summaryrefslogtreecommitdiff
path: root/12113-0.txt
diff options
context:
space:
mode:
Diffstat (limited to '12113-0.txt')
-rw-r--r--12113-0.txt7785
1 files changed, 7785 insertions, 0 deletions
diff --git a/12113-0.txt b/12113-0.txt
new file mode 100644
index 0000000..ce218a6
--- /dev/null
+++ b/12113-0.txt
@@ -0,0 +1,7785 @@
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 12113 ***
+
+Eine vornehme Frau.
+
+von
+
+Hermann Heiberg.
+
+
+1886
+
+
+
+
+Seiner theuren Mutter,
+
+Asta, geb. Gräfin von Baudissin
+
+gewidmet.
+
+
+
+
+Große, kleine Städte!
+
+Wir sind in einer mittleren Stadt von kaum zwanzigtausend Einwohnern,
+immer noch winzig genug, daß alles, was nicht diente, hämmerte oder
+ackerte, eine große Familie bildete, in der man sich kannte und sich
+miteinander befaßte.
+
+Und doch trennte sich die gebildete Gesellschaft in verschiedene
+Klassen: und wie stets und überall hielt die eine sich aus besserem Teig
+gebacken als die andere.
+
+Als der Krieg von 1866 beendet war, empfing die nunmehr preußische Stadt
+eine Garnison; es wurden, neben Infanterie, einige Schwadronen Husaren
+nach C. verlegt. Aber die Offiziersfamilien sonderten sich, zumal da sie
+noch Fremdlinge waren, gänzlich ab, und nur zu den höheren Beamten und
+dem Adel nahmen sie diejenige Fühlung, welche ihnen gleichsam
+vorgeschrieben war. Im übrigen konnte die Bürgerschaft mit der
+stehenden Einquartierung wohl zufrieden sein, denn unter den Husaren
+befanden sich wohlhabende, sogar reiche Leute, welche das Geld nicht in
+die Schublade versteckten.
+
+Die neuen Verhältnisse waren dem Städtchen günstig. Der Geschäftsgeist
+regte sich, und besonders die Bautätigkeit erwachte. Die Bürger
+verdienten Geld und fanden sich rascher in die neuen Dinge, als man
+erwartet hatte.
+
+Und so verging die Zeit mit ihrem Wechsel, und so lebte die
+Einwohnerschaft mit ihrem Spott, ihrer Neugierde und ihrem Gerede über
+ihre Nebenmenschen wie allerorten in dieser unvollkommenen Welt.
+
+Eines Tages ward die Stadt C. durch eine Annonce überrascht, welche sich
+in dem täglich erscheinenden Blättchen, scharf umrändert und groß
+gedruckt, auf der letzten Seite befand: „Gesucht sofort eine große
+Wohnung von zwölf bis fünfzehn Zimmern mit Stallung und Nebengelassen.
+Eventuell wird auf ein ganzes Haus reflektiert. Man beliebe sich--“
+u.s.w.
+
+Die Neugierde, welche sich zunächst an den Stammtischen der Ressourcen
+kundgab, ward nicht sogleich befriedigt. Selbst der Redakteur der
+C.schen Zeitung wußte keine Auskunft zu geben. Endlich lösten sich die
+Zweifel. Einer der Husarenoffiziere war vor einiger Zeit versetzt
+worden, und in dem Wohnungssuchenden entdeckte man den neuen
+Rittmeister.
+
+Zu gleicher Zeit verbreiteten sich allerlei Gerüchte über die
+Ankömmlinge, welche geeignet waren, die Gemüter zu beschäftigen. Von ihm
+wurde behauptet, daß er zwar ein vollendeter Kavalier und ein gerechter
+Vorgesetzter sei, aber von einer so finsteren Schwermut beherrscht
+werde, daß er den Umgang mit Menschen ängstlich meide, während man ihr
+neben großer frappanter Schönheit Verschwendungs- und Vergnügungssucht,
+ja sogar einen leichtfertigen Lebenswandel nachsagte. Erhebliche
+Erbschaften sollten schon durch ihre Finger geglitten sein, und es ward
+als ein Glück bezeichnet, daß sich der übrigens große Reichtum des
+Grafen auf unantastbare Fideikommißkapitalien stütze. Die Frau Gräfin
+gliche, hieß es, einer heißbrennenden Sonne, vor welcher der eisigste
+und umfangreichste Goldhügel zerschmelzen müsse.
+
+In jedem Fall war man sehr gespannt auf die neue Bekanntschaft, und in
+Offizierskreisen ward eifrig überlegt, welche Stellung man zu einer Frau
+einnehmen solle, der ein solcher Ruf voranging.
+
+Sehr angenehm ward von diesem Wechsel ein Bauunternehmer berührt, der
+eine von einem parkähnlichen Garten umschlossene große Villa gleich vor
+der Stadt besaß und nun um einen hohen Preis einem Mieter fand. Der
+Graf ließ sich Zeichnungen und genaue Beschreibungen einsenden und
+bewilligte eine ganz erhebliche Summe zur Verschönerung der inneren,
+ursprünglich für einfachere Ansprüche berechneten Räume.
+
+So wurden beispielsweise sämtliche Gesellschaftszimmer in mattgrüner und
+blauer Seide tapeziert, und das ganze Haus erhielt einen genau im Muster
+übereinstimmenden, hellen Teppich in Flur und sämtlichen Gemächern. Aber
+auch sonst wurden Veränderungen getroffen, welche das Besitztum zu einem
+fast fürstlichen Aufenthalt umwandelten. Die Thüren mußten
+ebenholzdunkel gemalt und mit Arabesken in Gold versehen werden. Die
+Öfen wichen zum Teil Kaminen aus schwarzem oder rotem Marmor, und die
+Außenwände der Villa wurden durch eine zartgraue Ölfarbe verschönt,
+wodurch sich das „Schlößchen“ reizend von den umgebenden grünen Bäumen
+abhob.
+
+Geradezu Bewunderung erregten aber die Pferdeställe. Es erschien zum
+Zweck ihres Ausbaues ein Lieferant aus Berlin, der rasch alles ausmaß
+und in kürzester Zeit das Innere derartigen Veränderungen unterwarf, daß
+die Einwohner von C., und unter ihnen besonders alle Sportfreunde,
+neugierig herbeigeeilt kamen, um diesen Musterstall in Marmor, Mahagoni
+und Gußeisen in Augenschein zu nehmen. Es hieß, die ganze Einrichtung
+sei auf einer der letzten Weltausstellungen prämiiert worden. Und dann
+trafen endlich auch die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände ein.
+
+Der Tapezierer berichtete Wunderdinge von den Gemälden, Bildern,
+ausgelegten Schränken, Bronzen und sonstigen kostbaren Kunstsachen. Die
+Portièren und Gardinen waren meistens aus geblümtem chinesischem
+Seidenstoff gefertigt, und kein Tisch, kein Stuhl befand sich in der
+Sendung, der nicht hätte als ein Musterstück gelten können. Aber--und
+das erfüllte den Handwerksmeister mit gerechtem Erstaunen--fast nichts
+war heil und ganz, mit Ausnahme der ohne Zweifel dem Gebrauch des Grafen
+dienenden Möbel. Eine solche Beschädigung konnte nicht durch den Umzug
+entstanden sein, sie war sicher das Ergebnis einer grenzenlosen
+Unordnung und Vernachlässigung.
+
+Auf geschehene Meldung und Anfrage erfolgte keine Antwort, wohl aber
+erschien nach einigen Tagen der Haushofmeister, ein hagerer, ernst
+dreinblickender Mann, der erklärte, daß die gräfliche Familie ihm auf
+dem Fuße folge und jetzt keine Zeit mehr für Reparaturen vorhanden sei.
+Diese müßten später vorgenommen werden.
+
+An einem Maitage des Jahres 1867 traf die Familie ein. In ihrem Gefolge
+befand sich eine große Dienerschaft und neben zahlreichen edlen Pferden,
+auch ein paar herrliche Hunde, die beim Abladen der schier unzähligen
+Koffer einen gewaltigen Lärm anstimmten und von der graziösen Frau, die
+mit sechs schlanken Kindern dem Wagen entstieg, wie nach langer Trennung
+gehätschelt und geliebkost wurden. Sie vergaß darüber das Haus und den
+Eintritt, bis sie die Augen aufschlug und bei dem Anblick der Villa und
+des Parkes ihrer frohen Überraschung in lebhafter Weise Ausdruck
+verlieh. Dabei redete sie auch ihre Dienerschaft an und ermunterte
+diese, in ihre Bewunderung einzustimmen.
+
+Währenddessen war der Rittmeister in das Haus getreten und rief aus
+einem Fenster des Hochparterre ungeduldig und streng:
+
+„Ange, komm nun doch und kümmere Dich um die Kinder!“
+
+Etwas Eigenartigeres als diese konnte man nicht sehen. Eins war schöner
+als das andere. Alle waren blond, aber das Haar hatte jenen goldig
+schimmernden Anhauch und die Körperhaut jene unnachahmliche Farbe,
+welche wir an den Menschen des Nordens im Gegensatz zu den Bewohnern des
+Südens bewundern. Wie schon ein Sonnenstrahl seine Spuren auf dem
+Milchweiß der Blonden zurückläßt, so flammt auch sichtbarer, und durch
+den rosenfarbenen Schimmer reizvoller, das Blut durch die Wangen dieser
+von der Natur bevorzugten Geschöpfe.
+
+Wenn Mutter und Kinder beisammen standen, konnte man sie für Geschwister
+halten. Frau von Clairefort glich einem menschgewordenen Engel; sie trug
+mit Recht ihren Namen. Und sie ging auch mit ihren Kindern um, als sei
+sie selbst noch ein unselbständiges Wesen. Sie blickte sie erstaunt und
+in ein plötzliches lächeln ausbrechend an, sie tummele sich mit ihnen
+und lag spielend auf dem Teppich, auf welchem auch die Hunde
+umhersprangen. Fehlte dies oder das, so riß sie wohl ein Tüchelchen von
+ihrem vornehm gebauten Hals, statt das fehlende Garderobestück
+herbeizuholen; und wenn die Kinder sie küßten und um Freiheit bettelten,
+statt nach der Anweisung der Gouvernante an die Schularbeiten zu gehen,
+lief sie gar mit ihnen fort und versteckte sich und jene vor den
+drohenden Stirnfalten der Erzieherin.
+
+Morgens ruhte sie mit der ganzen herbeigeeilten Schar in einem
+spitzenbedeckten Bett und ließ sich umhalsen und hätscheln. Es war, als
+ob der eben erwachte Frühling seine Kinder um sich versammelt habe. Was
+so bezaubernd wirkte, war der naive, unbewußte Liebreiz aller dieser
+zartgearteten Menschen, und doch war die Gräfin Ange so stählern
+abgehärtet, ward so wenig beeinflußt von jedweder Anstrengung, daß sie
+den Schlaf fast wie eine überflüssige Gewohnheit an sich herantreten
+ließ.
+
+Wo sie erschien, ward alles hell, denn ihr süßes Gesicht, ihre klugen
+Augen, ihre anmutigen Gebärden, ihr silberhelles Lachen und ihre durch
+keine Künstelei beeinflußte lebhafte Fröhlichkeit riß die Umgebung fort.
+Und doch war's niemals eine närrische Laune, von der sie sich leiten
+ließ, und ihr nicht erst durch Grübeln geweckter Verstand kleidete jeden
+Gedanken in eine graziöse Form. Ihr Ernst war so tiefsinnig und ihr
+Urteil über Menschen und Dinge oft so zutreffend, daß man es nicht für
+möglich hielt, dieselbe Frau habe eben mit kindlich-hilfloser Naivetät
+die tausend Unarten ihrer kleinen Schar ertragen, sich zuletzt machtlos
+in einen Winkel vergraben und bitterlich ausgeweint.
