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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 04:50:24 -0700 |
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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Die griechische Tänzerin + und andere Novellen + +Author: Arthur Schnitzler + +Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Die griechische Tänzerin *** + + + + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + + + + + + Die griechische Tänzerin + + und andere Novellen + von + Arthur Schnitzler + + +S. Fischer, Verlag, Berlin + + +Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung +Copyright S. Fischer, Verlag + + + +Inhalt + + +Der blinde Geronimo und sein Bruder ....... 7 + +Die Toten schweigen ...................... 53 + +Die Weissagung ........................... 85 + +Das neue Lied ........................... 128 + +Die griechische Tänzerin ................ 157 + + + + +Der blinde Geronimo und sein Bruder + + +Der blinde Geronimo stand von der Bank auf und nahm die Gitarre zur +Hand, die auf dem Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. Er hatte +das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen. Nun tastete er sich den +wohlbekannten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die +schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten Hofraum +hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich +neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand gekehrt, um gegen den +naßkalten Wind geschützt zu sein, der über den feuchtschmutzigen Boden +durch die offenen Tore strich. + +Unter dem düsteren Bogen des alten Wirtshauses mußten alle Wagen +passieren, die den Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die Reisenden, +welche von Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast vor +der Höhe. Zu langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade hier lief +die Straße ziemlich eben, ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen +hin. Der blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in den +Sommermonaten hier so gut wie zu Hause. + +Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere Wagen. Die meisten +Reisenden blieben sitzen, in Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere +stiegen aus und spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her. +Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab. +Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst plötzlich und allzu früh +hereinzubrechen. + +Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der Gitarre; er sang mit +einer ungleichmäßigen, manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie +immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf wie mit +einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach oben. Aber die Züge seines +Gesichtes mit den schwarzen Bartstoppeln und den bläulichen Lippen +blieben vollkommen unbeweglich. Der ältere Bruder stand neben ihm, +beinahe regungslos. Wenn ihm jemand eine Münze in den Hut fallen ließ, +nickte er Dank und sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick +ins Gesicht. Aber gleich, beinahe ängstlich, wandte er den Blick wieder +fort und starrte gleich dem Bruder ins Leere. Es war, als schämten sich +seine Augen des Lichts, das ihnen gewährt war, und von dem sie dem +blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten. + +»Bring mir Wein,« sagte Geronimo, und Carlo ging, gehorsam wie immer. +Während er die Stufen aufwärts schritt, begann Geronimo wieder zu +singen. Er hörte längst nicht mehr auf seine eigene Stimme, und so +konnte er auf das merken, was in seiner Nähe vorging. Jetzt vernahm er +ganz nahe zwei flüsternde Stimmen, die eines jungen Mannes und einer +jungen Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen Weg hin +und her gegangen sein mochten; denn in seiner Blindheit und in seinem +Rausch war ihm manchmal, als kämen Tag für Tag dieselben Menschen über +das Joch gewandert, bald von Norden gegen Süden, bald von Süden gegen +Norden. Und so kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit. + +Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas Wein. Der Blinde schwenkte +es dem jungen Paare zu und sagte: »Ihr Wohl, meine Herrschaften!« + +»Danke,« sagte der junge Mann; aber die junge Frau zog ihn fort, denn +ihr war dieser Blinde unheimlich. + +Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich lärmenden Gesellschaft ein: +Vater, Mutter, drei Kinder, eine Bonne. + +»Deutsche Familie,« sagte Geronimo leise zu Carlo. + +Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück, und jedes durfte das seine +in den Hut des Bettlers werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum +Dank. Der älteste Knabe sah dem Blinden mit ängstlicher Neugier ins +Gesicht. Carlo betrachtete den Knaben. Er mußte, wie immer beim Anblick +solcher Kinder, daran denken, daß Geronimo gerade so alt gewesen war, +als das Unglück geschah, durch das er das Augenlicht verloren hatte. +Denn er erinnerte sich jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig +Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute klang ihm der grelle +Kinderschrei ins Ohr, mit dem der kleine Geronimo auf den Rasen +hingesunken war, noch heute sah er die Sonne auf der weißen Gartenmauer +spielen und kringeln und hörte die Sonntagsglocken wieder, die gerade in +jenem Augenblick getönt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen nach +der Esche an der Mauer geschossen, und als er den Schrei hörte, dachte +er gleich, daß er den kleinen Bruder verletzt haben mußte, der eben +vorbeigelaufen war. Er ließ das Blasrohr aus den Händen gleiten, sprang +durchs Fenster in den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder hin, der +auf dem Grase lag, die Hände vors Gesicht geschlagen und jammerte. Über +die rechte Wange und den Hals floß ihm Blut herunter. In derselben +Minute kam der Vater vom Felde heim, durch die kleine Gartentür, und nun +knieten beide ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn eilten herbei; +die alte Vanetti war die erste, der es gelang, dem Kleinen die Hände +vom Gesicht zu entfernen. Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo +damals in der Lehre war und der sich ein bißchen aufs Kurieren verstand; +und der sah gleich, daß das rechte Auge verloren war. Der Arzt, der +abends aus Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, er deutete +schon die Gefahr an, in der das andere Auge schwebte. Und er behielt +recht. Ein Jahr später war die Welt für Geronimo in Nacht versunken. +Anfangs versuchte man ihm einzureden, daß er später geheilt werden +könnte, und er schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit wußte, +irrte damals tage- und nächtelang auf der Landstraße, zwischen den +Weinbergen und in den Wäldern umher, und war nahe daran, sich +umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem er sich anvertraute, klärte +ihn auf, daß es seine Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu +widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn +er bei dem blinden Jungen war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine +Stirne küssen durfte, ihm Geschichten erzählte, ihn auf den Feldern +hinter dem Hause und zwischen den Rebengeländen spazieren führte, +milderte sich seine Pein. Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der +Schmiede vernachlässigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht trennen +mochte, und konnte sich nachher nicht mehr entschließen, sein Handwerk +wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines +Tages fiel es Carlo auf, daß Geronimo vollkommen aufgehört hatte, von +seinem Unglück zu reden. Bald wußte er, warum: der Blinde war zur +Einsicht gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die Straßen, die +Menschen, das Licht wieder sehen würde. Nun litt Carlo noch mehr als +früher, so sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen suchte, daß er +ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er +am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er +von einer solchen Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er in den +Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten +Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für +immer erloschen war. Zu jener Zeit war es, daß Carlo auf den Einfall +kam, Geronimo, der eine angenehme Stimme hatte, in der Musik weiter +ausbilden zu lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal Sonntags +herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte der Blinde +freilich noch nicht, daß die neuerlernte Kunst einmal zu seinem +Lebensunterhalt dienen würde. + +Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück für immer in das Haus +des alten Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet ein Jahr nach +dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde +er von einem Verwandten betrogen; und als er an einem schwülen Augusttag +auf freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, hinterließ er +nichts als Schulden. Das kleine Anwesen wurde verkauft, die beiden +Brüder waren obdachlos und arm und verließen das Dorf. + +Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. Damals begann das +Bettel- und Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo +daran gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich ihn und den +Bruder ernähren könnte; aber es wollte nicht gelingen. Auch hatte +Geronimo nirgend Ruhe; er wollte immer auf dem Wege sein. + +Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Straßen und Pässen herumzogen, im +nördlichen Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der +dichtere Zug der Reisenden vorüberströmte. + +Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht mehr die brennende Qual +verspürte, mit der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der Anblick +jeder freundlichen Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes +nagendes Mitleid in ihm, beständig und ihm unbewußt, wie der Schlag +seines Herzens und sein Atem. Und er war froh, wenn Geronimo sich +betrank. + +Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. Carlo setzte +sich, wie er gern tat, auf die untersten Stufen der Treppe, Geronimo +aber blieb stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen und hielt den Kopf +nach oben gewandt. + +Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube. + +»Habt’s viel verdient heut?« rief sie herunter. + +Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde bückte sich nach seinem Glas, +hob es vom Boden auf und trank es Maria zu. Sie saß manchmal abends in +der Wirtsstube neben ihm; er wußte auch, daß sie schön war. + +Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Straße hinaus. Der Wind +blies, und der Regen prasselte, so daß das Rollen des nahenden Wagens in +den heftigen Geräuschen unterging. Carlo stand auf und nahm wieder +seinen Platz an des Bruders Seite ein. + +Geronimo begann zu singen, schon während der Wagen einfuhr, in dem nur +ein Passagier saß. Der Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte +er hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine Weile in seiner +Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen grauen Regenmantel; er schien +auf den Gesang gar nicht zu hören. Nach einer Weile aber sprang er aus +dem Wagen und lief mit großer Hast hin und her, ohne sich weit vom Wagen +zu entfernen. Er rieb immerfort die Hände aneinander, um sich zu +erwärmen. Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken. Er stellte sich +ihnen gegenüber und sah sie lange wie prüfend an. Carlo neigte leicht +den Kopf, wie zum Gruße. Der Reisende war ein sehr junger Mensch mit +einem hübschen, bartlosen Gesicht und unruhigen Augen. Nachdem er eine +ganze Weile vor den Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore, +durch das er weiterfahren sollte, und schüttelte bei dem trostlosen +Ausblick in Regen und Nebel verdrießlich den Kopf. + +»Nun?« fragte Geronimo. + +»Noch nichts,« erwiderte Carlo. »Er wird wohl geben, wenn er fortfährt.« + +Der Reisende kam wieder zurück und lehnte sich an die Deichsel des +Wagens. Der Blinde begann zu singen. Nun schien der junge Mann plötzlich +mit großem Interesse zuzuhören. Der Knecht erschien und spannte die +Pferde wieder ein. Und jetzt erst, als besänne er sich eben, griff der +junge Mann in die Tasche und gab Carlo einen Frank. + +»O danke, danke,« sagte dieser. + +Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte sich wieder in +seinen Mantel. Carlo nahm das Glas vom Boden auf und ging die Holzstufen +hinauf. Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum Wagen heraus +und schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Überlegenheit und +Traurigkeit zugleich. Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er +lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum zwei Schritte weit von +ihm stand: »Wie heißt du?« + +»Geronimo.« + +»Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.« In diesem Augenblick +erschien der Kutscher auf der obersten Stufe der Treppe. + +»Wieso, gnädiger Herr, betrügen?« + +»Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankstück gegeben.« + +»O Herr, Dank, Dank!« + +»Ja; also paß auf.« + +»Er ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich nicht.« + +Der junge Mann stutzte eine Weile, aber während er noch überlegte, war +der Kutscher auf den Bock gestiegen und hatte die Pferde angetrieben. +Der junge Mann lehnte sich zurück mit einer Bewegung des Kopfes, als +wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen Lauf! und der Wagen fuhr davon. + +Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte Gebärden des Dankes nach. +Jetzt hörte er Carlo, der eben aus der Wirtsstube kam. Der rief +herunter: »Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat Feuer +gemacht!« + +Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm und tastete sich am +Geländer die Stufen hinauf. Auf der Treppe schon rief er: »Laß es mich +anfühlen! Wie lang hab ich schon kein Goldstück angefühlt!« + +»Was gibt’s?« fragte Carlo. »Was redest du da?« + +Geronimo war oben und griff mit beiden Händen nach dem Kopf seines +Bruders, ein Zeichen, mit dem er stets Freude oder Zärtlichkeit +auszudrücken pflegte. »Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute +Menschen!« + +»Gewiß,« sagte Carlo. »Bis jetzt sind es zwei Lire und dreißig +Zentesimi; und hier ist noch österreichisches Geld, vielleicht eine +halbe Lira.« + +»Und zwanzig Franken – und zwanzig Franken!« rief Geronimo. »Ich weiß es +ja!« Er torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf die Bank. + +»Was weißt du?« fragte Carlo. + +»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! Wie lang hab ich schon +kein Goldstück in der Hand gehabt!« + +»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück nehmen? Es sind zwei +Lire oder drei.« + +Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber genug, genug! Willst +du es etwa vor mir verstecken?« + +Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert an. Er setzte sich neben +ihn, rückte ganz nahe und faßte wie begütigend seinen Arm: »Ich +verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es +eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.« + +»Aber er hat mir’s doch gesagt!« + +»Wer?« + +»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.« + +»Wie? Ich versteh dich nicht!« + +»So hat er zu mir gesagt: ›Wie heißt du?‹ und dann: ›Gib acht, gib acht, +laß dich nicht betrügen!‹« + +»Du mußt geträumt haben, Geronimo – das ist ja Unsinn!« + +»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre gut. ›Laß dich nicht +betrügen; ich habe ihm ein Goldstück ...‹ – nein, so sagte er: ›Ich habe +ihm ein Zwanzig-Frankstück gegeben.‹« + +Der Wirt kam herein. »Nun, was ist’s mit euch? Habt ihr das Geschäft +aufgegeben? Ein Vierspänner ist gerade angefahren.« + +»Komm!« rief Carlo, »komm!« + +Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum soll ich kommen? Was hilft’s +mir denn? Du stehst ja dabei und –« + +Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt hinunter!« + +Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. Aber auf den Stufen sagte er: +»Wir reden noch, wir reden noch!« + +Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo plötzlich verrückt +geworden? Denn, wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise +hatte er noch nie gesprochen. + +In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei Engländer; Carlo lüftete den +Hut vor ihnen, und der Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen +und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: »Danke« und dann, wie +vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt; +er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei Engländern fuhr davon. + +Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. Geronimo setzte sich auf +die Bank, Carlo blieb beim Ofen stehen. + +»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo. + +»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, wie ich dir gesagt habe.« +Seine Stimme zitterte ein wenig. + +»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo. + +»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.« + +»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! Wenn einer sagt: ›Ich habe +deinem Bruder zwanzig Franken gegeben,‹ so ist er wahnsinnig! – Eh, und +warum hat er gesagt: ›Laß dich nicht betrügen‹ – eh?« + +»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber es gibt Menschen, die +mit uns armen Leuten Späße machen ...« + +»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? – Ja, das hast du noch sagen müssen – +darauf habe ich gewartet!« Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm +stand. + +»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß er vor Bestürzung kaum +sprechen konnte, »warum sollte ich ... wie kannst du glauben ...?« + +»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum ...?« + +»Geronimo, ich versichere dir, ich –« + +»Eh – und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... ich weiß ja, daß du +jetzt lachst!« + +Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, Leut’ sind da!« + +Ganz mechanisch standen die Brüder auf und schritten die Stufen hinab. +Zwei Wagen waren zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer +mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo stand neben ihm, +fassungslos. Was sollte er nur tun? Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie +war das nur möglich? – Und er betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener +Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der Seite. Es war ihm, als sähe +er über diese Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort niemals +gewahrt hatte. + +Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang weiter. Carlo wagte +nicht, ihn zu unterbrechen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, er +fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen von +oben, und Maria rief: »Was singst denn noch immer? Von mir kriegst du ja +doch nichts!« + +Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es klang, als wäre seine +Stimme und die Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er wieder die +Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er sich +neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig: er +mußte noch einmal versuchen, den Bruder aufzuklären. + +»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ... bedenk doch, Geronimo, wie +kannst du glauben, daß ich –« + +Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen durch das Fenster in den +grauen Nebel hinauszublicken. Carlo redete weiter: »Nun, er braucht ja +nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt haben ... ja er +hat sich geirrt ...« Aber er fühlte wohl, daß er selbst nicht glaubte, +was er sagte. + +Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo redete weiter, mit +plötzlicher Lebhaftigkeit: »Wozu sollte ich denn – du weißt doch, ich +esse und trinke nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock +kaufe, so weißt du’s doch ... wofür brauch ich denn so viel Geld? Was +soll ich denn damit tun?« + +Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen hervor: »Lüg nicht, ich höre, wie +du lügst!« + +»Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!« sagte Carlo erschrocken. + +»Eh! hast du ihr’s schon gegeben, ja? Oder bekommt sie’s erst nachher?« +schrie Geronimo. + +»Maria?« + +»Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du Dieb!« Und als wollte er nicht +mehr neben ihm am Tische sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den Bruder in +die Seite. + +Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an, dann verließ er das +Zimmer und ging über die Stiege in den Hof. Er schaute mit weit offenen +Augen auf die Straße hinaus, die vor ihm in bräunlichen Nebel versank. +Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte die Hände in die +Hosentaschen und ging ins Freie. Es war ihm, als hätte ihn sein Bruder +davongejagt. Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch immer +nicht fassen. Was für ein Mensch mochte das gewesen sein? Einen Franken +schenkt er her und sagt, es waren zwanzig! Er mußte doch irgendeinen +Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in seiner Erinnerung, ob er +sich nicht irgendwo jemanden zum Feind gemacht, der nun einen anderen +hergeschickt hatte, um sich zu rächen ... Aber soweit er zurückdenken +mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, nie irgendeinen ernsten Streit +mit jemandem vorgehabt. Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes +getan, als daß er in Höfen oder an Straßenrändern gestanden war mit dem +Hut in der Hand ... War ihm vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers +böse?... Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun gehabt ... +die Kellnerin in La Rosa war die letzte gewesen, im vorigen Frühjahr ... +aber um die war ihm gewiß niemand neidisch ... Es war nicht zu +begreifen!... Was mochte es da draußen in der Welt, die er nicht kannte, +für Menschen geben?... Von überallher kamen sie ... was wußte er von +ihnen?... Für diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen Sinn gehabt, daß +er zu Geronimo sagte: Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ... +Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit einem Male war es offenbar +geworden, daß Geronimo ihm mißtraute!... Das konnte er nicht ertragen! +Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen ... Und er eilte zurück. + +Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo auf der Bank +ausgestreckt und schien das Eintreten Carlos nicht zu bemerken. Maria +brachte den beiden Essen und Trinken. Sie sprachen während der Mahlzeit +kein Wort. Als Maria die Teller abräumte, lachte Geronimo plötzlich auf +und sagte zu ihr: »Was wirst du dir denn dafür kaufen?« + +»Wofür denn?!« + +»Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?« + +»Was will er denn von mir?« wandte sie sich an Carlo. + +Indes dröhnte unten der Hof von lastenbeladenen Fuhrwerken, laute +Stimmen tönten herauf und Maria eilte hinunter. Nach ein paar Minuten +kamen drei Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der Wirt trat zu +ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften über das schlechte Wetter. + +»Heute nacht werdet ihr Schnee haben,« sagte der eine. + +Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren Mitte August auf dem Joch +eingeschneit und beinahe erfroren war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch +der Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen Eltern, die unten +in Bormio wohnten. + +Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden. Geronimo und Carlo gingen +hinunter, Geronimo sang, Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden +gaben ihr Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte manchmal: +»Wieviel?« und nickte zu den Antworten Carlos leicht mit dem Kopfe. +Indes versuchte Carlo selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte +immer nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen und daß +er ganz wehrlos war. + +Als die Brüder wieder die Stufen hinaufschritten, hörten sie die +Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden und lachen. Der jüngste rief dem +Geronimo entgegen: »Sing uns doch auch was vor, wir zahlen schon! – +Nicht wahr?« wandte er sich an die anderen. + +Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein kam, sagte: »Fangt heut +nichts mit ihm an, er ist schlechter Laune.« + +Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten ins Zimmer hin und +fing an zu singen. Als er geendet, klatschten die Fuhrleute in die +Hände. + +»Komm her, Carlo!« rief einer, »wir wollen dir unser Geld auch in den +Hut werfen wie die Leute unten!« Und er nahm eine kleine Münze und hielt +die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen, den ihm Carlo +entgegenstreckte. Da griff der Blinde nach dem Arm des Fuhrmannes und +sagte: »Lieber mir, lieber mir! Es könnte daneben fallen – daneben!« + +»Wieso daneben?« + +»Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!« + +Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo stand regungslos da. +Nie hatte Geronimo solche Späße gemacht!... + +»Setz dich zu uns!« riefen die Fuhrleute. »Du bist ein lustiger Kerl!« +Und sie rückten zusammen, um Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und +wirrer war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit, lauter und +lustiger als sonst, und hörte nicht auf zu trinken. Als Maria eben +wieder hereinkam, wollte er sie an sich ziehen; da sagte der eine von +den Fuhrleuten lachend: »Meinst du vielleicht, sie ist schön? Sie ist ja +ein altes häßliches Weib!« + +Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß. »Ihr seid alle Dummköpfe,« +sagte er. »Glaubt ihr, ich brauche meine Augen, um zu sehen? Ich weiß +auch, wo Carlo jetzt ist – eh! – dort am Ofen steht er, hat die Hände in +den Hosentaschen und lacht.« + +Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde am Ofen lehnte und nun +wirklich das Gesicht zu einem Grinsen verzog, als dürfte er seinen +Bruder nicht Lügen strafen. + +Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch vor Dunkelheit in Bormio +sein wollten, mußten sie sich beeilen. Sie standen auf und +verabschiedeten sich lärmend. Die beiden Brüder waren wieder allein in +der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst manchmal zu schlafen +pflegten. Das ganze Wirtshaus versank in Ruhe wie immer um diese Zeit +der ersten Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem Tisch, schien +zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und her, dann setzte er sich auf die +Bank. Er war sehr müde. Es schien ihm, als wäre er in einem schweren +Traum befangen. Er mußte an allerlei denken, an gestern, vorgestern und +alle Tage, die früher waren, und besonders an warme Sommertage und an +weiße Landstraßen, über die er mit seinem Bruder zu wandern pflegte, und +alles war so weit und unbegreiflich, als wenn es nie wieder so sein +könnte. + +Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol und bald darauf in kleinen +Zwischenpausen Wagen, die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch +viermal mußten die Brüder in den Hof hinab. Als sie das letztemal +heraufgingen, war die Dämmerung hereingebrochen, und das Öllämpchen, das +von der Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die in einem +nahen Steinbruche beschäftigt waren und ein paar hundert Schritte +unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo +setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es war ihm, +als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er hörte, wie Geronimo +drüben laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er +sich noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen +gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, wie er auf dem Felde +arbeitete, an den kleinen Garten mit der Esche an der Mauer, an das +niedrige Häuschen, das ihnen gehörte, an die zwei kleinen Töchter des +Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an sein eigenes +Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Wie +oft hatte Carlo das alles gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang +anders als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen +Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging +wieder auf die Landstraße, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte +aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo +beinahe verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis +hinein, sich am Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen, +einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. – Plötzlich hörte er das Rollen +eines Wagens und erblickte den Lichtschimmer von zwei Laternen, die +immer näher kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, saßen zwei Herren. +Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen Gesichte fuhr erschrocken +zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel +hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete den Hut. Der +Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer +Finsternis. Plötzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben +machte ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er es keine Minute +länger ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem +dumpfen Sinnen die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem +quälenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten ihn nach Hause. + +Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden Reisenden, die vorher +an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an einem Tische +sitzen und sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten kaum +auf, als er eintrat. + +An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher unter den Arbeitern. + +»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt schon an der Tür. »Warum +läßt du deinen Bruder allein?« + +»Was gibt’s denn?« fragte Carlo erschrocken. + +»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann’s ja egal sein, aber ihr solltet +doch denken, daß bald wieder schlechtere Zeiten kommen.« + +Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am Arme. »Komm!« sagte er. + +»Was willst du?« schrie Geronimo. + +»Komm zu Bett,« sagte Carlo. + +»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich kann mit meinem Gelde +tun, was ich will – eh! – alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr +meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein blinder Mann! Aber +es gibt Leute – es gibt gute Leute, die sagen mir: ›Ich habe deinem +Bruder zwanzig Franken gegeben!‹« + +Die Arbeiter lachten auf. + +»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er zog den Bruder mit sich, +schleppte ihn beinah die Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo +sie ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie Geronimo: »Ja, nun ist +es an den Tag gekommen, ja, nun weiß ich’s! Ah, wartet nur. Wo ist sie? +Wo ist Maria? Oder legst du’s ihr in die Sparkassa? – Eh, ich singe für +dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du – und du bist ein Dieb!« Er +fiel auf den Strohsack hin. + +Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein; drüben stand die Tür +zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses offen, und Maria richtete +die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem Bruder und sah +ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bläulichen Lippen, das +feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre älter aussehend, als +er war. Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das +Mißtrauen des Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert haben, +und nur der Anlaß, vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es +auszusprechen. Und alles, was Carlo für ihn getan, war vergeblich +gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens. +Was sollte er nun tun? – Sollte er noch weiterhin Tag für Tag, wer weiß +wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn +betteln und keinen anderen Lohn dafür haben als Mißtrauen und Schimpf? +Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde +dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen, +sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste. Dann mußte +Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren, +was es heißt, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und +er selbst, was sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn +er für sich allein war, konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht +zum mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber während diese +Gedanken durch seinen Kopf zogen, blieben seine Augen immer auf den +Bruder geheftet. Und er sah ihn plötzlich vor sich, allein am Rande +einer sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit den weit +offenen, weißen Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden konnte, +und mit den Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er +fühlte, so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so +hatte auch er niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die +Liebe zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens war, und wußte zum +ersten Male mit völliger Deutlichkeit, nur der Glaube, daß der Blinde +diese Liebe erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so +geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung nicht mit einem +Male verzichten. Er fühlte, daß er den Bruder gerade so notwendig +brauchte als der Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht +verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden oder ein Mittel +finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu +überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen +könnte! Wenn er dem Blinden morgen früh sagen könnte: »Ich habe es nur +aufbewahrt, damit du’s nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir +die Leute nicht stehlen« ... oder sonst irgend etwas ... + +Schritte näherten sich auf der Holztreppe; die Reisenden gingen zur +Ruhe. Plötzlich durchzuckte seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen, +den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu erzählen und sie um +die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wußte auch gleich: das war +vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht +einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine +blasse zusammengefahren war, als er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem +Wagen aufgetaucht war. + +Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz finster im Zimmer. +Jetzt hörte er, wie die Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten +über die Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore +geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die Treppe auf und ab, dann war +es ganz still. Carlo hörte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald +verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Träumen. Als er erwachte, +war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster +war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort mitten in dem +undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues Viereck. Geronimo schlief noch +immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte an den Tag, +der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach diesem +Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag, und +Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er +abends nicht mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden gegangen +und hatte sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht hätten sie doch +Erbarmen mit ihm gehabt. Und doch – vielleicht war es gut, daß er sie +nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... Er setzte sich jäh auf und +fühlte sein Herz klopfen. Er wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn +abgewiesen hätten, so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben – +so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann +... Das, was ihm gegen seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren, +war ja unmöglich, vollkommen unmöglich!... Die Tür drüben war versperrt +– und überdies: sie konnten aufwachen ... Ja, dort – der graue +leuchtende Fleck mitten im Dunkel war der neue Tag – – – + +Carlo stand auf, als zöge es ihn dorthin, und berührte mit der Stirn die +kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... Um es +zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unmöglich – und überdies war es +ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für solche +Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie würden ja gar +nicht merken, daß sie ihnen fehlten ... Er ging zur Türe und öffnete sie +leise. Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu erreichen, +geschlossen. An einem Nagel im Pfosten hingen Kleidungsstücke. Carlo +fuhr mit der Hand über sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der +Tasche ließen, dann wäre das Leben sehr einfach, dann brauchte bald +niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die Taschen waren leer. Nun, was +blieb übrig? Wieder zurück ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab +vielleicht doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen – +eine weniger gefährliche und rechtlichere. Wenn er wirklich jedesmal +einige Zentesimi von den Almosen zurückbehielte, bis er zwanzig Franken +zusammengespart, und dann das Goldstück kaufte ... Aber wie lang konnte +das dauern – Monate, vielleicht ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut hätte! +Noch immer stand er auf dem Gang. Er blickte zur Tür hinüber ... Was war +das für ein Streif, der senkrecht von oben auf den Fußboden fiel? War es +möglich? Die Tür war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum staunte er +denn darüber? Seit Monaten schon schloß die Tür nicht. Wozu auch? Er +erinnerte sich: nur dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute +geschlafen, zweimal Handwerksburschen und einmal ein Tourist, der sich +den Fuß verletzt hatte. Die Tür schließt nicht – er braucht jetzt nur +Mut – ja, und Glück! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, ist, +daß die beiden aufwachen, und da kann er noch immer eine Ausrede finden. +Er lugt durch den Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, daß er eben +nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden Gestalten gewahren +kann. Er horcht auf: sie atmen ruhig und gleichmäßig. Carlo öffnet die +Tür leicht und tritt mit seinen nackten Füßen völlig geräuschlos ins +Zimmer. Die beiden Betten stehen der Länge nach an der gleichen Wand dem +Fenster gegenüber. In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo +schleicht bis hin. Er fährt mit der Hand über die Fläche und fühlt ein +Schlüsselbund, ein Federmesser, ein kleines Buch – weiter nichts ... Nun +natürlich!... Daß er nur daran denken konnte, sie würden ihr Geld auf +den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich wieder fort!... Und doch, +vielleicht braucht es nur einen guten Griff und es ist geglückt ... Und +er nähert sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel liegt etwas – +er fühlt danach – es ist ein Revolver ... Carlo zuckt zusammen ... Ob er +ihn nicht lieber gleich behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch +den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn bemerkt ... Doch +nein, er würde ja sagen: Es ist drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!... +Und er läßt den Revolver liegen. + +Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem anderen Sessel unter +den Wäschestücken ... Himmel! das ist sie ... das ist eine Börse – er +hält sie in der Hand!... In diesem Moment hört er ein leises Krachen. +Mit einer raschen Bewegung streckt er sich der Länge nach zu Füßen des +Bettes hin ... Noch einmal dieses Krachen – ein schweres Aufatmen – ein +Räuspern – dann wieder Stille, tiefe Stille. Carlo bleibt auf dem Boden +liegen, die Börse in der Hand, und wartet. Es rührt sich nichts mehr. +Schon fällt der Dämmer blaß ins Zimmer herein. Carlo wagt nicht +aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden vorwärts bis zur Tür, die +weit genug offen steht, um ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den +Gang hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit einem tiefen +Atemzug. Er öffnet die Börse; sie ist dreifach geteilt: links und rechts +nur kleine Silberstücke. Nun öffnet Carlo den mittleren Teil, der durch +einen Schieber nochmals verschlossen ist, und fühlt drei +Zwanzigfrankenstücke. Einen Augenblick denkt er daran, zwei davon zu +nehmen, aber rasch weist er diese Versuchung von sich, nimmt nur ein +Goldstück heraus und schließt die Börse zu. Dann kniet er nieder, blickt +durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder völlig still ist, und +dann gibt er der Börse einen Stoß, so daß sie bis unter das zweite Bett +gleitet. Wenn der Fremde aufwacht, wird er glauben müssen, daß sie vom +Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich langsam. Da knarrt der +Boden leise, und im gleichen Augenblick hört er eine Stimme von drinnen: +»Was ist’s? Was gibt’s denn?« Carlo macht rasch zwei Schritte rückwärts, +mit verhaltenem Atem, und gleitet in seine eigene Kammer. Er ist in +Sicherheit und lauscht ... Noch einmal kracht drüben das Bett, und dann +ist alles still. Zwischen seinen Fingern hält er das Goldstück. Es ist +gelungen – gelungen! Er hat die zwanzig Franken, und er kann seinem +Bruder sagen: ›Siehst du nun, daß ich kein Dieb bin!‹ Und sie werden +sich noch heute auf die Wanderschaft machen – gegen den Süden zu, nach +Bormio, dann weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ... nach Edole +... nach Breno ... an den See von Iseo wie voriges Jahr ... Das wird +durchaus nicht verdächtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum +Wirt gesagt: »In ein paar Tagen gehen wir hinunter.« + +Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt in grauem Dämmer da. Ah, +wenn Geronimo nur bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Frühe! +Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen guten Morgen dem +Wirt, dem Knecht und Maria auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn +sie zwei Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es Geronimo +sagen. + +Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an: »Geronimo!« + +»Nun, was gibt’s?« Und er stützt sich mit beiden Händen und setzt sich +auf. + +»Geronimo, wir wollen aufstehen.« + +»Warum?« Und er richtet die toten Augen auf den Bruder. Carlo weiß, daß +Geronimo sich jetzt des gestrigen Vorfalles besinnt, aber er weiß auch, +daß der keine Silbe darüber reden wird, ehe er wieder betrunken ist. + +»Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird heuer nicht mehr +besser; ich denke, wir gehen. Zu Mittag können wir in Boladore sein.« + +Geronimo erhob sich. Die Geräusche des erwachenden Hauses wurden +vernehmbar. Unten im Hof sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf +und begab sich hinunter. Er war immer früh wach und ging oft schon in +der Dämmerung auf die Straße hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte: +»Wir wollen Abschied nehmen.« + +»Ah, geht ihr schon heut?« fragte der Wirt. + +»Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im Hof steht, und der Wind +zieht durch.« + +»Nun, grüß mir den Baldetti, wenn du nach Bormio hinunterkommst, und er +soll nicht vergessen, mir das Öl zu schicken.« + +»Ja, ich will ihn grüßen. Im übrigen – das Nachtlager von heut.« Er +griff in den Sack. + +»Laß sein, Carlo,« sagte der Wirt. »Die zwanzig Zentesimi schenk ich +deinem Bruder; ich hab ihm ja auch zugehört. Guten Morgen.« + +»Dank,« sagte Carlo. »Im übrigen, so eilig haben wir’s nicht. Wir sehen +dich noch, wenn du von den Hütten zurückkommst; Bormio bleibt am selben +Fleck stehen, nicht wahr?« Er lachte und ging die Holzstufen hinauf. + +Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte: »Nun, ich bin bereit zu +gehen.« + +»Gleich,« sagte Carlo. + +Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel des Raumes stand, nahm er +ihre wenigen Habseligkeiten und packte sie in ein Bündel. Dann sagte er: +»Ein schöner Tag, aber sehr kalt.« + +»Ich weiß,« sagte Geronimo. Beide verließen die Kammer. + +»Geh leise,« sagte Carlo, »hier schlafen die zwei, die gestern abend +gekommen sind.« Behutsam schritten sie hinunter. »Der Wirt läßt dich +grüßen,« sagte Carlo; »er hat uns die zwanzig Zentesimi für heut nacht +geschenkt. Nun ist er bei den Hütten draußen und kommt erst in zwei +Stunden wieder. Wir werden ihn ja im nächsten Jahre wiedersehen.« + +Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die Landstraße, die im +Dämmerschein vor ihnen lag. Carlo ergriff den linken Arm seines +Bruders, und beide schritten schweigend talabwärts. Schon nach kurzer +Wanderung waren sie an der Stelle, wo die Straße in langgezogenen Kehren +weiterzulaufen beginnt. Nebel stiegen nach aufwärts, ihnen entgegen, und +über ihnen die Höhen schienen von den Wolken wie eingeschlungen. Und +Carlo dachte: Nun will ich’s ihm sagen. + +Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das Goldstück aus der Tasche +und reichte es dem Bruder; dieser nahm es zwischen die Finger der +rechten Hand, dann führte er es an die Wange und an die Stirn, endlich +nickte er. »Ich hab’s ja gewußt,« sagte er. + +»Nun ja,« erwiderte Carlo und sah Geronimo befremdet an. + +»Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt hätte, ich hätte es doch +gewußt.« + +»Nun ja,« sagte Carlo ratlos. »Aber du verstehst doch, warum ich da oben +vor den anderen – ich habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal – – +Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab ich mir gedacht, daß +du dir einen neuen Rock kaufst und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich; +darum habe ich ...« + +Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« Und er strich mit der +einen Hand über seinen Rock. »Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir +nach dem Süden.« + +Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht zu freuen schien, daß +er sich nicht entschuldigte. Und er redete weiter: »Geronimo, war es +denn nicht recht von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun haben wir +es doch, nicht wahr? Nun haben wir es ganz. Wenn ich dir’s oben gesagt +hätte, wer weiß ... Oh, es ist gut, daß ich dir’s nicht gesagt habe – +gewiß!« + +Da schrie Geronimo: »Hör auf zu lügen, Carlo, ich habe genug davon!« + +Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders los. »Ich lüge nicht.« + +»Ich weiß doch, daß du lügst!... Immer lügst du!... Schon hundertmal +hast du gelogen!... Auch das hast du für dich behalten wollen, aber +Angst hast du bekommen, das ist es!« + +Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er faßte wieder den Arm des +Blinden und ging mit ihm weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach; +aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger war. + +Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen sprach Geronimo: »Es +wird warm.« Er sagte es gleichgültig, selbstverständlich, wie er es +schon hundertmal gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: für +Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo war er immer ein Dieb +gewesen. + +»Hast du schon Hunger?« fragte er. + +Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse und Brot aus der +Rocktasche und aß davon. Und sie gingen weiter. + +Die Post von Bormio begegnete ihnen; der Kutscher rief sie an: »Schon +hinunter?« Dann kamen noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren. + +»Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im gleichen Augenblick, nach +einer raschen Wendung, lag das Veltlin zu ihren Füßen. + +Wahrhaftig – nichts hat sich geändert, dachte Carlo ... Nun hab ich gar +für ihn gestohlen – und auch das ist umsonst gewesen. + +Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, der Glanz der Sonne riß +Löcher hinein. Und Carlo dachte: ›Vielleicht war es doch nicht klug, so +rasch das Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter dem Bett, das +ist jedenfalls verdächtig ...‹ Aber wie gleichgültig war das alles! Was +konnte ihm noch Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das Licht der +Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen und glaubte es schon +jahrelang und wird es immer glauben – was konnte ihm noch Schlimmes +geschehen? + +Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in Morgenglanz gebadet, und +tiefer unten, wo das Tal sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das +Dorf. Schweigend gingen die beiden weiter, und immer lag Carlos Hand auf +dem Arm des Blinden. Sie gingen an dem Park des Hotels vorüber, und +Carlo sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern sitzen und +frühstücken. »Wo willst du rasten?« fragte Carlo. + +»Nun, im ›Adler‹, wie immer.« + +Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren, +kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein +geben. + +»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt. + +Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist’s denn so früh? Der +zehnte oder elfte September – nicht?« + +»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.« + +»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht haben wir gefroren. Ja +richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl +hinaufzuschicken.« + +Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe +befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen +Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin, +in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf. + +»Gehen wir schon?« fragte Geronimo. + +»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, im ›Hirschen‹ halten die +Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.« + +Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden. +»Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht’s da oben aus? Heut nacht hat +es wohl geschneit?« + +»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte. + +Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen +und Weinbergen, dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel war blau und +still. ›Warum hab ich’s getan?‹ dachte Carlo. Er blickte den Blinden von +der Seite an. ›Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat +er es geglaubt – immer bin ich allein gewesen – und immer hat er mich +gehaßt.‹ Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter, +die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er +die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die +Sonne leuchtend auf allen Wegen lag. + +Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit +setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an +einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf. +Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen +hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf +die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein. +Es war ein Tag wie tausend andere. + +»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte +sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war +der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither +kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen +und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß +es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete. +Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam, +erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai +waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm +zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte +erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war. + +»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo. + +»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo. + +Nun waren sie an ihn herangekommen. + +»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen. + +»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide +auf den Posten nach Boladore führen.« + +»Eh!« rief der Blinde. + +Carlo wurde blaß. ›Wie ist das nur möglich?‹ dachte er. ›Aber es kann +sich nicht darauf beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht +wissen.‹ + +»Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm lachend, »es macht +euch wohl nichts, wenn ihr mitgeht.« + +»Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo. + +»O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie ist es denn möglich ... +was sollen wir denn ... oder vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich +weiß nicht ...« + +»Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. Was weiß ich. +Jedenfalls haben wir die telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen, +daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, dringend +verdächtig, da oben den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun, es ist auch +möglich, daß ihr unschuldig seid. Also vorwärts!« + +»Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo. + +»Ich rede – o ja, ich rede ...« + +»Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, auf der Straße +stehenzubleiben! Die Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an Ort und +Stelle. Vorwärts!« + +Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, und so gingen sie langsam +weiter, der Gendarm hinter ihnen. + +»Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo wieder. + +»Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? Es wird sich alles +herausstellen; ich weiß selber nicht ...« + +Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich’s ihm erklären, eh wir vor +Gericht stehen?... Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun, +was tut’s. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit sagen. »Herr +Richter,« werd ich sagen, »es ist doch kein Diebstahl wie ein anderer. +Es war nämlich so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, um +vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. »Da fuhr +gestern ein Herr über den Paß ... es mag ein Irrsinniger gewesen sein – +oder am End hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...« + +Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? ... Man wird ihn gar nicht +so lange reden lassen. – Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ... +nicht einmal Geronimo glaubt sie ... – Und er sah ihn von der Seite an. +Der Kopf des Blinden bewegte sich nach alter Gewohnheit während des +Gehens wie im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, und die +leeren Augen stierten in die Luft. – Und Carlo wußte plötzlich, was für +Gedanken hinter dieser Stirne liefen ... ›So also stehen die Dinge,‹ +mußte Geronimo wohl denken. – ›Carlo bestiehlt nicht nur mich, auch die +anderen Leute bestiehlt er ... Nun, er hat es gut, er hat Augen, die +sehen, und er nützt sie aus ...‹ – Ja, das denkt Geronimo, ganz gewiß +... Und auch, daß man kein Geld bei mir finden wird, kann mir nicht +helfen, – nicht vor Gericht, nicht vor Geronimo. Sie werden mich +einsperren und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat ja das +Geldstück. – Und er konnte nicht mehr weiter denken, er fühlte sich so +sehr verwirrt. Es schien ihm, als verstünde er überhaupt nichts mehr von +der ganzen Sache, und wußte nur eines: daß er sich gern auf ein Jahr in +den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn, wenn nur Geronimo wüßte, daß +er für ihn allein zum Dieb geworden war. + +Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß auch Carlo innehalten mußte. + +»Nun, was ist denn?« sagte der Gendarm ärgerlich. »Vorwärts, vorwärts!« +Aber da sah er mit Verwunderung, daß der Blinde die Gitarre auf den +Boden fallen ließ, seine Arme erhob und mit beiden Händen nach den +Wangen des Bruders tastete. Dann näherte er seine Lippen dem Munde +Carlos, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn. + +»Seid ihr verrückt?« fragte der Gendarm. »Vorwärts! vorwärts! Ich habe +keine Lust zu braten.« + +Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne ein Wort zu sprechen. Carlo +atmete tief auf und legte die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War +es denn möglich? Der Bruder zürnte ihm nicht mehr? Er begriff am Ende –? +Und zweifelnd sah er ihn von der Seite an. + +»Vorwärts!« schrie der Gendarm. »Wollt ihr endlich –!« Und er gab Carlo +eins zwischen die Rippen. + +Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden leitend, ging wieder +vorwärts. Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Denn er +sah Geronimo lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit +den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo lächelte +auch. Ihm war, als könnte ihm jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, – +weder vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. – Er hatte seinen +Bruder wieder ... Nein, er hatte ihn zum erstenmal ... + + + + +Die Toten schweigen + + +Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und +ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in +dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, vom Winde bewegt, +hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen; die Trottoire waren beinahe +trocken; aber die ungepflasterten Fahrstraßen waren noch feucht, und an +einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel gebildet. + +Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritt von +der Praterstraße, in irgendeine ungarische Kleinstadt versetzt glauben +kann. Immerhin – sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie +keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen. + +Er sah auf die Uhr ... Sieben – und schon völlige Nacht. Der Herbst ist +diesmal früh da. Und der verdammte Sturm. + +Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher auf und ab. Die +Laternenfenster klirrten. »Noch eine halbe Stunde,« sagte er zu sich, +»dann kann ich gehen. Ah – ich wollte beinahe, es wäre so weit.« Er +blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide +Straßen, von denen aus sie kommen könnte. + +Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er seinen Hut festhielt, +der wegzufliegen drohte. – Freitag – Sitzung des Professorenkollegiums – +da wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben ... Er hörte das +Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann auch die Glocke von der nahen +Nepomukkirche zu läuten. Die Straße wurde belebter. Es kamen mehr +Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, Bedienstete aus den +Geschäften, die um sieben geschlossen wurden. Alle gingen rasch und +waren mit dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art von Kampf +begriffen. Niemand beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädel blickten mit +leichter Neugier zu ihm auf. – Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt +rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne Wagen? dachte er. Ist +sie’s? + +Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte sie ihre +Schritte. + +»Du kommst zu Fuß?« sagte er. + +»Ich hab den Wagen schon beim Karltheater fortgeschickt. Ich glaube, ich +bin schon einmal mit demselben Kutscher gefahren.« + +Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der +junge Mann fixierte ihn scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch +weiter. Die Dame sah ihm nach. »Wer war’s?!« fragte sie ängstlich. + +»Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, sei ganz ruhig. – +Aber jetzt komm rasch; wir wollen einsteigen.« + +»Ist das dein Wagen?« + +»Ja.« + +»Ein offener?« + +»Vor einer Stunde war es noch so schön.« + +Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein. + +»Kutscher,« rief der junge Mann. + +»Wo ist er denn?« fragte die junge Frau. + +Franz schaute ringsumher. »Das ist unglaublich,« rief er, »der Kerl ist +nicht zu sehen.« + +»Um Gotteswillen!« rief sie leise. + +»Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.« + +Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen Wirtshause; an einem Tisch +mit ein paar anderen Leuten saß der Kutscher; jetzt stand er rasch auf. + +»Gleich, gnä’ Herr,« sagte er und trank stehend sein Glas Wein aus. + +»Was fällt Ihnen denn ein?« + +»Bitt schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.« + +Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. »Wohin fahr’n mer denn, +Euer Gnaden?« + +»Prater – Lusthaus.« + +Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte ganz versteckt, beinahe +zusammengekauert, in der Ecke unter dem aufgestellten Dach. + +Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. – »Willst du mir +nicht wenigstens guten Abend sagen?« + +»Ich bitt dich; laß mich nur einen Moment, ich bin noch ganz atemlos.« + +Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide schwiegen eine Weile. +Der Wagen war in die Praterstraße eingebogen, fuhr an dem +Tegethoff-Monument vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die +breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma plötzlich mit +beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn +noch von ihren Lippen trennte, und küßte sie. + +»Bin ich endlich bei dir!« sagte sie. + +»Weißt du denn, wie lang wir uns nicht gesehen haben?« rief er aus. + +»Seit Sonntag.« + +»Ja, und da auch nur von weitem.« + +»Wieso? Du warst ja bei uns.« + +»Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu euch komm ich +überhaupt nie wieder. Aber was hast du denn?« + +»Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.« + +»Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater spazieren fahren, kümmern +sich wahrhaftig nicht um uns.« + +»Das glaub ich schon. Aber zufällig kann einer hereinschaun.« + +»Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen.« + +»Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.« + +»Wie du willst.« + +Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören schien. Da beugte er sich +vor und berührte ihn mit der Hand. Der Kutscher wandte sich um. + +»Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn so auf die Pferde ein? +Wir haben ja gar keine Eile, hören Sie! Wir fahren in die ... wissen +Sie, die Allee, die zur Reichsbrücke führt.« + +»Auf die Reichsstraßen?« + +»Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen Sinn.« + +»Bitt schön, gnä’ Herr, der Sturm, der macht die Rösser so wild.« + +»Ah freilich, der Sturm.« Franz setzte sich wieder. + +Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren zurück. + +»Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?« fragte sie. + +»Wie hätt’ ich denn können?« + +»Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester geladen.« + +»Ach so.« + +»Warum warst du nicht dort?« + +»Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter anderen Leuten zusammen +zu sein. Nein, nie wieder.« + +Sie zuckte die Achseln. + +»Wo sind wir denn?« fragte sie dann. + +Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstraße ein. + +»Da geht’s zur großen Donau,« sagte Franz, »wir sind auf dem Weg zur +Reichsbrücke. Hier gibt es keine Bekannten!« setzte er spöttisch hinzu. + +»Der Wagen schüttelt entsetzlich.« + +»Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.« + +»Warum fährt er so im Zickzack?« + +»Es scheint dir so.« + +Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger als nötig hin und her +warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu +machen. + +»Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma.« + +»Da mußt du bald anfangen, denn um neun muß ich zu Hause sein.« + +»In zwei Worten kann alles entschieden sein.« + +»Gott, was ist denn das?« ... schrie sie auf. Der Wagen war in ein +Pferdebahngeleise geraten und machte jetzt, als der Kutscher +herauswenden wollte, eine so scharfe Biegung, daß er fast zu stürzen +drohte. Franz packte den Kutscher beim Mantel. »Halten Sie,« rief er ihm +zu. »Sie sind ja betrunken.« + +Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. »Aber gnä’ Herr ...« + +»Komm, Emma, steigen wir hier aus.« + +»Wo sind wir?« + +»Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr gar so stürmisch. +Gehen wir ein Stückchen. Man kann während des Fahrens nicht ordentlich +reden.« + +Emma zog den Schleier herunter und folgte. + +»Nicht stürmisch nennst du das?« rief sie aus, als ihr gleich beim +Aussteigen ein Windstoß entgegenfuhr. + +Er nahm ihren Arm. »Nachfahren,« rief er dem Kutscher zu. + +Sie spazierten vorwärts. Solang die Brücke allmählich anstieg, sprachen +sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten, +blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite +Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne +sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und +sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die beiden eben verlassen +hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war +es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein +ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen +sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge +mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich +aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen. +Der Donner verlor sich allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in +plötzlichen Stößen. + +Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort.« + +»Freilich,« erwiderte Emma leise. + +»Wir sollten fort,« sagte Franz lebhaft, »ganz fort, mein ich ...« + +»Es geht ja nicht.« + +»Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.« + +»Und mein Kind?« + +»Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.« + +»Und wie?« fragte sie leise ... »Davonlaufen bei Nacht und Nebel?« + +»Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als ihm einfach zu sagen, +daß du nicht länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst.« + +»Bist du bei Sinnen, Franz?« + +»Wenn du willst, erspar ich dir auch das, – ich sag es ihm selber.« + +»Das wirst du nicht tun, Franz.« + +Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit konnte er nicht mehr +bemerken, als daß sie den Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte. + +Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Hab keine Angst, ich werde +es nicht tun.« + +Sie näherten sich dem anderen Ufer. + +»Hörst du nichts?« sagte sie. »Was ist das?« + +»Es kommt von drüben,« sagte er. + +Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht +schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, daß es von einer kleinen +Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt +war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob +Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf +dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben +seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder +nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter +ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen +das andere Ufer. Sie sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins +Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die +Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein. + +Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: »Also das letztemal ...« + +»Was?« fragte Emma in besorgtem Ton. + +»– Daß wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich sag dir adieu.« + +»Sprichst du im Ernst?« + +»Vollkommen.« + +»Siehst du, daß du es bist, der uns immer die paar Stunden verdirbt, die +wir haben; nicht ich!« + +»Ja, ja, du hast recht,« sagte Franz. »Komm, fahren wir zurück.« + +Sie nahm seinen Arm fester. »Nein,« sagte sie zärtlich, »jetzt will ich +nicht. Ich laß mich nicht so fortschicken.« + +Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. »Wohin kämen wir,« fragte +sie dann, »wenn wir hier immer weiter führen?« + +»Da geht’s direkt nach Prag, mein Kind.« + +»So weit nicht,« sagte sie lächelnd, »aber noch ein bißchen weiter da +hinaus, wenn du willst.« Sie wies ins Dunkle. + +»He, Kutscher!« rief Franz. Der hörte nichts. + +Franz schrie: »Halten Sie doch!« + +Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm nach. Jetzt sah er, daß der +Kutscher schlief. Durch heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. »Wir +fahren noch ein kleines Stück weiter – die gerade Straße – verstehen Sie +mich?« + +»Is’ schon gut, gnä’ Herr ...« + +Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche +drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin. +Aber die beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen +sie hin und her warf. + +»Ist das nicht auch ganz schön,« flüsterte Emma ganz nahe an seinem +Munde. + +In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe +– sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff +ins Leere; es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender +Geschwindigkeit im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen mußte – +und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure +schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig +einsam wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: Geräusch von +Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe auf den Boden schlugen, ein leises +Wimmern; aber sehen konnte sie nichts. Jetzt faßte sie eine tolle Angst; +sie schrie; ihre Angst ward noch größer, denn sie hörte ihr Schreien +nicht. Sie wußte plötzlich ganz genau, was geschehen war: der Wagen war +an irgend etwas gestoßen, wohl an einen der Meilensteine, hatte +umgeworfen, und sie waren herausgestürzt. Wo ist _er?_ war ihr nächster +Gedanke. Sie rief seinen Namen. Und sie hörte sich rufen, ganz leise +zwar, aber sie hörte sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu +erheben. Es gelang ihr so weit, daß sie auf den Boden zu sitzen kam, und +als sie mit den Händen ausgriff, fühlte sie einen menschlichen Körper +neben sich. Und nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge +durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührte mit +der ausgestreckten Hand sein Gesicht; sie fühlte etwas Feuchtes und +Warmes darüber fließen. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da +geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. Und der Kutscher – wo war +er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem +Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl sie Schmerzen in +allen Gliedern fühlte. Was tu ich nur, was tu ich nur ... es ist doch +nicht möglich, daß mir gar nichts geschehen ist. »Franz!« rief sie. Eine +Stimme antwortete ganz in der Nähe: »Wo sind S’ denn, gnä’ Fräul’n, wo +ist der gnä’ Herr? Es ist doch nix g’schehn? Warten S’, Fräulein, – i +zünd nur die Latern an, daß wir was sehn; i weiß net, was die Krampen +heut hab’n. Ich bin net Schuld, meiner Seel ... in ein Schoderhaufen +sein s’ hinein, die verflixten Rösser.« + +Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh taten, vollkommen +aufgerichtet, und daß dem Kutscher nichts geschehen war, machte sie ein +wenig ruhiger. Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete und +Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie auf das Licht. Sie wagte +es nicht, Franz noch einmal zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag; +sie dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; er hat +gewiß die Augen offen ... es wird nichts sein. + +Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah plötzlich den Wagen, der +aber zu ihrer Verwunderung nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief +gegen den Straßengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad gebrochen. +Die Pferde standen vollkommen still. Das Licht näherte sich; sie sah den +Schein allmählich über einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den +Graben gleiten; dann kroch er auf die Füße Franzens, glitt über seinen +Körper, beleuchtete sein Gesicht und blieb darauf ruhen. Der Kutscher +hatte die Laterne auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des +Liegenden. Emma ließ sich auf die Knie nieder, und es war ihr, als hörte +ihr Herz zu schlagen auf, wie sie das Gesicht erblickte. Es war blaß; +die Augen halb offen, so daß sie nur das Weiße von ihnen sah. Von der +rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut über die Wange und +verlor sich unter dem Kragen am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne +gebissen. »Es ist ja nicht möglich!« sagte Emma vor sich hin. + +Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte das Gesicht an. Dann +packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn in die Höhe. »Was +machen Sie?« schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak vor diesem +Kopf, der sich selbständig aufzurichten schien. + +»Gnä’ Fräul’n, mir scheint, da ist ein großes Malheur geschehn.« + +»Es ist nicht wahr,« sagte Emma. »Es kann nicht sein. Ist denn Ihnen +was geschehen? Und mir ...« + +Der Kutscher ließ den Kopf des Regungslosen wieder langsam sinken; – in +den Schoß Emmas, die zitterte. »Wenn nur wer käm ... wenn nur die +Bauersleut eine Viertelstund’ später daherkommen wären ...« + +»Was sollen wir denn machen?« sagte Emma mit bebenden Lippen. + +»Ja, Fräul’n, wenn der Wagen net brochen wär ... aber so, wie er jetzt +zug’richt ist ... Wir müssen halt warten, bis wer kommt.« Er redete noch +weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem war es ihr, +als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war. + +»Wie weit ist’s bis zu den nächsten Häusern?« fragte sie. + +»Das ist nimmer weit, Fräul’n, da ist ja gleich das Franz Josefsland ... +Wir müßten die Häuser sehen, wenn’s licht wär, in fünf Minuten müßte man +dort sein.« + +»Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.« + +»Ja, Fräul’n, ich glaub schier, es ist g’scheiter, ich bleib mit Ihnen +da – es kann ja nicht so lang dauern, bis wer kommt, es ist ja +schließlich die Reichsstraße, und –« + +»Da wird’s zu spät, da kann’s zu spät werden. Wir brauchen einen +Doktor.« + +Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, dann schaute er +kopfschüttelnd Emma an. + +»Das können Sie nicht wissen,« – rief Emma, »und ich auch nicht.« + +»Ja, Fräul’n ... aber wo find’ i denn ein’ Doktor im Franz Josefsland?« + +»So soll von dort jemand in die Stadt und –« + +»Fräul’n, wissen’s was! I denk mir, die werden dort vielleicht ein +Telephon haben. Da könnten wir um die Rettungsgesellschaft +telephonieren.« + +»Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen Sie, um Himmels willen! +Und Leute bringen Sie mit ... Und ... bitt’ Sie, gehen Sie nur, was tun +Sie denn noch da?« + +Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun auf Emmas Schoß +ruhte. »Rettungsgesellschaft, Doktor, wird nimmer viel nützen.« + +»Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!« + +»I geh schon – daß S’ nur nicht Angst kriegen, Fräul’n, da in der +Finstern.« Und er eilte rasch über die Straße fort. »I kann nix dafür, +meiner Seel,« murmelte er vor sich hin. »Ist auch eine Idee, mitten in +der Nacht auf die Reichsstraßen ...« + +Emma war mit dem Regungslosen allein auf der dunklen Straße. »Was +jetzt?« dachte sie. Es ist doch nicht möglich ... das ging ihr immer +wieder durch den Kopf ... es ist ja nicht möglich. – Es war ihr +plötzlich, als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich herab zu den +blassen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch. Das Blut an Schläfe und +Wangen schien getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die +gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum glaube ich es denn nicht +– es ist ja gewiß ... das ist der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie +fühlte nur mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf meinem +Schoß. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so daß er +wieder auf den Boden zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl +entsetzlicher Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den Kutscher +weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was soll sie denn da auf der +Landstraße mit dem toten Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ... +Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie lang wird sie hier +warten müssen? Und sie sah wieder den Toten an. Ich bin nicht allein mit +ihm, fiel ihr ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre +dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie danken müßte. Es war +mehr Leben in dieser kleinen Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um +sie; ja, es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen den +blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf dem Boden lag ... Und sie +sah in das Licht so lang, bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen +begann. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte. Sie +sprang auf! Das geht ja nicht, das ist ja unmöglich, man darf mich doch +nicht hier mit ihm finden ... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst +auf der Straße stehen, zu ihren Füßen den Toten und das Licht; und sie +sah sich, als ragte sie in sonderbarer Größe in die Dunkelheit hinein. +Worauf wart ich, dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf wart +ich? Auf die Leute? – Was brauchen mich denn die? Die Leute werden +kommen und fragen ... und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden +fragen, wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. Kein Wort +werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd ich. Kein Wort ... sie +können mich ja nicht zwingen. + +Stimmen kamen von weitem. + +Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die Stimmen kamen von der +Brücke her. Das konnten also nicht die Leute sein, die der Kutscher +geholt hatte. Aber wer immer sie waren – jedenfalls werden sie das +Licht bemerken – und das durfte nicht sein, dann war sie entdeckt. + +Und sie stieß mit dem Fuß die Laterne um. Die verlöschte. Nun stand sie +in tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur +der weiße Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen kamen näher. Sie +begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um +Himmels willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar +nichts anderes kommt es an – sie ist ja verloren, wenn ein Mensch +erfährt, daß sie die Geliebte von ... Sie faltet die Hände krampfhaft. +Sie betet, daß die Leute auf der anderen Seite der Straße vorübergehen +mögen, ohne sie zu bemerken. Sie lauscht. Ja von drüben ... Was reden +sie doch?... Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt, +denn sie reden etwas davon, sie kann Wörter unterscheiden. Ein Wagen ... +umgefallen ... was sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie +gehen weiter ... sie sind vorüber ... Gott sei Dank! Und jetzt, was +jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie er? Er ist zu beneiden, für ihn +ist alles vorüber ... für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine +Furcht. Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, daß man sie hier +finden, daß man sie fragen wird: wer sind Sie?... Daß sie mit auf die +Polizei muß, daß alle Menschen es erfahren werden, daß ihr Mann – daß +ihr Kind – + +Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden ist wie +angewurzelt ... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich +selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht einen Schritt ... +Vorsichtig ... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... einen +Schritt hinauf – o, er ist so seicht! – und noch zwei Schritte, bis sie +in der Mitte der Straße ist ... und dann steht sie einen Augenblick +still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein +verfolgen. Dort – dort ist die Stadt. Sie kann nichts von ihr sehen ... +aber die Richtung ist ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist +ja gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut sehn; auch die +Pferde ... und wenn sie sich sehr anstrengt, merkt sie auch etwas wie +die Umrisse eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie +reißt die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas hier zurück +... der Tote ist es, der sie hier behalten will, und es graut sie vor +seiner Macht ... Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt +sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, und +der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie ... geht +rascher ... läuft ... und fort von da ... zurück ... in das Licht, in +den Lärm, zu den Menschen! Die Straße läuft sie entlang, hält das Kleid +hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr im Rücken, es ist, als wenn +er sie vorwärts triebe. Sie weiß nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es +ist ihr, als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müßte, der dort, weit +hinter ihr, neben dem Straßengraben liegt ... dann fällt ihr ein, daß +sie ja den Lebendigen entkommen will, die gleich dort sein und sie +suchen werden. Was werden die denken? Wird man ihr nicht nach? Aber man +kann sie nicht mehr einholen, sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat +einen großen Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man kann ja +nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann ahnen, wer die Frau war, die +mit jenem Mann über die Reichsstraße gefahren ist. Der Kutscher kennt +sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn er sie später einmal +sieht. Man wird sich auch nicht darum kümmern, wer sie war. Wen geht es +an? – Es ist sehr klug, daß sie nicht dort geblieben ist, es ist auch +nicht gemein. Franz selbst hätte ihr recht gegeben. Sie muß ja nach +Haus, sie hat ein Kind, sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn +man sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. Da ist die +Brücke, die Straße scheint heller ... ja schon hört sie das Wasser +rauschen wie früher; sie ist da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen – +wann – wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch nicht lange sein. Nicht +lang? Vielleicht doch! Vielleicht war sie lange bewußtlos, vielleicht +ist es längst Mitternacht, vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie +wird daheim schon vermißt. Nein, nein, das ist ja nicht möglich, sie +weiß, daß sie gar nicht bewußtlos war; sie erinnert sich jetzt genauer +als im ersten Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und gleich über +alles im klaren gewesen ist. Sie läuft über die Brücke und hört ihre +Schritte hallen. Sie sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt +sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt ihre Schritte. Wer +kann das sein, der ihr entgegenkommt? Es ist jemand in Uniform. Sie geht +ganz langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu merken, daß der +Mann den Blick fest auf sie gerichtet hält. Wenn er sie fragt? Sie ist +neben ihm, erkennt die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie geht +an ihm vorüber. Sie hört, daß er hinter ihr stehen geblieben ist. Mit +Mühe hält sie sich davon zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig. +Sie geht noch immer so langsam wie früher. Sie hört das Geklingel der +Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang nicht Mitternacht sein. Jetzt geht +sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie +schon unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Straße entgegenschimmern +sieht, deren gedämpften Lärm sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese +einsame Straße, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von weitem +schrille Pfiffe, immer schriller, immer näher; ein Wagen saust an ihr +vorüber. Unwillkürlich bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der +Wagen der Rettungsgesellschaft. Sie weiß, wohin er fährt. Wie schnell! +denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen Moment lang ist ihr, als müßte +sie den Leuten nachrufen, als müßte sie mit, als müßte sie wieder dahin +zurück, woher sie gekommen – einen Moment lang packt sie eine ungeheure +Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiß, daß sie feig und +schlecht gewesen ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner +verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, und wie eine +Gerettete eilt sie vorwärts. Leute kommen ihr entgegen; sie hat keine +Angst mehr vor ihnen – das Schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt +wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die +Häuserzeile der Praterstraße, und es ist ihr, als werde sie dort von +einer Flut von Menschen erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf. +Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe, +auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten vor neun. Sie hält die Uhr +ans Ohr – sie ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin +lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und er ... er ... tot ... +Schicksal ... Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen ... als wäre nie +irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es +hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn +es das Schicksal anders bestimmt hätte? – Und wenn sie jetzt dort im +Graben läge und er am Leben geblieben wäre? Er wäre nicht geflohen, nein +... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib – und sie hat +ein Kind und einen Gatten. – Sie hat recht gehabt, – es ist ihre Pflicht +– ja ihre Pflicht. Sie weiß ganz gut, daß sie nicht aus Pflichtgefühl so +gehandelt ... Aber sie hat doch das Rechte getan. Unwillkürlich ... wie +... gute Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. Jetzt würden die +Ärzte sie fragen. Und Ihr Mann, gnädige Frau? O Gott!... Und die +Zeitungen morgen – und die Familie – sie wäre für alle Zeit vernichtet +gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben erwecken können. Ja, das war +die Hauptsache; für nichts hätte sie sich zugrunde gerichtet. – Sie ist +unter der Eisenbahnbrücke. – Weiter ... weiter ... Hier ist die +Tegethoffsäule, wo die vielen Straßen ineinander laufen. Es sind heute, +an dem regnerischen, windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien, +aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig um sie, denn +woher sie kommt, dort war die fürchterlichste Stille. Sie hat Zeit. Sie +weiß, daß ihr Mann heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. – sie +kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr ein, ihr Kleid zu +betrachten. Mit Schrecken merkt sie, daß es über und über beschmutzt +ist. Was wird sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch den Kopf, +daß morgen die Geschichte von dem Unglücksfall in allen Zeitungen zu +lesen sein wird. Auch von einer Frau, die mit im Wagen war, und die dann +nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen stehen, und bei diesem +Gedanken bebt sie von neuem – _eine_ Unvorsichtigkeit, und all ihre +Feigheit war umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschlüssel bei sich; sie +kann ja selbst aufsperren; – sie wird sich nicht hören lassen. Sie +steigt rasch in einen Fiaker. Schon will sie ihm ihre Adresse angeben, +da fällt ihr ein, daß das vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm +irgendeinen Straßennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie durch die +Praterstraße fährt, möchte sie gern irgend etwas empfinden, aber sie +kann es nicht; sie fühlt, daß sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in +Sicherheit sein. Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, da +sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Straße liegen zu +lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und +jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich. +Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie weiß ganz gewiß, es werden +Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zugrunde +gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen +Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem +Kinde zu sitzen. Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt durch +die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, und ziemlich viele +Menschen eilen vorbei. Da ist ihr plötzlich, als könne alles, was sie in +den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein böser Traum +erscheint es ihr ... unfaßbar als Wirkliches, Unabänderliches. In einer +Seitengasse nach dem Ring läßt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt +rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, dem sie ihre +richtige Adresse angibt. Es kommt ihr vor, als wäre sie jetzt überhaupt +nicht mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es +ihr durch den Sinn. Sie schließt die Augen, und sie sieht ihn vor sich +auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen – und plötzlich ist ihr, als +sitze sie neben ihm und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu +schwanken, und sie hat Angst, daß sie herausgeschleudert werde, wie +damals – und sie schreit auf. Da hält der Wagen. Sie fährt zusammen; sie +ist vor ihrem Haustor. – Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur, mit +leisen Schritten, so daß der Portier hinter seinem Fenster gar nicht +aufschaut, die Treppen hinauf, sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört +zu werden ... durchs Vorzimmer in ihr Zimmer – es ist gelungen! Sie +macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wohl im +Schrank. Über Nacht sollen sie trocknen – morgen will sie sie selber +bürsten und reinigen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt +einen Schlafrock um. + +Jetzt klingelt es draußen. Sie hört das Stubenmädchen an die Wohnungstür +kommen und öffnen. Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er +den Stock hinstellt. Sie fühlt, daß sie jetzt stark sein müsse, sonst +kann noch immer alles vergeblich gewesen sein. Sie eilt ins +Speisezimmer, so daß sie im selben Augenblick eintritt wie ihr Gatte. + +»Ah, du bist schon zu Haus?« sagt er. + +»Gewiß,« antwortet sie, »schon lang.« + +»Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.« Sie lächelt, ohne sich dazu +zwingen zu müssen. Es macht sie nur sehr müde, daß sie auch lächeln muß. +Er küßt sie auf die Stirn. + +Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten müssen, ist +eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offenen +Buch ruht sein Gesicht. Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr +gegenüber, nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick hinein. +Dann legt er sie weg und sagt: »Die anderen sitzen noch zusammen und +beraten weiter.« + +»Worüber?« fragt sie. + +Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen Sitzung, sehr lang, sehr +viel. Emma tut, als höre sie zu, nickt zuweilen. + +Aber sie hört nichts, sie weiß nicht, was er spricht, es ist ihr zumute +wie einem, der furchtbaren Gefahren auf wunderbare Weise entronnen ... +sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr +Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen, +nimmt seinen Kopf und drückt ihn an ihre Brust. Eine unsägliche +Müdigkeit überkommt sie – sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt, +daß der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen. + +Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit +dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr +gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er ... Ach nein, es war kein +Zweifel möglich ... Diese Augen ... dieser Mund – und dann ... kein +Hauch von seinen Lippen. – Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle, +wo sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen geübten Blick. +Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er +sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden +... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn er am Ende fürchtet, +sie sei verletzt ... wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie +muß weiter weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, was dann? +Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland +mit Leuten ... er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich +fortgegangen bin – und Franz wird ahnen. Franz wird wissen ... er kennt +sie ja so gut ... er wird wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein +gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um +sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... und es wird ihn so tief +erschüttern, daß sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, daß +er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... feig +und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Ärzte, Sie hätten sie +gewiß nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht +hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, o ja – nur hätte +sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht +gewesen ist, sag ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah! + +»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht. + +»Was ... wie?... Was ist?« + +»Ja, was ist dir denn?« + +»Nichts.« Sie drückt den Jungen fester an sich. + +Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß du begonnen hast, +einzuschlummern und –« + +»Und?« + +»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.« + +»... So?« + +»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken hat. Hast du geträumt?« + +»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.« + +Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das +lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes +ist, und doch schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr wird, +sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: dieses Lächeln wird, +solange sie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien. +Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie +sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das +Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken +sich in die ihren. Sie weiß: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht, +so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat +ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit +ihnen anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, sonst ist es +vorbei, und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten, +die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter +und zärtlich an. + +Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirn fühlt, denkt +sie: freilich ... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich +nie rächen, nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und die +Toten schweigen. + +»Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie +erschrickt tief. »Was hab ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie +plötzlich alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze Geschichte +dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... und noch einmal fragt sie, +während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab ich +denn gesagt?« + +»Die Toten schweigen,« wiederholt ihr Mann sehr langsam. + +»Ja ...« sagt sie, »ja ...« + +Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann, +und lange sehn die beiden einander an. »Bring den Buben zu Bett,« sagt +er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen ...« + +»Ja,« sagt sie. + +Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im +nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird. + +Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer +die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe +über sie, als würde vieles wieder gut ................ + + + + +Die Weissagung + + +1 + +Unweit von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im Walde wie versunken und von +der Landstraße aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des +Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit zehn Jahren als Arzt in +Meran lebt und dem ich im Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit +dem Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals fünfzig Jahre alt und +dilettierte in mancherlei Künsten. Er komponierte ein wenig, war tüchtig +auf Violine und Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten +aber hatte er in früherer Zeit die Schauspielerei getrieben. Wie es +hieß, war er als ganz junger Mensch unter angenommenem Namen ein paar +Jahre lang auf kleinen Bühnen draußen im Reiche umhergezogen. Ob nun der +dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende Begabung oder mangelndes +Glück der Anlaß war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn früh +genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche Verspätung in den Staatsdienst +treten zu können und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den er +dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn auch ohne Begeisterung +erfüllte. Aber als er, kaum über vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode +des Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit welcher Liebe +er an dem Gegenstand seiner jugendlichen Träume noch immer hing. Er ließ +die Villa auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen und +versammelte dort, insbesondere zur Sommers- und Herbstzeit, einen +allmählich immer größer werdenden Kreis von Herren und Damen, die +allerlei leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder vorführten. +Seine Frau, aus einer alten Tiroler Bürgerfamilie, ohne wirkliche +Anteilnahme an künstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten mit +kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah seiner Liebhaberei mit +einigem Spotte zu, der sich aber um so gutmütiger anließ, als das +Interesse des Freiherrn ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam. +Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte strengen +Beurteilern nicht gewählt genug erscheinen, aber auch Gäste, die sonst +nach Geburt und Erziehung zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen +keinerlei Anstoß an der zwanglosen Zusammensetzung eines Kreises, die +durch die dort geübte Kunst genügend gerechtfertigt schien und von dem +überdies der Name und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht +freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen anderen, deren ich +mich nicht mehr entsinne, begegnete ich auf dem Schlosse einem jungen +Grafen von der Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier +aus Riva, einem Generalstabshauptmann mit Frau und Tochter, einer +Operettensängerin aus Berlin, einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei +Söhnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von seiner Weltreise +zurückgekommen war, einem pensionierten Hofschauspieler aus Bückeburg, +einer verwitweten Gräfin Saima, die als junges Mädchen Schauspielerin +gewesen war, mit ihrer Tochter, und dem dänischen Maler Petersen. + +Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten Gäste. Einige nahmen in +Bozen Quartier, andere in einem bescheidenen Gasthof, der unten an der +Wegscheide lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute abzweigte. Aber +meist in den ersten Nachmittagsstunden war der ganze Kreis oben +versammelt, und dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen +Hofschauspielers, zuweilen unter der des Freiherrn, der selbst niemals +mitwirkte, bis in die späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs +unter Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer größerem Ernste, +bis der Tag der Vorstellung herannahte, und je nach Witterung, Laune, +Vorbereitung, möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung, +entweder auf dem an den Wald grenzenden Wiesenplatz hinter dem +Schloßgärtchen oder in dem ebenerdigen Saal mit den drei großen +Bogenfenstern die Aufführung stattfand. + +Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte ich keinen anderen +Vorsatz, als an einem neuen Ort unter neuen Menschen einen heiteren Tag +zu verbringen. Aber wie das so kommt, wenn man ohne Ziel und in +vollkommener Freiheit umherstreift, und überdies bei allmählich +schwindender Jugend keinerlei Beziehungen bestehen, die lebhafter in die +Heimat zurückrufen, ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem Bleiben +bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei, drei und mehr, und so, zu meiner +eignen Verwunderung wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem +Schlößchen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr wohnlich +ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins Tal eingeräumt war. Dieser erste +Aufenthalt auf dem Guntschnaberg wird für mich stets eine angenehme und, +trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich herum, sehr stille +Erinnerung bleiben, da ich mit keinem der Gäste anders als flüchtig +verkehrte und überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nachdenken und +Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen Waldspaziergängen +verbrachte. Auch der Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal +eines meiner kleinen Stücke darstellen ließ, störte die Ruhe meines +Aufenthaltes nicht, da niemand von meiner Eigenschaft als Verfasser +Notiz nahm. Vielmehr bedeutete mir dieser Abend ein höchst anmutiges +Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf grünem Rasen, unter freiem Himmel +ein bescheidener Traum meiner Jugendjahre so spät als unerwartet in +Erfüllung ging. + +Die lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich nach, der Urlaub der +Herren, die in einem Berufe standen, war großenteils abgelaufen, und nur +manchmal kam Besuch von Freunden, die in der Nähe ansässig waren. Erst +jetzt gewann ich selbst zu dem Freiherrn ein näheres Verhältnis und fand +bei ihm zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als sie +Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte sich keineswegs +darüber, daß das, was auf seinem Schlosse getrieben wurde, nichts +anderes war, als eine höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm +im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in eine dauernde und +ernsthafte Beziehung zu seiner geliebten Kunst zu treten, so ließ er +sich an dem Schimmer genügen, der wie aus entlegenen Fernen über das +harmlose Theaterwesen im Schlosse geglänzt kam, und freute sich +überdies, daß hier von mancher Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch +überall mit sich bringt, kein Hauch zu spüren war. + +Auf einem unserer Spaziergänge sprach er ohne jede Zudringlichkeit den +Einfall aus, einmal auf seiner Bühne im Freien ein Stück dargestellt zu +sehen, das schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und auf die +natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese Bemerkung kam einem Plan, den +ich seit einiger Zeit in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem +Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen. + +Bald darauf verließ ich das Schloß. + +In den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon sandte ich mit +freundlichen Worten der Erinnerung an die schönen Tage des vergangenen +Herbstes dem Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen der Gelegenheit +wohl entsprechen mochte. Bald darauf traf die Antwort ein, die den Dank +des Freiherrn und eine herzliche Einladung für den kommenden Herbst +enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, und in den ersten +Septembertagen bei einbrechender kühler Witterung reiste ich an den +Gardasee, ohne daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des Freiherrn +von Schottenegg recht nahe war. Ja mir ist heute, als hätte ich zu +dieser Zeit das kleine Schloß und alles dortige Treiben völlig vergessen +gehabt. Da erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben des +Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes Erstaunen aus, daß ich +nichts von mir hören ließe, und enthielt die Mitteilung, daß am 9. +September die Aufführung des kleinen Stückes stattfände, das ich ihm im +Frühling übersandt hatte und bei der ich keineswegs fehlen dürfte. +Besonderes Vergnügen versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in +dem Stück beschäftigt waren und die es sich jetzt schon nicht nehmen +ließen, auch außerhalb der Probezeit in ihren zierlichen Kostümen +umherzulaufen und auf dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle – so schrieb +er weiter – sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten an seinen Neffen, +Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, der – wie ich mich gewiß noch +erinnere – im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern mitgewirkt +habe, der aber nun auch als Schauspieler ein überraschendes Talent +erweise. + +Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am Tage der Vorstellung im +Schlosse an, wo mich der Freiherr und seine Frau freundlich empfingen. +Auch andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den pensionierten +Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit Tochter, Herrn von Umprecht und +seine schöne Frau; sowie die vierzehnjährige Tochter des Försters, die +zu meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den Nachmittag wurde +große Gesellschaft erwartet und abends bei der Vorstellung sollten mehr +als hundert Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste des +Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend ringsum, denen heute, wie +schon öfter, der Zugang zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war +diesmal auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern einer +Bozener Kapelle und einigen Dilettanten bestehend, die eine Ouvertüre +von Weber und überdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren sollten, welch +letztere der Freiherr selbst komponiert hatte. + +Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht schien mir etwas +stiller als die anderen. Anfangs hatte ich mich seiner kaum entsinnen +können, und es fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal mit +Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je das Wort an mich zu +richten. Allmählich wurde mir der Ausdruck seines Gesichtes bekannter, +und plötzlich erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der +lebenden Bilder mit aufgestützten Armen in Mönchstracht vor einem +Schachbrett gesessen war. Ich fragte ihn, ob ich mich nicht irrte. Er +wurde beinahe verlegen, als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete +für ihn und machte dann eine lächelnde Bemerkung über das neuentdeckte +schauspielerische Talent seines Neffen. Da lachte Herr von Umprecht in +einer ziemlich sonderbaren Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen +Blick zu mir herüber, der eine Art von Einverständnis zwischen uns +beiden auszudrücken schien und den ich mir durchaus nicht erklären +konnte. Aber von diesem Augenblick an vermied er es wieder, mich +anzusehen. + + +2 + +Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Da stand +ich wieder am offenen Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan, +und freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das sonnenglänzende +Tal, das, eng zu meinen Füßen, allmählich sich dehnte und in der Ferne +sich völlig aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen. + +Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von Umprecht trat ein, blieb an +der Tür stehen und sagte mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um +Verzeihung, wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr fort: »Aber +sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör geschenkt haben, davon bin ich +überzeugt, werden Sie meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.« + +Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er achtete nicht darauf, +sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten +Art Ihr Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, Ihnen zu +danken.« + +Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, als daß sich diese +Worte des Herrn von Umprecht auf seine Rolle bezögen und sie mir +allzuhöflich schienen, so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht +unterbrach mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie meine Worte +gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich anzuhören?« Er setzte sich auf +das Fensterbrett, kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit +so ruhig als möglich scheinend, begann er: »Ich bin jetzt Gutsbesitzer, +wie Sie vielleicht wissen, bin aber früher Offizier gewesen. Und zu +jener Zeit, vor zehn Jahren – _heute_ vor zehn Jahren – begegnete mir +das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten ich gewissermaßen +bis heute gelebt habe und das heute durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun +seinen Abschluß findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein +dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich so wenig werden +aufklären können wie ich; aber Sie sollen wenigstens von seinem +Vorhandensein erfahren. – Mein Regiment lag damals in einem öden +polnischen Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem Dienst, der nicht +immer anstrengend genug war, nur Trunk und Spiel. Überdies hatte man die +Möglichkeit vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und nicht +alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser trostlosen Aussicht mit +Fassung zu tragen. Einer meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat +unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer Kamerad, früher der +liebenswürdigste Offizier, fing plötzlich an, ein arger Trinker zu +werden, wurde unmanierlich, aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig und +hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten, der ihn seine Charge +kostete. Der Hauptmann meiner Kompanie war verheiratet und, ich weiß +nicht, ob mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau eines +Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb rätselhafterweise heil und +gesund; der Mann starb im Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin +ein sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete sich plötzlich +ein, Philosophie zu verstehen, studierte Kant und Hegel und lernte ganze +Partien aus deren Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich +anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und zwar in einer so +ungeheuerlichen Weise, daß ich an manchen Nachmittagen, wenn ich auf +meinem Bette lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne lag +außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig verstreuten Hütten +bestand; die nächste Stadt, eine gute Reitstunde entfernt, war +schmierig, widerwärtig, stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten +wir manchmal mit ihnen zu tun – der Hotelier war ein Jude, der Cafetier, +der Schuster desgleichen. Daß wir uns möglichst beleidigend gegen sie +benahmen, das können Sie sich denken. Wir waren besonders gereizt gegen +dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem Regiment als Major zugeteilt +war, den Gruß der Juden – ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß ich +nicht – mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte und überdies mit +auffallender Absichtlichkeit unseren Regimentsarzt protegierte, der ganz +offenbar von Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich nicht +erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen +Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die +Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen berufen war. Es war ein +Taschenspieler, und zwar der Sohn eines Branntweinjuden aus dem +benachbarten polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in ein +Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen und hatte einmal irgend +jemandem einige Kartenkunststücke abgelernt. Er bildete sich auf eigene +Faust weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien an und +brachte es allmählich so weit, daß er in der Welt umherziehen und sich +auf Varietébühnen oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im +Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die Eltern zu besuchen. Dort +trat er nie öffentlich auf, und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo +er mir durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er war ein +kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals etwa dreißig Jahre alt +sein mochte, mit einer vollkommen lächerlichen Eleganz gekleidet, die +zur Jahreszeit gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen Gehrock +und mit gebügeltem Zylinder herum und trug Westen vom herrlichsten +Brokat; bei starkem Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der +Nase. + +Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn nach dem Abendessen im +Kasino an unserem langen Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle +Nacht, und die Fenster standen offen. Einige Kameraden hatten zu spielen +begonnen, andere lehnten am Fenster und plauderten, wieder andere +tranken und rauchten schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und +meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren zuerst einigermaßen +erstaunt. Aber ohne weiteres abzuwarten, trat der Gemeldete in guter +Haltung ein und sprach in leichtem Jargon einige einleitende Worte, mit +denen er sich für die an ihn ergangene Einladung bedankte. Er wandte +sich dabei an den Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm – natürlich +ausschließlich, um uns zu ärgern – die Hand schüttelte. Der +Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich hin und bemerkte dann, er +werde zuerst einige Kartenkunststücke zeigen, um sich hierauf im +Magnetismus und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte kaum zu Ende +gesprochen, als einige unserer Herren, die in einer Ecke beim +Kartenspiel saßen, merkten, daß ihnen die Figuren fehlten: auf einen +Wink des Zauberers kamen sie aber durch das geöffnete Fenster +hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen ließ, unterhielten +uns sehr und übertrafen so ziemlich alles, was ich auf diesem Gebiete +gesehen hatte. Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen +Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne Grauen sahen wir alle +zu, wie der philosophische Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des +Zauberers gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die glatte +Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben knapp am Rand um das ganze +Viereck herumeilte und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er +wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, sagte der Oberst +zu dem Zauberer: »Sie, wenn er sich den Hals gebrochen hätte, ich +versichere Sie, Sie wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.« Nie +werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, mit dem der Jude diese +Bemerkung wortlos erwiderte. Dann sagte er langsam: »Soll ich Ihnen aus +der Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig diese Kaserne +verlassen werden?« Ich weiß nicht, was der Oberst oder wir anderen ihm +auf diese verwegene Bemerkung sonst entgegnet hätten – aber die +allgemeine Stimmung war schon so wirr und erregt, daß sich keiner +wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler die Hand hinreichte und, +dessen Jargon nachahmend, sagte: »Nu, lesen Sie.« Dies alles ging im Hof +vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend mit ausgestreckten +Armen wie ein Gekreuzigter an der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des +Obersten ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. »Siehst du +genug, Jud?« fragte ein Oberleutnant, der ziemlich betrunken war. Der +Gefragte sah sich flüchtig um und sagte ernst: »Mein Künstlername ist +Marco Polo.« Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter und +sagte: »Mein Freund Marco Polo hat scharfe Augen.« – »Nun, was sehen +Sie?« fragte der Oberst höflicher. »Muß ich reden?« fragte Marco Polo. +»Wir können Sie nicht zwingen,« sagte der Prinz. »Reden Sie!« rief der +Oberst. »Ich möcht lieber nicht reden,« erwiderte Marco Polo. Der Oberst +lachte laut. »Nur heraus, es wird nicht so arg sein. Und wenn es arg +ist, muß es auch noch nicht wahr sein.« – »Es ist sehr arg,« sagte der +Zauberer, »und wahr ist es auch.« Alle schwiegen. »Nun?« fragte der +Oberst. »Von Kälte werden Sie nichts mehr zu leiden haben,« erwiderte +Marco Polo. »Wie?« rief der Oberst aus, »kommt unser Regiment also +endlich nach Riva?« – »Vom Regiment les’ ich nichts, Herr Oberst. Ich +seh nur, daß sie im Herbst sein werden ein toter Mann.« Der Oberst +lachte, aber alle anderen schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war, +als ob der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden wäre. Plötzlich +lachte irgendeiner absichtlich sehr laut, andere taten ihm nach, und +lärmend und lustig ging es zurück ins Kasino. »Nun,« rief der Oberst, +»mit mir wär’s in Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?« +Einer rief wie zum Scherz: »Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.« Ein +anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal +vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte, +und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo +auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren +Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: »Wo fängt das +Wunder an?« Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum +Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte. +»Prophezeien Sie mir.« Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann +sagte er: »Hier sieht man schlecht.« Ich merkte, daß die Öllampen zu +flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern +schienen. »Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber +bei Mondschein.« Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die +offene Tür ins Freie. + +Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. »Hören Sie, Marco Polo,« +sagte ich, »wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an +unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir’s lieber.« Ohne +weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. »Der Herr +Leutnant haben Angst.« Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört +hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und +befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. »Ich wünsche +etwas Bestimmteres zu wissen,« sagte ich, »das ist es. Worte lassen sich +immer in verschiedener Weise auslegen.« Marco Polo sah mich an. »Was +wünschen der Herr Leutnant?... Vielleicht das Bild von der künftigen +Frau Gemahlin?« – »Könnten Sie das?« Marco Polo zuckte die Achseln. »Es +könnte sein ... es wär möglich ...« – »Aber das will ich nicht,« +unterbrach ich ihn. »Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel +in zehn Jahren, mit mir los sein wird.« Marco Polo schüttelte den Kopf. +»Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.« – +»Was?« – »Irgendeinen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen +Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.« Ich verstand ihn nicht +gleich. »Wie meinen Sie das?« – »So mein ich das: ich kann einen Moment +aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die +Gegend, wo wir gerade stehen.« – »Wie?« – »Der Herr Leutnant müssen mir +nur sagen, was für einen.« Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war +höchst gespannt. »Gut,« sagte ich, »wenn Sie das können, so will ich +sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen +wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?« – »Gewiß, Herr Leutnant,« +sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber +auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen +sehen – fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und +mondbeglänzt gelegen waren – und ich sah mich selbst, wie man sich +manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit +einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre +hingestreckt, mitten auf einer Wiese – an meiner Seite kniend eine +schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und +ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute +mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen – nicht wahr, Sie staunen?« + +Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier schilderte, war genau +das Bild, mit welchem mein Stück heute abend um zehn Uhr schließen und +in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr +Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu +nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.« + +Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes +Kuwert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las +laut: »Notariell verschlossen am 14. Januar 1859, zu eröffnen am 9. +September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich +wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien. + +»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn +Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das +sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu +Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten +die Erfüllungsmöglichkeiten für jene Prophezeiung in der seltsamsten +Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit zu werden, +verschwanden in nichts, wurden zu unerbittlicher Gewißheit, +verflatterten, kamen wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem +Berichte zurückkommen. Die Erscheinung selbst hatte gewiß nicht länger +gedauert als einen Augenblick; denn noch klang von der Kaserne her das +gleiche laute Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich gehört +hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. Und nun stand auch Marco +Polo wieder vor mir, mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht +sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, nahm den +Zylinder ab, sagte: »Guten Abend, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie sind +zufrieden gewesen,« wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße +vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens am nächsten Tage +abgereist. + +Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder zuging, war, daß es sich +um eine Geistererscheinung gehandelt haben mußte, die Marco Polo, +vielleicht von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittels +irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande gewesen war. Als ich +durch den Hof kam, sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer +in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer lehnen. Man hatte seiner +offenbar vollkommen vergessen. Die anderen hörte ich drin in der +höchsten Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten beim Arm, +er wachte sofort auf, war nicht im geringsten verwundert und konnte sich +nur die Erregung nicht erklären, in welcher sich alle Herren des +Regiments befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer Art von +Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, die sich über die +Seltsamkeiten, deren Zeugen wir gewesen, entwickelt hatte, und redete +wohl nicht klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: »Nun, +meine Herren, ich wette, daß ich noch das nächste Frühjahr erlebe! +Fünfundvierzig zu eins!« Und er wandte sich zu einem unserer Herren, +einem Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler und Wetter +genoß. »Nichts zu machen?« Obzwar es klar war, daß der Angeredete der +Versuchung schwer widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden, +eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem selbst abzuschließen, +und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich hat er es bedauert. Denn +schon nach vierzehn Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver, +stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb auf der Stelle tot. Und bei +dieser Gelegenheit merkten wir alle, daß wir es gar nicht anders +erwartet hatten. Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen +Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, von der ich in einer +sonderbaren Scheu niemandem Mitteilung gemacht hatte. Erst zu +Weihnachten, anläßlich einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich mich +einem Kameraden, einem gewissen Friedrich von Gulant – Sie haben +vielleicht von ihm gehört, er hat hübsche Verse gemacht und ist sehr +jung gestorben ... Nun, der war es, der mit mir zusammen das Schema +entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen finden werden. Er war +nämlich der Ansicht, daß solche Vorfälle für die Wissenschaft nicht +verloren gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen als +wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm bin ich bei Doktor Artiner +gewesen, vor dessen Augen das Schema in diesem Kuwert verschlossen +wurde. In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, und gestern +erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir zugestellt worden. Ich will es +gestehen: der Ernst, mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich +anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht mehr sah und +besonders, als er kurz darauf starb, fing die ganze Geschichte an, mir +sehr lächerlich vorzukommen. Vor allem war es mir klar, daß ich mein +Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in der Welt konnte mich +dazu zwingen, am 9. September 1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen +Vollbart auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft konnte +ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine Frau mit roten Haaren zu +heiraten und Kinder zu bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht +ausweichen konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von dem mir die Narbe +auf der Stirn zurückbleiben konnte. Ich war also fürs erste beruhigt. – +Ein Jahr nach jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, meine +jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den Dienst und widmete mich +der Landwirtschaft. Ich besichtigte verschiedene kleinere Güter und – so +komisch es klingen mag – ich achtete darauf, daß sich womöglich +innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die dem Rasenplatz +jenes Traumes (wie ich den Inhalt jener Erscheinung bei mir zu nennen +liebte) gleichen könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen, +als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch eine Besitzung in +Kärnten mit einer schönen Jagd zufiel. Beim ersten Durchwandern des +neuen Gebietes gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald +begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art der Örtlichkeit +zu gleichen schien, vor der mich zu hüten ich vielleicht allen Anlaß +hatte. Ich erschrak ein wenig. Meiner Frau hatte ich von der +Prophezeiung nichts erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit +meinem Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen Tage« – er +lächelte wie befreit – »vergiftet hätte. So konnte ich ihr natürlich +auch meine Bedenken nicht mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit +der Überlegung, daß ich ja keineswegs den September 1868 auf meinem Gute +zubringen müßte. – Im Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in +seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen Zügen Ähnlichkeit mit +den Zügen des Knaben aus dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich +zu verwischen, bald wieder sprach sie sich deutlicher aus – und heute +darf ich mir ja selbst gestehen, daß der Knabe, der heute abends um zehn +an meiner Bahre stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar +gleicht. – Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete es sich vor drei +Jahren, daß die verwitwete Schwester meiner Frau, die bisher in Amerika +gelebt hatte, starb und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner +Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, um es bei uns im +Hause aufzunehmen. Als ich es zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu +merken, daß es dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. Der Gedanke +fuhr mir durch den Kopf, das Kind in dem fremden Lande bei fremden +Leuten zu lassen. Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich +wieder von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause auf. Wieder +beruhigte ich mich vollkommen, trotz der zunehmenden Ähnlichkeit der +Kinder mit den Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich bildete +mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter des Traumes mich doch +vielleicht trügen mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener +Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgehört, an jenen sonderbaren Abend in +dem polnischen Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine neue +Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise erschüttert wurde. Ich +hatte auf ein paar Monate verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir +meine Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit mit der Frau +des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht gesehen hatte, schien mir +vollständig. Ich fand es für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck +des Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer heftiger, denn +plötzlich kam mir ein an Wahnsinn grenzender Einfall: wenn ich mich von +meiner Frau und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr +schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren gehalten. Meine Frau +weinte, sank wie gebrochen zu Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte +mir den Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich einer Reise +nach München, war ich in der Kunstausstellung von dem Bildnis einer +rothaarigen Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau hatte schon +damals den Plan gefaßt, sich bei irgendeiner Gelegenheit diesem Bildnis +dadurch ähnlich zu machen, daß sie sich die Haare färben ließ. Ich +beschwor sie natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche dunkle +Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen war, schien alles wieder +gut zu sein. Sah ich nicht deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor +in meiner Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen, auf +natürliche Weise zu erklären?... Hatten nicht tausend andere Güter mit +Wiesen und Wald und Frau und Kinder?... Und das einzige, was vielleicht +Abergläubische schrecken durfte, stand noch aus – bis zum heurigen +Winter: die Narbe, die Sie nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich +bin nicht mutlos – erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das sage; ich habe +mich als Offizier zweimal geschlagen und unter recht gefährlichen +Bedingungen – auch vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als +ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im vorigen Jahre aus +irgendeinem lächerlichen Grund – wegen eines nicht ganz höflichen Grußes +– von einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es vorgezogen« – +Herr von Umprecht errötete leicht – »mich zu entschuldigen. Die Sache +wurde natürlich in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch +ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen hätte, wäre nicht +plötzlich eine wahnwitzige Angst über mich gekommen, daß mein Gegner mir +eine Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal damit einen neuen +Trumpf in die Hand spielen könnte ... Aber Sie sehen, es half mir +nichts: die Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier verwundet +wurde, war vielleicht derjenige innerhalb der ganzen zehn Jahre, der +mich am tiefsten zum Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war +heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder drei anderen +Personen, die mir vollkommen unbekannt waren, in der Eisenbahn zwischen +Klagenfurt und Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich +fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, daß etwas Hartes zu +Boden fällt; ich greife zuerst nach der schmerzenden Stelle – sie +blutet; dann bücke ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom +Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. »Ist was geschehen?« +ruft einer. Man merkt, daß ich blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr +aber – ich seh es ganz deutlich – ist in die Ecke wie zurückgesunken. In +der nächsten Haltestelle bringt man Wasser, der Bahnarzt legt mir einen +notdürftigen Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich an +der Wunde sterben könnte: ich weiß ja, daß es eine Narbe werden muß. Ein +Gespräch im Waggon hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat +beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen Bubenstreich handle; der +Herr in der Ecke schweigt und starrt vor sich hin. In Villach steige ich +aus. Plötzlich ist der Mann an meiner Seite und sagt: »Es galt mir.« Eh +ich antworten, ja nur mich besinnen kann, ist er verschwunden; ich habe +nie erfahren können, wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht +... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt glaubte von +einem beleidigten Gatten oder Bruder, und den ich möglicherweise +gerettet habe, da eben mir die Narbe bestimmt war ... wer kann es +wissen?... Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn an +derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume gesehen hatte. Und mir ward +es immer klarer, daß ich mit irgendeiner unbekannten höhnischen Macht in +einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich sah dem Tag, wo das letzte +in Erfüllung gehen sollte, mit wachsender Unruhe entgegen. + +Im Frühling erhielten wir die Einladung meines Onkels. Ich war fest +entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn ohne daß mir ein deutliches Bild +in Erinnerung gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß gerade auf +seinem Gut hier die verruchte Stelle zu finden wäre. Meine Frau hätte +aber eine Ablehnung nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch, +mit ihr und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in der bestimmten +Absicht, sobald als möglich das Schloß wieder zu verlassen und weiter in +den Süden, nach Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der ersten +Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch auf Ihr Stück, mein Onkel +sprach von den kleinen Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat +mich, meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Es +war damals bestimmt, daß der Held von einem Berufsschauspieler +dargestellt werden sollte. Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß +ich gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. So erklärte +ich denn eines Abends, daß ich am nächsten Tage das Schloß auf einige +Zeit zu verlassen und Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte +versprechen, Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben Abend kam +ein Brief des Schauspielers, der aus irgendwelchen gleichgültigen +Gründen dem Freiherrn seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr +ärgerlich. Er bat mich, das Stück zu lesen – vielleicht könnte ich ihm +unter unseren Bekannten einen nennen, der geeignet wäre, die Rolle +darzustellen. So nahm ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es. +Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir vorging, als ich zu dem +Schlusse kam und hier Wort für Wort die Situation aufgezeichnet fand, +die mir für den 9. September dieses Jahres prophezeit worden war. Ich +konnte den Morgen nicht erwarten, um meinem Onkel zu sagen, daß ich die +Rolle spielen wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen könnte; +denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir vor wie in sicherer Hut, +und wenn mir die Möglichkeit entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war +ich wieder jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel war gleich +einverstanden, und von nun an nahm alles seinen einfachen und guten +Gang. Wir probieren seit einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die +Situation, die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal +durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge Komtesse Saima mit +ihren schönen roten Haaren, die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir, +und die Kinder stehen an meiner Seite.« + +Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, fielen meine Augen wieder +auf das Kuwert, das noch immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von +Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich Ihnen noch schuldig,« +sagte er und öffnete die Siegel. Ein zusammengefaltetes Papier lag +zutage. Umprecht entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor +mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener Situationsplan +zu der Schlußszene des Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch +aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« versehen; ein Strich mit +einer männlichen Figur war etwa in der Mitte des Planes eingetragen, +darüber stand: »Bahre« ... Bei den anderen schematischen Figuren stand +in kleinen Buchstaben mit roter Tinte zugeschrieben: »Frau mit rotem +Haar«, »Knabe«, »Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen Händen«. +Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: »Was bedeutet das: ›Mann mit +erhobenen Händen?‹« + +»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, »hätt ich nun beinahe +vergessen. Mit dieser Figur verhält es sich folgendermaßen: In jener +Erscheinung gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, einen +alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer Brille, einen +dunkelgrünen Schal um den Hals, mit erhobenen Händen und weit +aufgerissenen Augen.« + +Diesmal stutzte ich. + +Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam beunruhigt: »Was +vermuten Sie eigentlich? Wer sollte das sein?« + +»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß irgendeiner von den +Zuschauern, vielleicht aus der Dienerschaft des Onkels ... oder einer +von den Bauern am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten und +auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber will es das +Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener durch einen jener +Zufälle, die mich wirklich nicht mehr überraschen, gerade in dem +Augenblick, wo ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.« + +Ich schüttelte den Kopf. + +»Wie sagten Sie?... Kahl – Brille – ein grüner Schal?... – Nun +erscheint mir die Sache noch seltsamer als früher. Die Gestalt des +Mannes, den Sie damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem Stück +beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. Es war der +wahnsinnige Vater der Frau, von dem im ersten Akt die Rede ist, und der +zum Schluß auf die Szene stürmen sollte.« + +»Aber Schal und Brille?« + +»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem getan – glauben Sie nicht?« + +»Es ist möglich.« + +Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht ließ ihren Gatten zu sich +bitten, da sie ihn gerne vor der Vorstellung sprechen möchte, und er +empfahl sich. Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam den +Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem Tisch hatte liegen lassen. + + +3 + +Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die Vorstellung stattfinden +sollte. Er lag hinter dem Schlößchen, durch eine anmutige Gartenanlage +davon geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken abschloß, waren +etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem Holz aufgestellt; die vorderen +Reihen waren mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten +standen einige Notenpulte und Stühle; einen Vorhang gab es nicht. Die +Trennung der Bühne von dem Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende +hohe Tannenbäume angedeutet; rechts schloß sich wildes Gesträuch an, +hinter dem ein bequemer Lehnstuhl, dem Zuschauer unsichtbar, für den +Souffleur bestimmt, stand. Zur Linken lag der Platz frei und ließ den +Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war von hohen Bäumen +gebildet; sie standen dicht aneinandergedrängt nur in der Mitte, und +links schlichen schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin im +Wald, innerhalb einer kleinen künstlichen Lichtung, waren Tisch und +Stühle aufgestellt, wo die Schauspieler ihrer Stichworte harren mochten. +Für die Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der Bühne und des +Zuschauerraumes kulissenartig hohe alte Kirchenleuchter mit riesigen +Kerzen aufgerichtet hatte. Hinter dem Gesträuch zur Rechten war eine Art +Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst anderem kleinern Gerät, das +im Stück notwendig war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht am +Schlusse des Stückes sterben sollte. – Als ich jetzt über die Wiese +schritt, war sie von der Abendsonne mild überglänzt ... Ich hatte +natürlich über die Erzählung des Herrn von Umprecht nachgedacht. Nicht +für unmöglich hielt ich es anfangs, daß Herr von Umprecht zu der Art von +phantastischen Lügnern gehörte, die eine Mystifikation unter +Schwierigkeiten von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu +machen. Ich hielt es selbst für denkbar, daß die Unterschrift des Notars +gefälscht war und daß Herr von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um +die Sache folgerecht durchzuführen. Besondere Bedenken stiegen mir über +den vorläufig unbekannten Mann mit den erhobenen Händen auf, mit dem +sich Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben konnte. Aber meinen +Zweifeln widersprach vor allem die Rolle, die dieser Mann in meinem +ersten Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte – und besonders +der günstige Eindruck, den ich von der Person des Herrn von Umprecht +gewonnen hatte. Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer +Bericht mir erschien – irgend etwas in mir verlangte sogar danach, ihm +glauben zu dürfen; es mochte die törichte Eitelkeit sein, mich als +Vollstrecker eines über uns waltenden Willens zu empfinden. – Indes +hatte einige Bewegung in meiner Nähe angehoben; Diener kamen aus dem +Schloß, Kerzen wurden angezündet, Leute aus der Umgebung, manche auch in +bäurischer Kleidung, stiegen langsam den Hügel herauf und stellten sich +bescheiden zu seiten der Bänke auf. Bald erschien die Frau des Hauses +mit einigen Herren und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte +mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom vorigen Jahr. Die +Mitglieder des Orchesters waren erschienen und begaben sich auf ihre +Plätze; die Zusammenstellung war ungewöhnlich genug; es waren zwei +Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontrabaß, eine Flöte und eine +Oboe. Sie begannen sofort, offenbar verfrüht, eine Ouvertüre von Weber +zu spielen. Ganz vorne, in der Nähe des Orchesters, stand ein alter +Bauer, der glatzköpfig war und eine Art von dunklem Tuch um den Hals +geschlungen hatte. Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht +ich, später eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu werden und auf die +Szene zu laufen. Das Tageslicht war völlig dahin, die hohen Kerzen +flackerten ein wenig, da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter +dem Gesträuch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen waren die +Mitwirkenden in die Nähe der Bühne gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder +an die anderen, die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, daß ich +noch niemanden außer Herrn von Umprecht, seinen Kindern und der +Försterstochter gesehen hatte. Nun hörte ich die laute Stimme des +Regisseurs und das Lachen der jungen Komtessa Saima. Die Bänke waren +alle besetzt, der Freiherr saß in einer der vordersten Reihen und sprach +mit der Gräfin Saima. Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die +Försterstochter vor und sprach den Prolog, der das Stück einleitete. Den +Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal eines Mannes, der, ergriffen von +einer plötzlichen Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen ohne +Abschied verläßt und im Verlaufe eines Tages so viel Schmerzliches und +Widriges erlebt, daß er wieder zurückzukehren gedenkt, ehe Frau und +Kinder ihn vermißt haben; aber ein letztes Abenteuer auf dem Rückweg, +nahe der Tür seines Hauses, hat seine Ermordung zur Folge, und nur mehr +sterbend kann er die Verlassenen begrüßen, die seiner Flucht und seinem +Tod als den unlösbarsten Rätseln gegenüberstehen. + +Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen sprachen ihre Rollen +angenehm; ich erfreute mich an der einfachen Darstellung der einfachen +Vorgänge und dachte im Anfang nicht mehr an die Erzählung des Herrn von +Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte das Orchester wieder, aber +niemand hörte darauf, so lebhaft war das Geplauder auf den Bänken. Ich +selbst saß nicht, sondern stand, ungesehen von den anderen, der Bühne +ziemlich nahe, auf der linken Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu +senkte. Der zweite Akt begann; der Wind war etwas stärker geworden, und +die flackernde Beleuchtung trug zu der Wirkung des Stückes nicht wenig +bei. Wieder verschwanden die Darsteller im Wald, und das Orchester +setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zufällig auf den Flötisten, der eine +Brille trug und glatt rasiert war; aber er hatte lange weiße Haare, und +von einem Schal war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schloß, die +Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte ich, daß der +Flötenspieler, der sein Instrument vor sich hin auf das Pult gelegt +hatte, in seine Tasche griff, einen großen grünen Schal hervorzog und +ihn um den Hals wickelte. Ich war im allerhöchsten Grade befremdet. In +der nächsten Sekunde trat Herr von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick +plötzlich auf dem Flötisten haften blieb, wie er den grünen Schal +bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte er sich wieder +gefaßt und sprach seine Rolle unbeirrt weiter. Ich fragte einen jungen, +einfach gekleideten Burschen neben mir, ob er den Flötisten kenne, und +erfuhr von ihm, daß jener ein Schullehrer aus Kaltern war. Das Spiel +ging weiter, der Schluß nahte heran. Die zwei Kinder irrten, wie es +vorgeschrieben war, über die Bühne, Lärm im Walde drang näher und näher, +man hörte schreien und rufen; es machte sich nicht übel, daß der Wind +stärker wurde und die Zweige sich bewegten; endlich trug man Herrn von +Umprecht als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein. Die beiden +Kinder stürzten herbei, die Fackelträger standen regungslos zur Seite. +Die Frau trat später auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem +Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder; dieser will die +Lippen noch einmal öffnen, versucht, sich zu erheben, aber – wie es in +der Rolle vorgeschrieben – es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt mit einem +Mal ein ungeheurer Windstoß, daß die Fackeln zu verlöschen drohen; ich +sehe, wie einer im Orchester aufspringt – es ist der Flötenspieler – zu +meinem Erstaunen ist er kahl, seine Perücke ist ihm davongeflogen; mit +erhobenen Händen, den grünen flatternden Schal um den Hals, stürzt er +der Bühne zu. Unwillkürlich richte ich mein Auge auf Umprecht; seine +Blicke sind starr, wie verzückt auf den Mann gerichtet; er will etwas +reden – er vermag es offenbar nicht – er sinkt zurück ... Noch meinen +viele, daß dies alles zum Stücke gehöre; ich selbst bin nicht sicher, +wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist; indes ist der Mann an der +Bahre vorüber, immer noch seiner Perücke nach, und verschwindet im Wald. +Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windstoß läßt eine der beiden +Fackeln verlöschen; einige Menschen ganz vorne werden unruhig – ich höre +die Stimme des Freiherrn: »Ruhe! Ruhe!« – es wird wieder stille – auch +der Wind regt sich nicht mehr ... aber Umprecht bleibt ausgestreckt +liegen, rührt sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse Saima +schreit auf – natürlich glauben die Leute, auch dies sei im Stück so +vorgeschrieben. Ich aber dränge mich durch die Menschen, stürze auf die +Bühne, höre, wie es hinter mir unruhig wird – die Leute erheben sich, +andere folgen mir, die Bahre ist umringt ... »Was gibt’s, was ist +geschehen?« ... Ich reiße einem Fackelträger seine Fackel aus der Hand, +beleuchte das Antlitz des Liegenden ... Ich rüttle ihn, reiße ihm das +Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite gelangt, er fühlt nach dem +Herzen Umprechts, er greift seinen Puls, er wünscht, daß alles zur Seite +trete, er flüstert dem Freiherrn ein paar Worte zu ... die Frau des +Aufgebahrten hat sich hinaufgedrängt, sie schreit auf, wirft sich über +ihren Mann, die Kinder stehen wie vernichtet da und können es nicht +fassen ... Niemand will es glauben, was geschehen, und doch teilt es +einer dem andern mit; – und eine Minute später weiß man es rings in der +Runde, daß Herr von Umprecht auf der Bahre, auf der man ihn +hineingetragen, plötzlich gestorben ist ... + +Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal hinuntergeeilt, von +Entsetzen geschüttelt. In einem sonderbaren Grauen habe ich mich nicht +entschließen können, das Schloß wieder zu betreten. Den Freiherrn sprach +ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte ich ihm die Geschichte +Umprechts, wie sie mir von ihm selbst mitgeteilt worden war. Der +Freiherr wollte sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und +zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich befremdet, ja angstvoll +an und gab mir das Blatt zurück – es war weiß, unbeschrieben, +unbezeichnet ... + +Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden; aber das einzige, was +ich von ihm erfahren konnte, war, daß er vor drei Jahren zum letztenmal +in einem Hamburger Vergnügungsetablissement niederen Ranges aufgetreten +ist. + +Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das unbegreiflichste bleibt, +ist der Umstand, daß der Schullehrer, der damals seiner Perücke mit +erhobenen Händen nachlief und im Walde verschwand, niemals +wiedergesehen, ja daß nicht einmal sein Leichnam aufgefunden wurde. + + * * * * * + + +Nachwort des Herausgebers + +Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe ich persönlich nicht +gekannt. Er war zu seiner Zeit ein ziemlich bekannter Schriftsteller, +aber so gut wie verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa +zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachlaß ging, ohne besondere +Bestimmung, an den in diesen Blättern genannten Meraner Jugendfreund +über. Von diesem wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anläßlich eines +Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen über allerlei dunkle +Fragen, insbesondere über Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und +Weissagekunst unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte +Manuskript zur Veröffentlichung übergeben. Gern möchte ich dessen Inhalt +für eine frei erfundene Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch +aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten +Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Ausgang beigewohnt und den in so +rätselhafter Weise verschwundenen Schullehrer persönlich gekannt hätte. +Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so erinnere ich mich noch sehr +wohl, als ganz junger Mensch in einer Sommerfrische am Wörther See +seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu haben; er blieb mir im +Gedächtnis, weil ich gerade zu dieser Zeit im Begriffe war, die +Reisebeschreibung des berühmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen. + + + + +Das neue Lied + + +»Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das +kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an +sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach, +neben ihm einherging – ja er spürte sogar den Weindunst, in den diese +Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich, +sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet +von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach +Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause +gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße +weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die +drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem +anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts +von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der +Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild +vor Augen, dem er entflohen war. + +Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn +der von ihm?... warum verteidigte er sich?... und warum gerade vor +ihm?... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten +Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld +trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie +schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig, +ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem +Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern +abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke +geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino +gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft +Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine +Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die +Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und roten +Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes +Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße +Amsel‹, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.« + +Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der +Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße. +Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde, +ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß +heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in +die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen +versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das +alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn, +und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch +immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen +hatten. Die Geschichte mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz +recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal +milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den +Familien von meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab ich doch +immer zuviel auf mich gehalten.« + +Hätte er auf den Vater gehört – dachte Karl jetzt – so wäre ihm +mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt. +Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen, +und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für +eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei +ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die +Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam +der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim +Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet: +Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal +Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek, +demselben, der abends im Klownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern +Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld +ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so +regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit +Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die +abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit +der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl +herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und +schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder war in einem großen Geschäft +angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich +sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen +von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich +empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich +anderweitig versagt bin ...« – Freilich, am liebsten war Karl mit Marie +allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg +gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen, +der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn +sie kamen geradeswegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen +mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun +legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und +schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie +auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den +ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung +brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen gab es +manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu +denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor +hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine +Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte +vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich +erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden +zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe: +»Also heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber +bitt schön, daß Sie sich nicht verraten.« – »Warum soll denn ich mich +verraten?« fragte Karl, »was ist denn g’schehn?« – »Ja, mit den Augen +ist leider keine Hilfe mehr.« – »Wieso denn?« – »Sie sieht halt nichts +mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben. +Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich +zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte +und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als +hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell +gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen +kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten +Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst +wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal +gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise +antreten mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam +weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb +er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach +seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön +grüßen. – Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er +nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch +von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen. +Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch +gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem +Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei +Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte. + +Da führte ihn gestern abends – er wollte Bekannte besuchen, die in der +Nähe wohnten – der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen +der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken +wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er +wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort +gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit schwarzen und roten Buchstaben +vor sich sah: »Erstes Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße +Amsel‹, nach ihrer Genesung,« da blieb er wie gelähmt stehen. Und in +diesem Augenblick stand der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden +gewachsen: den weißen Strubbelkopf unbedeckt, den schäbigen schwarzen +Zylinder in der Hand und mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er +begrüßte Karl: »Der Herr Breiteneder – nein, so was! Nicht wahr, +beehren uns heute wieder! Die Fräul’n Marie wird ja ganz weg sein vor +Freud, wenn sie hört, daß sich die frühern Freund’ doch noch um sie +umschaun. Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg’standen, Herr von +Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.« Er redete noch eine +ganze Menge, und Karl rührte sich nicht, obwohl er am liebsten weit +fortgewesen wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, und er +fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts sehe – ob sie nicht doch +wenigstens einen Schein habe. »Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was +fällt Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts sieht sie, gar +nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. »Alles kohlrabenschwarz +vor ihr ... Aber werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, hat +alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf – und eine Stimme hat +das Mädel, schöner als je!... Na, Sie werden ja sehn, Herr von +Breiteneder. – Und gut is sie – seelengut! Noch viel freundlicher, als +sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja – haha! – Ah, es kommen heut +mehrere, die sie kennen ... natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von +Breiteneder; denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen +G’schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! Ich hab eine +gekannt, die war blind und hat Zwillinge gekriegt – haha! – Schauen S’, +wer da is,« sagte er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an +der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen und bleich und sah ihn an, +ohne ein Wort zu sagen. Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wußte kaum, +was mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: »Nicht der Marie +sagen, um Gottes willen, Frau Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß +ich da bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!« + +»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und beschäftigte sich mit anderen +Leuten, die Billette verlangten. + +»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber nachher, das wird eine +Überraschung sein! Da kommen S’ doch mit? Großes Fest – hoho! Habe die +Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. Karl durchschritt +den gefüllten Saal, und im Garten, der sich ohne weiteres anschloß, +setzte er sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei alte +Leute Platz genommen hatten, eine Frau und ein Mann. Sie sprachen nichts +miteinander, betrachteten stumm den neuen Gast, und nickten einander +traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung begann, und Karl +hörte die altbekannten Sachen wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich +verändert, weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. Zuerst +spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte Ouvertüre, von der zu +Karl nur vereinzelte harte Akkorde drangen, dann trat als erste die +Ungarin Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, sang +ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf folgte ein +humoristischer Vortrag des Komikers Wiegel-Wagel; er trat im +zeisiggrünen Frack auf, teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen +wäre, und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren Abschluß seine +Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. Dann kam ein Duett zwischen +Herrn und Frau Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach ihnen, in +schmutziger weißer Klowntracht, folgte der närrische kleine Jedek, +zeigte zuerst seine Jongleurkünste, irrte mit riesigen Augen unter den +Leuten umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte er Teller in +Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem Holzstab einen Marsch darauf, +ordnete Gläser und spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine +wehmütige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke auf und lächelte selig. +Er trat ab, und Rebay hieb wieder auf die Tasten ein, in festlichen +Klängen. Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die Leute steckten +die Köpfe zusammen, und plötzlich stand Marie auf dem Podium. Der +Vater, der sie hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht; +und sie stand allein. Und Karl sah sie oben stehen, mit den erloschenen +Augen in dem süßen blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst +nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. Ohne es selbst zu +merken war er vom Sessel aufgesprungen, lehnte an der grünen Laterne und +hätte beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. – Und nun fing sie an +zu singen. Mit einer ganz fremden Stimme, leise, viel leiser als früher. +Es war ein Lied, das sie immer gesungen, und das Karl mindestens +fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm seltsam fremd, und +erst als der Refrain kam »Mich heißens’ die weiße Amsel, im G’schäft und +auch zu Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. Sie +sang alle drei Strophen, Rebay begleitete sie, und nach seiner +Gewohnheit blickte er öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war, +setzte Applaus ein, laut und donnernd. Marie lächelte und verbeugte +sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs Podium hinauf, Marie griff mit +den Armen in die Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der +Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied singen mußte, das +Karl auch schon an die fünfzigmal gehört hatte. Es fing an: »Heut geh +ich mit mein Schatz aufs Land ...,« und Marie warf den Kopf so vergnügt +in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und her, als wenn sie wirklich +mit ihrem Schatz aufs Land gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen +sehen und im Freien tanzen könnte, wie sie’s in dem Lied erzählte. Und +dann sang sie das dritte, das neue Lied. – + +»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, und Karl fuhr +zusammen. Es war heller Sonnenschein; weit erglänzte die Straße, ringsum +war es licht und lebendig. »Da könnt’ man sich hineinsetzen,« fuhr Rebay +fort, »auf ein Glas Wein; ich hab schon einen argen Durst – es wird ein +heißer Tag.« + +»Ob’s heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. Breiteneder wandte sich +um ... Wie, der war ihm auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von +ihm?... Es war der närrische Jedek; man hatte ihn nie anders geheißen, +aber es war zweifellos, daß er in der nächsten Zeit ernstlich und +vollkommen verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte er seine +lange blasse Frau am Leben bedroht, und es war rätselhaft, daß man ihn +frei herumlaufen ließ. Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit +neben Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten aufgerissene, +unerklärlich lustige Augen ins Weite, auf dem Kopf saß ihm das +stadtbekannte, graue weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der +Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, den andern plötzlich +voraus, war er in das kleine Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf +einer Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, Platz genommen, +schlug mit dem Spazierstock heftig auf den grüngestrichnen Tisch und +rief nach dem Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des grünen +Holzgitters zog die weiße Straße weiter nach oben, an kleinen, traurigen +Villen vorbei, und verlor sich in den Wald. + +Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den Zylinder auf den Tisch, fuhr +sich durch das weiße Haar, rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner +Gewohnheit die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, und beugte +sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin doch nicht auf’n Kopf +g’fallen, Herr von Breiteneder! Ich weiß doch, was ich tu!... Warum soll +denn ich schuld sein?... Wissen S’, für wen ich Couplets geschrieben hab +in meinen jüngeren Jahren?... Für’n Matras! Das ist keine Kleinigkeit! +Und haben Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und viele sind in +andere Stück’ eingelegt worden!« + +»Lassen S’ das Glas stehn,« sagte Jedek und kicherte in sich hinein. + +»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay fort und schob das Glas +wieder von sich. »Sie kennen mich doch, und Sie wissen, daß ich ein +anständiger Mensch bin! Auch gibt’s in meinen Couplets niemals eine +Unanständigkeit, niemals eine Zote!... Und das Couplet, wegen dem der +alte Ladenbauer damals is verurteilt worden, war von einem andern!... +Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder – das ist ein +Numero! Und wissen S’, wie lang ich bei der G’sellschaft Ladenbauer +bin?... Da hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die G’sellschaft +gegründet hat. Und die Marie kenn ich von ihrer Geburt an. +Neunundzwanzig Jahr bin ich bei die Ladenbauers – im nächsten März hab +ich Jubiläum ... Und ich hab meine Melodien nicht g’stohlen – sie sind +von mir, alles von mir! Und wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die +Werkeln g’spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...« + +Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen Augen. Jetzt hatte er +alle drei Gläser vor seinen Platz hingeschoben und begann mit seinen +Fingern leicht über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen +rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. Breiteneder hatte diese +Kunstfertigkeit immer sehr bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug +er die Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte man zu; einige +Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr patschte in die Hände. +Plötzlich schob Jedek alle drei Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und +starrte auf die weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen +aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte es vor den Augen, +und es war ihm, als wenn die Leute hinter Spinneweben tänzelten und +schwebten. Er rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich +kommen. Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück – +aber er hatte doch nicht schuld daran! Und plötzlich stand er auf, denn +als er an das Ende dachte, wollte es ihm die Brust zersprengen. »Gehen +wir,« sagte er. + +»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete Rebay. + +Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch wußte, warum. Er stellte +sich vor einen Tisch hin, an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit +seinem Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: »Da soll der +Teufel ein Glaserer werden – Himmelsackerment!« Die beiden friedlichen +Leute wurden verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen +lachten und hielten ihn für betrunken. + +Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen Straße, und Jedek, +wieder ganz ruhig geworden, kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues +Hütel ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock mit dem Hut +über die Schultern wie ein Gewehr, während er mit der anderen Hand +gewaltige grüßende Bewegungen zum Himmel empor vollführte. + +»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich entschuldigen will,« sagte +Rebay mit klappernden Zähnen. »Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus +nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann wird es mir +zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht selber mit ihr einstudiert?... +Bitte sehr, jawohl! Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im Zimmer +gesessen is, hab ich’s einstudiert mit ihr ... Und wissen S’, wie ich +auf die Idee kommen bin? Es ist ein Unglück, hab ich mir gedacht, aber +es ist doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, und ihr +schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab ich’s g’sagt, die ganz +verzweifelt war. Frau Ladenbauer, hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts +verloren – passen S’ nur auf! Und dann, heutzutage, wo es diese +Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit wieder lesen und +schreiben lernen ... Und dann hab ich einen gekannt – einen jungen +Menschen, der ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede Nacht +von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle möglichen Beleuchtungen +...« + +Breiteneder lachte auf. »Reden S’ im Ernst?« fragte er ihn. + +»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen Sie denn? Soll ich mich +umbringen, ich?... Warum denn? – Meiner Seel, ich hab Unglück genug +gehabt auf der Welt! – Oder meinen Sie, das ist ein Leben, Herr von +Breiteneder, wenn man einmal Theaterstück geschrieben hat, wie ich als +junger Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich so weit, daß +man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die +heisern Ludern begleiten muß, und ihnen die Couplets schreiben ... +Wissen S’, was ich für ein Couplet krieg’?... Sie möchten sich wundern, +Herr von Breiteneder!« + +»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, der jetzt ganz ernst +und manierlich, ja elegant neben ihnen herging. + +»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. Es war ihm plötzlich, +als verfolgten ihn die beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er +mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter: »Eine Existenz hab +ich dem Mädel gründen wollen!... Verstehen S’, eine neue Existenz!... +Grad mit dem neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es vielleicht nicht +schön?... Ist es nicht rührend?...« + +Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am Rockärmel zurück, erhob +den Zeigefinger der linken Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die +Lippen und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das Marie +Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute nachts gesungen hatte. Er +pfiff sie geradezu vollendet; denn auch das gehörte zu seinen +Kunstfertigkeiten. + +»Die Melodie hat’s nicht gemacht,« sagte Breiteneder. + +»Wieso?« schrie Rebay. – Sie gingen alle rasch, liefen beinahe, trotzdem +der Weg beträchtlich anstieg. »Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der +Text ist schuld, glauben S’?... Ja, um Gottes willen, steht denn in dem +Text was anderes, als was die Marie selbst gewußt hat?... Und in ihrem +Zimmer, wie ich’s ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges Mal +geweint. Sie hat g’sagt: »Das ist ein trauriges Lied, Herr Rebay, aber +schön ist’s!...« »Schön ist’s,« hat sie gesagt ... Ja freilich ist es +ein trauriges Lied, Herr von Breiteneder – es ist ja auch ein trauriges +Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich ihr doch kein lustiges Lied +schreiben?...« + +Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die Äste schimmerte die +Sonne; aus den Büschen tönte Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei +nebeneinander, so schnell, als wollte einer dem andern davonlaufen. +Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und die Leut – Kreuzdonnerwetter! – +haben sie nicht applaudiert wie verrückt?... Ich hab’s ja im voraus +gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg haben! – Und es hat ihr +auch eine Freud gemacht ... förmlich gelacht hat sie übers ganze +Gesicht, und die letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es ist +auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen ist, sind mir selber +die Tränen ins Aug gekommen – wissen S’ wegen der Anspielung auf das +andere Lied, das sie immer singt...« Und er sang, oder er sprach +vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß wie einen Orgelton: +»Wie wunderschön war es doch früher _auf der Welt_, – Wo die Sonn’ mir +hat g’schienen auf Wald und _auf Feld_, – Wo i Sonntag mit mein’ Schatz +spaziert bin aufs _Land_ – Und er hat mich aus Lieb nur geführt bei der +_Hand_. – Jetzt geht mir die Sonn’ nimmer auf und die _Stern’_, – Und +das Glück und die Liebe, die sind mir so _fern!_« + +»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab’s ja gehört!« + +»Ist’s vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und schwang den Zylinder. +»Es gibt nicht viele, die solche Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden +hat mir der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine Honorare, Herr +von Breiteneder. Dabei hab ich’s noch einstudiert mit ihr.« + +Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang sehr leise den Refrain: »O +Gott, wie bitter ist mir das geschehn – Daß ich nimmer soll den Frühling +sehn ...« + +»Also _warum_, frag ich!...« rief Rebay. »Warum?... Gleich nachher war +ich doch bei ihr drin ... Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit +einem glückseligen Lächeln dag’sessen, hat ihr Viertel Wein getrunken, +und ich hab ihr die Haar’ gestreichelt und hab ihr g’sagt: »Na, siehst +du, Marie, wie’s den Leuten g’fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut’ +aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird Aufsehen machen ... Und +singen tust du’s prachtvoll ...« Und so weiter, was man halt so red’t, +bei solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch hereingekommen und +hat ihr gratuliert. Und Blumen hat sie bekommen – von Ihnen waren s’ +nicht, Herr von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung ... +Also, warum soll da mein Couplet schuld sein? Das ist ja ein Blödsinn!« + +Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den Rebay bei den +Schultern. »Warum haben S’ ihr denn gesagt, daß ich da bin?... Warum +denn?... Hab ich Sie nicht gebeten, daß Sie’s ihr nicht sagen sollen?« + +»Lassen S’ mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt! Von der Alten wird sie’s +gehört haben!« + +»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte sich, »ich war so frei, +Herr von Breiteneder – ich war so frei. Weil ich g’wußt hab, Sie sein +da, hab ich ihr g’sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen +g’fragt hat, während sie krank war, hab ich ihr g’sagt: ›Der Herr +Breiteneder is da ... hinten bei der Latern is er g’standen,‹ hab ich +ihr g’sagt, ›und hat sich großartig unterhalten!‹« + +»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er mußte die +Augen fortwenden von dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet +hielt. Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der sie eben +vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah sich plötzlich wieder im +Garten sitzen, und die Stimme der alten Frau Ladenbauer klang ihm im +Ohr: »Die Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit uns mitkommen +möchten nach der Vorstellung?« Er erinnerte sich, wie ihm da mit einem +Male zumute geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die Marie +alles verziehen. Er trank seinen Wein aus und ließ sich einen besseren +geben. Er trank so viel, daß ihm das ganze Leben leichter vorkam. +Geradezu vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen zu, +klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung aus war, ging +er wohlgelaunt durch den Garten und den Saal ins Extrazimmer des +Wirtshauses, an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft nach der +Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige saßen schon da: der +Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner Frau, irgendein Herr mit einer Brille, +den Karl gar nicht kannte – alle begrüßten ihn und waren gar nicht +besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte er die Stimme der +Marie hinter sich: »Ich find schon hin, Mutter, ich kenn’ ja den Weg.