille &#8211; auch der Wind regt sich nicht mehr
+... aber Umprecht bleibt ausgestreckt liegen, r&uuml;hrt
+sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse
+Saima schreit auf &#8211; nat&uuml;rlich glauben die Leute,
+auch dies sei im St&uuml;ck so vorgeschrieben. Ich aber
+dr&auml;nge mich durch die Menschen, st&uuml;rze auf die B&uuml;hne,
+h&ouml;re, wie es hinter mir unruhig wird &#8211; die Leute
+erheben sich, andere folgen mir, die Bahre ist umringt ...
+&raquo;Was gibt&#8217;s, was ist geschehen?&laquo; ... Ich rei&szlig;e einem
+Fackeltr&auml;ger seine Fackel aus der Hand, beleuchte das
+Antlitz des Liegenden ... Ich r&uuml;ttle ihn, rei&szlig;e ihm
+das Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite
+gelangt, er f&uuml;hlt nach dem Herzen Umprechts, er
+greift seinen Puls, er w&uuml;nscht, da&szlig; alles zur Seite
+trete, er fl&uuml;stert dem Freiherrn ein paar Worte zu
+... die Frau des Aufgebahrten hat sich hinaufgedr&auml;ngt,
+sie schreit auf, wirft sich &uuml;ber ihren Mann,
+<a class="page" name="Page_125" id="Page_125" title="125"></a>die Kinder stehen wie vernichtet da und k&ouml;nnen es
+nicht fassen ... Niemand will es glauben, was
+geschehen, und doch teilt es einer dem andern mit;
+&#8211; und eine Minute sp&auml;ter wei&szlig; man es rings in
+der Runde, da&szlig; Herr von Umprecht auf der Bahre,
+auf der man ihn hineingetragen, pl&ouml;tzlich gestorben
+ist ...</p>
+
+<p>Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal
+hinuntergeeilt, von Entsetzen gesch&uuml;ttelt. In einem
+sonderbaren Grauen habe ich mich nicht entschlie&szlig;en
+k&ouml;nnen, das Schlo&szlig; wieder zu betreten. Den Freiherrn
+sprach ich am Tag darauf in Bozen; dort erz&auml;hlte
+ich ihm die Geschichte Umprechts, wie sie mir von ihm
+selbst mitgeteilt worden war. Der Freiherr wollte
+sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und
+zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich
+befremdet, ja angstvoll an und gab mir das Blatt
+zur&uuml;ck &#8211; es war wei&szlig;, unbeschrieben, unbezeichnet ...</p>
+
+<p>Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden;
+aber das einzige, was ich von ihm erfahren
+konnte, war, da&szlig; er vor drei Jahren zum letztenmal
+in einem Hamburger Vergn&uuml;gungsetablissement niederen
+Ranges aufgetreten ist.</p>
+
+<p>Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das
+unbegreiflichste bleibt, ist der Umstand, da&szlig; der
+<a class="page" name="Page_126" id="Page_126" title="126"></a>Schullehrer, der damals seiner Per&uuml;cke mit erhobenen
+H&auml;nden nachlief und im Walde verschwand, niemals
+wiedergesehen, ja da&szlig; nicht einmal sein Leichnam
+aufgefunden wurde.</p>
+
+
+<h3 class="subsection">Nachwort des Herausgebers</h3>
+
+<p>Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe
+ich pers&ouml;nlich nicht gekannt. Er war zu seiner Zeit
+ein ziemlich bekannter Schriftsteller, aber so gut wie
+verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa
+zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachla&szlig; ging,
+ohne besondere Bestimmung, an den in diesen Bl&auml;ttern
+genannten Meraner Jugendfreund &uuml;ber. Von diesem
+wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anl&auml;&szlig;lich eines
+Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen
+&uuml;ber allerlei dunkle Fragen, insbesondere &uuml;ber
+Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und Weissagekunst
+unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte
+Manuskript zur Ver&ouml;ffentlichung &uuml;bergeben. Gern
+m&ouml;chte ich dessen Inhalt f&uuml;r eine frei erfundene
+Erz&auml;hlung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch
+aus dem Bericht hervorgeht, der am Schlu&szlig; geschilderten
+Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Aus<a class="page" name="Page_127" id="Page_127" title="127"></a>gang
+beigewohnt und den in so r&auml;tselhafter Weise
+verschwundenen Schullehrer pers&ouml;nlich gekannt h&auml;tte.
+Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so
+erinnere ich mich noch sehr wohl, als ganz junger
+Mensch in einer Sommerfrische am W&ouml;rther See
+seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu
+haben; er blieb mir im Ged&auml;chtnis, weil ich gerade
+zu dieser Zeit im Begriffe war, die Reisebeschreibung
+des ber&uuml;hmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_128" id="Page_128" title="128"></a></p>
+<h2 class="novelle"><a name="Das_neue_Lied" id="Das_neue_Lied"></a>Das neue Lied</h2>
+
+
+<p class="newsection">&raquo;<em class="bigletter">I</em>ch bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder
+... bitte sehr, das kann keiner sagen!&laquo; Karl
+Breiteneder h&ouml;rte diese Worte wie von fern an sein
+Ohr schlagen und wu&szlig;te doch ganz genau, da&szlig; der,
+der sie sprach, neben ihm einherging &#8211; ja er sp&uuml;rte
+sogar den Weindunst, in den diese Worte geh&uuml;llt
+waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unm&ouml;glich,
+sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er
+war zu m&uuml;de und zerr&uuml;ttet von dem furchtbaren
+Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach
+Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht
+nach Hause gegangen, sondern lieber im Morgenwind
+die menschenleere Stra&szlig;e weiterspaziert, ins Freie
+hinaus, den bewaldeten H&uuml;geln entgegen, die dr&uuml;ben
+aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer
+nach dem anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den
+F&uuml;&szlig;en, und er sp&uuml;rte nichts von der wohligen Frische,
+die ihn sonst nach durchwachten N&auml;chten in der Fr&uuml;hluft
+zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche
+Bild vor Augen, dem er entflohen war.</p>
+
+<p>Der Mann neben ihm mu&szlig;te ihn eben erst eingeholt
+haben. Was wollte denn der von ihm?... warum
+<a class="page" name="Page_129" id="Page_129" title="129"></a>verteidigte er sich?... und warum gerade vor ihm?...
+Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay
+einen lauten Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr
+gut wu&szlig;te, da&szlig; der die Hauptschuld trug an dem,
+was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an.
+Wie schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock
+war zerdr&uuml;ckt und fleckig, ein Knopf fehlte, die andern
+waren an den R&auml;ndern ausgefranst; in einem Knopfloch
+steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Bl&uuml;te.
+Gestern abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen.
+Mit dieser selben Nelke geschm&uuml;ckt, war der Kapellmeister
+Rebay an einem klappernden Pianino
+gesessen und hatte die Musik zu s&auml;mtlichen Produktionen
+der Gesellschaft Ladenbauer besorgt, wie
+er es seit bald drei&szlig;ig Jahren tat. Das kleine Wirtshaus
+war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus
+standen die Tische und St&uuml;hle, denn heute war, wie
+es mit schwarzen und roten Buchstaben auf gro&szlig;en,
+gelben Zetteln zu lesen stand: &raquo;Erstes Wiederauftreten
+des Fr&auml;ulein Maria Ladenbauer, genannt die &#8250;wei&szlig;e
+Amsel&#8249;, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.&laquo;</p>
+
+<p>Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden,
+er und der Kapellmeister waren l&auml;ngst nicht mehr
+die einzigen auf der Stra&szlig;e. Hinter ihnen, auch von
+Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde,
+<a class="page" name="Page_130" id="Page_130" title="130"></a>ihnen entgegen, kamen Spazierg&auml;nger. Jetzt erst fiel
+es Karl ein, da&szlig; heute Sonntag war. Er war froh,
+da&szlig; er keinerlei Verpflichtung hatte, in die Stadt zu
+gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen
+vers&auml;umten Wochentag nachgesehen h&auml;tte, wie er es
+schon oft getan. Das alte Drechslergesch&auml;ft in der
+Alserstra&szlig;e ging vorl&auml;ufig auch ohne ihn, und der
+Vater wu&szlig;te aus Erfahrung, da&szlig; sich die Breiteneders
+bisher noch immer zur rechten Zeit zu einem soliden
+Lebenswandel entschlossen hatten. Die Geschichte
+mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz
+recht gewesen. &raquo;Du kannst ja machen, was du willst,&laquo;
+hatte er einmal milde zu Karl gesagt, &raquo;ich bin auch
+einmal jung gewesen ... aber in den Familien von
+meine M&auml;deln hab ich doch nie verkehrt! Da hab
+ich doch immer zuviel auf mich gehalten.&laquo;</p>
+
+<p>H&auml;tte er auf den Vater geh&ouml;rt &#8211; dachte Karl jetzt
+&#8211; so w&auml;re ihm mancherlei erspart geblieben. Aber
+er hatte die Marie sehr gern gehabt. Sie war ein
+gutm&uuml;tiges Gesch&ouml;pf, hing an ihm, ohne viel Worte
+zu machen, und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren
+ging, h&auml;tte sie keiner f&uuml;r eine gehalten, die schon
+so manches erlebt hatte. &Uuml;brigens ging es bei ihren
+Eltern so anst&auml;ndig zu wie in einem b&uuml;rgerlichen
+Hause. Die Wohnung war nett gehalten, auf der
+<a class="page" name="Page_131" id="Page_131" title="131"></a>Etagere standen B&uuml;cher; &ouml;fters kam der Bruder des
+alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim
+Magistrat angestellt war, und dann wurde &uuml;ber sehr
+ernste Dinge geredet: Politik, Wahlen und Gemeindewesen.
+Am Sonntag spielte Karl oben manchmal
+Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verr&uuml;ckten
+Jedek, demselben, der abends im Klownkost&uuml;m
+auf Gl&auml;ser- und Tellerr&auml;ndern Walzer und M&auml;rsche
+exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld
+ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus
+durchaus nicht so regelm&auml;&szlig;ig passierte. In der
+Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit Schweizer
+Landschaften hingen, sa&szlig; die blasse lange Frau Jedek,
+die abends in der Vorstellung langweilige Gedichte
+vortrug, plauderte mit der Marie und nickte dazu
+beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl
+her&uuml;ber, gr&uuml;&szlig;te ihn scherzend mit der Hand oder setzte
+sich zu ihm und schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder
+war in einem gro&szlig;en Gesch&auml;ft angestellt, und wenn
+ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich
+sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr
+verehrte, zuweilen von einem Stadtzuckerb&auml;cker etwas
+zum Naschen mit. Und wenn er sich empfahl, sagte
+er mit halbgeschlossenen Augen: &raquo;Leider da&szlig; ich
+anderweitig versagt bin ...&laquo; &#8211; Freilich, am liebsten
+<a class="page" name="Page_132" id="Page_132" title="132"></a>war Karl mit Marie allein. Und er dachte an einen
+Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg gegangen
+war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald
+entgegen, der dort oben auf dem H&uuml;gel anfing. Sie
+waren beide m&uuml;de gewesen, denn sie kamen geradeswegs
+aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen
+mit der ganzen Volkss&auml;ngergesellschaft zusammengesessen
+waren; nun legten sie sich unter eine
+Buche am Rand eines Wiesenhanges und schliefen
+ein. Erst in der hei&szlig;en Stille des Sommermittags
+wachten sie auf, gingen noch weiter hinein in den
+Wald, plauderten und lachten den ganzen Tag, ohne
+zu wissen warum, und erst sp&auml;t abends zur Vorstellung
+brachte er sie wieder in die Stadt ... So sch&ouml;ne Erinnerungen
+gab es manche, und die beiden lebten
+sehr vergn&uuml;gt, ohne an die Zukunft zu denken. Zu
+Beginn des Winters erkrankte Marie pl&ouml;tzlich. Der
+Doktor hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die
+Krankheit war eine Gehirnentz&uuml;ndung oder so etwas
+&auml;hnliches, und jede Aufregung sollte vermieden werden.
+Karl ging anfangs t&auml;glich zu den Ladenbauers, sich
+erkundigen; sp&auml;ter aber, als die Sache sich l&auml;nger
+hinzog, nur jeden zweiten und dritten Tag. Einmal
+sagte ihm Frau Ladenbauer an der T&uuml;re: &raquo;Also
+heut d&uuml;rfen Sie schon hineinkommen, Herr von
+<a class="page" name="Page_133" id="Page_133" title="133"></a>Breiteneder. Aber bitt sch&ouml;n, da&szlig; Sie sich nicht
+verraten.&laquo; &#8211; &raquo;Warum soll denn ich mich verraten?&laquo;
+fragte Karl, &raquo;was ist denn g&#8217;schehn?&laquo; &#8211; &raquo;Ja, mit
+den Augen ist leider keine Hilfe mehr.&laquo; &#8211; &raquo;Wieso
+denn?&laquo; &#8211; &raquo;Sie sieht halt nichts mehr ..., das ist ihr
+leider Gottes von der Krankheit zur&uuml;ckgeblieben. Aber
+sie wei&szlig; noch nicht, da&szlig; es unheilbar ist ... Nehmen
+Sie sich zusammen, da&szlig; sie nichts merkt.&laquo; Da stammelte
+Karl nur ein paar Worte und ging. Er hatte pl&ouml;tzlich
+Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als h&auml;tte
+er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so
+hell gewesen waren und mit denen sie immer gelacht
+hatte. Er wollte morgen kommen. Aber er kam
+nicht, nicht am n&auml;chsten und nicht am &uuml;bern&auml;chsten
+Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus.