+
+„Bitte, bitte, sei artig, Carlitos,“ flehte sie, und trotzig warf
+Carlitos den stolzen Kopf in den Nacken und beging dieselbe Unart. Aber
+zornig gegen ihre Engelschar konnte sie überhaupt nicht werden, viel
+weniger hatte sich ihre Hand jemals zum Schlage gegen diese erhoben,
+obgleich Ange mit ihrem starken, gestählten Handgelenk das wildeste
+Pferd zu zähmen imstande war. Reiten und Fahren war Ange Claireforts
+Leidenschaft. Sie hatte den edelsten Renner im Stall, und nicht minder
+zärtlich klopfte sie den Hals von „Blitz“, ihrem Lieblingspferd, als die
+schlanken Glieder ihrer beiden Windhunde.--
+
+Carlitos, der Älteste, war ein wilder, schlanker Bursche mit vielen
+impertinenten Sommersprossen auf der feingeschnittenen Nase und mit
+dunklem, gleichsam boshaft leuchtendem Haar in rotem Schimmer. Dann
+kamen Zwillinge, zwei Mädchen von einer solchen sanften Schönheit und so
+mädchenhaft in der Erscheinung, daß die Menschen auf der Gasse
+stillstanden, um ihnen nachzuschauen.
+
+Diesen folgten wieder zwei Knaben. Sie hatten lange, in der Mitte
+gescheitelte goldblonde Haare, waren tannenschlank gewachsen, lebhaft,
+ausgelassen, aber doch voll Herzensgüte und schüchtern gegen Fremde.
+Wenn sie bisweilen mit ihren vornehmen Gesichtern so scheu
+dreinblickten, ward man unwillkürlich an die Söhne Eduards erinnert.
+
+Die kleine Ange war das Ebenbild der Mutter, nur erschien sie fast noch
+graziöser. Eine Elfengestalt, dabei träumerisch, für sich, und mit jenem
+vorwurfsvoll-ernsten Ausblick, der zögern läßt, sich solchen Kindern zu
+nähern.
+
+Nach vier Wochen redete man in C. von nichts anderem als von dem Grafen
+Clairefort und seiner schönen Gemahlin. Die bösen Reden waren
+verstummt, nachdem man sie ein einiges Mal gesehen hatte. Der Graf
+entsprach dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. Er war nur noch
+zurückhaltender, als er geschildert ward. Man fand einen äußerst
+aristokratischen, wortkargen, aber im Verkehr mit den feinsten Manieren
+ausstatteten Mann, der es mit seinen militärischen Obliegenheiten so
+streng nahm, daß diese Strenge an Härte streifte. Natürlich zerbrach
+sich auch alle Welt den Kopf, wie wohl zwei so verschieden geartete
+Menschen miteinander lebten. Stärkere Gegensätze waren nicht denkbar. Er
+ein ernster, pedantischer, kränklicher Mann, dem sich zu nähern,
+Überwindung kostete, und der in seinen Gedanken, Anschauungen und
+Lebensgewohnheiten völlig von dem Durchschnitt der Menschen abwich. Sie
+dagegen ein frisches, gesundes, liebenswürdiges, ein naiv-kluges
+Geschöpf, mit einem hinreißenden Temperament und einer nicht minder
+hinreißenden, ja gefährlichen Schönheit; dazu sorglos, ganz von dem
+Eindruck des Augenblicks beherrscht und oft spottend allen Regeln der
+eingebürgerten Sitte.
+
+Wenn sie etwas besonders anregte oder beschäftigte, wenn sie zum
+Beispiel ausreiten wollte, vergaß sie alles. Da gab's keine Innehaltung
+einer Zusage oder Verabredung. Da schwiegen alle gewöhnlichen
+häuslichen Pflichten, da verfingen nicht die strengen Mienen des
+Grafen. Sie flog ihm an den Hals und herzte ihn.--„Laß, laß,
+Schatz!--Sei gut, gieb mir meinen Willen.--Du weißt ja doch, daß Du mir
+nichts abschlägst.--Weshalb mich quälen?--Nein?--Du versagst mir die
+kleine Freude?--Dann küsse ich Dich niemals mehr auf Deine treuen Hände,
+auf Deinen verschwiegenen Mund!“--Und ehe er sich's versah, ehe er es
+hindern konnte, schlang sie sich zu ihm empor und liebkoste seine Wange.
+
+Oft mußten die Kinder helfen, diese wilden, zarten, sanftmütigen
+Geschöpfe in ihrem seltsamen Gemisch. Und sie thaten alles, was sie
+wünschte; immer nahmen sie für ihre Mama Partei und umringten den
+bleichen ernsten Mann, bis sich zuletzt ein Lächeln um den geschlossenen
+Mund stahl. Und dieses Lächeln war Zustimmung.
+
+„Wenn Du wüßtest, wie schön Du bist, wenn Du lächelst,“ sagte Ange oft:
+„warum bist Du doch immer so ernst, so bärbeißig, Lieber! Bin ich nicht
+um Dich, Ange Clairefort, geborene Butin, Herrin auf Schwarzensee und
+Dürenfort?“ Dazu lachte sie und stolzierte, ihm Kußhände zuwerfend und
+hinter sich schauend, als ob sie ihre Schleppe betrachte, von dannen. Er
+neigte dann schwermütig das Haupt und zog sich in seine Gemächer zurück.
+Oft war's, als ob der strenge Soldat sich vor dem Kinderlärm und der
+ausgelassenen Unart seiner Umgebung flüchte, als ob jeder Nerv in ihm
+zucke, ihm Ruhe und Einsamkeit allein wohlthue.
+
+In der That hatten Claireforts schon viel Herzeleid erfahren. Sie
+verloren beide früh ihre Eltern und standen ohne Verwandte in der Welt.
+Des Rittmeisters Stammvorfahr, ein Franzose, war nach Deutschland
+übergesiedelt, um seiner Gemahlin, einer Rheinländerin, zu folgen, und
+die Butins, wenn auch seit Menschengedenken in deutschen Gauen ansässig,
+stammten ebenfalls aus französischem Blut. Gerade als Clairefort um die
+alleinstehende, blutjunge Baronin von Butin anhielt, starb ihr
+bisheriger Vormund, und dies veranlaßte die später Mündigwerdende, die
+Gutsbesitzungen zu veräußern; den Erlös brachte sie ihrem Manne als
+Mitgift in die Ehe.
+
+Claireforts hatten ihre Besuche gemacht und empfingen solche. Es nahm
+sehr für sie ein, daß sie ihre Visiten nicht auf den vornehmeren und
+engeren Kreis beschränkten, in welchem die übrigen Familien verkehrten;
+sie gaben auch ihre Karten bei den angesehenen Einwohnern der Stadt ab
+und entzückten durch ihre Liebenswürdigkeit alle Welt, mit der sie in
+Berührung traten. Besonders lebhaft aber entwickelte sich der Verkehr
+zwischen den unverheirateten Offizieren der Garnison und den
+Neuangekommenen. Nach wenigen Wochen waren diese fast tägliche Gäste der
+Villa, in der stets ein Frühstückstisch bereit stand und in der
+man--auch unangemeldet--immer eine vortreffliche Tafel mit auserlesenen
+Weinen fand. Es vollzog sich dort alles wie durch Zauberhand geschaffen,
+und doch war Ange die denkbar schlechteste Hausfrau.
+
+Aber Ernst Tibet, der Kammerdiener, sorgte für alles. Dieser
+Haushofmeister war ein Mustermensch. So unruhig und wenig umsichtig, so
+ungleich und lebendig die Gräfin, ebenso ernst, besonnen und zuverlässig
+war Tibet, ein Mann mit angeborener Würde und höflicher Zuvorkommenheit
+zugleich.
+
+„Tibet, bester, goldener Tibet, was beginnen wir? Eben haben sich zehn
+Personen angesagt! Die Uhr ist zwei! Um fünf wollen wir speisen!“
+
+„Es wird alles nach Ihren Wünschen sein, Frau Gräfin,“ erwidert Tibet,
+verbeugt sich und geht seiner Arbeit nach.
+
+Und wenn Tibet das sagt, dann kann wohl eine kleine Welt einstürzen,
+aber wenn sie nicht einstürzt, ist alles auf die Minute, wie er
+versprochen.
+
+Seltsamerweise bekümmerte sich auch der Graf nicht um das Haus, wenig
+auch um die Kinder, ebensowenig um seine schöne Ange. Man fragte sich
+oft, was eigentlich ihn beschäftige, wofür er sich interessiere, welche
+Gedanken hinter seiner hohen Stirn auf- und abwandern möchten. Niemand
+vermochte darauf eine zutreffende Antwort zu geben. Es blieb ihm außer
+seiner dienstlichen Beschäftigung noch viel Zeit, aber man fand ihn
+weder häufig lesend noch schreibend. Er saß meistens zurückgelehnt in
+einem alten Erbstuhl des fünfzehnten Jahrhunderts, der vor seinem
+Schreibtisch stand, stäubte die Bücher und die vielen kleinen
+Nippesgegenstände ab, rauchte, erhob sich wohl einmal, griff sich, wie
+um einen Schmerz zu bannen, an den Kopf, schaute in den blühenden Garten
+und grübelte weiter über etwas, was keiner zu ergründen vermochte.
+
+Tibet war jeden Tag eine Stunde, oft länger bei ihm. Er legte Rechnungen
+vor, holte sich Anweisungen, empfing Geld, brachte solches, mußte auch
+wohl Briefe schreiben, Telegramme besorgen und Gänge machen, über die er
+nie Auskunft gab. Tibet war alles in allem, auch bei dem Grafen, und
+niemandem begegnete dieser so höflich wie seinem Kammerdiener, wenn er
+auch ihm gegenüber die Formen beiseite ließ.
+
+Unter den Offizieren, die im Clairefortschen Hause verkehrten, befand
+sich ein Rittmeister mit Namen von Teut. Alle Welt war erstaunt, daß
+dieser allem Familienverkehr abholde, nur seinem Dienst, dem
+Pferdesport, der Jagd und starken Gelagen geneigte, keineswegs mehr
+junge Mann das Haus des Grafen aufgesucht hatte. Ange war die
+Veranlagung gewesen. Bei einem Diner, welches der Oberst gab, zwang sie
+ihn, sich mit ihr zu beschäftigen, wies ihm scherzend nach, daß sie vom
+Urgroßvater her ein wenig verwandt seien, und fesselte ihn in solchem
+Maße, daß er beim Nachhausegehen gegen seine Umgebung in die Worte
+ausbrach: „Schön wie eine Rose, klug wie ein Pferd, naiv wie ein Kind,
+zudem eine Dame--ein vollendetes Geschöpf!“
+
+Von Teut war ein seltsamer, unberechenbarer Mensch im Verkehr, aber nach
+übereinstimmendem Urteil ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Sein
+Reichtum erlaubte ihm die Ausübung der kostspieligsten Liebhabereien. Zu
+diesen gehörten vor allem Jagd und Pferde. Und dieser Umstand genügte
+allein schon, sich Ange Clairefort zu nähern.
+
+Oft schlug er eine Kleinigkeit ab, war unduldsam gegen seine Umgebung,
+und dann, wenn ihn Laune oder Herzensdrang trieben, verschenkte er große
+Summen. So hatte er einmal einem Kellner im Kasino, der sich
+selbständig machen und heiraten wollte, ein nicht unbedeutendes Kapital
+darlehensweise überlassen, und als der erste kleine Weltbürger erschien
+und jener ihn als Pate einlud, sandte er ihm den quittierten
+Schuldschein und schrieb darunter:
+
+„Axel von Teut sendet Axel Dorn diese Patengabe und hofft, daß er einst
+ein braver Bürger und--kommt Zeit und Anlaß--auch ein treuer
+Königssoldat sein wird.“
+
+Als dies bekannt wurde, sah sich Teut mit Bittschriften überschüttet. Da
+las man eines Tages in der Zeitung:
+
+„Fortan lasse ich alle Bitt- und Bettelbriefe uneröffnet zurückgehen.
+Man spare sich die Mühe! Wer meint, ich säh's ihnen nicht an, irrt sich.
+Eine solche Übung, wie ich sie habe, macht erfahren.