« +Er wagte nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben ihm und +sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder – wie geht’s Ihnen denn?« Und in +diesem Augenblick erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu +irgendeinem jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber gewesen +war, später immer »Sie« und »Herr« gesagt hatte. Und dann aß sie ihr +Nachtmahl; man hatte ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze +Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich gar nichts +geändert. »Gut is’ gangen,« sagte der alte Ladenbauer. »Jetzt kommen +wieder bessere Zeiten.« Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der +Marie viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr Wiegel-Wagel +erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Wiedergenesenen!« Marie +hielt ihr Glas in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte +mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie ihre toten Augen in +die seinen versenken wollte, und als könnte sie tief in ihn +hineinschauen. Auch der Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und +offerierte Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, ein +junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, saß ihr gegenüber und +unterhielt sich lebhaft mit Herrn Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte +ihren gelben Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine Ecke, +wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal kamen Leute von einem +benachbarten Tisch herüber und gratulierten Marie; sie antwortete in +ihrer stillen Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste +verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber warum denn gar so +stumm?« Jetzt erst merkte er, daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne +den Mund aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, beteiligte sich +an der Unterhaltung; nur an Marie richtete er kein Wort. Rebay erzählte +von der schönen Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, trug +den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig Jahren verfertigt +hatte, und spielte die Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als +böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um eins brach man auf. +Frau Ladenbauer nahm den Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es +war ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes daran, daß um +Marie die Welt nun ganz finster war. Karl ging neben ihr. Die Mutter +fragte ihn harmlos nach allerlei: wie’s zu Hause ginge, wie er sich auf +der Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig von allerlei +Dingen, die er gesehen, insbesondere von den Theatern und +Singspielhallen, die er besucht hatte, und wunderte sich nur immer, wie +sicher Marie ihren Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig und +heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, einem alten, +rauchigen Lokal, das um diese Zeit schon ganz leer war; und der dicke +Freund der ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, im +Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah an Karl gerückt, geradeso +wie manchmal in früherer Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte. +Und plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte und +streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. Nun hätte er so gern +etwas zu ihr gesagt ... irgend was Liebes, Tröstendes – aber er konnte +nicht ... Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, als sähe +ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht ein Menschenblick, sondern +etwas Unheimliches, Fremdes, das er früher nicht gekannt – und es +erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben ihm säße ... Ihre +Hand bebte und entfernte sich sachte von der seinen, und sie sagte +leise: »Warum hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte +wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den anderen. Nach +einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: »Wo ist denn die Marie?« Es war +die Frau Ladenbauer. Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden war. »Wo +ist denn die Marie?« riefen andere. Einige standen auf, der alte +Ladenbauer stand an der Tür des Kaffeehauses und rief auf die Straße +hinaus: »Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. Einer +sagte: »Aber wie kann man denn so ein Geschöpf überhaupt allein +aufstehen und fortgehen lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof des +Hauses herein: »Bringt’s Kerzen!... Bringt’s Laternen!« Und eine schrie: +»Jesus Maria!« Das war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer. +Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den Hof. Die +Dämmerung kam schon über die Dächer geschlichen. Um den Hof des +einstöckigen alten Hauses lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte +ein Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand, +und schaute herunter. Zwei Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm, +ein anderer Mann rannte über die knarrende Stiege herunter. Das war es, +was Karl zuerst sah. Dann sah er irgend etwas vor seinen Augen +schimmern, jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe und ließ +ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: »Es hilft ja nichts mehr +... sie rührt sich nimmer ... Holt’s doch einen Doktor!... Was ist denn +mit der Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...« Alle +flüsterten durcheinander, einige eilten auf die Straße hinaus, der einen +Gestalt folgte Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange Frau +Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide Hände verzweifelt an die +Stirn, lief davon und kam nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute. +Er mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um nicht über die Frau +Ladenbauer zu stürzen, die auf der Erde kniete, Mariens beide Hände in +ihrer Hand hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So red +doch!... so red doch!...« Jetzt kam endlich einer mit einer Laterne, der +Hausbesorger, in einem braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er +leuchtete der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber so ein +Malheur! Und grad da am Brunnen muß sie mit’m Kopf aufg’fallen sein.« +Und nun sah Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung des Brunnens +ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich der Mann in Hemdärmeln auf dem +Gange: »Ich hab was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« Und +alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte nur immer: »Es sind noch +keine fünf Minuten, da hab ich’s poltern gehört ...« – »Wie hat sie denn +nur heraufg’funden?« flüsterte jemand hinter Karl. »Aber bitt’ Sie,« +erwiderte ein anderer, »das Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich +durch die Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die Holzstiegen, +und dann über die Brüstung hinunter – is ja net so schwer!« So flüsterte +es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es +sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht +um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie +in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung +des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?« +Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht +der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie +die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen +toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß +es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot +und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und +er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da, +lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie +einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer +lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das +zusammengefaltete weiße Spitzentuch gebettet; Karl blieb regungslos +stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, +daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts +bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über +die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster +hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ... + +Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß +allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister +Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie +alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig +miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden, +der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont +ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet, +aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft, +und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt. + + + + +Die griechische Tänzerin + + +Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube nicht daran, daß Frau +Mathilde Samodeski an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich +gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute zur ersehnten Ruhe +hinausträgt; ich habe keine Lust, den Mann zu sehen, der es ebensogut +weiß als ich, warum sie gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu +schweigen. + +Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings etwas weit, aber der +Herbsttag ist schön und still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald +werde ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich im vergangenen +Frühjahr Mathilde zum letztenmal gesehen habe. Die Fensterladen der +Villa werden alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche +Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich wohl den weißen +Marmor durch die Bäume schimmern sehen, aus dem die griechische Tänzerin +gemeißelt ist. + +An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es kommt mir fast wie eine +Fügung vor, daß ich mich damals noch im letzten Augenblick entschlossen +hatte, die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da ich doch im Laufe +der Jahre die Freude an allem geselligen Treiben so ganz verloren habe. +Vielleicht war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln in die +Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. Überdies sollte es ja +ein Gartenfest sein, mit dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen +wollten, und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu fürchten. +Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren kaum an die Möglichkeit +dachte, Frau Mathilde draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch +bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische Tänzerin von Samodeski +für seine Villa gekauft hatte; – und daß Frau von Wartenheimer in den +Bildhauer verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wußt’ ich nicht +minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich wohl an Mathilde denken +können, denn zur Zeit, da sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne +Stunde mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer am Genfer See +vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor ihrer Verlobung, den ich nicht so +leicht vergessen werde. Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz +meiner grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn als sie im Jahre +darauf Samodeskis Gattin wurde, empfand ich einige Enttäuschung und war +vollkommen überzeugt – oder hoffte sogar –, daß sie mit ihm nicht +glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das Gregor Samodeski kurz +nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise in seinem Atelier in der +Gußhausgasse gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen +oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe ich Mathilde +wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte sie mich; ihr ganzes Wesen +machte den Eindruck der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während sie im +Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal ein seltsamer Blick aus +ihren Augen, und nach einiger Bemühung habe ich deutlich verstanden, was +er zu bedeuten hatte. Er sagte: ›Lieber Freund, Sie glauben, daß er mich +um des Geldes willen geheiratet hat; Sie glauben, daß er mich nicht +liebt; Sie glauben, daß ich nicht glücklich bin – aber Sie irren sich +... Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie gut gelaunt ich +bin, wie meine Augen leuchten.‹ + +Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, aber immer nur ganz +flüchtig. Einmal auf einer Reise kreuzten sich unsere Züge; ich speiste +mit ihr und ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er erzählte +allerhand Witze, die mich nicht sonderlich amüsierten. Auch im Theater +sprach ich sie einmal, sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich +noch immer schöner ist als sie ... der Teufel weiß, wo Herr Samodeski +damals gewesen ist. Und im letzten Winter hab ich sie im Prater +gesehen; an einem klaren, kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl +unter den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen fuhr langsam nach. +Ich befand mich auf der anderen Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal +hinüber. Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen Dingen +beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde schließlich nicht mehr +besonders. So würde ich mir heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken +über sie und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht jenes letzte +Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden hätte. Dieses Abends +erinnere ich mich heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen +Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See. Es war schon +ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. Die Gäste gingen in den Alleen +spazieren, ich begrüßte den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher +tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, die in einem Boskett +versteckt war. Bald kam ich zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von +hohen Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen Postament, so +daß sie über dem Wasser zu schweben schien, leuchtete die griechische +Tänzerin; durch elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens etwas +theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des Aufsehens, das sie im +Jahre vorher in der Sezession erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf +mich machte sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend +zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare Empfindung habe, daß +eigentlich nicht er es ist, der die schönen Sachen macht, die ihm +zuweilen gelingen, sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas +Unbegreifliches, Glühendes, Dämonisches meinethalben, das ganz bestimmt +erlöschen wird, wenn er einmal aufhören wird, jung und geliebt zu sein. +Ich glaube, es gibt mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand +erfüllt mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung. + +In der Nähe des Teiches begegnete ich Mathilden. Sie schritt am Arm +eines jungen Mannes, der aussah wie ein Korpsstudent und sich mir als +Verwandter des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr vergnügt +plaudernd im Garten hin und her, in dem jetzt überall Lichter +aufgeflackert waren. Die Frau des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen. +Wir blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen Verwunderung +sagte ich dem Bildhauer einige höchst anerkennende Worte über die +griechische Tänzerin. Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar +lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie das an solchen +Frühlingsabenden manchmal vorkommt: Leute, die einander sonst +gleichgültig sind, begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine +gewisse Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen +angeregt. Als ich beispielsweise eine Weile später auf einer Bank saß +und eine Zigarette rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur +oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu preisen begann, die +von ihrem Reichtum einen so vornehmen Gebrauch machen wie unser +Gastgeber. Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich Herrn von +Wartenheimer sonst für einen ganz einfältigen Snob halte. Dann teilte +ich wieder dem Herrn ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne +Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, Ansichten, die +für ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse gewesen wären; aber unter dem +Einflusse dieses verführerischen Frühlingsabends stimmte er mir +begeistert zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die das Fest +äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil die Lichter zwischen den +Blättern hervorglänzten und Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen +wir gerade neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung nicht +unsinnig. So sehr stand auch ich unter dem Banne der allgemeinen +Stimmung. + +Das Abendessen wurde an kleinen Tischen eingenommen, die, soweit es der +Platz erlaubte, auf der großen Terrasse, zum andern Teil im anstoßenden +Salon aufgestellt waren. Die drei großen Glastüren standen weit offen. +Ich saß an einem Tisch im Freien mit einer der Nichten; an meiner +anderen Seite hatte Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah +wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter und Reserveoffizier war. +Gegenüber von uns, aber schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau +des Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die ich nicht kannte. +Er warf seiner Gattin eine scherzhaft verwegene Kußhand zu; sie nickte +ihm zu und lächelte. Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich +genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen Augen und dem langen +schwarzen Spitzbarte, den er manchmal mit zwei Fingern der linken Hand +am Kinn zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in meinem Leben +einen Mann so sehr von Worten, Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht +gesehen habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, als ließe er +sich das eben nur gefallen. Aber bald sah ich an seiner Art, den Frauen +leise zuzuflüstern, an seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders +an der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die scheinbar +harmlose Unterhaltung von irgendeinem geheimen Feuer genährt wurde. +Natürlich mußte Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich; aber +sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit ihrem Nachbarn, bald mit +mir. Allmählich wandte sie sich zu mir allein, erkundigte sich nach +verschiedenen äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von meiner +vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann sprach sie von ihrer +Kleinen, die merkwürdigerweise schon heute Lieder von Schumann nach dem +Gehör singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch auf ihre alten +Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, von alten Kirchenstoffen, die sie +selbst im vorigen Jahr in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert +anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses Gespräches ging etwas +ganz anderes zwischen uns vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie +versuchte mich durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes zu +überzeugen – und ich wehrte mich dagegen, ihr zu glauben. Ich mußte +wieder an jenen japanisch-chinesischen Abend in Samodeskis Atelier +denken, wo sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte sie +wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete und daß sie irgend +etwas ganz Besonderes ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam +sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und verliebte +Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem Gatten gegenüber aufmerksam zu +machen und begann von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn sie +sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit und an seinem Genie +ohne jede Unruhe und jedes Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte. +Aber je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu scheinen, um so +tiefere Schatten flogen über ihre Stirne hin. Als sie einmal das Glas +erhob, um Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte sie +verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht nur ihre Hand, +sondern der Arm, ihre ganze Gestalt für einige Sekunden in eine solche +Starrheit, daß mir beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich +rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran war, ihr Spiel +endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, wie mit einem letzten +verzweifelten Versuch: »Ich wette, Sie halten mich für eifersüchtig.« +Und ehe ich Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: »Oh, +das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor selbst geglaubt.« Sie sprach +absichtlich ganz laut, man hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun +ja,« sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen solchen Mann +hat: schön und berühmt ... und selber den Ruf, nicht sonderlich hübsch +zu sein ... Oh, Sie brauchen mir nichts zu erwidern ... ich weiß ja, +daß ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden bin.« Sie hatte +möglicherweise recht, aber für ihren Gemahl – davon war ich völlig +überzeugt – hatte der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und +was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften Schlankheit +für ihn wahrscheinlich ihren einzigen Reiz verloren. Doch ich stimmte +ihr natürlich mit übertriebenen Worten bei; sie schien erfreut und fuhr +mit wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das geringste Talent zur +Eifersucht. Das habe ich selbst nicht gleich gewußt; ich bin erst +allmählich darauf gekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren +in Paris ... Sie wissen ja, daß wir dort waren?« + +Ich erinnerte mich. + +»Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire und des Ministers +Chocquet gemacht und mancherlei anderes. Wir haben dort so angenehm +gelebt wie junge Leute ... das heißt, jung sind wir ja noch beide ... +ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir auch gelegentlich in die große +Welt gingen ... Wir waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter, +die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen aber machten wir +uns nicht viel aus dem eleganten Leben. Wir wohnten sogar draußen auf +Montmartre, in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor auch +sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den jungen Künstlern, mit +denen wir dort verkehrten, hatten manche keine Ahnung, daß wir +verheiratet waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. Oft bin ich +in der Nacht mit ihm im Café Athenés gesessen, mit Léandre, Carabin und +vielen anderen. Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer +Gesellschaft, mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht verkehren +möchte ... obzwar schließlich – –« Sie warf einen hastigen Blick hinüber +auf Frau Wartenheimer und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war sehr +hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte von Henri Chabran dort, +die seit seinem Tode immer ganz in Schwarz ging und jede Woche einen +anderen Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle Trauer tragen +mußten, das verlangte sie ... Sonderbare Leute lernt man kennen. Sie +können sich denken, daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger +nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. Aber da ich doch +immer mit ihm war – oder meistens, so wagten sie sich nicht recht an ihn +heran, um so weniger, als ich für seine Geliebte galt ... Ja, wenn sie +gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war –! Und da bin ich einmal auf +einen sonderbaren Einfall gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut +hätten – und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute selbst über +meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und sprach leiser als früher: »Es ist +übrigens auch möglich, daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand – +nun, Sie können sich’s ja denken. Seit ein paar Wochen wußte ich, daß +ich ein Kind zu erwarten hatte. Das machte mich unerhört glücklich. Im +Anfang war ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch viel +beweglicher als jemals früher ... Also denken Sie, eines schönen Abends +habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer +aus. Natürlich hab ich ihm vor allem das Versprechen abgenommen, daß er +sich keinerlei Zwang antun dürfte ... nun ja, sonst hätte die ganze +Geschichte keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen – Sie +hätten mich nicht erkannt ... niemand hätte mich erkannt. Ein Freund von +Gregor, ein gewisser Léonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger +Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön ... Mai ... +ganz warm ... und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff. +Denken Sie sich, ich hab meinen Überzieher – einen sehr eleganten gelben +Überzieher – einfach abgelegt und ihn auf dem Arm getragen ... so wie +das eben Herren zu tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich +dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben +wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay +sang und Montoya ... »Tu t’en iras les pieds devant« ... Sie +haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater – nicht wahr?« Jetzt +warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht +darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm +Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, immer heftiger, stürzte +sozusagen vorwärts. »In der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr +elegante Dame, die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor, +aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man kann sich nichts +Unanständigeres vorstellen. Ich werde nie begreifen, daß ihr Gatte sie +nicht auf der Stelle erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war +eine Herzogin ... Nun, Sie müssen nicht lachen, es war gewiß eine Dame +der großen Welt, trotz ihres Benehmens ... das kann man schon beurteilen +... Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache einginge ... +natürlich! – ich hätte gern gesehen, wie man so etwas anfängt ... ich +wünschte, daß er ihr einen Brief zusteckte – oder sonst was täte – was +er eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich seine Frau wurde +... Ja, das wollte ich, trotzdem es nicht ohne Gefahr für ihn gewesen +wäre. Offenbar steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ... Aber +Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir gingen sogar recht bald +fort, wieder hinaus in die schöne Mainacht, Léonce blieb immer mit uns. +Der hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt und wurde gegen +seine Gewohnheit geradezu galant. Es war sonst ein sehr verschüchterter +Mensch – wegen seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: »Man muß wohl +einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem den Hof machen.« Wir sind +so vergnügt weiterspaziert wie drei Studenten. Und jetzt kam das +Interessante: wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte zum +Programm. Es war auch notwendig, daß endlich irgend etwas geschah. +Bisher hatten wir ja noch gar nichts erlebt ... nur mich – denken Sie: +mich selbst – hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. Aber das +war ja nicht die Absicht gewesen ... Um ein Uhr waren wir im Moulin +Rouge. Wie es da zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte +ich mir’s ärger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs dort nicht das +Geringste, und es sah ganz danach aus, als sollte der ganze Scherz zu +nichts führen. Ich war ein bißchen ärgerlich. »Du bist ein Kind,« sagte +Gregor. »Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und sie fallen +uns zu Füßen –?« Er sagte »uns« aus Höflichkeit für Léonce; es war keine +Rede davon, daß man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir nun +schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause zu gehen, nahm die Sache +eine Wendung. Mir fiel nämlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ... +die schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen war ... Sie +war ganz ernst und sah ziemlich anders aus als die meisten anwesenden +Damen. Sie war gar nicht auffallend gekleidet – in Weiß, vollkommen in +Weiß ... Ich hatte bemerkt, wie sie zwei oder drei Herren, die sie +ansprachen, überhaupt gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne +sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze zu, sehr ruhig, +interessiert, sachlich möchte ich sagen ... Léonce fragte – ich hatte +ihn darum gebeten – ein paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon +irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß er sie im vorigen +Winter auf einem der Donnerstagsbälle im Quartier Latin gesehen hatte. +Léonce sprach sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm gab sie +Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir setzten uns alle an einen +kleinen Tisch und tranken Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um +sie – als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre ... Er plauderte mit +mir, immer nur mit mir ... Das schien sie nun besonders zu reizen. Sie +wurde immer heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so kommt, +allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Was so ein +armes Ding alles erleben kann – oder erleben muß, möglicherweise! Man +liest ja so oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz Wirkliches +hört, von einer, die daneben sitzt, da ist es doch ganz sonderbar. Ich +erinnere mich noch an mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat +sie irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie Modell. Auch +Statistin an einem kleinen Theater ist sie gewesen. – Was sie uns vom +Direktor für Dinge erzählte!... Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn +ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert gewesen wäre ... +Dann hatte sie sich in einen Studenten der Medizin verliebt, der in der +Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der Leichenkammer ab ... +oder blieb vielmehr mit ihm dort ... nein, es ist nicht möglich, zu +wiederholen, was sie uns erzählt hat! – Der Mediziner verließ sie +natürlich auch. Und das wollte sie nicht überleben – gerade das! Und sie +brachte sich um, das heißt, sie versuchte es. Sie machte sich selbst +darüber lustig ... in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme ... es +klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete ihr Kleid ein +wenig und zeigte über der linken Brust eine kleine rötliche Narbe. Und +wie wir alle diese kleine Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie – +nein, schreit sie plötzlich meinen Mann an: »Küssen!« Ich sagte Ihnen +schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um sie. Auch während sie ihre +Geschichten erzählte, hörte er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte +Zigaretten, und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich hab +ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich etwas beduselt ... +jedenfalls war es die sonderbarste Stimmung meines Lebens. Und ob er nun +wollte oder nicht, er mußte die Narbe ... das heißt, er mußte so tun, +als berührte er die Stelle mit den Lippen. Ja, und dann wurde es immer +lustiger und toller. Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend – +und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es für möglich gehalten, +daß sich ein weibliches Wesen – und noch dazu solch eines – im Verlauf +einer Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben könnte, wie dieses +Geschöpf in Gregor. Sie hieß Madeleine.« + +Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen absichtlich lauter aussprach +– jedenfalls schien es mir, als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns +herüber; seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber unsere Blicke +begegneten sich und blieben eine ganze Weile ineinander ruhen, nicht +eben mit besonderer Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin +zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen weiter, und sie +wandte sich wieder zu mir. + +»Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern, was Madeleine +später gesprochen hat,« sagte sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich +will aufrichtig sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen +verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand meines Mannes nahm und +küßte. Aber gleich war es wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem +Augenblick mußte ich an unser Kind denken. Und da hab ich gefühlt, wie +unauflöslich ich und Gregor miteinander verbunden waren, und wie alles +andere nichts sein konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, wie +heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir sind dann noch alle bis +zum Morgengrauen auf dem Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da +hörte ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie nach Hause +begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, um den Spaß zu einem guten und +in gewissem Sinne vorteilhaften Ende zu führen – Sie wissen ja, was die +Künstler alle für Egoisten sind ... insofern es sich nämlich um ihre +Kunst handelt ... – kurz, er sagte ihr, daß er Bildhauer sei, und +forderte sie auf, nächstens zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren. +Sie antwortete: »Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich mich hängen! Aber +ich komm’ doch.« + +Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen eines weiblichen Wesens so +viel Leid ausdrücken – oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich +gefaßt zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte, fuhr sie fort: +»Gregor wollte durchaus, ich sollte am nächsten Tag im Atelier sein. Ja, +er machte mir sogar den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu +bleiben, wenn sie käme. Nun, es gibt Frauen, viele Frauen, ich weiß es, +die darauf eingegangen wären. Ich aber finde: entweder man glaubt oder +man glaubt nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben. Hab ich +nicht recht?« Und sie sah mich mit großen, fragenden Augen an. Ich +nickte nur, und sie sprach weiter: »Madeleine kam natürlich am Tag +darauf und dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher +gekommen ist ... und daß sie eine der schönsten war, können Sie mir +glauben. Sie selbst sind erst heute vor ihr in Bewunderung gestanden, +draußen am Teich.« + +»Die Tänzerin?« + +»Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und nun denken Sie, daß ich +in einem solchen oder in einem anderen Falle mißtrauisch gewesen wäre! +Würde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual gemacht haben? Ich bin +sehr froh, daß ich keine Anlage zur Eifersucht habe.« + +Irgend jemand stand in der offenen Mitteltür und hatte begonnen, einen +wahrscheinlich sehr witzigen Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn +die Leute lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete Mathilde, die +ebensowenig zuhörte wie ich. Und ich sah, wie sie zu ihrem Gatten +hinüberschaute und ihm einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche +Liebe verriet, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen heuchelte, +als wäre es wahrhaftig ihre höchste Pflicht, ihn im Genuß des Daseins +auf keine Weise zu stören. Und er empfing auch diesen Blick – lächelnd, +unbeirrt, obwohl er natürlich ebensogut wußte als ich, daß sie litt und +ihr Leben lang gelitten hat wie ein Tier. + +Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem Herzschlag. Ich habe an +jenem Abend Mathilde zu gut kennen gelernt, und für mich steht es fest: +so wie sie vor ihrem Gatten die glückliche Frau gespielt hat vom ersten +Augenblick bis zum letzten, während er sie belogen und zum Wahnsinn +getrieben hat, so hat sie ihm auch schließlich einen natürlichen Tod +vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht mehr ertragen +konnte. Und er hatte auch dieses letzte Opfer hingenommen, als käme es +ihm zu. + +Da stehe ich vor dem Gitter ... Die Läden sind fest geschlossen. Weiß +und wie verzaubert liegt die kleine Villa im Dämmerschein, und dort +schimmert der Marmor zwischen den roten Zweigen ... + +Vielleicht bin ich übrigens ungerecht gegen Samodeski. Am Ende ist er so +dumm, daß er die Wahrheit wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu +denken, daß es für Mathilde im Tode keine größere Wonne gäbe, als zu +wissen, daß ihr letzter himmlischer Betrug gelungen ist. + +Oder irre ich mich gar? Und es war ein natürlicher Tod?... Nein, ich +lasse mir nicht das Recht nehmen, den Mann zu hassen, den Mathilde so +sehr geliebt hat. Das wird ja wahrscheinlich für lange Zeit mein +einziges Vergnügen sein ... + +_Ende_ + + + +Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig + +Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind den »Gesammelten +Werken« entnommen. + + + + +Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler + + +I. Die erzählenden Schriften in drei Bänden + +In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M + +Inhalt: Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des Weisen. Der +Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers letzter Brief. Der +blinde Geronimo und sein Bruder. Leutnant Gustl. Die griechische +Tänzerin. Frau Berta Garlan. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg. +Die Fremde. Die Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der +tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der Mörder. Die dreifache +Warnung. Die Hirtenflöte. Der Weg ins Freie. + + +II. Die Theaterstücke in vier Bänden + +In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M + +Inhalt: Anatol. Das Märchen. Liebelei. Freiwild. Das Vermächtnis. +Paracelsus. Die Gefährtin. Der grüne Kakadu. Der Schleier der Beatrice. +Lebendige Stunden. Die Frau mit dem Dolche. Die letzten Masken. +Literatur. Der einsame Weg. Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der +tapfere Cassian. Zum großen Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi +oder Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land. + + + + +Werke von Arthur Schnitzler + + +Sterben + +Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark + +Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erzählung zu gemeinsamer +Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die größte +Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist und sich +nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschränkt. Die deutsche +Literatur könnte sich glücklich preisen, wenn sie viele solche Bücher +hätte wie diese einfache Erzählung. (Deutsche Revue) + + +Die Frau des Weisen + +Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark + +Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine +liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen, mit +dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der +Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte. +Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin +gerne spielen, müssen Schnitzler gerne lesen. (Neues Wiener Tagblatt) + + +Leutnant Gustl + +Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark + +Eine bittere Satire vom militärischen Standpunkt aus, aber als Erzählung +von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig, und wie +virtuos dabei in der Ausführung! Selten ist das Innere eines in engen +Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungefähr in fieberhafte +Aufregung gerät, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt worden als +in dieser auch stofflich höchst spannenden, aus einem einzigen Monolog +bestehenden Novelle. (Dresdner Anzeiger) + + +Dämmerseelen + +Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark + +Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene +außerordentliche Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der +zahlreichen europäischen Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden +erkannt wird. Von jener weltmännischen Gewandtheit, die nur irrtümlich +als oberflächlich gilt, weil sie schamhaft genug ist, heiße Tränen +hinter dem heimlichen Wappenschilde des Lächelns zu verbergen, läßt er +durch die Maske des spielerisch tändelnden Dandys das wahre Antlitz des +sinnenden ernsten Dichters lugen. (Breslauer Morgenzeitung) + + +Der Weg ins Freie + +Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark + +Je länger dieses Buch in mir nachklingt, desto stärker wird der +menschliche Eindruck, den es hinterläßt. Hier ist diese wundervolle +Vereinigung, daß man überall spürt, wie stark in dem Dichter Schnitzler +der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der Mensch den +Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, künstlerisches, und +beinahe möchte man sagen privates Fühlen so vollkommene Einheit, daß man +über das Buch hinaus den Eindruck der reinen Individualität empfängt, +die es geschrieben hat. (Die Zeit, Wien) + + +Masken und Wunder + +Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark + +Ein geheimnisreicher Name für ein rätselvolles, ernstes und tiefes Buch! +Von den Seelen merkwürdiger Menschen, zumal von Frauen, ist darin +gehandelt – skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch mit der +seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem Wesen +erfaßt und in den feinsten Gründen ihrer Existenz darlegt. +(Generalanzeiger, Mannheim) + + +Frau Beate und ihr Sohn + +Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50 + +Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genußtriebs, die uns +Schnitzler so oft mit überlegener Ironie geschildert hat, arbeitet er in +dieser Meisternovelle eine erschütternde Tragik heraus. Schnitzler hat +in dieser novellistischen Tragödie der entweihten Mutterschaft sein +Stärkstes geboten. (Vossische Zeitung, Berlin) + + + + +Gustaf af Geijerstam + +Gesammelte Romane in fünf Bänden + + +Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt des +Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark + + +1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis des Waldes / +Kristins Myrte / Sammel / Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis. + +2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe. + +3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht. + +4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte. + +5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrenhofallee. + + +Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten unter uns. +Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung seiner Werke – +rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr billigem Preise, die +denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe – ist Beweis +dafür. Den Geijerstam, den man braucht, hat man in dieser Auswahl ganz. +Sie findet ihre literarische Rechtfertigung zudem in einer Einleitung +von Friedrich Düsel, und diese Einführung gibt eine seelisch +eindringliche, man könnte beinahe sagen erschöpfende Analyse von +Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... In Geijerstam kündigt sich +eine neue Weltanschauung an, noch viel zu unentwickelt, um in den Rahmen +von zehn Geboten gefaßt zu werden, doch aber recht eigentlich die +Weltanschauung des Menschen, der nicht die Kraft, dafür aber die +Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. – Eine neue Frucht der +Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht dieser Erzählungen! Aus +dem Stamm des sozialen Mitleidens ist sie erwachsen. Menschen mit +verfeinerten Empfindungsorganen werden danach greifen und werden – wie +das immer war – beides daraus schmecken: Tod und Leben. (Frankfurter +Zeitung) + + + + +Otto Erich Hartleben + +Ausgewählte Werke in drei Bänden + + +Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitmüller. Mit dem Bilde des +Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappbänden gebunden 10 Mark, in +drei Ganzpergamentbänden 15 Mark. + + +1. Bd.: Gedichte: Einleitung / Die Gedichte vollständig. + +2. Bd.: Prosa: Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe / +Wie der Kleine zum Teufel wurde / Vom gastfreien Pastor / Der +Einhornapotheker / Der römische Maler / Der bunte Vogel. + +3. Bd.: Dramen: Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung zur Ehe / Die +sittliche Forderung / Rosenmontag. + + +Ein schönes Werk der Pietät. In wundervoller Ausstattung ist hier ein +Überblick über des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten Band +ziert ein schönes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband – alles ist zu +jener vornehmen Harmonie abgetönt, die des Dichters eigene Person +ausströmte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude hatte, ihm +im Leben zu begegnen. Diese drei Bände stellen eine Zierde für jede +Bibliothek dar. (Universum, Leipzig) + +Dieses Werk faßt als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckstück, nämlich +das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in seiner +Einleitung Bruchstücke aus den Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt, mit +denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres Ältesten geleitete. Diese +Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem Sinne Biographisches. Denn sie +kennzeichnen ihre Verfasserin, diese stille Frau, die nicht Frau Ajas +Humor, aber Frau Ajas Geduld und ihre Liebe hat. (Hamburger Fremdenblatt) + + + + +Peter Nansen + +Werke in drei Bänden + + +Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenbände in elegantem Futteral 12 +Mark. Jeder Band einzeln geheftet 3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4 +Mark 50 Pf. + + +1. Band: _Jugend und Liebe._ Eine glückliche Ehe / Aus dem ersten +Universitätsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete Fenster / Des +Bürgermeisters Winterüberzieher / Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines +Verliebten / Ein Weihnachtsmärchen / Der Weihnachtsbaum / Fräulein Mimi +/ Eine Ballunterhaltung. + +2. Band: _Theater._ Judiths Ehe / Eine glückliche Ehe / Kameraden / Ein +Hochzeitsabend / Die gestörte Verbindung. + +3. Band: _Die Romane des Herzens._ Julies Tagebuch / Maria / +Gottesfriede. + + +Nansens freie Selbständigkeit und seine künstlerische Unbefangenheit, +die manchen als Rücksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine hohe +Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach über der Tendenz +die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern, wie sie ist. +Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur zu Ehren +bringen, indem er in erster Linie die »Weibheit« der Frau – wie Laura +Marholm sagen würde – berücksichtigt; aber diese Absicht ist nicht die +Hauptsache. Seine Bücher haben dagegen einen eigenen poetischen Wert. +(Norddeutsche Allgemeine Zeitung) + +Peter Nansen stammt aus der elegischen, graziösen Hauptstadt des +Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien, geistig mit +Paris verwandt ist. Er gehört zu denen, die das Klima der nordischen +Literatur wärmer, sinnlicher, verführerischer gemacht haben, so daß wir +die Franzosen bald ganz entbehren können. (Das Literarische Echo) + + + + +[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1914 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer +Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält +eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen +Korrekturen. + +p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (entfernt) +p 024: Anführungszeichen ergänzt: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!« +p 026: Anführungszeichen ergänzt: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!« +p 102: Anführungszeichen ergänzt: »Wie?– -> »Wie?«– +p 128: Anführungszeichen ergänzt: »Ich bin nicht schuld daran, +p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte. +p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ] + + + +[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from scans of an +original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers +Bibliothek zeitgenössischer Romane". The table below lists all +corrections applied to the original text. + +p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (deleted) +p 024: added missing quotes: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!« +p 026: added missing quotes: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!« +p 102: added missing quotes: »Wie?– -> »Wie?«– +p 128: added missing quotes: »Ich bin nicht schuld daran, +p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte. +p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ] + + + + + +End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Die griechische Tänzerin *** + +***** This file should be named 17142-0.txt or 17142-0.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17142/ + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/17142-0.zip b/17142-0.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..c358d28 --- /dev/null +++ b/17142-0.zip diff --git a/17142-8.txt b/17142-8.txt new file mode 100644 index 0000000..6f5d627 --- /dev/null +++ b/17142-8.txt @@ -0,0 +1,4304 @@ +The Project Gutenberg EBook of Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Die griechische Tänzerin + und andere Novellen + +Author: Arthur Schnitzler + +Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN *** + + + + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + + + + + + Die griechische Tänzerin + + und andere Novellen + von + Arthur Schnitzler + + +S. Fischer, Verlag, Berlin + + +Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung +Copyright S. Fischer, Verlag + + + +Inhalt + + +Der blinde Geronimo und sein Bruder ....... 7 + +Die Toten schweigen ...................... 53 + +Die Weissagung ........................... 85 + +Das neue Lied ........................... 128 + +Die griechische Tänzerin ................ 157 + + + + +Der blinde Geronimo und sein Bruder + + +Der blinde Geronimo stand von der Bank auf und nahm die Gitarre zur +Hand, die auf dem Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. Er hatte +das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen. Nun tastete er sich den +wohlbekannten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die +schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten Hofraum +hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich +neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand gekehrt, um gegen den +naßkalten Wind geschützt zu sein, der über den feuchtschmutzigen Boden +durch die offenen Tore strich. + +Unter dem düsteren Bogen des alten Wirtshauses mußten alle Wagen +passieren, die den Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die Reisenden, +welche von Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast vor +der Höhe. Zu langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade hier lief +die Straße ziemlich eben, ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen +hin. Der blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in den +Sommermonaten hier so gut wie zu Hause. + +Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere Wagen. Die meisten +Reisenden blieben sitzen, in Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere +stiegen aus und spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her. +Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab. +Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst plötzlich und allzu früh +hereinzubrechen. + +Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der Gitarre; er sang mit +einer ungleichmäßigen, manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie +immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf wie mit +einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach oben. Aber die Züge seines +Gesichtes mit den schwarzen Bartstoppeln und den bläulichen Lippen +blieben vollkommen unbeweglich. Der ältere Bruder stand neben ihm, +beinahe regungslos. Wenn ihm jemand eine Münze in den Hut fallen ließ, +nickte er Dank und sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick +ins Gesicht. Aber gleich, beinahe ängstlich, wandte er den Blick wieder +fort und starrte gleich dem Bruder ins Leere. Es war, als schämten sich +seine Augen des Lichts, das ihnen gewährt war, und von dem sie dem +blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten. + +»Bring mir Wein,« sagte Geronimo, und Carlo ging, gehorsam wie immer. +Während er die Stufen aufwärts schritt, begann Geronimo wieder zu +singen. Er hörte längst nicht mehr auf seine eigene Stimme, und so +konnte er auf das merken, was in seiner Nähe vorging. Jetzt vernahm er +ganz nahe zwei flüsternde Stimmen, die eines jungen Mannes und einer +jungen Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen Weg hin +und her gegangen sein mochten; denn in seiner Blindheit und in seinem +Rausch war ihm manchmal, als kämen Tag für Tag dieselben Menschen über +das Joch gewandert, bald von Norden gegen Süden, bald von Süden gegen +Norden. Und so kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit. + +Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas Wein. Der Blinde schwenkte +es dem jungen Paare zu und sagte: »Ihr Wohl, meine Herrschaften!« + +»Danke,« sagte der junge Mann; aber die junge Frau zog ihn fort, denn +ihr war dieser Blinde unheimlich. + +Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich lärmenden Gesellschaft ein: +Vater, Mutter, drei Kinder, eine Bonne. + +»Deutsche Familie,« sagte Geronimo leise zu Carlo. + +Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück, und jedes durfte das seine +in den Hut des Bettlers werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum +Dank. Der älteste Knabe sah dem Blinden mit ängstlicher Neugier ins +Gesicht. Carlo betrachtete den Knaben. Er mußte, wie immer beim Anblick +solcher Kinder, daran denken, daß Geronimo gerade so alt gewesen war, +als das Unglück geschah, durch das er das Augenlicht verloren hatte. +Denn er erinnerte sich jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig +Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute klang ihm der grelle +Kinderschrei ins Ohr, mit dem der kleine Geronimo auf den Rasen +hingesunken war, noch heute sah er die Sonne auf der weißen Gartenmauer +spielen und kringeln und hörte die Sonntagsglocken wieder, die gerade in +jenem Augenblick getönt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen nach +der Esche an der Mauer geschossen, und als er den Schrei hörte, dachte +er gleich, daß er den kleinen Bruder verletzt haben mußte, der eben +vorbeigelaufen war. Er ließ das Blasrohr aus den Händen gleiten, sprang +durchs Fenster in den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder hin, der +auf dem Grase lag, die Hände vors Gesicht geschlagen und jammerte. Über +die rechte Wange und den Hals floß ihm Blut herunter. In derselben +Minute kam der Vater vom Felde heim, durch die kleine Gartentür, und nun +knieten beide ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn eilten herbei; +die alte Vanetti war die erste, der es gelang, dem Kleinen die Hände +vom Gesicht zu entfernen. Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo +damals in der Lehre war und der sich ein bißchen aufs Kurieren verstand; +und der sah gleich, daß das rechte Auge verloren war. Der Arzt, der +abends aus Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, er deutete +schon die Gefahr an, in der das andere Auge schwebte. Und er behielt +recht. Ein Jahr später war die Welt für Geronimo in Nacht versunken. +Anfangs versuchte man ihm einzureden, daß er später geheilt werden +könnte, und er schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit wußte, +irrte damals tage- und nächtelang auf der Landstraße, zwischen den +Weinbergen und in den Wäldern umher, und war nahe daran, sich +umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem er sich anvertraute, klärte +ihn auf, daß es seine Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu +widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn +er bei dem blinden Jungen war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine +Stirne küssen durfte, ihm Geschichten erzählte, ihn auf den Feldern +hinter dem Hause und zwischen den Rebengeländen spazieren führte, +milderte sich seine Pein. Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der +Schmiede vernachlässigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht trennen +mochte, und konnte sich nachher nicht mehr entschließen, sein Handwerk +wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines +Tages fiel es Carlo auf, daß Geronimo vollkommen aufgehört hatte, von +seinem Unglück zu reden. Bald wußte er, warum: der Blinde war zur +Einsicht gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die Straßen, die +Menschen, das Licht wieder sehen würde. Nun litt Carlo noch mehr als +früher, so sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen suchte, daß er +ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er +am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er +von einer solchen Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er in den +Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten +Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für +immer erloschen war. Zu jener Zeit war es, daß Carlo auf den Einfall +kam, Geronimo, der eine angenehme Stimme hatte, in der Musik weiter +ausbilden zu lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal Sonntags +herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte der Blinde +freilich noch nicht, daß die neuerlernte Kunst einmal zu seinem +Lebensunterhalt dienen würde. + +Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück für immer in das Haus +des alten Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet ein Jahr nach +dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde +er von einem Verwandten betrogen; und als er an einem schwülen Augusttag +auf freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, hinterließ er +nichts als Schulden. Das kleine Anwesen wurde verkauft, die beiden +Brüder waren obdachlos und arm und verließen das Dorf. + +Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. Damals begann das +Bettel- und Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo +daran gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich ihn und den +Bruder ernähren könnte; aber es wollte nicht gelingen. Auch hatte +Geronimo nirgend Ruhe; er wollte immer auf dem Wege sein. + +Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Straßen und Pässen herumzogen, im +nördlichen Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der +dichtere Zug der Reisenden vorüberströmte. + +Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht mehr die brennende Qual +verspürte, mit der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der Anblick +jeder freundlichen Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes +nagendes Mitleid in ihm, beständig und ihm unbewußt, wie der Schlag +seines Herzens und sein Atem. Und er war froh, wenn Geronimo sich +betrank. + +Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. Carlo setzte +sich, wie er gern tat, auf die untersten Stufen der Treppe, Geronimo +aber blieb stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen und hielt den Kopf +nach oben gewandt. + +Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube. + +»Habt's viel verdient heut?« rief sie herunter. + +Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde bückte sich nach seinem Glas, +hob es vom Boden auf und trank es Maria zu. Sie saß manchmal abends in +der Wirtsstube neben ihm; er wußte auch, daß sie schön war. + +Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Straße hinaus. Der Wind +blies, und der Regen prasselte, so daß das Rollen des nahenden Wagens in +den heftigen Geräuschen unterging. Carlo stand auf und nahm wieder +seinen Platz an des Bruders Seite ein. + +Geronimo begann zu singen, schon während der Wagen einfuhr, in dem nur +ein Passagier saß. Der Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte +er hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine Weile in seiner +Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen grauen Regenmantel; er schien +auf den Gesang gar nicht zu hören. Nach einer Weile aber sprang er aus +dem Wagen und lief mit großer Hast hin und her, ohne sich weit vom Wagen +zu entfernen. Er rieb immerfort die Hände aneinander, um sich zu +erwärmen. Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken. Er stellte sich +ihnen gegenüber und sah sie lange wie prüfend an. Carlo neigte leicht +den Kopf, wie zum Gruße. Der Reisende war ein sehr junger Mensch mit +einem hübschen, bartlosen Gesicht und unruhigen Augen. Nachdem er eine +ganze Weile vor den Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore, +durch das er weiterfahren sollte, und schüttelte bei dem trostlosen +Ausblick in Regen und Nebel verdrießlich den Kopf. + +»Nun?« fragte Geronimo. + +»Noch nichts,« erwiderte Carlo. »Er wird wohl geben, wenn er fortfährt.« + +Der Reisende kam wieder zurück und lehnte sich an die Deichsel des +Wagens. Der Blinde begann zu singen. Nun schien der junge Mann plötzlich +mit großem Interesse zuzuhören. Der Knecht erschien und spannte die +Pferde wieder ein. Und jetzt erst, als besänne er sich eben, griff der +junge Mann in die Tasche und gab Carlo einen Frank. + +»O danke, danke,« sagte dieser. + +Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte sich wieder in +seinen Mantel. Carlo nahm das Glas vom Boden auf und ging die Holzstufen +hinauf. Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum Wagen heraus +und schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Überlegenheit und +Traurigkeit zugleich. Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er +lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum zwei Schritte weit von +ihm stand: »Wie heißt du?« + +»Geronimo.« + +»Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.« In diesem Augenblick +erschien der Kutscher auf der obersten Stufe der Treppe. + +»Wieso, gnädiger Herr, betrügen?« + +»Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankstück gegeben.« + +»O Herr, Dank, Dank!« + +»Ja; also paß auf.« + +»Er ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich nicht.« + +Der junge Mann stutzte eine Weile, aber während er noch überlegte, war +der Kutscher auf den Bock gestiegen und hatte die Pferde angetrieben. +Der junge Mann lehnte sich zurück mit einer Bewegung des Kopfes, als +wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen Lauf! und der Wagen fuhr davon. + +Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte Gebärden des Dankes nach. +Jetzt hörte er Carlo, der eben aus der Wirtsstube kam. Der rief +herunter: »Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat Feuer +gemacht!« + +Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm und tastete sich am +Geländer die Stufen hinauf. Auf der Treppe schon rief er: »Laß es mich +anfühlen! Wie lang hab ich schon kein Goldstück angefühlt!« + +»Was gibt's?« fragte Carlo. »Was redest du da?« + +Geronimo war oben und griff mit beiden Händen nach dem Kopf seines +Bruders, ein Zeichen, mit dem er stets Freude oder Zärtlichkeit +auszudrücken pflegte. »Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute +Menschen!« + +»Gewiß,« sagte Carlo. »Bis jetzt sind es zwei Lire und dreißig +Zentesimi; und hier ist noch österreichisches Geld, vielleicht eine +halbe Lira.« + +»Und zwanzig Franken -- und zwanzig Franken!« rief Geronimo. »Ich weiß es +ja!« Er torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf die Bank. + +»Was weißt du?« fragte Carlo. + +»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! Wie lang hab ich schon +kein Goldstück in der Hand gehabt!« + +»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück nehmen? Es sind zwei +Lire oder drei.« + +Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber genug, genug! Willst +du es etwa vor mir verstecken?« + +Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert an. Er setzte sich neben +ihn, rückte ganz nahe und faßte wie begütigend seinen Arm: »Ich +verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es +eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.« + +»Aber er hat mir's doch gesagt!« + +»Wer?« + +»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.« + +»Wie? Ich versteh dich nicht!« + +»So hat er zu mir gesagt: 'Wie heißt du?' und dann: 'Gib acht, gib acht, +laß dich nicht betrügen!'« + +»Du mußt geträumt haben, Geronimo -- das ist ja Unsinn!« + +»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre gut. 'Laß dich nicht +betrügen; ich habe ihm ein Goldstück ...' -- nein, so sagte er: 'Ich habe +ihm ein Zwanzig-Frankstück gegeben.'« + +Der Wirt kam herein. »Nun, was ist's mit euch? Habt ihr das Geschäft +aufgegeben? Ein Vierspänner ist gerade angefahren.« + +»Komm!« rief Carlo, »komm!« + +Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum soll ich kommen? Was hilft's +mir denn? Du stehst ja dabei und --« + +Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt hinunter!« + +Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. Aber auf den Stufen sagte er: +»Wir reden noch, wir reden noch!« + +Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo plötzlich verrückt +geworden? Denn, wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise +hatte er noch nie gesprochen. + +In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei Engländer; Carlo lüftete den +Hut vor ihnen, und der Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen +und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: »Danke« und dann, wie +vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt; +er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei Engländern fuhr davon. + +Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. Geronimo setzte sich auf +die Bank, Carlo blieb beim Ofen stehen. + +»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo. + +»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, wie ich dir gesagt habe.« +Seine Stimme zitterte ein wenig. + +»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo. + +»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.« + +»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! Wenn einer sagt: 'Ich habe +deinem Bruder zwanzig Franken gegeben,' so ist er wahnsinnig! -- Eh, und +warum hat er gesagt: 'Laß dich nicht betrügen' -- eh?« + +»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber es gibt Menschen, die +mit uns armen Leuten Späße machen ...« + +»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? -- Ja, das hast du noch sagen müssen -- +darauf habe ich gewartet!« Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm +stand. + +»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß er vor Bestürzung kaum +sprechen konnte, »warum sollte ich ... wie kannst du glauben ...?« + +»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum ...?« + +»Geronimo, ich versichere dir, ich --« + +»Eh -- und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... ich weiß ja, daß du +jetzt lachst!« + +Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, Leut' sind da!« + +Ganz mechanisch standen die Brüder auf und schritten die Stufen hinab. +Zwei Wagen waren zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer +mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo stand neben ihm, +fassungslos. Was sollte er nur tun? Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie +war das nur möglich? -- Und er betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener +Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der Seite. Es war ihm, als sähe +er über diese Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort niemals +gewahrt hatte. + +Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang weiter. Carlo wagte +nicht, ihn zu unterbrechen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, er +fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen von +oben, und Maria rief: »Was singst denn noch immer? Von mir kriegst du ja +doch nichts!« + +Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es klang, als wäre seine +Stimme und die Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er wieder die +Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er sich +neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig: er +mußte noch einmal versuchen, den Bruder aufzuklären. + +»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ... bedenk doch, Geronimo, wie +kannst du glauben, daß ich --« + +Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen durch das Fenster in den +grauen Nebel hinauszublicken. Carlo redete weiter: »Nun, er braucht ja +nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt haben ... ja er +hat sich geirrt ...« Aber er fühlte wohl, daß er selbst nicht glaubte, +was er sagte. + +Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo redete weiter, mit +plötzlicher Lebhaftigkeit: »Wozu sollte ich denn -- du weißt doch, ich +esse und trinke nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock +kaufe, so weißt du's doch ... wofür brauch ich denn so viel Geld? Was +soll ich denn damit tun?« + +Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen hervor: »Lüg nicht, ich höre, wie +du lügst!« + +»Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!« sagte Carlo erschrocken. + +»Eh! hast du ihr's schon gegeben, ja? Oder bekommt sie's erst nachher?« +schrie Geronimo. + +»Maria?« + +»Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du Dieb!« Und als wollte er nicht +mehr neben ihm am Tische sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den Bruder in +die Seite. + +Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an, dann verließ er das +Zimmer und ging über die Stiege in den Hof. Er schaute mit weit offenen +Augen auf die Straße hinaus, die vor ihm in bräunlichen Nebel versank. +Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte die Hände in die +Hosentaschen und ging ins Freie. Es war ihm, als hätte ihn sein Bruder +davongejagt. Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch immer +nicht fassen. Was für ein Mensch mochte das gewesen sein? Einen Franken +schenkt er her und sagt, es waren zwanzig! Er mußte doch irgendeinen +Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in seiner Erinnerung, ob er +sich nicht irgendwo jemanden zum Feind gemacht, der nun einen anderen +hergeschickt hatte, um sich zu rächen ... Aber soweit er zurückdenken +mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, nie irgendeinen ernsten Streit +mit jemandem vorgehabt. Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes +getan, als daß er in Höfen oder an Straßenrändern gestanden war mit dem +Hut in der Hand ... War ihm vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers +böse?... Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun gehabt ... +die Kellnerin in La Rosa war die letzte gewesen, im vorigen Frühjahr ... +aber um die war ihm gewiß niemand neidisch ... Es war nicht zu +begreifen!... Was mochte es da draußen in der Welt, die er nicht kannte, +für Menschen geben?... Von überallher kamen sie ... was wußte er von +ihnen?... Für diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen Sinn gehabt, daß +er zu Geronimo sagte: Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ... +Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit einem Male war es offenbar +geworden, daß Geronimo ihm mißtraute!... Das konnte er nicht ertragen! +Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen ... Und er eilte zurück. + +Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo auf der Bank +ausgestreckt und schien das Eintreten Carlos nicht zu bemerken. Maria +brachte den beiden Essen und Trinken. Sie sprachen während der Mahlzeit +kein Wort. Als Maria die Teller abräumte, lachte Geronimo plötzlich auf +und sagte zu ihr: »Was wirst du dir denn dafür kaufen?« + +»Wofür denn?!« + +»Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?« + +»Was will er denn von mir?« wandte sie sich an Carlo. + +Indes dröhnte unten der Hof von lastenbeladenen Fuhrwerken, laute +Stimmen tönten herauf und Maria eilte hinunter. Nach ein paar Minuten +kamen drei Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der Wirt trat zu +ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften über das schlechte Wetter. + +»Heute nacht werdet ihr Schnee haben,« sagte der eine. + +Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren Mitte August auf dem Joch +eingeschneit und beinahe erfroren war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch +der Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen Eltern, die unten +in Bormio wohnten. + +Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden. Geronimo und Carlo gingen +hinunter, Geronimo sang, Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden +gaben ihr Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte manchmal: +»Wieviel?« und nickte zu den Antworten Carlos leicht mit dem Kopfe. +Indes versuchte Carlo selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte +immer nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen und daß +er ganz wehrlos war. + +Als die Brüder wieder die Stufen hinaufschritten, hörten sie die +Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden und lachen. Der jüngste rief dem +Geronimo entgegen: »Sing uns doch auch was vor, wir zahlen schon! -- +Nicht wahr?« wandte er sich an die anderen. + +Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein kam, sagte: »Fangt heut +nichts mit ihm an, er ist schlechter Laune.« + +Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten ins Zimmer hin und +fing an zu singen. Als er geendet, klatschten die Fuhrleute in die +Hände. + +»Komm her, Carlo!« rief einer, »wir wollen dir unser Geld auch in den +Hut werfen wie die Leute unten!« Und er nahm eine kleine Münze und hielt +die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen, den ihm Carlo +entgegenstreckte. Da griff der Blinde nach dem Arm des Fuhrmannes und +sagte: »Lieber mir, lieber mir! Es könnte daneben fallen -- daneben!« + +»Wieso daneben?« + +»Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!« + +Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo stand regungslos da. +Nie hatte Geronimo solche Späße gemacht!... + +»Setz dich zu uns!« riefen die Fuhrleute. »Du bist ein lustiger Kerl!« +Und sie rückten zusammen, um Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und +wirrer war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit, lauter und +lustiger als sonst, und hörte nicht auf zu trinken. Als Maria eben +wieder hereinkam, wollte er sie an sich ziehen; da sagte der eine von +den Fuhrleuten lachend: »Meinst du vielleicht, sie ist schön? Sie ist ja +ein altes häßliches Weib!« + +Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß. »Ihr seid alle Dummköpfe,« +sagte er. »Glaubt ihr, ich brauche meine Augen, um zu sehen? Ich weiß +auch, wo Carlo jetzt ist -- eh! -- dort am Ofen steht er, hat die Hände in +den Hosentaschen und lacht.« + +Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde am Ofen lehnte und nun +wirklich das Gesicht zu einem Grinsen verzog, als dürfte er seinen +Bruder nicht Lügen strafen. + +Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch vor Dunkelheit in Bormio +sein wollten, mußten sie sich beeilen. Sie standen auf und +verabschiedeten sich lärmend. Die beiden Brüder waren wieder allein in +der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst manchmal zu schlafen +pflegten. Das ganze Wirtshaus versank in Ruhe wie immer um diese Zeit +der ersten Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem Tisch, schien +zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und her, dann setzte er sich auf die +Bank. Er war sehr müde. Es schien ihm, als wäre er in einem schweren +Traum befangen. Er mußte an allerlei denken, an gestern, vorgestern und +alle Tage, die früher waren, und besonders an warme Sommertage und an +weiße Landstraßen, über die er mit seinem Bruder zu wandern pflegte, und +alles war so weit und unbegreiflich, als wenn es nie wieder so sein +könnte. + +Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol und bald darauf in kleinen +Zwischenpausen Wagen, die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch +viermal mußten die Brüder in den Hof hinab. Als sie das letztemal +heraufgingen, war die Dämmerung hereingebrochen, und das Öllämpchen, das +von der Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die in einem +nahen Steinbruche beschäftigt waren und ein paar hundert Schritte +unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo +setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es war ihm, +als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er hörte, wie Geronimo +drüben laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er +sich noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen +gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, wie er auf dem Felde +arbeitete, an den kleinen Garten mit der Esche an der Mauer, an das +niedrige Häuschen, das ihnen gehörte, an die zwei kleinen Töchter des +Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an sein eigenes +Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Wie +oft hatte Carlo das alles gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang +anders als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen +Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging +wieder auf die Landstraße, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte +aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo +beinahe verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis +hinein, sich am Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen, +einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. -- Plötzlich hörte er das Rollen +eines Wagens und erblickte den Lichtschimmer von zwei Laternen, die +immer näher kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, saßen zwei Herren. +Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen Gesichte fuhr erschrocken +zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel +hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete den Hut. Der +Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer +Finsternis. Plötzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben +machte ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er es keine Minute +länger ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem +dumpfen Sinnen die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem +quälenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten ihn nach Hause. + +Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden Reisenden, die vorher +an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an einem Tische +sitzen und sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten kaum +auf, als er eintrat. + +An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher unter den Arbeitern. + +»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt schon an der Tür. »Warum +läßt du deinen Bruder allein?« + +»Was gibt's denn?« fragte Carlo erschrocken. + +»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann's ja egal sein, aber ihr solltet +doch denken, daß bald wieder schlechtere Zeiten kommen.« + +Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am Arme. »Komm!« sagte er. + +»Was willst du?« schrie Geronimo. + +»Komm zu Bett,« sagte Carlo. + +»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich kann mit meinem Gelde +tun, was ich will -- eh! -- alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr +meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein blinder Mann! Aber +es gibt Leute -- es gibt gute Leute, die sagen mir: 'Ich habe deinem +Bruder zwanzig Franken gegeben!'« + +Die Arbeiter lachten auf. + +»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er zog den Bruder mit sich, +schleppte ihn beinah die Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo +sie ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie Geronimo: »Ja, nun ist +es an den Tag gekommen, ja, nun weiß ich's! Ah, wartet nur. Wo ist sie? +Wo ist Maria? Oder legst du's ihr in die Sparkassa? -- Eh, ich singe für +dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du -- und du bist ein Dieb!« Er +fiel auf den Strohsack hin. + +Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein; drüben stand die Tür +zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses offen, und Maria richtete +die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem Bruder und sah +ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bläulichen Lippen, das +feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre älter aussehend, als +er war. Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das +Mißtrauen des Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert haben, +und nur der Anlaß, vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es +auszusprechen. Und alles, was Carlo für ihn getan, war vergeblich +gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens. +Was sollte er nun tun? -- Sollte er noch weiterhin Tag für Tag, wer weiß +wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn +betteln und keinen anderen Lohn dafür haben als Mißtrauen und Schimpf? +Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde +dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen, +sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste. Dann mußte +Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren, +was es heißt, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und +er selbst, was sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn +er für sich allein war, konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht +zum mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber während diese +Gedanken durch seinen Kopf zogen, blieben seine Augen immer auf den +Bruder geheftet. Und er sah ihn plötzlich vor sich, allein am Rande +einer sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit den weit +offenen, weißen Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden konnte, +und mit den Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er +fühlte, so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so +hatte auch er niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die +Liebe zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens war, und wußte zum +ersten Male mit völliger Deutlichkeit, nur der Glaube, daß der Blinde +diese Liebe erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so +geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung nicht mit einem +Male verzichten. Er fühlte, daß er den Bruder gerade so notwendig +brauchte als der Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht +verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden oder ein Mittel +finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu +überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen +könnte! Wenn er dem Blinden morgen früh sagen könnte: »Ich habe es nur +aufbewahrt, damit du's nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir +die Leute nicht stehlen« ... oder sonst irgend etwas ... + +Schritte näherten sich auf der Holztreppe; die Reisenden gingen zur +Ruhe. Plötzlich durchzuckte seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen, +den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu erzählen und sie um +die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wußte auch gleich: das war +vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht +einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine +blasse zusammengefahren war, als er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem +Wagen aufgetaucht war. + +Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz finster im Zimmer. +Jetzt hörte er, wie die Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten +über die Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore +geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die Treppe auf und ab, dann war +es ganz still. Carlo hörte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald +verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Träumen. Als er erwachte, +war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster +war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort mitten in dem +undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues Viereck. Geronimo schlief noch +immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte an den Tag, +der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach diesem +Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag, und +Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er +abends nicht mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden gegangen +und hatte sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht hätten sie doch +Erbarmen mit ihm gehabt. Und doch -- vielleicht war es gut, daß er sie +nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... Er setzte sich jäh auf und +fühlte sein Herz klopfen. Er wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn +abgewiesen hätten, so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben -- +so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann +... Das, was ihm gegen seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren, +war ja unmöglich, vollkommen unmöglich!... Die Tür drüben war versperrt +-- und überdies: sie konnten aufwachen ... Ja, dort -- der graue +leuchtende Fleck mitten im Dunkel war der neue Tag -- -- -- + +Carlo stand auf, als zöge es ihn dorthin, und berührte mit der Stirn die +kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... Um es +zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unmöglich -- und überdies war es +ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für solche +Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie würden ja gar +nicht merken, daß sie ihnen fehlten ... Er ging zur Türe und öffnete sie +leise. Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu erreichen, +geschlossen. An einem Nagel im Pfosten hingen Kleidungsstücke. Carlo +fuhr mit der Hand über sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der +Tasche ließen, dann wäre das Leben sehr einfach, dann brauchte bald +niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die Taschen waren leer. Nun, was +blieb übrig? Wieder zurück ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab +vielleicht doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen -- +eine weniger gefährliche und rechtlichere. Wenn er wirklich jedesmal +einige Zentesimi von den Almosen zurückbehielte, bis er zwanzig Franken +zusammengespart, und dann das Goldstück kaufte ... Aber wie lang konnte +das dauern -- Monate, vielleicht ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut hätte! +Noch immer stand er auf dem Gang. Er blickte zur Tür hinüber ... Was war +das für ein Streif, der senkrecht von oben auf den Fußboden fiel? War es +möglich? Die Tür war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum staunte er +denn darüber? Seit Monaten schon schloß die Tür nicht. Wozu auch? Er +erinnerte sich: nur dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute +geschlafen, zweimal Handwerksburschen und einmal ein Tourist, der sich +den Fuß verletzt hatte. Die Tür schließt nicht -- er braucht jetzt nur +Mut -- ja, und Glück! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, ist, +daß die beiden aufwachen, und da kann er noch immer eine Ausrede finden. +Er lugt durch den Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, daß er eben +nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden Gestalten gewahren +kann. Er horcht auf: sie atmen ruhig und gleichmäßig. Carlo öffnet die +Tür leicht und tritt mit seinen nackten Füßen völlig geräuschlos ins +Zimmer. Die beiden Betten stehen der Länge nach an der gleichen Wand dem +Fenster gegenüber. In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo +schleicht bis hin. Er fährt mit der Hand über die Fläche und fühlt ein +Schlüsselbund, ein Federmesser, ein kleines Buch -- weiter nichts ... Nun +natürlich!... Daß er nur daran denken konnte, sie würden ihr Geld auf +den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich wieder fort!... Und doch, +vielleicht braucht es nur einen guten Griff und es ist geglückt ... Und +er nähert sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel liegt etwas -- +er fühlt danach -- es ist ein Revolver ... Carlo zuckt zusammen ... Ob er +ihn nicht lieber gleich behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch +den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn bemerkt ... Doch +nein, er würde ja sagen: Es ist drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!... +Und er läßt den Revolver liegen. + +Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem anderen Sessel unter +den Wäschestücken ... Himmel! das ist sie ... das ist eine Börse -- er +hält sie in der Hand!... In diesem Moment hört er ein leises Krachen. +Mit einer raschen Bewegung streckt er sich der Länge nach zu Füßen des +Bettes hin ... Noch einmal dieses Krachen -- ein schweres Aufatmen -- ein +Räuspern -- dann wieder Stille, tiefe Stille. Carlo bleibt auf dem Boden +liegen, die Börse in der Hand, und wartet. Es rührt sich nichts mehr. +Schon fällt der Dämmer blaß ins Zimmer herein. Carlo wagt nicht +aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden vorwärts bis zur Tür, die +weit genug offen steht, um ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den +Gang hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit einem tiefen +Atemzug. Er öffnet die Börse; sie ist dreifach geteilt: links und rechts +nur kleine Silberstücke. Nun öffnet Carlo den mittleren Teil, der durch +einen Schieber nochmals verschlossen ist, und fühlt drei +Zwanzigfrankenstücke. Einen Augenblick denkt er daran, zwei davon zu +nehmen, aber rasch weist er diese Versuchung von sich, nimmt nur ein +Goldstück heraus und schließt die Börse zu. Dann kniet er nieder, blickt +durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder völlig still ist, und +dann gibt er der Börse einen Stoß, so daß sie bis unter das zweite Bett +gleitet. Wenn der Fremde aufwacht, wird er glauben müssen, daß sie vom +Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich langsam. Da knarrt der +Boden leise, und im gleichen Augenblick hört er eine Stimme von drinnen: +»Was ist's? Was gibt's denn?« Carlo macht rasch zwei Schritte rückwärts, +mit verhaltenem Atem, und gleitet in seine eigene Kammer. Er ist in +Sicherheit und lauscht ... Noch einmal kracht drüben das Bett, und dann +ist alles still. Zwischen seinen Fingern hält er das Goldstück. Es ist +gelungen -- gelungen! Er hat die zwanzig Franken, und er kann seinem +Bruder sagen: 'Siehst du nun, daß ich kein Dieb bin!' Und sie werden +sich noch heute auf die Wanderschaft machen -- gegen den Süden zu, nach +Bormio, dann weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ... nach Edole +... nach Breno ... an den See von Iseo wie voriges Jahr ... Das wird +durchaus nicht verdächtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum +Wirt gesagt: »In ein paar Tagen gehen wir hinunter.« + +Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt in grauem Dämmer da. Ah, +wenn Geronimo nur bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Frühe! +Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen guten Morgen dem +Wirt, dem Knecht und Maria auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn +sie zwei Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es Geronimo +sagen. + +Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an: »Geronimo!« + +»Nun, was gibt's?« Und er stützt sich mit beiden Händen und setzt sich +auf. + +»Geronimo, wir wollen aufstehen.« + +»Warum?« Und er richtet die toten Augen auf den Bruder. Carlo weiß, daß +Geronimo sich jetzt des gestrigen Vorfalles besinnt, aber er weiß auch, +daß der keine Silbe darüber reden wird, ehe er wieder betrunken ist. + +»Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird heuer nicht mehr +besser; ich denke, wir gehen. Zu Mittag können wir in Boladore sein.« + +Geronimo erhob sich. Die Geräusche des erwachenden Hauses wurden +vernehmbar. Unten im Hof sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf +und begab sich hinunter. Er war immer früh wach und ging oft schon in +der Dämmerung auf die Straße hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte: +»Wir wollen Abschied nehmen.« + +»Ah, geht ihr schon heut?« fragte der Wirt. + +»Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im Hof steht, und der Wind +zieht durch.« + +»Nun, grüß mir den Baldetti, wenn du nach Bormio hinunterkommst, und er +soll nicht vergessen, mir das Öl zu schicken.« + +»Ja, ich will ihn grüßen. Im übrigen -- das Nachtlager von heut.« Er +griff in den Sack. + +»Laß sein, Carlo,« sagte der Wirt. »Die zwanzig Zentesimi schenk ich +deinem Bruder; ich hab ihm ja auch zugehört. Guten Morgen.« + +»Dank,« sagte Carlo. »Im übrigen, so eilig haben wir's nicht. Wir sehen +dich noch, wenn du von den Hütten zurückkommst; Bormio bleibt am selben +Fleck stehen, nicht wahr?« Er lachte und ging die Holzstufen hinauf. + +Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte: »Nun, ich bin bereit zu +gehen.« + +»Gleich,« sagte Carlo. + +Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel des Raumes stand, nahm er +ihre wenigen Habseligkeiten und packte sie in ein Bündel. Dann sagte er: +»Ein schöner Tag, aber sehr kalt.« + +»Ich weiß,« sagte Geronimo. Beide verließen die Kammer. + +»Geh leise,« sagte Carlo, »hier schlafen die zwei, die gestern abend +gekommen sind.« Behutsam schritten sie hinunter. »Der Wirt läßt dich +grüßen,« sagte Carlo; »er hat uns die zwanzig Zentesimi für heut nacht +geschenkt. Nun ist er bei den Hütten draußen und kommt erst in zwei +Stunden wieder. Wir werden ihn ja im nächsten Jahre wiedersehen.« + +Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die Landstraße, die im +Dämmerschein vor ihnen lag. Carlo ergriff den linken Arm seines +Bruders, und beide schritten schweigend talabwärts. Schon nach kurzer +Wanderung waren sie an der Stelle, wo die Straße in langgezogenen Kehren +weiterzulaufen beginnt. Nebel stiegen nach aufwärts, ihnen entgegen, und +über ihnen die Höhen schienen von den Wolken wie eingeschlungen. Und +Carlo dachte: Nun will ich's ihm sagen. + +Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das Goldstück aus der Tasche +und reichte es dem Bruder; dieser nahm es zwischen die Finger der +rechten Hand, dann führte er es an die Wange und an die Stirn, endlich +nickte er. »Ich hab's ja gewußt,« sagte er. + +»Nun ja,« erwiderte Carlo und sah Geronimo befremdet an. + +»Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt hätte, ich hätte es doch +gewußt.« + +»Nun ja,« sagte Carlo ratlos. »Aber du verstehst doch, warum ich da oben +vor den anderen -- ich habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal -- -- +Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab ich mir gedacht, daß +du dir einen neuen Rock kaufst und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich; +darum habe ich ...« + +Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« Und er strich mit der +einen Hand über seinen Rock. »Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir +nach dem Süden.« + +Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht zu freuen schien, daß +er sich nicht entschuldigte. Und er redete weiter: »Geronimo, war es +denn nicht recht von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun haben wir +es doch, nicht wahr? Nun haben wir es ganz. Wenn ich dir's oben gesagt +hätte, wer weiß ... Oh, es ist gut, daß ich dir's nicht gesagt habe -- +gewiß!« + +Da schrie Geronimo: »Hör auf zu lügen, Carlo, ich habe genug davon!« + +Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders los. »Ich lüge nicht.« + +»Ich weiß doch, daß du lügst!... Immer lügst du!... Schon hundertmal +hast du gelogen!... Auch das hast du für dich behalten wollen, aber +Angst hast du bekommen, das ist es!« + +Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er faßte wieder den Arm des +Blinden und ging mit ihm weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach; +aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger war. + +Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen sprach Geronimo: »Es +wird warm.« Er sagte es gleichgültig, selbstverständlich, wie er es +schon hundertmal gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: für +Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo war er immer ein Dieb +gewesen. + +»Hast du schon Hunger?« fragte er. + +Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse und Brot aus der +Rocktasche und aß davon. Und sie gingen weiter. + +Die Post von Bormio begegnete ihnen; der Kutscher rief sie an: »Schon +hinunter?« Dann kamen noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren. + +»Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im gleichen Augenblick, nach +einer raschen Wendung, lag das Veltlin zu ihren Füßen. + +Wahrhaftig -- nichts hat sich geändert, dachte Carlo ... Nun hab ich gar +für ihn gestohlen -- und auch das ist umsonst gewesen. + +Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, der Glanz der Sonne riß +Löcher hinein. Und Carlo dachte: 'Vielleicht war es doch nicht klug, so +rasch das Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter dem Bett, das +ist jedenfalls verdächtig ...' Aber wie gleichgültig war das alles! Was +konnte ihm noch Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das Licht der +Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen und glaubte es schon +jahrelang und wird es immer glauben -- was konnte ihm noch Schlimmes +geschehen? + +Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in Morgenglanz gebadet, und +tiefer unten, wo das Tal sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das +Dorf. Schweigend gingen die beiden weiter, und immer lag Carlos Hand auf +dem Arm des Blinden. Sie gingen an dem Park des Hotels vorüber, und +Carlo sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern sitzen und +frühstücken. »Wo willst du rasten?« fragte Carlo. + +»Nun, im 'Adler', wie immer.« + +Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren, +kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein +geben. + +»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt. + +Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist's denn so früh? Der +zehnte oder elfte September -- nicht?« + +»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.« + +»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht haben wir gefroren. Ja +richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl +hinaufzuschicken.« + +Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe +befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen +Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin, +in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf. + +»Gehen wir schon?« fragte Geronimo. + +»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, im 'Hirschen' halten die +Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.« + +Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden. +»Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht's da oben aus? Heut nacht hat +es wohl geschneit?« + +»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte. + +Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen +und Weinbergen, dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel war blau und +still. 'Warum hab ich's getan?' dachte Carlo. Er blickte den Blinden von +der Seite an. 'Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat +er es geglaubt -- immer bin ich allein gewesen -- und immer hat er mich +gehaßt.' Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter, +die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er +die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die +Sonne leuchtend auf allen Wegen lag. + +Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit +setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an +einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf. +Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen +hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf +die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein. +Es war ein Tag wie tausend andere. + +»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte +sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war +der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither +kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen +und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß +es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete. +Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam, +erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai +waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm +zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte +erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war. + +»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo. + +»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo. + +Nun waren sie an ihn herangekommen. + +»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen. + +»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide +auf den Posten nach Boladore führen.« + +»Eh!« rief der Blinde. + +Carlo wurde blaß. 'Wie ist das nur möglich?' dachte er. 'Aber es kann +sich nicht darauf beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht +wissen.' + +»Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm lachend, »es macht +euch wohl nichts, wenn ihr mitgeht.« + +»Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo. + +»O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie ist es denn möglich ... +was sollen wir denn ... oder vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich +weiß nicht ...« + +»Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. Was weiß ich. +Jedenfalls haben wir die telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen, +daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, dringend +verdächtig, da oben den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun, es ist auch +möglich, daß ihr unschuldig seid. Also vorwärts!« + +»Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo. + +»Ich rede -- o ja, ich rede ...« + +»Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, auf der Straße +stehenzubleiben! Die Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an Ort und +Stelle. Vorwärts!« + +Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, und so gingen sie langsam +weiter, der Gendarm hinter ihnen. + +»Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo wieder. + +»Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? Es wird sich alles +herausstellen; ich weiß selber nicht ...« + +Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich's ihm erklären, eh wir vor +Gericht stehen?... Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun, +was tut's. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit sagen. »Herr +Richter,« werd ich sagen, »es ist doch kein Diebstahl wie ein anderer. +Es war nämlich so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, um +vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. »Da fuhr +gestern ein Herr über den Paß ... es mag ein Irrsinniger gewesen sein -- +oder am End hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...« + +Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? ... Man wird ihn gar nicht +so lange reden lassen. -- Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ... +nicht einmal Geronimo glaubt sie ... -- Und er sah ihn von der Seite an. +Der Kopf des Blinden bewegte sich nach alter Gewohnheit während des +Gehens wie im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, und die +leeren Augen stierten in die Luft. -- Und Carlo wußte plötzlich, was für +Gedanken hinter dieser Stirne liefen ... 'So also stehen die Dinge,' +mußte Geronimo wohl denken. -- 'Carlo bestiehlt nicht nur mich, auch die +anderen Leute bestiehlt er ... Nun, er hat es gut, er hat Augen, die +sehen, und er nützt sie aus ...' -- Ja, das denkt Geronimo, ganz gewiß +... Und auch, daß man kein Geld bei mir finden wird, kann mir nicht +helfen, -- nicht vor Gericht, nicht vor Geronimo. Sie werden mich +einsperren und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat ja das +Geldstück. -- Und er konnte nicht mehr weiter denken, er fühlte sich so +sehr verwirrt. Es schien ihm, als verstünde er überhaupt nichts mehr von +der ganzen Sache, und wußte nur eines: daß er sich gern auf ein Jahr in +den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn, wenn nur Geronimo wüßte, daß +er für ihn allein zum Dieb geworden war. + +Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß auch Carlo innehalten mußte. + +»Nun, was ist denn?« sagte der Gendarm ärgerlich. »Vorwärts, vorwärts!« +Aber da sah er mit Verwunderung, daß der Blinde die Gitarre auf den +Boden fallen ließ, seine Arme erhob und mit beiden Händen nach den +Wangen des Bruders tastete. Dann näherte er seine Lippen dem Munde +Carlos, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn. + +»Seid ihr verrückt?« fragte der Gendarm. »Vorwärts! vorwärts! Ich habe +keine Lust zu braten.« + +Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne ein Wort zu sprechen. Carlo +atmete tief auf und legte die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War +es denn möglich? Der Bruder zürnte ihm nicht mehr? Er begriff am Ende --? +Und zweifelnd sah er ihn von der Seite an. + +»Vorwärts!« schrie der Gendarm. »Wollt ihr endlich --!« Und er gab Carlo +eins zwischen die Rippen. + +Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden leitend, ging wieder +vorwärts. Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Denn er +sah Geronimo lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit +den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo lächelte +auch. Ihm war, als könnte ihm jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, -- +weder vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. -- Er hatte seinen +Bruder wieder ... Nein, er hatte ihn zum erstenmal ... + + + + +Die Toten schweigen + + +Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und +ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in +dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, vom Winde bewegt, +hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen; die Trottoire waren beinahe +trocken; aber die ungepflasterten Fahrstraßen waren noch feucht, und an +einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel gebildet. + +Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritt von +der Praterstraße, in irgendeine ungarische Kleinstadt versetzt glauben +kann. Immerhin -- sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie +keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen. + +Er sah auf die Uhr ... Sieben -- und schon völlige Nacht. Der Herbst ist +diesmal früh da. Und der verdammte Sturm. + +Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher auf und ab. Die +Laternenfenster klirrten. »Noch eine halbe Stunde,« sagte er zu sich, +»dann kann ich gehen. Ah -- ich wollte beinahe, es wäre so weit.« Er +blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide +Straßen, von denen aus sie kommen könnte. + +Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er seinen Hut festhielt, +der wegzufliegen drohte. -- Freitag -- Sitzung des Professorenkollegiums -- +da wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben ... Er hörte das +Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann auch die Glocke von der nahen +Nepomukkirche zu läuten. Die Straße wurde belebter. Es kamen mehr +Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, Bedienstete aus den +Geschäften, die um sieben geschlossen wurden. Alle gingen rasch und +waren mit dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art von Kampf +begriffen. Niemand beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädel blickten mit +leichter Neugier zu ihm auf. -- Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt +rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne Wagen? dachte er. Ist +sie's? + +Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte sie ihre +Schritte. + +»Du kommst zu Fuß?« sagte er. + +»Ich hab den Wagen schon beim Karltheater fortgeschickt. Ich glaube, ich +bin schon einmal mit demselben Kutscher gefahren.« + +Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der +junge Mann fixierte ihn scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch +weiter. Die Dame sah ihm nach. »Wer war's?!« fragte sie ängstlich. + +»Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, sei ganz ruhig. -- +Aber jetzt komm rasch; wir wollen einsteigen.« + +»Ist das dein Wagen?« + +»Ja.« + +»Ein offener?« + +»Vor einer Stunde war es noch so schön.« + +Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein. + +»Kutscher,« rief der junge Mann. + +»Wo ist er denn?« fragte die junge Frau. + +Franz schaute ringsumher. »Das ist unglaublich,« rief er, »der Kerl ist +nicht zu sehen.« + +»Um Gotteswillen!« rief sie leise. + +»Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.« + +Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen Wirtshause; an einem Tisch +mit ein paar anderen Leuten saß der Kutscher; jetzt stand er rasch auf. + +»Gleich, gnä' Herr,« sagte er und trank stehend sein Glas Wein aus. + +»Was fällt Ihnen denn ein?« + +»Bitt schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.« + +Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. »Wohin fahr'n mer denn, +Euer Gnaden?« + +»Prater -- Lusthaus.« + +Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte ganz versteckt, beinahe +zusammengekauert, in der Ecke unter dem aufgestellten Dach. + +Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. -- »Willst du mir +nicht wenigstens guten Abend sagen?« + +»Ich bitt dich; laß mich nur einen Moment, ich bin noch ganz atemlos.« + +Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide schwiegen eine Weile. +Der Wagen war in die Praterstraße eingebogen, fuhr an dem +Tegethoff-Monument vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die +breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma plötzlich mit +beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn +noch von ihren Lippen trennte, und küßte sie. + +»Bin ich endlich bei dir!« sagte sie. + +»Weißt du denn, wie lang wir uns nicht gesehen haben?« rief er aus. + +»Seit Sonntag.« + +»Ja, und da auch nur von weitem.« + +»Wieso? Du warst ja bei uns.« + +»Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu euch komm ich +überhaupt nie wieder. Aber was hast du denn?« + +»Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.« + +»Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater spazieren fahren, kümmern +sich wahrhaftig nicht um uns.« + +»Das glaub ich schon. Aber zufällig kann einer hereinschaun.« + +»Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen.« + +»Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.« + +»Wie du willst.« + +Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören schien. Da beugte er sich +vor und berührte ihn mit der Hand. Der Kutscher wandte sich um. + +»Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn so auf die Pferde ein? +Wir haben ja gar keine Eile, hören Sie! Wir fahren in die ... wissen +Sie, die Allee, die zur Reichsbrücke führt.« + +»Auf die Reichsstraßen?« + +»Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen Sinn.« + +»Bitt schön, gnä' Herr, der Sturm, der macht die Rösser so wild.« + +»Ah freilich, der Sturm.« Franz setzte sich wieder. + +Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren zurück. + +»Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?« fragte sie. + +»Wie hätt' ich denn können?« + +»Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester geladen.« + +»Ach so.« + +»Warum warst du nicht dort?« + +»Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter anderen Leuten zusammen +zu sein. Nein, nie wieder.« + +Sie zuckte die Achseln. + +»Wo sind wir denn?« fragte sie dann. + +Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstraße ein. + +»Da geht's zur großen Donau,« sagte Franz, »wir sind auf dem Weg zur +Reichsbrücke. Hier gibt es keine Bekannten!« setzte er spöttisch hinzu. + +»Der Wagen schüttelt entsetzlich.« + +»Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.« + +»Warum fährt er so im Zickzack?« + +»Es scheint dir so.« + +Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger als nötig hin und her +warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu +machen. + +»Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma.« + +»Da mußt du bald anfangen, denn um neun muß ich zu Hause sein.« + +»In zwei Worten kann alles entschieden sein.« + +»Gott, was ist denn das?« ... schrie sie auf. Der Wagen war in ein +Pferdebahngeleise geraten und machte jetzt, als der Kutscher +herauswenden wollte, eine so scharfe Biegung, daß er fast zu stürzen +drohte. Franz packte den Kutscher beim Mantel. »Halten Sie,« rief er ihm +zu. »Sie sind ja betrunken.« + +Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. »Aber gnä' Herr ...« + +»Komm, Emma, steigen wir hier aus.« + +»Wo sind wir?« + +»Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr gar so stürmisch. +Gehen wir ein Stückchen. Man kann während des Fahrens nicht ordentlich +reden.« + +Emma zog den Schleier herunter und folgte. + +»Nicht stürmisch nennst du das?« rief sie aus, als ihr gleich beim +Aussteigen ein Windstoß entgegenfuhr. + +Er nahm ihren Arm. »Nachfahren,« rief er dem Kutscher zu. + +Sie spazierten vorwärts. Solang die Brücke allmählich anstieg, sprachen +sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten, +blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite +Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne +sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und +sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die beiden eben verlassen +hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war +es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein +ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen +sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge +mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich +aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen. +Der Donner verlor sich allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in +plötzlichen Stößen. + +Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort.« + +»Freilich,« erwiderte Emma leise. + +»Wir sollten fort,« sagte Franz lebhaft, »ganz fort, mein ich ...« + +»Es geht ja nicht.« + +»Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.« + +»Und mein Kind?« + +»Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.« + +»Und wie?« fragte sie leise ... »Davonlaufen bei Nacht und Nebel?« + +»Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als ihm einfach zu sagen, +daß du nicht länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst.« + +»Bist du bei Sinnen, Franz?« + +»Wenn du willst, erspar ich dir auch das, -- ich sag es ihm selber.« + +»Das wirst du nicht tun, Franz.« + +Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit konnte er nicht mehr +bemerken, als daß sie den Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte. + +Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Hab keine Angst, ich werde +es nicht tun.« + +Sie näherten sich dem anderen Ufer. + +»Hörst du nichts?« sagte sie. »Was ist das?« + +»Es kommt von drüben,« sagte er. + +Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht +schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, daß es von einer kleinen +Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt +war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob +Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf +dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben +seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder +nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter +ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen +das andere Ufer. Sie sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins +Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die +Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein. + +Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: »Also das letztemal ...« + +»Was?« fragte Emma in besorgtem Ton. + +»-- Daß wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich sag dir adieu.« + +»Sprichst du im Ernst?« + +»Vollkommen.« + +»Siehst du, daß du es bist, der uns immer die paar Stunden verdirbt, die +wir haben; nicht ich!« + +»Ja, ja, du hast recht,« sagte Franz. »Komm, fahren wir zurück.« + +Sie nahm seinen Arm fester. »Nein,« sagte sie zärtlich, »jetzt will ich +nicht. Ich laß mich nicht so fortschicken.« + +Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. »Wohin kämen wir,« fragte +sie dann, »wenn wir hier immer weiter führen?« + +»Da geht's direkt nach Prag, mein Kind.« + +»So weit nicht,« sagte sie lächelnd, »aber noch ein bißchen weiter da +hinaus, wenn du willst.« Sie wies ins Dunkle. + +»He, Kutscher!« rief Franz. Der hörte nichts. + +Franz schrie: »Halten Sie doch!« + +Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm nach. Jetzt sah er, daß der +Kutscher schlief. Durch heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. »Wir +fahren noch ein kleines Stück weiter -- die gerade Straße -- verstehen Sie +mich?« + +»Is' schon gut, gnä' Herr ...« + +Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche +drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin. +Aber die beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen +sie hin und her warf. + +»Ist das nicht auch ganz schön,« flüsterte Emma ganz nahe an seinem +Munde. + +In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe +-- sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff +ins Leere; es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender +Geschwindigkeit im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen mußte -- +und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure +schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig +einsam wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: Geräusch von +Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe auf den Boden schlugen, ein leises +Wimmern; aber sehen konnte sie nichts. Jetzt faßte sie eine tolle Angst; +sie schrie; ihre Angst ward noch größer, denn sie hörte ihr Schreien +nicht. Sie wußte plötzlich ganz genau, was geschehen war: der Wagen war +an irgend etwas gestoßen, wohl an einen der Meilensteine, hatte +umgeworfen, und sie waren herausgestürzt. Wo ist _er?_ war ihr nächster +Gedanke. Sie rief seinen Namen. Und sie hörte sich rufen, ganz leise +zwar, aber sie hörte sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu +erheben. Es gelang ihr so weit, daß sie auf den Boden zu sitzen kam, und +als sie mit den Händen ausgriff, fühlte sie einen menschlichen Körper +neben sich. Und nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge +durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührte mit +der ausgestreckten Hand sein Gesicht; sie fühlte etwas Feuchtes und +Warmes darüber fließen. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da +geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. Und der Kutscher -- wo war +er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem +Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl sie Schmerzen in +allen Gliedern fühlte. Was tu ich nur, was tu ich nur ... es ist doch +nicht möglich, daß mir gar nichts geschehen ist. »Franz!« rief sie. Eine +Stimme antwortete ganz in der Nähe: »Wo sind S' denn, gnä' Fräul'n, wo +ist der gnä' Herr? Es ist doch nix g'schehn? Warten S', Fräulein, -- i +zünd nur die Latern an, daß wir was sehn; i weiß net, was die Krampen +heut hab'n. Ich bin net Schuld, meiner Seel ... in ein Schoderhaufen +sein s' hinein, die verflixten Rösser.« + +Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh taten, vollkommen +aufgerichtet, und daß dem Kutscher nichts geschehen war, machte sie ein +wenig ruhiger. Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete und +Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie auf das Licht. Sie wagte +es nicht, Franz noch einmal zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag; +sie dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; er hat +gewiß die Augen offen ... es wird nichts sein. + +Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah plötzlich den Wagen, der +aber zu ihrer Verwunderung nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief +gegen den Straßengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad gebrochen. +Die Pferde standen vollkommen still. Das Licht näherte sich; sie sah den +Schein allmählich über einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den +Graben gleiten; dann kroch er auf die Füße Franzens, glitt über seinen +Körper, beleuchtete sein Gesicht und blieb darauf ruhen. Der Kutscher +hatte die Laterne auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des +Liegenden. Emma ließ sich auf die Knie nieder, und es war ihr, als hörte +ihr Herz zu schlagen auf, wie sie das Gesicht erblickte. Es war blaß; +die Augen halb offen, so daß sie nur das Weiße von ihnen sah. Von der +rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut über die Wange und +verlor sich unter dem Kragen am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne +gebissen. »Es ist ja nicht möglich!« sagte Emma vor sich hin. + +Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte das Gesicht an. Dann +packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn in die Höhe. »Was +machen Sie?« schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak vor diesem +Kopf, der sich selbständig aufzurichten schien. + +»Gnä' Fräul'n, mir scheint, da ist ein großes Malheur geschehn.« + +»Es ist nicht wahr,« sagte Emma. »Es kann nicht sein. Ist denn Ihnen +was geschehen? Und mir ...« + +Der Kutscher ließ den Kopf des Regungslosen wieder langsam sinken; -- in +den Schoß Emmas, die zitterte. »Wenn nur wer käm ... wenn nur die +Bauersleut eine Viertelstund' später daherkommen wären ...« + +»Was sollen wir denn machen?« sagte Emma mit bebenden Lippen. + +»Ja, Fräul'n, wenn der Wagen net brochen wär ... aber so, wie er jetzt +zug'richt ist ... Wir müssen halt warten, bis wer kommt.« Er redete noch +weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem war es ihr, +als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war. + +»Wie weit ist's bis zu den nächsten Häusern?« fragte sie. + +»Das ist nimmer weit, Fräul'n, da ist ja gleich das Franz Josefsland ... +Wir müßten die Häuser sehen, wenn's licht wär, in fünf Minuten müßte man +dort sein.« + +»Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.« + +»Ja, Fräul'n, ich glaub schier, es ist g'scheiter, ich bleib mit Ihnen +da -- es kann ja nicht so lang dauern, bis wer kommt, es ist ja +schließlich die Reichsstraße, und --« + +»Da wird's zu spät, da kann's zu spät werden. Wir brauchen einen +Doktor.« + +Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, dann schaute er +kopfschüttelnd Emma an. + +»Das können Sie nicht wissen,« -- rief Emma, »und ich auch nicht.« + +»Ja, Fräul'n ... aber wo find' i denn ein' Doktor im Franz Josefsland?« + +»So soll von dort jemand in die Stadt und --« + +»Fräul'n, wissen's was! I denk mir, die werden dort vielleicht ein +Telephon haben. Da könnten wir um die Rettungsgesellschaft +telephonieren.« + +»Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen Sie, um Himmels willen! +Und Leute bringen Sie mit ... Und ... bitt' Sie, gehen Sie nur, was tun +Sie denn noch da?« + +Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun auf Emmas Schoß +ruhte. »Rettungsgesellschaft, Doktor, wird nimmer viel nützen.« + +»Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!« + +»I geh schon -- daß S' nur nicht Angst kriegen, Fräul'n, da in der +Finstern.« Und er eilte rasch über die Straße fort. »I kann nix dafür, +meiner Seel,« murmelte er vor sich hin. »Ist auch eine Idee, mitten in +der Nacht auf die Reichsstraßen ...« + +Emma war mit dem Regungslosen allein auf der dunklen Straße. »Was +jetzt?« dachte sie. Es ist doch nicht möglich ... das ging ihr immer +wieder durch den Kopf ... es ist ja nicht möglich. -- Es war ihr +plötzlich, als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich herab zu den +blassen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch. Das Blut an Schläfe und +Wangen schien getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die +gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum glaube ich es denn nicht +-- es ist ja gewiß ... das ist der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie +fühlte nur mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf meinem +Schoß. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so daß er +wieder auf den Boden zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl +entsetzlicher Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den Kutscher +weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was soll sie denn da auf der +Landstraße mit dem toten Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ... +Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie lang wird sie hier +warten müssen? Und sie sah wieder den Toten an. Ich bin nicht allein mit +ihm, fiel ihr ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre +dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie danken müßte. Es war +mehr Leben in dieser kleinen Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um +sie; ja, es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen den +blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf dem Boden lag ... Und sie +sah in das Licht so lang, bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen +begann. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte. Sie +sprang auf! Das geht ja nicht, das ist ja unmöglich, man darf mich doch +nicht hier mit ihm finden ... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst +auf der Straße stehen, zu ihren Füßen den Toten und das Licht; und sie +sah sich, als ragte sie in sonderbarer Größe in die Dunkelheit hinein. +Worauf wart ich, dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf wart +ich? Auf die Leute? -- Was brauchen mich denn die? Die Leute werden +kommen und fragen ... und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden +fragen, wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. Kein Wort +werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd ich. Kein Wort ... sie +können mich ja nicht zwingen. + +Stimmen kamen von weitem. + +Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die Stimmen kamen von der +Brücke her. Das konnten also nicht die Leute sein, die der Kutscher +geholt hatte. Aber wer immer sie waren -- jedenfalls werden sie das +Licht bemerken -- und das durfte nicht sein, dann war sie entdeckt. + +Und sie stieß mit dem Fuß die Laterne um. Die verlöschte. Nun stand sie +in tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur +der weiße Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen kamen näher. Sie +begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um +Himmels willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar +nichts anderes kommt es an -- sie ist ja verloren, wenn ein Mensch +erfährt, daß sie die Geliebte von ... Sie faltet die Hände krampfhaft. +Sie betet, daß die Leute auf der anderen Seite der Straße vorübergehen +mögen, ohne sie zu bemerken. Sie lauscht. Ja von drüben ... Was reden +sie doch?... Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt, +denn sie reden etwas davon, sie kann Wörter unterscheiden. Ein Wagen ... +umgefallen ... was sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie +gehen weiter ... sie sind vorüber ... Gott sei Dank! Und jetzt, was +jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie er? Er ist zu beneiden, für ihn +ist alles vorüber ... für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine +Furcht. Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, daß man sie hier +finden, daß man sie fragen wird: wer sind Sie?... Daß sie mit auf die +Polizei muß, daß alle Menschen es erfahren werden, daß ihr Mann -- daß +ihr Kind -- + +Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden ist wie +angewurzelt ... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich +selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht einen Schritt ... +Vorsichtig ... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... einen +Schritt hinauf -- o, er ist so seicht! -- und noch zwei Schritte, bis sie +in der Mitte der Straße ist ... und dann steht sie einen Augenblick +still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein +verfolgen. Dort -- dort ist die Stadt. Sie kann nichts von ihr sehen ... +aber die Richtung ist ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist +ja gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut sehn; auch die +Pferde ... und wenn sie sich sehr anstrengt, merkt sie auch etwas wie +die Umrisse eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie +reißt die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas hier zurück +... der Tote ist es, der sie hier behalten will, und es graut sie vor +seiner Macht ... Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt +sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, und +der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie ... geht +rascher ... läuft ... und fort von da ... zurück ... in das Licht, in +den Lärm, zu den Menschen! Die Straße läuft sie entlang, hält das Kleid +hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr im Rücken, es ist, als wenn +er sie vorwärts triebe. Sie weiß nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es +ist ihr, als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müßte, der dort, weit +hinter ihr, neben dem Straßengraben liegt ... dann fällt ihr ein, daß +sie ja den Lebendigen entkommen will, die gleich dort sein und sie +suchen werden. Was werden die denken? Wird man ihr nicht nach? Aber man +kann sie nicht mehr einholen, sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat +einen großen Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man kann ja +nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann ahnen, wer die Frau war, die +mit jenem Mann über die Reichsstraße gefahren ist. Der Kutscher kennt +sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn er sie später einmal +sieht. Man wird sich auch nicht darum kümmern, wer sie war. Wen geht es +an? -- Es ist sehr klug, daß sie nicht dort geblieben ist, es ist auch +nicht gemein. Franz selbst hätte ihr recht gegeben. Sie muß ja nach +Haus, sie hat ein Kind, sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn +man sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. Da ist die +Brücke, die Straße scheint heller ... ja schon hört sie das Wasser +rauschen wie früher; sie ist da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen -- +wann -- wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch nicht lange sein. Nicht +lang? Vielleicht doch! Vielleicht war sie lange bewußtlos, vielleicht +ist es längst Mitternacht, vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie +wird daheim schon vermißt. Nein, nein, das ist ja nicht möglich, sie +weiß, daß sie gar nicht bewußtlos war; sie erinnert sich jetzt genauer +als im ersten Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und gleich über +alles im klaren gewesen ist. Sie läuft über die Brücke und hört ihre +Schritte hallen. Sie sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt +sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt ihre Schritte. Wer +kann das sein, der ihr entgegenkommt? Es ist jemand in Uniform. Sie geht +ganz langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu merken, daß der +Mann den Blick fest auf sie gerichtet hält. Wenn er sie fragt? Sie ist +neben ihm, erkennt die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie geht +an ihm vorüber. Sie hört, daß er hinter ihr stehen geblieben ist. Mit +Mühe hält sie sich davon zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig. +Sie geht noch immer so langsam wie früher. Sie hört das Geklingel der +Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang nicht Mitternacht sein. Jetzt geht +sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie +schon unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Straße entgegenschimmern +sieht, deren gedämpften Lärm sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese +einsame Straße, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von weitem +schrille Pfiffe, immer schriller, immer näher; ein Wagen saust an ihr +vorüber. Unwillkürlich bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der +Wagen der Rettungsgesellschaft. Sie weiß, wohin er fährt. Wie schnell! +denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen Moment lang ist ihr, als müßte +sie den Leuten nachrufen, als müßte sie mit, als müßte sie wieder dahin +zurück, woher sie gekommen -- einen Moment lang packt sie eine ungeheure +Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiß, daß sie feig und +schlecht gewesen ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner +verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, und wie eine +Gerettete eilt sie vorwärts. Leute kommen ihr entgegen; sie hat keine +Angst mehr vor ihnen -- das Schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt +wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die +Häuserzeile der Praterstraße, und es ist ihr, als werde sie dort von +einer Flut von Menschen erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf. +Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe, +auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten vor neun. Sie hält die Uhr +ans Ohr -- sie ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin +lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und er ... er ... tot ... +Schicksal ... Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen ... als wäre nie +irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es +hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn +es das Schicksal anders bestimmt hätte? -- Und wenn sie jetzt dort im +Graben läge und er am Leben geblieben wäre? Er wäre nicht geflohen, nein +... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib -- und sie hat +ein Kind und einen Gatten. -- Sie hat recht gehabt, -- es ist ihre Pflicht +-- ja ihre Pflicht. Sie weiß ganz gut, daß sie nicht aus Pflichtgefühl so +gehandelt ... Aber sie hat doch das Rechte getan. Unwillkürlich ... wie +... gute Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. Jetzt würden die +Ärzte sie fragen. Und Ihr Mann, gnädige Frau? O Gott!... Und die +Zeitungen morgen -- und die Familie -- sie wäre für alle Zeit vernichtet +gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben erwecken können. Ja, das war +die Hauptsache; für nichts hätte sie sich zugrunde gerichtet. -- Sie ist +unter der Eisenbahnbrücke. -- Weiter ... weiter ... Hier ist die +Tegethoffsäule, wo die vielen Straßen ineinander laufen. Es sind heute, +an dem regnerischen, windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien, +aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig um sie, denn +woher sie kommt, dort war die fürchterlichste Stille. Sie hat Zeit. Sie +weiß, daß ihr Mann heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. -- sie +kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr ein, ihr Kleid zu +betrachten. Mit Schrecken merkt sie, daß es über und über beschmutzt +ist. Was wird sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch den Kopf, +daß morgen die Geschichte von dem Unglücksfall in allen Zeitungen zu +lesen sein wird. Auch von einer Frau, die mit im Wagen war, und die dann +nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen stehen, und bei diesem +Gedanken bebt sie von neuem -- _eine_ Unvorsichtigkeit, und all ihre +Feigheit war umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschlüssel bei sich; sie +kann ja selbst aufsperren; -- sie wird sich nicht hören lassen. Sie +steigt rasch in einen Fiaker. Schon will sie ihm ihre Adresse angeben, +da fällt ihr ein, daß das vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm +irgendeinen Straßennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie durch die +Praterstraße fährt, möchte sie gern irgend etwas empfinden, aber sie +kann es nicht; sie fühlt, daß sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in +Sicherheit sein. Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, da +sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Straße liegen zu +lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und +jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich. +Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie weiß ganz gewiß, es werden +Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zugrunde +gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen +Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem +Kinde zu sitzen. Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt durch +die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, und ziemlich viele +Menschen eilen vorbei. Da ist ihr plötzlich, als könne alles, was sie in +den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein böser Traum +erscheint es ihr ... unfaßbar als Wirkliches, Unabänderliches. In einer +Seitengasse nach dem Ring läßt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt +rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, dem sie ihre +richtige Adresse angibt. Es kommt ihr vor, als wäre sie jetzt überhaupt +nicht mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es +ihr durch den Sinn. Sie schließt die Augen, und sie sieht ihn vor sich +auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen -- und plötzlich ist ihr, als +sitze sie neben ihm und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu +schwanken, und sie hat Angst, daß sie herausgeschleudert werde, wie +damals -- und sie schreit auf. Da hält der Wagen. Sie fährt zusammen; sie +ist vor ihrem Haustor. -- Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur, mit +leisen Schritten, so daß der Portier hinter seinem Fenster gar nicht +aufschaut, die Treppen hinauf, sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört +zu werden ... durchs Vorzimmer in ihr Zimmer -- es ist gelungen! Sie +macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wohl im +Schrank. Über Nacht sollen sie trocknen -- morgen will sie sie selber +bürsten und reinigen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt +einen Schlafrock um. + +Jetzt klingelt es draußen. Sie hört das Stubenmädchen an die Wohnungstür +kommen und öffnen. Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er +den Stock hinstellt. Sie fühlt, daß sie jetzt stark sein müsse, sonst +kann noch immer alles vergeblich gewesen sein. Sie eilt ins +Speisezimmer, so daß sie im selben Augenblick eintritt wie ihr Gatte. + +»Ah, du bist schon zu Haus?« sagt er. + +»Gewiß,« antwortet sie, »schon lang.« + +»Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.« Sie lächelt, ohne sich dazu +zwingen zu müssen. Es macht sie nur sehr müde, daß sie auch lächeln muß. +Er küßt sie auf die Stirn. + +Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten müssen, ist +eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offenen +Buch ruht sein Gesicht. Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr +gegenüber, nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick hinein. +Dann legt er sie weg und sagt: »Die anderen sitzen noch zusammen und +beraten weiter.« + +»Worüber?« fragt sie. + +Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen Sitzung, sehr lang, sehr +viel. Emma tut, als höre sie zu, nickt zuweilen. + +Aber sie hört nichts, sie weiß nicht, was er spricht, es ist ihr zumute +wie einem, der furchtbaren Gefahren auf wunderbare Weise entronnen ... +sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr +Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen, +nimmt seinen Kopf und drückt ihn an ihre Brust. Eine unsägliche +Müdigkeit überkommt sie -- sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt, +daß der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen. + +Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit +dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr +gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er ... Ach nein, es war kein +Zweifel möglich ... Diese Augen ... dieser Mund -- und dann ... kein +Hauch von seinen Lippen. -- Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle, +wo sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen geübten Blick. +Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er +sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden +... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn er am Ende fürchtet, +sie sei verletzt ... wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie +muß weiter weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, was dann? +Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland +mit Leuten ... er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich +fortgegangen bin -- und Franz wird ahnen. Franz wird wissen ... er kennt +sie ja so gut ... er wird wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein +gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um +sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... und es wird ihn so tief +erschüttern, daß sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, daß +er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... feig +und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Ärzte, Sie hätten sie +gewiß nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht +hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, o ja -- nur hätte +sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht +gewesen ist, sag ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah! + +»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht. + +»Was ... wie?... Was ist?« + +»Ja, was ist dir denn?« + +»Nichts.« Sie drückt den Jungen fester an sich. + +Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß du begonnen hast, +einzuschlummern und --« + +»Und?« + +»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.« + +»... So?« + +»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken hat. Hast du geträumt?« + +»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.« + +Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das +lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes +ist, und doch schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr wird, +sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: dieses Lächeln wird, +solange sie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien. +Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie +sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das +Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken +sich in die ihren. Sie weiß: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht, +so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat +ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit +ihnen anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, sonst ist es +vorbei, und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten, +die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter +und zärtlich an. + +Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirn fühlt, denkt +sie: freilich ... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich +nie rächen, nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und die +Toten schweigen. + +»Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie +erschrickt tief. »Was hab ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie +plötzlich alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze Geschichte +dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... und noch einmal fragt sie, +während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab ich +denn gesagt?« + +»Die Toten schweigen,« wiederholt ihr Mann sehr langsam. + +»Ja ...« sagt sie, »ja ...« + +Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann, +und lange sehn die beiden einander an. »Bring den Buben zu Bett,« sagt +er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen ...« + +»Ja,« sagt sie. + +Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im +nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird. + +Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer +die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe +über sie, als würde vieles wieder gut ................ + + + + +Die Weissagung + + +1 + +Unweit von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im Walde wie versunken und von +der Landstraße aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des +Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit zehn Jahren als Arzt in +Meran lebt und dem ich im Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit +dem Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals fünfzig Jahre alt und +dilettierte in mancherlei Künsten. Er komponierte ein wenig, war tüchtig +auf Violine und Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten +aber hatte er in früherer Zeit die Schauspielerei getrieben. Wie es +hieß, war er als ganz junger Mensch unter angenommenem Namen ein paar +Jahre lang auf kleinen Bühnen draußen im Reiche umhergezogen. Ob nun der +dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende Begabung oder mangelndes +Glück der Anlaß war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn früh +genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche Verspätung in den Staatsdienst +treten zu können und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den er +dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn auch ohne Begeisterung +erfüllte. Aber als er, kaum über vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode +des Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit welcher Liebe +er an dem Gegenstand seiner jugendlichen Träume noch immer hing. Er ließ +die Villa auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen und +versammelte dort, insbesondere zur Sommers- und Herbstzeit, einen +allmählich immer größer werdenden Kreis von Herren und Damen, die +allerlei leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder vorführten. +Seine Frau, aus einer alten Tiroler Bürgerfamilie, ohne wirkliche +Anteilnahme an künstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten mit +kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah seiner Liebhaberei mit +einigem Spotte zu, der sich aber um so gutmütiger anließ, als das +Interesse des Freiherrn ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam. +Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte strengen +Beurteilern nicht gewählt genug erscheinen, aber auch Gäste, die sonst +nach Geburt und Erziehung zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen +keinerlei Anstoß an der zwanglosen Zusammensetzung eines Kreises, die +durch die dort geübte Kunst genügend gerechtfertigt schien und von dem +überdies der Name und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht +freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen anderen, deren ich +mich nicht mehr entsinne, begegnete ich auf dem Schlosse einem jungen +Grafen von der Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier +aus Riva, einem Generalstabshauptmann mit Frau und Tochter, einer +Operettensängerin aus Berlin, einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei +Söhnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von seiner Weltreise +zurückgekommen war, einem pensionierten Hofschauspieler aus Bückeburg, +einer verwitweten Gräfin Saima, die als junges Mädchen Schauspielerin +gewesen war, mit ihrer Tochter, und dem dänischen Maler Petersen. + +Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten Gäste. Einige nahmen in +Bozen Quartier, andere in einem bescheidenen Gasthof, der unten an der +Wegscheide lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute abzweigte. Aber +meist in den ersten Nachmittagsstunden war der ganze Kreis oben +versammelt, und dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen +Hofschauspielers, zuweilen unter der des Freiherrn, der selbst niemals +mitwirkte, bis in die späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs +unter Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer größerem Ernste, +bis der Tag der Vorstellung herannahte, und je nach Witterung, Laune, +Vorbereitung, möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung, +entweder auf dem an den Wald grenzenden Wiesenplatz hinter dem +Schloßgärtchen oder in dem ebenerdigen Saal mit den drei großen +Bogenfenstern die Aufführung stattfand. + +Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte ich keinen anderen +Vorsatz, als an einem neuen Ort unter neuen Menschen einen heiteren Tag +zu verbringen. Aber wie das so kommt, wenn man ohne Ziel und in +vollkommener Freiheit umherstreift, und überdies bei allmählich +schwindender Jugend keinerlei Beziehungen bestehen, die lebhafter in die +Heimat zurückrufen, ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem Bleiben +bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei, drei und mehr, und so, zu meiner +eignen Verwunderung wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem +Schlößchen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr wohnlich +ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins Tal eingeräumt war. Dieser erste +Aufenthalt auf dem Guntschnaberg wird für mich stets eine angenehme und, +trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich herum, sehr stille +Erinnerung bleiben, da ich mit keinem der Gäste anders als flüchtig +verkehrte und überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nachdenken und +Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen Waldspaziergängen +verbrachte. Auch der Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal +eines meiner kleinen Stücke darstellen ließ, störte die Ruhe meines +Aufenthaltes nicht, da niemand von meiner Eigenschaft als Verfasser +Notiz nahm. Vielmehr bedeutete mir dieser Abend ein höchst anmutiges +Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf grünem Rasen, unter freiem Himmel +ein bescheidener Traum meiner Jugendjahre so spät als unerwartet in +Erfüllung ging. + +Die lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich nach, der Urlaub der +Herren, die in einem Berufe standen, war großenteils abgelaufen, und nur +manchmal kam Besuch von Freunden, die in der Nähe ansässig waren. Erst +jetzt gewann ich selbst zu dem Freiherrn ein näheres Verhältnis und fand +bei ihm zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als sie +Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte sich keineswegs +darüber, daß das, was auf seinem Schlosse getrieben wurde, nichts +anderes war, als eine höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm +im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in eine dauernde und +ernsthafte Beziehung zu seiner geliebten Kunst zu treten, so ließ er +sich an dem Schimmer genügen, der wie aus entlegenen Fernen über das +harmlose Theaterwesen im Schlosse geglänzt kam, und freute sich +überdies, daß hier von mancher Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch +überall mit sich bringt, kein Hauch zu spüren war. + +Auf einem unserer Spaziergänge sprach er ohne jede Zudringlichkeit den +Einfall aus, einmal auf seiner Bühne im Freien ein Stück dargestellt zu +sehen, das schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und auf die +natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese Bemerkung kam einem Plan, den +ich seit einiger Zeit in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem +Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen. + +Bald darauf verließ ich das Schloß. + +In den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon sandte ich mit +freundlichen Worten der Erinnerung an die schönen Tage des vergangenen +Herbstes dem Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen der Gelegenheit +wohl entsprechen mochte. Bald darauf traf die Antwort ein, die den Dank +des Freiherrn und eine herzliche Einladung für den kommenden Herbst +enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, und in den ersten +Septembertagen bei einbrechender kühler Witterung reiste ich an den +Gardasee, ohne daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des Freiherrn +von Schottenegg recht nahe war. Ja mir ist heute, als hätte ich zu +dieser Zeit das kleine Schloß und alles dortige Treiben völlig vergessen +gehabt. Da erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben des +Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes Erstaunen aus, daß ich +nichts von mir hören ließe, und enthielt die Mitteilung, daß am 9. +September die Aufführung des kleinen Stückes stattfände, das ich ihm im +Frühling übersandt hatte und bei der ich keineswegs fehlen dürfte. +Besonderes Vergnügen versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in +dem Stück beschäftigt waren und die es sich jetzt schon nicht nehmen +ließen, auch außerhalb der Probezeit in ihren zierlichen Kostümen +umherzulaufen und auf dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle -- so schrieb +er weiter -- sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten an seinen Neffen, +Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, der -- wie ich mich gewiß noch +erinnere -- im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern mitgewirkt +habe, der aber nun auch als Schauspieler ein überraschendes Talent +erweise. + +Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am Tage der Vorstellung im +Schlosse an, wo mich der Freiherr und seine Frau freundlich empfingen. +Auch andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den pensionierten +Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit Tochter, Herrn von Umprecht und +seine schöne Frau; sowie die vierzehnjährige Tochter des Försters, die +zu meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den Nachmittag wurde +große Gesellschaft erwartet und abends bei der Vorstellung sollten mehr +als hundert Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste des +Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend ringsum, denen heute, wie +schon öfter, der Zugang zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war +diesmal auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern einer +Bozener Kapelle und einigen Dilettanten bestehend, die eine Ouvertüre +von Weber und überdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren sollten, welch +letztere der Freiherr selbst komponiert hatte. + +Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht schien mir etwas +stiller als die anderen. Anfangs hatte ich mich seiner kaum entsinnen +können, und es fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal mit +Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je das Wort an mich zu +richten. Allmählich wurde mir der Ausdruck seines Gesichtes bekannter, +und plötzlich erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der +lebenden Bilder mit aufgestützten Armen in Mönchstracht vor einem +Schachbrett gesessen war. Ich fragte ihn, ob ich mich nicht irrte. Er +wurde beinahe verlegen, als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete +für ihn und machte dann eine lächelnde Bemerkung über das neuentdeckte +schauspielerische Talent seines Neffen. Da lachte Herr von Umprecht in +einer ziemlich sonderbaren Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen +Blick zu mir herüber, der eine Art von Einverständnis zwischen uns +beiden auszudrücken schien und den ich mir durchaus nicht erklären +konnte. Aber von diesem Augenblick an vermied er es wieder, mich +anzusehen. + + +2 + +Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Da stand +ich wieder am offenen Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan, +und freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das sonnenglänzende +Tal, das, eng zu meinen Füßen, allmählich sich dehnte und in der Ferne +sich völlig aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen. + +Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von Umprecht trat ein, blieb an +der Tür stehen und sagte mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um +Verzeihung, wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr fort: »Aber +sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör geschenkt haben, davon bin ich +überzeugt, werden Sie meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.« + +Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er achtete nicht darauf, +sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten +Art Ihr Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, Ihnen zu +danken.« + +Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, als daß sich diese +Worte des Herrn von Umprecht auf seine Rolle bezögen und sie mir +allzuhöflich schienen, so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht +unterbrach mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie meine Worte +gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich anzuhören?« Er setzte sich auf +das Fensterbrett, kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit +so ruhig als möglich scheinend, begann er: »Ich bin jetzt Gutsbesitzer, +wie Sie vielleicht wissen, bin aber früher Offizier gewesen. Und zu +jener Zeit, vor zehn Jahren -- _heute_ vor zehn Jahren -- begegnete mir +das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten ich gewissermaßen +bis heute gelebt habe und das heute durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun +seinen Abschluß findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein +dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich so wenig werden +aufklären können wie ich; aber Sie sollen wenigstens von seinem +Vorhandensein erfahren. -- Mein Regiment lag damals in einem öden +polnischen Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem Dienst, der nicht +immer anstrengend genug war, nur Trunk und Spiel. Überdies hatte man die +Möglichkeit vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und nicht +alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser trostlosen Aussicht mit +Fassung zu tragen. Einer meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat +unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer Kamerad, früher der +liebenswürdigste Offizier, fing plötzlich an, ein arger Trinker zu +werden, wurde unmanierlich, aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig und +hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten, der ihn seine Charge +kostete. Der Hauptmann meiner Kompanie war verheiratet und, ich weiß +nicht, ob mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau eines +Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb rätselhafterweise heil und +gesund; der Mann starb im Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin +ein sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete sich plötzlich +ein, Philosophie zu verstehen, studierte Kant und Hegel und lernte ganze +Partien aus deren Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich +anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und zwar in einer so +ungeheuerlichen Weise, daß ich an manchen Nachmittagen, wenn ich auf +meinem Bette lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne lag +außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig verstreuten Hütten +bestand; die nächste Stadt, eine gute Reitstunde entfernt, war +schmierig, widerwärtig, stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten +wir manchmal mit ihnen zu tun -- der Hotelier war ein Jude, der Cafetier, +der Schuster desgleichen. Daß wir uns möglichst beleidigend gegen sie +benahmen, das können Sie sich denken. Wir waren besonders gereizt gegen +dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem Regiment als Major zugeteilt +war, den Gruß der Juden -- ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß ich +nicht -- mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte und überdies mit +auffallender Absichtlichkeit unseren Regimentsarzt protegierte, der ganz +offenbar von Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich nicht +erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen +Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die +Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen berufen war. Es war ein +Taschenspieler, und zwar der Sohn eines Branntweinjuden aus dem +benachbarten polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in ein +Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen und hatte einmal irgend +jemandem einige Kartenkunststücke abgelernt. Er bildete sich auf eigene +Faust weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien an und +brachte es allmählich so weit, daß er in der Welt umherziehen und sich +auf Varietébühnen oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im +Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die Eltern zu besuchen. Dort +trat er nie öffentlich auf, und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo +er mir durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er war ein +kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals etwa dreißig Jahre alt +sein mochte, mit einer vollkommen lächerlichen Eleganz gekleidet, die +zur Jahreszeit gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen Gehrock +und mit gebügeltem Zylinder herum und trug Westen vom herrlichsten +Brokat; bei starkem Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der +Nase. + +Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn nach dem Abendessen im +Kasino an unserem langen Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle +Nacht, und die Fenster standen offen. Einige Kameraden hatten zu spielen +begonnen, andere lehnten am Fenster und plauderten, wieder andere +tranken und rauchten schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und +meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren zuerst einigermaßen +erstaunt. Aber ohne weiteres abzuwarten, trat der Gemeldete in guter +Haltung ein und sprach in leichtem Jargon einige einleitende Worte, mit +denen er sich für die an ihn ergangene Einladung bedankte. Er wandte +sich dabei an den Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm -- natürlich +ausschließlich, um uns zu ärgern -- die Hand schüttelte. Der +Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich hin und bemerkte dann, er +werde zuerst einige Kartenkunststücke zeigen, um sich hierauf im +Magnetismus und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte kaum zu Ende +gesprochen, als einige unserer Herren, die in einer Ecke beim +Kartenspiel saßen, merkten, daß ihnen die Figuren fehlten: auf einen +Wink des Zauberers kamen sie aber durch das geöffnete Fenster +hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen ließ, unterhielten +uns sehr und übertrafen so ziemlich alles, was ich auf diesem Gebiete +gesehen hatte. Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen +Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne Grauen sahen wir alle +zu, wie der philosophische Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des +Zauberers gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die glatte +Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben knapp am Rand um das ganze +Viereck herumeilte und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er +wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, sagte der Oberst +zu dem Zauberer: »Sie, wenn er sich den Hals gebrochen hätte, ich +versichere Sie, Sie wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.« Nie +werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, mit dem der Jude diese +Bemerkung wortlos erwiderte. Dann sagte er langsam: »Soll ich Ihnen aus +der Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig diese Kaserne +verlassen werden?« Ich weiß nicht, was der Oberst oder wir anderen ihm +auf diese verwegene Bemerkung sonst entgegnet hätten -- aber die +allgemeine Stimmung war schon so wirr und erregt, daß sich keiner +wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler die Hand hinreichte und, +dessen Jargon nachahmend, sagte: »Nu, lesen Sie.« Dies alles ging im Hof +vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend mit ausgestreckten +Armen wie ein Gekreuzigter an der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des +Obersten ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. »Siehst du +genug, Jud?« fragte ein Oberleutnant, der ziemlich betrunken war. Der +Gefragte sah sich flüchtig um und sagte ernst: »Mein Künstlername ist +Marco Polo.« Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter und +sagte: »Mein Freund Marco Polo hat scharfe Augen.« -- »Nun, was sehen +Sie?« fragte der Oberst höflicher. »Muß ich reden?« fragte Marco Polo. +»Wir können Sie nicht zwingen,« sagte der Prinz. »Reden Sie!« rief der +Oberst. »Ich möcht lieber nicht reden,« erwiderte Marco Polo. Der Oberst +lachte laut. »Nur heraus, es wird nicht so arg sein. Und wenn es arg +ist, muß es auch noch nicht wahr sein.« -- »Es ist sehr arg,« sagte der +Zauberer, »und wahr ist es auch.« Alle schwiegen. »Nun?« fragte der +Oberst. »Von Kälte werden Sie nichts mehr zu leiden haben,« erwiderte +Marco Polo. »Wie?« rief der Oberst aus, »kommt unser Regiment also +endlich nach Riva?« -- »Vom Regiment les' ich nichts, Herr Oberst. Ich +seh nur, daß sie im Herbst sein werden ein toter Mann.« Der Oberst +lachte, aber alle anderen schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war, +als ob der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden wäre. Plötzlich +lachte irgendeiner absichtlich sehr laut, andere taten ihm nach, und +lärmend und lustig ging es zurück ins Kasino. »Nun,« rief der Oberst, +»mit mir wär's in Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?« +Einer rief wie zum Scherz: »Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.« Ein +anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal +vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte, +und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo +auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren +Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: »Wo fängt das +Wunder an?« Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum +Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte. +»Prophezeien Sie mir.« Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann +sagte er: »Hier sieht man schlecht.« Ich merkte, daß die Öllampen zu +flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern +schienen. »Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber +bei Mondschein.« Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die +offene Tür ins Freie. + +Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. »Hören Sie, Marco Polo,« +sagte ich, »wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an +unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir's lieber.« Ohne +weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. »Der Herr +Leutnant haben Angst.« Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört +hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und +befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. »Ich wünsche +etwas Bestimmteres zu wissen,« sagte ich, »das ist es. Worte lassen sich +immer in verschiedener Weise auslegen.« Marco Polo sah mich an. »Was +wünschen der Herr Leutnant?... Vielleicht das Bild von der künftigen +Frau Gemahlin?« -- »Könnten Sie das?« Marco Polo zuckte die Achseln. »Es +könnte sein ... es wär möglich ...« -- »Aber das will ich nicht,« +unterbrach ich ihn. »Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel +in zehn Jahren, mit mir los sein wird.« Marco Polo schüttelte den Kopf. +»Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.« -- +»Was?« -- »Irgendeinen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen +Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.« Ich verstand ihn nicht +gleich. »Wie meinen Sie das?« -- »So mein ich das: ich kann einen Moment +aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die +Gegend, wo wir gerade stehen.« -- »Wie?« -- »Der Herr Leutnant müssen mir +nur sagen, was für einen.« Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war +höchst gespannt. »Gut,« sagte ich, »wenn Sie das können, so will ich +sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen +wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?« -- »Gewiß, Herr Leutnant,« +sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber +auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen +sehen -- fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und +mondbeglänzt gelegen waren -- und ich sah mich selbst, wie man sich +manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit +einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre +hingestreckt, mitten auf einer Wiese -- an meiner Seite kniend eine +schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und +ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute +mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen -- nicht wahr, Sie staunen?« + +Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier schilderte, war genau +das Bild, mit welchem mein Stück heute abend um zehn Uhr schließen und +in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr +Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu +nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.« + +Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes +Kuwert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las +laut: »Notariell verschlossen am 14. Januar 1859, zu eröffnen am 9. +September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich +wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien. + +»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn +Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das +sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu +Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten +die Erfüllungsmöglichkeiten für jene Prophezeiung in der seltsamsten +Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit zu werden, +verschwanden in nichts, wurden zu unerbittlicher Gewißheit, +verflatterten, kamen wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem +Berichte zurückkommen. Die Erscheinung selbst hatte gewiß nicht länger +gedauert als einen Augenblick; denn noch klang von der Kaserne her das +gleiche laute Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich gehört +hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. Und nun stand auch Marco +Polo wieder vor mir, mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht +sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, nahm den +Zylinder ab, sagte: »Guten Abend, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie sind +zufrieden gewesen,« wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße +vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens am nächsten Tage +abgereist. + +Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder zuging, war, daß es sich +um eine Geistererscheinung gehandelt haben mußte, die Marco Polo, +vielleicht von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittels +irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande gewesen war. Als ich +durch den Hof kam, sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer +in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer lehnen. Man hatte seiner +offenbar vollkommen vergessen. Die anderen hörte ich drin in der +höchsten Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten beim Arm, +er wachte sofort auf, war nicht im geringsten verwundert und konnte sich +nur die Erregung nicht erklären, in welcher sich alle Herren des +Regiments befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer Art von +Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, die sich über die +Seltsamkeiten, deren Zeugen wir gewesen, entwickelt hatte, und redete +wohl nicht klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: »Nun, +meine Herren, ich wette, daß ich noch das nächste Frühjahr erlebe! +Fünfundvierzig zu eins!« Und er wandte sich zu einem unserer Herren, +einem Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler und Wetter +genoß. »Nichts zu machen?« Obzwar es klar war, daß der Angeredete der +Versuchung schwer widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden, +eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem selbst abzuschließen, +und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich hat er es bedauert. Denn +schon nach vierzehn Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver, +stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb auf der Stelle tot. Und bei +dieser Gelegenheit merkten wir alle, daß wir es gar nicht anders +erwartet hatten. Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen +Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, von der ich in einer +sonderbaren Scheu niemandem Mitteilung gemacht hatte. Erst zu +Weihnachten, anläßlich einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich mich +einem Kameraden, einem gewissen Friedrich von Gulant -- Sie haben +vielleicht von ihm gehört, er hat hübsche Verse gemacht und ist sehr +jung gestorben ... Nun, der war es, der mit mir zusammen das Schema +entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen finden werden. Er war +nämlich der Ansicht, daß solche Vorfälle für die Wissenschaft nicht +verloren gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen als +wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm bin ich bei Doktor Artiner +gewesen, vor dessen Augen das Schema in diesem Kuwert verschlossen +wurde. In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, und gestern +erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir zugestellt worden. Ich will es +gestehen: der Ernst, mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich +anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht mehr sah und +besonders, als er kurz darauf starb, fing die ganze Geschichte an, mir +sehr lächerlich vorzukommen. Vor allem war es mir klar, daß ich mein +Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in der Welt konnte mich +dazu zwingen, am 9. September 1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen +Vollbart auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft konnte +ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine Frau mit roten Haaren zu +heiraten und Kinder zu bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht +ausweichen konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von dem mir die Narbe +auf der Stirn zurückbleiben konnte. Ich war also fürs erste beruhigt. -- +Ein Jahr nach jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, meine +jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den Dienst und widmete mich +der Landwirtschaft. Ich besichtigte verschiedene kleinere Güter und -- so +komisch es klingen mag -- ich achtete darauf, daß sich womöglich +innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die dem Rasenplatz +jenes Traumes (wie ich den Inhalt jener Erscheinung bei mir zu nennen +liebte) gleichen könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen, +als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch eine Besitzung in +Kärnten mit einer schönen Jagd zufiel. Beim ersten Durchwandern des +neuen Gebietes gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald +begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art der Örtlichkeit +zu gleichen schien, vor der mich zu hüten ich vielleicht allen Anlaß +hatte. Ich erschrak ein wenig. Meiner Frau hatte ich von der +Prophezeiung nichts erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit +meinem Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen Tage« -- er +lächelte wie befreit -- »vergiftet hätte. So konnte ich ihr natürlich +auch meine Bedenken nicht mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit +der Überlegung, daß ich ja keineswegs den September 1868 auf meinem Gute +zubringen müßte. -- Im Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in +seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen Zügen Ähnlichkeit mit +den Zügen des Knaben aus dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich +zu verwischen, bald wieder sprach sie sich deutlicher aus -- und heute +darf ich mir ja selbst gestehen, daß der Knabe, der heute abends um zehn +an meiner Bahre stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar +gleicht. -- Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete es sich vor drei +Jahren, daß die verwitwete Schwester meiner Frau, die bisher in Amerika +gelebt hatte, starb und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner +Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, um es bei uns im +Hause aufzunehmen. Als ich es zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu +merken, daß es dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. Der Gedanke +fuhr mir durch den Kopf, das Kind in dem fremden Lande bei fremden +Leuten zu lassen. Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich +wieder von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause auf. Wieder +beruhigte ich mich vollkommen, trotz der zunehmenden Ähnlichkeit der +Kinder mit den Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich bildete +mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter des Traumes mich doch +vielleicht trügen mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener +Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgehört, an jenen sonderbaren Abend in +dem polnischen Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine neue +Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise erschüttert wurde. Ich +hatte auf ein paar Monate verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir +meine Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit mit der Frau +des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht gesehen hatte, schien mir +vollständig. Ich fand es für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck +des Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer heftiger, denn +plötzlich kam mir ein an Wahnsinn grenzender Einfall: wenn ich mich von +meiner Frau und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr +schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren gehalten. Meine Frau +weinte, sank wie gebrochen zu Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte +mir den Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich einer Reise +nach München, war ich in der Kunstausstellung von dem Bildnis einer +rothaarigen Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau hatte schon +damals den Plan gefaßt, sich bei irgendeiner Gelegenheit diesem Bildnis +dadurch ähnlich zu machen, daß sie sich die Haare färben ließ. Ich +beschwor sie natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche dunkle +Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen war, schien alles wieder +gut zu sein. Sah ich nicht deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor +in meiner Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen, auf +natürliche Weise zu erklären?... Hatten nicht tausend andere Güter mit +Wiesen und Wald und Frau und Kinder?... Und das einzige, was vielleicht +Abergläubische schrecken durfte, stand noch aus -- bis zum heurigen +Winter: die Narbe, die Sie nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich +bin nicht mutlos -- erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das sage; ich habe +mich als Offizier zweimal geschlagen und unter recht gefährlichen +Bedingungen -- auch vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als +ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im vorigen Jahre aus +irgendeinem lächerlichen Grund -- wegen eines nicht ganz höflichen Grußes +-- von einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es vorgezogen« -- +Herr von Umprecht errötete leicht -- »mich zu entschuldigen. Die Sache +wurde natürlich in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch +ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen hätte, wäre nicht +plötzlich eine wahnwitzige Angst über mich gekommen, daß mein Gegner mir +eine Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal damit einen neuen +Trumpf in die Hand spielen könnte ... Aber Sie sehen, es half mir +nichts: die Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier verwundet +wurde, war vielleicht derjenige innerhalb der ganzen zehn Jahre, der +mich am tiefsten zum Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war +heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder drei anderen +Personen, die mir vollkommen unbekannt waren, in der Eisenbahn zwischen +Klagenfurt und Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich +fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, daß etwas Hartes zu +Boden fällt; ich greife zuerst nach der schmerzenden Stelle -- sie +blutet; dann bücke ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom +Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. »Ist was geschehen?« +ruft einer. Man merkt, daß ich blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr +aber -- ich seh es ganz deutlich -- ist in die Ecke wie zurückgesunken. In +der nächsten Haltestelle bringt man Wasser, der Bahnarzt legt mir einen +notdürftigen Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich an +der Wunde sterben könnte: ich weiß ja, daß es eine Narbe werden muß. Ein +Gespräch im Waggon hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat +beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen Bubenstreich handle; der +Herr in der Ecke schweigt und starrt vor sich hin. In Villach steige ich +aus. Plötzlich ist der Mann an meiner Seite und sagt: »Es galt mir.« Eh +ich antworten, ja nur mich besinnen kann, ist er verschwunden; ich habe +nie erfahren können, wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht +... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt glaubte von +einem beleidigten Gatten oder Bruder, und den ich möglicherweise +gerettet habe, da eben mir die Narbe bestimmt war ... wer kann es +wissen?... Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn an +derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume gesehen hatte. Und mir ward +es immer klarer, daß ich mit irgendeiner unbekannten höhnischen Macht in +einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich sah dem Tag, wo das letzte +in Erfüllung gehen sollte, mit wachsender Unruhe entgegen. + +Im Frühling erhielten wir die Einladung meines Onkels. Ich war fest +entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn ohne daß mir ein deutliches Bild +in Erinnerung gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß gerade auf +seinem Gut hier die verruchte Stelle zu finden wäre. Meine Frau hätte +aber eine Ablehnung nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch, +mit ihr und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in der bestimmten +Absicht, sobald als möglich das Schloß wieder zu verlassen und weiter in +den Süden, nach Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der ersten +Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch auf Ihr Stück, mein Onkel +sprach von den kleinen Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat +mich, meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Es +war damals bestimmt, daß der Held von einem Berufsschauspieler +dargestellt werden sollte. Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß +ich gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. So erklärte +ich denn eines Abends, daß ich am nächsten Tage das Schloß auf einige +Zeit zu verlassen und Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte +versprechen, Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben Abend kam +ein Brief des Schauspielers, der aus irgendwelchen gleichgültigen +Gründen dem Freiherrn seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr +ärgerlich. Er bat mich, das Stück zu lesen -- vielleicht könnte ich ihm +unter unseren Bekannten einen nennen, der geeignet wäre, die Rolle +darzustellen. So nahm ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es. +Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir vorging, als ich zu dem +Schlusse kam und hier Wort für Wort die Situation aufgezeichnet fand, +die mir für den 9. September dieses Jahres prophezeit worden war. Ich +konnte den Morgen nicht erwarten, um meinem Onkel zu sagen, daß ich die +Rolle spielen wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen könnte; +denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir vor wie in sicherer Hut, +und wenn mir die Möglichkeit entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war +ich wieder jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel war gleich +einverstanden, und von nun an nahm alles seinen einfachen und guten +Gang. Wir probieren seit einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die +Situation, die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal +durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge Komtesse Saima mit +ihren schönen roten Haaren, die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir, +und die Kinder stehen an meiner Seite.« + +Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, fielen meine Augen wieder +auf das Kuwert, das noch immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von +Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich Ihnen noch schuldig,« +sagte er und öffnete die Siegel. Ein zusammengefaltetes Papier lag +zutage. Umprecht entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor +mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener Situationsplan +zu der Schlußszene des Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch +aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« versehen; ein Strich mit +einer männlichen Figur war etwa in der Mitte des Planes eingetragen, +darüber stand: »Bahre« ... Bei den anderen schematischen Figuren stand +in kleinen Buchstaben mit roter Tinte zugeschrieben: »Frau mit rotem +Haar«, »Knabe«, »Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen Händen«. +Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: »Was bedeutet das: 'Mann mit +erhobenen Händen?'« + +»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, »hätt ich nun beinahe +vergessen. Mit dieser Figur verhält es sich folgendermaßen: In jener +Erscheinung gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, einen +alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer Brille, einen +dunkelgrünen Schal um den Hals, mit erhobenen Händen und weit +aufgerissenen Augen.« + +Diesmal stutzte ich. + +Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam beunruhigt: »Was +vermuten Sie eigentlich? Wer sollte das sein?« + +»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß irgendeiner von den +Zuschauern, vielleicht aus der Dienerschaft des Onkels ... oder einer +von den Bauern am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten und +auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber will es das +Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener durch einen jener +Zufälle, die mich wirklich nicht mehr überraschen, gerade in dem +Augenblick, wo ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.« + +Ich schüttelte den Kopf. + +»Wie sagten Sie?... Kahl -- Brille -- ein grüner Schal?... -- Nun +erscheint mir die Sache noch seltsamer als früher. Die Gestalt des +Mannes, den Sie damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem Stück +beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. Es war der +wahnsinnige Vater der Frau, von dem im ersten Akt die Rede ist, und der +zum Schluß auf die Szene stürmen sollte.« + +»Aber Schal und Brille?« + +»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem getan -- glauben Sie nicht?« + +»Es ist möglich.« + +Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht ließ ihren Gatten zu sich +bitten, da sie ihn gerne vor der Vorstellung sprechen möchte, und er +empfahl sich. Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam den +Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem Tisch hatte liegen lassen. + + +3 + +Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die Vorstellung stattfinden +sollte. Er lag hinter dem Schlößchen, durch eine anmutige Gartenanlage +davon geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken abschloß, waren +etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem Holz aufgestellt; die vorderen +Reihen waren mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten +standen einige Notenpulte und Stühle; einen Vorhang gab es nicht. Die +Trennung der Bühne von dem Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende +hohe Tannenbäume angedeutet; rechts schloß sich wildes Gesträuch an, +hinter dem ein bequemer Lehnstuhl, dem Zuschauer unsichtbar, für den +Souffleur bestimmt, stand. Zur Linken lag der Platz frei und ließ den +Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war von hohen Bäumen +gebildet; sie standen dicht aneinandergedrängt nur in der Mitte, und +links schlichen schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin im +Wald, innerhalb einer kleinen künstlichen Lichtung, waren Tisch und +Stühle aufgestellt, wo die Schauspieler ihrer Stichworte harren mochten. +Für die Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der Bühne und des +Zuschauerraumes kulissenartig hohe alte Kirchenleuchter mit riesigen +Kerzen aufgerichtet hatte. Hinter dem Gesträuch zur Rechten war eine Art +Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst anderem kleinern Gerät, das +im Stück notwendig war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht am +Schlusse des Stückes sterben sollte. -- Als ich jetzt über die Wiese +schritt, war sie von der Abendsonne mild überglänzt ... Ich hatte +natürlich über die Erzählung des Herrn von Umprecht nachgedacht. Nicht +für unmöglich hielt ich es anfangs, daß Herr von Umprecht zu der Art von +phantastischen Lügnern gehörte, die eine Mystifikation unter +Schwierigkeiten von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu +machen. Ich hielt es selbst für denkbar, daß die Unterschrift des Notars +gefälscht war und daß Herr von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um +die Sache folgerecht durchzuführen. Besondere Bedenken stiegen mir über +den vorläufig unbekannten Mann mit den erhobenen Händen auf, mit dem +sich Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben konnte. Aber meinen +Zweifeln widersprach vor allem die Rolle, die dieser Mann in meinem +ersten Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte -- und besonders +der günstige Eindruck, den ich von der Person des Herrn von Umprecht +gewonnen hatte. Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer +Bericht mir erschien -- irgend etwas in mir verlangte sogar danach, ihm +glauben zu dürfen; es mochte die törichte Eitelkeit sein, mich als +Vollstrecker eines über uns waltenden Willens zu empfinden. -- Indes +hatte einige Bewegung in meiner Nähe angehoben; Diener kamen aus dem +Schloß, Kerzen wurden angezündet, Leute aus der Umgebung, manche auch in +bäurischer Kleidung, stiegen langsam den Hügel herauf und stellten sich +bescheiden zu seiten der Bänke auf. Bald erschien die Frau des Hauses +mit einigen Herren und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte +mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom vorigen Jahr. Die +Mitglieder des Orchesters waren erschienen und begaben sich auf ihre +Plätze; die Zusammenstellung war ungewöhnlich genug; es waren zwei +Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontrabaß, eine Flöte und eine +Oboe. Sie begannen sofort, offenbar verfrüht, eine Ouvertüre von Weber +zu spielen. Ganz vorne, in der Nähe des Orchesters, stand ein alter +Bauer, der glatzköpfig war und eine Art von dunklem Tuch um den Hals +geschlungen hatte. Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht +ich, später eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu werden und auf die +Szene zu laufen. Das Tageslicht war völlig dahin, die hohen Kerzen +flackerten ein wenig, da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter +dem Gesträuch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen waren die +Mitwirkenden in die Nähe der Bühne gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder +an die anderen, die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, daß ich +noch niemanden außer Herrn von Umprecht, seinen Kindern und der +Försterstochter gesehen hatte. Nun hörte ich die laute Stimme des +Regisseurs und das Lachen der jungen Komtessa Saima. Die Bänke waren +alle besetzt, der Freiherr saß in einer der vordersten Reihen und sprach +mit der Gräfin Saima. Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die +Försterstochter vor und sprach den Prolog, der das Stück einleitete. Den +Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal eines Mannes, der, ergriffen von +einer plötzlichen Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen ohne +Abschied verläßt und im Verlaufe eines Tages so viel Schmerzliches und +Widriges erlebt, daß er wieder zurückzukehren gedenkt, ehe Frau und +Kinder ihn vermißt haben; aber ein letztes Abenteuer auf dem Rückweg, +nahe der Tür seines Hauses, hat seine Ermordung zur Folge, und nur mehr +sterbend kann er die Verlassenen begrüßen, die seiner Flucht und seinem +Tod als den unlösbarsten Rätseln gegenüberstehen. + +Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen sprachen ihre Rollen +angenehm; ich erfreute mich an der einfachen Darstellung der einfachen +Vorgänge und dachte im Anfang nicht mehr an die Erzählung des Herrn von +Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte das Orchester wieder, aber +niemand hörte darauf, so lebhaft war das Geplauder auf den Bänken. Ich +selbst saß nicht, sondern stand, ungesehen von den anderen, der Bühne +ziemlich nahe, auf der linken Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu +senkte. Der zweite Akt begann; der Wind war etwas stärker geworden, und +die flackernde Beleuchtung trug zu der Wirkung des Stückes nicht wenig +bei. Wieder verschwanden die Darsteller im Wald, und das Orchester +setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zufällig auf den Flötisten, der eine +Brille trug und glatt rasiert war; aber er hatte lange weiße Haare, und +von einem Schal war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schloß, die +Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte ich, daß der +Flötenspieler, der sein Instrument vor sich hin auf das Pult gelegt +hatte, in seine Tasche griff, einen großen grünen Schal hervorzog und +ihn um den Hals wickelte. Ich war im allerhöchsten Grade befremdet. In +der nächsten Sekunde trat Herr von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick +plötzlich auf dem Flötisten haften blieb, wie er den grünen Schal +bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte er sich wieder +gefaßt und sprach seine Rolle unbeirrt weiter. Ich fragte einen jungen, +einfach gekleideten Burschen neben mir, ob er den Flötisten kenne, und +erfuhr von ihm, daß jener ein Schullehrer aus Kaltern war. Das Spiel +ging weiter, der Schluß nahte heran. Die zwei Kinder irrten, wie es +vorgeschrieben war, über die Bühne, Lärm im Walde drang näher und näher, +man hörte schreien und rufen; es machte sich nicht übel, daß der Wind +stärker wurde und die Zweige sich bewegten; endlich trug man Herrn von +Umprecht als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein. Die beiden +Kinder stürzten herbei, die Fackelträger standen regungslos zur Seite. +Die Frau trat später auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem +Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder; dieser will die +Lippen noch einmal öffnen, versucht, sich zu erheben, aber -- wie es in +der Rolle vorgeschrieben -- es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt mit einem +Mal ein ungeheurer Windstoß, daß die Fackeln zu verlöschen drohen; ich +sehe, wie einer im Orchester aufspringt -- es ist der Flötenspieler -- zu +meinem Erstaunen ist er kahl, seine Perücke ist ihm davongeflogen; mit +erhobenen Händen, den grünen flatternden Schal um den Hals, stürzt er +der Bühne zu. Unwillkürlich richte ich mein Auge auf Umprecht; seine +Blicke sind starr, wie verzückt auf den Mann gerichtet; er will etwas +reden -- er vermag es offenbar nicht -- er sinkt zurück ... Noch meinen +viele, daß dies alles zum Stücke gehöre; ich selbst bin nicht sicher, +wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist; indes ist der Mann an der +Bahre vorüber, immer noch seiner Perücke nach, und verschwindet im Wald. +Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windstoß läßt eine der beiden +Fackeln verlöschen; einige Menschen ganz vorne werden unruhig -- ich höre +die Stimme des Freiherrn: »Ruhe! Ruhe!« -- es wird wieder stille -- auch +der Wind regt sich nicht mehr ... aber Umprecht bleibt ausgestreckt +liegen, rührt sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse Saima +schreit auf -- natürlich glauben die Leute, auch dies sei im Stück so +vorgeschrieben. Ich aber dränge mich durch die Menschen, stürze auf die +Bühne, höre, wie es hinter mir unruhig wird -- die Leute erheben sich, +andere folgen mir, die Bahre ist umringt ... »Was gibt's, was ist +geschehen?« ... Ich reiße einem Fackelträger seine Fackel aus der Hand, +beleuchte das Antlitz des Liegenden ... Ich rüttle ihn, reiße ihm das +Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite gelangt, er fühlt nach dem +Herzen Umprechts, er greift seinen Puls, er wünscht, daß alles zur Seite +trete, er flüstert dem Freiherrn ein paar Worte zu ... die Frau des +Aufgebahrten hat sich hinaufgedrängt, sie schreit auf, wirft sich über +ihren Mann, die Kinder stehen wie vernichtet da und können es nicht +fassen ... Niemand will es glauben, was geschehen, und doch teilt es +einer dem andern mit; -- und eine Minute später weiß man es rings in der +Runde, daß Herr von Umprecht auf der Bahre, auf der man ihn +hineingetragen, plötzlich gestorben ist ... + +Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal hinuntergeeilt, von +Entsetzen geschüttelt. In einem sonderbaren Grauen habe ich mich nicht +entschließen können, das Schloß wieder zu betreten. Den Freiherrn sprach +ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte ich ihm die Geschichte +Umprechts, wie sie mir von ihm selbst mitgeteilt worden war. Der +Freiherr wollte sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und +zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich befremdet, ja angstvoll +an und gab mir das Blatt zurück -- es war weiß, unbeschrieben, +unbezeichnet ... + +Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden; aber das einzige, was +ich von ihm erfahren konnte, war, daß er vor drei Jahren zum letztenmal +in einem Hamburger Vergnügungsetablissement niederen Ranges aufgetreten +ist. + +Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das unbegreiflichste bleibt, +ist der Umstand, daß der Schullehrer, der damals seiner Perücke mit +erhobenen Händen nachlief und im Walde verschwand, niemals +wiedergesehen, ja daß nicht einmal sein Leichnam aufgefunden wurde. + + * * * * * + + +Nachwort des Herausgebers + +Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe ich persönlich nicht +gekannt. Er war zu seiner Zeit ein ziemlich bekannter Schriftsteller, +aber so gut wie verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa +zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachlaß ging, ohne besondere +Bestimmung, an den in diesen Blättern genannten Meraner Jugendfreund +über. Von diesem wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anläßlich eines +Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen über allerlei dunkle +Fragen, insbesondere über Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und +Weissagekunst unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte +Manuskript zur Veröffentlichung übergeben. Gern möchte ich dessen Inhalt +für eine frei erfundene Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch +aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten +Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Ausgang beigewohnt und den in so +rätselhafter Weise verschwundenen Schullehrer persönlich gekannt hätte. +Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so erinnere ich mich noch sehr +wohl, als ganz junger Mensch in einer Sommerfrische am Wörther See +seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu haben; er blieb mir im +Gedächtnis, weil ich gerade zu dieser Zeit im Begriffe war, die +Reisebeschreibung des berühmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen. + + + + +Das neue Lied + + +»Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das +kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an +sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach, +neben ihm einherging -- ja er spürte sogar den Weindunst, in den diese +Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich, +sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet +von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach +Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause +gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße +weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die +drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem +anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts +von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der +Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild +vor Augen, dem er entflohen war. + +Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn +der von ihm?... warum verteidigte er sich?... und warum gerade vor +ihm?... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten +Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld +trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie +schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig, +ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem +Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern +abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke +geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino +gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft +Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine +Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die +Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und roten +Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes +Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die 'weiße +Amsel', nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.« + +Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der +Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße. +Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde, +ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß +heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in +die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen +versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das +alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn, +und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch +immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen +hatten. Die Geschichte mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz +recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal +milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den +Familien von meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab ich doch +immer zuviel auf mich gehalten.« + +Hätte er auf den Vater gehört -- dachte Karl jetzt -- so wäre ihm +mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt. +Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen, +und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für +eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei +ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die +Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam +der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim +Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet: +Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal +Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek, +demselben, der abends im Klownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern +Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld +ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so +regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit +Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die +abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit +der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl +herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und +schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder war in einem großen Geschäft +angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich +sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen +von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich +empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich +anderweitig versagt bin ...« -- Freilich, am liebsten war Karl mit Marie +allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg +gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen, +der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn +sie kamen geradeswegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen +mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun +legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und +schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie +auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den +ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung +brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen gab es +manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu +denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor +hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine +Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte +vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich +erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden +zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe: +»Also heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber +bitt schön, daß Sie sich nicht verraten.« -- »Warum soll denn ich mich +verraten?« fragte Karl, »was ist denn g'schehn?« -- »Ja, mit den Augen +ist leider keine Hilfe mehr.« -- »Wieso denn?« -- »Sie sieht halt nichts +mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben. +Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich +zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte +und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als +hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell +gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen +kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten +Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst +wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal +gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise +antreten mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam +weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb +er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach +seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön +grüßen. -- Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er +nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch +von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen. +Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch +gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem +Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei +Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte. + +Da führte ihn gestern abends -- er wollte Bekannte besuchen, die in der +Nähe wohnten -- der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen +der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken +wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er +wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort +gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit schwarzen und roten Buchstaben +vor sich sah: »Erstes Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die 'weiße +Amsel', nach ihrer Genesung,« da blieb er wie gelähmt stehen. Und in +diesem Augenblick stand der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden +gewachsen: den weißen Strubbelkopf unbedeckt, den schäbigen schwarzen +Zylinder in der Hand und mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er +begrüßte Karl: »Der Herr Breiteneder -- nein, so was! Nicht wahr, +beehren uns heute wieder! Die Fräul'n Marie wird ja ganz weg sein vor +Freud, wenn sie hört, daß sich die frühern Freund' doch noch um sie +umschaun. Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg'standen, Herr von +Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.« Er redete noch eine +ganze Menge, und Karl rührte sich nicht, obwohl er am liebsten weit +fortgewesen wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, und er +fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts sehe -- ob sie nicht doch +wenigstens einen Schein habe. »Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was +fällt Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts sieht sie, gar +nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. »Alles kohlrabenschwarz +vor ihr ... Aber werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, hat +alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf -- und eine Stimme hat +das Mädel, schöner als je!... Na, Sie werden ja sehn, Herr von +Breiteneder. -- Und gut is sie -- seelengut! Noch viel freundlicher, als +sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja -- haha! -- Ah, es kommen heut +mehrere, die sie kennen ... natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von +Breiteneder; denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen +G'schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! Ich hab eine +gekannt, die war blind und hat Zwillinge gekriegt -- haha! -- Schauen S', +wer da is,« sagte er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an +der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen und bleich und sah ihn an, +ohne ein Wort zu sagen. Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wußte kaum, +was mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: »Nicht der Marie +sagen, um Gottes willen, Frau Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß +ich da bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!« + +»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und beschäftigte sich mit anderen +Leuten, die Billette verlangten. + +»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber nachher, das wird eine +Überraschung sein! Da kommen S' doch mit? Großes Fest -- hoho! Habe die +Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. Karl durchschritt +den gefüllten Saal, und im Garten, der sich ohne weiteres anschloß, +setzte er sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei alte +Leute Platz genommen hatten, eine Frau und ein Mann. Sie sprachen nichts +miteinander, betrachteten stumm den neuen Gast, und nickten einander +traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung begann, und Karl +hörte die altbekannten Sachen wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich +verändert, weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. Zuerst +spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte Ouvertüre, von der zu +Karl nur vereinzelte harte Akkorde drangen, dann trat als erste die +Ungarin Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, sang +ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf folgte ein +humoristischer Vortrag des Komikers Wiegel-Wagel; er trat im +zeisiggrünen Frack auf, teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen +wäre, und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren Abschluß seine +Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. Dann kam ein Duett zwischen +Herrn und Frau Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach ihnen, in +schmutziger weißer Klowntracht, folgte der närrische kleine Jedek, +zeigte zuerst seine Jongleurkünste, irrte mit riesigen Augen unter den +Leuten umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte er Teller in +Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem Holzstab einen Marsch darauf, +ordnete Gläser und spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine +wehmütige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke auf und lächelte selig. +Er trat ab, und Rebay hieb wieder auf die Tasten ein, in festlichen +Klängen. Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die Leute steckten +die Köpfe zusammen, und plötzlich stand Marie auf dem Podium. Der +Vater, der sie hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht; +und sie stand allein. Und Karl sah sie oben stehen, mit den erloschenen +Augen in dem süßen blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst +nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. Ohne es selbst zu +merken war er vom Sessel aufgesprungen, lehnte an der grünen Laterne und +hätte beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. -- Und nun fing sie an +zu singen. Mit einer ganz fremden Stimme, leise, viel leiser als früher. +Es war ein Lied, das sie immer gesungen, und das Karl mindestens +fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm seltsam fremd, und +erst als der Refrain kam »Mich heißens' die weiße Amsel, im G'schäft und +auch zu Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. Sie +sang alle drei Strophen, Rebay begleitete sie, und nach seiner +Gewohnheit blickte er öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war, +setzte Applaus ein, laut und donnernd. Marie lächelte und verbeugte +sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs Podium hinauf, Marie griff mit +den Armen in die Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der +Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied singen mußte, das +Karl auch schon an die fünfzigmal gehört hatte. Es fing an: »Heut geh +ich mit mein Schatz aufs Land ...,« und Marie warf den Kopf so vergnügt +in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und her, als wenn sie wirklich +mit ihrem Schatz aufs Land gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen +sehen und im Freien tanzen könnte, wie sie's in dem Lied erzählte. Und +dann sang sie das dritte, das neue Lied. -- + +»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, und Karl fuhr +zusammen. Es war heller Sonnenschein; weit erglänzte die Straße, ringsum +war es licht und lebendig. »Da könnt' man sich hineinsetzen,« fuhr Rebay +fort, »auf ein Glas Wein; ich hab schon einen argen Durst -- es wird ein +heißer Tag.« + +»Ob's heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. Breiteneder wandte sich +um ... Wie, der war ihm auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von +ihm?... Es war der närrische Jedek; man hatte ihn nie anders geheißen, +aber es war zweifellos, daß er in der nächsten Zeit ernstlich und +vollkommen verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte er seine +lange blasse Frau am Leben bedroht, und es war rätselhaft, daß man ihn +frei herumlaufen ließ. Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit +neben Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten aufgerissene, +unerklärlich lustige Augen ins Weite, auf dem Kopf saß ihm das +stadtbekannte, graue weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der +Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, den andern plötzlich +voraus, war er in das kleine Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf +einer Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, Platz genommen, +schlug mit dem Spazierstock heftig auf den grüngestrichnen Tisch und +rief nach dem Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des grünen +Holzgitters zog die weiße Straße weiter nach oben, an kleinen, traurigen +Villen vorbei, und verlor sich in den Wald. + +Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den Zylinder auf den Tisch, fuhr +sich durch das weiße Haar, rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner +Gewohnheit die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, und beugte +sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin doch nicht auf'n Kopf +g'fallen, Herr von Breiteneder! Ich weiß doch, was ich tu!... Warum soll +denn ich schuld sein?... Wissen S', für wen ich Couplets geschrieben hab +in meinen jüngeren Jahren?... Für'n Matras! Das ist keine Kleinigkeit! +Und haben Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und viele sind in +andere Stück' eingelegt worden!« + +»Lassen S' das Glas stehn,« sagte Jedek und kicherte in sich hinein. + +»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay fort und schob das Glas +wieder von sich. »Sie kennen mich doch, und Sie wissen, daß ich ein +anständiger Mensch bin! Auch gibt's in meinen Couplets niemals eine +Unanständigkeit, niemals eine Zote!... Und das Couplet, wegen dem der +alte Ladenbauer damals is verurteilt worden, war von einem andern!... +Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder -- das ist ein +Numero! Und wissen S', wie lang ich bei der G'sellschaft Ladenbauer +bin?... Da hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die G'sellschaft +gegründet hat. Und die Marie kenn ich von ihrer Geburt an. +Neunundzwanzig Jahr bin ich bei die Ladenbauers -- im nächsten März hab +ich Jubiläum ... Und ich hab meine Melodien nicht g'stohlen -- sie sind +von mir, alles von mir! Und wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die +Werkeln g'spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...« + +Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen Augen. Jetzt hatte er +alle drei Gläser vor seinen Platz hingeschoben und begann mit seinen +Fingern leicht über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen +rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. Breiteneder hatte diese +Kunstfertigkeit immer sehr bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug +er die Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte man zu; einige +Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr patschte in die Hände. +Plötzlich schob Jedek alle drei Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und +starrte auf die weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen +aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte es vor den Augen, +und es war ihm, als wenn die Leute hinter Spinneweben tänzelten und +schwebten. Er rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich +kommen. Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück -- +aber er hatte doch nicht schuld daran! Und plötzlich stand er auf, denn +als er an das Ende dachte, wollte es ihm die Brust zersprengen. »Gehen +wir,« sagte er. + +»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete Rebay. + +Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch wußte, warum. Er stellte +sich vor einen Tisch hin, an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit +seinem Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: »Da soll der +Teufel ein Glaserer werden -- Himmelsackerment!« Die beiden friedlichen +Leute wurden verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen +lachten und hielten ihn für betrunken. + +Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen Straße, und Jedek, +wieder ganz ruhig geworden, kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues +Hütel ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock mit dem Hut +über die Schultern wie ein Gewehr, während er mit der anderen Hand +gewaltige grüßende Bewegungen zum Himmel empor vollführte. + +»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich entschuldigen will,« sagte +Rebay mit klappernden Zähnen. »Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus +nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann wird es mir +zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht selber mit ihr einstudiert?... +Bitte sehr, jawohl! Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im Zimmer +gesessen is, hab ich's einstudiert mit ihr ... Und wissen S', wie ich +auf die Idee kommen bin? Es ist ein Unglück, hab ich mir gedacht, aber +es ist doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, und ihr +schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab ich's g'sagt, die ganz +verzweifelt war. Frau Ladenbauer, hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts +verloren -- passen S' nur auf! Und dann, heutzutage, wo es diese +Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit wieder lesen und +schreiben lernen ... Und dann hab ich einen gekannt -- einen jungen +Menschen, der ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede Nacht +von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle möglichen Beleuchtungen +...« + +Breiteneder lachte auf. »Reden S' im Ernst?« fragte er ihn. + +»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen Sie denn? Soll ich mich +umbringen, ich?... Warum denn? -- Meiner Seel, ich hab Unglück genug +gehabt auf der Welt! -- Oder meinen Sie, das ist ein Leben, Herr von +Breiteneder, wenn man einmal Theaterstück geschrieben hat, wie ich als +junger Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich so weit, daß +man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die +heisern Ludern begleiten muß, und ihnen die Couplets schreiben ... +Wissen S', was ich für ein Couplet krieg'?... Sie möchten sich wundern, +Herr von Breiteneder!« + +»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, der jetzt ganz ernst +und manierlich, ja elegant neben ihnen herging. + +»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. Es war ihm plötzlich, +als verfolgten ihn die beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er +mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter: »Eine Existenz hab +ich dem Mädel gründen wollen!... Verstehen S', eine neue Existenz!... +Grad mit dem neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es vielleicht nicht +schön?... Ist es nicht rührend?...« + +Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am Rockärmel zurück, erhob +den Zeigefinger der linken Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die +Lippen und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das Marie +Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute nachts gesungen hatte. Er +pfiff sie geradezu vollendet; denn auch das gehörte zu seinen +Kunstfertigkeiten. + +»Die Melodie hat's nicht gemacht,« sagte Breiteneder. + +»Wieso?« schrie Rebay. -- Sie gingen alle rasch, liefen beinahe, trotzdem +der Weg beträchtlich anstieg. »Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der +Text ist schuld, glauben S'?... Ja, um Gottes willen, steht denn in dem +Text was anderes, als was die Marie selbst gewußt hat?... Und in ihrem +Zimmer, wie ich's ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges Mal +geweint. Sie hat g'sagt: »Das ist ein trauriges Lied, Herr Rebay, aber +schön ist's!...« »Schön ist's,« hat sie gesagt ... Ja freilich ist es +ein trauriges Lied, Herr von Breiteneder -- es ist ja auch ein trauriges +Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich ihr doch kein lustiges Lied +schreiben?...« + +Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die Äste schimmerte die +Sonne; aus den Büschen tönte Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei +nebeneinander, so schnell, als wollte einer dem andern davonlaufen. +Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und die Leut -- Kreuzdonnerwetter! -- +haben sie nicht applaudiert wie verrückt?... Ich hab's ja im voraus +gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg haben! -- Und es hat ihr +auch eine Freud gemacht ... förmlich gelacht hat sie übers ganze +Gesicht, und die letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es ist +auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen ist, sind mir selber +die Tränen ins Aug gekommen -- wissen S' wegen der Anspielung auf das +andere Lied, das sie immer singt...« Und er sang, oder er sprach +vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß wie einen Orgelton: +»Wie wunderschön war es doch früher _auf der Welt_, -- Wo die Sonn' mir +hat g'schienen auf Wald und _auf Feld_, -- Wo i Sonntag mit mein' Schatz +spaziert bin aufs _Land_ -- Und er hat mich aus Lieb nur geführt bei der +_Hand_. -- Jetzt geht mir die Sonn' nimmer auf und die _Stern'_, -- Und +das Glück und die Liebe, die sind mir so _fern!_« + +»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab's ja gehört!« + +»Ist's vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und schwang den Zylinder. +»Es gibt nicht viele, die solche Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden +hat mir der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine Honorare, Herr +von Breiteneder. Dabei hab ich's noch einstudiert mit ihr.« + +Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang sehr leise den Refrain: »O +Gott, wie bitter ist mir das geschehn -- Daß ich nimmer soll den Frühling +sehn ...« + +»Also _warum_, frag ich!...« rief Rebay. »Warum?... Gleich nachher war +ich doch bei ihr drin ... Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit +einem glückseligen Lächeln dag'sessen, hat ihr Viertel Wein getrunken, +und ich hab ihr die Haar' gestreichelt und hab ihr g'sagt: »Na, siehst +du, Marie, wie's den Leuten g'fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut' +aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird Aufsehen machen ... Und +singen tust du's prachtvoll ...« Und so weiter, was man halt so red't, +bei solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch hereingekommen und +hat ihr gratuliert. Und Blumen hat sie bekommen -- von Ihnen waren s' +nicht, Herr von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung ... +Also, warum soll da mein Couplet schuld sein? Das ist ja ein Blödsinn!« + +Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den Rebay bei den +Schultern. »Warum haben S' ihr denn gesagt, daß ich da bin?... Warum +denn?... Hab ich Sie nicht gebeten, daß Sie's ihr nicht sagen sollen?« + +»Lassen S' mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt! Von der Alten wird sie's +gehört haben!« + +»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte sich, »ich war so frei, +Herr von Breiteneder -- ich war so frei. Weil ich g'wußt hab, Sie sein +da, hab ich ihr g'sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen +g'fragt hat, während sie krank war, hab ich ihr g'sagt: 'Der Herr +Breiteneder is da ... hinten bei der Latern is er g'standen,' hab ich +ihr g'sagt, 'und hat sich großartig unterhalten!'« + +»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er mußte die +Augen fortwenden von dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet +hielt. Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der sie eben +vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah sich plötzlich wieder im +Garten sitzen, und die Stimme der alten Frau Ladenbauer klang ihm im +Ohr: »Die Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit uns mitkommen +möchten nach der Vorstellung?« Er erinnerte sich, wie ihm da mit einem +Male zumute geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die Marie +alles verziehen. Er trank seinen Wein aus und ließ sich einen besseren +geben. Er trank so viel, daß ihm das ganze Leben leichter vorkam. +Geradezu vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen zu, +klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung aus war, ging +er wohlgelaunt durch den Garten und den Saal ins Extrazimmer des +Wirtshauses, an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft nach der +Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige saßen schon da: der +Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner Frau, irgendein Herr mit einer Brille, +den Karl gar nicht kannte -- alle begrüßten ihn und waren gar nicht +besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte er die Stimme der +Marie hinter sich: »Ich find schon hin, Mutter, ich kenn' ja den Weg.« +Er wagte nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben ihm und +sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder -- wie geht's Ihnen denn?« Und in +diesem Augenblick erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu +irgendeinem jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber gewesen +war, später immer »Sie« und »Herr« gesagt hatte. Und dann aß sie ihr +Nachtmahl; man hatte ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze +Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich gar nichts +geändert. »Gut is' gangen,« sagte der alte Ladenbauer. »Jetzt kommen +wieder bessere Zeiten.« Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der +Marie viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr Wiegel-Wagel +erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Wiedergenesenen!« Marie +hielt ihr Glas in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte +mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie ihre toten Augen in +die seinen versenken wollte, und als könnte sie tief in ihn +hineinschauen. Auch der Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und +offerierte Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, ein +junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, saß ihr gegenüber und +unterhielt sich lebhaft mit Herrn Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte +ihren gelben Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine Ecke, +wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal kamen Leute von einem +benachbarten Tisch herüber und gratulierten Marie; sie antwortete in +ihrer stillen Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste +verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber warum denn gar so +stumm?« Jetzt erst merkte er, daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne +den Mund aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, beteiligte sich +an der Unterhaltung; nur an Marie richtete er kein Wort. Rebay erzählte +von der schönen Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, trug +den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig Jahren verfertigt +hatte, und spielte die Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als +böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um eins brach man auf. +Frau Ladenbauer nahm den Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es +war ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes daran, daß um +Marie die Welt nun ganz finster war. Karl ging neben ihr. Die Mutter +fragte ihn harmlos nach allerlei: wie's zu Hause ginge, wie er sich auf +der Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig von allerlei +Dingen, die er gesehen, insbesondere von den Theatern und +Singspielhallen, die er besucht hatte, und wunderte sich nur immer, wie +sicher Marie ihren Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig und +heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, einem alten, +rauchigen Lokal, das um diese Zeit schon ganz leer war; und der dicke +Freund der ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, im +Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah an Karl gerückt, geradeso +wie manchmal in früherer Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte. +Und plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte und +streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. Nun hätte er so gern +etwas zu ihr gesagt ... irgend was Liebes, Tröstendes -- aber er konnte +nicht ... Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, als sähe +ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht ein Menschenblick, sondern +etwas Unheimliches, Fremdes, das er früher nicht gekannt -- und es +erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben ihm säße ... Ihre +Hand bebte und entfernte sich sachte von der seinen, und sie sagte +leise: »Warum hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte +wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den anderen. Nach +einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: »Wo ist denn die Marie?« Es war +die Frau Ladenbauer. Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden war. »Wo +ist denn die Marie?« riefen andere. Einige standen auf, der alte +Ladenbauer stand an der Tür des Kaffeehauses und rief auf die Straße +hinaus: »Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. Einer +sagte: »Aber wie kann man denn so ein Geschöpf überhaupt allein +aufstehen und fortgehen lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof des +Hauses herein: »Bringt's Kerzen!... Bringt's Laternen!« Und eine schrie: +»Jesus Maria!« Das war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer. +Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den Hof. Die +Dämmerung kam schon über die Dächer geschlichen. Um den Hof des +einstöckigen alten Hauses lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte +ein Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand, +und schaute herunter. Zwei Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm, +ein anderer Mann rannte über die knarrende Stiege herunter. Das war es, +was Karl zuerst sah. Dann sah er irgend etwas vor seinen Augen +schimmern, jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe und ließ +ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: »Es hilft ja nichts mehr +... sie rührt sich nimmer ... Holt's doch einen Doktor!... Was ist denn +mit der Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...« Alle +flüsterten durcheinander, einige eilten auf die Straße hinaus, der einen +Gestalt folgte Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange Frau +Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide Hände verzweifelt an die +Stirn, lief davon und kam nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute. +Er mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um nicht über die Frau +Ladenbauer zu stürzen, die auf der Erde kniete, Mariens beide Hände in +ihrer Hand hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So red +doch!... so red doch!...« Jetzt kam endlich einer mit einer Laterne, der +Hausbesorger, in einem braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er +leuchtete der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber so ein +Malheur! Und grad da am Brunnen muß sie mit'm Kopf aufg'fallen sein.« +Und nun sah Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung des Brunnens +ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich der Mann in Hemdärmeln auf dem +Gange: »Ich hab was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« Und +alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte nur immer: »Es sind noch +keine fünf Minuten, da hab ich's poltern gehört ...« -- »Wie hat sie denn +nur heraufg'funden?« flüsterte jemand hinter Karl. »Aber bitt' Sie,« +erwiderte ein anderer, »das Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich +durch die Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die Holzstiegen, +und dann über die Brüstung hinunter -- is ja net so schwer!« So flüsterte +es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es +sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht +um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie +in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung +des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?« +Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht +der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie +die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen +toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß +es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot +und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und +er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da, +lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie +einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer +lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das +zusammengefaltete weiße Spitzentuch gebettet; Karl blieb regungslos +stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, +daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts +bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über +die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster +hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ... + +Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß +allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister +Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie +alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig +miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden, +der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont +ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet, +aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft, +und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt. + + + + +Die griechische Tänzerin + + +Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube nicht daran, daß Frau +Mathilde Samodeski an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich +gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute zur ersehnten Ruhe +hinausträgt; ich habe keine Lust, den Mann zu sehen, der es ebensogut +weiß als ich, warum sie gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu +schweigen. + +Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings etwas weit, aber der +Herbsttag ist schön und still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald +werde ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich im vergangenen +Frühjahr Mathilde zum letztenmal gesehen habe. Die Fensterladen der +Villa werden alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche +Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich wohl den weißen +Marmor durch die Bäume schimmern sehen, aus dem die griechische Tänzerin +gemeißelt ist. + +An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es kommt mir fast wie eine +Fügung vor, daß ich mich damals noch im letzten Augenblick entschlossen +hatte, die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da ich doch im Laufe +der Jahre die Freude an allem geselligen Treiben so ganz verloren habe. +Vielleicht war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln in die +Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. Überdies sollte es ja +ein Gartenfest sein, mit dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen +wollten, und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu fürchten. +Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren kaum an die Möglichkeit +dachte, Frau Mathilde draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch +bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische Tänzerin von Samodeski +für seine Villa gekauft hatte; -- und daß Frau von Wartenheimer in den +Bildhauer verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wußt' ich nicht +minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich wohl an Mathilde denken +können, denn zur Zeit, da sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne +Stunde mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer am Genfer See +vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor ihrer Verlobung, den ich nicht so +leicht vergessen werde. Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz +meiner grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn als sie im Jahre +darauf Samodeskis Gattin wurde, empfand ich einige Enttäuschung und war +vollkommen überzeugt -- oder hoffte sogar --, daß sie mit ihm nicht +glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das Gregor Samodeski kurz +nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise in seinem Atelier in der +Gußhausgasse gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen +oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe ich Mathilde +wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte sie mich; ihr ganzes Wesen +machte den Eindruck der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während sie im +Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal ein seltsamer Blick aus +ihren Augen, und nach einiger Bemühung habe ich deutlich verstanden, was +er zu bedeuten hatte. Er sagte: 'Lieber Freund, Sie glauben, daß er mich +um des Geldes willen geheiratet hat; Sie glauben, daß er mich nicht +liebt; Sie glauben, daß ich nicht glücklich bin -- aber Sie irren sich +... Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie gut gelaunt ich +bin, wie meine Augen leuchten.' + +Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, aber immer nur ganz +flüchtig. Einmal auf einer Reise kreuzten sich unsere Züge; ich speiste +mit ihr und ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er erzählte +allerhand Witze, die mich nicht sonderlich amüsierten. Auch im Theater +sprach ich sie einmal, sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich +noch immer schöner ist als sie ... der Teufel weiß, wo Herr Samodeski +damals gewesen ist. Und im letzten Winter hab ich sie im Prater +gesehen; an einem klaren, kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl +unter den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen fuhr langsam nach. +Ich befand mich auf der anderen Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal +hinüber. Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen Dingen +beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde schließlich nicht mehr +besonders. So würde ich mir heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken +über sie und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht jenes letzte +Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden hätte. Dieses Abends +erinnere ich mich heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen +Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See. Es war schon +ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. Die Gäste gingen in den Alleen +spazieren, ich begrüßte den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher +tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, die in einem Boskett +versteckt war. Bald kam ich zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von +hohen Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen Postament, so +daß sie über dem Wasser zu schweben schien, leuchtete die griechische +Tänzerin; durch elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens etwas +theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des Aufsehens, das sie im +Jahre vorher in der Sezession erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf +mich machte sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend +zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare Empfindung habe, daß +eigentlich nicht er es ist, der die schönen Sachen macht, die ihm +zuweilen gelingen, sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas +Unbegreifliches, Glühendes, Dämonisches meinethalben, das ganz bestimmt +erlöschen wird, wenn er einmal aufhören wird, jung und geliebt zu sein. +Ich glaube, es gibt mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand +erfüllt mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung. + +In der Nähe des Teiches begegnete ich Mathilden. Sie schritt am Arm +eines jungen Mannes, der aussah wie ein Korpsstudent und sich mir als +Verwandter des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr vergnügt +plaudernd im Garten hin und her, in dem jetzt überall Lichter +aufgeflackert waren. Die Frau des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen. +Wir blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen Verwunderung +sagte ich dem Bildhauer einige höchst anerkennende Worte über die +griechische Tänzerin. Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar +lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie das an solchen +Frühlingsabenden manchmal vorkommt: Leute, die einander sonst +gleichgültig sind, begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine +gewisse Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen +angeregt. Als ich beispielsweise eine Weile später auf einer Bank saß +und eine Zigarette rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur +oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu preisen begann, die +von ihrem Reichtum einen so vornehmen Gebrauch machen wie unser +Gastgeber. Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich Herrn von +Wartenheimer sonst für einen ganz einfältigen Snob halte. Dann teilte +ich wieder dem Herrn ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne +Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, Ansichten, die +für ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse gewesen wären; aber unter dem +Einflusse dieses verführerischen Frühlingsabends stimmte er mir +begeistert zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die das Fest +äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil die Lichter zwischen den +Blättern hervorglänzten und Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen +wir gerade neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung nicht +unsinnig. So sehr stand auch ich unter dem Banne der allgemeinen +Stimmung. + +Das Abendessen wurde an kleinen Tischen eingenommen, die, soweit es der +Platz erlaubte, auf der großen Terrasse, zum andern Teil im anstoßenden +Salon aufgestellt waren. Die drei großen Glastüren standen weit offen. +Ich saß an einem Tisch im Freien mit einer der Nichten; an meiner +anderen Seite hatte Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah +wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter und Reserveoffizier war. +Gegenüber von uns, aber schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau +des Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die ich nicht kannte. +Er warf seiner Gattin eine scherzhaft verwegene Kußhand zu; sie nickte +ihm zu und lächelte. Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich +genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen Augen und dem langen +schwarzen Spitzbarte, den er manchmal mit zwei Fingern der linken Hand +am Kinn zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in meinem Leben +einen Mann so sehr von Worten, Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht +gesehen habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, als ließe er +sich das eben nur gefallen. Aber bald sah ich an seiner Art, den Frauen +leise zuzuflüstern, an seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders +an der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die scheinbar +harmlose Unterhaltung von irgendeinem geheimen Feuer genährt wurde. +Natürlich mußte Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich; aber +sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit ihrem Nachbarn, bald mit +mir. Allmählich wandte sie sich zu mir allein, erkundigte sich nach +verschiedenen äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von meiner +vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann sprach sie von ihrer +Kleinen, die merkwürdigerweise schon heute Lieder von Schumann nach dem +Gehör singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch auf ihre alten +Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, von alten Kirchenstoffen, die sie +selbst im vorigen Jahr in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert +anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses Gespräches ging etwas +ganz anderes zwischen uns vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie +versuchte mich durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes zu +überzeugen -- und ich wehrte mich dagegen, ihr zu glauben. Ich mußte +wieder an jenen japanisch-chinesischen Abend in Samodeskis Atelier +denken, wo sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte sie +wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete und daß sie irgend +etwas ganz Besonderes ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam +sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und verliebte +Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem Gatten gegenüber aufmerksam zu +machen und begann von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn sie +sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit und an seinem Genie +ohne jede Unruhe und jedes Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte. +Aber je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu scheinen, um so +tiefere Schatten flogen über ihre Stirne hin. Als sie einmal das Glas +erhob, um Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte sie +verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht nur ihre Hand, +sondern der Arm, ihre ganze Gestalt für einige Sekunden in eine solche +Starrheit, daß mir beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich +rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran war, ihr Spiel +endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, wie mit einem letzten +verzweifelten Versuch: »Ich wette, Sie halten mich für eifersüchtig.« +Und ehe ich Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: »Oh, +das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor selbst geglaubt.« Sie sprach +absichtlich ganz laut, man hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun +ja,« sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen solchen Mann +hat: schön und berühmt ... und selber den Ruf, nicht sonderlich hübsch +zu sein ... Oh, Sie brauchen mir nichts zu erwidern ... ich weiß ja, +daß ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden bin.« Sie hatte +möglicherweise recht, aber für ihren Gemahl -- davon war ich völlig +überzeugt -- hatte der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und +was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften Schlankheit +für ihn wahrscheinlich ihren einzigen Reiz verloren. Doch ich stimmte +ihr natürlich mit übertriebenen Worten bei; sie schien erfreut und fuhr +mit wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das geringste Talent zur +Eifersucht. Das habe ich selbst nicht gleich gewußt; ich bin erst +allmählich darauf gekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren +in Paris ... Sie wissen ja, daß wir dort waren?« + +Ich erinnerte mich. + +»Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire und des Ministers +Chocquet gemacht und mancherlei anderes. Wir haben dort so angenehm +gelebt wie junge Leute ... das heißt, jung sind wir ja noch beide ... +ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir auch gelegentlich in die große +Welt gingen ... Wir waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter, +die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen aber machten wir +uns nicht viel aus dem eleganten Leben. Wir wohnten sogar draußen auf +Montmartre, in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor auch +sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den jungen Künstlern, mit +denen wir dort verkehrten, hatten manche keine Ahnung, daß wir +verheiratet waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. Oft bin ich +in der Nacht mit ihm im Café Athenés gesessen, mit Léandre, Carabin und +vielen anderen. Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer +Gesellschaft, mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht verkehren +möchte ... obzwar schließlich -- --« Sie warf einen hastigen Blick hinüber +auf Frau Wartenheimer und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war sehr +hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte von Henri Chabran dort, +die seit seinem Tode immer ganz in Schwarz ging und jede Woche einen +anderen Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle Trauer tragen +mußten, das verlangte sie ... Sonderbare Leute lernt man kennen. Sie +können sich denken, daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger +nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. Aber da ich doch +immer mit ihm war -- oder meistens, so wagten sie sich nicht recht an ihn +heran, um so weniger, als ich für seine Geliebte galt ... Ja, wenn sie +gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war --! Und da bin ich einmal auf +einen sonderbaren Einfall gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut +hätten -- und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute selbst über +meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und sprach leiser als früher: »Es ist +übrigens auch möglich, daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand -- +nun, Sie können sich's ja denken. Seit ein paar Wochen wußte ich, daß +ich ein Kind zu erwarten hatte. Das machte mich unerhört glücklich. Im +Anfang war ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch viel +beweglicher als jemals früher ... Also denken Sie, eines schönen Abends +habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer +aus. Natürlich hab ich ihm vor allem das Versprechen abgenommen, daß er +sich keinerlei Zwang antun dürfte ... nun ja, sonst hätte die ganze +Geschichte keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen -- Sie +hätten mich nicht erkannt ... niemand hätte mich erkannt. Ein Freund von +Gregor, ein gewisser Léonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger +Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön ... Mai ... +ganz warm ... und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff. +Denken Sie sich, ich hab meinen Überzieher -- einen sehr eleganten gelben +Überzieher -- einfach abgelegt und ihn auf dem Arm getragen ... so wie +das eben Herren zu tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich +dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben +wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay +sang und Montoya ... »Tu t'en iras les pieds devant« ... Sie +haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater -- nicht wahr?« Jetzt +warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht +darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm +Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, immer heftiger, stürzte +sozusagen vorwärts. »In der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr +elegante Dame, die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor, +aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man kann sich nichts +Unanständigeres vorstellen. Ich werde nie begreifen, daß ihr Gatte sie +nicht auf der Stelle erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war +eine Herzogin ... Nun, Sie müssen nicht lachen, es war gewiß eine Dame +der großen Welt, trotz ihres Benehmens ... das kann man schon beurteilen +... Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache einginge ... +natürlich! -- ich hätte gern gesehen, wie man so etwas anfängt ... ich +wünschte, daß er ihr einen Brief zusteckte -- oder sonst was täte -- was +er eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich seine Frau wurde +... Ja, das wollte ich, trotzdem es nicht ohne Gefahr für ihn gewesen +wäre. Offenbar steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ... Aber +Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir gingen sogar recht bald +fort, wieder hinaus in die schöne Mainacht, Léonce blieb immer mit uns. +Der hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt und wurde gegen +seine Gewohnheit geradezu galant. Es war sonst ein sehr verschüchterter +Mensch -- wegen seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: »Man muß wohl +einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem den Hof machen.« Wir sind +so vergnügt weiterspaziert wie drei Studenten. Und jetzt kam das +Interessante: wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte zum +Programm. Es war auch notwendig, daß endlich irgend etwas geschah. +Bisher hatten wir ja noch gar nichts erlebt ... nur mich -- denken Sie: +mich selbst -- hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. Aber das +war ja nicht die Absicht gewesen ... Um ein Uhr waren wir im Moulin +Rouge. Wie es da zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte +ich mir's ärger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs dort nicht das +Geringste, und es sah ganz danach aus, als sollte der ganze Scherz zu +nichts führen. Ich war ein bißchen ärgerlich. »Du bist ein Kind,« sagte +Gregor. »Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und sie fallen +uns zu Füßen --?« Er sagte »uns« aus Höflichkeit für Léonce; es war keine +Rede davon, daß man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir nun +schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause zu gehen, nahm die Sache +eine Wendung. Mir fiel nämlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ... +die schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen war ... Sie +war ganz ernst und sah ziemlich anders aus als die meisten anwesenden +Damen. Sie war gar nicht auffallend gekleidet -- in Weiß, vollkommen in +Weiß ... Ich hatte bemerkt, wie sie zwei oder drei Herren, die sie +ansprachen, überhaupt gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne +sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze zu, sehr ruhig, +interessiert, sachlich möchte ich sagen ... Léonce fragte -- ich hatte +ihn darum gebeten -- ein paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon +irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß er sie im vorigen +Winter auf einem der Donnerstagsbälle im Quartier Latin gesehen hatte. +Léonce sprach sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm gab sie +Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir setzten uns alle an einen +kleinen Tisch und tranken Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um +sie -- als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre ... Er plauderte mit +mir, immer nur mit mir ... Das schien sie nun besonders zu reizen. Sie +wurde immer heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so kommt, +allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Was so ein +armes Ding alles erleben kann -- oder erleben muß, möglicherweise! Man +liest ja so oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz Wirkliches +hört, von einer, die daneben sitzt, da ist es doch ganz sonderbar. Ich +erinnere mich noch an mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat +sie irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie Modell. Auch +Statistin an einem kleinen Theater ist sie gewesen. -- Was sie uns vom +Direktor für Dinge erzählte!... Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn +ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert gewesen wäre ... +Dann hatte sie sich in einen Studenten der Medizin verliebt, der in der +Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der Leichenkammer ab ... +oder blieb vielmehr mit ihm dort ... nein, es ist nicht möglich, zu +wiederholen, was sie uns erzählt hat! -- Der Mediziner verließ sie +natürlich auch. Und das wollte sie nicht überleben -- gerade das! Und sie +brachte sich um, das heißt, sie versuchte es. Sie machte sich selbst +darüber lustig ... in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme ... es +klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete ihr Kleid ein +wenig und zeigte über der linken Brust eine kleine rötliche Narbe. Und +wie wir alle diese kleine Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie -- +nein, schreit sie plötzlich meinen Mann an: »Küssen!« Ich sagte Ihnen +schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um sie. Auch während sie ihre +Geschichten erzählte, hörte er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte +Zigaretten, und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich hab +ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich etwas beduselt ... +jedenfalls war es die sonderbarste Stimmung meines Lebens. Und ob er nun +wollte oder nicht, er mußte die Narbe ... das heißt, er mußte so tun, +als berührte er die Stelle mit den Lippen. Ja, und dann wurde es immer +lustiger und toller. Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend -- +und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es für möglich gehalten, +daß sich ein weibliches Wesen -- und noch dazu solch eines -- im Verlauf +einer Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben könnte, wie dieses +Geschöpf in Gregor. Sie hieß Madeleine.« + +Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen absichtlich lauter aussprach +-- jedenfalls schien es mir, als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns +herüber; seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber unsere Blicke +begegneten sich und blieben eine ganze Weile ineinander ruhen, nicht +eben mit besonderer Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin +zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen weiter, und sie +wandte sich wieder zu mir. + +»Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern, was Madeleine +später gesprochen hat,« sagte sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich +will aufrichtig sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen +verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand meines Mannes nahm und +küßte. Aber gleich war es wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem +Augenblick mußte ich an unser Kind denken. Und da hab ich gefühlt, wie +unauflöslich ich und Gregor miteinander verbunden waren, und wie alles +andere nichts sein konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, wie +heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir sind dann noch alle bis +zum Morgengrauen auf dem Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da +hörte ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie nach Hause +begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, um den Spaß zu einem guten und +in gewissem Sinne vorteilhaften Ende zu führen -- Sie wissen ja, was die +Künstler alle für Egoisten sind ... insofern es sich nämlich um ihre +Kunst handelt ... -- kurz, er sagte ihr, daß er Bildhauer sei, und +forderte sie auf, nächstens zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren. +Sie antwortete: »Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich mich hängen! Aber +ich komm' doch.« + +Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen eines weiblichen Wesens so +viel Leid ausdrücken -- oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich +gefaßt zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte, fuhr sie fort: +»Gregor wollte durchaus, ich sollte am nächsten Tag im Atelier sein. Ja, +er machte mir sogar den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu +bleiben, wenn sie käme. Nun, es gibt Frauen, viele Frauen, ich weiß es, +die darauf eingegangen wären. Ich aber finde: entweder man glaubt oder +man glaubt nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben. Hab ich +nicht recht?« Und sie sah mich mit großen, fragenden Augen an. Ich +nickte nur, und sie sprach weiter: »Madeleine kam natürlich am Tag +darauf und dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher +gekommen ist ... und daß sie eine der schönsten war, können Sie mir +glauben. Sie selbst sind erst heute vor ihr in Bewunderung gestanden, +draußen am Teich.« + +»Die Tänzerin?« + +»Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und nun denken Sie, daß ich +in einem solchen oder in einem anderen Falle mißtrauisch gewesen wäre! +Würde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual gemacht haben? Ich bin +sehr froh, daß ich keine Anlage zur Eifersucht habe.« + +Irgend jemand stand in der offenen Mitteltür und hatte begonnen, einen +wahrscheinlich sehr witzigen Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn +die Leute lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete Mathilde, die +ebensowenig zuhörte wie ich. Und ich sah, wie sie zu ihrem Gatten +hinüberschaute und ihm einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche +Liebe verriet, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen heuchelte, +als wäre es wahrhaftig ihre höchste Pflicht, ihn im Genuß des Daseins +auf keine Weise zu stören. Und er empfing auch diesen Blick -- lächelnd, +unbeirrt, obwohl er natürlich ebensogut wußte als ich, daß sie litt und +ihr Leben lang gelitten hat wie ein Tier. + +Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem Herzschlag. Ich habe an +jenem Abend Mathilde zu gut kennen gelernt, und für mich steht es fest: +so wie sie vor ihrem Gatten die glückliche Frau gespielt hat vom ersten +Augenblick bis zum letzten, während er sie belogen und zum Wahnsinn +getrieben hat, so hat sie ihm auch schließlich einen natürlichen Tod +vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht mehr ertragen +konnte. Und er hatte auch dieses letzte Opfer hingenommen, als käme es +ihm zu. + +Da stehe ich vor dem Gitter ... Die Läden sind fest geschlossen. Weiß +und wie verzaubert liegt die kleine Villa im Dämmerschein, und dort +schimmert der Marmor zwischen den roten Zweigen ... + +Vielleicht bin ich übrigens ungerecht gegen Samodeski. Am Ende ist er so +dumm, daß er die Wahrheit wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu +denken, daß es für Mathilde im Tode keine größere Wonne gäbe, als zu +wissen, daß ihr letzter himmlischer Betrug gelungen ist. + +Oder irre ich mich gar? Und es war ein natürlicher Tod?... Nein, ich +lasse mir nicht das Recht nehmen, den Mann zu hassen, den Mathilde so +sehr geliebt hat. Das wird ja wahrscheinlich für lange Zeit mein +einziges Vergnügen sein ... + +_Ende_ + + + +Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig + +Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind den »Gesammelten +Werken« entnommen. + + + + +Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler + + +I. Die erzählenden Schriften in drei Bänden + +In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M + +Inhalt: Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des Weisen. Der +Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers letzter Brief. Der +blinde Geronimo und sein Bruder. Leutnant Gustl. Die griechische +Tänzerin. Frau Berta Garlan. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg. +Die Fremde. Die Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der +tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der Mörder. Die dreifache +Warnung. Die Hirtenflöte. Der Weg ins Freie. + + +II. Die Theaterstücke in vier Bänden + +In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M + +Inhalt: Anatol. Das Märchen. Liebelei. Freiwild. Das Vermächtnis. +Paracelsus. Die Gefährtin. Der grüne Kakadu. Der Schleier der Beatrice. +Lebendige Stunden. Die Frau mit dem Dolche. Die letzten Masken. +Literatur. Der einsame Weg. Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der +tapfere Cassian. Zum großen Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi +oder Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land. + + + + +Werke von Arthur Schnitzler + + +Sterben + +Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark + +Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erzählung zu gemeinsamer +Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die größte +Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist und sich +nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschränkt. Die deutsche +Literatur könnte sich glücklich preisen, wenn sie viele solche Bücher +hätte wie diese einfache Erzählung. (Deutsche Revue) + + +Die Frau des Weisen + +Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark + +Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine +liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen, mit +dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der +Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte. +Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin +gerne spielen, müssen Schnitzler gerne lesen. (Neues Wiener Tagblatt) + + +Leutnant Gustl + +Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark + +Eine bittere Satire vom militärischen Standpunkt aus, aber als Erzählung +von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig, und wie +virtuos dabei in der Ausführung! Selten ist das Innere eines in engen +Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungefähr in fieberhafte +Aufregung gerät, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt worden als +in dieser auch stofflich höchst spannenden, aus einem einzigen Monolog +bestehenden Novelle. (Dresdner Anzeiger) + + +Dämmerseelen + +Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark + +Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene +außerordentliche Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der +zahlreichen europäischen Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden +erkannt wird. Von jener weltmännischen Gewandtheit, die nur irrtümlich +als oberflächlich gilt, weil sie schamhaft genug ist, heiße Tränen +hinter dem heimlichen Wappenschilde des Lächelns zu verbergen, läßt er +durch die Maske des spielerisch tändelnden Dandys das wahre Antlitz des +sinnenden ernsten Dichters lugen. (Breslauer Morgenzeitung) + + +Der Weg ins Freie + +Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark + +Je länger dieses Buch in mir nachklingt, desto stärker wird der +menschliche Eindruck, den es hinterläßt. Hier ist diese wundervolle +Vereinigung, daß man überall spürt, wie stark in dem Dichter Schnitzler +der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der Mensch den +Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, künstlerisches, und +beinahe möchte man sagen privates Fühlen so vollkommene Einheit, daß man +über das Buch hinaus den Eindruck der reinen Individualität empfängt, +die es geschrieben hat. (Die Zeit, Wien) + + +Masken und Wunder + +Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark + +Ein geheimnisreicher Name für ein rätselvolles, ernstes und tiefes Buch! +Von den Seelen merkwürdiger Menschen, zumal von Frauen, ist darin +gehandelt -- skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch mit der +seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem Wesen +erfaßt und in den feinsten Gründen ihrer Existenz darlegt. +(Generalanzeiger, Mannheim) + + +Frau Beate und ihr Sohn + +Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50 + +Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genußtriebs, die uns +Schnitzler so oft mit überlegener Ironie geschildert hat, arbeitet er in +dieser Meisternovelle eine erschütternde Tragik heraus. Schnitzler hat +in dieser novellistischen Tragödie der entweihten Mutterschaft sein +Stärkstes geboten. (Vossische Zeitung, Berlin) + + + + +Gustaf af Geijerstam + +Gesammelte Romane in fünf Bänden + + +Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt des +Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark + + +1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis des Waldes / +Kristins Myrte / Sammel / Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis. + +2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe. + +3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht. + +4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte. + +5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrenhofallee. + + +Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten unter uns. +Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung seiner Werke -- +rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr billigem Preise, die +denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe -- ist Beweis +dafür. Den Geijerstam, den man braucht, hat man in dieser Auswahl ganz. +Sie findet ihre literarische Rechtfertigung zudem in einer Einleitung +von Friedrich Düsel, und diese Einführung gibt eine seelisch +eindringliche, man könnte beinahe sagen erschöpfende Analyse von +Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... In Geijerstam kündigt sich +eine neue Weltanschauung an, noch viel zu unentwickelt, um in den Rahmen +von zehn Geboten gefaßt zu werden, doch aber recht eigentlich die +Weltanschauung des Menschen, der nicht die Kraft, dafür aber die +Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. -- Eine neue Frucht der +Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht dieser Erzählungen! Aus +dem Stamm des sozialen Mitleidens ist sie erwachsen. Menschen mit +verfeinerten Empfindungsorganen werden danach greifen und werden -- wie +das immer war -- beides daraus schmecken: Tod und Leben. (Frankfurter +Zeitung) + + + + +Otto Erich Hartleben + +Ausgewählte Werke in drei Bänden + + +Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitmüller. Mit dem Bilde des +Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappbänden gebunden 10 Mark, in +drei Ganzpergamentbänden 15 Mark. + + +1. Bd.: Gedichte: Einleitung / Die Gedichte vollständig. + +2. Bd.: Prosa: Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe / +Wie der Kleine zum Teufel wurde / Vom gastfreien Pastor / Der +Einhornapotheker / Der römische Maler / Der bunte Vogel. + +3. Bd.: Dramen: Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung zur Ehe / Die +sittliche Forderung / Rosenmontag. + + +Ein schönes Werk der Pietät. In wundervoller Ausstattung ist hier ein +Überblick über des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten Band +ziert ein schönes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband -- alles ist zu +jener vornehmen Harmonie abgetönt, die des Dichters eigene Person +ausströmte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude hatte, ihm +im Leben zu begegnen. Diese drei Bände stellen eine Zierde für jede +Bibliothek dar. (Universum, Leipzig) + +Dieses Werk faßt als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckstück, nämlich +das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in seiner +Einleitung Bruchstücke aus den Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt, mit +denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres Ältesten geleitete. Diese +Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem Sinne Biographisches. Denn sie +kennzeichnen ihre Verfasserin, diese stille Frau, die nicht Frau Ajas +Humor, aber Frau Ajas Geduld und ihre Liebe hat. (Hamburger Fremdenblatt) + + + + +Peter Nansen + +Werke in drei Bänden + + +Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenbände in elegantem Futteral 12 +Mark. Jeder Band einzeln geheftet 3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4 +Mark 50 Pf. + + +1. Band: _Jugend und Liebe._ Eine glückliche Ehe / Aus dem ersten +Universitätsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete Fenster / Des +Bürgermeisters Winterüberzieher / Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines +Verliebten / Ein Weihnachtsmärchen / Der Weihnachtsbaum / Fräulein Mimi +/ Eine Ballunterhaltung. + +2. Band: _Theater._ Judiths Ehe / Eine glückliche Ehe / Kameraden / Ein +Hochzeitsabend / Die gestörte Verbindung. + +3. Band: _Die Romane des Herzens._ Julies Tagebuch / Maria / +Gottesfriede. + + +Nansens freie Selbständigkeit und seine künstlerische Unbefangenheit, +die manchen als Rücksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine hohe +Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach über der Tendenz +die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern, wie sie ist. +Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur zu Ehren +bringen, indem er in erster Linie die »Weibheit« der Frau -- wie Laura +Marholm sagen würde -- berücksichtigt; aber diese Absicht ist nicht die +Hauptsache. Seine Bücher haben dagegen einen eigenen poetischen Wert. +(Norddeutsche Allgemeine Zeitung) + +Peter Nansen stammt aus der elegischen, graziösen Hauptstadt des +Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien, geistig mit +Paris verwandt ist. Er gehört zu denen, die das Klima der nordischen +Literatur wärmer, sinnlicher, verführerischer gemacht haben, so daß wir +die Franzosen bald ganz entbehren können. (Das Literarische Echo) + + + + +[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1914 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer +Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält +eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen +Korrekturen. + +p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (entfernt) +p 024: Anführungszeichen ergänzt: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!« +p 026: Anführungszeichen ergänzt: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!« +p 102: Anführungszeichen ergänzt: »Wie?-- -> »Wie?«-- +p 128: Anführungszeichen ergänzt: »Ich bin nicht schuld daran, +p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte. +p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ] + + + +[Transcriber's Note: This ebook has been prepared from scans of an +original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers +Bibliothek zeitgenössischer Romane". The table below lists all +corrections applied to the original text. + +p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (deleted) +p 024: added missing quotes: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!« +p 026: added missing quotes: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!« +p 102: added missing quotes: »Wie?-- -> »Wie?«-- +p 128: added missing quotes: »Ich bin nicht schuld daran, +p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte. +p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ] + + + + + +End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN *** + +***** This file should be named 17142-8.txt or 17142-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17142/ + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Die griechische Tänzerin + und andere Novellen + +Author: Arthur Schnitzler + +Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN *** + + + + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + + + + + +</pre> + + + + +<!-- Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane <a class="page" name="Page_1" id="Page_1" title="1"></a> --> + +<!-- [Blank Page] <a class="page" name="Page_2" id="Page_2" title="2"></a> --> + +<p><a class="page" name="Page_3" id="Page_3" title="3"></a></p> +<h1 class="title">Die griechische Tänzerin</h1> + +<h3 class="title">und andere Novellen<br /> +von</h3> +<h2 class="title">Arthur Schnitzler</h2> + + +<h5 class="title">S. Fischer, Verlag, Berlin</h5> + + +<p><a class="page" name="Page_4" id="Page_4" title="4"></a></p> +<p class="copyright">Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung<br /> +Copyright S. Fischer, Verlag</p> + +<hr style="width: 65%;" /> + +<p><a class="page" name="Page_5" id="Page_5" title="5"></a></p> +<table class="toc"> +<caption>Inhalt</caption> +<tr><td><a href="#Der_blinde_Geronimo_und_sein_Bruder">Der blinde Geronimo und sein Bruder</a></td> +<td align="right">7</td></tr> +<tr><td><a href="#Die_Toten_schweigen">Die Toten schweigen</a></td> +<td align="right">53</td></tr> +<tr><td><a href="#Die_Weissagung">Die Weissagung</a></td> +<td align="right">85</td></tr> +<tr><td><a href="#Das_neue_Lied">Das neue Lied</a></td> +<td align="right">128</td></tr> +<tr><td><a href="#Die_griechische_Taenzerin">Die griechische Tänzerin</a></td> +<td align="right">157</td></tr> +</table> + + +<!-- [Blank Page] <a class="page" name="Page_6" id="Page_6" title="6"></a> --> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_7" id="Page_7" title="7"></a></p> +<h2 class="novelle"><a name="Der_blinde_Geronimo_und_sein_Bruder" id="Der_blinde_Geronimo_und_sein_Bruder"></a>Der blinde Geronimo und sein Bruder</h2> + + +<p class="newsection">Der blinde Geronimo stand von der Bank auf +und nahm die Gitarre zur Hand, die auf dem +Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. +Er hatte das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen. +Nun tastete er sich den wohlbekannten +Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die +schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten +Hofraum hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm, +und beide stellten sich gleich neben der Treppe auf, +den Rücken zur Wand gekehrt, um gegen den naßkalten +Wind geschützt zu sein, der über den feuchtschmutzigen +Boden durch die offenen Tore strich.</p> + +<p>Unter dem düsteren Bogen des alten Wirtshauses +mußten alle Wagen passieren, die den Weg über das +Stilfserjoch nahmen. Für die Reisenden, welche von +Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast +vor der Höhe. Zu langem Aufenthalte lud es nicht +ein, denn gerade hier lief die Straße ziemlich eben, +ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen hin. Der +blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in +den Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.</p> + +<p>Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere +<a class="page" name="Page_8" id="Page_8" title="8"></a>Wagen. Die meisten Reisenden blieben sitzen, in Plaids +und Mäntel wohl eingehüllt, andere stiegen aus und +spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her. +Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen +klatschte herab. Nach einer Reihe schöner Tage schien +der Herbst plötzlich und allzu früh hereinzubrechen.</p> + +<p>Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der +Gitarre; er sang mit einer ungleichmäßigen, manchmal +plötzlich aufkreischenden Stimme, wie immer, wenn +er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf +wie mit einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach +oben. Aber die Züge seines Gesichtes mit den schwarzen +Bartstoppeln und den bläulichen Lippen blieben +vollkommen unbeweglich. Der ältere Bruder stand +neben ihm, beinahe regungslos. Wenn ihm jemand +eine Münze in den Hut fallen ließ, nickte er Dank und +sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick +ins Gesicht. Aber gleich, beinahe ängstlich, wandte er +den Blick wieder fort und starrte gleich dem Bruder +ins Leere. Es war, als schämten sich seine Augen des +Lichts, das ihnen gewährt war, und von dem sie dem +blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten.</p> + +<p>»Bring mir Wein,« sagte Geronimo, und Carlo +ging, gehorsam wie immer. Während er die Stufen +aufwärts schritt, begann Geronimo wieder zu singen. +<a class="page" name="Page_9" id="Page_9" title="9"></a>Er hörte längst nicht mehr auf seine eigene Stimme, +und so konnte er auf das merken, was in seiner Nähe +vorging. Jetzt vernahm er ganz nahe zwei flüsternde +Stimmen, die eines jungen Mannes und einer jungen +Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen +Weg hin und her gegangen sein mochten; denn +in seiner Blindheit und in seinem Rausch war ihm +manchmal, als kämen Tag für Tag dieselben Menschen +über das Joch gewandert, bald von Norden gegen +Süden, bald von Süden gegen Norden. Und so +kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit.</p> + +<p>Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas +Wein. Der Blinde schwenkte es dem jungen Paare +zu und sagte: »Ihr Wohl, meine Herrschaften!«</p> + +<p>»Danke,« sagte der junge Mann; aber die junge +Frau zog ihn fort, denn ihr war dieser Blinde unheimlich.</p> + +<p>Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich lärmenden +Gesellschaft ein: Vater, Mutter, drei Kinder, eine +Bonne.</p> + +<p>»Deutsche Familie,« sagte Geronimo leise zu Carlo.</p> + +<p>Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück, +und jedes durfte das seine in den Hut des Bettlers +werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum +Dank. Der älteste Knabe sah dem Blinden mit ängst<a class="page" name="Page_10" id="Page_10" title="10"></a>licher +Neugier ins Gesicht. Carlo betrachtete den +Knaben. Er mußte, wie immer beim Anblick solcher +Kinder, daran denken, daß Geronimo gerade so alt +gewesen war, als das Unglück geschah, durch das er +das Augenlicht verloren hatte. Denn er erinnerte sich +jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig +Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute +klang ihm der grelle Kinderschrei ins Ohr, mit dem +der kleine Geronimo auf den Rasen hingesunken war, +noch heute sah er die Sonne auf der weißen Gartenmauer +spielen und kringeln und hörte die Sonntagsglocken +wieder, die gerade in jenem Augenblick +getönt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen +nach der Esche an der Mauer geschossen, und als er +den Schrei hörte, dachte er gleich, daß er den kleinen +Bruder verletzt haben mußte, der eben vorbeigelaufen +war. Er ließ das Blasrohr aus den Händen gleiten, +sprang durchs Fenster in den Garten und stürzte zu +dem kleinen Bruder hin, der auf dem Grase lag, die +Hände vors Gesicht geschlagen und jammerte. Über +die rechte Wange und den Hals floß ihm Blut herunter. +In derselben Minute kam der Vater vom Felde heim, +durch die kleine Gartentür, und nun knieten beide +ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn +eilten herbei; die alte Vanetti war die erste, der es +<a class="page" name="Page_11" id="Page_11" title="11"></a>gelang, dem Kleinen die Hände vom Gesicht zu entfernen. +Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo +damals in der Lehre war und der sich ein bißchen aufs +Kurieren verstand; und der sah gleich, daß das rechte +Auge verloren war. Der Arzt, der abends aus +Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, +er deutete schon die Gefahr an, in der das andere +Auge schwebte. Und er behielt recht. Ein Jahr später +war die Welt für Geronimo in Nacht versunken. +Anfangs versuchte man ihm einzureden, daß er später +geheilt werden könnte, und er schien es zu glauben. +Carlo, der die Wahrheit wußte, irrte damals tage- und +nächtelang auf der Landstraße, zwischen den Weinbergen +und in den Wäldern umher, und war nahe +daran, sich umzubringen. Aber der geistliche Herr, +dem er sich anvertraute, klärte ihn auf, daß es seine +Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu +widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid +ergriff ihn. Nur wenn er bei dem blinden Jungen +war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine Stirne +küssen durfte, ihm Geschichten erzählte, ihn auf den +Feldern hinter dem Hause und zwischen den Rebengeländen +spazieren führte, milderte sich seine Pein. +Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der Schmiede +vernachlässigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht +<a class="page" name="Page_12" id="Page_12" title="12"></a>trennen mochte, und konnte sich nachher nicht mehr +entschließen, sein Handwerk wieder aufzunehmen, +trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines +Tages fiel es Carlo auf, daß Geronimo vollkommen +aufgehört hatte, von seinem Unglück zu reden. Bald +wußte er, warum: der Blinde war zur Einsicht +gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die +Straßen, die Menschen, das Licht wieder sehen würde. +Nun litt Carlo noch mehr als früher, so sehr er sich +auch selbst damit zu beruhigen suchte, daß er ohne +jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und +manchmal, wenn er am frühen Morgen den Bruder +betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er von einer +solchen Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er +in den Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu +müssen, wie die toten Augen jeden Tag von neuem +das Licht zu suchen schienen, das ihnen für immer +erloschen war. Zu jener Zeit war es, daß Carlo auf +den Einfall kam, Geronimo, der eine angenehme +Stimme hatte, in der Musik weiter ausbilden zu +lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal +Sonntags herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. +Damals ahnte der Blinde freilich noch nicht, daß die +neuerlernte Kunst einmal zu seinem Lebensunterhalt +dienen würde.</p> + +<p><a class="page" name="Page_13" id="Page_13" title="13"></a>Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück +für immer in das Haus des alten Lagardi +eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet ein Jahr nach +dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte +erspart hatte, wurde er von einem Verwandten betrogen; +und als er an einem schwülen Augusttag auf +freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, +hinterließ er nichts als Schulden. Das kleine Anwesen +wurde verkauft, die beiden Brüder waren obdachlos +und arm und verließen das Dorf.</p> + +<p>Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. +Damals begann das Bettel- und Wanderleben, das +sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo daran +gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich +ihn und den Bruder ernähren könnte; aber es wollte +nicht gelingen. Auch hatte Geronimo nirgend Ruhe; +er wollte immer auf dem Wege sein.</p> + +<p>Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Straßen +und Pässen herumzogen, im nördlichen Italien und +im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der dichtere +Zug der Reisenden vorüberströmte.</p> + +<p>Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht +mehr die brennende Qual verspürte, mit der ihn früher +jedes Leuchten der Sonne, der Anblick jeder freundlichen +Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes +<a class="page" name="Page_14" id="Page_14" title="14"></a>nagendes Mitleid in ihm, beständig und ihm unbewußt, +wie der Schlag seines Herzens und sein Atem. Und +er war froh, wenn Geronimo sich betrank.</p> + +<p>Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. +Carlo setzte sich, wie er gern tat, auf die +untersten Stufen der Treppe, Geronimo aber blieb +stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen und hielt +den Kopf nach oben gewandt.</p> + +<p>Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube.</p> + +<p>»Habt’s viel verdient heut?« rief sie herunter.</p> + +<p>Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde bückte +sich nach seinem Glas, hob es vom Boden auf und +trank es Maria zu. Sie saß manchmal abends in der +Wirtsstube neben ihm; er wußte auch, daß sie schön war.</p> + +<p>Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Straße +hinaus. Der Wind blies, und der Regen prasselte, +so daß das Rollen des nahenden Wagens in den +heftigen Geräuschen unterging. Carlo stand auf und +nahm wieder seinen Platz an des Bruders Seite ein.</p> + +<p>Geronimo begann zu singen, schon während der +Wagen einfuhr, in dem nur ein Passagier saß. Der +Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte er +hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine +Weile in seiner Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen +grauen Regenmantel; er schien auf den Gesang gar +<a class="page" name="Page_15" id="Page_15" title="15"></a>nicht zu hören. Nach einer Weile aber sprang er +aus dem Wagen und lief mit großer Hast hin und her, +ohne sich weit vom Wagen zu entfernen. Er rieb +immerfort die Hände aneinander, um sich zu erwärmen. +Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken. +Er stellte sich ihnen gegenüber und sah sie lange wie +prüfend an. Carlo neigte leicht den Kopf, wie zum +Gruße. Der Reisende war ein sehr junger Mensch +mit einem hübschen, bartlosen Gesicht und unruhigen +Augen. Nachdem er eine ganze Weile vor den +Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore, +durch das er weiterfahren sollte, und schüttelte bei +dem trostlosen Ausblick in Regen und Nebel verdrießlich +den Kopf.</p> + +<p>»Nun?« fragte Geronimo.</p> + +<p>»Noch nichts,« erwiderte Carlo. »Er wird wohl +geben, wenn er fortfährt.«</p> + +<p>Der Reisende kam wieder zurück und lehnte sich +an die Deichsel des Wagens. Der Blinde begann zu +singen. Nun schien der junge Mann plötzlich mit +großem Interesse zuzuhören. Der Knecht erschien +und spannte die Pferde wieder ein. Und jetzt erst, +als besänne er sich eben, griff der junge Mann in die +Tasche und gab Carlo einen Frank.</p> + +<p>»O danke, danke,« sagte dieser.</p> + +<p><a class="page" name="Page_16" id="Page_16" title="16"></a>Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte +sich wieder in seinen Mantel. Carlo nahm das Glas +vom Boden auf und ging die Holzstufen hinauf. +Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum +Wagen heraus und schüttelte den Kopf mit einem +Ausdruck von Überlegenheit und Traurigkeit zugleich. +Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er +lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum +zwei Schritte weit von ihm stand: »Wie heißt du?«</p> + +<p>»Geronimo.«</p> + +<p>»Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.« +In diesem Augenblick erschien der Kutscher auf der +obersten Stufe der Treppe.</p> + +<p>»Wieso, gnädiger Herr, betrügen?«</p> + +<p>»Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankstück +gegeben.«</p> + +<p>»O Herr, Dank, Dank!«</p> + +<p>»Ja; also paß auf.«</p> + +<p>»Er ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich nicht.«</p> + +<p>Der junge Mann stutzte eine Weile, aber während +er noch überlegte, war der Kutscher auf den Bock +gestiegen und hatte die Pferde angetrieben. Der +junge Mann lehnte sich zurück mit einer Bewegung +des Kopfes, als wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen +Lauf! und der Wagen fuhr davon.</p> + +<p><a class="page" name="Page_17" id="Page_17" title="17"></a>Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte +Gebärden des Dankes nach. Jetzt hörte er Carlo, der +eben aus der Wirtsstube kam. Der rief herunter: +»Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat +Feuer gemacht!«</p> + +<p>Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm +und tastete sich am Geländer die Stufen hinauf. Auf +der Treppe schon rief er: »Laß es mich anfühlen! +Wie lang hab ich schon kein Goldstück angefühlt!«</p> + +<p>»Was gibt’s?« fragte Carlo. »Was redest du da?«</p> + +<p>Geronimo war oben und griff mit beiden Händen +nach dem Kopf seines Bruders, ein Zeichen, mit dem +er stets Freude oder Zärtlichkeit auszudrücken pflegte. +»Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute Menschen!«</p> + +<p>»Gewiß,« sagte Carlo. »Bis jetzt sind es zwei Lire +und dreißig Zentesimi; und hier ist noch österreichisches +Geld, vielleicht eine halbe Lira.«</p> + +<p>»Und zwanzig Franken – und zwanzig Franken!« +rief Geronimo. »Ich weiß es ja!« Er torkelte in die +Stube und setzte sich schwer auf die Bank.</p> + +<p>»Was weißt du?« fragte Carlo.</p> + +<p>»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! +Wie lang hab ich schon kein Goldstück in der Hand +gehabt!«</p> + +<p><a class="page" name="Page_18" id="Page_18" title="18"></a>»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück +nehmen? Es sind zwei Lire oder drei.«</p> + +<p>Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber +genug, genug! Willst du es etwa vor mir verstecken?«</p> + +<p>Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert +an. Er setzte sich neben ihn, rückte ganz nahe und faßte +wie begütigend seinen Arm: »Ich verstecke nichts vor +dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es +eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.«</p> + +<p>»Aber er hat mir’s doch gesagt!«</p> + +<p>»Wer?«</p> + +<p>»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.«</p> + +<p>»Wie? Ich versteh dich nicht!«</p> + +<p>»So hat er zu mir gesagt: ›Wie heißt du?‹ und +dann: ›Gib acht, gib acht, laß dich nicht betrügen!‹«</p> + +<p>»Du mußt geträumt haben, Geronimo – das ist +ja Unsinn!«</p> + +<p>»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre +gut. ›Laß dich nicht betrügen; ich habe ihm ein Goldstück +...‹ – nein, so sagte er: ›Ich habe ihm ein +Zwanzig-Frankstück gegeben.‹«</p> + +<p>Der Wirt kam herein. »Nun, was ist’s mit euch? +Habt ihr das Geschäft aufgegeben? Ein Vierspänner +ist gerade angefahren.«</p> + +<p>»Komm!« rief Carlo, »komm!«</p> + +<p><a class="page" name="Page_19" id="Page_19" title="19"></a>Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum +soll ich kommen? Was hilft’s mir denn? Du stehst +ja dabei und –«</p> + +<p>Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt +hinunter!«</p> + +<p>Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. +Aber auf den Stufen sagte er: »Wir reden noch, wir +reden noch!«</p> + +<p>Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo +plötzlich verrückt geworden? Denn, wenn er +auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise hatte er +noch nie gesprochen.</p> + +<p>In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei +Engländer; Carlo lüftete den Hut vor ihnen, und der +Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen +und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: +»Danke« und dann, wie vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« +Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt; er +begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei +Engländern fuhr davon.</p> + +<p>Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. +Geronimo setzte sich auf die Bank, Carlo blieb beim +Ofen stehen.</p> + +<p>»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo.</p> + +<p>»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, +<a class="page" name="Page_20" id="Page_20" title="20"></a>wie ich dir gesagt habe.« Seine Stimme zitterte ein +wenig.</p> + +<p>»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo.</p> + +<p>»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.«</p> + +<p>»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! +Wenn einer sagt: ›Ich habe deinem Bruder zwanzig +Franken gegeben,‹ so ist er wahnsinnig! – Eh, und +warum hat er gesagt: ›Laß dich nicht betrügen‹ – eh?«</p> + +<p>»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber +es gibt Menschen, die mit uns armen Leuten Späße +machen ...«</p> + +<p>»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? – Ja, das hast +du noch sagen müssen – darauf habe ich gewartet!« +Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm stand.</p> + +<p>»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß +er vor Bestürzung kaum sprechen konnte, »warum +sollte ich ... wie kannst du glauben ...?«</p> + +<p>»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum +...?«</p> + +<p>»Geronimo, ich versichere dir, ich –«</p> + +<p>»Eh – und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... +ich weiß ja, daß du jetzt lachst!«</p> + +<p>Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, +Leut’ sind da!«</p> + +<p>Ganz mechanisch standen die Brüder auf und +<a class="page" name="Page_21" id="Page_21" title="21"></a>schritten die Stufen hinab. Zwei Wagen waren +zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer +mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo +stand neben ihm, fassungslos. Was sollte er nur tun? +Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie war das nur +möglich? – Und er betrachtete Geronimo, der mit +zerbrochener Stimme seine Lieder sang, angstvoll von +der Seite. Es war ihm, als sähe er über diese Stirne +Gedanken fliehen, die er früher dort niemals gewahrt +hatte.</p> + +<p>Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang +weiter. Carlo wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Er +wußte nicht, was er sagen sollte, er fürchtete, daß seine +Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen +von oben, und Maria rief: »Was singst denn noch +immer? Von mir kriegst du ja doch nichts!«</p> + +<p>Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es +klang, als wäre seine Stimme und die Saiten zugleich +abgerissen. Dann ging er wieder die Stufen hinauf, +und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er +sich neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm +nichts anderes übrig: er mußte noch einmal versuchen, +den Bruder aufzuklären.</p> + +<p>»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ... bedenk +doch, Geronimo, wie kannst du glauben, daß ich –«</p> + +<p><a class="page" name="Page_22" id="Page_22" title="22"></a>Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen +durch das Fenster in den grauen Nebel hinauszublicken. +Carlo redete weiter: »Nun, er braucht ja +nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt +haben ... ja er hat sich geirrt ...« Aber er fühlte +wohl, daß er selbst nicht glaubte, was er sagte.</p> + +<p>Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo +redete weiter, mit plötzlicher Lebhaftigkeit: »Wozu +sollte ich denn – du weißt doch, ich esse und trinke +nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock +kaufe, so weißt du’s doch ... wofür brauch ich denn +so viel Geld? Was soll ich denn damit tun?«</p> + +<p>Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen hervor: +»Lüg nicht, ich höre, wie du lügst!«</p> + +<p>»Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!« sagte +Carlo erschrocken.</p> + +<p>»Eh! hast du ihr’s schon gegeben, ja? Oder bekommt +sie’s erst nachher?« schrie Geronimo.</p> + +<p>»Maria?«</p> + +<p>»Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du Dieb!« +Und als wollte er nicht mehr neben ihm am Tische +sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den Bruder in die Seite.</p> + +<p>Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an, +dann verließ er das Zimmer und ging über die Stiege +in den Hof. Er schaute mit weit offenen Augen auf +<a class="page" name="Page_23" id="Page_23" title="23"></a>die Straße hinaus, die vor ihm in bräunlichen Nebel +versank. Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte +die Hände in die Hosentaschen und ging ins Freie. +Es war ihm, als hätte ihn sein Bruder davongejagt. +Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch +immer nicht fassen. Was für ein Mensch mochte das +gewesen sein? Einen Franken schenkt er her und +sagt, es waren zwanzig! Er mußte doch irgendeinen +Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in +seiner Erinnerung, ob er sich nicht irgendwo jemanden +zum Feind gemacht, der nun einen anderen hergeschickt +hatte, um sich zu rächen ... Aber soweit er +zurückdenken mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, +nie irgendeinen ernsten Streit mit jemandem vorgehabt. +Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes +getan, als daß er in Höfen oder an Straßenrändern +gestanden war mit dem Hut in der Hand ... War ihm +vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers böse?... +Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun +gehabt ... die Kellnerin in La Rosa war die letzte +gewesen, im vorigen Frühjahr ... aber um die war +ihm gewiß niemand neidisch ... Es war nicht zu +begreifen!... Was mochte es da draußen in der +Welt, die er nicht kannte, für Menschen geben?... +Von überallher kamen sie ... was wußte er von +<a class="page" name="Page_24" id="Page_24" title="24"></a>ihnen?... Für diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen +Sinn gehabt, daß er zu Geronimo sagte: Ich +habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ... +Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit +einem Male war es offenbar geworden, daß Geronimo +ihm mißtraute!... Das konnte er nicht ertragen! +Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen ... +Und er eilte zurück.</p> + +<p>Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo +auf der Bank ausgestreckt und schien das Eintreten +Carlos nicht zu bemerken. Maria brachte den beiden +Essen und Trinken. Sie sprachen während der Mahlzeit +kein Wort. Als Maria die Teller abräumte, lachte +Geronimo plötzlich auf und sagte zu ihr: »Was wirst +du dir denn dafür kaufen?«</p> + +<p>»Wofür denn?!«</p> + +<p>»Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?«</p> + +<p>»Was will er denn von mir?« wandte sie sich an +Carlo.</p> + +<p>Indes dröhnte unten der Hof von lastenbeladenen +Fuhrwerken, laute Stimmen tönten herauf und Maria +eilte hinunter. Nach ein paar Minuten kamen drei +Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der +Wirt trat zu ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften +über das schlechte Wetter.</p> + +<p><a class="page" name="Page_25" id="Page_25" title="25"></a>»Heute nacht werdet ihr Schnee haben,« sagte +der eine.</p> + +<p>Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren Mitte +August auf dem Joch eingeschneit und beinahe erfroren +war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch der +Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen +Eltern, die unten in Bormio wohnten.</p> + +<p>Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden. +Geronimo und Carlo gingen hinunter, Geronimo sang, +Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden gaben ihr +Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte +manchmal: »Wieviel?« und nickte zu den Antworten +Carlos leicht mit dem Kopfe. Indes versuchte Carlo +selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte immer +nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen +und daß er ganz wehrlos war.</p> + +<p>Als die Brüder wieder die Stufen hinaufschritten, +hörten sie die Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden +und lachen. Der jüngste rief dem Geronimo +entgegen: »Sing uns doch auch was vor, wir zahlen +schon! – Nicht wahr?« wandte er sich an die anderen.</p> + +<p>Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein +kam, sagte: »Fangt heut nichts mit ihm an, er ist +schlechter Laune.«</p> + +<p>Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten +<a class="page" name="Page_26" id="Page_26" title="26"></a>ins Zimmer hin und fing an zu singen. Als er geendet, +klatschten die Fuhrleute in die Hände.</p> + +<p>»Komm her, Carlo!« rief einer, »wir wollen dir +unser Geld auch in den Hut werfen wie die Leute +unten!« Und er nahm eine kleine Münze und hielt +die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen, +den ihm Carlo entgegenstreckte. Da griff der Blinde +nach dem Arm des Fuhrmannes und sagte: »Lieber +mir, lieber mir! Es könnte daneben fallen – daneben!«</p> + +<p>»Wieso daneben?«</p> + +<p>»Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!«</p> + +<p>Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo +stand regungslos da. Nie hatte Geronimo solche Späße +gemacht!...</p> + +<p>»Setz dich zu uns!« riefen die Fuhrleute. »Du bist +ein lustiger Kerl!« Und sie rückten zusammen, um +Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und wirrer +war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit, +lauter und lustiger als sonst, und hörte nicht auf zu +trinken. Als Maria eben wieder hereinkam, wollte +er sie an sich ziehen; da sagte der eine von den Fuhrleuten +lachend: »Meinst du vielleicht, sie ist schön? +Sie ist ja ein altes häßliches Weib!«</p> + +<p>Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß. »Ihr +seid alle Dummköpfe,« sagte er. »Glaubt ihr, ich +<a class="page" name="Page_27" id="Page_27" title="27"></a>brauche meine Augen, um zu sehen? Ich weiß auch, +wo Carlo jetzt ist – eh! – dort am Ofen steht er, +hat die Hände in den Hosentaschen und lacht.«</p> + +<p>Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde +am Ofen lehnte und nun wirklich das Gesicht zu einem +Grinsen verzog, als dürfte er seinen Bruder nicht +Lügen strafen.</p> + +<p>Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch +vor Dunkelheit in Bormio sein wollten, mußten sie +sich beeilen. Sie standen auf und verabschiedeten sich +lärmend. Die beiden Brüder waren wieder allein in +der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst +manchmal zu schlafen pflegten. Das ganze Wirtshaus +versank in Ruhe wie immer um diese Zeit der ersten +Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem +Tisch, schien zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und +her, dann setzte er sich auf die Bank. Er war sehr +müde. Es schien ihm, als wäre er in einem schweren +Traum befangen. Er mußte an allerlei denken, an +gestern, vorgestern und alle Tage, die früher waren, +und besonders an warme Sommertage und an weiße +Landstraßen, über die er mit seinem Bruder zu +wandern pflegte, und alles war so weit und unbegreiflich, +als wenn es nie wieder so sein könnte.</p> + +<p>Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol +<a class="page" name="Page_28" id="Page_28" title="28"></a>und bald darauf in kleinen Zwischenpausen Wagen, +die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch +viermal mußten die Brüder in den Hof hinab. Als +sie das letztemal heraufgingen, war die Dämmerung +hereingebrochen, und das Öllämpchen, das von der +Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die +in einem nahen Steinbruche beschäftigt waren und +ein paar hundert Schritte unterhalb des Wirtshauses +ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo setzte +sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. +Es war ihm, als dauerte seine Einsamkeit schon sehr +lange. Er hörte, wie Geronimo drüben laut, beinahe +schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er sich +noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen +Augen gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, +wie er auf dem Felde arbeitete, an den kleinen Garten +mit der Esche an der Mauer, an das niedrige Häuschen, +das ihnen gehörte, an die zwei kleinen Töchter des +Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an +sein eigenes Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel +entgegengeblickt hatte. Wie oft hatte Carlo das alles +gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang anders +als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam +einen neuen Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. +Er schlich hinaus und ging wieder auf die Land<a class="page" name="Page_29" id="Page_29" title="29"></a>straße, +die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte +aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke +erschien Carlo beinahe verlockend, weiterzugehen, +immer weiter, tief in die Finsternis hinein, sich am +Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen, +einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. – Plötzlich +hörte er das Rollen eines Wagens und erblickte den +Lichtschimmer von zwei Laternen, die immer näher +kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, saßen zwei +Herren. Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen +Gesichte fuhr erschrocken zusammen, als Carlos +Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel +hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete +den Hut. Der Wagen und die Lichter verschwanden. +Carlo stand wieder in tiefer Finsternis. Plötzlich schrak +er zusammen. Das erstemal in seinem Leben machte +ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er +es keine Minute länger ertragen. In einer sonderbaren +Art vermengten sich in seinem dumpfen Sinnen +die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem +quälenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten +ihn nach Hause.</p> + +<p>Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden +Reisenden, die vorher an ihm vorbeigefahren waren, +bei einer Flasche Rotwein an einem Tische sitzen und +<a class="page" name="Page_30" id="Page_30" title="30"></a>sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten +kaum auf, als er eintrat.</p> + +<p>An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher +unter den Arbeitern.</p> + +<p>»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt +schon an der Tür. »Warum läßt du deinen Bruder +allein?«</p> + +<p>»Was gibt’s denn?« fragte Carlo erschrocken.</p> + +<p>»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann’s ja egal +sein, aber ihr solltet doch denken, daß bald wieder +schlechtere Zeiten kommen.«</p> + +<p>Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am +Arme. »Komm!« sagte er.</p> + +<p>»Was willst du?« schrie Geronimo.</p> + +<p>»Komm zu Bett,« sagte Carlo.</p> + +<p>»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich +kann mit meinem Gelde tun, was ich will – eh! – +alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr meint +wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein +blinder Mann! Aber es gibt Leute – es gibt gute +Leute, die sagen mir: ›Ich habe deinem Bruder +zwanzig Franken gegeben!‹«</p> + +<p>Die Arbeiter lachten auf.</p> + +<p>»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er +zog den Bruder mit sich, schleppte ihn beinah die +<a class="page" name="Page_31" id="Page_31" title="31"></a>Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo sie +ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie +Geronimo: »Ja, nun ist es an den Tag gekommen, +ja, nun weiß ich’s! Ah, wartet nur. Wo ist sie? Wo +ist Maria? Oder legst du’s ihr in die Sparkassa? – +Eh, ich singe für dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst +du – und du bist ein Dieb!« Er fiel auf den Strohsack +hin.</p> + +<p>Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht +herein; drüben stand die Tür zu dem einzigen Fremdenzimmer +des Wirtshauses offen, und Maria richtete +die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor +seinem Bruder und sah ihn daliegen mit dem gedunsenen +Gesicht, mit den bläulichen Lippen, das +feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre +älter aussehend, als er war. Und langsam begann +er zu verstehen. Nicht von heute konnte das Mißtrauen +des Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert +haben, und nur der Anlaß, vielleicht der Mut hatte +ihm gefehlt, es auszusprechen. Und alles, was Carlo +für ihn getan, war vergeblich gewesen; vergeblich +die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens. +Was sollte er nun tun? – Sollte er noch weiterhin +Tag für Tag, wer weiß wie lange noch, ihn durch die +ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn betteln +<a class="page" name="Page_32" id="Page_32" title="32"></a>und keinen anderen Lohn dafür haben als Mißtrauen +und Schimpf? Wenn ihn der Bruder für einen Dieb +hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde dasselbe oder +Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen, +sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste. +Dann mußte Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, +denn dann erst würde er erfahren, was es heißt, +betrogen und bestohlen werden, einsam und elend +sein. Und er selbst, was sollte er beginnen? Nun, +er war ja noch nicht alt; wenn er für sich allein war, +konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht zum +mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber +während diese Gedanken durch seinen Kopf zogen, +blieben seine Augen immer auf den Bruder geheftet. +Und er sah ihn plötzlich vor sich, allein am Rande einer +sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit +den weit offenen, weißen Augen zum Himmel +starrend, der ihn nicht blenden konnte, und mit den +Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. +Und er fühlte, so wie der Blinde niemand anderen +auf der Welt hatte als ihn, so hatte auch er niemand +anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die Liebe +zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens +war, und wußte zum ersten Male mit völliger Deutlichkeit, +nur der Glaube, daß der Blinde diese Liebe +<a class="page" name="Page_33" id="Page_33" title="33"></a>erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend +so geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung +nicht mit einem Male verzichten. Er fühlte, daß er +den Bruder gerade so notwendig brauchte als der +Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht +verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden +oder ein Mittel finden, um den Blinden von +der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen +... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen +könnte! Wenn er dem Blinden morgen früh +sagen könnte: »Ich habe es nur aufbewahrt, damit +du’s nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir +die Leute nicht stehlen« ... oder sonst irgend etwas ...</p> + +<p>Schritte näherten sich auf der Holztreppe; die +Reisenden gingen zur Ruhe. Plötzlich durchzuckte +seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen, den +Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu +erzählen und sie um die zwanzig Franken zu bitten. +Aber er wußte auch gleich: das war vollkommen aussichtslos! +Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht +einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken +der eine blasse zusammengefahren war, als +er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem Wagen aufgetaucht +war.</p> + +<p>Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz +<a class="page" name="Page_34" id="Page_34" title="34"></a>finster im Zimmer. Jetzt hörte er, wie die Arbeiter +laut redend und mit schweren Schritten über die +Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide +Tore geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die +Treppe auf und ab, dann war es ganz still. Carlo +hörte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald +verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Träumen. +Als er erwachte, war noch tiefe Dunkelheit um +ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster war; +wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort +mitten in dem undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues +Viereck. Geronimo schlief noch immer den +schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte +an den Tag, der morgen war; und ihn schauderte. +Er dachte an die Nacht nach diesem Tage, an den +Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm +lag, und Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, +die ihm bevorstand. Warum war er abends nicht +mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden +gegangen und hatte sie um die zwanzig Franken +gebeten? Vielleicht hätten sie doch Erbarmen mit +ihm gehabt. Und doch – vielleicht war es gut, daß +er sie nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... +Er setzte sich jäh auf und fühlte sein Herz klopfen. +Er wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn abgewiesen +<a class="page" name="Page_35" id="Page_35" title="35"></a>hätten, so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben +– so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der +matt zu leuchten begann ... Das, was ihm gegen +seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren, war +ja unmöglich, vollkommen unmöglich!... Die Tür +drüben war versperrt – und überdies: sie konnten +aufwachen ... Ja, dort – der graue leuchtende Fleck +mitten im Dunkel war der neue Tag – – –</p> + +<p>Carlo stand auf, als zöge es ihn dorthin, und +berührte mit der Stirn die kalte Scheibe. Warum +war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... +Um es zu versuchen?... Was denn?... Es war ja +unmöglich – und überdies war es ein Verbrechen. +Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für +solche Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit +reisen? Sie würden ja gar nicht merken, daß sie ihnen +fehlten ... Er ging zur Türe und öffnete sie leise. +Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu +erreichen, geschlossen. An einem Nagel im Pfosten +hingen Kleidungsstücke. Carlo fuhr mit der Hand über +sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der Tasche +ließen, dann wäre das Leben sehr einfach, dann brauchte +bald niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die +Taschen waren leer. Nun, was blieb übrig? Wieder +zurück ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab vielleicht +<a class="page" name="Page_36" id="Page_36" title="36"></a>doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen +– eine weniger gefährliche und rechtlichere. +Wenn er wirklich jedesmal einige Zentesimi von den +Almosen zurückbehielte, bis er zwanzig Franken zusammengespart, +und dann das Goldstück kaufte ... +Aber wie lang konnte das dauern – Monate, vielleicht +ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut hätte! Noch immer +stand er auf dem Gang. Er blickte zur Tür hinüber ... +Was war das für ein Streif, der senkrecht von oben +auf den Fußboden fiel? War es möglich? Die Tür +war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum +staunte er denn darüber? Seit Monaten schon schloß +die Tür nicht. Wozu auch? Er erinnerte sich: nur +dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute geschlafen, +zweimal Handwerksburschen und einmal ein +Tourist, der sich den Fuß verletzt hatte. Die Tür +schließt nicht – er braucht jetzt nur Mut – ja, und +Glück! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen +kann, ist, daß die beiden aufwachen, und da kann er +noch immer eine Ausrede finden. Er lugt durch den +Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, daß er eben +nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden +Gestalten gewahren kann. Er horcht auf: sie atmen +ruhig und gleichmäßig. Carlo öffnet die Tür leicht +und tritt mit seinen nackten Füßen völlig geräuschlos +<a class="page" name="Page_37" id="Page_37" title="37"></a>ins Zimmer. Die beiden Betten stehen der Länge +nach an der gleichen Wand dem Fenster gegenüber. +In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo schleicht +bis hin. Er fährt mit der Hand über die Fläche +und fühlt ein Schlüsselbund, ein Federmesser, ein +kleines Buch – weiter nichts ... Nun natürlich!... +Daß er nur daran denken konnte, sie würden ihr +Geld auf den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich +wieder fort!... Und doch, vielleicht braucht es nur +einen guten Griff und es ist geglückt ... Und er nähert +sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel +liegt etwas – er fühlt danach – es ist ein Revolver ... +Carlo zuckt zusammen ... Ob er ihn nicht lieber gleich +behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch +den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn +bemerkt ... Doch nein, er würde ja sagen: Es ist +drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!... Und er läßt +den Revolver liegen.</p> + +<p>Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem +anderen Sessel unter den Wäschestücken ... Himmel! +das ist sie ... das ist eine Börse – er hält sie in der +Hand!... In diesem Moment hört er ein leises +Krachen. Mit einer raschen Bewegung streckt er sich +der Länge nach zu Füßen des Bettes hin ... Noch +einmal dieses Krachen – ein schweres Aufatmen – +<a class="page" name="Page_38" id="Page_38" title="38"></a>ein Räuspern – dann wieder Stille, tiefe Stille. +Carlo bleibt auf dem Boden liegen, die Börse in der +Hand, und wartet. Es rührt sich nichts mehr. Schon +fällt der Dämmer blaß ins Zimmer herein. Carlo +wagt nicht aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden +vorwärts bis zur Tür, die weit genug offen steht, um +ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den Gang +hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit +einem tiefen Atemzug. Er öffnet die Börse; sie ist +dreifach geteilt: links und rechts nur kleine Silberstücke. +Nun öffnet Carlo den mittleren Teil, der durch einen +Schieber nochmals verschlossen ist, und fühlt drei +Zwanzigfrankenstücke. Einen Augenblick denkt er +daran, zwei davon zu nehmen, aber rasch weist er +diese Versuchung von sich, nimmt nur ein Goldstück +heraus und schließt die Börse zu. Dann kniet er nieder, +blickt durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder +völlig still ist, und dann gibt er der Börse einen Stoß, +so daß sie bis unter das zweite Bett gleitet. Wenn der +Fremde aufwacht, wird er glauben müssen, daß sie +vom Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich +langsam. Da knarrt der Boden leise, und im gleichen +Augenblick hört er eine Stimme von drinnen: »Was +ist’s? Was gibt’s denn?« Carlo macht rasch zwei +Schritte rückwärts, mit verhaltenem Atem, und gleitet +<a class="page" name="Page_39" id="Page_39" title="39"></a>in seine eigene Kammer. Er ist in Sicherheit und +lauscht ... Noch einmal kracht drüben das Bett, und +dann ist alles still. Zwischen seinen Fingern hält er +das Goldstück. Es ist gelungen – gelungen! Er hat +die zwanzig Franken, und er kann seinem Bruder +sagen: ›Siehst du nun, daß ich kein Dieb bin!‹ Und +sie werden sich noch heute auf die Wanderschaft +machen – gegen den Süden zu, nach Bormio, dann +weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ... +nach Edole ... nach Breno ... an den See von +Iseo wie voriges Jahr ... Das wird durchaus nicht +verdächtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum +Wirt gesagt: »In ein paar Tagen gehen wir hinunter.«</p> + +<p>Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt +in grauem Dämmer da. Ah, wenn Geronimo nur +bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Frühe! +Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen +guten Morgen dem Wirt, dem Knecht und Maria +auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn sie zwei +Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es +Geronimo sagen.</p> + +<p>Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an: +»Geronimo!«</p> + +<p>»Nun, was gibt’s?« Und er stützt sich mit beiden +Händen und setzt sich auf.</p> + +<p><a class="page" name="Page_40" id="Page_40" title="40"></a>»Geronimo, wir wollen aufstehen.«</p> + +<p>»Warum?« Und er richtet die toten Augen auf +den Bruder. Carlo weiß, daß Geronimo sich jetzt des +gestrigen Vorfalles besinnt, aber er weiß auch, daß +der keine Silbe darüber reden wird, ehe er wieder +betrunken ist.</p> + +<p>»Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird +heuer nicht mehr besser; ich denke, wir gehen. Zu +Mittag können wir in Boladore sein.«</p> + +<p>Geronimo erhob sich. Die Geräusche des erwachenden +Hauses wurden vernehmbar. Unten im Hof +sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf und +begab sich hinunter. Er war immer früh wach und +ging oft schon in der Dämmerung auf die Straße +hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte: »Wir wollen +Abschied nehmen.«</p> + +<p>»Ah, geht ihr schon heut?« fragte der Wirt.</p> + +<p>»Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im +Hof steht, und der Wind zieht durch.«</p> + +<p>»Nun, grüß mir den Baldetti, wenn du nach Bormio +hinunterkommst, und er soll nicht vergessen, mir +das Öl zu schicken.«</p> + +<p>»Ja, ich will ihn grüßen. Im übrigen – das Nachtlager +von heut.« Er griff in den Sack.</p> + +<p>»Laß sein, Carlo,« sagte der Wirt. »Die zwanzig +<a class="page" name="Page_41" id="Page_41" title="41"></a>Zentesimi schenk ich deinem Bruder; ich hab ihm +ja auch zugehört. Guten Morgen.«</p> + +<p>»Dank,« sagte Carlo. »Im übrigen, so eilig haben +wir’s nicht. Wir sehen dich noch, wenn du von den +Hütten zurückkommst; Bormio bleibt am selben Fleck +stehen, nicht wahr?« Er lachte und ging die Holzstufen +hinauf.</p> + +<p>Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte: +»Nun, ich bin bereit zu gehen.«</p> + +<p>»Gleich,« sagte Carlo.</p> + +<p>Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel +des Raumes stand, nahm er ihre wenigen Habseligkeiten +und packte sie in ein Bündel. Dann sagte er: +»Ein schöner Tag, aber sehr kalt.«</p> + +<p>»Ich weiß,« sagte Geronimo. Beide verließen die +Kammer.</p> + +<p>»Geh leise,« sagte Carlo, »hier schlafen die zwei, +die gestern abend gekommen sind.« Behutsam schritten +sie hinunter. »Der Wirt läßt dich grüßen,« sagte +Carlo; »er hat uns die zwanzig Zentesimi für heut +nacht geschenkt. Nun ist er bei den Hütten draußen +und kommt erst in zwei Stunden wieder. Wir +werden ihn ja im nächsten Jahre wiedersehen.«</p> + +<p>Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die +Landstraße, die im Dämmerschein vor ihnen lag. +<a class="page" name="Page_42" id="Page_42" title="42"></a>Carlo ergriff den linken Arm seines Bruders, und +beide schritten schweigend talabwärts. Schon nach +kurzer Wanderung waren sie an der Stelle, wo die +Straße in langgezogenen Kehren weiterzulaufen +beginnt. Nebel stiegen nach aufwärts, ihnen entgegen, +und über ihnen die Höhen schienen von den +Wolken wie eingeschlungen. Und Carlo dachte: Nun +will ich’s ihm sagen.</p> + +<p>Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das +Goldstück aus der Tasche und reichte es dem Bruder; +dieser nahm es zwischen die Finger der rechten Hand, +dann führte er es an die Wange und an die Stirn, +endlich nickte er. »Ich hab’s ja gewußt,« sagte er.</p> + +<p>»Nun ja,« erwiderte Carlo und sah Geronimo +befremdet an.</p> + +<p>»Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt hätte, +ich hätte es doch gewußt.«</p> + +<p>»Nun ja,« sagte Carlo ratlos. »Aber du verstehst +doch, warum ich da oben vor den anderen – ich +habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal – – +Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab +ich mir gedacht, daß du dir einen neuen Rock kaufst +und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich; darum +habe ich ...«</p> + +<p>Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« +<a class="page" name="Page_43" id="Page_43" title="43"></a>Und er strich mit der einen Hand über seinen Rock. +»Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir nach +dem Süden.«</p> + +<p>Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht +zu freuen schien, daß er sich nicht entschuldigte. Und +er redete weiter: »Geronimo, war es denn nicht recht +von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun +haben wir es doch, nicht wahr? Nun haben wir es +ganz. Wenn ich dir’s oben gesagt hätte, wer weiß ... +Oh, es ist gut, daß ich dir’s nicht gesagt habe – +gewiß!«</p> + +<p>Da schrie Geronimo: »Hör auf zu lügen, Carlo, +ich habe genug davon!«</p> + +<p>Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders +los. »Ich lüge nicht.«</p> + +<p>»Ich weiß doch, daß du lügst!... Immer lügst +du!... Schon hundertmal hast du gelogen!... Auch +das hast du für dich behalten wollen, aber Angst hast +du bekommen, das ist es!«</p> + +<p>Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er +faßte wieder den Arm des Blinden und ging mit ihm +weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach; +aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger +war.</p> + +<p>Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen +<a class="page" name="Page_44" id="Page_44" title="44"></a>sprach Geronimo: »Es wird warm.« Er sagte es +gleichgültig, selbstverständlich, wie er es schon hundertmal +gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: +für Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo +war er immer ein Dieb gewesen.</p> + +<p>»Hast du schon Hunger?« fragte er.</p> + +<p>Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse +und Brot aus der Rocktasche und aß davon. Und sie +gingen weiter.</p> + +<p>Die Post von Bormio begegnete ihnen; der +Kutscher rief sie an: »Schon hinunter?« Dann kamen +noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren.</p> + +<p>»Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im +gleichen Augenblick, nach einer raschen Wendung, +lag das Veltlin zu ihren Füßen.</p> + +<p>Wahrhaftig – nichts hat sich geändert, dachte +Carlo ... Nun hab ich gar für ihn gestohlen – und +auch das ist umsonst gewesen.</p> + +<p>Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, +der Glanz der Sonne riß Löcher hinein. Und Carlo +dachte: ›Vielleicht war es doch nicht klug, so rasch das +Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter +dem Bett, das ist jedenfalls verdächtig ...‹ Aber wie +gleichgültig war das alles! Was konnte ihm noch +Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das +<a class="page" name="Page_45" id="Page_45" title="45"></a>Licht der Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen +und glaubte es schon jahrelang und wird es immer +glauben – was konnte ihm noch Schlimmes geschehen?</p> + +<p>Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in +Morgenglanz gebadet, und tiefer unten, wo das Tal +sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das Dorf. +Schweigend gingen die beiden weiter, und immer +lag Carlos Hand auf dem Arm des Blinden. Sie +gingen an dem Park des Hotels vorüber, und Carlo +sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern +sitzen und frühstücken. »Wo willst du rasten?« +fragte Carlo.</p> + +<p>»Nun, im ›Adler‹, wie immer.«</p> + +<p>Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des +Dorfes angelangt waren, kehrten sie ein. Sie setzten +sich in die Schenke und ließen sich Wein geben.</p> + +<p>»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt.</p> + +<p>Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist’s +denn so früh? Der zehnte oder elfte September – +nicht?«</p> + +<p>»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, +als ihr herunterkamt.«</p> + +<p>»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht +haben wir gefroren. Ja richtig, ich soll dir bestellen, +du möchtest nicht vergessen, das Öl hinaufzuschicken.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_46" id="Page_46" title="46"></a>Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. +Eine sonderbare Unruhe befiel Carlo; er wollte gern +wieder im Freien sein, auf der großen Straße, die +nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, +überallhin, in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf.</p> + +<p>»Gehen wir schon?« fragte Geronimo.</p> + +<p>»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, +im ›Hirschen‹ halten die Wagen Mittagsrast; es ist +ein guter Ort.«</p> + +<p>Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend +vor seinem Laden. »Guten Morgen,« rief er. »Nun, +wie sieht’s da oben aus? Heut nacht hat es wohl +geschneit?«</p> + +<p>»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine +Schritte.</p> + +<p>Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die +Straße zwischen Wiesen und Weinbergen, dem rauschenden +Fluß entlang. Der Himmel war blau und +still. ›Warum hab ich’s getan?‹ dachte Carlo. Er +blickte den Blinden von der Seite an. ›Sieht sein +Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat er es +geglaubt – immer bin ich allein gewesen – und +immer hat er mich gehaßt.‹ Und ihm war, als schritte +er unter einer schweren Last weiter, die er doch +niemals von den Schultern werfen dürfte, und als +<a class="page" name="Page_47" id="Page_47" title="47"></a>könnte er die Nacht sehen, durch die Geronimo an +seiner Seite schritt, während die Sonne leuchtend auf +allen Wegen lag.</p> + +<p>Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. +Von Zeit zu Zeit setzte sich Geronimo auf einen +Meilenstein, oder sie lehnten beide an einem Brückengeländer, +um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein +Dorf. Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende +waren ausgestiegen und gingen hin und her; aber die +beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf die +offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag +mußte nahe sein. Es war ein Tag wie tausend andere.</p> + +<p>»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo +blickte auf. Er wunderte sich, wie genau Geronimo +die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war +der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch +von ziemlich weither kam ihnen jemand entgegen. Es +schien Carlo, als sei er am Wege gesessen und plötzlich +aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, +daß es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der +Landstraße begegnete. Trotzdem schrak Carlo leicht +zusammen. Aber als der Mann näher kam, erkannte +er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst +im Mai waren die beiden Bettler im Wirtshaus des +Raggazzi in Morignone mit ihm zusammen gesessen, +<a class="page" name="Page_48" id="Page_48" title="48"></a>und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte erzählt, +wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht +worden war.</p> + +<p>»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo.</p> + +<p>»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo.</p> + +<p>Nun waren sie an ihn herangekommen.</p> + +<p>»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und +blieb vor ihm stehen.</p> + +<p>»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich +muß euch vorläufig beide auf den Posten nach Boladore +führen.«</p> + +<p>»Eh!« rief der Blinde.</p> + +<p>Carlo wurde blaß. ›Wie ist das nur möglich?‹ +dachte er. ›Aber es kann sich nicht darauf beziehen. +Man kann es ja hier unten noch nicht wissen.‹</p> + +<p>»Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm +lachend, »es macht euch wohl nichts, wenn ihr +mitgeht.«</p> + +<p>»Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.</p> + +<p>»O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie +ist es denn möglich ... was sollen wir denn ... oder +vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich weiß nicht ...«</p> + +<p>»Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. +Was weiß ich. Jedenfalls haben wir die +telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen, +<a class="page" name="Page_49" id="Page_49" title="49"></a>daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, +dringend verdächtig, da oben den Leuten Geld +gestohlen zu haben. Nun, es ist auch möglich, daß ihr +unschuldig seid. Also vorwärts!«</p> + +<p>»Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.</p> + +<p>»Ich rede – o ja, ich rede ...«</p> + +<p>»Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, +auf der Straße stehenzubleiben! Die Sonne brennt. +In einer Stunde sind wir an Ort und Stelle. Vorwärts!«</p> + +<p>Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, +und so gingen sie langsam weiter, der Gendarm +hinter ihnen.</p> + +<p>»Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo +wieder.</p> + +<p>»Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? +Es wird sich alles herausstellen; ich weiß selber nicht ...«</p> + +<p>Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich’s ihm +erklären, eh wir vor Gericht stehen?... Es geht +wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun, +was tut’s. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit +sagen. »Herr Richter,« werd ich sagen, »es ist doch +kein Diebstahl wie ein anderer. Es war nämlich +so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, +<a class="page" name="Page_50" id="Page_50" title="50"></a>um vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. +»Da fuhr gestern ein Herr über den Paß ... +es mag ein Irrsinniger gewesen sein – oder am End +hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...«</p> + +<p>Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? +... Man wird ihn gar nicht so lange reden lassen. – +Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ... +nicht einmal Geronimo glaubt sie ... – Und er sah +ihn von der Seite an. Der Kopf des Blinden bewegte +sich nach alter Gewohnheit während des Gehens wie +im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, +und die leeren Augen stierten in die Luft. – Und +Carlo wußte plötzlich, was für Gedanken hinter dieser +Stirne liefen ... ›So also stehen die Dinge,‹ mußte +Geronimo wohl denken. – ›Carlo bestiehlt nicht nur +mich, auch die anderen Leute bestiehlt er ... Nun, +er hat es gut, er hat Augen, die sehen, und er nützt +sie aus ...‹ – Ja, das denkt Geronimo, ganz gewiß +... Und auch, daß man kein Geld bei mir finden +wird, kann mir nicht helfen, – nicht vor Gericht, +nicht vor Geronimo. Sie werden mich einsperren +und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat +ja das Geldstück. – Und er konnte nicht mehr weiter +denken, er fühlte sich so sehr verwirrt. Es schien ihm, +als verstünde er überhaupt nichts mehr von der ganzen +<a class="page" name="Page_51" id="Page_51" title="51"></a>Sache, und wußte nur eines: daß er sich gern auf ein +Jahr in den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn, wenn +nur Geronimo wüßte, daß er für ihn allein zum Dieb +geworden war.</p> + +<p>Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß auch +Carlo innehalten mußte.</p> + +<p>»Nun, was ist denn?« sagte der Gendarm ärgerlich. +»Vorwärts, vorwärts!« Aber da sah er mit Verwunderung, +daß der Blinde die Gitarre auf den Boden +fallen ließ, seine Arme erhob und mit beiden Händen +nach den Wangen des Bruders tastete. Dann näherte +er seine Lippen dem Munde Carlos, der zuerst nicht +wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn.</p> + +<p>»Seid ihr verrückt?« fragte der Gendarm. »Vorwärts! +vorwärts! Ich habe keine Lust zu braten.«</p> + +<p>Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne +ein Wort zu sprechen. Carlo atmete tief auf und legte +die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War es +denn möglich? Der Bruder zürnte ihm nicht mehr? +Er begriff am Ende –? Und zweifelnd sah er ihn +von der Seite an.</p> + +<p>»Vorwärts!« schrie der Gendarm. »Wollt ihr +endlich –!« Und er gab Carlo eins zwischen die +Rippen.</p> + +<p>Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden +<a class="page" name="Page_52" id="Page_52" title="52"></a>leitend, ging wieder vorwärts. Er schlug einen viel +rascheren Schritt ein als früher. Denn er sah Geronimo +lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit +den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. +Und Carlo lächelte auch. Ihm war, als könnte ihm +jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, – weder +vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. – +Er hatte seinen Bruder wieder ... Nein, er hatte +ihn zum erstenmal ...</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_53" id="Page_53" title="53"></a></p> +<h2 class="novelle"><a name="Die_Toten_schweigen" id="Die_Toten_schweigen"></a>Die Toten schweigen</h2> + + +<p class="newsection">Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu +sitzen; er stieg aus und ging auf und ab. Es +war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in +dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, +vom Winde bewegt, hin und her. Es hatte aufgehört +zu regnen; die Trottoire waren beinahe trocken; aber +die ungepflasterten Fahrstraßen waren noch feucht, +und an einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel +gebildet.</p> + +<p>Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, +hundert Schritt von der Praterstraße, in irgendeine +ungarische Kleinstadt versetzt glauben kann. Immerhin +– sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier +wird sie keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen.</p> + +<p>Er sah auf die Uhr ... Sieben – und schon völlige +Nacht. Der Herbst ist diesmal früh da. Und der +verdammte Sturm.</p> + +<p>Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher +auf und ab. Die Laternenfenster klirrten. »Noch +eine halbe Stunde,« sagte er zu sich, »dann kann ich +gehen. Ah – ich wollte beinahe, es wäre so weit.« +Er blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Aus<a class="page" name="Page_54" id="Page_54" title="54"></a>blick +auf beide Straßen, von denen aus sie kommen +könnte.</p> + +<p>Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er +seinen Hut festhielt, der wegzufliegen drohte. – +Freitag – Sitzung des Professorenkollegiums – da +wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben ... +Er hörte das Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann +auch die Glocke von der nahen Nepomukkirche zu +läuten. Die Straße wurde belebter. Es kamen mehr +Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, +Bedienstete aus den Geschäften, die um sieben +geschlossen wurden. Alle gingen rasch und waren mit +dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art +von Kampf begriffen. Niemand beachtete ihn; nur +ein paar Ladenmädel blickten mit leichter Neugier +zu ihm auf. – Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt +rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne +Wagen? dachte er. Ist sie’s?</p> + +<p>Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte +sie ihre Schritte.</p> + +<p>»Du kommst zu Fuß?« sagte er.</p> + +<p>»Ich hab den Wagen schon beim Karltheater +fortgeschickt. Ich glaube, ich bin schon einmal mit +demselben Kutscher gefahren.«</p> + +<p>Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete +<a class="page" name="Page_55" id="Page_55" title="55"></a>die Dame flüchtig. Der junge Mann fixierte ihn +scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch weiter. +Die Dame sah ihm nach. »Wer war’s?!« fragte sie +ängstlich.</p> + +<p>»Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, +sei ganz ruhig. – Aber jetzt komm rasch; wir wollen +einsteigen.«</p> + +<p>»Ist das dein Wagen?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Ein offener?«</p> + +<p>»Vor einer Stunde war es noch so schön.«</p> + +<p>Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein.</p> + +<p>»Kutscher,« rief der junge Mann.</p> + +<p>»Wo ist er denn?« fragte die junge Frau.</p> + +<p>Franz schaute ringsumher. »Das ist unglaublich,« +rief er, »der Kerl ist nicht zu sehen.«</p> + +<p>»Um Gotteswillen!« rief sie leise.</p> + +<p>»Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.«</p> + +<p>Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen +Wirtshause; an einem Tisch mit ein paar anderen +Leuten saß der Kutscher; jetzt stand er rasch auf.</p> + +<p>»Gleich, gnä’ Herr,« sagte er und trank stehend +sein Glas Wein aus.</p> + +<p>»Was fällt Ihnen denn ein?«</p> + +<p>»Bitt schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_56" id="Page_56" title="56"></a>Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. +»Wohin fahr’n mer denn, Euer Gnaden?«</p> + +<p>»Prater – Lusthaus.«</p> + +<p>Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte +ganz versteckt, beinahe zusammengekauert, in der +Ecke unter dem aufgestellten Dach.</p> + +<p>Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. +– »Willst du mir nicht wenigstens guten Abend +sagen?«</p> + +<p>»Ich bitt dich; laß mich nur einen Moment, ich +bin noch ganz atemlos.«</p> + +<p>Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide +schwiegen eine Weile. Der Wagen war in die Praterstraße +eingebogen, fuhr an dem Tegethoff-Monument +vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die +breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma +plötzlich mit beiden Armen den Geliebten. Er schob +leise den Schleier zurück, der ihn noch von ihren +Lippen trennte, und küßte sie.</p> + +<p>»Bin ich endlich bei dir!« sagte sie.</p> + +<p>»Weißt du denn, wie lang wir uns nicht gesehen +haben?« rief er aus.</p> + +<p>»Seit Sonntag.«</p> + +<p>»Ja, und da auch nur von weitem.«</p> + +<p>»Wieso? Du warst ja bei uns.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_57" id="Page_57" title="57"></a>»Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort. +Zu euch komm ich überhaupt nie wieder. Aber was +hast du denn?«</p> + +<p>»Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.«</p> + +<p>»Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater +spazieren fahren, kümmern sich wahrhaftig nicht +um uns.«</p> + +<p>»Das glaub ich schon. Aber zufällig kann einer +hereinschaun.«</p> + +<p>»Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen.«</p> + +<p>»Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.«</p> + +<p>»Wie du willst.«</p> + +<p>Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören +schien. Da beugte er sich vor und berührte ihn mit +der Hand. Der Kutscher wandte sich um.</p> + +<p>»Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn +so auf die Pferde ein? Wir haben ja gar keine Eile, +hören Sie! Wir fahren in die ... wissen Sie, die +Allee, die zur Reichsbrücke führt.«</p> + +<p>»Auf die Reichsstraßen?«</p> + +<p>»Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen +Sinn.«</p> + +<p>»Bitt schön, gnä’ Herr, der Sturm, der macht die +Rösser so wild.«</p> + +<p>»Ah freilich, der Sturm.« Franz setzte sich wieder.</p> + +<p><a class="page" name="Page_58" id="Page_58" title="58"></a>Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren +zurück.</p> + +<p>»Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?« +fragte sie.</p> + +<p>»Wie hätt’ ich denn können?«</p> + +<p>»Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester +geladen.«</p> + +<p>»Ach so.«</p> + +<p>»Warum warst du nicht dort?«</p> + +<p>»Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter +anderen Leuten zusammen zu sein. Nein, nie wieder.«</p> + +<p>Sie zuckte die Achseln.</p> + +<p>»Wo sind wir denn?« fragte sie dann.</p> + +<p>Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstraße +ein.</p> + +<p>»Da geht’s zur großen Donau,« sagte Franz, »wir +sind auf dem Weg zur Reichsbrücke. Hier gibt es keine +Bekannten!« setzte er spöttisch hinzu.</p> + +<p>»Der Wagen schüttelt entsetzlich.«</p> + +<p>»Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.«</p> + +<p>»Warum fährt er so im Zickzack?«</p> + +<p>»Es scheint dir so.«</p> + +<p>Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger +als nötig hin und her warf. Er wollte nichts davon +sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu machen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_59" id="Page_59" title="59"></a>»Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, +Emma.«</p> + +<p>»Da mußt du bald anfangen, denn um neun muß +ich zu Hause sein.«</p> + +<p>»In zwei Worten kann alles entschieden sein.«</p> + +<p>»Gott, was ist denn das?« ... schrie sie auf. Der +Wagen war in ein Pferdebahngeleise geraten und +machte jetzt, als der Kutscher herauswenden wollte, +eine so scharfe Biegung, daß er fast zu stürzen drohte. +Franz packte den Kutscher beim Mantel. »Halten +Sie,« rief er ihm zu. »Sie sind ja betrunken.«</p> + +<p>Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum +Stehen. »Aber gnä’ Herr ...«</p> + +<p>»Komm, Emma, steigen wir hier aus.«</p> + +<p>»Wo sind wir?«</p> + +<p>»Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr +gar so stürmisch. Gehen wir ein Stückchen. Man +kann während des Fahrens nicht ordentlich reden.«</p> + +<p>Emma zog den Schleier herunter und folgte.</p> + +<p>»Nicht stürmisch nennst du das?« rief sie aus, als +ihr gleich beim Aussteigen ein Windstoß entgegenfuhr.</p> + +<p>Er nahm ihren Arm. »Nachfahren,« rief er dem +Kutscher zu.</p> + +<p>Sie spazierten vorwärts. Solang die Brücke +allmählich anstieg, sprachen sie nichts; und als sie +<a class="page" name="Page_60" id="Page_60" title="60"></a>beide das Wasser unter sich rauschen hörten, blieben +sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. +Der breite Strom dehnte sich grau und in unbestimmten +Grenzen hin, in der Ferne sahen sie rote +Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen +und sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die +beiden eben verlassen hatten, senkten sich zitternde +Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war es, als verlöre +sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien +ein ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher +kam; unwillkürlich sahen sie beide nach der Stelle, +wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge mit +hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, +die plötzlich aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich +wieder zu versinken schienen. Der Donner verlor sich +allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in +plötzlichen Stößen.</p> + +<p>Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten +fort.«</p> + +<p>»Freilich,« erwiderte Emma leise.</p> + +<p>»Wir sollten fort,« sagte Franz lebhaft, »ganz fort, +mein ich ...«</p> + +<p>»Es geht ja nicht.«</p> + +<p>»Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.«</p> + +<p>»Und mein Kind?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_61" id="Page_61" title="61"></a>»Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.«</p> + +<p>»Und wie?« fragte sie leise ... »Davonlaufen bei +Nacht und Nebel?«</p> + +<p>»Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als +ihm einfach zu sagen, daß du nicht länger bei ihm +leben kannst, weil du einem andern gehörst.«</p> + +<p>»Bist du bei Sinnen, Franz?«</p> + +<p>»Wenn du willst, erspar ich dir auch das, – ich +sag es ihm selber.«</p> + +<p>»Das wirst du nicht tun, Franz.«</p> + +<p>Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit +konnte er nicht mehr bemerken, als daß sie den +Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte.</p> + +<p>Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: +»Hab keine Angst, ich werde es nicht tun.«</p> + +<p>Sie näherten sich dem anderen Ufer.</p> + +<p>»Hörst du nichts?« sagte sie. »Was ist das?«</p> + +<p>»Es kommt von drüben,« sagte er.</p> + +<p>Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein +kleines rotes Licht schwebte ihnen entgegen; bald +sahen sie, daß es von einer kleinen Laterne kam, die +an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt +war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen +beladen war und ob Menschen mitfuhren. Gleich +dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf dem +<a class="page" name="Page_62" id="Page_62" title="62"></a>letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht +gewahren, der eben seine Pfeife anzündete. Die +Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder nichts +als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig +Schritte hinter ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte +sich die Brücke leicht gegen das andere Ufer. Sie +sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins +Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen +in der Tiefe die Auen; sie sahen wie in Abgründe +hinein.</p> + +<p>Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: +»Also das letztemal ...«</p> + +<p>»Was?« fragte Emma in besorgtem Ton.</p> + +<p>»– Daß wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich +sag dir adieu.«</p> + +<p>»Sprichst du im Ernst?«</p> + +<p>»Vollkommen.«</p> + +<p>»Siehst du, daß du es bist, der uns immer die paar +Stunden verdirbt, die wir haben; nicht ich!«</p> + +<p>»Ja, ja, du hast recht,« sagte Franz. »Komm, +fahren wir zurück.«</p> + +<p>Sie nahm seinen Arm fester. »Nein,« sagte sie +zärtlich, »jetzt will ich nicht. Ich laß mich nicht so +fortschicken.«</p> + +<p>Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. +<a class="page" name="Page_63" id="Page_63" title="63"></a>»Wohin kämen wir,« fragte sie dann, »wenn wir hier +immer weiter führen?«</p> + +<p>»Da geht’s direkt nach Prag, mein Kind.«</p> + +<p>»So weit nicht,« sagte sie lächelnd, »aber noch ein +bißchen weiter da hinaus, wenn du willst.« Sie wies +ins Dunkle.</p> + +<p>»He, Kutscher!« rief Franz. Der hörte nichts.</p> + +<p>Franz schrie: »Halten Sie doch!«</p> + +<p>Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm +nach. Jetzt sah er, daß der Kutscher schlief. Durch +heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. »Wir fahren +noch ein kleines Stück weiter – die gerade Straße – +verstehen Sie mich?«</p> + +<p>»Is’ schon gut, gnä’ Herr ...«</p> + +<p>Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb +mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde +über die aufgeweichte Straße hin. Aber die beiden +im Wagen hielten einander fest umarmt, während der +Wagen sie hin und her warf.</p> + +<p>»Ist das nicht auch ganz schön,« flüsterte Emma +ganz nahe an seinem Munde.</p> + +<p>In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen +plötzlich in die Höhe – sie fühlte sich fortgeschleudert, +wollte sich an etwas klammern, griff ins Leere; es +schien ihr, als drehe sie sich mit rasender Geschwindig<a class="page" name="Page_64" id="Page_64" title="64"></a>keit +im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen +mußte – und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden +liegen, und eine ungeheure schwere Stille brach herein, +als wenn sie fern von aller Welt und völlig einsam +wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: +Geräusch von Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe +auf den Boden schlugen, ein leises Wimmern; aber +sehen konnte sie nichts. Jetzt faßte sie eine tolle Angst; +sie schrie; ihre Angst ward noch größer, denn sie hörte +ihr Schreien nicht. Sie wußte plötzlich ganz genau, +was geschehen war: der Wagen war an irgend etwas +gestoßen, wohl an einen der Meilensteine, hatte umgeworfen, +und sie waren herausgestürzt. Wo ist <em class="gesperrt">er?</em> +war ihr nächster Gedanke. Sie rief seinen Namen. +Und sie hörte sich rufen, ganz leise zwar, aber sie hörte +sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu +erheben. Es gelang ihr so weit, daß sie auf den Boden +zu sitzen kam, und als sie mit den Händen ausgriff, +fühlte sie einen menschlichen Körper neben sich. Und +nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge +durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. +Sie berührte mit der ausgestreckten Hand sein Gesicht; +sie fühlte etwas Feuchtes und Warmes darüber +fließen. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da +geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. +<a class="page" name="Page_65" id="Page_65" title="65"></a>Und der Kutscher – wo war er denn? Sie rief nach +ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem +Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl +sie Schmerzen in allen Gliedern fühlte. Was tu ich +nur, was tu ich nur ... es ist doch nicht möglich, daß +mir gar nichts geschehen ist. »Franz!« rief sie. Eine +Stimme antwortete ganz in der Nähe: »Wo sind S’ +denn, gnä’ Fräul’n, wo ist der gnä’ Herr? Es ist doch +nix g’schehn? Warten S’, Fräulein, – i zünd nur +die Latern an, daß wir was sehn; i weiß net, was die +Krampen heut hab’n. Ich bin net Schuld, meiner +Seel ... in ein Schoderhaufen sein s’ hinein, die +verflixten Rösser.«</p> + +<p>Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh +taten, vollkommen aufgerichtet, und daß dem Kutscher +nichts geschehen war, machte sie ein wenig ruhiger. +Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete +und Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie +auf das Licht. Sie wagte es nicht, Franz noch einmal +zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag; sie +dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; +er hat gewiß die Augen offen ... es wird nichts sein.</p> + +<p>Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah +plötzlich den Wagen, der aber zu ihrer Verwunderung +nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief gegen den +<a class="page" name="Page_66" id="Page_66" title="66"></a>Straßengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad +gebrochen. Die Pferde standen vollkommen still. Das +Licht näherte sich; sie sah den Schein allmählich über +einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den +Graben gleiten; dann kroch er auf die Füße Franzens, +glitt über seinen Körper, beleuchtete sein Gesicht und +blieb darauf ruhen. Der Kutscher hatte die Laterne +auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des +Liegenden. Emma ließ sich auf die Knie nieder, und +es war ihr, als hörte ihr Herz zu schlagen auf, wie sie +das Gesicht erblickte. Es war blaß; die Augen halb +offen, so daß sie nur das Weiße von ihnen sah. Von +der rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut +über die Wange und verlor sich unter dem Kragen +am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne +gebissen. »Es ist ja nicht möglich!« sagte Emma +vor sich hin.</p> + +<p>Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte +das Gesicht an. Dann packte er mit beiden Händen +den Kopf und hob ihn in die Höhe. »Was machen +Sie?« schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak +vor diesem Kopf, der sich selbständig aufzurichten +schien.</p> + +<p>»Gnä’ Fräul’n, mir scheint, da ist ein großes +Malheur geschehn.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_67" id="Page_67" title="67"></a>»Es ist nicht wahr,« sagte Emma. »Es kann nicht +sein. Ist denn Ihnen was geschehen? Und mir ...«</p> + +<p>Der Kutscher ließ den Kopf des Regungslosen +wieder langsam sinken; – in den Schoß Emmas, die +zitterte. »Wenn nur wer käm ... wenn nur die +Bauersleut eine Viertelstund’ später daherkommen +wären ...«</p> + +<p>»Was sollen wir denn machen?« sagte Emma +mit bebenden Lippen.</p> + +<p>»Ja, Fräul’n, wenn der Wagen net brochen wär ... +aber so, wie er jetzt zug’richt ist ... Wir müssen halt +warten, bis wer kommt.« Er redete noch weiter, ohne +daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem +war es ihr, als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, +was zu tun war.</p> + +<p>»Wie weit ist’s bis zu den nächsten Häusern?« +fragte sie.</p> + +<p>»Das ist nimmer weit, Fräul’n, da ist ja gleich +das Franz Josefsland ... Wir müßten die Häuser +sehen, wenn’s licht wär, in fünf Minuten müßte +man dort sein.«</p> + +<p>»Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.«</p> + +<p>»Ja, Fräul’n, ich glaub schier, es ist g’scheiter, ich +bleib mit Ihnen da – es kann ja nicht so lang dauern, bis +wer kommt, es ist ja schließlich die Reichsstraße, und –«</p> + +<p><a class="page" name="Page_68" id="Page_68" title="68"></a>»Da wird’s zu spät, da kann’s zu spät werden. +Wir brauchen einen Doktor.«</p> + +<p>Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, +dann schaute er kopfschüttelnd Emma an.</p> + +<p>»Das können Sie nicht wissen,« – rief Emma, +»und ich auch nicht.«</p> + +<p>»Ja, Fräul’n ... aber wo find’ i denn ein’ Doktor +im Franz Josefsland?«</p> + +<p>»So soll von dort jemand in die Stadt und –«</p> + +<p>»Fräul’n, wissen’s was! I denk mir, die werden +dort vielleicht ein Telephon haben. Da könnten wir +um die Rettungsgesellschaft telephonieren.«</p> + +<p>»Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen +Sie, um Himmels willen! Und Leute bringen Sie +mit ... Und ... bitt’ Sie, gehen Sie nur, was tun +Sie denn noch da?«</p> + +<p>Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun +auf Emmas Schoß ruhte. »Rettungsgesellschaft, +Doktor, wird nimmer viel nützen.«</p> + +<p>»Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!«</p> + +<p>»I geh schon – daß S’ nur nicht Angst kriegen, +Fräul’n, da in der Finstern.« Und er eilte rasch über +die Straße fort. »I kann nix dafür, meiner Seel,« +murmelte er vor sich hin. »Ist auch eine Idee, mitten +in der Nacht auf die Reichsstraßen ...«</p> + +<p><a class="page" name="Page_69" id="Page_69" title="69"></a>Emma war mit dem Regungslosen allein auf der +dunklen Straße. »Was jetzt?« dachte sie. Es ist doch +nicht möglich ... das ging ihr immer wieder durch den +Kopf ... es ist ja nicht möglich. – Es war ihr plötzlich, +als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich +herab zu den blassen Lippen. Nein, von da kam kein +Hauch. Das Blut an Schläfe und Wangen schien +getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die +gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum +glaube ich es denn nicht – es ist ja gewiß ... das ist +der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie fühlte nur +mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf +meinem Schoß. Und mit zitternden Händen rückte +sie den Kopf weg, so daß er wieder auf den Boden +zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl entsetzlicher +Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den +Kutscher weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was +soll sie denn da auf der Landstraße mit dem toten +Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ... +Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie +lang wird sie hier warten müssen? Und sie sah wieder +den Toten an. Ich bin nicht allein mit ihm, fiel ihr +ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre +dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie +danken müßte. Es war mehr Leben in dieser kleinen +<a class="page" name="Page_70" id="Page_70" title="70"></a>Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um sie; ja, +es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen +den blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf +dem Boden lag ... Und sie sah in das Licht so lang, +bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen begann. +Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie +erwachte. Sie sprang auf! Das geht ja nicht, das ist +ja unmöglich, man darf mich doch nicht hier mit ihm +finden ... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst auf +der Straße stehen, zu ihren Füßen den Toten und +das Licht; und sie sah sich, als ragte sie in sonderbarer +Größe in die Dunkelheit hinein. Worauf wart ich, +dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf +wart ich? Auf die Leute? – Was brauchen mich +denn die? Die Leute werden kommen und fragen ... +und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden fragen, +wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. +Kein Wort werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen +werd ich. Kein Wort ... sie können mich ja nicht +zwingen.</p> + +<p>Stimmen kamen von weitem.</p> + +<p>Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die +Stimmen kamen von der Brücke her. Das konnten +also nicht die Leute sein, die der Kutscher geholt +hatte. Aber wer immer sie waren – jedenfalls +<a class="page" name="Page_71" id="Page_71" title="71"></a>werden sie das Licht bemerken – und das durfte +nicht sein, dann war sie entdeckt.</p> + +<p>Und sie stieß mit dem Fuß die Laterne um. Die +verlöschte. Nun stand sie in tiefer Finsternis. Nichts +sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur der weiße +Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen +kamen näher. Sie begann am ganzen Körper zu +zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um Himmels +willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das +und auf gar nichts anderes kommt es an – sie ist ja +verloren, wenn ein Mensch erfährt, daß sie die Geliebte +von ... Sie faltet die Hände krampfhaft. Sie +betet, daß die Leute auf der anderen Seite der Straße +vorübergehen mögen, ohne sie zu bemerken. Sie +lauscht. Ja von drüben ... Was reden sie doch?... +Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen +bemerkt, denn sie reden etwas davon, sie kann Wörter +unterscheiden. Ein Wagen ... umgefallen ... was +sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie +gehen weiter ... sie sind vorüber ... Gott sei Dank! +Und jetzt, was jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie +er? Er ist zu beneiden, für ihn ist alles vorüber ... +für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine Furcht. +Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, daß man sie +hier finden, daß man sie fragen wird: wer sind Sie?... +<a class="page" name="Page_72" id="Page_72" title="72"></a>Daß sie mit auf die Polizei muß, daß alle Menschen es +erfahren werden, daß ihr Mann – daß ihr Kind –</p> + +<p>Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden +ist wie angewurzelt ... Sie kann ja fort, +sie nützt ja keinem hier, und sich selbst bringt sie ins +Unglück. Und sie macht einen Schritt ... Vorsichtig +... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... +einen Schritt hinauf – o, er ist so seicht! – und +noch zwei Schritte, bis sie in der Mitte der Straße +ist ... und dann steht sie einen Augenblick still, sieht +vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle +hinein verfolgen. Dort – dort ist die Stadt. Sie +kann nichts von ihr sehen ... aber die Richtung ist +ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist ja +gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut +sehn; auch die Pferde ... und wenn sie sich sehr +anstrengt, merkt sie auch etwas wie die Umrisse eines +menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie +reißt die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas +hier zurück ... der Tote ist es, der sie hier behalten +will, und es graut sie vor seiner Macht ... Aber +gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt sie: der +Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, +und der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun +aber geht sie ... geht rascher ... läuft ... und fort +<a class="page" name="Page_73" id="Page_73" title="73"></a>von da ... zurück ... in das Licht, in den Lärm, zu +den Menschen! Die Straße läuft sie entlang, hält +das Kleid hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr +im Rücken, es ist, als wenn er sie vorwärts triebe. +Sie weiß nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es ist ihr, +als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müßte, +der dort, weit hinter ihr, neben dem Straßengraben +liegt ... dann fällt ihr ein, daß sie ja den Lebendigen +entkommen will, die gleich dort sein und sie suchen +werden. Was werden die denken? Wird man ihr +nicht nach? Aber man kann sie nicht mehr einholen, +sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat einen großen +Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man +kann ja nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann +ahnen, wer die Frau war, die mit jenem Mann +über die Reichsstraße gefahren ist. Der Kutscher +kennt sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn +er sie später einmal sieht. Man wird sich auch nicht +darum kümmern, wer sie war. Wen geht es an? – +Es ist sehr klug, daß sie nicht dort geblieben ist, es +ist auch nicht gemein. Franz selbst hätte ihr recht +gegeben. Sie muß ja nach Haus, sie hat ein Kind, +sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn man +sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. +Da ist die Brücke, die Straße scheint heller ... ja +<a class="page" name="Page_74" id="Page_74" title="74"></a>schon hört sie das Wasser rauschen wie früher; sie ist +da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen – wann +– wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch +nicht lange sein. Nicht lang? Vielleicht doch! Vielleicht +war sie lange bewußtlos, vielleicht ist es längst Mitternacht, +vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie +wird daheim schon vermißt. Nein, nein, das ist ja +nicht möglich, sie weiß, daß sie gar nicht bewußtlos +war; sie erinnert sich jetzt genauer als im ersten +Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und +gleich über alles im klaren gewesen ist. Sie läuft +über die Brücke und hört ihre Schritte hallen. Sie +sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt sie, +wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt +ihre Schritte. Wer kann das sein, der ihr entgegenkommt? +Es ist jemand in Uniform. Sie geht ganz +langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu +merken, daß der Mann den Blick fest auf sie gerichtet +hält. Wenn er sie fragt? Sie ist neben ihm, erkennt +die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie +geht an ihm vorüber. Sie hört, daß er hinter ihr +stehen geblieben ist. Mit Mühe hält sie sich davon +zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig. Sie geht +noch immer so langsam wie früher. Sie hört das +Geklingel der Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang +<a class="page" name="Page_75" id="Page_75" title="75"></a>nicht Mitternacht sein. Jetzt geht sie wieder schneller; +sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie schon +unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Straße +entgegenschimmern sieht, deren gedämpften Lärm +sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese einsame +Straße, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört +sie von weitem schrille Pfiffe, immer schriller, immer +näher; ein Wagen saust an ihr vorüber. Unwillkürlich +bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der Wagen +der Rettungsgesellschaft. Sie weiß, wohin er fährt. +Wie schnell! denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen +Moment lang ist ihr, als müßte sie den Leuten nachrufen, +als müßte sie mit, als müßte sie wieder dahin +zurück, woher sie gekommen – einen Moment lang +packt sie eine ungeheure Scham, wie sie sie nie empfunden; +und sie weiß, daß sie feig und schlecht gewesen +ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner +verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, +und wie eine Gerettete eilt sie vorwärts. Leute +kommen ihr entgegen; sie hat keine Angst mehr vor +ihnen – das Schwerste ist überstanden. Der Lärm +der Stadt wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; +schon sieht sie die Häuserzeile der Praterstraße, und +es ist ihr, als werde sie dort von einer Flut von Menschen +erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf. +<a class="page" name="Page_76" id="Page_76" title="76"></a>Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie +schon die Ruhe, auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn +Minuten vor neun. Sie hält die Uhr ans Ohr – sie +ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin +lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und +er ... er ... tot ... Schicksal ... Es ist ihr, als wäre +ihr alles verziehen ... als wäre nie irgendeine Schuld +auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es +hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut +spricht. Und wenn es das Schicksal anders bestimmt +hätte? – Und wenn sie jetzt dort im Graben läge +und er am Leben geblieben wäre? Er wäre nicht +geflohen, nein ... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. +Sie ist ein Weib – und sie hat ein Kind und einen +Gatten. – Sie hat recht gehabt, – es ist ihre Pflicht +– ja ihre Pflicht. Sie weiß ganz gut, daß sie nicht +aus Pflichtgefühl so gehandelt ... Aber sie hat doch +das Rechte getan. Unwillkürlich ... wie ... gute +Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. +Jetzt würden die Ärzte sie fragen. Und Ihr Mann, +gnädige Frau? O Gott!... Und die Zeitungen +morgen – und die Familie – sie wäre für alle Zeit +vernichtet gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben +erwecken können. Ja, das war die Hauptsache; +für nichts hätte sie sich zugrunde gerichtet. – Sie ist +<a class="page" name="Page_77" id="Page_77" title="77"></a>unter der Eisenbahnbrücke. – Weiter ... weiter ... +Hier ist die Tegethoffsäule, wo die vielen Straßen +ineinander laufen. Es sind heute, an dem regnerischen, +windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien, +aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig +um sie, denn woher sie kommt, dort war die fürchterlichste +Stille. Sie hat Zeit. Sie weiß, daß ihr Mann +heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. – +sie kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr +ein, ihr Kleid zu betrachten. Mit Schrecken merkt +sie, daß es über und über beschmutzt ist. Was wird +sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch +den Kopf, daß morgen die Geschichte von dem Unglücksfall +in allen Zeitungen zu lesen sein wird. Auch +von einer Frau, die mit im Wagen war, und die +dann nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen +stehen, und bei diesem Gedanken bebt sie von neuem +– <em class="gesperrt">eine</em> Unvorsichtigkeit, und all ihre Feigheit war +umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschlüssel bei sich; +sie kann ja selbst aufsperren; – sie wird sich nicht hören +lassen. Sie steigt rasch in einen Fiaker. Schon will +sie ihm ihre Adresse angeben, da fällt ihr ein, daß das +vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm irgendeinen +Straßennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie +durch die Praterstraße fährt, möchte sie gern irgend +<a class="page" name="Page_78" id="Page_78" title="78"></a>etwas empfinden, aber sie kann es nicht; sie fühlt, +daß sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in Sicherheit +sein. Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, +da sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der +Straße liegen zu lassen, hat alles in ihr verstummen +müssen, was um ihn klagen und jammern wollte. +Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um +sich. Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie weiß +ganz gewiß, es werden Tage kommen, wo sie verzweifeln +wird; vielleicht wird sie daran zugrunde +gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, +mit trockenen Augen und ruhig zu Hause am selben +Tisch mit ihrem Gatten und ihrem Kinde zu sitzen. +Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt +durch die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, +und ziemlich viele Menschen eilen vorbei. Da ist +ihr plötzlich, als könne alles, was sie in den letzten +Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein +böser Traum erscheint es ihr ... unfaßbar als Wirkliches, +Unabänderliches. In einer Seitengasse nach +dem Ring läßt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt +rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, +dem sie ihre richtige Adresse angibt. Es kommt ihr +vor, als wäre sie jetzt überhaupt nicht mehr fähig, +einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es +<a class="page" name="Page_79" id="Page_79" title="79"></a>ihr durch den Sinn. Sie schließt die Augen, und sie +sieht ihn vor sich auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen +– und plötzlich ist ihr, als sitze sie neben ihm +und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu +schwanken, und sie hat Angst, daß sie herausgeschleudert +werde, wie damals – und sie schreit auf. Da hält +der Wagen. Sie fährt zusammen; sie ist vor ihrem +Haustor. – Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur, +mit leisen Schritten, so daß der Portier hinter seinem +Fenster gar nicht aufschaut, die Treppen hinauf, +sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört zu werden ... +durchs Vorzimmer in ihr Zimmer – es ist gelungen! +Sie macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt +sie wohl im Schrank. Über Nacht sollen sie trocknen +– morgen will sie sie selber bürsten und reinigen. +Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt +einen Schlafrock um.</p> + +<p>Jetzt klingelt es draußen. Sie hört das Stubenmädchen +an die Wohnungstür kommen und öffnen. +Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er +den Stock hinstellt. Sie fühlt, daß sie jetzt stark sein +müsse, sonst kann noch immer alles vergeblich gewesen +sein. Sie eilt ins Speisezimmer, so daß sie im selben +Augenblick eintritt wie ihr Gatte.</p> + +<p>»Ah, du bist schon zu Haus?« sagt er.</p> + +<p><a class="page" name="Page_80" id="Page_80" title="80"></a>»Gewiß,« antwortet sie, »schon lang.«</p> + +<p>»Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.« +Sie lächelt, ohne sich dazu zwingen zu müssen. Es +macht sie nur sehr müde, daß sie auch lächeln muß. +Er küßt sie auf die Stirn.</p> + +<p>Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten +müssen, ist eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein +Buch liegen, auf dem offenen Buch ruht sein Gesicht. +Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr gegenüber, +nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick +hinein. Dann legt er sie weg und sagt: »Die anderen +sitzen noch zusammen und beraten weiter.«</p> + +<p>»Worüber?« fragt sie.</p> + +<p>Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen +Sitzung, sehr lang, sehr viel. Emma tut, als höre +sie zu, nickt zuweilen.</p> + +<p>Aber sie hört nichts, sie weiß nicht, was er spricht, +es ist ihr zumute wie einem, der furchtbaren Gefahren +auf wunderbare Weise entronnen ... sie fühlt nichts +als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während +ihr Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel +näher zu ihrem Jungen, nimmt seinen Kopf und drückt +ihn an ihre Brust. Eine unsägliche Müdigkeit überkommt +sie – sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt, daß +der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_81" id="Page_81" title="81"></a>Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den +Sinn, an die sie seit dem Augenblick, da sie sich aus +dem Graben erhoben hat, nicht mehr gedacht. Wenn +er nicht tot wäre! Wenn er ... Ach nein, es war +kein Zweifel möglich ... Diese Augen ... dieser +Mund – und dann ... kein Hauch von seinen Lippen. +– Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle, wo +sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen +geübten Blick. Wenn er lebt, wenn er schon wieder +zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er sich plötzlich +mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden +... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn +er am Ende fürchtet, sie sei verletzt ... wenn er den +Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie muß weiter +weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, +was dann? Man wird sie suchen. Der Kutscher wird +zurückkommen vom Franz Josefsland mit Leuten ... +er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich +fortgegangen bin – und Franz wird ahnen. Franz +wird wissen ... er kennt sie ja so gut ... er wird +wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein gräßlicher +Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen +nennen, um sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... +und es wird ihn so tief erschüttern, daß sie ihn in seiner +letzten Stunde allein gelassen, daß er rücksichtslos +<a class="page" name="Page_82" id="Page_82" title="82"></a>sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... +feig und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine +Herren Ärzte, Sie hätten sie gewiß nicht um ihren +Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht +hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, +o ja – nur hätte sie dableiben müssen, bis Sie gekommen +sind. Aber da sie so schlecht gewesen ist, sag +ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah!</p> + +<p>»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, +indem er aufsteht.</p> + +<p>»Was ... wie?... Was ist?«</p> + +<p>»Ja, was ist dir denn?«</p> + +<p>»Nichts.« Sie drückt den Jungen fester an sich.</p> + +<p>Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß +du begonnen hast, einzuschlummern und –«</p> + +<p>»Und?«</p> + +<p>»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.«</p> + +<p>»... So?«</p> + +<p>»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken +hat. Hast du geträumt?«</p> + +<p>»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.«</p> + +<p>Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie +ein Gesicht, das lächelt, grausam, und mit verzerrten +Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes ist, und doch +schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr +<a class="page" name="Page_83" id="Page_83" title="83"></a>wird, sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: +dieses Lächeln wird, solange sie lebt, um ihre Lippen +spielen. Und sie versucht zu schreien. Da fühlt sie, +wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie +sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das +im Spiegel das Antlitz ihres Gatten drängt; seine +Augen, fragend und drohend, senken sich in die ihren. +Sie weiß: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht, +so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder +stark wird, sie hat ihre Züge, ihre Glieder in der +Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit ihnen +anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, +sonst ist es vorbei, und sie greift mit ihren beiden +Händen nach denen ihres Gatten, die noch auf ihren +Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter +und zärtlich an.</p> + +<p>Und während sie die Lippen ihres Mannes auf +ihrer Stirn fühlt, denkt sie: freilich ... ein böser Traum. +Er wird es niemandem sagen, wird sich nie rächen, +nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und +die Toten schweigen.</p> + +<p>»Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die +Stimme ihres Mannes. Sie erschrickt tief. »Was hab +ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie plötzlich +alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze +<a class="page" name="Page_84" id="Page_84" title="84"></a>Geschichte dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... +und noch einmal fragt sie, während sie vor seinem +entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab ich denn +gesagt?«</p> + +<p>»Die Toten schweigen,« wiederholt ihr Mann +sehr langsam.</p> + +<p>»Ja ...« sagt sie, »ja ...«</p> + +<p>Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts +mehr verbergen kann, und lange sehn die beiden +einander an. »Bring den Buben zu Bett,« sagt er +dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu +erzählen ...«</p> + +<p>»Ja,« sagt sie.</p> + +<p>Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch +Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze +Wahrheit sagen wird.</p> + +<p>Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch +die Tür schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf +sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe über +sie, als würde vieles wieder gut ................</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_85" id="Page_85" title="85"></a></p> +<h2 class="novelle"><a name="Die_Weissagung" id="Die_Weissagung"></a>Die Weissagung</h2> + + +<h3 class="subsection">1</h3> + +<p class="newsubsection">Unweit von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im +Walde wie versunken und von der Landstraße +aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des +Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit +zehn Jahren als Arzt in Meran lebt und dem ich im +Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit dem +Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals +fünfzig Jahre alt und dilettierte in mancherlei Künsten. +Er komponierte ein wenig, war tüchtig auf Violine +und Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten +aber hatte er in früherer Zeit die Schauspielerei +getrieben. Wie es hieß, war er als ganz junger Mensch +unter angenommenem Namen ein paar Jahre lang +auf kleinen Bühnen draußen im Reiche umhergezogen. +Ob nun der dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende +Begabung oder mangelndes Glück der +Anlaß war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn +früh genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche +Verspätung in den Staatsdienst treten zu können +und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den +er dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn +<a class="page" name="Page_86" id="Page_86" title="86"></a>auch ohne Begeisterung erfüllte. Aber als er, kaum +über vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode des +Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit +welcher Liebe er an dem Gegenstand seiner jugendlichen +Träume noch immer hing. Er ließ die Villa +auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen +und versammelte dort, insbesondere zur Sommers- +und Herbstzeit, einen allmählich immer größer werdenden +Kreis von Herren und Damen, die allerlei +leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder +vorführten. Seine Frau, aus einer alten Tiroler +Bürgerfamilie, ohne wirkliche Anteilnahme an +künstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten +mit kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah seiner +Liebhaberei mit einigem Spotte zu, der sich aber um +so gutmütiger anließ, als das Interesse des Freiherrn +ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam. +Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte +strengen Beurteilern nicht gewählt genug erscheinen, +aber auch Gäste, die sonst nach Geburt und Erziehung +zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen keinerlei +Anstoß an der zwanglosen Zusammensetzung eines +Kreises, die durch die dort geübte Kunst genügend +gerechtfertigt schien und von dem überdies der Name +und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht +<a class="page" name="Page_87" id="Page_87" title="87"></a>freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen +anderen, deren ich mich nicht mehr entsinne, begegnete +ich auf dem Schlosse einem jungen Grafen von der +Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier +aus Riva, einem Generalstabshauptmann +mit Frau und Tochter, einer Operettensängerin aus +Berlin, einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei +Söhnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von +seiner Weltreise zurückgekommen war, einem pensionierten +Hofschauspieler aus Bückeburg, einer verwitweten +Gräfin Saima, die als junges Mädchen +Schauspielerin gewesen war, mit ihrer Tochter, und +dem dänischen Maler Petersen.</p> + +<p>Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten +Gäste. Einige nahmen in Bozen Quartier, andere in +einem bescheidenen Gasthof, der unten an der Wegscheide +lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute +abzweigte. Aber meist in den ersten Nachmittagsstunden +war der ganze Kreis oben versammelt, und +dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen +Hofschauspielers, zuweilen unter der des +Freiherrn, der selbst niemals mitwirkte, bis in die +späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs +unter Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer +größerem Ernste, bis der Tag der Vorstellung heran<a class="page" name="Page_88" id="Page_88" title="88"></a>nahte, +und je nach Witterung, Laune, Vorbereitung, +möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung, +entweder auf dem an den Wald grenzenden +Wiesenplatz hinter dem Schloßgärtchen oder in dem +ebenerdigen Saal mit den drei großen Bogenfenstern +die Aufführung stattfand.</p> + +<p>Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte +ich keinen anderen Vorsatz, als an einem neuen Ort +unter neuen Menschen einen heiteren Tag zu verbringen. +Aber wie das so kommt, wenn man ohne +Ziel und in vollkommener Freiheit umherstreift, und +überdies bei allmählich schwindender Jugend keinerlei +Beziehungen bestehen, die lebhafter in die Heimat +zurückrufen, ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem +Bleiben bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei, +drei und mehr, und so, zu meiner eignen Verwunderung +wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem +Schlößchen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr +wohnlich ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins +Tal eingeräumt war. Dieser erste Aufenthalt auf +dem Guntschnaberg wird für mich stets eine angenehme +und, trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich +herum, sehr stille Erinnerung bleiben, da ich mit +keinem der Gäste anders als flüchtig verkehrte und +überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nach<a class="page" name="Page_89" id="Page_89" title="89"></a>denken +und Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen +Waldspaziergängen verbrachte. Auch der +Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal +eines meiner kleinen Stücke darstellen ließ, störte die +Ruhe meines Aufenthaltes nicht, da niemand von +meiner Eigenschaft als Verfasser Notiz nahm. Vielmehr +bedeutete mir dieser Abend ein höchst anmutiges +Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf grünem Rasen, +unter freiem Himmel ein bescheidener Traum meiner +Jugendjahre so spät als unerwartet in Erfüllung ging.</p> + +<p>Die lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich +nach, der Urlaub der Herren, die in einem Berufe +standen, war großenteils abgelaufen, und nur manchmal +kam Besuch von Freunden, die in der Nähe +ansässig waren. Erst jetzt gewann ich selbst zu dem +Freiherrn ein näheres Verhältnis und fand bei ihm +zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als +sie Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte +sich keineswegs darüber, daß das, was auf seinem +Schlosse getrieben wurde, nichts anderes war, als eine +höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm +im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in +eine dauernde und ernsthafte Beziehung zu seiner +geliebten Kunst zu treten, so ließ er sich an dem +Schimmer genügen, der wie aus entlegenen Fernen +<a class="page" name="Page_90" id="Page_90" title="90"></a>über das harmlose Theaterwesen im Schlosse geglänzt +kam, und freute sich überdies, daß hier von mancher +Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch überall mit +sich bringt, kein Hauch zu spüren war.</p> + +<p>Auf einem unserer Spaziergänge sprach er ohne +jede Zudringlichkeit den Einfall aus, einmal auf seiner +Bühne im Freien ein Stück dargestellt zu sehen, das +schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und +auf die natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese +Bemerkung kam einem Plan, den ich seit einiger Zeit +in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem +Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen.</p> + +<p>Bald darauf verließ ich das Schloß.</p> + +<p>In den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon +sandte ich mit freundlichen Worten der Erinnerung +an die schönen Tage des vergangenen Herbstes dem +Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen der +Gelegenheit wohl entsprechen mochte. Bald darauf +traf die Antwort ein, die den Dank des Freiherrn und +eine herzliche Einladung für den kommenden Herbst +enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, +und in den ersten Septembertagen bei einbrechender +kühler Witterung reiste ich an den Gardasee, ohne +daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des +Freiherrn von Schottenegg recht nahe war. Ja mir +<a class="page" name="Page_91" id="Page_91" title="91"></a>ist heute, als hätte ich zu dieser Zeit das kleine Schloß +und alles dortige Treiben völlig vergessen gehabt. Da +erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben +des Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes +Erstaunen aus, daß ich nichts von mir hören ließe, +und enthielt die Mitteilung, daß am 9. September +die Aufführung des kleinen Stückes stattfände, das ich +ihm im Frühling übersandt hatte und bei der ich +keineswegs fehlen dürfte. Besonderes Vergnügen +versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in +dem Stück beschäftigt waren und die es sich jetzt schon +nicht nehmen ließen, auch außerhalb der Probezeit in +ihren zierlichen Kostümen umherzulaufen und auf +dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle – so schrieb +er weiter – sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten +an seinen Neffen, Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, +der – wie ich mich gewiß noch erinnere – +im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern +mitgewirkt habe, der aber nun auch als Schauspieler +ein überraschendes Talent erweise.</p> + +<p>Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am +Tage der Vorstellung im Schlosse an, wo mich der +Freiherr und seine Frau freundlich empfingen. Auch +andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den pensionierten +Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit +<a class="page" name="Page_92" id="Page_92" title="92"></a>Tochter, Herrn von Umprecht und seine schöne Frau; +sowie die vierzehnjährige Tochter des Försters, die zu +meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den +Nachmittag wurde große Gesellschaft erwartet und +abends bei der Vorstellung sollten mehr als hundert +Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste +des Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend +ringsum, denen heute, wie schon öfter, der Zugang +zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war diesmal +auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern +einer Bozener Kapelle und einigen Dilettanten +bestehend, die eine Ouvertüre von Weber +und überdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren +sollten, welch letztere der Freiherr selbst komponiert +hatte.</p> + +<p>Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht +schien mir etwas stiller als die anderen. Anfangs +hatte ich mich seiner kaum entsinnen können, und es +fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal mit +Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je +das Wort an mich zu richten. Allmählich wurde mir +der Ausdruck seines Gesichtes bekannter, und plötzlich +erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der +lebenden Bilder mit aufgestützten Armen in Mönchstracht +vor einem Schachbrett gesessen war. Ich fragte +<a class="page" name="Page_93" id="Page_93" title="93"></a>ihn, ob ich mich nicht irrte. Er wurde beinahe verlegen, +als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete für +ihn und machte dann eine lächelnde Bemerkung über +das neuentdeckte schauspielerische Talent seines Neffen. +Da lachte Herr von Umprecht in einer ziemlich sonderbaren +Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen +Blick zu mir herüber, der eine Art von Einverständnis +zwischen uns beiden auszudrücken schien und den ich +mir durchaus nicht erklären konnte. Aber von diesem +Augenblick an vermied er es wieder, mich anzusehen.</p> + + +<h3 class="subsection">2</h3> + +<p class="newsubsection">Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer +zurückgezogen. Da stand ich wieder am offenen +Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan, und +freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das +sonnenglänzende Tal, das, eng zu meinen Füßen, +allmählich sich dehnte und in der Ferne sich völlig +aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen.</p> + +<p>Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von +Umprecht trat ein, blieb an der Tür stehen und sagte +mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um Verzeihung, +wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr +fort: »Aber sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör +<a class="page" name="Page_94" id="Page_94" title="94"></a>geschenkt haben, davon bin ich überzeugt, werden Sie +meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.«</p> + +<p>Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er +achtete nicht darauf, sondern fuhr mit Lebhaftigkeit +fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten Art Ihr +Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, +Ihnen zu danken.«</p> + +<p>Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, +als daß sich diese Worte des Herrn von Umprecht auf +seine Rolle bezögen und sie mir allzuhöflich schienen, +so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht unterbrach +mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie +meine Worte gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich +anzuhören?« Er setzte sich auf das Fensterbrett, +kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit +so ruhig als möglich scheinend, begann er: »Ich bin +jetzt Gutsbesitzer, wie Sie vielleicht wissen, bin aber +früher Offizier gewesen. Und zu jener Zeit, vor zehn +Jahren – <em class="gesperrt">heute</em> vor zehn Jahren – begegnete mir +das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten +ich gewissermaßen bis heute gelebt habe und das heute +durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun seinen Abschluß +findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein +dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich +so wenig werden aufklären können wie ich; aber Sie +<a class="page" name="Page_95" id="Page_95" title="95"></a>sollen wenigstens von seinem Vorhandensein erfahren. +– Mein Regiment lag damals in einem öden polnischen +Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem +Dienst, der nicht immer anstrengend genug war, nur +Trunk und Spiel. Überdies hatte man die Möglichkeit +vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und +nicht alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser +trostlosen Aussicht mit Fassung zu tragen. Einer +meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat +unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer +Kamerad, früher der liebenswürdigste Offizier, fing +plötzlich an, ein arger Trinker zu werden, wurde unmanierlich, +aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig +und hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten, +der ihn seine Charge kostete. Der Hauptmann meiner +Kompanie war verheiratet und, ich weiß nicht, ob +mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau +eines Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb +rätselhafterweise heil und gesund; der Mann starb im +Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin ein +sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete +sich plötzlich ein, Philosophie zu verstehen, studierte +Kant und Hegel und lernte ganze Partien aus deren +Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich +anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und +<a class="page" name="Page_96" id="Page_96" title="96"></a>zwar in einer so ungeheuerlichen Weise, daß ich an +manchen Nachmittagen, wenn ich auf meinem Bette +lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne +lag außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig +verstreuten Hütten bestand; die nächste Stadt, eine +gute Reitstunde entfernt, war schmierig, widerwärtig, +stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten +wir manchmal mit ihnen zu tun – der Hotelier war +ein Jude, der Cafetier, der Schuster desgleichen. Daß +wir uns möglichst beleidigend gegen sie benahmen, +das können Sie sich denken. Wir waren besonders +gereizt gegen dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem +Regiment als Major zugeteilt war, den Gruß der +Juden – ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß +ich nicht – mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte +und überdies mit auffallender Absichtlichkeit unseren +Regimentsarzt protegierte, der ganz offenbar von +Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich +nicht erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des +Prinzen mich mit demjenigen Menschen zusammengeführt +hätte, der in so geheimnisvoller Weise die +Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen +berufen war. Es war ein Taschenspieler, und zwar der +Sohn eines Branntweinjuden aus dem benachbarten +polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in +<a class="page" name="Page_97" id="Page_97" title="97"></a>ein Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen +und hatte einmal irgend jemandem einige Kartenkunststücke +abgelernt. Er bildete sich auf eigene Faust +weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien +an und brachte es allmählich so weit, daß er in +der Welt umherziehen und sich auf Varietébühnen +oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im +Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die +Eltern zu besuchen. Dort trat er nie öffentlich auf, +und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo er mir +durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er +war ein kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals +etwa dreißig Jahre alt sein mochte, mit einer vollkommen +lächerlichen Eleganz gekleidet, die zur Jahreszeit +gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen +Gehrock und mit gebügeltem Zylinder herum und +trug Westen vom herrlichsten Brokat; bei starkem +Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der +Nase.</p> + +<p>Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn +nach dem Abendessen im Kasino an unserem langen +Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle Nacht, +und die Fenster standen offen. Einige Kameraden +hatten zu spielen begonnen, andere lehnten am Fenster +und plauderten, wieder andere tranken und rauchten +<a class="page" name="Page_98" id="Page_98" title="98"></a>schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und +meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren +zuerst einigermaßen erstaunt. Aber ohne weiteres +abzuwarten, trat der Gemeldete in guter Haltung ein +und sprach in leichtem Jargon einige einleitende +Worte, mit denen er sich für die an ihn ergangene +Einladung bedankte. Er wandte sich dabei an den +Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm – natürlich +ausschließlich, um uns zu ärgern – die Hand schüttelte. +Der Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich +hin und bemerkte dann, er werde zuerst einige Kartenkunststücke +zeigen, um sich hierauf im Magnetismus +und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte +kaum zu Ende gesprochen, als einige unserer Herren, +die in einer Ecke beim Kartenspiel saßen, merkten, daß +ihnen die Figuren fehlten: auf einen Wink des Zauberers +kamen sie aber durch das geöffnete Fenster +hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen +ließ, unterhielten uns sehr und übertrafen so ziemlich +alles, was ich auf diesem Gebiete gesehen hatte. +Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen +Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne +Grauen sahen wir alle zu, wie der philosophische +Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des Zauberers +gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die +<a class="page" name="Page_99" id="Page_99" title="99"></a>glatte Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben +knapp am Rand um das ganze Viereck herumeilte +und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er +wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, +sagte der Oberst zu dem Zauberer: »Sie, wenn er +sich den Hals gebrochen hätte, ich versichere Sie, Sie +wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.« +Nie werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, +mit dem der Jude diese Bemerkung wortlos erwiderte. +Dann sagte er langsam: »Soll ich Ihnen aus der +Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig +diese Kaserne verlassen werden?« Ich weiß nicht, was +der Oberst oder wir anderen ihm auf diese verwegene +Bemerkung sonst entgegnet hätten – aber die allgemeine +Stimmung war schon so wirr und erregt, +daß sich keiner wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler +die Hand hinreichte und, dessen Jargon nachahmend, +sagte: »Nu, lesen Sie.« Dies alles ging im +Hof vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend +mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter an +der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des Obersten +ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. »Siehst +du genug, Jud?« fragte ein Oberleutnant, der ziemlich +betrunken war. Der Gefragte sah sich flüchtig um +und sagte ernst: »Mein Künstlername ist Marco Polo.« +<a class="page" name="Page_100" id="Page_100" title="100"></a>Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter +und sagte: »Mein Freund Marco Polo hat scharfe +Augen.« – »Nun, was sehen Sie?« fragte der Oberst +höflicher. »Muß ich reden?« fragte Marco Polo. +»Wir können Sie nicht zwingen,« sagte der Prinz. +»Reden Sie!« rief der Oberst. »Ich möcht lieber +nicht reden,« erwiderte Marco Polo. Der Oberst +lachte laut. »Nur heraus, es wird nicht so arg sein. +Und wenn es arg ist, muß es auch noch nicht wahr +sein.« – »Es ist sehr arg,« sagte der Zauberer, »und +wahr ist es auch.« Alle schwiegen. »Nun?« fragte +der Oberst. »Von Kälte werden Sie nichts mehr +zu leiden haben,« erwiderte Marco Polo. »Wie?« +rief der Oberst aus, »kommt unser Regiment also +endlich nach Riva?« – »Vom Regiment les’ ich nichts, +Herr Oberst. Ich seh nur, daß sie im Herbst sein werden +ein toter Mann.« Der Oberst lachte, aber alle anderen +schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war, als ob +der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden +wäre. Plötzlich lachte irgendeiner absichtlich sehr laut, +andere taten ihm nach, und lärmend und lustig ging +es zurück ins Kasino. »Nun,« rief der Oberst, »mit +mir wär’s in Ordnung. Ist keiner von den anderen +Herren neugierig?« Einer rief wie zum Scherz: +»Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.« Ein anderer +<a class="page" name="Page_101" id="Page_101" title="101"></a>fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das +Schicksal vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen +eingenommen sein müßte, und ein junger Leutnant +erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo auf +Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit +einem unserer älteren Herren rauchend in einer Ecke +stehen und hörte ihn sagen: »Wo fängt das Wunder +an?« Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich +eben zum Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne +daß es jemand hörte. »Prophezeien Sie mir.« Er +griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann sagte +er: »Hier sieht man schlecht.« Ich merkte, daß die Öllampen +zu flackern begonnen hatten und daß die +Linien meiner Hand zu zittern schienen. »Kommen +Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber +bei Mondschein.« Er hielt mich an der Hand, und ich +folgte ihm durch die offene Tür ins Freie.</p> + +<p>Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. »Hören +Sie, Marco Polo,« sagte ich, »wenn Sie nichts anderes +können als das, was Sie eben an unserem Herrn +Oberst gezeigt haben, dann lassen wir’s lieber.« Ohne +weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und +lächelte. »Der Herr Leutnant haben Angst.« Ich +wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört hätte; +aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten +<a class="page" name="Page_102" id="Page_102" title="102"></a>und befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt +zuführte. »Ich wünsche etwas Bestimmteres zu +wissen,« sagte ich, »das ist es. Worte lassen sich immer +in verschiedener Weise auslegen.« Marco Polo sah +mich an. »Was wünschen der Herr Leutnant?... +Vielleicht das Bild von der künftigen Frau Gemahlin?« +– »Könnten Sie das?« Marco Polo zuckte die Achseln. +»Es könnte sein ... es wär möglich ...« – »Aber +das will ich nicht,« unterbrach ich ihn. »Ich möchte +wissen, was später einmal, zum Beispiel in zehn +Jahren, mit mir los sein wird.« Marco Polo schüttelte +den Kopf. »Das kann ich nicht sagen ... aber was +anderes kann ich vielleicht.« – »Was?« – »Irgendeinen +Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen +Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.« Ich +verstand ihn nicht gleich. »Wie meinen Sie das?« – +»So mein ich das: ich kann einen Moment aus +Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, +mitten in die Gegend, wo wir gerade stehen.« – »Wie?« +– »Der Herr Leutnant müssen mir nur sagen, was +für einen.« Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war +höchst gespannt. »Gut,« sagte ich, »wenn Sie das +können, so will ich sehen, was heut in zehn Jahren +in derselben Sekunde mit mir geschehen wird ... +Verstehen Sie mich, Marco Polo?« – »Gewiß, Herr +<a class="page" name="Page_103" id="Page_103" title="103"></a>Leutnant,« sagte Marco Polo und sah mich starr an. +Und schon war er fort ... aber auch die Kaserne war +fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen +sehen – fort die armen Hütten, die in der Ebene +verstreut und mondbeglänzt gelegen waren – und +ich sah mich selbst, wie man sich manchmal im Traume +selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit +einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, +auf einer Bahre hingestreckt, mitten auf einer Wiese +– an meiner Seite kniend eine schöne Frau mit +rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben +und ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im +Hintergrund und zwei Jagdleute mit Fackeln in der +Nähe ... Sie staunen – nicht wahr, Sie staunen?«</p> + +<p>Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier +schilderte, war genau das Bild, mit welchem mein +Stück heute abend um zehn Uhr schließen und in dem +er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« +fuhr Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern +davon, es Ihnen übel zu nehmen. Aber mit Ihrem +Zweifel soll es gleich ein Ende haben.«</p> + +<p>Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und +zog ein verschlossenes Kuwert heraus. »Bitte, sehen +Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las laut: »Notariell +verschlossen am 14. Januar 1859, zu eröffnen +<a class="page" name="Page_104" id="Page_104" title="104"></a>am 9. September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung +des mir persönlich wohlbekannten Notars +Doktor Artiner in Wien.</p> + +<p>»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und +heute sind es eben zehn Jahre, daß mir das rätselhafte +Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das sich +nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn +von Jahr zu Jahr, als triebe ein launisches Schicksal +sein Spiel mit mir, schwankten die Erfüllungsmöglichkeiten +für jene Prophezeiung in der seltsamsten +Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit +zu werden, verschwanden in nichts, wurden +zu unerbittlicher Gewißheit, verflatterten, kamen +wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem +Berichte zurückkommen. Die Erscheinung selbst hatte +gewiß nicht länger gedauert als einen Augenblick; +denn noch klang von der Kaserne her das gleiche laute +Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich +gehört hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. +Und nun stand auch Marco Polo wieder vor mir, +mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht +sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, +nahm den Zylinder ab, sagte: »Guten Abend, Herr +Leutnant, ich hoffe, Sie sind zufrieden gewesen,« +wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße +<a class="page" name="Page_105" id="Page_105" title="105"></a>vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens +am nächsten Tage abgereist.</p> + +<p>Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder +zuging, war, daß es sich um eine Geistererscheinung +gehandelt haben mußte, die Marco Polo, vielleicht +von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittels +irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande +gewesen war. Als ich durch den Hof kam, +sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer +in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer +lehnen. Man hatte seiner offenbar vollkommen +vergessen. Die anderen hörte ich drin in der höchsten +Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten +beim Arm, er wachte sofort auf, war nicht im geringsten +verwundert und konnte sich nur die Erregung nicht +erklären, in welcher sich alle Herren des Regiments +befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer +Art von Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, +die sich über die Seltsamkeiten, deren Zeugen +wir gewesen, entwickelt hatte, und redete wohl nicht +klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: +»Nun, meine Herren, ich wette, daß ich noch das +nächste Frühjahr erlebe! Fünfundvierzig zu eins!« +Und er wandte sich zu einem unserer Herren, einem +Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler +<a class="page" name="Page_106" id="Page_106" title="106"></a>und Wetter genoß. »Nichts zu machen?« Obzwar es +klar war, daß der Angeredete der Versuchung schwer +widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden, +eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem +selbst abzuschließen, und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich +hat er es bedauert. Denn schon nach vierzehn +Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver, +stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb +auf der Stelle tot. Und bei dieser Gelegenheit merkten +wir alle, daß wir es gar nicht anders erwartet hatten. +Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen +Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, +von der ich in einer sonderbaren Scheu niemandem +Mitteilung gemacht hatte. Erst zu Weihnachten, anläßlich +einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich +mich einem Kameraden, einem gewissen Friedrich +von Gulant – Sie haben vielleicht von ihm gehört, er +hat hübsche Verse gemacht und ist sehr jung gestorben +... Nun, der war es, der mit mir zusammen das +Schema entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen +finden werden. Er war nämlich der Ansicht, +daß solche Vorfälle für die Wissenschaft nicht verloren +gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen +als wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm +bin ich bei Doktor Artiner gewesen, vor dessen Augen +<a class="page" name="Page_107" id="Page_107" title="107"></a>das Schema in diesem Kuwert verschlossen wurde. +In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, +und gestern erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir +zugestellt worden. Ich will es gestehen: der Ernst, +mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich +anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht +mehr sah und besonders, als er kurz darauf starb, fing +die ganze Geschichte an, mir sehr lächerlich vorzukommen. +Vor allem war es mir klar, daß ich mein +Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in +der Welt konnte mich dazu zwingen, am 9. September +1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen Vollbart +auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft +konnte ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine +Frau mit roten Haaren zu heiraten und Kinder zu +bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht ausweichen +konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von +dem mir die Narbe auf der Stirn zurückbleiben konnte. +Ich war also fürs erste beruhigt. – Ein Jahr nach +jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, +meine jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den +Dienst und widmete mich der Landwirtschaft. Ich besichtigte +verschiedene kleinere Güter und – so komisch es +klingen mag – ich achtete darauf, daß sich womöglich +innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die +<a class="page" name="Page_108" id="Page_108" title="108"></a>dem Rasenplatz jenes Traumes (wie ich den Inhalt +jener Erscheinung bei mir zu nennen liebte) gleichen +könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen, +als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch +eine Besitzung in Kärnten mit einer schönen Jagd +zufiel. Beim ersten Durchwandern des neuen Gebietes +gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald +begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art +der Örtlichkeit zu gleichen schien, vor der mich zu hüten +ich vielleicht allen Anlaß hatte. Ich erschrak ein wenig. +Meiner Frau hatte ich von der Prophezeiung nichts +erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit meinem +Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen +Tage« – er lächelte wie befreit – »vergiftet hätte. +So konnte ich ihr natürlich auch meine Bedenken nicht +mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit der +Überlegung, daß ich ja keineswegs den September +1868 auf meinem Gute zubringen müßte. – Im +Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in +seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen +Zügen Ähnlichkeit mit den Zügen des Knaben aus +dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich zu verwischen, +bald wieder sprach sie sich deutlicher aus – +und heute darf ich mir ja selbst gestehen, daß der +Knabe, der heute abends um zehn an meiner Bahre +<a class="page" name="Page_109" id="Page_109" title="109"></a>stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar +gleicht. – Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete +es sich vor drei Jahren, daß die verwitwete Schwester +meiner Frau, die bisher in Amerika gelebt hatte, starb +und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner +Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, +um es bei uns im Hause aufzunehmen. Als ich es +zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu merken, daß es +dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. +Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, das Kind in +dem fremden Lande bei fremden Leuten zu lassen. +Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich wieder +von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause +auf. Wieder beruhigte ich mich vollkommen, trotz +der zunehmenden Ähnlichkeit der Kinder mit den +Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich +bildete mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter +des Traumes mich doch vielleicht trügen +mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener +Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgehört, +an jenen sonderbaren Abend in dem polnischen +Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine +neue Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise +erschüttert wurde. Ich hatte auf ein paar Monate +verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir meine +<a class="page" name="Page_110" id="Page_110" title="110"></a>Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit +mit der Frau des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht +gesehen hatte, schien mir vollständig. Ich fand es +für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck des +Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer +heftiger, denn plötzlich kam mir ein an Wahnsinn +grenzender Einfall: wenn ich mich von meiner Frau +und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr +schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren +gehalten. Meine Frau weinte, sank wie gebrochen zu +Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte mir den +Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich +einer Reise nach München, war ich in der +Kunstausstellung von dem Bildnis einer rothaarigen +Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau +hatte schon damals den Plan gefaßt, sich bei irgendeiner +Gelegenheit diesem Bildnis dadurch ähnlich zu machen, +daß sie sich die Haare färben ließ. Ich beschwor sie +natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche +dunkle Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen +war, schien alles wieder gut zu sein. Sah ich nicht +deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor in meiner +Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen, +auf natürliche Weise zu erklären?... Hatten +nicht tausend andere Güter mit Wiesen und Wald +<a class="page" name="Page_111" id="Page_111" title="111"></a>und Frau und Kinder?... Und das einzige, was +vielleicht Abergläubische schrecken durfte, stand noch +aus – bis zum heurigen Winter: die Narbe, die Sie +nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich bin +nicht mutlos – erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das +sage; ich habe mich als Offizier zweimal geschlagen +und unter recht gefährlichen Bedingungen – auch +vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als +ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im +vorigen Jahre aus irgendeinem lächerlichen Grund +– wegen eines nicht ganz höflichen Grußes – von +einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es +vorgezogen« – Herr von Umprecht errötete leicht – +»mich zu entschuldigen. Die Sache wurde natürlich +in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch +ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen +hätte, wäre nicht plötzlich eine wahnwitzige Angst +über mich gekommen, daß mein Gegner mir eine +Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal +damit einen neuen Trumpf in die Hand spielen +könnte ... Aber Sie sehen, es half mir nichts: die +Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier +verwundet wurde, war vielleicht derjenige innerhalb +der ganzen zehn Jahre, der mich am tiefsten zum +Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war +<a class="page" name="Page_112" id="Page_112" title="112"></a>heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder +drei anderen Personen, die mir vollkommen unbekannt +waren, in der Eisenbahn zwischen Klagenfurt und +Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich +fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, +daß etwas Hartes zu Boden fällt; ich greife zuerst nach +der schmerzenden Stelle – sie blutet; dann bücke +ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom +Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. +»Ist was geschehen?« ruft einer. Man merkt, daß ich +blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr aber – ich +seh es ganz deutlich – ist in die Ecke wie zurückgesunken. +In der nächsten Haltestelle bringt man +Wasser, der Bahnarzt legt mir einen notdürftigen +Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich +an der Wunde sterben könnte: ich weiß ja, daß es +eine Narbe werden muß. Ein Gespräch im Waggon +hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat +beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen +Bubenstreich handle; der Herr in der Ecke schweigt und +starrt vor sich hin. In Villach steige ich aus. Plötzlich +ist der Mann an meiner Seite und sagt: »Es galt +mir.« Eh ich antworten, ja nur mich besinnen kann, +ist er verschwunden; ich habe nie erfahren können, +wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht +<a class="page" name="Page_113" id="Page_113" title="113"></a>... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt +glaubte von einem beleidigten Gatten oder Bruder, +und den ich möglicherweise gerettet habe, da eben mir +die Narbe bestimmt war ... wer kann es wissen?... +Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn +an derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume +gesehen hatte. Und mir ward es immer klarer, daß +ich mit irgendeiner unbekannten höhnischen Macht +in einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich +sah dem Tag, wo das letzte in Erfüllung gehen sollte, +mit wachsender Unruhe entgegen.</p> + +<p>Im Frühling erhielten wir die Einladung meines +Onkels. Ich war fest entschlossen, ihr nicht zu folgen, +denn ohne daß mir ein deutliches Bild in Erinnerung +gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß +gerade auf seinem Gut hier die verruchte Stelle zu +finden wäre. Meine Frau hätte aber eine Ablehnung +nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch, mit ihr +und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in +der bestimmten Absicht, sobald als möglich das Schloß +wieder zu verlassen und weiter in den Süden, nach +Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der +ersten Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch +auf Ihr Stück, mein Onkel sprach von den kleinen +Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat mich, +<a class="page" name="Page_114" id="Page_114" title="114"></a>meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts +dagegen. Es war damals bestimmt, daß der Held von +einem Berufsschauspieler dargestellt werden sollte. +Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß ich +gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. +So erklärte ich denn eines Abends, daß ich am nächsten +Tage das Schloß auf einige Zeit zu verlassen und +Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte versprechen, +Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben +Abend kam ein Brief des Schauspielers, der aus +irgendwelchen gleichgültigen Gründen dem Freiherrn +seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr ärgerlich. +Er bat mich, das Stück zu lesen – vielleicht +könnte ich ihm unter unseren Bekannten einen nennen, +der geeignet wäre, die Rolle darzustellen. So nahm +ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es. +Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir +vorging, als ich zu dem Schlusse kam und hier Wort +für Wort die Situation aufgezeichnet fand, die mir +für den 9. September dieses Jahres prophezeit +worden war. Ich konnte den Morgen nicht erwarten, +um meinem Onkel zu sagen, daß ich die Rolle spielen +wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen +könnte; denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir +vor wie in sicherer Hut, und wenn mir die Möglichkeit +<a class="page" name="Page_115" id="Page_115" title="115"></a>entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war ich wieder +jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel +war gleich einverstanden, und von nun an nahm alles +seinen einfachen und guten Gang. Wir probieren seit +einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die Situation, +die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal +durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge +Komtesse Saima mit ihren schönen roten Haaren, +die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir, und die +Kinder stehen an meiner Seite.«</p> + +<p>Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, +fielen meine Augen wieder auf das Kuwert, das noch +immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von +Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich +Ihnen noch schuldig,« sagte er und öffnete die Siegel. +Ein zusammengefaltetes Papier lag zutage. Umprecht +entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor +mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener +Situationsplan zu der Schlußszene des +Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch +aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« +versehen; ein Strich mit einer männlichen Figur war +etwa in der Mitte des Planes eingetragen, darüber +stand: »Bahre« ... Bei den anderen schematischen +Figuren stand in kleinen Buchstaben mit roter Tinte +<a class="page" name="Page_116" id="Page_116" title="116"></a>zugeschrieben: »Frau mit rotem Haar«, »Knabe«, +»Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen +Händen«. Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: +»Was bedeutet das: ›Mann mit erhobenen Händen?‹«</p> + +<p>»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, +»hätt ich nun beinahe vergessen. Mit dieser Figur +verhält es sich folgendermaßen: In jener Erscheinung +gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, +einen alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer +Brille, einen dunkelgrünen Schal um den Hals, mit +erhobenen Händen und weit aufgerissenen Augen.«</p> + +<p>Diesmal stutzte ich.</p> + +<p>Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam +beunruhigt: »Was vermuten Sie eigentlich? Wer +sollte das sein?«</p> + +<p>»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß +irgendeiner von den Zuschauern, vielleicht aus der +Dienerschaft des Onkels ... oder einer von den Bauern +am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten +und auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber +will es das Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener +durch einen jener Zufälle, die mich wirklich +nicht mehr überraschen, gerade in dem Augenblick, wo +ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.«</p> + +<p>Ich schüttelte den Kopf.</p> + +<p><a class="page" name="Page_117" id="Page_117" title="117"></a>»Wie sagten Sie?... Kahl – Brille – ein grüner +Schal?... – Nun erscheint mir die Sache noch seltsamer +als früher. Die Gestalt des Mannes, den Sie +damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem +Stück beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. +Es war der wahnsinnige Vater der Frau, von +dem im ersten Akt die Rede ist, und der zum Schluß +auf die Szene stürmen sollte.«</p> + +<p>»Aber Schal und Brille?«</p> + +<p>»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem +getan – glauben Sie nicht?«</p> + +<p>»Es ist möglich.«</p> + +<p>Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht +ließ ihren Gatten zu sich bitten, da sie ihn gerne vor +der Vorstellung sprechen möchte, und er empfahl sich. +Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam +den Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem +Tisch hatte liegen lassen.</p> + + +<h3 class="subsection">3</h3> + +<p class="newsubsection">Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die +Vorstellung stattfinden sollte. Er lag hinter dem +Schlößchen, durch eine anmutige Gartenanlage davon +geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken ab<a class="page" name="Page_118" id="Page_118" title="118"></a>schloß, +waren etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem +Holz aufgestellt; die vorderen Reihen waren +mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten +standen einige Notenpulte und Stühle; einen Vorhang +gab es nicht. Die Trennung der Bühne von dem +Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende hohe +Tannenbäume angedeutet; rechts schloß sich wildes +Gesträuch an, hinter dem ein bequemer Lehnstuhl, +dem Zuschauer unsichtbar, für den Souffleur bestimmt, +stand. Zur Linken lag der Platz frei und ließ den +Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war +von hohen Bäumen gebildet; sie standen dicht aneinandergedrängt +nur in der Mitte, und links schlichen +schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin +im Wald, innerhalb einer kleinen künstlichen Lichtung, +waren Tisch und Stühle aufgestellt, wo die Schauspieler +ihrer Stichworte harren mochten. Für die +Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der +Bühne und des Zuschauerraumes kulissenartig hohe +alte Kirchenleuchter mit riesigen Kerzen aufgerichtet +hatte. Hinter dem Gesträuch zur Rechten war eine +Art Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst +anderem kleinern Gerät, das im Stück notwendig +war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht +am Schlusse des Stückes sterben sollte. – Als ich jetzt +<a class="page" name="Page_119" id="Page_119" title="119"></a>über die Wiese schritt, war sie von der Abendsonne +mild überglänzt ... Ich hatte natürlich über die +Erzählung des Herrn von Umprecht nachgedacht. +Nicht für unmöglich hielt ich es anfangs, daß Herr +von Umprecht zu der Art von phantastischen Lügnern +gehörte, die eine Mystifikation unter Schwierigkeiten +von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu +machen. Ich hielt es selbst für denkbar, daß die +Unterschrift des Notars gefälscht war und daß Herr +von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um die +Sache folgerecht durchzuführen. Besondere Bedenken +stiegen mir über den vorläufig unbekannten +Mann mit den erhobenen Händen auf, mit dem sich +Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben +konnte. Aber meinen Zweifeln widersprach vor +allem die Rolle, die dieser Mann in meinem ersten +Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte +– und besonders der günstige Eindruck, den ich von +der Person des Herrn von Umprecht gewonnen hatte. +Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer +Bericht mir erschien – irgend etwas in mir verlangte +sogar danach, ihm glauben zu dürfen; es mochte die +törichte Eitelkeit sein, mich als Vollstrecker eines über +uns waltenden Willens zu empfinden. – Indes hatte +einige Bewegung in meiner Nähe angehoben; Diener +<a class="page" name="Page_120" id="Page_120" title="120"></a>kamen aus dem Schloß, Kerzen wurden angezündet, +Leute aus der Umgebung, manche auch in bäurischer +Kleidung, stiegen langsam den Hügel herauf und +stellten sich bescheiden zu seiten der Bänke auf. Bald +erschien die Frau des Hauses mit einigen Herren +und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte +mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom +vorigen Jahr. Die Mitglieder des Orchesters waren +erschienen und begaben sich auf ihre Plätze; die +Zusammenstellung war ungewöhnlich genug; es +waren zwei Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontrabaß, +eine Flöte und eine Oboe. Sie begannen sofort, +offenbar verfrüht, eine Ouvertüre von Weber zu +spielen. Ganz vorne, in der Nähe des Orchesters, +stand ein alter Bauer, der glatzköpfig war und eine +Art von dunklem Tuch um den Hals geschlungen hatte. +Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht +ich, später eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu +werden und auf die Szene zu laufen. Das Tageslicht +war völlig dahin, die hohen Kerzen flackerten ein wenig, +da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter dem +Gesträuch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen +waren die Mitwirkenden in die Nähe der Bühne +gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder an die anderen, +die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, daß ich +<a class="page" name="Page_121" id="Page_121" title="121"></a>noch niemanden außer Herrn von Umprecht, seinen +Kindern und der Försterstochter gesehen hatte. Nun +hörte ich die laute Stimme des Regisseurs und das +Lachen der jungen Komtessa Saima. Die Bänke +waren alle besetzt, der Freiherr saß in einer der vordersten +Reihen und sprach mit der Gräfin Saima. +Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die Försterstochter +vor und sprach den Prolog, der das Stück +einleitete. Den Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal +eines Mannes, der, ergriffen von einer plötzlichen +Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen +ohne Abschied verläßt und im Verlaufe eines Tages +so viel Schmerzliches und Widriges erlebt, daß er +wieder zurückzukehren gedenkt, ehe Frau und Kinder +ihn vermißt haben; aber ein letztes Abenteuer auf +dem Rückweg, nahe der Tür seines Hauses, hat seine +Ermordung zur Folge, und nur mehr sterbend kann +er die Verlassenen begrüßen, die seiner Flucht und +seinem Tod als den unlösbarsten Rätseln gegenüberstehen.</p> + +<p>Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen +sprachen ihre Rollen angenehm; ich erfreute mich an +der einfachen Darstellung der einfachen Vorgänge +und dachte im Anfang nicht mehr an die Erzählung +des Herrn von Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte +<a class="page" name="Page_122" id="Page_122" title="122"></a>das Orchester wieder, aber niemand hörte darauf, +so lebhaft war das Geplauder auf den Bänken. Ich +selbst saß nicht, sondern stand, ungesehen von den +anderen, der Bühne ziemlich nahe, auf der linken +Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu senkte. Der +zweite Akt begann; der Wind war etwas stärker geworden, +und die flackernde Beleuchtung trug zu der +Wirkung des Stückes nicht wenig bei. Wieder verschwanden +die Darsteller im Wald, und das Orchester +setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zufällig auf den +Flötisten, der eine Brille trug und glatt rasiert war; +aber er hatte lange weiße Haare, und von einem Schal +war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schloß, die +Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte +ich, daß der Flötenspieler, der sein Instrument vor +sich hin auf das Pult gelegt hatte, in seine Tasche griff, +einen großen grünen Schal hervorzog und ihn um +den Hals wickelte. Ich war im allerhöchsten Grade +befremdet. In der nächsten Sekunde trat Herr +von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick plötzlich auf +dem Flötisten haften blieb, wie er den grünen Schal +bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte +er sich wieder gefaßt und sprach seine Rolle unbeirrt +weiter. Ich fragte einen jungen, einfach gekleideten +Burschen neben mir, ob er den Flötisten kenne, und +<a class="page" name="Page_123" id="Page_123" title="123"></a>erfuhr von ihm, daß jener ein Schullehrer aus Kaltern +war. Das Spiel ging weiter, der Schluß nahte heran. +Die zwei Kinder irrten, wie es vorgeschrieben war, +über die Bühne, Lärm im Walde drang näher und +näher, man hörte schreien und rufen; es machte sich +nicht übel, daß der Wind stärker wurde und die Zweige +sich bewegten; endlich trug man Herrn von Umprecht +als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein. +Die beiden Kinder stürzten herbei, die Fackelträger +standen regungslos zur Seite. Die Frau trat später +auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem +Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder; +dieser will die Lippen noch einmal öffnen, versucht, +sich zu erheben, aber – wie es in der Rolle vorgeschrieben +– es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt +mit einem Mal ein ungeheurer Windstoß, daß die +Fackeln zu verlöschen drohen; ich sehe, wie einer im +Orchester aufspringt – es ist der Flötenspieler – +zu meinem Erstaunen ist er kahl, seine Perücke ist ihm +davongeflogen; mit erhobenen Händen, den grünen +flatternden Schal um den Hals, stürzt er der Bühne +zu. Unwillkürlich richte ich mein Auge auf Umprecht; +seine Blicke sind starr, wie verzückt auf den Mann +gerichtet; er will etwas reden – er vermag es offenbar +nicht – er sinkt zurück ... Noch meinen viele, daß +<a class="page" name="Page_124" id="Page_124" title="124"></a>dies alles zum Stücke gehöre; ich selbst bin nicht +sicher, wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist; +indes ist der Mann an der Bahre vorüber, immer +noch seiner Perücke nach, und verschwindet im Wald. +Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windstoß +läßt eine der beiden Fackeln verlöschen; einige Menschen +ganz vorne werden unruhig – ich höre die +Stimme des Freiherrn: »Ruhe! Ruhe!« – es wird +wieder stille – auch der Wind regt sich nicht mehr +... aber Umprecht bleibt ausgestreckt liegen, rührt +sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse +Saima schreit auf – natürlich glauben die Leute, +auch dies sei im Stück so vorgeschrieben. Ich aber +dränge mich durch die Menschen, stürze auf die Bühne, +höre, wie es hinter mir unruhig wird – die Leute +erheben sich, andere folgen mir, die Bahre ist umringt ... +»Was gibt’s, was ist geschehen?« ... Ich reiße einem +Fackelträger seine Fackel aus der Hand, beleuchte das +Antlitz des Liegenden ... Ich rüttle ihn, reiße ihm +das Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite +gelangt, er fühlt nach dem Herzen Umprechts, er +greift seinen Puls, er wünscht, daß alles zur Seite +trete, er flüstert dem Freiherrn ein paar Worte zu +... die Frau des Aufgebahrten hat sich hinaufgedrängt, +sie schreit auf, wirft sich über ihren Mann, +<a class="page" name="Page_125" id="Page_125" title="125"></a>die Kinder stehen wie vernichtet da und können es +nicht fassen ... Niemand will es glauben, was +geschehen, und doch teilt es einer dem andern mit; +– und eine Minute später weiß man es rings in +der Runde, daß Herr von Umprecht auf der Bahre, +auf der man ihn hineingetragen, plötzlich gestorben +ist ...</p> + +<p>Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal +hinuntergeeilt, von Entsetzen geschüttelt. In einem +sonderbaren Grauen habe ich mich nicht entschließen +können, das Schloß wieder zu betreten. Den Freiherrn +sprach ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte +ich ihm die Geschichte Umprechts, wie sie mir von ihm +selbst mitgeteilt worden war. Der Freiherr wollte +sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und +zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich +befremdet, ja angstvoll an und gab mir das Blatt +zurück – es war weiß, unbeschrieben, unbezeichnet ...</p> + +<p>Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden; +aber das einzige, was ich von ihm erfahren +konnte, war, daß er vor drei Jahren zum letztenmal +in einem Hamburger Vergnügungsetablissement niederen +Ranges aufgetreten ist.</p> + +<p>Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das +unbegreiflichste bleibt, ist der Umstand, daß der +<a class="page" name="Page_126" id="Page_126" title="126"></a>Schullehrer, der damals seiner Perücke mit erhobenen +Händen nachlief und im Walde verschwand, niemals +wiedergesehen, ja daß nicht einmal sein Leichnam +aufgefunden wurde.</p> + + +<h3 class="subsection">Nachwort des Herausgebers</h3> + +<p>Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe +ich persönlich nicht gekannt. Er war zu seiner Zeit +ein ziemlich bekannter Schriftsteller, aber so gut wie +verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa +zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachlaß ging, +ohne besondere Bestimmung, an den in diesen Blättern +genannten Meraner Jugendfreund über. Von diesem +wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anläßlich eines +Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen +über allerlei dunkle Fragen, insbesondere über +Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und Weissagekunst +unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte +Manuskript zur Veröffentlichung übergeben. Gern +möchte ich dessen Inhalt für eine frei erfundene +Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch +aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten +Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Aus<a class="page" name="Page_127" id="Page_127" title="127"></a>gang +beigewohnt und den in so rätselhafter Weise +verschwundenen Schullehrer persönlich gekannt hätte. +Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so +erinnere ich mich noch sehr wohl, als ganz junger +Mensch in einer Sommerfrische am Wörther See +seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu +haben; er blieb mir im Gedächtnis, weil ich gerade +zu dieser Zeit im Begriffe war, die Reisebeschreibung +des berühmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_128" id="Page_128" title="128"></a></p> +<h2 class="novelle"><a name="Das_neue_Lied" id="Das_neue_Lied"></a>Das neue Lied</h2> + + +<p class="newsection">»<em class="bigletter">I</em>ch bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder +... bitte sehr, das kann keiner sagen!« Karl +Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an sein +Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, +der sie sprach, neben ihm einherging – ja er spürte +sogar den Weindunst, in den diese Worte gehüllt +waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich, +sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er +war zu müde und zerrüttet von dem furchtbaren +Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach +Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht +nach Hause gegangen, sondern lieber im Morgenwind +die menschenleere Straße weiterspaziert, ins Freie +hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die drüben +aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer +nach dem anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den +Füßen, und er spürte nichts von der wohligen Frische, +die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der Frühluft +zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche +Bild vor Augen, dem er entflohen war.