+Er wollte sie erst wiedersehen, nahm er sich vor, bis
+sie sich selbst in ihr Schicksal gefunden haben konnte.
+Dann f&uuml;gte es sich, da&szlig; er eine Gesch&auml;ftsreise antreten
+mu&szlig;te, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte.
+Er kam weit herum, war in Berlin, Dresden, K&ouml;ln,
+Leipzig, Prag. Einmal schrieb er an die alte Frau
+Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach seiner
+R&uuml;ckkehr w&uuml;rde er hinaufkommen, und er lie&szlig;e die
+Marie sch&ouml;n gr&uuml;&szlig;en. &#8211; Im Fr&uuml;hjahr kam er zur&uuml;ck;
+aber zu den Ladenbauers ging er nicht. Er konnte
+<a class="page" name="Page_134" id="Page_134" title="134"></a>sich nicht entschlie&szlig;en ... Nat&uuml;rlich dachte er auch
+von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor,
+sie ganz zu vergessen. Er war ja nicht der erste und
+nicht der einzige gewesen. Er h&ouml;rte auch gar nichts
+von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem
+Grunde bildete er sich manchmal ein, da&szlig; Marie
+auf dem Land bei Verwandten lebte, von denen er
+sie manchmal sprechen geh&ouml;rt hatte.</p>
+
+<p>Da f&uuml;hrte ihn gestern abends &#8211; er wollte Bekannte
+besuchen, die in der N&auml;he wohnten &#8211; der Zufall
+an dem Wirtshaus vor&uuml;ber, wo die Vorstellungen
+der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten.
+Ganz in Gedanken wollte er schon vor&uuml;bergehen, da
+fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er wu&szlig;te, wo
+er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor
+er ein Wort gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit
+schwarzen und roten Buchstaben vor sich sah: &raquo;Erstes
+Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die
+&#8250;wei&szlig;e Amsel&#8249;, nach ihrer Genesung,&laquo; da blieb er
+wie gel&auml;hmt stehen. Und in diesem Augenblick stand
+der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden gewachsen:
+den wei&szlig;en Strubbelkopf unbedeckt, den sch&auml;bigen
+schwarzen Zylinder in der Hand und mit einer
+frischen Blume im Knopfloch. Er begr&uuml;&szlig;te Karl:
+&raquo;Der Herr Breiteneder &#8211; nein, so was! Nicht wahr,
+<a class="page" name="Page_135" id="Page_135" title="135"></a>beehren uns heute wieder! Die Fr&auml;ul&#8217;n Marie wird
+ja ganz weg sein vor Freud, wenn sie h&ouml;rt, da&szlig; sich
+die fr&uuml;hern Freund&#8217; doch noch um sie umschaun.
+Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg&#8217;standen,
+Herr von Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.&laquo;
+Er redete noch eine ganze Menge, und Karl r&uuml;hrte
+sich nicht, obwohl er am liebsten weit fortgewesen
+w&auml;re. Aber pl&ouml;tzlich regte sich eine Hoffnung in ihm,
+und er fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts
+sehe &#8211; ob sie nicht doch wenigstens einen Schein habe.
+&raquo;Einen Schein?&laquo; erwiderte der andere. &raquo;Was f&auml;llt
+Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts
+sieht sie, gar nichts!&laquo; Er rief es mit seltsamer Fr&ouml;hlichkeit.
+&raquo;Alles kohlrabenschwarz vor ihr ... Aber
+werden sich schon &uuml;berzeugen, Herr von Breiteneder,
+hat alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf
+&#8211; und eine Stimme hat das M&auml;del, sch&ouml;ner als je!...
+Na, Sie werden ja sehn, Herr von Breiteneder. &#8211;
+Und gut is sie &#8211; seelengut! Noch viel freundlicher,
+als sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja &#8211; haha!
+&#8211; Ah, es kommen heut mehrere, die sie kennen ...
+nat&uuml;rlich nicht so gut wie Sie, Herr von Breiteneder;
+denn jetzt ist es nat&uuml;rlich vorbei mit die gewissen
+G&#8217;schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen!
+Ich hab eine gekannt, die war blind und hat Zwillinge
+<a class="page" name="Page_136" id="Page_136" title="136"></a>gekriegt &#8211; haha! &#8211; Schauen S&#8217;, wer da is,&laquo; sagte
+er pl&ouml;tzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an
+der Frau Ladenbauer sa&szlig;. Sie war aufgedunsen
+und bleich und sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
+Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wu&szlig;te kaum, was
+mit ihm geschah. Pl&ouml;tzlich aber stie&szlig; er hervor:
+&raquo;Nicht der Marie sagen, um Gottes willen, Frau
+Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, da&szlig; ich da
+bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Is schon gut,&laquo; sagte Frau Ladenbauer und
+besch&auml;ftigte sich mit anderen Leuten, die Billette
+verlangten.</p>
+
+<p>&raquo;Von mir kein W&ouml;rterl,&laquo; sagte Rebay. &raquo;Aber
+nachher, das wird eine &Uuml;berraschung sein! Da
+kommen S&#8217; doch mit? Gro&szlig;es Fest &#8211; hoho! Habe
+die Ehre, Herr von Breiteneder.&laquo; Und er war verschwunden.
+Karl durchschritt den gef&uuml;llten Saal, und
+im Garten, der sich ohne weiteres anschlo&szlig;, setzte er
+sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei
+alte Leute Platz genommen hatten, eine Frau und
+ein Mann. Sie sprachen nichts miteinander, betrachteten
+stumm den neuen Gast, und nickten einander
+traurig zu. Karl sa&szlig; da und wartete. Die Vorstellung
+begann, und Karl h&ouml;rte die altbekannten Sachen
+wieder. Nur schien ihm alles eigent&uuml;mlich ver&auml;ndert,
+<a class="page" name="Page_137" id="Page_137" title="137"></a>weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war.
+Zuerst spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte
+Ouvert&uuml;re, von der zu Karl nur vereinzelte harte
+Akkorde drangen, dann trat als erste die Ungarin
+Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln,
+sang ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf
+folgte ein humoristischer Vortrag des Komikers
+Wiegel-Wagel; er trat im zeisiggr&uuml;nen Frack auf,
+teilte mit, da&szlig; er soeben aus Afrika angekommen w&auml;re,
+und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren
+Abschlu&szlig; seine Hochzeit mit einer alten Witwe bildete.
+Dann kam ein Duett zwischen Herrn und Frau
+Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kost&uuml;m. Nach
+ihnen, in schmutziger wei&szlig;er Klowntracht, folgte der
+n&auml;rrische kleine Jedek, zeigte zuerst seine Jongleurk&uuml;nste,
+irrte mit riesigen Augen unter den Leuten
+umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte
+er Teller in Reihen vor sich auf, h&auml;mmerte mit einem
+Holzstab einen Marsch darauf, ordnete Gl&auml;ser und
+spielte auf den R&auml;ndern mit feuchten Fingern eine
+wehm&uuml;tige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke
+auf und l&auml;chelte selig. Er trat ab, und Rebay hieb
+wieder auf die Tasten ein, in festlichen Kl&auml;ngen.
+Ein Fl&uuml;stern drang vom Saal in den Garten, die
+Leute steckten die K&ouml;pfe zusammen, und pl&ouml;tzlich
+<a class="page" name="Page_138" id="Page_138" title="138"></a>stand Marie auf dem Podium. Der Vater, der sie
+hinaufgef&uuml;hrt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht;
+und sie stand allein. Und Karl sah sie oben
+stehen, mit den erloschenen Augen in dem s&uuml;&szlig;en
+blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst
+nur die Lippen bewegte und ein bi&szlig;chen l&auml;chelte.
+Ohne es selbst zu merken war er vom Sessel aufgesprungen,
+lehnte an der gr&uuml;nen Laterne und h&auml;tte
+beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. &#8211; Und
+nun fing sie an zu singen. Mit einer ganz fremden
+Stimme, leise, viel leiser als fr&uuml;her. Es war ein Lied,
+das sie immer gesungen, und das Karl mindestens
+f&uuml;nfzigmal geh&ouml;rt hatte, aber die Stimme blieb ihm
+seltsam fremd, und erst als der Refrain kam &raquo;Mich
+hei&szlig;ens&#8217; die wei&szlig;e Amsel, im G&#8217;sch&auml;ft und auch zu
+Haus,&laquo; glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen.
+Sie sang alle drei Strophen, Rebay
+begleitete sie, und nach seiner Gewohnheit blickte er
+&ouml;fters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war, setzte
+Applaus ein, laut und donnernd. Marie l&auml;chelte und
+verbeugte sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs
+Podium hinauf, Marie griff mit den Armen in die
+Luft, als suchte sie die H&auml;nde der Mutter, aber der
+Applaus war so stark, da&szlig; sie gleich ihr zweites Lied
+singen mu&szlig;te, das Karl auch schon an die f&uuml;nfzigmal
+<a class="page" name="Page_139" id="Page_139" title="139"></a>geh&ouml;rt hatte. Es fing an: &raquo;Heut geh ich mit mein
+Schatz aufs Land ...,&laquo; und Marie warf den Kopf
+so vergn&uuml;gt in die H&ouml;he, wiegte sich so leicht hin und
+her, als wenn sie wirklich mit ihrem Schatz aufs Land
+gehen, den blauen Himmel, die gr&uuml;nen Wiesen sehen
+und im Freien tanzen k&ouml;nnte, wie sie&#8217;s in dem Lied
+erz&auml;hlte. Und dann sang sie das dritte, das neue
+Lied. &#8211;</p>
+
+<p>&raquo;Hier w&auml;re ein kleines Garterl,&laquo; sagte Herr Rebay,
+und Karl fuhr zusammen. Es war heller Sonnenschein;
+weit ergl&auml;nzte die Stra&szlig;e, ringsum war es
+licht und lebendig. &raquo;Da k&ouml;nnt&#8217; man sich hineinsetzen,&laquo;
+fuhr Rebay fort, &raquo;auf ein Glas Wein; ich hab schon
+einen argen Durst &#8211; es wird ein hei&szlig;er Tag.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ob&#8217;s hei&szlig; wird!&laquo; sagte irgendwer hinter ihnen.
+Breiteneder wandte sich um ... Wie, der war ihm
+auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von
+ihm?... Es war der n&auml;rrische Jedek; man hatte
+ihn nie anders gehei&szlig;en, aber es war zweifellos, da&szlig;
+er in der n&auml;chsten Zeit ernstlich und vollkommen
+verr&uuml;ckt werden mu&szlig;te. Vor ein paar Tagen hatte
+er seine lange blasse Frau am Leben bedroht, und
+es war r&auml;tselhaft, da&szlig; man ihn frei herumlaufen lie&szlig;.
+Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit neben
+Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten
+<a class="page" name="Page_140" id="Page_140" title="140"></a>aufgerissene, unerkl&auml;rlich lustige Augen ins Weite,
+auf dem Kopf sa&szlig; ihm das stadtbekannte, graue
+weiche H&uuml;tel mit der verschlissenen Feder, in der
+Hand hielt er ein d&uuml;nnes Spazierstaberl. Und nun,
+den andern pl&ouml;tzlich voraus, war er in das kleine
+Gasthausg&auml;rtchen hineingeh&uuml;pft, hatte auf einer
+Holzbank, die an dem niederen H&auml;uschen lehnte,
+Platz genommen, schlug mit dem Spazierstock heftig
+auf den gr&uuml;ngestrichnen Tisch und rief nach dem
+Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. L&auml;ngs des
+gr&uuml;nen Holzgitters zog die wei&szlig;e Stra&szlig;e weiter
+nach oben, an kleinen, traurigen Villen vorbei, und
+verlor sich in den Wald.</p>
+
+<p>Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den
+Zylinder auf den Tisch, fuhr sich durch das wei&szlig;e Haar,
+rieb sich dann mit beiden H&auml;nden nach seiner Gewohnheit
+die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite,
+und beugte sich &uuml;ber den Tisch zu Karl hin. &raquo;Ich bin
+doch nicht auf&#8217;n Kopf g&#8217;fallen, Herr von Breiteneder!
+Ich wei&szlig; doch, was ich tu!... Warum soll denn
+ich schuld sein?... Wissen S&#8217;, f&uuml;r wen ich Couplets
+geschrieben hab in meinen j&uuml;ngeren Jahren?...