+
+Baron von Teut-Eder,
+
+Rittmeister und Eskadronschef.“
+
+ * * * * *
+
+Beim Oberst war eine große Fête angesagt. Ange begann auch heute mit
+ihrer Toilette zu einer Zeit, in der andere Frauen bereits die
+Handschuhe knöpfen und das Kopftuch um das Haar schlingen. Das kannte
+Clairefort, seit ihm das schöne Fräulein von Butin das Jawort gegeben,
+und das ertrug er mit jener Resignation, die entweder einer starken
+Selbstbeherrschung entspringt oder die sich zuletzt in das
+Unvermeidliche machtlos fügen muß.
+
+„Ange, bist Du bereit? Schon seit einer viertel Stunde wartet der
+Wagen!“ rief der Rittmeister und klopfte ungeduldig an die Thür.
+
+„Gleich, gleich, bester Carlos!“ schmeichelte Ange zurück, huschte
+freilich erst in diesem Augenblick aus ihrem Hauskleid und steckte, da
+sie das unruhige Auf und Ab ihres erzürnten Tyrannen hörte, auf einen
+Augenblick das Köpfchen durch die Öffnung, um ihn mit einem ihrer
+bezaubernden Blicke zu beruhigen.
+
+Das Gemach, in welchem Ange ihre Toilette machte, glich bezüglich des
+hastigen und bunten Durcheinander dem Ankleidegemach einer
+Bühnenkünstlerin. Hier waren Schubladen geöffnet, in denen die
+Gegenstände wild durcheinander geworfen waren, dort lagen auf Diwan und
+Stühlen Ballkleider und Spitzenröcke. Wenige Minuten hatten hingereicht,
+um hier und in die Garderobenschränke eine heillose Verwirrung zu
+bringen. Aber immer war diese lebhafte, unruhige und der
+Zeiteinteilungen spottende Frau in ihrer Erscheinung gleich reizend. Wo
+war der Künstler, um diesen feingeschnittenen Kopf mit dem tief auf die
+Schultern herabgefallenen Seidenhaar zu malen, diese zarte, in den
+Formen vollendete Fülle, dieses entzückende Weiß des Nackens, der Arme,
+der Hände, vornehmlich aber diesen wahrhaft bezaubernden Körperwuchs mit
+seinen vornehmen Linien?
+
+Bei der Hast, mit der Ange selbst Hand an die Toilette legte oder ihre
+Umgebung anwies, röteten sich ihre Wangen, die feinen Nasenflügel
+vibrierten und ihre Kinderhände zupften, zerrten und knöpften an den
+durchsichtigen, spitzenbesetzten Gewändern umher, als ob tausend
+unruhige Funken aus ihren Fingern sprühten.
+
+Während ihr Haar geflochten ward, saß sie vor dem Trumeau, öffnete den
+Mund, betrachtete mit kindlicher Neugier die untadelhaften Reihen ihrer
+unter dem Rosarot hervorschimmernden Zähne und lachte in den Spiegel
+hinein oder neigte mit leisem Aufschrei das Köpfchen vor dem
+ungeschickten Strich des Kammes in dem widerspenstigen Haar. Und dabei
+erschienen auch Füßchen, die einem Kinde anzugehören schienen und die
+nun von der Jungfer mit seidenen Schuhen bekleidet wurden.
+
+Als Ange endlich auch in das kostbare pfirsichfarbene Kleid eingespannt
+war, als sie durch das Zimmer schritt und die einer Königin würdige
+Schleppe hinter ihr herrauschte, als endlich alle die Perlen und
+Diamanten in ihrem Haar und an ihrer Brust, die blitzenden Agraffen an
+dem Stoffe befestigt waren, sahen selbst die Dienerinnen mit einem Blick
+der Bewunderung auf das Kunstwerk, das unter ihren Händen entstanden
+war.
+
+„Sieht's gut aus? Sitzt die Taille?“ fragte Ange naiv, und ein
+glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht, als jene lebhaft bestätigten,
+was sie zu hören wünschte.
+
+„Ange, Ange!“ klopfte es nun abermals. „Die Uhr ist halb neun, und Du
+bist noch nicht--“
+
+„Ich bin fertig, lange fertig, Carlos! Ich warte ja auf Dich!“ rief sie,
+blinzelte den Frauen bei ihrer unschuldigen Lüge lächelnd zu und öffnete
+die Thür.
+
+Aber nun kamen noch die Kinder, die doch eigentlich im Bett liegen
+sollten. Jorinde weinte und Ben stand mürrisch da. Allerlei Wünsche
+wurden laut.
+
+„Gewiß, gewiß, sei ruhig, mein Liebling! Ja, ja, Carlitos!--Ah, mein
+Riechfläschchen und der Fächer, Maria!--Wie, was? Ja, gleich!“
+
+Sie eilte fort und suchte in irgend einer Schublade nach den Bonbons und
+Leckereien, mit denen sie ihre ungeduldige Schar zu beruhigen pflegte.
+
+„Nehmen Sie die Schleppe, Rosa!--Ich komme ja, ich komme, Carlos, geh
+nur voraus!“
+
+Nun mußten die Kinder noch einmal umarmt und geküßt werden. Ein
+Handschuhknopf war abgesprungen, auch eine Naht beim hastigen Anziehen
+gerissen. „Schnell ein anderes Paar! Im Schubfach links! Fleischfarbene,
+Maria, fleischfarbene! Hörst Du?“
+
+Ange eilte hinab. „Endlich!“ sagte Carlos. „Vorwärts!“
+
+Der Diener, die Hand am Hute, schlug den Wagen zu und schwang sich auf
+den Bock.
+
+„Halt! halt--noch einen Augenblick!“ rief Ange und klopfte ungestüm an
+die Scheiben. Die Jungfer kam atemlos mit den Handschuhen. „Zu Befehl,
+Frau Gräfin!“
+
+So, nun raste endlich der Wagen mit dem Grafen und Ange davon, und die
+Dienerschaft wandte sich ins Haus zurück. Auf dem Flur, auf der Treppe
+wehte noch der Duft ihrer Gewänder. In allen Zimmern brannten die
+Kandelaber--überall die Spuren ihrer lebhaften Unruhe. Die Kinder
+schmollten, daß sie nun, weniger rücksichtsvoll angehalten als vorher,
+ins Bett getrieben wurden: und ins heiße, schwüle, von Parfüm erfüllte
+Ankleidezimmer der Gebieterin, in dem ein halb Dutzend goldene und
+silberne Leuchter entzündet waren, in welchem die geöffneten
+Schmuckkästchen mit all ihren zurückgebliebenen Herrlichkeiten achtlos
+umherstanden und in dem die Luft, die eine schöne, vornehme Frau
+ausatmet, wie ein unsichtbarer Hauch die Gegenstände zu umhüllen
+schien, traten die Frauen, um alles an seinen Platz zu bringen.--
+
+Unwillkürlich verstummte das laute Gespräch in den Sälen, unwillkürlich
+traten die Reihen der Gäste zurück und unwillkürlich mußten auch die
+eifersüchtigsten Frauen emporblicken, als die Gräfin Ange von Clairefort
+an der Seite ihres Mannes die Räume in dem Hause des Obersten betrat. Es
+giebt Frauen, deren Erscheinung in der Gesellschaft wirkt, als ob
+plötzlich ein Schwan mit lautem Flügelschlag vorüberrauscht.
+
+Ange war nach wenigen Minuten umgeben und umschwirrt von der halben
+Gesellschaft. Nein, von der ganzen Gesellschaft! Denn diejenigen, die
+sich ihr nicht näherten, fanden nur nicht den Mut, der schönen,
+strahlenden Frau auszudrücken was sie bei ihrem Anblick empfanden. Immer
+birgt die Gesellschaft Zaghafte; sie werden nie aussterben; sie bleiben
+und gleichen Kindern, welche nur nach wiederholter Ermunterung ein
+Händchen reichen.
+
+Ange hörte, daß man allein auf sie gewartet habe. Sie rief ein
+bedauerndes „O! o!“ huschte zu der Frau des Obersten und stellte ihr
+durch die bezaubernde Art ihrer Abbitte rasch die gesunkene
+Gesellschaftslaune wieder her. Und da sie in der Zerstreuung den ersten
+Tanz nicht vergeben hatte und dies zu ihrer freudigen Überraschung
+bemerkte, schlüpfte sie durch die sich drängenden und sich
+arrangierenden Paare bis zum Gastgeber und legte sanft den Arm in den
+seinigen.
+
+„Gnädige Frau?!“
+
+„Den ersten Tanz habe ich wohl ein dutzendmal abgeschlagen, Herr Oberst,
+da ich ihn für Sie bestimmt hatte. O, ich bitte, kein Refus! Es ist ja
+eine Polonaise.“ schmeichelte sie und zog den nur leise Widerstrebenden
+mit sich fort.
+
+Selten mischte sich Ange in die Reihen der Tanzenden, ohne daß die
+pausierenden Paare ihr zuschauten. Man mußte sie ansehen, denn eine
+Grazie schien sich unter die Menschen gemischt zu haben.
+
+Nichts Anmutigeres konnte es geben, als sie einen Walzer tanzen zu
+sehen, wenn das ihr eigene, halb verlegene, halb glückliche Lächeln über
+die sanften Züge flog und sie das Köpfchen zur Seite neigte. Es lag in
+dieser Zurückhaltung gleichsam eine Andeutung, daß sie sich zwar jeder
+Laune ihres Tänzers füge, doch nur dem Zwange folgend, ihm erlaube, den
+schlanken Leib zu umfassen. Sobald sie sich aber aus dem Arm ihres
+Kavaliers gelöst hatte, verschwand diese fast mädchenhafte
+Schüchternheit, und ihr lebhaftes Temperament riß sie wieder fort. Sie
+schwatzte, lachte und zeigte ein schelmisches Gesicht, sie nickte und
+hörte mit neugieriger Aufmerksamkeit zu.
+
+Beim Souper richteten sich abermals aller Augen auf Ange. Eine feine
+Blässe war auf ihr Gesicht getreten. Der wunderbare Abstand der dunklen
+Augen und Augenbrauen gegen das Goldblond ihres Seidenhaares wirkte
+neben dem mattseidenen, an dem Ausschnitt mit echten weißen Spitzen
+besetzten Kleide so überraschend schön, daß man den Blick nicht von ihr
+zu wenden vermochte. Und dabei funkelten und blitzten die Steine an Hals
+und Ohren, und oft zitterte ein wahrer Sprühregen aus den Diamanten, mit
+denen ihr Haupt geschmückt war.
+
+Die Menschen fühlten sich geehrt und beglückt, wenn Ange sie mit ihren
+treublickenden Augen ansah, und ihre Bescheidenheit machte es unmöglich,
+daß häßliche Regungen der Mißgunst neben ihr emporstiegen.
+
+Nach Aufhebung der Tafel, nachdem der Champagner Ange ganz in ein
+fröhliches, nur von der Lust beherrschtes Kind verwandelt hatte, als die
+ersten Takte eines stürmischen Galopps vom Saale herüberklangen, hielt
+es sie nicht mehr neben dem Gastgeber, und mit einem seine Verzeihung
+einholenden Blick entschlüpfte sie, um einem jüngeren Kavalier zu
+folgen.
+
+Einmal riß eine Perlenschnur, und die kostbaren Schätze rollten unter
+die Tanzenden. Ein kleines Vermögen stand auf dem Spiel, Ange jedoch
+lachte und nahm mit entschuldigendem Dank entgegen, was eifrig Suchende
+gefunden hatten und ihr überreichten.
+
+Wiederholt drängte der Rittmeister zum Aufbruch. Aber die Offiziere
+umstürmten die reizende Frau, und sie bat wie ein junges Mädchen, das
+zum erstenmal den Ball besucht, um Aufschub. Während sie davoneilte,
+guckte sie ihn über ihre Schulter an und holte sich durch bittende
+Blicke sein nachträgliches Jawort ein.
+
+Und als sie endlich zurückkehrte und er, die zerrissenen Spitzen der
+Schleppe betrachtend, kopfschüttelnd dreinschaute, streifte sie rasch zu
+seiner Beruhigung die Handschuhe ab, lehnte sich mit einem: „Nicht
+schelten! Gut sein! Carlitos, bitte!“ an ihn und bettelte so lange, bis
+er ihr noch die kleine Abkühlungspause zugestand.