</p> + +<p>Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt +haben. Was wollte denn der von ihm?... warum +<a class="page" name="Page_129" id="Page_129" title="129"></a>verteidigte er sich?... und warum gerade vor ihm?... +Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay +einen lauten Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr +gut wußte, daß der die Hauptschuld trug an dem, +was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. +Wie schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock +war zerdrückt und fleckig, ein Knopf fehlte, die andern +waren an den Rändern ausgefranst; in einem Knopfloch +steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. +Gestern abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. +Mit dieser selben Nelke geschmückt, war der Kapellmeister +Rebay an einem klappernden Pianino +gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen +der Gesellschaft Ladenbauer besorgt, wie +er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine Wirtshaus +war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus +standen die Tische und Stühle, denn heute war, wie +es mit schwarzen und roten Buchstaben auf großen, +gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes Wiederauftreten +des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße +Amsel‹, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.«</p> + +<p>Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, +er und der Kapellmeister waren längst nicht mehr +die einzigen auf der Straße. Hinter ihnen, auch von +Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde, +<a class="page" name="Page_130" id="Page_130" title="130"></a>ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel +es Karl ein, daß heute Sonntag war. Er war froh, +daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in die Stadt zu +gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen +versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es +schon oft getan. Das alte Drechslergeschäft in der +Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn, und der +Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders +bisher noch immer zur rechten Zeit zu einem soliden +Lebenswandel entschlossen hatten. Die Geschichte +mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz +recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« +hatte er einmal milde zu Karl gesagt, »ich bin auch +einmal jung gewesen ... aber in den Familien von +meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab +ich doch immer zuviel auf mich gehalten.«</p> + +<p>Hätte er auf den Vater gehört – dachte Karl jetzt +– so wäre ihm mancherlei erspart geblieben. Aber +er hatte die Marie sehr gern gehabt. Sie war ein +gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte +zu machen, und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren +ging, hätte sie keiner für eine gehalten, die schon +so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei ihren +Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen +Hause. Die Wohnung war nett gehalten, auf der +<a class="page" name="Page_131" id="Page_131" title="131"></a>Etagere standen Bücher; öfters kam der Bruder des +alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim +Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr +ernste Dinge geredet: Politik, Wahlen und Gemeindewesen. +Am Sonntag spielte Karl oben manchmal +Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten +Jedek, demselben, der abends im Klownkostüm +auf Gläser- und Tellerrändern Walzer und Märsche +exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld +ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus +durchaus nicht so regelmäßig passierte. In der +Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit Schweizer +Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, +die abends in der Vorstellung langweilige Gedichte +vortrug, plauderte mit der Marie und nickte dazu +beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl +herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte +sich zu ihm und schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder +war in einem großen Geschäft angestellt, und wenn +ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich +sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr +verehrte, zuweilen von einem Stadtzuckerbäcker etwas +zum Naschen mit. Und wenn er sich empfahl, sagte +er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich +anderweitig versagt bin ...« – Freilich, am liebsten +<a class="page" name="Page_132" id="Page_132" title="132"></a>war Karl mit Marie allein. Und er dachte an einen +Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg gegangen +war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald +entgegen, der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie +waren beide müde gewesen, denn sie kamen geradeswegs +aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen +mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen +waren; nun legten sie sich unter eine +Buche am Rand eines Wiesenhanges und schliefen +ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags +wachten sie auf, gingen noch weiter hinein in den +Wald, plauderten und lachten den ganzen Tag, ohne +zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung +brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen +gab es manche, und die beiden lebten +sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu denken. Zu +Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der +Doktor hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die +Krankheit war eine Gehirnentzündung oder so etwas +ähnliches, und jede Aufregung sollte vermieden werden. +Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich +erkundigen; später aber, als die Sache sich länger +hinzog, nur jeden zweiten und dritten Tag. Einmal +sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe: »Also +heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von +<a class="page" name="Page_133" id="Page_133" title="133"></a>Breiteneder. Aber bitt schön, daß Sie sich nicht +verraten.« – »Warum soll denn ich mich verraten?« +fragte Karl, »was ist denn g’schehn?« – »Ja, mit +den Augen ist leider keine Hilfe mehr.« – »Wieso +denn?« – »Sie sieht halt nichts mehr ..., das ist ihr +leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben. Aber +sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen +Sie sich zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte +Karl nur ein paar Worte und ging. Er hatte plötzlich +Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als hätte +er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so +hell gewesen waren und mit denen sie immer gelacht +hatte. Er wollte morgen kommen. Aber er kam +nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten +Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. +Er wollte sie erst wiedersehen, nahm er sich vor, bis +sie sich selbst in ihr Schicksal gefunden haben konnte. +Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise antreten +mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. +Er kam weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, +Leipzig, Prag. Einmal schrieb er an die alte Frau +Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach seiner +Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die +Marie schön grüßen. – Im Frühjahr kam er zurück; +aber zu den Ladenbauers ging er nicht. Er konnte +<a class="page" name="Page_134" id="Page_134" title="134"></a>sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch +von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, +sie ganz zu vergessen. Er war ja nicht der erste und +nicht der einzige gewesen. Er hörte auch gar nichts +von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem +Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie +auf dem Land bei Verwandten lebte, von denen er +sie manchmal sprechen gehört hatte.</p> + +<p>Da führte ihn gestern abends – er wollte Bekannte +besuchen, die in der Nähe wohnten – der Zufall +an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen +der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. +Ganz in Gedanken wollte er schon vorübergehen, da +fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er wußte, wo +er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor +er ein Wort gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit +schwarzen und roten Buchstaben vor sich sah: »Erstes +Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die +›weiße Amsel‹, nach ihrer Genesung,« da blieb er +wie gelähmt stehen. Und in diesem Augenblick stand +der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden gewachsen: +den weißen Strubbelkopf unbedeckt, den schäbigen +schwarzen Zylinder in der Hand und mit einer +frischen Blume im Knopfloch. Er begrüßte Karl: +»Der Herr Breiteneder – nein, so was! Nicht wahr, +<a class="page" name="Page_135" id="Page_135" title="135"></a>beehren uns heute wieder! Die Fräul’n Marie wird +ja ganz weg sein vor Freud, wenn sie hört, daß sich +die frühern Freund’ doch noch um sie umschaun. +Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg’standen, +Herr von Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.« +Er redete noch eine ganze Menge, und Karl rührte +sich nicht, obwohl er am liebsten weit fortgewesen +wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, +und er fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts +sehe – ob sie nicht doch wenigstens einen Schein habe. +»Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was fällt +Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts +sieht sie, gar nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. +»Alles kohlrabenschwarz vor ihr ... Aber +werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, +hat alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf +– und eine Stimme hat das Mädel, schöner als je!... +Na, Sie werden ja sehn, Herr von Breiteneder. – +Und gut is sie – seelengut! Noch viel freundlicher, +als sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja – haha! +– Ah, es kommen heut mehrere, die sie kennen ... +natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von Breiteneder; +denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen +G’schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! +Ich hab eine gekannt, die war blind und hat Zwillinge +<a class="page" name="Page_136" id="Page_136" title="136"></a>gekriegt – haha! – Schauen S’, wer da is,« sagte +er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an +der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen +und bleich und sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen. +Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wußte kaum, was +mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: +»Nicht der Marie sagen, um Gottes willen, Frau +Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß ich da +bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!«</p> + +<p>»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und +beschäftigte sich mit anderen Leuten, die Billette +verlangten.</p> + +<p>»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber +nachher, das wird eine Überraschung sein! Da +kommen S’ doch mit? Großes Fest – hoho! Habe +die Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. +Karl durchschritt den gefüllten Saal, und +im Garten, der sich ohne weiteres anschloß, setzte er +sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei +alte Leute Platz genommen hatten, eine Frau und +ein Mann. Sie sprachen nichts miteinander, betrachteten +stumm den neuen Gast, und nickten einander +traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung +begann, und Karl hörte die altbekannten Sachen +wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich verändert, +<a class="page" name="Page_137" id="Page_137" title="137"></a>weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. +Zuerst spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte +Ouvertüre, von der zu Karl nur vereinzelte harte +Akkorde drangen, dann trat als erste die Ungarin +Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, +sang ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf +folgte ein humoristischer Vortrag des Komikers +Wiegel-Wagel; er trat im zeisiggrünen Frack auf, +teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen wäre, +und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren +Abschluß seine Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. +Dann kam ein Duett zwischen Herrn und Frau +Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach +ihnen, in schmutziger weißer Klowntracht, folgte der +närrische kleine Jedek, zeigte zuerst seine Jongleurkünste, +irrte mit riesigen Augen unter den Leuten +umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte +er Teller in Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem +Holzstab einen Marsch darauf, ordnete Gläser und +spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine +wehmütige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke +auf und lächelte selig. Er trat ab, und Rebay hieb +wieder auf die Tasten ein, in festlichen Klängen. +Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die +Leute steckten die Köpfe zusammen, und plötzlich +<a class="page" name="Page_138" id="Page_138" title="138"></a>stand Marie auf dem Podium. Der Vater, der sie +hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht; +und sie stand allein. Und Karl sah sie oben +stehen, mit den erloschenen Augen in dem süßen +blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst +nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. +Ohne es selbst zu merken war er vom Sessel aufgesprungen, +lehnte an der grünen Laterne und hätte +beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. – Und +nun fing sie an zu singen. Mit einer ganz fremden +Stimme, leise, viel leiser als früher. Es war ein Lied, +das sie immer gesungen, und das Karl mindestens +fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm +seltsam fremd, und erst als der Refrain kam »Mich +heißens’ die weiße Amsel, im G’schäft und auch zu +Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. +Sie sang alle drei Strophen, Rebay +begleitete sie, und nach seiner Gewohnheit blickte er +öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war, setzte +Applaus ein, laut und donnernd. Marie lächelte und +verbeugte sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs +Podium hinauf, Marie griff mit den Armen in die +Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der +Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied +singen mußte, das Karl auch schon an die fünfzigmal +<a class="page" name="Page_139" id="Page_139" title="139"></a>gehört hatte. Es fing an: »Heut geh ich mit mein +Schatz aufs Land ...,« und Marie warf den Kopf +so vergnügt in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und +her, als wenn sie wirklich mit ihrem Schatz aufs Land +gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen sehen +und im Freien tanzen könnte, wie sie’s in dem Lied +erzählte. Und dann sang sie das dritte, das neue +Lied. –</p> + +<p>»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, +und Karl fuhr zusammen. Es war heller Sonnenschein; +weit erglänzte die Straße, ringsum war es +licht und lebendig. »Da könnt’ man sich hineinsetzen,« +fuhr Rebay fort, »auf ein Glas Wein; ich hab schon +einen argen Durst – es wird ein heißer Tag.«</p> + +<p>»Ob’s heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. +Breiteneder wandte sich um ... Wie, der war ihm +auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von +ihm?... Es war der närrische Jedek; man hatte +ihn nie anders geheißen, aber es war zweifellos, daß +er in der nächsten Zeit ernstlich und vollkommen +verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte +er seine lange blasse Frau am Leben bedroht, und +es war rätselhaft, daß man ihn frei herumlaufen ließ. +Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit neben +Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten +<a class="page" name="Page_140" id="Page_140" title="140"></a>aufgerissene, unerklärlich lustige Augen ins Weite, +auf dem Kopf saß ihm das stadtbekannte, graue +weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der +Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, +den andern plötzlich voraus, war er in das kleine +Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf einer +Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, +Platz genommen, schlug mit dem Spazierstock heftig +auf den grüngestrichnen Tisch und rief nach dem +Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des +grünen Holzgitters zog die weiße Straße weiter +nach oben, an kleinen, traurigen Villen vorbei, und +verlor sich in den Wald.</p> + +<p>Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den +Zylinder auf den Tisch, fuhr sich durch das weiße Haar, +rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner Gewohnheit +die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, +und beugte sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin +doch nicht auf’n Kopf g’fallen, Herr von Breiteneder! +Ich weiß doch, was ich tu!... Warum soll denn +ich schuld sein?... Wissen S’, für wen ich Couplets +geschrieben hab in meinen jüngeren Jahren?... +Für’n Matras! Das ist keine Kleinigkeit! Und haben +Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und +viele sind in andere Stück’ eingelegt worden!«</p> + +<p><a class="page" name="Page_141" id="Page_141" title="141"></a>»Lassen S’ das Glas stehn,« sagte Jedek und +kicherte in sich hinein.</p> + +<p>»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay +fort und schob das Glas wieder von sich. »Sie kennen +mich doch, und Sie wissen, daß ich ein anständiger +Mensch bin! Auch gibt’s in meinen Couplets niemals +eine Unanständigkeit, niemals eine Zote!... Und +das Couplet, wegen dem der alte Ladenbauer damals +is verurteilt worden, war von einem andern!... +Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder +– das ist ein Numero! Und wissen S’, wie +lang ich bei der G’sellschaft Ladenbauer bin?... Da +hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die +G’sellschaft gegründet hat. Und die Marie kenn ich +von ihrer Geburt an. Neunundzwanzig Jahr bin ich +bei die Ladenbauers – im nächsten März hab ich +Jubiläum ... Und ich hab meine Melodien nicht +g’stohlen – sie sind von mir, alles von mir! Und +wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die Werkeln +g’spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...«</p> + +<p>Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen +Augen. Jetzt hatte er alle drei Gläser vor seinen Platz +hingeschoben und begann mit seinen Fingern leicht +über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen +rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. +<a class="page" name="Page_142" id="Page_142" title="142"></a>Breiteneder hatte diese Kunstfertigkeit immer sehr +bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug er die +Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte +man zu; einige Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr +patschte in die Hände. Plötzlich schob Jedek alle drei +Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und starrte auf die +weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen +aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte +es vor den Augen, und es war ihm, als wenn die +Leute hinter Spinneweben tänzelten und schwebten. Er +rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich kommen. +Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück +– aber er hatte doch nicht schuld daran! Und plötzlich +stand er auf, denn als er an das Ende dachte, wollte +es ihm die Brust zersprengen. »Gehen wir,« sagte er.</p> + +<p>»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete +Rebay.</p> + +<p>Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch +wußte, warum. Er stellte sich vor einen Tisch hin, +an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit seinem +Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: +»Da soll der Teufel ein Glaserer werden – Himmelsackerment!« +Die beiden friedlichen Leute wurden +verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen +lachten und hielten ihn für betrunken.</p> + +<p><a class="page" name="Page_143" id="Page_143" title="143"></a>Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen +Straße, und Jedek, wieder ganz ruhig geworden, +kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues Hütel +ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock +mit dem Hut über die Schultern wie ein Gewehr, +während er mit der anderen Hand gewaltige grüßende +Bewegungen zum Himmel empor vollführte.</p> + +<p>»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich +entschuldigen will,« sagte Rebay mit klappernden +Zähnen. »Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus +nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann +wird es mir zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht +selber mit ihr einstudiert?... Bitte sehr, jawohl! +Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im +Zimmer gesessen is, hab ich’s einstudiert mit ihr ... +Und wissen S’, wie ich auf die Idee kommen bin? +Es ist ein Unglück, hab ich mir gedacht, aber es ist +doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, +und ihr schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab +ich’s g’sagt, die ganz verzweifelt war. Frau Ladenbauer, +hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts verloren +– passen S’ nur auf! Und dann, heutzutage, wo es +diese Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit +wieder lesen und schreiben lernen ... Und dann hab +ich einen gekannt – einen jungen Menschen, der +<a class="page" name="Page_144" id="Page_144" title="144"></a>ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede +Nacht von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle +möglichen Beleuchtungen ...«</p> + +<p>Breiteneder lachte auf. »Reden S’ im Ernst?« +fragte er ihn.</p> + +<p>»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen +Sie denn? Soll ich mich umbringen, ich?... Warum +denn? – Meiner Seel, ich hab Unglück genug +gehabt auf der Welt! – Oder meinen Sie, das ist +ein Leben, Herr von Breiteneder, wenn man einmal +Theaterstück geschrieben hat, wie ich als junger +Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich +so weit, daß man auf einem elenden Klimperkasten +für schäbige paar Kreuzer die heisern Ludern begleiten +muß, und ihnen die Couplets schreiben ... Wissen +S’, was ich für ein Couplet krieg’?... Sie möchten +sich wundern, Herr von Breiteneder!«</p> + +<p>»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, +der jetzt ganz ernst und manierlich, ja elegant neben +ihnen herging.</p> + +<p>»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. +Es war ihm plötzlich, als verfolgten ihn die +beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er +mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter: +»Eine Existenz hab ich dem Mädel gründen wollen!... +<a class="page" name="Page_145" id="Page_145" title="145"></a>Verstehen S’, eine neue Existenz!... Grad mit dem +neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es +vielleicht nicht schön?... Ist es nicht rührend?...«</p> + +<p>Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am +Rockärmel zurück, erhob den Zeigefinger der linken +Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die Lippen +und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das +Marie Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute +nachts gesungen hatte. Er pfiff sie geradezu vollendet; +denn auch das gehörte zu seinen Kunstfertigkeiten.</p> + +<p>»Die Melodie hat’s nicht gemacht,« sagte Breiteneder.</p> + +<p>»Wieso?« schrie Rebay. – Sie gingen alle rasch, +liefen beinahe, trotzdem der Weg beträchtlich anstieg. +»Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der Text +ist schuld, glauben S’?... Ja, um Gottes willen, +steht denn in dem Text was anderes, als was die +Marie selbst gewußt hat?... Und in ihrem Zimmer, +wie ich’s ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges +Mal geweint. Sie hat g’sagt: »Das ist ein trauriges +Lied, Herr Rebay, aber schön ist’s!...« »Schön +ist’s,« hat sie gesagt ... Ja freilich ist es ein trauriges +Lied, Herr von Breiteneder – es ist ja auch ein +trauriges Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich +ihr doch kein lustiges Lied schreiben?...«</p> + +<p><a class="page" name="Page_146" id="Page_146" title="146"></a>Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die +Äste schimmerte die Sonne; aus den Büschen tönte +Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei nebeneinander, +so schnell, als wollte einer dem andern +davonlaufen. Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und +die Leut – Kreuzdonnerwetter! – haben sie nicht +applaudiert wie verrückt?... Ich hab’s ja im voraus +gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg +haben! – Und es hat ihr auch eine Freud gemacht ... +förmlich gelacht hat sie übers ganze Gesicht, und die +letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es +ist auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen +ist, sind mir selber die Tränen ins Aug gekommen – +wissen S’ wegen der Anspielung auf das andere Lied, +das sie immer singt...« Und er sang, oder er sprach +vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß +wie einen Orgelton: »Wie wunderschön war es doch +früher <em class="gesperrt">auf der Welt</em>, – Wo die Sonn’ mir hat +g’schienen auf Wald und <em class="gesperrt">auf Feld</em>, – Wo i Sonntag +mit mein’ Schatz spaziert bin aufs <em class="gesperrt">Land</em> – Und er +hat mich aus Lieb nur geführt bei der <em class="gesperrt">Hand</em>. – Jetzt +geht mir die Sonn’ nimmer auf und die <em class="gesperrt">Stern’,</em> – +Und das Glück und die Liebe, die sind mir so <em class="gesperrt">fern!</em>«</p> + +<p>»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab’s ja gehört!«</p> + +<p>»Ist’s vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und +<a class="page" name="Page_147" id="Page_147" title="147"></a>schwang den Zylinder. »Es gibt nicht viele, die solche +Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden hat mir +der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine +Honorare, Herr von Breiteneder. Dabei hab ich’s +noch einstudiert mit ihr.«</p> + +<p>Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang +sehr leise den Refrain: »O Gott, wie bitter ist mir +das geschehn – Daß ich nimmer soll den Frühling +sehn ...«</p> + +<p>»Also <em class="gesperrt">warum</em>, frag ich!...« rief Rebay. »Warum?... +Gleich nachher war ich doch bei ihr drin ... +Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit einem +glückseligen Lächeln dag’sessen, hat ihr Viertel Wein +getrunken, und ich hab ihr die Haar’ gestreichelt und +hab ihr g’sagt: »Na, siehst du, Marie, wie’s den +Leuten g’fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut’ +aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird +Aufsehen machen ... Und singen tust du’s prachtvoll +...« Und so weiter, was man halt so red’t, bei +solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch +hereingekommen und hat ihr gratuliert. Und Blumen +hat sie bekommen – von Ihnen waren s’ nicht, Herr +von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung +... Also, warum soll da mein Couplet schuld +sein? Das ist ja ein Blödsinn!«</p> + +<p><a class="page" name="Page_148" id="Page_148" title="148"></a>Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den +Rebay bei den Schultern. »Warum haben S’ ihr +denn gesagt, daß ich da bin?... Warum denn?... +Hab ich Sie nicht gebeten, daß Sie’s ihr nicht sagen +sollen?«</p> + +<p>»Lassen S’ mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt! +Von der Alten wird sie’s gehört haben!«</p> + +<p>»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte +sich, »ich war so frei, Herr von Breiteneder – ich war +so frei. Weil ich g’wußt hab, Sie sein da, hab ich ihr +g’sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen +g’fragt hat, während sie krank war, hab ich ihr g’sagt: +›Der Herr Breiteneder is da ... hinten bei der Latern +is er g’standen,‹ hab ich ihr g’sagt, ›und hat sich großartig +unterhalten!‹«</p> + +<p>»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die +Kehle zu, und er mußte die Augen fortwenden von +dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet hielt. +Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der +sie eben vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah +sich plötzlich wieder im Garten sitzen, und die Stimme +der alten Frau Ladenbauer klang ihm im Ohr: »Die +Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit +uns mitkommen möchten nach der Vorstellung?« Er +erinnerte sich, wie ihm da mit einem Male zumute +<a class="page" name="Page_149" id="Page_149" title="149"></a>geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die +Marie alles verziehen. Er trank seinen Wein aus +und ließ sich einen besseren geben. Er trank so viel, +daß ihm das ganze Leben leichter vorkam. Geradezu +vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen +zu, klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung +aus war, ging er wohlgelaunt durch den +Garten und den Saal ins Extrazimmer des Wirtshauses, +an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft +nach der Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige +saßen schon da: der Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner +Frau, irgendein Herr mit einer Brille, den Karl gar +nicht kannte – alle begrüßten ihn und waren gar +nicht besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich +hörte er die Stimme der Marie hinter sich: »Ich find +schon hin, Mutter, ich kenn’ ja den Weg.« Er wagte +nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben +ihm und sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder – +wie geht’s Ihnen denn?« Und in diesem Augenblick +erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu irgendeinem +jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber +gewesen war, später immer »Sie« und »Herr« gesagt +hatte. Und dann aß sie ihr Nachtmahl; man hatte +ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze +Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich +<a class="page" name="Page_150" id="Page_150" title="150"></a>gar nichts geändert. »Gut is’ gangen,« sagte der alte +Ladenbauer. »Jetzt kommen wieder bessere Zeiten.« +Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der Marie +viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr +Wiegel-Wagel erhob sein Glas und rief: »Auf das +Wohl der Wiedergenesenen!« Marie hielt ihr Glas +in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte +mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie +ihre toten Augen in die seinen versenken wollte, und +als könnte sie tief in ihn hineinschauen. Auch der +Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und offerierte +Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, +ein junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, +saß ihr gegenüber und unterhielt sich lebhaft mit Herrn +Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte ihren gelben +Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine +Ecke, wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal +kamen Leute von einem benachbarten Tisch herüber +und gratulierten Marie; sie antwortete in ihrer stillen +Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste +verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber +warum denn gar so stumm?« Jetzt erst merkte er, +daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne den Mund +aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, +beteiligte sich an der Unterhaltung; nur an Marie +<a class="page" name="Page_151" id="Page_151" title="151"></a>richtete er kein Wort. Rebay erzählte von der schönen +Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, +trug den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig +Jahren verfertigt hatte, und spielte die +Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als +böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um +eins brach man auf. Frau Ladenbauer nahm den +Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es war +ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes +daran, daß um Marie die Welt nun ganz finster war. +Karl ging neben ihr. Die Mutter fragte ihn harmlos +nach allerlei: wie’s zu Hause ginge, wie er sich auf der +Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig +von allerlei Dingen, die er gesehen, insbesondere von +den Theatern und Singspielhallen, die er besucht hatte, +und wunderte sich nur immer, wie sicher Marie ihren +Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig +und heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, +einem alten, rauchigen Lokal, das um diese +Zeit schon ganz leer war; und der dicke Freund der +ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, +im Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah +an Karl gerückt, geradeso wie manchmal in früherer +Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte. Und +plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte +<a class="page" name="Page_152" id="Page_152" title="152"></a>und streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. +Nun hätte er so gern etwas zu ihr gesagt ... irgend +was Liebes, Tröstendes – aber er konnte nicht ... +Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, +als sähe ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht +ein Menschenblick, sondern etwas Unheimliches, +Fremdes, das er früher nicht gekannt – und es +erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben +ihm säße ... Ihre Hand bebte und entfernte sich +sachte von der seinen, und sie sagte leise: »Warum +hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte +wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den +anderen. Nach einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: +»Wo ist denn die Marie?« Es war die Frau Ladenbauer. +Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden +war. »Wo ist denn die Marie?« riefen andere. Einige +standen auf, der alte Ladenbauer stand an der Tür +des Kaffeehauses und rief auf die Straße hinaus: +»Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. +Einer sagte: »Aber wie kann man denn so +ein Geschöpf überhaupt allein aufstehen und fortgehen +lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof +des Hauses herein: »Bringt’s Kerzen!... Bringt’s +Laternen!« Und eine schrie: »Jesus Maria!« Das +war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer. +<a class="page" name="Page_153" id="Page_153" title="153"></a>Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den +Hof. Die Dämmerung kam schon über die Dächer +geschlichen. Um den Hof des einstöckigen alten Hauses +lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte ein +Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender +Kerze in der Hand, und schaute herunter. Zwei +Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm, ein +anderer Mann rannte über die knarrende Stiege +herunter. Das war es, was Karl zuerst sah. Dann +sah er irgend etwas vor seinen Augen schimmern, +jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe +und ließ ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: +»Es hilft ja nichts mehr ... sie rührt sich nimmer ... +Holt’s doch einen Doktor!... Was ist denn mit der +Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...« +Alle flüsterten durcheinander, einige +eilten auf die Straße hinaus, der einen Gestalt folgte +Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange +Frau Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide +Hände verzweifelt an die Stirn, lief davon und kam +nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute. Er +mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um +nicht über die Frau Ladenbauer zu stürzen, die auf +der Erde kniete, Mariens beide Hände in ihrer Hand +hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So +<a class="page" name="Page_154" id="Page_154" title="154"></a>red doch!... so red doch!...« Jetzt kam endlich +einer mit einer Laterne, der Hausbesorger, in einem +braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er leuchtete +der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber +so ein Malheur! Und grad da am Brunnen muß +sie mit’m Kopf aufg’fallen sein.« Und nun sah +Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung +des Brunnens ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich +der Mann in Hemdärmeln auf dem Gange: »Ich +hab was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« +Und alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte +nur immer: »Es sind noch keine fünf Minuten, +da hab ich’s poltern gehört ...« – »Wie hat sie +denn nur heraufg’funden?« flüsterte jemand hinter +Karl. »Aber bitt’ Sie,« erwiderte ein anderer, »das +Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich durch die +Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die +Holzstiegen, und dann über die Brüstung hinunter – +is ja net so schwer!« So flüsterte es rings um Karl, +aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl +es sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und +er wandte sich auch nicht um. Irgendwo in der +Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut +wie in einem Traum. Der Hausmeister stellte die +Laterne auf die Umfassung des Brunnens; die Mutter +<a class="page" name="Page_155" id="Page_155" title="155"></a>schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?« Der +alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die +Höhe, so daß das Licht der Laterne ihr gerade ins +Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie die Nasenflügel +sich regten, die Lippen zuckten und wie die +offenen toten Augen ihn geradeso anschauten, wie +früher. Er sah jetzt auch, daß es an der Stelle, von +der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, +rot und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber +es hörte ihn niemand, und er hörte sich selber nicht. +Der Mann oben im Gang stand noch immer da, +lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben +ihm, als wohnten sie einer Vorstellung bei. Die Kerze +war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer lag über +dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie +auf das zusammengefaltete weiße Spitzentuch gebettet; +Karl blieb regungslos stehen und starrte hinab. Es +war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, daß alles +in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß +sich nichts bewegte als die Blutstropfen, die von der +Stirne, aus den Haaren über die Wangen, über den +Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster hinabrannen; +und er wußte nun, daß Marie tot war ...</p> + +<p>Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum +zu verscheuchen. Er saß allein auf der Bank am Weg<a class="page" name="Page_156" id="Page_156" title="156"></a>rande, +und er sah, wie der Kapellmeister Rebay und +der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, +die sie alle miteinander heraufgegangen waren. Die +beiden schienen heftig miteinander zu reden, mit +fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden, der +Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie +am Horizont ab; immer rascher gingen sie, von einer +leichten Staubwolke begleitet, aber ihre Worte +verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft, +und tief unten in der Glut des Mittags schwamm +und zitterte die Stadt.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_157" id="Page_157" title="157"></a></p> +<h2 class="novelle"><a name="Die_griechische_Taenzerin" id="Die_griechische_Taenzerin"></a>Die griechische Tänzerin</h2> + + +<p class="newsection">Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube +nicht daran, daß Frau Mathilde Samodeski +an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich +gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute +zur ersehnten Ruhe hinausträgt; ich habe keine Lust, den +Mann zu sehen, der es ebensogut weiß als ich, warum sie +gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu schweigen.</p> + +<p>Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings +etwas weit, aber der Herbsttag ist schön und +still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald werde +ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich +im vergangenen Frühjahr Mathilde zum letztenmal +gesehen habe. Die Fensterladen der Villa werden +alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche +Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich +wohl den weißen Marmor durch die Bäume schimmern +sehen, aus dem die griechische Tänzerin gemeißelt ist.</p> + +<p>An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es +kommt mir fast wie eine Fügung vor, daß ich mich +damals noch im letzten Augenblick entschlossen hatte, +die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da +ich doch im Laufe der Jahre die Freude an allem ge<a class="page" name="Page_158" id="Page_158" title="158"></a>selligen +Treiben so ganz verloren habe. Vielleicht +war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln +in die Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. +Überdies sollte es ja ein Gartenfest sein, mit +dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen wollten, +und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu +fürchten. Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren +kaum an die Möglichkeit dachte, Frau Mathilde +draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch +bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische +Tänzerin von Samodeski für seine Villa gekauft hatte; +– und daß Frau von Wartenheimer in den Bildhauer +verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wußt’ ich +nicht minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich +wohl an Mathilde denken können, denn zur Zeit, da +sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne Stunde +mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer +am Genfer See vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor +ihrer Verlobung, den ich nicht so leicht vergessen werde. +Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz meiner +grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn +als sie im Jahre darauf Samodeskis Gattin wurde, +empfand ich einige Enttäuschung und war vollkommen +überzeugt – oder hoffte sogar –, daß sie mit ihm +nicht glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das +<a class="page" name="Page_159" id="Page_159" title="159"></a>Gregor Samodeski kurz nach der Rückkehr von der +Hochzeitsreise in seinem Atelier in der Gußhausgasse +gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen +oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe +ich Mathilde wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte +sie mich; ihr ganzes Wesen machte den Eindruck +der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während +sie im Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal +ein seltsamer Blick aus ihren Augen, und nach einiger +Bemühung habe ich deutlich verstanden, was er +zu bedeuten hatte. Er sagte: ›Lieber Freund, Sie +glauben, daß er mich um des Geldes willen geheiratet +hat; Sie glauben, daß er mich nicht liebt; Sie glauben, +daß ich nicht glücklich bin – aber Sie irren sich ... +Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie +gut gelaunt ich bin, wie meine Augen leuchten.‹</p> + +<p>Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, +aber immer nur ganz flüchtig. Einmal auf einer Reise +kreuzten sich unsere Züge; ich speiste mit ihr und +ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er +erzählte allerhand Witze, die mich nicht sonderlich +amüsierten. Auch im Theater sprach ich sie einmal, +sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich noch +immer schöner ist als sie ... der Teufel weiß, wo Herr +Samodeski damals gewesen ist. Und im letzten Winter +<a class="page" name="Page_160" id="Page_160" title="160"></a>hab ich sie im Prater gesehen; an einem klaren, +kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl unter +den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen +fuhr langsam nach. Ich befand mich auf der anderen +Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal hinüber. +Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen +Dingen beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde +schließlich nicht mehr besonders. So würde ich mir +heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken über sie +und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht +jenes letzte Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden +hätte. Dieses Abends erinnere ich mich +heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen +Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See. +Es war schon ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. +Die Gäste gingen in den Alleen spazieren, ich begrüßte +den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher +tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, +die in einem Boskett versteckt war. Bald kam ich +zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von hohen +Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen +Postament, so daß sie über dem Wasser zu schweben +schien, leuchtete die griechische Tänzerin; durch +elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens +etwas theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des +<a class="page" name="Page_161" id="Page_161" title="161"></a>Aufsehens, das sie im Jahre vorher in der Sezession +erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf mich machte +sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend +zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare +Empfindung habe, daß eigentlich nicht er es ist, der die +schönen Sachen macht, die ihm zuweilen gelingen, +sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas Unbegreifliches, +Glühendes, Dämonisches meinethalben, +das ganz bestimmt erlöschen wird, wenn er einmal aufhören +wird, jung und geliebt zu sein. Ich glaube, es gibt +mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand erfüllt +mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung.</p> + +<p>In der Nähe des Teiches begegnete ich Mathilden. +Sie schritt am Arm eines jungen Mannes, der aussah +wie ein Korpsstudent und sich mir als Verwandter +des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr +vergnügt plaudernd im Garten hin und her, in dem +jetzt überall Lichter aufgeflackert waren. Die Frau +des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen. Wir +blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen +Verwunderung sagte ich dem Bildhauer einige höchst +anerkennende Worte über die griechische Tänzerin. +Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar +lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie +das an solchen Frühlingsabenden manchmal vor<a class="page" name="Page_162" id="Page_162" title="162"></a>kommt: +Leute, die einander sonst gleichgültig sind, +begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine gewisse +Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen +angeregt. Als ich beispielsweise eine +Weile später auf einer Bank saß und eine Zigarette +rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur +oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu +preisen begann, die von ihrem Reichtum einen so +vornehmen Gebrauch machen wie unser Gastgeber. +Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich +Herrn von Wartenheimer sonst für einen ganz einfältigen +Snob halte. Dann teilte ich wieder dem Herrn +ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne +Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, +Ansichten, die für ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse +gewesen wären; aber unter dem Einflusse dieses verführerischen +Frühlingsabends stimmte er mir begeistert +zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die +das Fest äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil +die Lichter zwischen den Blättern hervorglänzten und +Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen wir gerade +neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung +nicht unsinnig. So sehr stand auch ich unter +dem Banne der allgemeinen Stimmung.</p> + +<p>Das Abendessen wurde an kleinen Tischen ein<a class="page" name="Page_163" id="Page_163" title="163"></a>genommen, +die, soweit es der Platz erlaubte, auf der +großen Terrasse, zum andern Teil im anstoßenden +Salon aufgestellt waren. Die drei großen Glastüren +standen weit offen. Ich saß an einem Tisch im Freien +mit einer der Nichten; an meiner anderen Seite hatte +Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah +wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter +und Reserveoffizier war. Gegenüber von uns, aber +schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau des +Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die +ich nicht kannte. Er warf seiner Gattin eine scherzhaft +verwegene Kußhand zu; sie nickte ihm zu und lächelte. +Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich +genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen +Augen und dem langen schwarzen Spitzbarte, den er +manchmal mit zwei Fingern der linken Hand am Kinn +zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in +meinem Leben einen Mann so sehr von Worten, +Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht gesehen +habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, +als ließe er sich das eben nur gefallen. Aber bald sah +ich an seiner Art, den Frauen leise zuzuflüstern, an +seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders an +der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die +scheinbar harmlose Unterhaltung von irgendeinem +<a class="page" name="Page_164" id="Page_164" title="164"></a>geheimen Feuer genährt wurde. Natürlich mußte +Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich; +aber sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit +ihrem Nachbarn, bald mit mir. Allmählich wandte sie +sich zu mir allein, erkundigte sich nach verschiedenen +äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von +meiner vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann +sprach sie von ihrer Kleinen, die merkwürdigerweise +schon heute Lieder von Schumann nach dem Gehör +singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch +auf ihre alten Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, +von alten Kirchenstoffen, die sie selbst im vorigen Jahr +in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert +anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses +Gespräches ging etwas ganz anderes zwischen uns +vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie versuchte mich +durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes +zu überzeugen – und ich wehrte mich dagegen, ihr zu +glauben. Ich mußte wieder an jenen japanisch-chinesischen +Abend in Samodeskis Atelier denken, wo +sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte +sie wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete +und daß sie irgend etwas ganz Besonderes +ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam +sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und +<a class="page" name="Page_165" id="Page_165" title="165"></a>verliebte Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem +Gatten gegenüber aufmerksam zu machen und begann +von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn +sie sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit +und an seinem Genie ohne jede Unruhe und jedes +Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte. Aber +je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu +scheinen, um so tiefere Schatten flogen über ihre +Stirne hin. Als sie einmal das Glas erhob, um +Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte +sie verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht +nur ihre Hand, sondern der Arm, ihre ganze Gestalt +für einige Sekunden in eine solche Starrheit, daß mir +beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich +rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran +war, ihr Spiel endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, +wie mit einem letzten verzweifelten Versuch: »Ich +wette, Sie halten mich für eifersüchtig.« Und ehe ich +Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: +»Oh, das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor +selbst geglaubt.« Sie sprach absichtlich ganz laut, man +hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun ja,« +sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen +solchen Mann hat: schön und berühmt ... und selber +den Ruf, nicht sonderlich hübsch zu sein ... Oh, Sie +<a class="page" name="Page_166" id="Page_166" title="166"></a>brauchen mir nichts zu erwidern ... ich weiß ja, daß +ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden +bin.« Sie hatte möglicherweise recht, aber für ihren +Gemahl – davon war ich völlig überzeugt – hatte +der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und +was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften +Schlankheit für ihn wahrscheinlich ihren einzigen +Reiz verloren. Doch ich stimmte ihr natürlich mit übertriebenen +Worten bei; sie schien erfreut und fuhr mit +wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das +geringste Talent zur Eifersucht. Das habe ich selbst +nicht gleich gewußt; ich bin erst allmählich darauf +gekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren +in Paris ... Sie wissen ja, daß wir dort waren?«</p> + +<p>Ich erinnerte mich.</p> + +<p>»Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire +und des Ministers Chocquet gemacht und mancherlei +anderes. Wir haben dort so angenehm gelebt wie +junge Leute ... das heißt, jung sind wir ja noch +beide ... ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir +auch gelegentlich in die große Welt gingen ... Wir +waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter, +die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen +aber machten wir uns nicht viel aus dem eleganten +Leben. Wir wohnten sogar draußen auf Montmartre, +<a class="page" name="Page_167" id="Page_167" title="167"></a>in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor +auch sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den +jungen Künstlern, mit denen wir dort verkehrten, +hatten manche keine Ahnung, daß wir verheiratet +waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. Oft +bin ich in der Nacht mit ihm im Café Athenés gesessen, +mit Léandre, Carabin und vielen anderen. +Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer Gesellschaft, +mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht +verkehren möchte ... obzwar schließlich – –« Sie +warf einen hastigen Blick hinüber auf Frau Wartenheimer +und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war +sehr hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte +von Henri Chabran dort, die seit seinem Tode immer +ganz in Schwarz ging und jede Woche einen anderen +Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle +Trauer tragen mußten, das verlangte sie ... Sonderbare +Leute lernt man kennen. Sie können sich denken, +daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger +nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. +Aber da ich doch immer mit ihm war – oder meistens, +so wagten sie sich nicht recht an ihn heran, um so +weniger, als ich für seine Geliebte galt ... Ja, wenn +sie gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war –! +Und da bin ich einmal auf einen sonderbaren Einfall +<a class="page" name="Page_168" id="Page_168" title="168"></a>gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut hätten +– und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute +selbst über meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und +sprach leiser als früher: »Es ist übrigens auch möglich, +daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand – +nun, Sie können sich’s ja denken. Seit ein paar +Wochen wußte ich, daß ich ein Kind zu erwarten hatte. +Das machte mich unerhört glücklich. Im Anfang war +ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch +viel beweglicher als jemals früher ... Also denken Sie, +eines schönen Abends habe ich mir Männerkleider +angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer aus. +Natürlich hab ich ihm vor allem das Versprechen +abgenommen, daß er sich keinerlei Zwang antun +dürfte ... nun ja, sonst hätte die ganze Geschichte +keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen +– Sie hätten mich nicht erkannt ... niemand +hätte mich erkannt. Ein Freund von Gregor, ein +gewisser Léonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger +Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön +... Mai ... ganz warm ... und ich war frech, +davon machen Sie sich keinen Begriff. Denken Sie +sich, ich hab meinen Überzieher – einen sehr eleganten +gelben Überzieher – einfach abgelegt und ihn auf +dem Arm getragen ... so wie das eben Herren zu +<a class="page" name="Page_169" id="Page_169" title="169"></a>tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich +dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem +äußeren Boulevard haben wir diniert, dann sind wir +in die Roulotte gegangen, wo damals Legay sang und +Montoya ... <em class="antiqua">»Tu t’en iras les pieds devant«</em> ... +Sie haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater +– nicht wahr?« Jetzt warf Mathilde einen +raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht darauf +achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit +von ihm Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, +immer heftiger, stürzte sozusagen vorwärts. »In +der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr elegante Dame, +die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor, +aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man +kann sich nichts Unanständigeres vorstellen. Ich werde +nie begreifen, daß ihr Gatte sie nicht auf der Stelle +erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war +eine Herzogin ... Nun, Sie müssen nicht lachen, es +war gewiß eine Dame der großen Welt, trotz ihres +Benehmens ... das kann man schon beurteilen ... +Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache +einginge ... natürlich! – ich hätte gern gesehen, wie +man so etwas anfängt ... ich wünschte, daß er ihr +einen Brief zusteckte – oder sonst was täte – was er +eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich +<a class="page" name="Page_170" id="Page_170" title="170"></a>seine Frau wurde ... Ja, das wollte ich, trotzdem es +nicht ohne Gefahr für ihn gewesen wäre. Offenbar +steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ... +Aber Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir +gingen sogar recht bald fort, wieder hinaus in die +schöne Mainacht, Léonce blieb immer mit uns. Der +hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt +und wurde gegen seine Gewohnheit geradezu galant. +Es war sonst ein sehr verschüchterter Mensch – wegen +seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: »Man muß +wohl einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem +den Hof machen.« Wir sind so vergnügt weiterspaziert +wie drei Studenten. Und jetzt kam das Interessante: +wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte +zum Programm. Es war auch notwendig, daß endlich +irgend etwas geschah. Bisher hatten wir ja noch gar +nichts erlebt ... nur mich – denken Sie: mich selbst – +hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. +Aber das war ja nicht die Absicht gewesen ... Um +ein Uhr waren wir im Moulin Rouge. Wie es da +zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte +ich mir’s ärger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs +dort nicht das Geringste, und es sah ganz danach aus, +als sollte der ganze Scherz zu nichts führen. Ich war +ein bißchen ärgerlich. »Du bist ein Kind,« sagte Gregor. +<a class="page" name="Page_171" id="Page_171" title="171"></a>»Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und +sie fallen uns zu Füßen –?« Er sagte »uns« aus +Höflichkeit für Léonce; es war keine Rede davon, daß +man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir +nun schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause +zu gehen, nahm die Sache eine Wendung. Mir fiel +nämlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ... die +schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen +war ... Sie war ganz ernst und sah ziemlich +anders aus als die meisten anwesenden Damen. +Sie war gar nicht auffallend gekleidet – in Weiß, +vollkommen in Weiß ... Ich hatte bemerkt, wie sie +zwei oder drei Herren, die sie ansprachen, überhaupt +gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne sie +eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze +zu, sehr ruhig, interessiert, sachlich möchte ich sagen ... +Léonce fragte – ich hatte ihn darum gebeten – ein +paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon +irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß +er sie im vorigen Winter auf einem der Donnerstagsbälle +im Quartier Latin gesehen hatte. Léonce sprach +sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm +gab sie Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir +setzten uns alle an einen kleinen Tisch und tranken +Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um sie +<a class="page" name="Page_172" id="Page_172" title="172"></a>– als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre ... +Er plauderte mit mir, immer nur mit mir ... Das +schien sie nun besonders zu reizen. Sie wurde immer +heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so +kommt, allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte +erzählt. Was so ein armes Ding alles erleben kann – +oder erleben muß, möglicherweise! Man liest ja so +oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz +Wirkliches hört, von einer, die daneben sitzt, da ist +es doch ganz sonderbar. Ich erinnere mich noch an +mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat sie +irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie +Modell. Auch Statistin an einem kleinen Theater +ist sie gewesen. – Was sie uns vom Direktor für Dinge +erzählte!... Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn +ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert +gewesen wäre ... Dann hatte sie sich in +einen Studenten der Medizin verliebt, der in der +Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der +Leichenkammer ab ... oder blieb vielmehr mit ihm +dort ... nein, es ist nicht möglich, zu wiederholen, was +sie uns erzählt hat! – Der Mediziner verließ sie natürlich +auch. Und das wollte sie nicht überleben – +gerade das! Und sie brachte sich um, das heißt, sie +versuchte es. Sie machte sich selbst darüber lustig ... +<a class="page" name="Page_173" id="Page_173" title="173"></a>in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme ... es +klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete +ihr Kleid ein wenig und zeigte über der linken Brust +eine kleine rötliche Narbe. Und wie wir alle diese kleine +Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie – nein, +schreit sie plötzlich meinen Mann an: »Küssen!« Ich +sagte Ihnen schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um +sie. Auch während sie ihre Geschichten erzählte, hörte +er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte Zigaretten, +und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich +hab ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich +etwas beduselt ... jedenfalls war es die sonderbarste +Stimmung meines Lebens. Und ob er nun wollte +oder nicht, er mußte die Narbe ... das heißt, er mußte +so tun, als berührte er die Stelle mit den Lippen. +Ja, und dann wurde es immer lustiger und toller. +Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend – +und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es +für möglich gehalten, daß sich ein weibliches Wesen +– und noch dazu solch eines – im Verlauf einer +Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben +könnte, wie dieses Geschöpf in Gregor. Sie hieß +Madeleine.«</p> + +<p>Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen +absichtlich lauter aussprach – jedenfalls schien es mir, +<a class="page" name="Page_174" id="Page_174" title="174"></a>als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns herüber; +seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber +unsere Blicke begegneten sich und blieben eine ganze +Weile ineinander ruhen, nicht eben mit besonderer +Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin +zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen +weiter, und sie wandte sich wieder zu mir.</p> + +<p>»Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles +erinnern, was Madeleine später gesprochen hat,« sagte +sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich will aufrichtig +sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen +verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand +meines Mannes nahm und küßte. Aber gleich war es +wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem Augenblick +mußte ich an unser Kind denken. Und da hab ich +gefühlt, wie unauflöslich ich und Gregor miteinander +verbunden waren, und wie alles andere nichts sein +konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, +wie heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir +sind dann noch alle bis zum Morgengrauen auf dem +Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da hörte +ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie +nach Hause begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, +um den Spaß zu einem guten und in gewissem Sinne +vorteilhaften Ende zu führen – Sie wissen ja, was +<a class="page" name="Page_175" id="Page_175" title="175"></a>die Künstler alle für Egoisten sind ... insofern es sich +nämlich um ihre Kunst handelt ... – kurz, er sagte +ihr, daß er Bildhauer sei, und forderte sie auf, nächstens +zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren. Sie +antwortete: »Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich +mich hängen! Aber ich komm’ doch.«</p> + +<p>Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen +eines weiblichen Wesens so viel Leid ausdrücken – +oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich gefaßt +zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte, +fuhr sie fort: »Gregor wollte durchaus, ich sollte am +nächsten Tag im Atelier sein. Ja, er machte mir sogar +den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu +bleiben, wenn sie käme. Nun, es gibt Frauen, viele +Frauen, ich weiß es, die darauf eingegangen wären. +Ich aber finde: entweder man glaubt oder man glaubt +nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben. +Hab ich nicht recht?« Und sie sah mich mit großen, +fragenden Augen an. Ich nickte nur, und sie sprach +weiter: »Madeleine kam natürlich am Tag darauf und +dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher +gekommen ist ... und daß sie eine der schönsten +war, können Sie mir glauben. Sie selbst sind erst +heute vor ihr in Bewunderung gestanden, draußen +am Teich.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_176" id="Page_176" title="176"></a>»Die Tänzerin?«</p> + +<p>»Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und +nun denken Sie, daß ich in einem solchen oder in +einem anderen Falle mißtrauisch gewesen wäre! +Würde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual +gemacht haben? Ich bin sehr froh, daß ich keine Anlage +zur Eifersucht habe.«</p> + +<p>Irgend jemand stand in der offenen Mitteltür und +hatte begonnen, einen wahrscheinlich sehr witzigen +Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn die Leute +lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete +Mathilde, die ebensowenig zuhörte wie ich. Und ich +sah, wie sie zu ihrem Gatten hinüberschaute und ihm +einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche +Liebe verriet, sondern auch ein unerschütterliches +Vertrauen heuchelte, als wäre es wahrhaftig ihre +höchste Pflicht, ihn im Genuß des Daseins auf keine +Weise zu stören. Und er empfing auch diesen Blick +– lächelnd, unbeirrt, obwohl er natürlich ebensogut +wußte als ich, daß sie litt und ihr Leben lang gelitten +hat wie ein Tier.</p> + +<p>Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem +Herzschlag. Ich habe an jenem Abend Mathilde zu +gut kennen gelernt, und für mich steht es fest: so +wie sie vor ihrem Gatten die glückliche Frau gespielt +<a class="page" name="Page_177" id="Page_177" title="177"></a>hat vom ersten Augenblick bis zum letzten, während +er sie belogen und zum Wahnsinn getrieben hat, so +hat sie ihm auch schließlich einen natürlichen Tod +vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht +mehr ertragen konnte. Und er hatte auch dieses letzte +Opfer hingenommen, als käme es ihm zu.</p> + +<p>Da stehe ich vor dem Gitter ... Die Läden sind +fest geschlossen. Weiß und wie verzaubert liegt die +kleine Villa im Dämmerschein, und dort schimmert +der Marmor zwischen den roten Zweigen ...</p> + +<p>Vielleicht bin ich übrigens ungerecht gegen Samodeski. +Am Ende ist er so dumm, daß er die Wahrheit +wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu denken, +daß es für Mathilde im Tode keine größere Wonne +gäbe, als zu wissen, daß ihr letzter himmlischer Betrug +gelungen ist.</p> + +<p>Oder irre ich mich gar? Und es war ein natürlicher +Tod?... Nein, ich lasse mir nicht das Recht nehmen, +den Mann zu hassen, den Mathilde so sehr geliebt hat. +Das wird ja wahrscheinlich für lange Zeit mein einziges +Vergnügen sein ...</p> + +<p class="end"><em class="gesperrt"><strong>Ende</strong></em></p> + + +<p><a class="page" name="Page_178" id="Page_178" title="178"></a></p> +<p class="printer"><em class="gesperrt">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</em></p> + +<p><a class="page" name="Page_179" id="Page_179" title="179"></a></p> +<div class="advertisements"> +<p class="center">Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind +den »Gesammelten Werken« entnommen.</p> + + + +<h1>Gesammelte Werke<br /> +von Arthur Schnitzler</h1> + +<h3>I. Die erzählenden Schriften in drei Bänden</h3> + +<h4>In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M</h4> + +<p><em class="gesperrt">Inhalt:</em> Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des +Weisen. Der Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers +letzter Brief. Der blinde Geronimo und sein Bruder. +Leutnant Gustl. Die griechische Tänzerin. Frau Berta Garlan. +Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg. Die Fremde. Die +Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der +tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der Mörder. +Die dreifache Warnung. Die Hirtenflöte. Der Weg ins Freie.</p> + +<h3>II. Die Theaterstücke in vier Bänden</h3> + +<h4>In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M</h4> + +<p><em class="gesperrt">Inhalt:</em> Anatol. Das Märchen. Liebelei. Freiwild. Das +Vermächtnis. Paracelsus. Die Gefährtin. Der grüne Kakadu. +Der Schleier der Beatrice. Lebendige Stunden. Die Frau mit +dem Dolche. Die letzten Masken. Literatur. Der einsame Weg. +Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der tapfere Cassian. Zum +großen Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi oder +Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land.</p> + +<p><a class="page" name="Page_180" id="Page_180" title="180"></a></p> +<h1><em class="gesperrt">Werke von Arthur Schnitzler</em></h1> + +<h3>Sterben</h3> + +<h4>Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark</h4> + +<p>Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erzählung zu gemeinsamer +Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die größte +Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist +und sich nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschränkt. Die +deutsche Literatur könnte sich glücklich preisen, wenn sie viele solche +Bücher hätte wie diese einfache Erzählung.</p><p class="right">(Deutsche Revue)</p> + +<h3>Die Frau des Weisen</h3> + +<h4>Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark</h4> + +<p>Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine +liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen, +mit dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der +Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte. +Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin +gerne spielen, müssen Schnitzler gerne lesen.</p><p class="right">(Neues Wiener Tagblatt)</p> + +<h3>Leutnant Gustl</h3> + +<h4>Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark</h4> + +<p>Eine bittere Satire vom militärischen Standpunkt aus, aber als Erzählung +von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig, +und wie virtuos dabei in der Ausführung! Selten ist das Innere eines +in engen Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungefähr +in fieberhafte Aufregung gerät, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt +worden als in dieser auch stofflich höchst spannenden, aus einem +einzigen Monolog bestehenden Novelle.</p><p class="right">(Dresdner Anzeiger)</p> + +<h3>Dämmerseelen</h3> + +<h4>Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark</h4> + +<p>Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene außerordentliche +Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der zahlreichen europäischen +Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden erkannt wird. +<a class="page" name="Page_181" id="Page_181" title="181"></a>Von jener weltmännischen Gewandtheit, die nur irrtümlich als oberflächlich +gilt, weil sie schamhaft genug ist, heiße Tränen hinter dem +heimlichen Wappenschilde des Lächelns zu verbergen, läßt er durch +die Maske des spielerisch tändelnden Dandys das wahre Antlitz +des sinnenden ernsten Dichters lugen.</p><p class="right">(Breslauer Morgenzeitung)</p> + +<h3>Der Weg ins Freie</h3> + +<h4>Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark</h4> + +<p>Je länger dieses Buch in mir nachklingt, desto stärker wird der +menschliche Eindruck, den es hinterläßt. Hier ist diese wundervolle +Vereinigung, daß man überall spürt, wie stark in dem Dichter +Schnitzler der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der +Mensch den Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, künstlerisches, +und beinahe möchte man sagen privates Fühlen so vollkommene +Einheit, daß man über das Buch hinaus den Eindruck der +reinen Individualität empfängt, die es geschrieben hat. +</p><p class="right">(Die Zeit, Wien)</p> + +<h3>Masken und Wunder</h3> + +<h4>Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark</h4> + +<p>Ein geheimnisreicher Name für ein rätselvolles, ernstes und tiefes +Buch! Von den Seelen merkwürdiger Menschen, zumal von Frauen, +ist darin gehandelt – skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch +mit der seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem +Wesen erfaßt und in den feinsten Gründen ihrer Existenz darlegt. +</p><p class="right">(Generalanzeiger, Mannheim)</p> + +<h3>Frau Beate und ihr Sohn</h3> + +<h4>Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50</h4> + +<p>Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genußtriebs, +die uns Schnitzler so oft mit überlegener Ironie geschildert hat, +arbeitet er in dieser Meisternovelle eine erschütternde Tragik heraus. +Schnitzler hat in dieser novellistischen Tragödie der entweihten +Mutterschaft sein Stärkstes geboten.</p><p class="right">(Vossische Zeitung, Berlin)</p> + +<p><a class="page" name="Page_182" id="Page_182" title="182"></a></p> +<h1>Gustaf af Geijerstam</h1> + +<h3>Gesammelte Romane in fünf Bänden</h3> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt +des Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark</p> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis +des Waldes / Kristins Myrte / Sammel / +Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis.</p> + +<p>2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe.</p> + +<p>3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht.</p> + +<p>4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte.</p> + +<p>5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrenhofallee.</p> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten +unter uns. Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung +seiner Werke – rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr +billigem Preise, die denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe +– ist Beweis dafür. Den Geijerstam, den man braucht, +hat man in dieser Auswahl ganz. Sie findet ihre literarische Rechtfertigung +zudem in einer Einleitung von Friedrich Düsel, und diese +Einführung gibt eine seelisch eindringliche, man könnte beinahe sagen +erschöpfende Analyse von Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... +In Geijerstam kündigt sich eine neue Weltanschauung an, noch viel +zu unentwickelt, um in den Rahmen von zehn Geboten gefaßt zu werden, +doch aber recht eigentlich die Weltanschauung des Menschen, der nicht +die Kraft, dafür aber die Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. +– Eine neue Frucht der Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht +dieser Erzählungen! Aus dem Stamm des sozialen Mitleidens +ist sie erwachsen. Menschen mit verfeinerten Empfindungsorganen +werden danach greifen und werden – wie das immer war – beides +daraus schmecken: Tod und Leben.</p><p class="right">(Frankfurter Zeitung)</p> + +<p><a class="page" name="Page_183" id="Page_183" title="183"></a></p> +<h1>Otto Erich Hartleben</h1> + +<h3>Ausgewählte Werke in drei Bänden</h3> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitmüller. Mit +dem Bilde des Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappbänden +gebunden 10 Mark, in drei Ganzpergamentbänden 15 Mark.</p> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>1. Bd.: <em class="gesperrt">Gedichte:</em> Einleitung / Die Gedichte vollständig.</p> + +<p>2. Bd.: <em class="gesperrt">Prosa:</em> Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen +Knopfe / Wie der Kleine zum Teufel wurde / +Vom gastfreien Pastor / Der Einhornapotheker / Der +römische Maler / Der bunte Vogel.</p> + +<p>3. Bd.: <em class="gesperrt">Dramen:</em> Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung +zur Ehe / Die sittliche Forderung / Rosenmontag.</p> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>Ein schönes Werk der Pietät. In wundervoller Ausstattung ist hier +ein Überblick über des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten +Band ziert ein schönes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband – +alles ist zu jener vornehmen Harmonie abgetönt, die des Dichters eigene +Person ausströmte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude +hatte, ihm im Leben zu begegnen. Diese drei Bände stellen eine Zierde +für jede Bibliothek dar.</p><p class="right">(Universum, Leipzig)</p> + +<p>Dieses Werk faßt als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckstück, +nämlich das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in +seiner Einleitung Bruchstücke aus den Tagebuchaufzeichnungen +wiedergibt, mit denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres +Ältesten geleitete. Diese Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem +Sinne Biographisches. Denn sie kennzeichnen ihre Verfasserin, diese +stille Frau, die nicht Frau Ajas Humor, aber Frau Ajas Geduld und +ihre Liebe hat.</p><p class="right">(Hamburger Fremdenblatt)</p> + +<p><a class="page" name="Page_184" id="Page_184" title="184"></a></p> +<h1>Peter Nansen</h1> + +<h3>Werke in drei Bänden</h3> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenbände in elegantem +Futteral 12 Mark. Jeder Band einzeln geheftet +3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4 Mark 50 Pf.</p> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>1. Band: <em class="gesperrt">Jugend und Liebe.</em> Eine glückliche Ehe / Aus +dem ersten Universitätsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete +Fenster / Des Bürgermeisters Winterüberzieher / +Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines Verliebten / Ein +Weihnachtsmärchen / Der Weihnachtsbaum / Fräulein Mimi / +Eine Ballunterhaltung.</p> + +<p>2. Band: <em class="gesperrt">Theater.</em> Judiths Ehe / Eine glückliche Ehe / +Kameraden / Ein Hochzeitsabend / Die gestörte Verbindung.</p> + +<p>3. Band: <em class="gesperrt">Die Romane des Herzens.</em> Julies Tagebuch / +Maria / Gottesfriede.</p> + +<hr style='width: 20%;' /> + +<p>Nansens freie Selbständigkeit und seine künstlerische Unbefangenheit, +die manchen als Rücksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine +hohe Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach über +der Tendenz die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern, +wie sie ist. Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur +zu Ehren bringen, indem er in erster Linie die »Weibheit« +der Frau – wie Laura Marholm sagen würde – berücksichtigt; +aber diese Absicht ist nicht die Hauptsache. Seine Bücher haben dagegen +einen eigenen poetischen Wert.</p> +<p class="right">(Norddeutsche Allgemeine Zeitung)</p> + +<p>Peter Nansen stammt aus der elegischen, graziösen Hauptstadt des +Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien, +geistig mit Paris verwandt ist. Er gehört zu denen, die das Klima +der nordischen Literatur wärmer, sinnlicher, verführerischer gemacht +haben, so daß wir die Franzosen bald ganz entbehren können.</p> +<p class="right">(Das Literarische Echo)</p> +</div> + + + +<div class="note"> +<p>[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1914 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer +Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält +eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen +Korrekturen.</p> + +<p> +p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (entfernt)<br /> +p 024: Anführungszeichen ergänzt: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«<br /> +p 026: Anführungszeichen ergänzt: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«<br /> +p 102: Anführungszeichen ergänzt: »Wie?– -> »Wie?«–<br /> +p 128: Anführungszeichen ergänzt: »Ich bin nicht schuld daran,<br /> +p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.<br /> +p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]<br /> +</p> +</div> + + + +<div class="note"> +<p>[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from scans of an +original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers +Bibliothek zeitgenössischer Romane". The table below lists all +corrections applied to the original text.</p> + +<p> +p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (deleted)<br /> +p 024: added missing quotes: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«<br /> +p 026: added missing quotes: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«<br /> +p 102: added missing quotes: »Wie?– -> »Wie?«–<br /> +p 128: added missing quotes: »Ich bin nicht schuld daran,<br /> +p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.<br /> +p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]<br /> +</p> +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN *** + +***** This file should be named 17142-h.htm or 17142-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17142/ + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose +such as creation of derivative works, reports, performances and +research. They may be modified and printed and given away--you may do +practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is +subject to the trademark license, especially commercial +redistribution. + + + +*** START: FULL LICENSE *** + +THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE +PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK + +To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free +distribution of electronic works, by using or distributing this work +(or any other work associated in any way with the phrase "Project +Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project +Gutenberg-tm License (available with this file or online at +https://gutenberg.org/license). + + +Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm +electronic works + +1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm +electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to +and accept all the terms of this license and intellectual property +(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all +the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy +all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. +If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project +Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the +terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or +entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. + +1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be +used on or associated in any way with an electronic work by people who +agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few +things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works +even without complying with the full terms of this agreement. See +paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project +Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement +and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic +works. See paragraph 1.E below. + +1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" +or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project +Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the +collection are in the public domain in the United States. If an +individual work is in the public domain in the United States and you are +located in the United States, we do not claim a right to prevent you from +copying, distributing, performing, displaying or creating derivative +works based on the work as long as all references to Project Gutenberg +are removed. 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If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived +from the public domain (does not contain a notice indicating that it is +posted with permission of the copyright holder), the work can be copied +and distributed to anyone in the United States without paying any fees +or charges. If you are redistributing or providing access to a work +with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the +work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 +through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the +Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or +1.E.9. + +1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted +with the permission of the copyright holder, your use and distribution +must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional +terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked +to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the +permission of the copyright holder found at the beginning of this work. + +1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm +License terms from this work, or any files containing a part of this +work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. + +1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this +electronic work, or any part of this electronic work, without +prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with +active links or immediate access to the full terms of the Project +Gutenberg-tm License. + +1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, +compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any +word processing or hypertext form. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at https://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. To +SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any +particular state visit https://pglaf.org + +While we cannot and do not solicit contributions from states where we +have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition +against accepting unsolicited donations from donors in such states who +approach us with offers to donate. + +International donations are gratefully accepted, but we cannot make +any statements concerning tax treatment of donations received from +outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. + +Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation +methods and addresses. Donations are accepted in a number of other +ways including including checks, online payments and credit card +donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + + +</pre> + +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize +this eBook outside of the United States should confirm copyright +status under the laws that apply to them. diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..acf8334 --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for +eBook #17142 (https://www.gutenberg.org/ebooks/17142) |