+F&uuml;r&#8217;n Matras! Das ist keine Kleinigkeit! Und haben
+Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und
+viele sind in andere St&uuml;ck&#8217; eingelegt worden!&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_141" id="Page_141" title="141"></a>&raquo;Lassen S&#8217; das Glas stehn,&laquo; sagte Jedek und
+kicherte in sich hinein.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte, Herr von Breiteneder,&laquo; fuhr Rebay
+fort und schob das Glas wieder von sich. &raquo;Sie kennen
+mich doch, und Sie wissen, da&szlig; ich ein anst&auml;ndiger
+Mensch bin! Auch gibt&#8217;s in meinen Couplets niemals
+eine Unanst&auml;ndigkeit, niemals eine Zote!... Und
+das Couplet, wegen dem der alte Ladenbauer damals
+is verurteilt worden, war von einem andern!...
+Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder
+&#8211; das ist ein Numero! Und wissen S&#8217;, wie
+lang ich bei der G&#8217;sellschaft Ladenbauer bin?... Da
+hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die
+G&#8217;sellschaft gegr&uuml;ndet hat. Und die Marie kenn ich
+von ihrer Geburt an. Neunundzwanzig Jahr bin ich
+bei die Ladenbauers &#8211; im n&auml;chsten M&auml;rz hab ich
+Jubil&auml;um ... Und ich hab meine Melodien nicht
+g&#8217;stohlen &#8211; sie sind von mir, alles von mir! Und
+wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die Werkeln
+g&#8217;spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...&laquo;</p>
+
+<p>Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen
+Augen. Jetzt hatte er alle drei Gl&auml;ser vor seinen Platz
+hingeschoben und begann mit seinen Fingern leicht
+&uuml;ber die R&auml;nder zu streichen. Es klang fein, ein bi&szlig;chen
+r&uuml;hrend, wie ferne Oboen- und Klarinettent&ouml;ne.
+<a class="page" name="Page_142" id="Page_142" title="142"></a>Breiteneder hatte diese Kunstfertigkeit immer sehr
+bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug er die
+Kl&auml;nge durchaus nicht. An den andern Tischen h&ouml;rte
+man zu; einige Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr
+patschte in die H&auml;nde. Pl&ouml;tzlich schob Jedek alle drei
+Gl&auml;ser wieder fort, kreuzte die Arme und starrte auf die
+wei&szlig;e Stra&szlig;e, &uuml;ber die immer mehr und mehr Menschen
+aufw&auml;rts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte
+es vor den Augen, und es war ihm, als wenn die
+Leute hinter Spinneweben t&auml;nzelten und schwebten. Er
+rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich kommen.
+Er konnte ja nichts daf&uuml;r! Es war ein schreckliches Ungl&uuml;ck
+&#8211; aber er hatte doch nicht schuld daran! Und pl&ouml;tzlich
+stand er auf, denn als er an das Ende dachte, wollte
+es ihm die Brust zersprengen. &raquo;Gehen wir,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, frische Luft ist die Hauptsache,&laquo; entgegnete
+Rebay.</p>
+
+<p>Jedek war pl&ouml;tzlich b&ouml;se geworden, kein Mensch
+wu&szlig;te, warum. Er stellte sich vor einen Tisch hin,
+an dem ein friedliches Paar sa&szlig;, fuchtelte mit seinem
+Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme:
+&raquo;Da soll der Teufel ein Glaserer werden &#8211; Himmelsackerment!&laquo;
+Die beiden friedlichen Leute wurden
+verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die &uuml;brigen
+lachten und hielten ihn f&uuml;r betrunken.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_143" id="Page_143" title="143"></a>Breiteneder und Rebay waren schon auf der wei&szlig;en
+Stra&szlig;e, und Jedek, wieder ganz ruhig geworden,
+kam ihnen nachget&auml;nzelt. Er nahm sein graues H&uuml;tel
+ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock
+mit dem Hut &uuml;ber die Schultern wie ein Gewehr,
+w&auml;hrend er mit der anderen Hand gewaltige gr&uuml;&szlig;ende
+Bewegungen zum Himmel empor vollf&uuml;hrte.</p>
+
+<p>&raquo;Sie brauchen nicht zu glauben, da&szlig; ich mich
+entschuldigen will,&laquo; sagte Rebay mit klappernden
+Z&auml;hnen. &raquo;Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus
+nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann
+wird es mir zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht
+selber mit ihr einstudiert?... Bitte sehr, jawohl!
+Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im
+Zimmer gesessen is, hab ich&#8217;s einstudiert mit ihr ...
+Und wissen S&#8217;, wie ich auf die Idee kommen bin?
+Es ist ein Ungl&uuml;ck, hab ich mir gedacht, aber es ist
+doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch,
+und ihr sch&ouml;nes Gesicht ... Auch der Mutter hab
+ich&#8217;s g&#8217;sagt, die ganz verzweifelt war. Frau Ladenbauer,
+hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts verloren
+&#8211; passen S&#8217; nur auf! Und dann, heutzutage, wo es
+diese Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit
+wieder lesen und schreiben lernen ... Und dann hab
+ich einen gekannt &#8211; einen jungen Menschen, der
+<a class="page" name="Page_144" id="Page_144" title="144"></a>ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede
+Nacht von die sch&ouml;nsten Feuerwerk getr&auml;umt, von alle
+m&ouml;glichen Beleuchtungen ...&laquo;</p>
+
+<p>Breiteneder lachte auf. &raquo;Reden S&#8217; im Ernst?&laquo;
+fragte er ihn.</p>
+
+<p>&raquo;Ach was!&laquo; entgegnete Rebay grob, &raquo;was wollen
+Sie denn? Soll ich mich umbringen, ich?... Warum
+denn? &#8211; Meiner Seel, ich hab Ungl&uuml;ck genug
+gehabt auf der Welt! &#8211; Oder meinen Sie, das ist
+ein Leben, Herr von Breiteneder, wenn man einmal
+Theaterst&uuml;ck geschrieben hat, wie ich als junger
+Mensch, und man ist mit achtundsechzig schlie&szlig;lich
+so weit, da&szlig; man auf einem elenden Klimperkasten
+f&uuml;r sch&auml;bige paar Kreuzer die heisern Ludern begleiten
+mu&szlig;, und ihnen die Couplets schreiben ... Wissen
+S&#8217;, was ich f&uuml;r ein Couplet krieg&#8217;?... Sie m&ouml;chten
+sich wundern, Herr von Breiteneder!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber man spielt sie auf dem Werkel,&laquo; sagte Jedek,
+der jetzt ganz ernst und manierlich, ja elegant neben
+ihnen herging.</p>
+
+<p>&raquo;Was wollen denn Sie von mir?&laquo; sagte Breiteneder.
+Es war ihm pl&ouml;tzlich, als verfolgten ihn die
+beiden, und er wu&szlig;te nicht, warum. Was hatte er
+mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter:
+&raquo;Eine Existenz hab ich dem M&auml;del gr&uuml;nden wollen!...
+<a class="page" name="Page_145" id="Page_145" title="145"></a>Verstehen S&#8217;, eine neue Existenz!... Grad mit dem
+neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es
+vielleicht nicht sch&ouml;n?... Ist es nicht r&uuml;hrend?...&laquo;</p>
+
+<p>Der kleine Jedek hielt pl&ouml;tzlich Breiteneder am
+Rock&auml;rmel zur&uuml;ck, erhob den Zeigefinger der linken
+Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die Lippen
+und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das
+Marie Ladenbauer, genannt die &raquo;wei&szlig;e Amsel&laquo;, heute
+nachts gesungen hatte. Er pfiff sie geradezu vollendet;
+denn auch das geh&ouml;rte zu seinen Kunstfertigkeiten.</p>
+
+<p>&raquo;Die Melodie hat&#8217;s nicht gemacht,&laquo; sagte Breiteneder.</p>
+
+<p>&raquo;Wieso?&laquo; schrie Rebay. &#8211; Sie gingen alle rasch,
+liefen beinahe, trotzdem der Weg betr&auml;chtlich anstieg.
+&raquo;Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der Text
+ist schuld, glauben S&#8217;?... Ja, um Gottes willen,
+steht denn in dem Text was anderes, als was die
+Marie selbst gewu&szlig;t hat?... Und in ihrem Zimmer,
+wie ich&#8217;s ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges
+Mal geweint. Sie hat g&#8217;sagt: &raquo;Das ist ein trauriges
+Lied, Herr Rebay, aber sch&ouml;n ist&#8217;s!...&laquo; &raquo;Sch&ouml;n
+ist&#8217;s,&laquo; hat sie gesagt ... Ja freilich ist es ein trauriges
+Lied, Herr von Breiteneder &#8211; es ist ja auch ein
+trauriges Los, was ihr zugesto&szlig;en ist. Da kann ich
+ihr doch kein lustiges Lied schreiben?...&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_146" id="Page_146" title="146"></a>Die Stra&szlig;e verlor sich in den Wald. Durch die
+&Auml;ste schimmerte die Sonne; aus den B&uuml;schen t&ouml;nte
+Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei nebeneinander,
+so schnell, als wollte einer dem andern
+davonlaufen. Pl&ouml;tzlich fing Rebay wieder an: &raquo;Und
+die Leut &#8211; Kreuzdonnerwetter! &#8211; haben sie nicht
+applaudiert wie verr&uuml;ckt?... Ich hab&#8217;s ja im voraus
+gewu&szlig;t, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg
+haben! &#8211; Und es hat ihr auch eine Freud gemacht ...
+f&ouml;rmlich gelacht hat sie &uuml;bers ganze Gesicht, und die
+letzte Strophe hat sie wiederholen m&uuml;ssen. Und es
+ist auch eine r&uuml;hrende Strophe! wie sie mir eingefallen
+ist, sind mir selber die Tr&auml;nen ins Aug gekommen &#8211;
+wissen S&#8217; wegen der Anspielung auf das andere Lied,
+das sie immer singt...&laquo; Und er sang, oder er sprach
+vielmehr, nur da&szlig; er die Reimworte immer herausstie&szlig;
+wie einen Orgelton: &raquo;Wie wundersch&ouml;n war es doch
+fr&uuml;her <em class="gesperrt">auf der Welt</em>, &#8211; Wo die Sonn&#8217; mir hat
+g&#8217;schienen auf Wald und <em class="gesperrt">auf Feld</em>, &#8211; Wo i Sonntag
+mit mein&#8217; Schatz spaziert bin aufs <em class="gesperrt">Land</em> &#8211; Und er
+hat mich aus Lieb nur gef&uuml;hrt bei der <em class="gesperrt">Hand</em>. &#8211; Jetzt
+geht mir die Sonn&#8217; nimmer auf und die <em class="gesperrt">Stern&#8217;,</em> &#8211;
+Und das Gl&uuml;ck und die Liebe, die sind mir so <em class="gesperrt">fern!</em>&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Genug!&laquo; schrie Breiteneder, &raquo;ich hab&#8217;s ja geh&ouml;rt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist&#8217;s vielleicht nicht sch&ouml;n?&laquo; sagte Rebay und
+<a class="page" name="Page_147" id="Page_147" title="147"></a>schwang den Zylinder. &raquo;Es gibt nicht viele, die solche
+Couplets machen heutzutag. F&uuml;nf Gulden hat mir
+der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine
+Honorare, Herr von Breiteneder. Dabei hab ich&#8217;s
+noch einstudiert mit ihr.&laquo;</p>
+
+<p>Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang
+sehr leise den Refrain: &raquo;O Gott, wie bitter ist mir
+das geschehn &#8211; Da&szlig; ich nimmer soll den Fr&uuml;hling
+sehn ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also <em class="gesperrt">warum</em>, frag ich!...&laquo; rief Rebay. &raquo;Warum?...
+Gleich nachher war ich doch bei ihr drin ...
+Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit einem
+gl&uuml;ckseligen L&auml;cheln dag&#8217;sessen, hat ihr Viertel Wein
+getrunken, und ich hab ihr die Haar&#8217; gestreichelt und
+hab ihr g&#8217;sagt: &raquo;Na, siehst du, Marie, wie&#8217;s den
+Leuten g&#8217;fallen hat? Jetzt werden gewi&szlig; auch Leut&#8217;
+aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird
+Aufsehen machen ... Und singen tust du&#8217;s prachtvoll
+...&laquo; Und so weiter, was man halt so red&#8217;t, bei
+solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch
+hereingekommen und hat ihr gratuliert. Und Blumen
+hat sie bekommen &#8211; von Ihnen waren s&#8217; nicht, Herr
+von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung
+... Also, warum soll da mein Couplet schuld
+sein? Das ist ja ein Bl&ouml;dsinn!&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_148" id="Page_148" title="148"></a>Pl&ouml;tzlich blieb Breiteneder stehen und packte den
+Rebay bei den Schultern. &raquo;Warum haben S&#8217; ihr
+denn gesagt, da&szlig; ich da bin?... Warum denn?...
+Hab ich Sie nicht gebeten, da&szlig; Sie&#8217;s ihr nicht sagen
+sollen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Lassen S&#8217; mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt!