+
+Von der Bewegung beim Tanzen war ihr Haar ein wenig gelockert und ein
+feines Strähnchen auf die Stirn gefallen, auch einige prachtvolle Rosen,
+die an ihrer Brust saßen und einen blitzenden Diamant umschlossen,
+hatten sich entblättert. Ihr Atem glühte, ihre Brust hob und senkte sich
+unter der zarten Seide, und während der Fächer in heftiger Bewegung
+war, neigte sie den Körper mit jener elastischen Biegsamkeit, die
+Frauen so verführerisch macht.
+
+„Nein, komm, komm, Ange.“ drängte Carlos, von ihrer Schönheit
+hingerissen und nur von dem einzigen Gedanken beherrscht, sie den
+zudringlichen Blicken ihrer Bewunderer zu entreißen. Sein Auge ruhte mit
+einem eifersüchtig verlangenden Ausdruck auf ihr, und sie erwiderte
+seinen Blick mit jenen träumerischen Augen, mit denen sie ihm einst ihre
+Liebe verraten hatte.
+
+„Ach, es war himmlisch! Ich habe mich prachtvoll amüsiert! Schade, daß
+es schon vorüber ist!“ seufzte die junge Frau, als sie, nach Hause
+zurückgekehrt, sich in sanfter Erschöpfung in einen Sessel zurücklehnte.
+„Aber Du, Armer, hast Dich gelangweilt! Nicht so, Carlos?“
+
+Sie sah ihn zärtlich an. Er schüttelte schwermütig das Haupt und sagte:
+
+„Nicht doch, Ange!“ Und nach einer Weile flüsterte er leise: „Hast Du
+mich noch lieb, Ange?“
+
+Da stand sie auf und flog ihm an den Hals.
+
+ * * * * *
+
+Acht Monate waren vergangen. Teut war ein täglicher Gast im
+Clairefortschen Hause geworden, verkehrte mit Frau Ange und der Familie,
+als ob er sie von Kindesbeinen an kenne, und schien überhaupt von
+Claireforts fortan unzertrennlich. Dieser engere Verkehr führte mit
+sich, daß er bald in alle Verhältnisse eingeweiht wurde, und daß man
+ihn, da er neben seiner Einsicht eine entschiedene Art an den Tag legte,
+auch häufig um Rat fragte. Aber er nahm sich in seiner ehrlichen und
+derben Weise auch die Erlaubnis, zu tadeln.
+
+„Schlecht, mordschlecht erziehen Sie die kleine Gesellschaft!“ rief er
+Ange kopfschüttelnd zu, wenn die Kinderschar--ungezogen und
+trotzköpfig--ihren Höllenlärm anstimmte, die Möbel mit Stöcken und
+Peitschen bearbeitete und gar auf dem Teppich des Wohnzimmers mit Sand
+wirtschaftete. Die Dienerschaft war machtlos, denn sie fand keine
+Unterstützung bei der Gräfin. Entweder erließ sie Verbote, deren
+Zurücknahme sie sich im nächsten Moment wieder abbetteln ließ, oder sie
+tröstete Jorinde und Erna, wenn diese von der Gouvernante eine Strafe
+erhalten hatten.
+
+Nun war eben das Mobiliar--ein Gemach nach dem anderen--neu aufgeputzt,
+zum Teil mit kostbaren Stoffen überzogen, alles mit einem wahrhaft
+verschwenderischen Luxus hergestellt worden, und schon zeigten sich
+deutliche Spuren von übermütigen Gewaltthätigkeiten. Der Graf war
+mehrmals in einen heftigen Zorn ausgebrochen, hatte Ange ihren Mangel an
+Ordnungsliebe und ihre grenzenlose Schwäche gegen die Kinder in den
+härtesten Worten vorgeworfen. Hin und wieder rief er den schnell
+liebgewonnenen Freund und Vertrauten zum Zeugen an, wie unvernünftig,
+wie unverständig seine Frau sei und wie ihn ihre Eigenschaften mit den
+Rückwirkungen auf die Kleinen zum Tadel reizen müßten.
+
+Einmal brach es ungestüm aus ihm heraus, als Teut seine Bewunderung über
+Ange ausdrückte. „Ja, Freund,“ rief er, „Sie sind nicht mit ihr
+verheiratet! Sie erfreuen sich an dem Guten, das sie Ihnen
+entgegenträgt, und schütteln das Unbequeme leicht ab, um so leichter,
+als Sie nur indirekt davon berührt werden! Ich aber lebe täglich,
+stündlich mit ihr, ich kämpfe seit Jahren gegen ihre Schwächen ohne
+Erfolg und habe doch für alles die Verantwortung zu tragen! Ange würde
+jedes Jahr eine Million verschenken, wenn sie dieselbe zur Verfügung
+hätte, und eine ganze Weltordnung in Verwirrung bringen, wenn sie über
+den Wolken herrschte! Jeder ruft mir entgegen: Welch ein reizvolles
+Geschöpf! und jeden Tag werde auch ich entwaffnet durch den Zauber
+ihrer Liebenswürdigkeit. Aber sie bringt vermöge ihrer untilgbaren,
+durch eine grenzenlos verkehrte Erziehung hervorgerufenen Fehler den
+ruhigsten, besonnensten und geduldigsten Mann zur Verzweiflung. Die
+größten und besten Eigenschaften eines Menschen verwandeln sich in das
+Gegenteil, wenn ihnen das Maß fehlt. Sanftmut und Liebenswürdigkeit
+sinken zur Charakterlosigkeit herab, Herzensgüte wird Thorheit, Geist
+und Verstand streifen an Insanie und je schöner die Hülle, desto größer
+der Schmerz, daß sich unter so vollendeten Formen ein so ungeordneter
+Geist verbirgt.“
+
+„Sie übertreiben, Clairefort!“ rief Teut warm. „Ihre Frau ist ein Engel!
+Ihre Fehler sind nicht so schlimmer Art; ja, ich behaupte, sie sind auch
+Tugenden! Weint sie nicht wie ein Kind, wenn man ihr vom Unglück
+berichtet, möchte sie nicht stets helfen? Hilft sie nicht? Ist sie nicht
+rührend besorgt um ihre Kinder und sitzt sie nicht wie jüngst, als
+Carlitos krank war, Tag und Nacht an ihrem Bett? Ist sie nicht stets
+liebevoll gegen Sie, Clairefort, sieht sie nicht zu Ihnen empor wie zu
+einem Höhergearteten und nimmt jeden Tadel, jedes Scheltwort ohne Murren
+entgegen? Ist sie nicht ohne Beispiel selbstlos? Verlangt sie je etwas
+für sich? Ist es nicht nur immer der Gedanke an andere, der ihre
+Entschlüsse bestimmt? Sah man je ein so glückliches Gemisch von
+natürlichem Verstand und Herzensgüte?--Ja, sie ist sorglos, kannte nie
+eine Einschränkung, weiß nichts von materiellen Sorgen, giebt mit vollen
+Händen, oft vielleicht unverständig--“
+
+Hier unterbrach Clairefort den Sprechenden, und indem er ihn mit einem
+Blick anschaute, durch den man eine vertrauensvolle Äußerung einzuleiten
+und sich Verschwiegenheit zu sichern pflegt, sagte er:
+
+„Nein, nein! Immer, immer unverständig! Maßlos, Freund! Ihre
+Verschwendung ist grenzenlos. Wie soll das überhaupt werden? Unter uns:
+Wenn das meine Frau noch einige Jahre so forttreibt, bin ich ruiniert.
+Schon lange war ich gezwungen, mein Kapital anzugreifen.“
+
+Teut schwieg. Was er hörte, überraschte und beunruhigte ihn aufs
+höchste. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, weshalb der
+Mann, wenn die Dinge so lagen, sein Hauswesen, seine Geselligkeit nicht
+einschränke, die zahllose, meist überflüssige Dienerschaft nicht
+entlasse und Ange, die ihrer Eigenart nach auch in einfacheren
+Verhältnissen zufrieden leben würde, die Gelegenheit nähme, so thöricht
+zu wirtschaften. Aber er fand sich doch nicht berechtigt, dergleichen
+auszusprechen, und während seines Schwankens kam ihm Clairefort zuvor:
+
+„Ich weiß, was Sie mir erwidern werden, Teut,“ hob er, unter der
+Bestätigung seiner Gedanken wiederholt das Haupt bewegend, an. „Sie
+meinen, ich sei nicht minder schuld als Ange. Wir könnten uns anders
+einrichten und dadurch Einnahmen und Ausgaben in das richtige
+Gleichgewicht bringen. Auch Tibet drängt mich seit Jahr und Tag, aber
+dann--dann--“
+
+Er hielt inne. Ein ängstlich unschlüssiger Ausdruck trat in seine
+Mienen, und nur mit Überwindung lösten sich die Worte aus seinem Munde:
+
+„Sehen Sie! Es wird Ihnen rätselhaft erscheinen,“ fuhr er endlich
+abgerissen und in Pausen sprechend, fort. „Ich liebe meine Frau
+grenzenlos. Ich fürchte dann--ich fürchte--daß sie sich mir entfremden
+könnte. Eine unbeschreibliche Angst überfällt mich, ich könnte ihre
+Liebe einmal verlieren--durch einen Wandel der Verhältnisse. Ich sinne
+selbst ratlos darüber nach, was in meiner Seele vorgeht. Tausend
+Gedanken bestürmen mich. Oft habe ich schon gedacht: Wenn sie doch
+einmal das Leben so liebt--ich möchte es ihr erhalten--ihre Fröhlichkeit
+ist doch lauter Sonnenschein;--und dann--dann--möchte ich, daß sie der
+Himmel früh zu sich nähme, damit sie Sorge und Kummer nie kennen lernt.
+Aber kann man eines geliebten Menschen Tod wünschen? Das ist doch
+unfaßbar. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich möchte ändern und
+vermag es nicht--vermag es durchaus nicht. Die Schwächen, die meiner
+Liebe entspringen, sind größer als meine bessere Einsicht.“
+
+Teut saß stumm und schaute vor sich nieder, denn neben ihm seufzte der
+Mann in tiefer Bewegung auf.--Welch ein Einblick in das Seelenleben
+eines Menschen. Voll Klarheit, ja voll Ungeduld und Tadel über
+unhaltbare Zustände, und doch aus eifersüchtiger angstvoller Liebe zu
+schwach, um beizeiten ein zweifellos hereinbrechendes Unglück von sich,
+seinem Weibe und seinen Kindern abzuwenden?!
+
+Einmal zuckte Teut unbehaglich zusammen, denn plötzlich stieg die
+Zukunft vor ihm auf. Die unabweisbaren Folgen solcher Verhältnisse
+traten unheimlich vor seine Seele. Vielleicht war ihm in dem
+Clairefortschen Hause eine große, undankbare Aufgabe beschieden, und
+jene Selbstliebe, die Unbequemes von sich stößt und nur unbehelligt
+genießen will, behielt die Oberhand. Was scherten ihn am Ende die
+fremden Menschen, dieser Mann mit seiner Unschlüssigkeit, seiner
+Melancholie und seinem ehelichen Unbehagen, diese in den Tag lebende
+Frau mit ihrer Unerfahrenheit und ihrem sorglosen Lebenswandel?
+
+Aber das war nur eine schnell vorübergehende Regung. Er sprang auf,
+faßte Claireforts Hand und sagte:
+
+„Und trotz alledem muß geschehen, was Sie für Recht erkennen, lieber
+Clairefort! Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, soweit es in meinen Kräften
+steht. Soll ich einmal mit Frau Ange reden?“
+
+Bei diesem Anerbieten bohrte sich ein eigentümlicher Blick aus den Augen
+des Grafen auf den Sprechenden. Aber zum Glück bemerkte Teut ihn nicht,
+und als die Männer nach längerer Auseinandersetzung schieden, ging jener
+unter dem Eindruck, daß Clairefort, selbst machtlos zum Handeln, die
+dargebotene Hand aufs dankbarste ergriffen habe.
+
+Wohlan denn! Teut war beiden näher getreten als kaum anderen Menschen je
+zuvor; er liebte Ange und die Kinder, die deshalb ein Recht auf ihn
+gewonnen hatten. Er wollte handeln--handeln wie ein Mann, aber auch wie
+ein kluger, besonnener Mann!
+
+ * * * * *
+
+Seit Stunden ging Teut in seinem Zimmer auf und ab. Immer neue Gedanken
+durchkreuzten sein Gehirn. Oft warf er sich in einen Stuhl, schlug nach
+seiner Gewohnheit, wenn ihn etwas erregte, heftig mit den Hacken seiner
+Reitstiefel aneinander und strich lebhaft seinen langen, blonden
+Schnurrbart. Die Backenknochen seines stark markierten, mageren
+Gesichtes traten scharf hervor, und fortwährend ließ er das Glas, das in
+seinem linken Auge steckte, fallen, um es im nächsten Augenblick wieder
+an seinen Platz zu schieben. Wenn dies, der neueren Zeit angehörende
+Monocle nicht sein Gesicht verunziert, und wenn er nicht den Husarenrock
+getragen hätte, würde man geglaubt haben, einen Ritter früherer Zeiten
+vor sich zu sehen. Diese hohe, wettergebräunte und schon etwas stark
+gefurchte Stirn, diese blitzenden, unheimlich kühnen Augen, dieser
+sarkastische Mund und dieser halbschlanke, große, starke, geschmeidige
+Körper erinnerten an die Gestalt eines Recken vergangener Jahrhunderte.
+
+„Der Teufel werde klug aus der Geschichte!“ murmelte er, endlich sein
+Sinnen unterbrechend, griff in eine Kiste mit schweren Cigarren,
+entzündete eine, verschluckte den Rauch und stieß ihn in einer mächtigen
+Säule wieder von sich.
+
+In diesem Augenblick öffnete sein Diener Jamp die Thür und überreichte
+die Rechnung eines Blumenhändlers in Höhe von einigen hundert Thalern.
+Es war der aufgesummte Betrag für die frischblühenden Bouquets, welche
+Ange ausnahmslos jeden Tag in ihren Zimmern fand. Teut prüfte, zog das
+Schubfach und fügte der Zahlung ein reichliches Trinkgeld bei. Nun
+schloß sich wieder die Thür und nun waren auch Teuts Gedanken wieder bei
+Ange. Er rief sich die letzte Unterredung mit Clairefort ins Gedächtnis
+zurück und alles das, was vorhergegangen war. Oft erschien ihm wie ein
+Traum, was er in den letzten zehn Monaten erlebt, vornehmlich das, was
+er an sich selbst erfahren hatte.
+
+Als jüngerer Offizier, kurz bevor ihm das Vermögen seines Vaters und
+seiner Geschwister zugefallen war, hatte er um ein junges Mädchen aus
+bürgerlichem Stande geworben und seine Heiratspläne unter Umständen
+aufgeben müssen, die ihm das weibliche Geschlecht verächtlich gemacht
+hatten. Er sah fortan in den Frauen nur ein Spielzeug, fast weniger als
+das.
+
+Nun war er Ange Clairefort begegnet und liebte sie nach acht Tagen mit
+einer brennenden Leidenschaft.
+
+Wenige Tage nach dem erwähnten Gespräch ritt er mit Ange aus. Es war ein
+wundervoller Herbsttag, einer jener Tage, an denen Frühling und Sommer
+noch einmal auf die verlangende Erde zurückzueilen und alle ihre
+Schönheit reifer und gemilderter zugleich über die Welt auszuströmen
+scheinen.
+
+Die Sonne funkelte in den Bäumen, verwandelte mattes Gelb in glänzendes
+Gold und braune Blätter in goldkupfernes Metall. Die ganze Natur
+durchströmte sie mit einer durchsichtigen Helle, mit einer Klarheit, als
+sei jedes unreine Stäubchen von erfrischenden Lüften fortgeweht, und als
+seien diese selbst herabgestiegen aus kühlen, stillen Himmelshöhen.
+
+Teut war kein Mensch, der sich jemals in Gefühlsäußerungen erging. Er
+empfand alles Schöne und Gute, aber es lag nicht in seiner Natur oder es
+fehlte ihm der Drang, seine Empfindungen in Worte zu übersetzen.
+
+Anders Ange. Die sanften Farben auf ihren Wangen glühten, sie sog die
+Luft ein, hielt das seit einer Viertelstunde rasch dahintrabende Pferd
+an und warf einen fragenden Blick auf ihren Begleiter. Sie hatten,
+seitdem sie das Haus verlassen, kein Wort gewechselt. Niemals war Teut
+so stumm gewesen wie heute.
+
+„Drüben!“ sagte er und zeigte auf ein kleines unter den Bäumen
+verstecktes Häuschen. Er hielt nicht, wie Ange, sein Pferd an.
+
+„Weiterreiten?“ fragte sie, als ob sie ihn nicht verstanden. Sie ärgerte
+sich über seine formlose Art, die sie ihm schon häufig im stillen
+vorgeworfen hatte. Teut nickte, ohne etwas hinzuzufügen.
+
+So erreichten sie beide--Ange in einer etwas unbehaglichen Stimmung--das
+Wirtshaus. Ehe der Stallknecht herbeieilen konnte, war Teut
+herabgesprungen und hatte Ange vom Pferde gehoben. Es war, als ob
+Christophorus das Jesukindlein über den Fluß tragen wolle. Wie ein
+zartes Püppchen lag sie ihm im Arm, und wie ein Riese setzte er sie
+nieder.
+
+„Drüben ist eine herrliche Aussicht. Wollen wir gehen?“ fragte er artig
+und reichte ihr den Arm.
+
+Aber sie dankte, schürzte das Reitkleid und schritt neben ihm durch
+einen linksseitig einbiegenden, mit Bäumen besetzten Weg. Nach wenigen
+Augenblicken berührten sie eine Kirche und einen Gottesacker. Es sah
+recht verwildert dort aus. Aus der zerbrochenen eisernen Einfriedigung
+hingen Schlingpflanzen in den Farben des Herbstes, und Unkraut wucherte
+auf den Gräbern. Dann stiegen sie eine leichte Anhöhe empor und
+schritten auf einen Eichenwald zu. Kleines, kurzes Gebüsch drängte sich
+über den Fußpfad, es ging unregelmäßig bergauf, bergab.
+
+Endlich umfing sie der Herbstwald und die Kühle. Hier glänzte es hell
+durch die Bäume; lange, wundervolle Lichtstreifen lagen auf dem grünen
+Erdboden. Dort flimmerte es im dichteren Gebüsch, als ob kleine
+versteckte Sonnen vergeblich hervorzubrechen versuchten, und einmal, bei
+einem Durchblick zur Rechten, schauten sie in einen verlassenen,
+gänzlich abgeschlossenen, mit Gras dicht bewachsenen Feldweg, auf dem
+die Einsamkeit einen märchenhaften Schlaf zu träumen schien. Aber sie
+schritten weiter, erreichten endlich eine Bank auf einer von
+blätterreichen Eichen umstandenen Anhöhe, und sahen nun meilenweit ins
+Land.
+
+Es ging ein sanftes Jubilieren durch die blaue, durchsichtige Luft. Die
+letzten Vögel zwitscherten, und riesige Lichtströme warf die Sonne über
+Wiesen, Felder und ferne Wälder. Hier und dort glitzerten Streifen eines
+in malerischen Windungen auftauchenden Flusses zwischen den sanft
+dahingestreckten Matten, als ob plötzlich die Erde ausgebrochen sei und
+flüssiges Silber seine Bahn suche.
+
+Ange ward gedrängt, ihrem Entzücken Ausdruck zu geben, aber ihr
+Begleiter war scheinbar noch ebenso mißmutig wie vorher.
+
+„In welch schlechter Laune haben Sie mich heute begleitet?“ hob sie an
+und richtete ihren lebhaften Blick auf sein unbewegliches Gesicht.
+
+„Nein!“ erwiderte er. „Aber ich habe einiges auf dem Herzen, und
+hier“--er lud sie zum Sitzen ein--„will ich Ihnen einmal sagen, wozu
+bisher stets der rechte Augenblick gefehlt hat.“
+
+Die feine Röte auf Anges Gesicht wich einer leichten Blässe. Ein halb
+zaghafter, halb ungeduldiger Ausdruck stahl sich in ihre Mienen, und
+sie faßte die Reitgerte fester. Aber sie überwand sich und sagte
+ungezwungen:
+
+„Wohlan, setzen wir uns und erzählen Sie mir etwas. Aber nichts, nichts
+Unangenehmes heute, lieber Teut. Ein andermal. Ich bin fröhlich; weshalb
+mir das nehmen? O, ich bin glücklich hier in dieser schönen Welt.
+Bitte!“
+
+Teut zuckte zusammen. Immer, wenn sie in diesem zärtlichen und bittenden
+Tone sprach, zögerte er, ihr auch nur durch tadelnden Blick eine
+Verstimmung zu bereiten. Wieviel besser verstand er jetzt Claireforts
+Zaudern als ehedem! Dieses unschuldsvolle Kind mit seiner sorglosen
+Fröhlichkeit und seiner Freude am Leben erschien ihm wie ein eben aus
+der Hand des Schöpfers hervorgegangenes Kunstwerk. Und diesen reinen
+Spiegel sollte er trüben, gar zersplittern? Aber einmal mußte es doch
+geschehen. Er strich wiederholt den Schnurrbart und sagte endlich:
+
+„Liebe Frau Ange! Hören Sie zu. Ich bitte Sie bei unserer Freundschaft
+darum.“
+
+Etwas ganz Besonderes mußte es doch sein. In Anges Gesicht trat ein
+hilfloser Ausdruck, und ein eigener Glanz schimmerte in ihren sanften
+Augen.
+
+„Ich höre!“ sagte sie leise und legte die Hände ineinander.
+
+„Sehen Sie, liebe Ange--Darf ich Sie so nennen?“ Er wandte sich zu ihr,
+sah sie fragend an und über sein edles, männliches Gesicht flog ein
+hinreißender Zug von Herzensgüte. Und sie nickte mit einer Miene und
+bejahte mit einem Blicke, als ob sie ein Engel sei, der einem Sünder
+Gottes Verzeihung überbringe.
+
+„Wir kennen uns nun schon fast ein Jahr. Durch Sie hat sich mein Leben
+fast ganz verändert. Ich hatte bereits von allem Abschied genommen, was
+Haus und Familie heißt, und mich in die Rolle eines alten Junggesellen
+hineingefunden. Meine dienstliche Beschäftigung, der Umgang mit den
+Kameraden, die Befriedigung allerlei berechtigter und unberechtigter
+Passionen, nach Umständen einmal ein Stück ungehinderter Freiheit--ich
+könnte ja ganz ein freier Mann sein und meinen Neigungen leben, aber ich
+fühle Pflichten in mir gegen mein Vaterland und meinen König--genügte
+mir. Da sah ich Sie, Ange; und weshalb sollte ich es verhehlen--ich
+liebte Sie bei unserer ersten Begegnung und werde Sie lieben, solange
+ein Atem in mir ist.“
+
+Er sah sie nicht an, während er sprach.
+
+Wenn er emporgeschaut hätte, würde er bemerkt haben, daß sie wie
+träumend ins Land und in die Ferne schaute; aber er würde auch in ihrem
+Angesicht gelesen haben, wie sie alle seine Worte verschlang und wie
+die letzten sie erbeben machten.
+
+Ein feuchter Glanz verdunkelte auf Augenblicke ihre Augensterne, und
+versteckt strichen ihre kleinen Finger über die Wimpern.
+
+„Aber weil ich Ihnen so gut bin--Sie wie ein Bruder und Freund liebe,“
+fuhr Teut fort, „muß ich Ihnen etwas sagen, was Ihr Glück betrifft.“ Und
+nun sprach er in langer Rede auf sie ein. Er tadelte und tröstete, er
+forderte und flehte. Er teilte ihr Carlos' Worte an jenem Tage mit,
+klärte sie über ihre Verhältnisse auf und ließ das Bild einer düsteren,
+vielleicht durch ihre Handlungsweise heraufbeschworenen Zukunft vor ihr
+Auge treten. Atemlos horchte sie auf und erbebte. Welch drohende,
+vernichtende Wolken hingen über ihrem ahnungslosen Haupt! Nachdem er
+geendet, saß sie lange stumm und sprach kein Wort. Aber als dann aus
+seinem Munde ihr Name drang: „Liebe Ange, liebe Freundin, zürnen Sie
+mir?“ da überwältigte sie ihr Gefühl und sie neigte das Haupt und
+schluchzte.