+Von der Alten wird sie&#8217;s geh&ouml;rt haben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte Jedek verbindlich und verbeugte
+sich, &raquo;ich war so frei, Herr von Breiteneder &#8211; ich war
+so frei. Weil ich g&#8217;wu&szlig;t hab, Sie sein da, hab ich ihr
+g&#8217;sagt, da&szlig; Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen
+g&#8217;fragt hat, w&auml;hrend sie krank war, hab ich ihr g&#8217;sagt:
+&#8250;Der Herr Breiteneder is da ... hinten bei der Latern
+is er g&#8217;standen,&#8249; hab ich ihr g&#8217;sagt, &#8250;und hat sich gro&szlig;artig
+unterhalten!&#8249;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So?&laquo; sagte Breiteneder. Es schn&uuml;rte ihm die
+Kehle zu, und er mu&szlig;te die Augen fortwenden von
+dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet hielt.
+Ermattet lie&szlig; er sich auf eine Bank nieder, an der
+sie eben vorbeikamen, und schlo&szlig; die Augen. Er sah
+sich pl&ouml;tzlich wieder im Garten sitzen, und die Stimme
+der alten Frau Ladenbauer klang ihm im Ohr: &raquo;Die
+Marie la&szlig;t Ihnen sch&ouml;n gr&uuml;&szlig;en: ob Sie nicht mit
+uns mitkommen m&ouml;chten nach der Vorstellung?&laquo; Er
+erinnerte sich, wie ihm da mit einem Male zumute
+<a class="page" name="Page_149" id="Page_149" title="149"></a>geworden war, so wunderbar wohl, als h&auml;tte ihm die
+Marie alles verziehen. Er trank seinen Wein aus
+und lie&szlig; sich einen besseren geben. Er trank so viel,
+da&szlig; ihm das ganze Leben leichter vorkam. Geradezu
+vergn&uuml;gt sah und h&ouml;rte er den folgenden Produktionen
+zu, klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung
+aus war, ging er wohlgelaunt durch den
+Garten und den Saal ins Extrazimmer des Wirtshauses,
+an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft
+nach der Vorstellung gew&ouml;hnlich versammelte. Einige
+sa&szlig;en schon da: der Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner
+Frau, irgendein Herr mit einer Brille, den Karl gar
+nicht kannte &#8211; alle begr&uuml;&szlig;ten ihn und waren gar
+nicht besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Pl&ouml;tzlich
+h&ouml;rte er die Stimme der Marie hinter sich: &raquo;Ich find
+schon hin, Mutter, ich kenn&#8217; ja den Weg.&laquo; Er wagte
+nicht, sich umzuwenden, aber da sa&szlig; sie schon neben
+ihm und sagte: &raquo;Guten Abend, Herr Breiteneder &#8211;
+wie geht&#8217;s Ihnen denn?&laquo; Und in diesem Augenblick
+erinnerte er sich auch, da&szlig; sie seinerzeit zu irgendeinem
+jungen Menschen, der fr&uuml;her einmal ihr Liebhaber
+gewesen war, sp&auml;ter immer &raquo;Sie&laquo; und &raquo;Herr&laquo; gesagt
+hatte. Und dann a&szlig; sie ihr Nachtmahl; man hatte
+ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze
+Gesellschaft war heiter und vergn&uuml;gt, als h&auml;tte sich
+<a class="page" name="Page_150" id="Page_150" title="150"></a>gar nichts ge&auml;ndert. &raquo;Gut is&#8217; gangen,&laquo; sagte der alte
+Ladenbauer. &raquo;Jetzt kommen wieder bessere Zeiten.&laquo;
+Frau Jedek erz&auml;hlte, da&szlig; alle die Stimme der Marie
+viel sch&ouml;ner gefunden hatten als fr&uuml;her, und Herr
+Wiegel-Wagel erhob sein Glas und rief: &raquo;Auf das
+Wohl der Wiedergenesenen!&laquo; Marie hielt ihr Glas
+in die Luft, alle stie&szlig;en mit ihr an, auch Karl r&uuml;hrte
+mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie
+ihre toten Augen in die seinen versenken wollte, und
+als k&ouml;nnte sie tief in ihn hineinschauen. Auch der
+Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und offerierte
+Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer,
+ein junger dicker Mann mit angstvoller Stirn,
+sa&szlig; ihr gegen&uuml;ber und unterhielt sich lebhaft mit Herrn
+Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte ihren gelben
+Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine
+Ecke, wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal
+kamen Leute von einem benachbarten Tisch her&uuml;ber
+und gratulierten Marie; sie antwortete in ihrer stillen
+Weise wie fr&uuml;her, als h&auml;tte sich nicht das Allergeringste
+ver&auml;ndert. Und pl&ouml;tzlich sagte sie zu Karl: &raquo;Aber
+warum denn gar so stumm?&laquo; Jetzt erst merkte er,
+da&szlig; er die ganze Zeit dagesessen war, ohne den Mund
+aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle,
+beteiligte sich an der Unterhaltung; nur an Marie
+<a class="page" name="Page_151" id="Page_151" title="151"></a>richtete er kein Wort. Rebay erz&auml;hlte von der sch&ouml;nen
+Zeit, da er Couplets f&uuml;r Matras geschrieben hatte,
+trug den Inhalt einer Posse vor, die er vor f&uuml;nfunddrei&szlig;ig
+Jahren verfertigt hatte, und spielte die
+Rollen selbst gewisserma&szlig;en vor. Insbesondere als
+b&ouml;hmischer Musikant erregte er gro&szlig;e Heiterkeit. Um
+eins brach man auf. Frau Ladenbauer nahm den
+Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es war
+ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes
+daran, da&szlig; um Marie die Welt nun ganz finster war.
+Karl ging neben ihr. Die Mutter fragte ihn harmlos
+nach allerlei: wie&#8217;s zu Hause ginge, wie er sich auf der
+Reise unterhalten h&auml;tte, und Karl erz&auml;hlte hastig
+von allerlei Dingen, die er gesehen, insbesondere von
+den Theatern und Singspielhallen, die er besucht hatte,
+und wunderte sich nur immer, wie sicher Marie ihren
+Weg ging, von der Mutter gef&uuml;hrt, und wie ruhig
+und heiter sie zuh&ouml;rte. Dann sa&szlig;en sie alle im Kaffeehaus,
+einem alten, rauchigen Lokal, das um diese
+Zeit schon ganz leer war; und der dicke Freund der
+ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun,
+im L&auml;rm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah
+an Karl ger&uuml;ckt, geradeso wie manchmal in fr&uuml;herer
+Zeit, so da&szlig; er die W&auml;rme ihres K&ouml;rpers sp&uuml;rte. Und
+pl&ouml;tzlich f&uuml;hlte er gar, wie sie seine Hand ber&uuml;hrte
+<a class="page" name="Page_152" id="Page_152" title="152"></a>und streichelte, ohne da&szlig; sie ein Wort dazu sprach.
+Nun h&auml;tte er so gern etwas zu ihr gesagt ... irgend
+was Liebes, Tr&ouml;stendes &#8211; aber er konnte nicht ...
+Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm,
+als s&auml;he ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht
+ein Menschenblick, sondern etwas Unheimliches,
+Fremdes, das er fr&uuml;her nicht gekannt &#8211; und es
+erfa&szlig;te ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben
+ihm s&auml;&szlig;e ... Ihre Hand bebte und entfernte sich
+sachte von der seinen, und sie sagte leise: &raquo;Warum
+hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.&laquo; Er vermochte
+wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den
+anderen. Nach einiger Zeit rief pl&ouml;tzlich eine Stimme:
+&raquo;Wo ist denn die Marie?&laquo; Es war die Frau Ladenbauer.
+Nun fiel allen auf, da&szlig; Marie verschwunden
+war. &raquo;Wo ist denn die Marie?&laquo; riefen andere. Einige
+standen auf, der alte Ladenbauer stand an der T&uuml;r
+des Kaffeehauses und rief auf die Stra&szlig;e hinaus:
+&raquo;Marie!&laquo; Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander.
+Einer sagte: &raquo;Aber wie kann man denn so
+ein Gesch&ouml;pf &uuml;berhaupt allein aufstehen und fortgehen
+lassen?&laquo; Pl&ouml;tzlich drang ein Ruf aus dem Hof
+des Hauses herein: &raquo;Bringt&#8217;s Kerzen!... Bringt&#8217;s
+Laternen!&laquo; Und eine schrie: &raquo;Jesus Maria!&laquo; Das
+war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer.
+<a class="page" name="Page_153" id="Page_153" title="153"></a>Alle st&uuml;rzten durch die kleine Kaffeehausk&uuml;che in den
+Hof. Die D&auml;mmerung kam schon &uuml;ber die D&auml;cher
+geschlichen. Um den Hof des einst&ouml;ckigen alten Hauses
+lief ein Holzgang, an der Br&uuml;stung oben lehnte ein
+Mann in Hemd&auml;rmeln, einen Leuchter mit brennender
+Kerze in der Hand, und schaute herunter. Zwei
+Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm, ein
+anderer Mann rannte &uuml;ber die knarrende Stiege
+herunter. Das war es, was Karl zuerst sah. Dann
+sah er irgend etwas vor seinen Augen schimmern,
+jemand hielt einen wei&szlig;en Spitzenschal in die H&ouml;he
+und lie&szlig; ihn wieder fallen. Er h&ouml;rte Worte neben sich:
+&raquo;Es hilft ja nichts mehr ... sie r&uuml;hrt sich nimmer ...
+Holt&#8217;s doch einen Doktor!... Was ist denn mit der
+Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...&laquo;
+Alle fl&uuml;sterten durcheinander, einige
+eilten auf die Stra&szlig;e hinaus, der einen Gestalt folgte
+Karl unwillk&uuml;rlich mit den Augen; es war die lange
+Frau Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide
+H&auml;nde verzweifelt an die Stirn, lief davon und kam
+nicht zur&uuml;ck ... Hinter Karl dr&auml;ngten Leute. Er
+mu&szlig;te mit den Ellbogen nach r&uuml;ckw&auml;rts sto&szlig;en, um
+nicht &uuml;ber die Frau Ladenbauer zu st&uuml;rzen, die auf
+der Erde kniete, Mariens beide H&auml;nde in ihrer Hand
+hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: &raquo;So
+<a class="page" name="Page_154" id="Page_154" title="154"></a>red doch!... so red doch!...&laquo; Jetzt kam endlich
+einer mit einer Laterne, der Hausbesorger, in einem
+braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er leuchtete
+der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: &raquo;Aber
+so ein Malheur! Und grad da am Brunnen mu&szlig;
+sie mit&#8217;m Kopf aufg&#8217;fallen sein.&laquo; Und nun sah
+Karl, da&szlig; Marie neben der steinernen Umfassung
+des Brunnens ausgestreckt lag. Pl&ouml;tzlich meldete sich
+der Mann in Hemd&auml;rmeln auf dem Gange: &raquo;Ich
+hab was poltern geh&ouml;rt, es ist noch keine f&uuml;nf Minuten!&laquo;
+Und alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte
+nur immer: &raquo;Es sind noch keine f&uuml;nf Minuten,
+da hab ich&#8217;s poltern geh&ouml;rt ...&laquo; &#8211; &raquo;Wie hat sie
+denn nur heraufg&#8217;funden?&laquo; fl&uuml;sterte jemand hinter
+Karl. &raquo;Aber bitt&#8217; Sie,&laquo; erwiderte ein anderer, &raquo;das
+Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich durch die
+K&uuml;che halt herausgetastet, dann hinauf &uuml;ber die
+Holzstiegen, und dann &uuml;ber die Br&uuml;stung hinunter &#8211;
+is ja net so schwer!&laquo; So fl&uuml;sterte es rings um Karl,
+aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl
+es sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und
+er wandte sich auch nicht um. Irgendwo in der
+Nachbarschaft kr&auml;hte ein Hahn. Karl war es zumut
+wie in einem Traum. Der Hausmeister stellte die
+Laterne auf die Umfassung des Brunnens; die Mutter
+<a class="page" name="Page_155" id="Page_155" title="155"></a>schrie: &raquo;Kommt denn nicht bald ein Doktor?&laquo; Der
+alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die
+H&ouml;he, so da&szlig; das Licht der Laterne ihr gerade ins
+Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie die Nasenfl&uuml;gel
+sich regten, die Lippen zuckten und wie die
+offenen toten Augen ihn geradeso anschauten, wie
+fr&uuml;her. Er sah jetzt auch, da&szlig; es an der Stelle, von
+der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte,
+rot und feucht war. Er rief: &raquo;Marie! Marie!&laquo; Aber
+es h&ouml;rte ihn niemand, und er h&ouml;rte sich selber nicht.
+Der Mann oben im Gang stand noch immer da,
+lehnte &uuml;ber die Br&uuml;stung, die zwei Frauen neben
+ihm, als wohnten sie einer Vorstellung bei. Die Kerze
+war ausgel&ouml;scht. Violetter Fr&uuml;hd&auml;mmer lag &uuml;ber
+dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie
+auf das zusammengefaltete wei&szlig;e Spitzentuch gebettet;
+Karl blieb regungslos stehen und starrte hinab. Es
+war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, da&szlig; alles
+in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und da&szlig;
+sich nichts bewegte als die Blutstropfen, die von der
+Stirne, aus den Haaren &uuml;ber die Wangen, &uuml;ber den
+Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster hinabrannen;
+und er wu&szlig;te nun, da&szlig; Marie tot war ...</p>
+
+<p>Karl &ouml;ffnete die Augen, wie um einen b&ouml;sen Traum
+zu verscheuchen. Er sa&szlig; allein auf der Bank am Weg<a class="page" name="Page_156" id="Page_156" title="156"></a>rande,
+und er sah, wie der Kapellmeister Rebay und
+der verr&uuml;ckte Jedek dieselbe Stra&szlig;e hinuntereilten,
+die sie alle miteinander heraufgegangen waren. Die
+beiden schienen heftig miteinander zu reden, mit
+fuchtelnden H&auml;nden und gewaltigen Geb&auml;rden, der
+Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie
+am Horizont ab; immer rascher gingen sie, von einer
+leichten Staubwolke begleitet, aber ihre Worte
+verklangen im Wind. Ringsherum gl&auml;nzte die Landschaft,
+und tief unten in der Glut des Mittags schwamm
+und zitterte die Stadt.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_157" id="Page_157" title="157"></a></p>
+<h2 class="novelle"><a name="Die_griechische_Taenzerin" id="Die_griechische_Taenzerin"></a>Die griechische T&auml;nzerin</h2>
+
+
+<p class="newsection">Die Leute m&ouml;gen sagen, was sie wollen, ich glaube
+nicht daran, da&szlig; Frau Mathilde Samodeski
+an Herzschlag gestorben ist. Ich wei&szlig; es besser. Ich
+gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute
+zur ersehnten Ruhe hinaustr&auml;gt; ich habe keine Lust, den
+Mann zu sehen, der es ebensogut wei&szlig; als ich, warum sie
+gestorben ist; ihm die Hand zu dr&uuml;cken und zu schweigen.</p>
+
+<p>Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings
+etwas weit, aber der Herbsttag ist sch&ouml;n und
+still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald werde
+ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich
+im vergangenen Fr&uuml;hjahr Mathilde zum letztenmal
+gesehen habe. Die Fensterladen der Villa werden
+alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden r&ouml;tliche
+Bl&auml;tter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich
+wohl den wei&szlig;en Marmor durch die B&auml;ume schimmern
+sehen, aus dem die griechische T&auml;nzerin gemei&szlig;elt ist.</p>
+
+<p>An jenen Abend mu&szlig; ich heute viel denken. Es
+kommt mir fast wie eine F&uuml;gung vor, da&szlig; ich mich
+damals noch im letzten Augenblick entschlossen hatte,
+die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da
+ich doch im Laufe der Jahre die Freude an allem ge<a class="page" name="Page_158" id="Page_158" title="158"></a>selligen
+Treiben so ganz verloren habe. Vielleicht
+war der laue Wind schuld, der abends von den H&uuml;geln
+in die Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte.
+&Uuml;berdies sollte es ja ein Gartenfest sein, mit
+dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen wollten,
+und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu
+f&uuml;rchten. Sonderbar ist es auch, da&szlig; ich im Hinausfahren
+kaum an die M&ouml;glichkeit dachte, Frau Mathilde
+drau&szlig;en zu begegnen. Und dabei war mir doch
+bekannt, da&szlig; Herr Wartenheimer die griechische
+T&auml;nzerin von Samodeski f&uuml;r seine Villa gekauft hatte;
+&#8211; und da&szlig; Frau von Wartenheimer in den Bildhauer
+verliebt war, wie alle &uuml;brigen Frauen, das wu&szlig;t&#8217; ich
+nicht minder. Aber selbst davon abgesehen h&auml;tte ich
+wohl an Mathilde denken k&ouml;nnen, denn zur Zeit, da
+sie noch M&auml;dchen war, hatte ich manche sch&ouml;ne Stunde
+mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer
+am Genfer See vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor
+ihrer Verlobung, den ich nicht so leicht vergessen werde.
+Es scheint sogar, da&szlig; ich mir damals trotz meiner
+grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn
+als sie im Jahre darauf Samodeskis Gattin wurde,
+empfand ich einige Entt&auml;uschung und war vollkommen
+&uuml;berzeugt &#8211; oder hoffte sogar &#8211;, da&szlig; sie mit ihm
+nicht gl&uuml;cklich werden k&ouml;nnte. Erst auf dem Fest, das
+<a class="page" name="Page_159" id="Page_159" title="159"></a>Gregor Samodeski kurz nach der R&uuml;ckkehr von der
+Hochzeitsreise in seinem Atelier in der Gu&szlig;hausgasse
+gab, wo alle Geladenen l&auml;cherlicherweise in japanischen
+oder chinesischen Kost&uuml;men erscheinen mu&szlig;ten, habe
+ich Mathilde wiedergesehen. Ganz unbefangen begr&uuml;&szlig;te
+sie mich; ihr ganzes Wesen machte den Eindruck
+der Ruhe und Heiterkeit. Aber sp&auml;ter, w&auml;hrend
+sie im Gespr&auml;ch mit anderen war, traf mich manchmal
+ein seltsamer Blick aus ihren Augen, und nach einiger
+Bem&uuml;hung habe ich deutlich verstanden, was er
+zu bedeuten hatte. Er sagte: &#8250;Lieber Freund, Sie
+glauben, da&szlig; er mich um des Geldes willen geheiratet
+hat; Sie glauben, da&szlig; er mich nicht liebt; Sie glauben,
+da&szlig; ich nicht gl&uuml;cklich bin &#8211; aber Sie irren sich ...
+Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie
+gut gelaunt ich bin, wie meine Augen leuchten.&#8249;</p>
+
+<p>Ich bin ihr auch sp&auml;ter noch einige Male begegnet,
+aber immer nur ganz fl&uuml;chtig. Einmal auf einer Reise
+kreuzten sich unsere Z&uuml;ge; ich speiste mit ihr und
+ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er
+erz&auml;hlte allerhand Witze, die mich nicht sonderlich
+am&uuml;sierten. Auch im Theater sprach ich sie einmal,
+sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich noch
+immer sch&ouml;ner ist als sie ... der Teufel wei&szlig;, wo Herr
+Samodeski damals gewesen ist. Und im letzten Winter
+<a class="page" name="Page_160" id="Page_160" title="160"></a>hab ich sie im Prater gesehen; an einem klaren,
+kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen M&auml;derl unter
+den kahlen Kastanien &uuml;ber den Schnee. Der Wagen
+fuhr langsam nach. Ich befand mich auf der anderen
+Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal hin&uuml;ber.
+Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen
+Dingen besch&auml;ftigt; auch interessierte mich Mathilde
+schlie&szlig;lich nicht mehr besonders. So w&uuml;rde ich mir
+heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken &uuml;ber sie
+und &uuml;ber ihren pl&ouml;tzlichen Tod machen, wenn nicht
+jenes letzte Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden
+h&auml;tte. Dieses Abends erinnere ich mich
+heute mit einer merkw&uuml;rdigen, geradezu peinlichen
+Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See.
+Es war schon ziemlich d&auml;mmerig, als ich hinauskam.
+Die G&auml;ste gingen in den Alleen spazieren, ich begr&uuml;&szlig;te
+den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher
+t&ouml;nte die Musik einer kleinen Salonkapelle,
+die in einem Boskett versteckt war. Bald kam ich
+zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von hohen
+B&auml;umen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen
+Postament, so da&szlig; sie &uuml;ber dem Wasser zu schweben
+schien, leuchtete die griechische T&auml;nzerin; durch
+elektrische Flammen vom Hause her war sie &uuml;brigens
+etwas theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des
+<a class="page" name="Page_161" id="Page_161" title="161"></a>Aufsehens, das sie im Jahre vorher in der Sezession
+erregt hatte; ich mu&szlig; gestehen, auch auf mich machte
+sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend
+zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare
+Empfindung habe, da&szlig; eigentlich nicht er es ist, der die
+sch&ouml;nen Sachen macht, die ihm zuweilen gelingen,
+sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas Unbegreifliches,
+Gl&uuml;hendes, D&auml;monisches meinethalben,
+das ganz bestimmt erl&ouml;schen wird, wenn er einmal aufh&ouml;ren
+wird, jung und geliebt zu sein. Ich glaube, es gibt
+mancherlei K&uuml;nstler dieser Art, und dieser Umstand erf&uuml;llt
+mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung.</p>
+
+<p>In der N&auml;he des Teiches begegnete ich Mathilden.
+Sie schritt am Arm eines jungen Mannes, der aussah
+wie ein Korpsstudent und sich mir als Verwandter
+des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr
+vergn&uuml;gt plaudernd im Garten hin und her, in dem
+jetzt &uuml;berall Lichter aufgeflackert waren. Die Frau
+des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen. Wir
+blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen
+Verwunderung sagte ich dem Bildhauer einige h&ouml;chst
+anerkennende Worte &uuml;ber die griechische T&auml;nzerin.
+Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar
+lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie
+das an solchen Fr&uuml;hlingsabenden manchmal vor<a class="page" name="Page_162" id="Page_162" title="162"></a>kommt:
+Leute, die einander sonst gleichg&uuml;ltig sind,
+begr&uuml;&szlig;en sich herzlich, andere, die schon eine gewisse
+Sympathie verbindet, f&uuml;hlen sich zu allerlei Herzensergie&szlig;ungen
+angeregt. Als ich beispielsweise eine
+Weile sp&auml;ter auf einer Bank sa&szlig; und eine Zigarette
+rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur
+oberfl&auml;chlich kannte und der pl&ouml;tzlich die Leute zu
+preisen begann, die von ihrem Reichtum einen so
+vornehmen Gebrauch machen wie unser Gastgeber.
+Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich
+Herrn von Wartenheimer sonst f&uuml;r einen ganz einf&auml;ltigen
+Snob halte. Dann teilte ich wieder dem Herrn
+ganz ohne Grund meine Ansichten &uuml;ber moderne
+Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe,
+Ansichten, die f&uuml;r ihn sonst gewi&szlig; ohne jedes Interesse
+gewesen w&auml;ren; aber unter dem Einflusse dieses verf&uuml;hrerischen
+Fr&uuml;hlingsabends stimmte er mir begeistert
+zu. Sp&auml;ter traf ich die Nichten des Hausherrn, die
+das Fest &auml;u&szlig;erst romantisch fanden, haupts&auml;chlich, weil
+die Lichter zwischen den Bl&auml;ttern hervorgl&auml;nzten und
+Musik in der Ferne ert&ouml;nte. Dabei standen wir gerade
+neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung
+nicht unsinnig. So sehr stand auch ich unter
+dem Banne der allgemeinen Stimmung.</p>
+
+<p>Das Abendessen wurde an kleinen Tischen ein<a class="page" name="Page_163" id="Page_163" title="163"></a>genommen,
+die, soweit es der Platz erlaubte, auf der
+gro&szlig;en Terrasse, zum andern Teil im ansto&szlig;enden
+Salon aufgestellt waren. Die drei gro&szlig;en Glast&uuml;ren
+standen weit offen. Ich sa&szlig; an einem Tisch im Freien
+mit einer der Nichten; an meiner anderen Seite hatte
+Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah
+wie ein Korpsstudent, &uuml;brigens aber Bankbeamter
+und Reserveoffizier war. Gegen&uuml;ber von uns, aber
+schon im Saal, sa&szlig; Samodeski zwischen der Frau des
+Hauses und irgendeiner anderen sch&ouml;nen Dame, die
+ich nicht kannte. Er warf seiner Gattin eine scherzhaft
+verwegene Ku&szlig;hand zu; sie nickte ihm zu und l&auml;chelte.
+Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich
+genau. Er war wirklich sch&ouml;n mit seinen stahlblauen
+Augen und dem langen schwarzen Spitzbarte, den er
+manchmal mit zwei Fingern der linken Hand am Kinn
+zurechtstrich. Ich glaube aber auch, da&szlig; ich nie in
+meinem Leben einen Mann so sehr von Worten,
+Blicken, Geb&auml;rden gewisserma&szlig;en umgl&uuml;ht gesehen
+habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es,
+als lie&szlig;e er sich das eben nur gefallen. Aber bald sah
+ich an seiner Art, den Frauen leise zuzufl&uuml;stern, an
+seinen unertr&auml;glichen Siegerblicken und besonders an
+der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, da&szlig; die
+scheinbar harmlose Unterhaltung von irgendeinem
+<a class="page" name="Page_164" id="Page_164" title="164"></a>geheimen Feuer gen&auml;hrt wurde. Nat&uuml;rlich mu&szlig;te
+Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich;
+aber sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit
+ihrem Nachbarn, bald mit mir. Allm&auml;hlich wandte sie
+sich zu mir allein, erkundigte sich nach verschiedenen
+&auml;u&szlig;eren Umst&auml;nden meines Lebens und lie&szlig; sich von
+meiner vorj&auml;hrigen Reise nach Athen berichten. Dann
+sprach sie von ihrer Kleinen, die merkw&uuml;rdigerweise
+schon heute Lieder von Schumann nach dem Geh&ouml;r
+singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch
+auf ihre alten Tage ein H&auml;uschen in Hietzing gekauft,
+von alten Kirchenstoffen, die sie selbst im vorigen Jahr
+in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert
+anderen Dingen. Aber unter der Oberfl&auml;che dieses
+Gespr&auml;ches ging etwas ganz anderes zwischen uns
+vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie versuchte mich
+durch ihre Ruhe von der Ungetr&uuml;btheit ihres Gl&uuml;ckes
+zu &uuml;berzeugen &#8211; und ich wehrte mich dagegen, ihr zu
+glauben. Ich mu&szlig;te wieder an jenen japanisch-chinesischen
+Abend in Samodeskis Atelier denken, wo
+sie sich in gleicher Weise bem&uuml;ht hatte. Diesmal f&uuml;hlte
+sie wohl, da&szlig; sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete
+und da&szlig; sie irgend etwas ganz Besonderes
+ausdenken mu&szlig;te, um sie zu zerstreuen. Und so kam
+sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und
+<a class="page" name="Page_165" id="Page_165" title="165"></a>verliebte Benehmen der zwei sch&ouml;nen Frauen ihrem
+Gatten gegen&uuml;ber aufmerksam zu machen und begann
+von seinem Gl&uuml;ck bei Frauen zu sprechen, als wenn
+sie sich auch daran geradeso wie an seiner Sch&ouml;nheit
+und an seinem Genie ohne jede Unruhe und jedes
+Mi&szlig;trauen als gute Kameradin freuen d&uuml;rfte. Aber
+je mehr sie sich bem&uuml;hte, vergn&uuml;gt und ruhig zu
+scheinen, um so tiefere Schatten flogen &uuml;ber ihre
+Stirne hin. Als sie einmal das Glas erhob, um
+Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte
+sie verbergen, unterdr&uuml;cken; dadurch verfiel aber nicht
+nur ihre Hand, sondern der Arm, ihre ganze Gestalt
+f&uuml;r einige Sekunden in eine solche Starrheit, da&szlig; mir
+beinahe bange wurde. Sie fa&szlig;te sich wieder, sah mich
+rasch von der Seite an, merkte offenbar, da&szlig; sie daran
+war, ihr Spiel endg&uuml;ltig zu verlieren, und sagte pl&ouml;tzlich,
+wie mit einem letzten verzweifelten Versuch: &raquo;Ich
+wette, Sie halten mich f&uuml;r eifers&uuml;chtig.&laquo; Und ehe ich
+Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu:
+&raquo;Oh, das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor
+selbst geglaubt.&laquo; Sie sprach absichtlich ganz laut, man
+h&auml;tte dr&uuml;ben jedes Wort h&ouml;ren k&ouml;nnen. &raquo;Nun ja,&laquo;
+sagte sie mit einem Blick hin&uuml;ber, &raquo;wenn man einen
+solchen Mann hat: sch&ouml;n und ber&uuml;hmt ... und selber
+den Ruf, nicht sonderlich h&uuml;bsch zu sein ... Oh, Sie
+<a class="page" name="Page_166" id="Page_166" title="166"></a>brauchen mir nichts zu erwidern ... ich wei&szlig; ja, da&szlig;
+ich seit meinem M&auml;derl ein bi&szlig;chen h&uuml;bscher geworden
+bin.&laquo; Sie hatte m&ouml;glicherweise recht, aber f&uuml;r ihren
+Gemahl &#8211; davon war ich v&ouml;llig &uuml;berzeugt &#8211; hatte
+der Adel ihrer Z&uuml;ge nie sonderlich viel bedeutet, und
+was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der m&auml;dchenhaften
+Schlankheit f&uuml;r ihn wahrscheinlich ihren einzigen
+Reiz verloren. Doch ich stimmte ihr nat&uuml;rlich mit &uuml;bertriebenen
+Worten bei; sie schien erfreut und fuhr mit
+wachsendem Mute fort: &raquo;Aber ich habe nicht das
+geringste Talent zur Eifersucht. Das habe ich selbst
+nicht gleich gewu&szlig;t; ich bin erst allm&auml;hlich darauf
+gekommen, und zwar haupts&auml;chlich vor ein paar Jahren
+in Paris ... Sie wissen ja, da&szlig; wir dort waren?&laquo;</p>
+
+<p>Ich erinnerte mich.</p>
+
+<p>&raquo;Gregor hat dort die B&uuml;sten der F&uuml;rstin La Hire
+und des Ministers Chocquet gemacht und mancherlei
+anderes. Wir haben dort so angenehm gelebt wie
+junge Leute ... das hei&szlig;t, jung sind wir ja noch
+beide ... ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir
+auch gelegentlich in die gro&szlig;e Welt gingen ... Wir
+waren ein paarmal beim &ouml;sterreichischen Botschafter,
+die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen
+aber machten wir uns nicht viel aus dem eleganten
+Leben. Wir wohnten sogar drau&szlig;en auf Montmartre,
+<a class="page" name="Page_167" id="Page_167" title="167"></a>in einem ziemlich sch&auml;bigen Haus, wo &uuml;brigens Gregor
+auch sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den
+jungen K&uuml;nstlern, mit denen wir dort verkehrten,
+hatten manche keine Ahnung, da&szlig; wir verheiratet
+waren. Ich bin &uuml;berall mit ihm herumgestiefelt. Oft
+bin ich in der Nacht mit ihm im Caf&eacute; Athen&eacute;s gesessen,
+mit L&eacute;andre, Carabin und vielen anderen.
+Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer Gesellschaft,
+mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht
+verkehren m&ouml;chte ... obzwar schlie&szlig;lich &#8211; &#8211;&laquo; Sie
+warf einen hastigen Blick hin&uuml;ber auf Frau Wartenheimer
+und fuhr rasch wieder fort: &raquo;Und manche war
+sehr h&uuml;bsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte
+von Henri Chabran dort, die seit seinem Tode immer
+ganz in Schwarz ging und jede Woche einen anderen
+Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle
+Trauer tragen mu&szlig;ten, das verlangte sie ... Sonderbare
+Leute lernt man kennen. Sie k&ouml;nnen sich denken,
+da&szlig; die Frauen meinem Manne dort nicht weniger
+nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen.
+Aber da ich doch immer mit ihm war &#8211; oder meistens,
+so wagten sie sich nicht recht an ihn heran, um so
+weniger, als ich f&uuml;r seine Geliebte galt ... Ja, wenn
+sie gewu&szlig;t h&auml;tten, da&szlig; ich nur seine Frau war &#8211;!
+Und da bin ich einmal auf einen sonderbaren Einfall
+<a class="page" name="Page_168" id="Page_168" title="168"></a>gekommen, den Sie mir gewi&szlig; nie zugetraut h&auml;tten
+&#8211; und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute
+selbst &uuml;ber meinen Mut.&laquo; Sie sah vor sich hin und
+sprach leiser als fr&uuml;her: &raquo;Es ist &uuml;brigens auch m&ouml;glich,
+da&szlig; es schon mit etwas im Zusammenhang stand &#8211;
+nun, Sie k&ouml;nnen sich&#8217;s ja denken. Seit ein paar
+Wochen wu&szlig;te ich, da&szlig; ich ein Kind zu erwarten hatte.
+Das machte mich unerh&ouml;rt gl&uuml;cklich. Im Anfang war
+ich nicht nur heiterer, sondern merkw&uuml;rdigerweise auch
+viel beweglicher als jemals fr&uuml;her ... Also denken Sie,
+eines sch&ouml;nen Abends habe ich mir M&auml;nnerkleider
+angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer aus.
+Nat&uuml;rlich hab ich ihm vor allem das Versprechen
+abgenommen, da&szlig; er sich keinerlei Zwang antun
+d&uuml;rfte ... nun ja, sonst h&auml;tte die ganze Geschichte
+keinen Sinn gehabt. Ich habe &uuml;brigens famos ausgesehen
+&#8211; Sie h&auml;tten mich nicht erkannt ... niemand
+h&auml;tte mich erkannt. Ein Freund von Gregor, ein
+gewisser L&eacute;once Albert, ein junger Maler, ein buckliger
+Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wundersch&ouml;n
+... Mai ... ganz warm ... und ich war frech,
+davon machen Sie sich keinen Begriff. Denken Sie
+sich, ich hab meinen &Uuml;berzieher &#8211; einen sehr eleganten
+gelben &Uuml;berzieher &#8211; einfach abgelegt und ihn auf
+dem Arm getragen ... so wie das eben Herren zu
+<a class="page" name="Page_169" id="Page_169" title="169"></a>tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich
+dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem
+&auml;u&szlig;eren Boulevard haben wir diniert, dann sind wir
+in die Roulotte gegangen, wo damals Legay sang und
+Montoya ... <em class="antiqua">&raquo;Tu t&#8217;en iras les pieds devant&laquo;</em> ...
+Sie haben es ja neulich hier geh&ouml;rt im Wiedener Theater
+&#8211; nicht wahr?&laquo; Jetzt warf Mathilde einen
+raschen Blick zu ihrem Mann hin&uuml;ber, der nicht darauf
+achtete. Es war, als wenn sie nun auf l&auml;ngere Zeit
+von ihm Abschied n&auml;hme. Und nun erz&auml;hlte sie drauflos,
+immer heftiger, st&uuml;rzte sozusagen vorw&auml;rts. &raquo;In
+der Roulotte,&laquo; sagte sie, &raquo;war eine sehr elegante Dame,
+die ganz nahe vor uns sa&szlig;; die kokettierte mit Gregor,
+aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man
+kann sich nichts Unanst&auml;ndigeres vorstellen. Ich werde
+nie begreifen, da&szlig; ihr Gatte sie nicht auf der Stelle
+erw&uuml;rgt hat. Ich h&auml;tte es getan. Ich glaube, es war
+eine Herzogin ... Nun, Sie m&uuml;ssen nicht lachen, es
+war gewi&szlig; eine Dame der gro&szlig;en Welt, trotz ihres
+Benehmens ... das kann man schon beurteilen ...
+Und ich wollte eigentlich, da&szlig; Gregor auf die Sache
+einginge ... nat&uuml;rlich! &#8211; ich h&auml;tte gern gesehen, wie
+man so etwas anf&auml;ngt ... ich w&uuml;nschte, da&szlig; er ihr
+einen Brief zusteckte &#8211; oder sonst was t&auml;te &#8211; was er
+eben in solchen F&auml;llen getan haben wird, bevor ich
+<a class="page" name="Page_170" id="Page_170" title="170"></a>seine Frau wurde ... Ja, das wollte ich, trotzdem es
+nicht ohne Gefahr f&uuml;r ihn gewesen w&auml;re. Offenbar
+steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ...
+Aber Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir
+gingen sogar recht bald fort, wieder hinaus in die
+sch&ouml;ne Mainacht, L&eacute;once blieb immer mit uns. Der
+hat sich &uuml;brigens an diesem Abend in mich verliebt
+und wurde gegen seine Gewohnheit geradezu galant.
+Es war sonst ein sehr versch&uuml;chterter Mensch &#8211; wegen
+seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: &raquo;Man mu&szlig;
+wohl einen gelben &Uuml;berzieher haben, damit Sie einem
+den Hof machen.&laquo; Wir sind so vergn&uuml;gt weiterspaziert
+wie drei Studenten. Und jetzt kam das Interessante:
+wir gingen n&auml;mlich ins Moulin Rouge. Das geh&ouml;rte
+zum Programm. Es war auch notwendig, da&szlig; endlich
+irgend etwas geschah. Bisher hatten wir ja noch gar
+nichts erlebt ... nur mich &#8211; denken Sie: mich selbst &#8211;
+hatte ein Frauenzimmer auf der Stra&szlig;e angeredet.
+Aber das war ja nicht die Absicht gewesen ... Um
+ein Uhr waren wir im Moulin Rouge. Wie es da
+zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte
+ich mir&#8217;s &auml;rger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs
+dort nicht das Geringste, und es sah ganz danach aus,
+als sollte der ganze Scherz zu nichts f&uuml;hren. Ich war
+ein bi&szlig;chen &auml;rgerlich. &raquo;Du bist ein Kind,&laquo; sagte Gregor.
+<a class="page" name="Page_171" id="Page_171" title="171"></a>&raquo;Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und
+sie fallen uns zu F&uuml;&szlig;en &#8211;?&laquo; Er sagte &raquo;uns&laquo; aus
+H&ouml;flichkeit f&uuml;r L&eacute;once; es war keine Rede davon, da&szlig;
+man L&eacute;once zu F&uuml;&szlig;en fallen konnte. Aber wie wir
+nun schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause
+zu gehen, nahm die Sache eine Wendung. Mir fiel
+n&auml;mlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ... die
+schon ein paarmal ganz zuf&auml;llig an uns vor&uuml;bergegangen
+war ... Sie war ganz ernst und sah ziemlich
+anders aus als die meisten anwesenden Damen.