+
+Er wagte es: er strich sanft über ihr Haar; er that, als ob er nichts
+anderes fühle als Mitleid, nichts anderes geben wolle als Trost, und
+doch bedurfte er seiner ganzen Kraft, um sie nicht in dem Ausbruch
+unterdrückter Leidenschaft ans Herz zu ziehen.
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Tage nach diesem Ausflug traten Clairefort und Teut nach
+Tisch--es waren heute ausnahmsweise nur drei Gedecke, da die Kinder
+früher speisten--in des ersteren Gemach.
+
+Clairefort schien düsterer als je, es war während der Tafel, bei welcher
+Tibet mit seinem geräuschlosen Schritt bedient hatte, fast keine Silbe
+über seine Lippen gekommen, und Ange--noch unter dem Eindruck der
+jüngsten Unterredung--verhielt sich ebenso einsilbig.
+
+In dem matt erleuchteten, dunkel tapezierten Zimmer kam es Teut heute
+fast unheimlich vor. Seltsam schaute der Marmorkopf einer Venus aus dem
+Dunkel hervor, und düster starrten ihm die Arabesken aus dem Teppich
+entgegen, der den Fußboden bedeckte.
+
+Eine Weile saßen beide Männer rauchend und ohne zu reden, nebeneinander.
+Jedem lagen Worte auf der Zunge, keiner wollte zuerst sprechen. Endlich
+sagte Clairefort tonlos:
+
+„Sie haben gestern mit Ange gesprochen, Teut?“
+
+Der Angeredete nickte, ohne etwas zu erwidern.
+
+Clairefort wiederholte nun seine Frage.
+
+„Ja,“ sagte Teut, „ich habe mit Ihrer Frau geredet.“
+
+„Was sagte sie, bitte?“
+
+Ohne auf diese Frage unmittelbar zu antworten, entgegnete Teut: „Hat
+sie Ihnen keine Mitteilung gemacht?“
+
+„Nun--ja und nein! Sie sprach sehr unzusammenhängend. Sie hing sich an
+meinen Hals, weinte und rief: ‚Ich will mich bessern, Carlos!‘ Ich
+vermutete, daß diese Äußerung aus dem Gespräch mit Ihnen hervorgegangen
+sei. Gesagt hat mir Ange nichts.“
+
+Teut horchte auf.--Wie rührend! Welch eine liebenswürdige Reue lag in
+diesen paar Worten!
+
+„Gut! Warten wir also ab, Clairefort!“
+
+„Ja--“ sagte dieser gedehnt und offenbar unbefriedigt.
+
+Jetzt sah Teut Clairefort versteckt ins Auge. Ein verdrossener, nervöser
+Zug lag auf seinem Gesicht. Plötzlich stieg in Teut ein beunruhigender
+Gedanke auf. War Clairefort eifersüchtig? Was stand ihm und Ange bevor,
+wenn seine Vermutung sich betätigte? Und zugleich überfiel ihn ein
+gefährlicher Drang, diesen Verdacht zu lösen und zu bekämpfen. Er wollte
+Vertrauen, er wollte für Freundschaft und Hingebung nicht Mißtrauen,
+Verstimmung--vielleicht weit Schlimmeres noch.
+
+„Clairefort--!“ hob er durch die peinvolle Stille an. „Clairefort, ich
+bin Ihr Freund! Sie hatten wohl nie einen aufrichtigeren Freund!
+Glauben Sie das?“
+
+Clairefort erhob den Blick und sah Teut verlegen an.
+
+„Ja, lieber Teut! Weshalb fragen, weshalb--beteuern Sie?“
+
+Der letzte Satz kam zögernd hervor. Die Worte verfehlten auch ihre
+Wirkung nicht, denn Teut sagte abweisend:
+
+„Ich beteuerte nichts! Ich wollte Ihnen nur einmal, ein einziges Mal,
+nachdem Sie mir ein Vertrauen schenkten, das man höchstens etwa seinem
+Bruder in ähnlichen Verhältnissen zuwendet, sagen, daß Sie--was immer
+sich ereignen könnte--darauf rechnen dürfen, daß ich Ihr wirklicher
+Freund bin und stets als ein solcher handeln werde. Verstehen wir uns
+jetzt?“
+
+„Ja,“ nickte Clairefort; er schien aber keineswegs überzeugt.
+
+Teut sprang auf. Er trat auf Clairefort zu und faßte seine Hand. „Armer
+Clairefort,“ sagte er. „Ich bedauere Sie aus tiefster Seele, um so mehr,
+weil ich verstehen kann, was Sie bedrängt. Aber niemals begegnete ein
+Mensch einem anderen mit ungerechterem Mißtrauen. Und nun noch einen
+Rat, bevor wir heute scheiden. Erleichtern Sie Ihrer Frau die
+Entschlüsse. Handeln Sie, Clairefort, und seien Sie dabei ein Mann und
+ein wohlwollender Freund zugleich. Verstehen Sie?“
+
+Clairefort antwortete nichts. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner
+Brust. Teut wandte sich zur Thür. Als er eben das Zimmer verlassen
+wollte, erhob sich ersterer rasch, berührte Teuts Schulter und sagte
+leise:
+
+„Verzeihung, Teut! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“
+
+Die Erinnerung an diesen Vorfall beschäftigte Teuts Gedanken. Aber doch
+begriff er eins nicht, und deshalb grübelte er hin und her.
+
+Ange hatte ihm erklärt, die Sorgen ihres Mannes seien sicher
+ungerechtfertigte. Schon seine Mutter habe unter dem Wahne gelebt, sie
+könne nicht auskommen und sei doch im Besitz eines ungewöhnlich großen
+Vermögens gewesen. Dies wäre eine Krankheit aller Claireforts. Es sei
+ungenau, behauptete sie, daß die Zinsen nicht genügten, um alle Ausgaben
+zu bestreiten. Sie glaube im Gegenteil zu wissen, daß Tibet
+vierteljährliche Überschüsse, von denen ganze Familien bequem würden
+leben können, zum Banquier trage. Auch habe sie selbst ein völlig
+unberührtes, nach ihrem Tode den Kindern zufallendes Vermögen, das
+ausreiche, eine Familie mit größeren Ansprüchen zu befriedigen.
+Trotzdem gebe sie aber zu, daß ihr Aufwand ein großer sei, daß sie
+vieles verschwende, und daß es verständig sei, alles einschränken.
+
+Sie bat Teut, da ihr Mann Geldverhältnisse, wer weiß aus welchen
+Gründen, niemals gegen sie berühre, ihn auszuforschen und ihr zu
+berichten. Sie könne, fügte sie hinzu, auch Tibet fragen, aber dieser
+sei in solchem Punkte stets verschlossen. Zudem erachte sie es als nicht
+angemessen, einen Untergebenen zwischen sich und ihren Gemahl zu
+stellen.
+
+Bei der nächsten Begegnung zwischen Clairefort und Teut nahm sich
+letzterer vor, diesen Punkt schon deshalb durch eine Frage aufzuklären,
+weil alle Maßnahmen danach zu treffen waren. Falls Clairefort die
+Wahrheit gesprochen, mußte Teut, um nicht auf halbem Wege stehen zu
+bleiben, auf sofortige Einschränkungen dringen, und diese konnten doch,
+wie die Dinge lagen, nur von Ange ausgehen.
+
+An einem der nächsten Tage, an welchem Clairefort Teut in der alten
+herzlichen Weise begegnete, knüpfte letzterer an diesen Zwischenfall an
+und sagte:
+
+„Sie haben mich, Clairefort, in Ihre intimsten Verhältnisse eingeweiht.
+Ich habe nicht nach den Gründen gefragt. Entweder war es die Folge jenes
+natürlichen Dranges, der uns in schweren Nöten zur Mitteilung treibt,
+oder Sie erkannten Ihre Machtlosigkeit und fühlten das Bedürfnis, sich
+einer Freundeshilfe zu bedienen. Gleichviel! Sie schenkten mir Ihr
+Vertrauen, und ich gab Ihnen mein Wort, dieses nach bestem Vermögen zu
+rechtfertigen. Unter solchen Umständen ist nun aber völlige Offenheit
+eine unbedingte Notwendigkeit.“
+
+In Claireforts Augen blitzte es bei dieser Anrede auf. Eine seltsame
+Spannung malte sich in seinen Zügen; offenbar mißdeutete oder
+überschätzte er den Sinn der Worte. Teut verstand nicht, was Clairefort
+beunruhigte, aber um so mehr beeilte er sich, fortzufahren:
+
+„Eines ist noch der Aufklärung bedürftig,“ sagte er in gelassenem Tone,
+„und ich bitte meine Frage nicht als eine ungerechtfertigte Einmischung
+zu betrachten. Ange behauptet, daß Sie nur eine übertriebene Sorge
+beherrsche, daß Ihre und ihre eigenen Renten so groß seien, daß jährlich
+erhebliche Überschüsse aus den Zinsen zurückgelegt werden könnten.“
+
+„Nun,“ rief Clairefort, offenbar erleichtert, aber immerhin erregt, und
+in dieser Erregung nur den letzten Äußerungen Teuts Gehör schenkend,
+„ich denke, daß wir keine Kinder sind! Es ist, wie ich Ihnen sagte. Mein
+Ehrenwort darauf,--das ich indes nur erhärtend hinzufüge, weil die
+Behauptung meiner Frau der meinigen gegenübersteht. Durch den Sturz
+eines Bankhauses habe ich große Summen verloren, wodurch mein Vermögen
+ganz außerordentlich zusammengeschmolzen ist. Das weiß auch Ange, denke
+ich--“
+
+„Nein! Sie weiß gar nichts! Aber gut,“ sagte Teut, „wenn dem so ist,
+dann werde ich mit Ihrer Erlaubnis handeln!“
+
+ * * * * *
+
+Kurze Zeit darauf hatte Teut Gelegenheit, noch einmal mit Ange zu
+sprechen. Ein Vorfall, der nur allzu bezeichnend für sie war, gab dazu
+Veranlassung. Er trat am Spätnachmittag ins Haus und fand sie bei der
+Besichtigung eines seidenen Kleides, das sie gerade der Jungfer mit den
+Worten zurückgab: „Nein, auch das geht nicht. Ich werde mir dann für das
+Fest ein neues machen lassen und heute noch ausfahren, um den Stoff
+auszusuchen.“
+
+„Ich störe wohl, Frau Gräfin--“ hob Teut, rücksichtsvoll ins Zimmer
+tretend, an.
+
+Sie schüttelte ihren Kinderkopf, raffte errötend und verlegen allerlei
+auf den Stühlen umherliegende Garderobengegenstände auf, schob sie der
+Kammerjungfer über den Arm und hieß sie und Erna, welche eben, die Thür
+sperrweit offen lassend, ins Zimmer gestürmt kam, gehen.
+
+„Nein, halt! Warten Sie, Charlotte!“ unterbrach sie aber doch ihren
+Befehl. „Der Herr Rittmeister mag entscheiden.“
+
+Die Jungfer that, wie ihr gesagt wurde. Sie legte die Kleider auf einen
+Stuhl und suchte unter den überreichen Ballroben eine hervor, die sie
+ihrer ungeduldig wartenden Herrin überreichte.
+
+„Ich verstehe von Kleidern gar nichts,“ sagte Teut schroff. Es störte
+ihn, daß Ange in Gegenwart der Zofe mit ihm dergleichen Dinge besprechen
+wollte.
+
+Ange sah ihn mißmutig an, wollte etwas erwidern, unterdrückte aber die
+Entgegnung.
+
+Inzwischen nahm Erna eines der Kleider an sich, fuhr mit den Armen
+hinein, schob die Schleppe mit den Füßen ungeschickt hin und her, so daß
+sie diese mit den bestäubten Schuhen berührte, und rief endlich laut:
+„Mama, Mama, sieh einmal!“
+
+„Aber Erna, Erna!“ flehte Ange und eilte erschrocken hinzu. Das Kind
+aber hob den seidenen Rock empor, lief rasch davon und rief: „Das müssen
+Jorinde und Ange sehen! Nein, nein, ich gebe es nicht!“
+
+Ange ließ denn auch das Kind gehen und machte der Zofe ein Zeichen,
+nachzueilen.
+
+Als sie zu Teut emporblickte, begegnete sie seiner mißbilligenden
+Miene. „Unverbesserlich sind Sie, liebe Gräfin,“ sagte er und schüttelte
+den Kopf.
+
+„Nicht schelten!“ bettelte sie und sah ihn mit ihrem bezaubernden Blicke
+an. „Aber doch ernsthaft raten! Sehen Sie, liebster Teut, das ist mein
+bestes Kleid, und darin kann ich doch den Ball nicht besuchen, nicht
+wahr?“
+
+Allerdings: das Kleid war unverantwortlich behandelt. Die Spitzen, mit
+denen man es besetzt hatte, waren zerrissen; die Schleppe war besudelt,
+an der Taille fehlten Knöpfe. Im übrigen war der Stoff eine mit
+anmutigen Blumenbouquets durchwirkte weiße Seide, einer Königin würdig.
+
+„Man könnte die Robe einer geschickten Schneiderin übergeben, sie mit
+neuen Spitzen garnieren und säubern lassen,“ sagte Teut phlegmatisch. Er
+war selbst erstaunt über den Umfang seiner Kenntnisse und über seine
+praktischen Ratschläge.
+
+„Nein, nein!“ sagte Ange, als ob es sich um ein Puppenkostüm handle.
+„Hier ist ja sogar ein großes Loch!“ und sie zeigte ihm den Rock, in
+welchem übrigens nur die Naht hinten seitlich eingerissen war.
+
+„Kann genäht werden!“ entschied Teut mit seiner stoischen Ruhe.
+
+„Ach, mit Ihnen über Toilette sprechen! Kommen Sie, Teut! Wir haben
+wundervolle Melonen erhalten. Der Frühstückstisch ist gedeckt.“
+
+„Nein,“ sagte er, „erst muß ich Sie sprechen. Heute ist die erste
+Lektion.“
+
+Sie sah ihn mit ihrem naiven Blick an, dann glitt ein ungeduldiger
+Ausdruck über ihr Gesicht.
+
+„Wieder eine Waldpredigt! Nein, heute mag ich nicht; weshalb quälen Sie
+mich! Ach, wie war ich sonst glücklich! Nun stehen Sie neben mir wie ein
+Schulmeister; ich bin doch kein Kind mehr!“
+
+„Doch, ja,“ sagte Teut kurz. Und dann weicher: „Sie sind ein Kind, ein
+liebes, reizvolles Kind. Aber nun kommen Sie! Lassen Sie uns noch einmal
+reden!“
+
+Er stand auf und schloß die Thür. Ange graute bei diesen Vorbereitungen.
+
+„Zuerst, liebe Freundin--bitte, setzen Sie sich doch mir gegenüber, dort
+in den Fauteuil“ (sie that es schmollend und zerpflückte eine spät
+erblühte weiße Rose, deren Blätter sie auf den Teppich fallen
+ließ)--„ein sehr ernstes Wort! Ich habe mit Clairefort gesprochen; es
+ist, wie er sagt. Sie besitzen heute nur einen Teil Ihres beiderseitigen
+Vermögens.“
+
+Er hielt einen Augenblick inne und beobachtete die Wirkung seiner Worte.
+
+„Und wie ist dies zugegangen?“ fragte Ange mehr neugierig als
+erschrocken.
+
+„Ein Banquier, bei dem Clairefort seine Papiere niedergelegt hatte,
+mußte seine Zahlungen einstellen. Es ging dort alles verloren.“
+
+„Der arme, arme Clairefort! Ist er sehr betrübt?“ hob sie besorgt an.
+Sie forschte ängstlich in Teuts Angesicht; sie dachte nur an ihren Mann,
+wie er die Sache aufgenommen, in welcher Stimmung er sei. Ob sie gehen
+solle, um ihn zu trösten, ihm zu sagen, daß sie auch fortan sparsamer
+sein wolle. Es bliebe dann gewiß noch genug, schloß sie.
+
+„Ja, das ist es. Nun sehen Sie doch ein, daß Sie ganz anders leben
+müssen, daß Sie den großen, überflüssigen Hausstand einschränken, die
+Kinder regelmäßig in die Schule schicken und sich sorgsamer um Ihre
+Wirtschaft bekümmern müssen!“ sagte Teut ernst.
+
+Sie nickte wie ein Kind, das gescholten wird, das voll guter Vorsätze
+ist, zerknirscht anhört, was es verbrochen hat, bis Natur und Freiheit,
+bis Spiel und Tändelei alles wieder verwischen.
+
+„Das erste wird sein, daß wir auch Tibet ins Vertrauen ziehen. Wir
+werden überlegen müssen, wer von der Dienerschaft bleiben kann, welche
+Ausgaben überflüssig sind, wie die Geselligkeit zu beschränken, wie
+Fuhrwerk und Pferde drunten--“
+
+„Meine himmlischen Pferde auch?“ rief Ange „Und gar die Hunde? Müssen
+wir ein anderes Haus, eine andere Wohnung beziehen? Ach, Teut, sagen
+Sie, ist's denn so schlimm? Besitzen wir nichts, gar nichts mehr?
+Sprechen Sie ein Trostwort!“
+
+Mit tränendem Blick sah sie zu ihm empor und erwartete zitternd seine
+Antwort.
+
+Umfang und Bedeutung der eingetretenen Verhältnisse überschätzte sie nun
+so sehr, daß sie sich, wie ihre weiteren Fragen ergaben, schon in einem
+kleinen, beschränkten Häuschen sah und mit Ängsten an ihre Kinder
+dachte, die dadurch Entbehrungen erleiden würden. Teut erkannte besorgt,
+welchen Eindruck seine Worte hervorgerufen, welche Schreckbilder er
+unbeabsichtigt heraufbeschworen hatte.
+
+„Sie sollen nichts entbehren, liebe Freundin!“ beruhigte er, hingerissen
+von Anges Anmut, von ihrem bei alten diesen Erörterungen hervortretenden
+selbstlosen Wesen, und strich in heftiger Bewegung den Schnurrbart.
+„Nichts, meine teure Freundin! Ich stehe dafür! Nur Überflüssiges,
+Thörichtes wollen wir beseitigen. Schon um der Kinder willen werden
+wir--“ Er betonte die Worte und stockte.
+
+Sie schaute ihn an. Was lag alles in diesen guten, klugen Augen, die
+sich mit solcher Innigkeit auf sie richteten. Und da riß es sie fort;
+sie schnellte empor und umschlang den tröstenden Freund in stürmischer
+Freude mit ihren Armen.
+
+In diesem Augenblick öffnete sich die Thür; beide flogen auseinander.
+Clairefort aber, der sich zeigte, sagte mit einem eisigen Blick: „Ach,
+ich störe wohl?“
+
+„Carlos, Carlos!“ rief Ange, ahnend, daß sich etwas Furchtbares ereignen
+würde, und stürmte dem Fortgegangenen nach. Teut aber schlug heftig mit
+den Hacken der Reiterstiefel zusammen und seufzte einige Male tief auf.
+
+ * * * * *
+
+„Wann kann ich die Ehre haben, Sie zu sprechen?
+
+von Clairefort.“
+
+„Bitte, kommen Sie rasch!
+
+Ange.“
+
+Teut blickte gedankenvoll auf zwei Blättchen, die er empfangen hatte und
+die diese Worte enthielten. Seit einigen Tagen war er nicht zu
+Claireforts zurückgekehrt; nun war geschehen, was er hatte kommen sehen.
+
+Er übersetzte sich die Worte seiner Freunde in seine Sprache.
+„Rechtfertigen Sie sich!“ lauteten diese.--„Eilen Sie, ich bin sehr
+unglücklich und bedarf Ihres Trostes!“ deutete er sich jene.
+
+Lange Zeit saß Teut grübelnd da und ließ alles, was geschehen war, noch
+einmal an seinem Geist vorübergehen. Hin und wieder erhob er den Blick,
+und dieser haftete mechanisch an den vielen Gegenständen, die seine
+Gemächer ausfüllten. In einem genialen Durcheinander sah man die
+widersprechendsten Dinge. Auf einem seidenbezogenen Sessel lag ein
+neuer, ungebrauchter Sattel, an den Wänden zur Linken hingen, flankiert
+von ausgestopften Vogel- und anderen Tierköpfen, Pistolen, Säbel und
+sonstige alte und neue Waffen. Die rechte Wandseite nahm ein übergroßes,
+wundervoll ausgeführtes Frauenbrustbild in der zarten Manier Angelika
+Kaufmanns ein; daneben waren in unregelmäßigen Abständen Photographieen,
+zahlreiche Kupferstiche und Lithographieen aufgehängt, teils Porträts,
+teils Jagd- und Reiterbilder: hier ein Sturz vom Pferde beim Rennen,
+dort rote Röcke mit Trara hinter dem fliehenden Wild im Walde.
+
+Auf den Tischen lagen Berge von Handschuhen, vertrocknete Blumen,
+aufgerufene Kartons und Jagdutensilien. Auf einem chinesischen Kästchen
+erhob sich eine Bronzefigur Napoleons I. mit verschränkten Armen. Ihm
+zur Seite stand eine halbnackte, zum Sprung ins Bad bereite
+Frauengestalt aus weißem Marmor. Auf einer an den Tisch gerückten
+Etagère lagen in merkwürdiger Ordnung zahlreiche Cigarrenetuis: viele
+mit Wappen in Silber oder Elfenbein; auch kostbar gebundene Bücher;
+daneben erhoben sich einige Medaillonbilder auf zierlichen
+Gestellen--und all diese Gegenstände beherrschte eine weißschimmernde
+marmorne Klytia mit dem schwermütig sanften Blick. Auf dem grünen
+Teppich, der das ganze Zimmer bedeckte, war vor einem Schreibtisch das
+riesige Fell eines Eisbären ausgebreitet, und den ersteren bedeckten
+zahlreiche Schriften, Papier, aufgeschnittene Bücher und
+Schreibmaterialien, die sich um eine alte französische Uhr gruppierten,
+welche hier Platz gefunden hatte. Und ringsum saubere hellpolierte oder
+tiefschwarze Möbel; auch einige primitiv gearbeitete, aber praktisch
+eingerichtete Schränke, aus deren geöffneten Schubladen Rehposten,
+Patronen und Pulversäcke hervorschauten. Endlich stand in der Mitte des
+Zimmers ein mit einem Tigerfell behangener Chaiselongue, der aber selten
+benutzt zu werden schien, denn eine ganze kleine Bibliothek war hier
+aufgeschichtet.
+
+Früher hatte Teut täglich viele Stunden in seiner Wohnung zugebracht. Er
+blätterte in den Journalen, las die neuesten deutschen und französischen
+Romane, empfing Billetdoux und beantwortete sie, schraubte wohl mit
+zufriedenem Lächeln einen Flintenlauf vom Kolben oder drückte an dem
+Schloß und freute sich der schönen Ciselierungen am Rohr. Oder er
+richtete im Nebengemach, im Eßzimmer, ein Abendessen, bereitete selbst
+die Bowle und stand in lederner Hausjoppe neben Flaschen und Gläsern.
+Aber alles hatte seinen Reiz verloren. Jede Stunde, die er nicht im
+Dienst war, floh er die Räume und eilte zu Ange.
+
+Aber noch mehr. Die rechte Freude am Dasein war dahin; es gab nur noch
+Kämpfe, Sorgen, Selbstüberwindungen, um ein gegebenes Wort zu erfüllen.