+Sie war gar nicht auffallend gekleidet &#8211; in Wei&szlig;,
+vollkommen in Wei&szlig; ... Ich hatte bemerkt, wie sie
+zwei oder drei Herren, die sie ansprachen, &uuml;berhaupt
+gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne sie
+eines Blickes zu w&uuml;rdigen. Sie schaute nur dem Tanze
+zu, sehr ruhig, interessiert, sachlich m&ouml;chte ich sagen ...
+L&eacute;once fragte &#8211; ich hatte ihn darum gebeten &#8211; ein
+paar Bekannte, ob ihnen das h&uuml;bsche Wesen schon
+irgendwo begegnet w&auml;re, und einer erinnerte sich, da&szlig;
+er sie im vorigen Winter auf einem der Donnerstagsb&auml;lle
+im Quartier Latin gesehen hatte. L&eacute;once sprach
+sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm
+gab sie Antwort. Dann kam er mit ihr n&auml;her, wir
+setzten uns alle an einen kleinen Tisch und tranken
+Champagner. Gregor k&uuml;mmerte sich gar nicht um sie
+<a class="page" name="Page_172" id="Page_172" title="172"></a>&#8211; als wenn sie &uuml;berhaupt nicht dagewesen w&auml;re ...
+Er plauderte mit mir, immer nur mit mir ... Das
+schien sie nun besonders zu reizen. Sie wurde immer
+heiterer, gespr&auml;chiger, ungenierter, und wie das so
+kommt, allm&auml;hlich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte
+erz&auml;hlt. Was so ein armes Ding alles erleben kann &#8211;
+oder erleben mu&szlig;, m&ouml;glicherweise! Man liest ja so
+oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz
+Wirkliches h&ouml;rt, von einer, die daneben sitzt, da ist
+es doch ganz sonderbar. Ich erinnere mich noch an
+mancherlei. Wie sie f&uuml;nfzehn Jahre alt war, hat sie
+irgendeiner verf&uuml;hrt und sitzen lassen. Dann war sie
+Modell. Auch Statistin an einem kleinen Theater
+ist sie gewesen. &#8211; Was sie uns vom Direktor f&uuml;r Dinge
+erz&auml;hlte!... Ich w&auml;re auf und davon gelaufen, wenn
+ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert
+gewesen w&auml;re ... Dann hatte sie sich in
+einen Studenten der Medizin verliebt, der in der
+Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der
+Leichenkammer ab ... oder blieb vielmehr mit ihm
+dort ... nein, es ist nicht m&ouml;glich, zu wiederholen, was
+sie uns erz&auml;hlt hat! &#8211; Der Mediziner verlie&szlig; sie nat&uuml;rlich
+auch. Und das wollte sie nicht &uuml;berleben &#8211;
+gerade das! Und sie brachte sich um, das hei&szlig;t, sie
+versuchte es. Sie machte sich selbst dar&uuml;ber lustig ...
+<a class="page" name="Page_173" id="Page_173" title="173"></a>in Ausdr&uuml;cken! Ich h&ouml;re noch ihre Stimme ... es
+klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie l&uuml;ftete
+ihr Kleid ein wenig und zeigte &uuml;ber der linken Brust
+eine kleine r&ouml;tliche Narbe. Und wie wir alle diese kleine
+Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie &#8211; nein,
+schreit sie pl&ouml;tzlich meinen Mann an: &raquo;K&uuml;ssen!&laquo; Ich
+sagte Ihnen schon, Gregor k&uuml;mmerte sich gar nicht um
+sie. Auch w&auml;hrend sie ihre Geschichten erz&auml;hlte, h&ouml;rte
+er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte Zigaretten,
+und jetzt, wie sie ihn so anrief, l&auml;chelte er kaum. Ich
+hab ihn aber gesto&szlig;en, gezwickt, ich war ja wirklich
+etwas beduselt ... jedenfalls war es die sonderbarste
+Stimmung meines Lebens. Und ob er nun wollte
+oder nicht, er mu&szlig;te die Narbe ... das hei&szlig;t, er mu&szlig;te
+so tun, als ber&uuml;hrte er die Stelle mit den Lippen.
+Ja, und dann wurde es immer lustiger und toller.
+Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend &#8211;
+und gar nicht gewu&szlig;t, warum. Und nie h&auml;tte ich es
+f&uuml;r m&ouml;glich gehalten, da&szlig; sich ein weibliches Wesen
+&#8211; und noch dazu solch eines &#8211; im Verlauf einer
+Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben
+k&ouml;nnte, wie dieses Gesch&ouml;pf in Gregor. Sie hie&szlig;
+Madeleine.&laquo;</p>
+
+<p>Ich wei&szlig; nicht, ob Frau Mathilde den Namen
+absichtlich lauter aussprach &#8211; jedenfalls schien es mir,
+<a class="page" name="Page_174" id="Page_174" title="174"></a>als h&ouml;rte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns her&uuml;ber;
+seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber
+unsere Blicke begegneten sich und blieben eine ganze
+Weile ineinander ruhen, nicht eben mit besonderer
+Sympathie. Dann pl&ouml;tzlich l&auml;chelte er seiner Gattin
+zu, sie nickte zur&uuml;ck, er sprach mit seinen Nachbarinnen
+weiter, und sie wandte sich wieder zu mir.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann mich nat&uuml;rlich nicht mehr an alles
+erinnern, was Madeleine sp&auml;ter gesprochen hat,&laquo; sagte
+sie, &raquo;es war ja alles so wirr. Aber ich will aufrichtig
+sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bi&szlig;chen
+verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand
+meines Mannes nahm und k&uuml;&szlig;te. Aber gleich war es
+wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem Augenblick
+mu&szlig;te ich an unser Kind denken. Und da hab ich
+gef&uuml;hlt, wie unaufl&ouml;slich ich und Gregor miteinander
+verbunden waren, und wie alles andere nichts sein
+konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Kom&ouml;die,
+wie heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir
+sind dann noch alle bis zum Morgengrauen auf dem
+Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da h&ouml;rte
+ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie
+nach Hause begleiten. Er lachte sie aus. Und dann,
+um den Spa&szlig; zu einem guten und in gewissem Sinne
+vorteilhaften Ende zu f&uuml;hren &#8211; Sie wissen ja, was
+<a class="page" name="Page_175" id="Page_175" title="175"></a>die K&uuml;nstler alle f&uuml;r Egoisten sind ... insofern es sich
+n&auml;mlich um ihre Kunst handelt ... &#8211; kurz, er sagte
+ihr, da&szlig; er Bildhauer sei, und forderte sie auf, n&auml;chstens
+zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren. Sie
+antwortete: &raquo;Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich
+mich h&auml;ngen! Aber ich komm&#8217; doch.&laquo;</p>
+
+<p>Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen
+eines weiblichen Wesens so viel Leid ausdr&uuml;cken &#8211;
+oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich gefa&szlig;t
+zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte,
+fuhr sie fort: &raquo;Gregor wollte durchaus, ich sollte am
+n&auml;chsten Tag im Atelier sein. Ja, er machte mir sogar
+den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu
+bleiben, wenn sie k&auml;me. Nun, es gibt Frauen, viele
+Frauen, ich wei&szlig; es, die darauf eingegangen w&auml;ren.
+Ich aber finde: entweder man glaubt oder man glaubt
+nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben.
+Hab ich nicht recht?&laquo; Und sie sah mich mit gro&szlig;en,
+fragenden Augen an. Ich nickte nur, und sie sprach
+weiter: &raquo;Madeleine kam nat&uuml;rlich am Tag darauf und
+dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher
+gekommen ist ... und da&szlig; sie eine der sch&ouml;nsten
+war, k&ouml;nnen Sie mir glauben. Sie selbst sind erst
+heute vor ihr in Bewunderung gestanden, drau&szlig;en
+am Teich.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_176" id="Page_176" title="176"></a>&raquo;Die T&auml;nzerin?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und
+nun denken Sie, da&szlig; ich in einem solchen oder in
+einem anderen Falle mi&szlig;trauisch gewesen w&auml;re!
+W&uuml;rde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual
+gemacht haben? Ich bin sehr froh, da&szlig; ich keine Anlage
+zur Eifersucht habe.&laquo;</p>
+
+<p>Irgend jemand stand in der offenen Mittelt&uuml;r und
+hatte begonnen, einen wahrscheinlich sehr witzigen
+Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn die Leute
+lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete
+Mathilde, die ebensowenig zuh&ouml;rte wie ich. Und ich
+sah, wie sie zu ihrem Gatten hin&uuml;berschaute und ihm
+einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche
+Liebe verriet, sondern auch ein unersch&uuml;tterliches
+Vertrauen heuchelte, als w&auml;re es wahrhaftig ihre
+h&ouml;chste Pflicht, ihn im Genu&szlig; des Daseins auf keine
+Weise zu st&ouml;ren. Und er empfing auch diesen Blick
+&#8211; l&auml;chelnd, unbeirrt, obwohl er nat&uuml;rlich ebensogut
+wu&szlig;te als ich, da&szlig; sie litt und ihr Leben lang gelitten
+hat wie ein Tier.</p>
+
+<p>Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem
+Herzschlag. Ich habe an jenem Abend Mathilde zu
+gut kennen gelernt, und f&uuml;r mich steht es fest: so
+wie sie vor ihrem Gatten die gl&uuml;ckliche Frau gespielt
+<a class="page" name="Page_177" id="Page_177" title="177"></a>hat vom ersten Augenblick bis zum letzten, w&auml;hrend
+er sie belogen und zum Wahnsinn getrieben hat, so
+hat sie ihm auch schlie&szlig;lich einen nat&uuml;rlichen Tod
+vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht
+mehr ertragen konnte. Und er hatte auch dieses letzte
+Opfer hingenommen, als k&auml;me es ihm zu.</p>
+
+<p>Da stehe ich vor dem Gitter ... Die L&auml;den sind
+fest geschlossen. Wei&szlig; und wie verzaubert liegt die
+kleine Villa im D&auml;mmerschein, und dort schimmert
+der Marmor zwischen den roten Zweigen ...</p>
+
+<p>Vielleicht bin ich &uuml;brigens ungerecht gegen Samodeski.
+Am Ende ist er so dumm, da&szlig; er die Wahrheit
+wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu denken,
+da&szlig; es f&uuml;r Mathilde im Tode keine gr&ouml;&szlig;ere Wonne
+g&auml;be, als zu wissen, da&szlig; ihr letzter himmlischer Betrug
+gelungen ist.</p>
+
+<p>Oder irre ich mich gar? Und es war ein nat&uuml;rlicher
+Tod?... Nein, ich lasse mir nicht das Recht nehmen,
+den Mann zu hassen, den Mathilde so sehr geliebt hat.
+Das wird ja wahrscheinlich f&uuml;r lange Zeit mein einziges
+Vergn&uuml;gen sein ...</p>
+
+<p class="end"><em class="gesperrt"><strong>Ende</strong></em></p>
+
+
+<p><a class="page" name="Page_178" id="Page_178" title="178"></a></p>
+<p class="printer"><em class="gesperrt">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</em></p>
+
+<p><a class="page" name="Page_179" id="Page_179" title="179"></a></p>
+<div class="advertisements">
+<p class="center">Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind
+den &raquo;Gesammelten Werken&laquo; entnommen.</p>
+
+
+
+<h1>Gesammelte Werke<br />
+von Arthur Schnitzler</h1>
+
+<h3>I. Die erz&auml;hlenden Schriften in drei B&auml;nden</h3>
+
+<h4>In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M</h4>
+
+<p><em class="gesperrt">Inhalt:</em> Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des
+Weisen. Der Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers
+letzter Brief. Der blinde Geronimo und sein Bruder.
+Leutnant Gustl. Die griechische T&auml;nzerin. Frau Berta Garlan.
+Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg. Die Fremde. Die
+Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der
+tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der M&ouml;rder.
+Die dreifache Warnung. Die Hirtenfl&ouml;te. Der Weg ins Freie.</p>
+
+<h3>II. Die Theaterst&uuml;cke in vier B&auml;nden</h3>
+
+<h4>In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M</h4>
+
+<p><em class="gesperrt">Inhalt:</em> Anatol. Das M&auml;rchen. Liebelei. Freiwild. Das
+Verm&auml;chtnis. Paracelsus. Die Gef&auml;hrtin. Der gr&uuml;ne Kakadu.
+Der Schleier der Beatrice. Lebendige Stunden. Die Frau mit
+dem Dolche. Die letzten Masken. Literatur. Der einsame Weg.
+Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der tapfere Cassian. Zum
+gro&szlig;en Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi oder
+Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_180" id="Page_180" title="180"></a></p>
+<h1><em class="gesperrt">Werke von Arthur Schnitzler</em></h1>
+
+<h3>Sterben</h3>
+
+<h4>Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark</h4>
+
+<p>Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erz&auml;hlung zu gemeinsamer
+Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die gr&ouml;&szlig;te
+Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist
+und sich nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschr&auml;nkt. Die
+deutsche Literatur k&ouml;nnte sich gl&uuml;cklich preisen, wenn sie viele solche
+B&uuml;cher h&auml;tte wie diese einfache Erz&auml;hlung.</p><p class="right">(Deutsche Revue)</p>
+
+<h3>Die Frau des Weisen</h3>
+
+<h4>Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark</h4>
+
+<p>Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine
+liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen,
+mit dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der
+Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte.
+Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin
+gerne spielen, m&uuml;ssen Schnitzler gerne lesen.</p><p class="right">(Neues Wiener Tagblatt)</p>
+
+<h3>Leutnant Gustl</h3>
+
+<h4>Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark</h4>
+
+<p>Eine bittere Satire vom milit&auml;rischen Standpunkt aus, aber als Erz&auml;hlung
+von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig,
+und wie virtuos dabei in der Ausf&uuml;hrung! Selten ist das Innere eines
+in engen Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungef&auml;hr
+in fieberhafte Aufregung ger&auml;t, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt
+worden als in dieser auch stofflich h&ouml;chst spannenden, aus einem
+einzigen Monolog bestehenden Novelle.</p><p class="right">(Dresdner Anzeiger)</p>
+
+<h3>D&auml;mmerseelen</h3>
+
+<h4>Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark</h4>
+
+<p>Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene au&szlig;erordentliche
+Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der zahlreichen europ&auml;ischen
+Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden erkannt wird.
+<a class="page" name="Page_181" id="Page_181" title="181"></a>Von jener weltm&auml;nnischen Gewandtheit, die nur irrt&uuml;mlich als oberfl&auml;chlich
+gilt, weil sie schamhaft genug ist, hei&szlig;e Tr&auml;nen hinter dem
+heimlichen Wappenschilde des L&auml;chelns zu verbergen, l&auml;&szlig;t er durch
+die Maske des spielerisch t&auml;ndelnden Dandys das wahre Antlitz
+des sinnenden ernsten Dichters lugen.</p><p class="right">(Breslauer Morgenzeitung)</p>
+
+<h3>Der Weg ins Freie</h3>
+
+<h4>Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark</h4>
+
+<p>Je l&auml;nger dieses Buch in mir nachklingt, desto st&auml;rker wird der
+menschliche Eindruck, den es hinterl&auml;&szlig;t. Hier ist diese wundervolle
+Vereinigung, da&szlig; man &uuml;berall sp&uuml;rt, wie stark in dem Dichter
+Schnitzler der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der
+Mensch den Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, k&uuml;nstlerisches,
+und beinahe m&ouml;chte man sagen privates F&uuml;hlen so vollkommene
+Einheit, da&szlig; man &uuml;ber das Buch hinaus den Eindruck der
+reinen Individualit&auml;t empf&auml;ngt, die es geschrieben hat.
+</p><p class="right">(Die Zeit, Wien)</p>
+
+<h3>Masken und Wunder</h3>
+
+<h4>Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark</h4>
+
+<p>Ein geheimnisreicher Name f&uuml;r ein r&auml;tselvolles, ernstes und tiefes
+Buch! Von den Seelen merkw&uuml;rdiger Menschen, zumal von Frauen,
+ist darin gehandelt &#8211; skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch
+mit der seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem
+Wesen erfa&szlig;t und in den feinsten Gr&uuml;nden ihrer Existenz darlegt.
+</p><p class="right">(Generalanzeiger, Mannheim)</p>
+
+<h3>Frau Beate und ihr Sohn</h3>
+
+<h4>Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50</h4>
+
+<p>Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genu&szlig;triebs,
+die uns Schnitzler so oft mit &uuml;berlegener Ironie geschildert hat,
+arbeitet er in dieser Meisternovelle eine ersch&uuml;tternde Tragik heraus.
+Schnitzler hat in dieser novellistischen Trag&ouml;die der entweihten
+Mutterschaft sein St&auml;rkstes geboten.</p><p class="right">(Vossische Zeitung, Berlin)</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_182" id="Page_182" title="182"></a></p>
+<h1>Gustaf af Geijerstam</h1>
+
+<h3>Gesammelte Romane in f&uuml;nf B&auml;nden</h3>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>F&uuml;nf B&auml;nde in sch&ouml;ner, gediegener Ausstattung mit einem Portr&auml;t
+des Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark</p>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Sch&auml;re / Das Geheimnis
+des Waldes / Kristins Myrte / Sammel /
+Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis.</p>
+
+<p>2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Kom&ouml;die der Ehe.</p>
+
+<p>3. Bd.: Das Buch vom Br&uuml;derchen / Frauenmacht.</p>
+
+<p>4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gef&auml;hrliche M&auml;chte.</p>
+
+<p>5. Bd.: Die Br&uuml;der M&ouml;rk / Die alte Herrenhofallee.</p>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten
+unter uns. Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung
+seiner Werke &#8211; rein &auml;u&szlig;erlich, bei sch&ouml;ner Ausstattung und sehr
+billigem Preise, die denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe
+&#8211; ist Beweis daf&uuml;r. Den Geijerstam, den man braucht,
+hat man in dieser Auswahl ganz. Sie findet ihre literarische Rechtfertigung
+zudem in einer Einleitung von Friedrich D&uuml;sel, und diese
+Einf&uuml;hrung gibt eine seelisch eindringliche, man k&ouml;nnte beinahe sagen
+ersch&ouml;pfende Analyse von Geijerstams k&uuml;nstlerischer Pers&ouml;nlichkeit ...
+In Geijerstam k&uuml;ndigt sich eine neue Weltanschauung an, noch viel
+zu unentwickelt, um in den Rahmen von zehn Geboten gefa&szlig;t zu werden,
+doch aber recht eigentlich die Weltanschauung des Menschen, der nicht
+die Kraft, daf&uuml;r aber die Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt.
+&#8211; Eine neue Frucht der Erkenntnis glei&szlig;t aus der gr&uuml;nen Bl&auml;tterpracht
+dieser Erz&auml;hlungen! Aus dem Stamm des sozialen Mitleidens
+ist sie erwachsen. Menschen mit verfeinerten Empfindungsorganen
+werden danach greifen und werden &#8211; wie das immer war &#8211; beides
+daraus schmecken: Tod und Leben.</p><p class="right">(Frankfurter Zeitung)</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_183" id="Page_183" title="183"></a></p>
+<h1>Otto Erich Hartleben</h1>
+
+<h3>Ausgew&auml;hlte Werke in drei B&auml;nden</h3>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitm&uuml;ller. Mit
+dem Bilde des Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappb&auml;nden
+gebunden 10 Mark, in drei Ganzpergamentb&auml;nden 15 Mark.</p>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>1. Bd.: <em class="gesperrt">Gedichte:</em> Einleitung / Die Gedichte vollst&auml;ndig.</p>
+
+<p>2. Bd.: <em class="gesperrt">Prosa:</em> Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen
+Knopfe / Wie der Kleine zum Teufel wurde /
+Vom gastfreien Pastor / Der Einhornapotheker / Der
+r&ouml;mische Maler / Der bunte Vogel.</p>
+
+<p>3. Bd.: <em class="gesperrt">Dramen:</em> Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung
+zur Ehe / Die sittliche Forderung / Rosenmontag.</p>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>Ein sch&ouml;nes Werk der Piet&auml;t. In wundervoller Ausstattung ist hier
+ein &Uuml;berblick &uuml;ber des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten
+Band ziert ein sch&ouml;nes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband &#8211;
+alles ist zu jener vornehmen Harmonie abget&ouml;nt, die des Dichters eigene
+Person ausstr&ouml;mte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude
+hatte, ihm im Leben zu begegnen. Diese drei B&auml;nde stellen eine Zierde
+f&uuml;r jede Bibliothek dar.</p><p class="right">(Universum, Leipzig)</p>
+
+<p>Dieses Werk fa&szlig;t als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckst&uuml;ck,
+n&auml;mlich das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in
+seiner Einleitung Bruchst&uuml;cke aus den Tagebuchaufzeichnungen
+wiedergibt, mit denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres
+&Auml;ltesten geleitete. Diese Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem
+Sinne Biographisches. Denn sie kennzeichnen ihre Verfasserin, diese
+stille Frau, die nicht Frau Ajas Humor, aber Frau Ajas Geduld und
+ihre Liebe hat.</p><p class="right">(Hamburger Fremdenblatt)</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_184" id="Page_184" title="184"></a></p>
+<h1>Peter Nansen</h1>
+
+<h3>Werke in drei B&auml;nden</h3>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenb&auml;nde in elegantem
+Futteral 12 Mark. Jeder Band einzeln geheftet
+3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4 Mark 50 Pf.</p>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>1. Band: <em class="gesperrt">Jugend und Liebe.</em> Eine gl&uuml;ckliche Ehe / Aus
+dem ersten Universit&auml;tsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete
+Fenster / Des B&uuml;rgermeisters Winter&uuml;berzieher /
+Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines Verliebten / Ein
+Weihnachtsm&auml;rchen / Der Weihnachtsbaum / Fr&auml;ulein Mimi /
+Eine Ballunterhaltung.</p>
+
+<p>2. Band: <em class="gesperrt">Theater.</em> Judiths Ehe / Eine gl&uuml;ckliche Ehe /
+Kameraden / Ein Hochzeitsabend / Die gest&ouml;rte Verbindung.</p>
+
+<p>3. Band: <em class="gesperrt">Die Romane des Herzens.</em> Julies Tagebuch /
+Maria / Gottesfriede.</p>
+
+<hr style='width: 20%;' />
+
+<p>Nansens freie Selbst&auml;ndigkeit und seine k&uuml;nstlerische Unbefangenheit,
+die manchen als R&uuml;cksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine
+hohe Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach &uuml;ber
+der Tendenz die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern,
+wie sie ist. Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur
+zu Ehren bringen, indem er in erster Linie die &raquo;Weibheit&laquo;
+der Frau &#8211; wie Laura Marholm sagen w&uuml;rde &#8211; ber&uuml;cksichtigt;
+aber diese Absicht ist nicht die Hauptsache. Seine B&uuml;cher haben dagegen
+einen eigenen poetischen Wert.</p>
+<p class="right">(Norddeutsche Allgemeine Zeitung)</p>
+
+<p>Peter Nansen stammt aus der elegischen, grazi&ouml;sen Hauptstadt des
+Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien,
+geistig mit Paris verwandt ist. Er geh&ouml;rt zu denen, die das Klima
+der nordischen Literatur w&auml;rmer, sinnlicher, verf&uuml;hrerischer gemacht
+haben, so da&szlig; wir die Franzosen bald ganz entbehren k&ouml;nnen.</p>
+<p class="right">(Das Literarische Echo)</p>
+</div>
+
+
+
+<div class="note">
+<p>[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1914 in der Reihe &raquo;Fischers Bibliothek zeitgen&ouml;ssischer
+Romane&laquo; erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enth&auml;lt
+eine Auflistung aller gegen&uuml;ber dem Originaltext vorgenommenen
+Korrekturen.</p>
+
+<p>
+p 001: Fischers Bibliothek zeitgen&ouml;ssischer Romane -> (entfernt)<br />
+p 024: Anf&uuml;hrungszeichen erg&auml;nzt: &raquo;Wof&uuml;r denn?! ->&raquo;Wof&uuml;r denn?!&laquo;<br />
+p 026: Anf&uuml;hrungszeichen erg&auml;nzt: &raquo;Lieber mir, ... daneben! -> daneben!&laquo;<br />
+p 102: Anf&uuml;hrungszeichen erg&auml;nzt: &raquo;Wie?&#8211; -> &raquo;Wie?&laquo;&#8211;<br />
+p 128: Anf&uuml;hrungszeichen erg&auml;nzt: &raquo;Ich bin nicht schuld daran,<br />
+p 139: an die f&uuml;nfzigmal geh&ouml;rt h&auml;tte. -> hatte.<br />
+p 148: Die Marie la&szlig;t Ihnen schon gr&uuml;&szlig;en -> sch&ouml;n ]<br />
+</p>
+</div>
+
+
+
+<div class="note">
+<p>[Transcriber&#8217;s Note: This ebook has been prepared from scans of an
+original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers
+Bibliothek zeitgen&ouml;ssischer Romane". The table below lists all
+corrections applied to the original text.</p>
+
+<p>
+p 001: Fischers Bibliothek zeitgen&ouml;ssischer Romane -> (deleted)<br />
+p 024: added missing quotes: &raquo;Wof&uuml;r denn?! ->&raquo;Wof&uuml;r denn?!&laquo;<br />
+p 026: added missing quotes: &raquo;Lieber mir, ... daneben! -> daneben!&laquo;<br />
+p 102: added missing quotes: &raquo;Wie?&#8211; -> &raquo;Wie?&laquo;&#8211;<br />
+p 128: added missing quotes: &raquo;Ich bin nicht schuld daran,<br />
+p 139: an die f&uuml;nfzigmal geh&ouml;rt h&auml;tte. -> hatte.<br />
+p 148: Die Marie la&szlig;t Ihnen schon gr&uuml;&szlig;en -> sch&ouml;n ]<br />
+</p>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN ***
+
+***** This file should be named 17142-h.htm or 17142-h.zip *****
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+ https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17142/
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
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+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
+
+
+*** START: FULL LICENSE ***
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+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
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+
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+used on or associated in any way with an electronic work by people who
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
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+
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+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
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+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
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+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
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+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
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+
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