+Ihr guter Geist wollte er ja fortan auf Erden sein, das hatte er
+geschworen--ihr Freund--ihr stumm verzichtender Verehrer.--
+
+„Kleine Ange, kleine liebe Ange,“ flüsterte der Mann und grub die Zähne
+in die Lippen, um seiner innerlichen Erregung Herr zu werden. „Nun
+beginnt der große Roman--der Roman unseres Lebens!“
+
+ * * * * *
+
+Teut beantwortete beide Briefe zugleich. Ange schrieb er:
+
+„Auch von Carlos erhielt ich einige Zeilen. Der kurze formelle Inhalt
+läßt mich schließen, daß es sich um nichts Gutes handelt! Ich komme
+bestimmt heut abend. Dann sieht Sie
+
+Ihr getreuer Teut.“
+
+Dem Freunde aber sandte er nur seine Karte und schrieb:
+
+„Ich besuche Sie kurz vor der Theestunde in Ihrem Zimmer.
+
+v.T.“
+
+Als aber der Nachmittag kam, änderte Teut seinen Entschluß. Es fiel ihm
+ein, daß er den Kameraden versprochen hatte, abends den Besuch eines
+Freundes im Kasino zu feiern. Er ging deshalb früher zu Claireforts. Als
+er die Wohnung erreichte, stieg er, in Gedanken verloren und ohne sich
+umzusehen, die Treppe empor. Er wünschte, obgleich er das Richtige zu
+vermuten glaubte, zunächst von Ange zu erfahren, was vorgefallen sei,
+und dann Clairefort aufzusuchen. Zu seiner Überraschung fand er alle
+Thüren offen und weder jemanden im Empfangssalon noch in Anges
+Gemächern, überall aber eine große Unordnung.
+
+Hier stand das Schaukelpferd eines der Knaben, dort hing, neben
+fortgeworfenem Spielzeug, eine Puppe mit gesenktem Kopf und schlaffen
+Armen rückwärts über einem Stuhlpolster. Auf dem Tisch des Wohngemaches
+lagen Kinderhüte und der hastig abgestreifte Paletot eines der Kinder.
+In Anges Schreibtisch war eine Schublade aufgezogen, und eine Sammlung
+von zartgefärbten Handschuhen lag in wilder Unordnung durcheinander.
+Einer hing mit schlaffen Fingern über den Rand des Schubfaches hinaus.
+
+Teut schritt weiter bis an die Kinderzimmer. Er fand auch hier
+niemanden, aber ein ähnliches Durcheinander.
+
+Die Wohnung machte den Eindruck, als ob eine Familie in fliegender Hast,
+vor einer Gefahr flüchtend und alles im Stiche lassend, davongeeilt sei.
+Kopfschüttelnd ging Teut weiter und trat gegenüber in Claireforts
+Privatgemach. Er klopfte. Keine Antwort. Er öffnete behutsam. Hier fand
+er es wie stets: dieselbe peinlich-übertriebene Ordnung, derselbe
+düstere Ernst, derselbe Mangel an freundlichen, belebenden Eindrücken.
+Keine Blume, keine lebhaften Bilder! Ein Hauch von Schwermut lag über
+dem Gemach ausgebreitet und nur allzu deutlich drückte sich in den
+Räumen der Charakter seines Bewohners aus.
+
+Natürlich that auch die Dienerschaft, unter solchem Beispiel und keine
+strenge Hand über sich fühlend, was sie wollte. Nirgends ein männliches
+oder ein weibliches Wesen, das nach dem Fortgang der Herrschaft die
+Thüren geschlossen und in den Zimmern Ordnung geschaffen hätte.
+
+Teut wandte sich zurück, und während er noch überlegte, ob er nach Hause
+zurückkehren oder warten solle, bis die offenbar auf einer Ausfahrt
+begriffene Familie wiederkommen werde, hörte er Schritte. Er horchte auf
+und trat einen Augenblick beiseite. Es war Tibet, der geschäftig
+ausräumte, hier sich nach einem Spielzeug, dort nach einem
+Kleidungsstück bückte und ordnend die Hand an Tisch und Stühle legte.
+Ja, Tibet, Tibet! Er übernahm die Pflichten aller.
+
+„Die Herrschaften sind aus gefahren?“ fragte Teut, nun hervortretend und
+den Kammerdiener begrüßend.
+
+„Jawohl, Herr Baron. Frau Gräfin macht Besuche mit den Kindern; der Herr
+Graf ist schon früher fortgeritten.“ Er sprach in seiner gewohnten
+ehrerbietigen Weise und schob eine Puppe, die er gerade in der Hand
+hatte, verlegen hinter sich.
+
+Teut nickte und ließ sich nieder. Es kam ihm sehr gelegen, den
+Vertrauten des Hauses einmal allein zu treffen, und er beschloß, ein
+Gespräch mit ihm anzuknüpfen.
+
+„Wie lange sind Sie eigentlich schon in der gräflichen Familie, Tibet?“
+
+„Seit meinem fünfundzwanzigsten Jahre,“ erwiderte dieser mit einem
+melancholischen Anflug in der Stimme.
+
+„Im Hause der Familie Butin oder bei Claireforts?“
+
+„Bei Claireforts.“
+
+„Und Sie hatten nie eine andere Beschäftigung oder Tätigkeit?“
+
+„Doch, Herr Baron!“
+
+„Und welche?“
+
+„Ich wollte mich ursprünglich dem Kaufmannsstande widmen.“
+
+„So so! Hatten Ihre Eltern schon Beziehungen zu der Familie?“
+
+„Nein, Herr Baron.“
+
+„Sie sind wohl schon ein guter Vierziger, Tibet?“
+
+„Ja, Herr Baron.“
+
+Nein--ja, Herr Baron! Auch im Verfolg des Gespräches gab er diese
+einsilbigen Antworten. Dieser Mensch sprach nur, wenn man ihn fragte,
+und dann lediglich das Notwendigste. Teut beschloß, es anders
+anzufangen, und indem er in bekannter Weise die Stiefelhacken
+zusammenschlug und den Schnurrbart drehte, sagte er mit starker
+Betonung.
+
+„Tibet!“
+
+„Herr Baron!“
+
+„Ich weiß, daß Sie eine große Anhänglichkeit an den Herrn Grafen und
+besonders auch an die Frau Gräfin haben. Sie wissen zugleich, daß ich
+ein aufrichtiger Freund der Familie bin. Nicht wahr, Sie glauben das?“
+
+Statt zu antworten, sah Tibet Teut einen Augenblick mit höchster
+Befremdung an. „Ja, ich verehre die Frau Gräfin wie niemand sonst.“ Die
+zweite Frage überging er.
+
+„Gut. So dachte ich. Aber zu mir haben Sie wenig Vertrauen, Tibet, nicht
+wahr?“ lächelte Teut.
+
+„Ich verstehe nicht, Herr Baron.“ Tibet schlug verlegen die Augen zu
+Boden.
+
+„Sie verstehen recht gut. Sprechen wir einmal offen miteinander.“
+
+Tibet stand noch immer mit der Puppe in der Hand, die wie gelähmt Arme
+und Beine hängen ließ. Wenn man diesen großen, hageren, ernsthaft
+dreinschauenden Mann in der dunklen Kleidung so dastehen sah, mußte man
+unwillkürlich lächeln.
+
+Als Teut die letzten Worte sprach, überfiel Tibet--man sah es
+deutlich--ein starkes Unbehagen. Zuletzt malten sich eine gewisse
+Abwehr, ja Trotz in seinen Mienen.
+
+„Also, Tibet,“ fuhr Teut unbekümmert fort, „ohne Umschweife! Hier im
+Hause ist nicht alles, wie es sein soll. Die Gräfin weiß keine
+Wirtschaft zu führen, der Graf leidet darunter--nicht nur in seiner
+Schatulle. Sie wissen das alles.--Das muß anders werden. Beide wünschen
+es auch, aber die Gräfin versteht es nicht zu ändern, und den Grafen
+halten andere Gründe zurück. Ich möchte bei Zeiten etwas verhindern, was
+sonst unabänderlich scheint. Wollen Sie mir helfen?“
+
+„Ich?“ fragte Tibet kurz, starrköpfig und fast aus der Rolle des
+Untergebenen fallend. „Ich bin ein Diener! Wie dürfte ich wagen, mich in
+die Angelegenheiten meiner Herrschaft zu mischen?“
+
+„Sie sind kein Diener hier im Hause, sondern ein Freund, zudem ein
+braver, ehrlicher Mann, Tibet. Versprechen Sie mir, um dieser
+Freundschaft willen, die Sie für die Familie hegen, mein treuer
+Verbündeter zu werden!“
+
+Einige Augenblicke stand Tibet unbeweglich; die Puppe war jetzt so tief
+herabgesunken, daß die kleinen lackledernen Schuhe mit Kreuzbändern den
+Fußboden berührten. Endlich sagte er aufschauend:
+
+„Herr Baron, ich will es mir überlegen. Ich danke Ihnen für Ihre gute
+Meinung. Gestatten Sie mir indessen jetzt--Ah, da kommen die
+Herrschaften bereits!“
+
+Und offenbar erleichtert und mit einer entschuldigenden Bewegung eilte
+er ans Fenster, guckte rasch hier- und dorthin und entfernte sich
+endlich, alle Siebensachen unter den Arm raffend, durch die nach dem
+Ausgang führende Thür.
+
+Teut sah nach der Uhr. Es war Tischzeit geworden und für seine Absichten
+somit zu spät. Während er noch zauderte, trat Clairefort von der
+entgegengesetzten Seite in den Salon, blickte überrascht auf, als er
+Teut in dem Stuhl sitzend fand, schritt förmlich auf ihn zu und sagte
+gezwungen:
+
+„Ah, ich glaubte Sie erst heut abend erwarten zu dürfen! Aber wenn es
+Ihnen gefällig ist--Zugleich meinen Dank für Ihre Artigkeit. Ich wäre
+natürlich zu Ihnen--“
+
+„Bitte, bitte!“ erwiderte Teut in seiner kurzen Weise. „Ich bin ja Ihr
+täglicher Gast! Weshalb wollten Sie sich zu mir bemühen? Ich stehe also
+ganz zu Ihrer Verfügung.“
+
+Mit diesen Worten machte er einige Schritte, Clairefort zu folgen. Aber
+zu gleicher Zeit öffnete sich auch die Thür und Ange, in einem reizenden
+Promenadenkostüm, das goldene Haar rückwärts in zwei nachlässige Knoten
+geschlungen, die Wangen von der kalten Luft sanft gerötet, das Gesicht
+ganz umrahmt von einem kleinen, rosaseidenen Hütchen, trat rasch und
+lebhaft ins Zimmer. Ihr folgte die Schar ihrer Engel, eins schöner;
+graziöser und vornehmer als das andere. In der That ein entzückender
+Anblick.
+
+Des Grafen nicht achtend, ganz beschäftigt mit dem Bilde, das sich ihm
+bot, eilte ihr Teut entgegen, und sie begrüßten sich mit einer
+Herzlichkeit, als ob sie eine lange Zeit getrennt gewesen wären.
+
+Aber in demselben Augenblick und während die Kinder Teut jubelnd
+umringten, veränderten sich Anges Züge und erhielten einen furchtsamen
+Ausdruck.
+
+Da stand der Graf, finster, bleich, und biß sich auf die Lippen. Da
+stand er, der Herr des Hauses und weder Frau noch Kinder näherten sich
+ihm. Aber alle umringten ihn--ihn, den Hausfreund, dem auch er sein
+größtes Vertrauen geschenkt und den er doch in diesem Augenblick mehr
+haßte als den Tod.
+
+„Wartet mit dem Essen!“ sagte Clairefort, seinen Unmut schlecht
+verbergend, und machte eine Bewegung gegen Teut, ihm zu folgen.
+Letzterer sah noch Anges erbleichendes Gesicht und warf ihr einen
+beruhigenden Blick zu. Dann schloß sich hinter beiden Männern die Thür.
+
+Als sie Platz genommen, knöpfte Clairefort den Rock auf und holte tief
+Atem. Teut aber sagte nachlässig und mit einem Anflug von Ungeduld:
+„Nun, was steht zu Diensten, Clairefort?“
+
+Durch diesen Ton war jener schon halb entwaffnet; jedenfalls fand er
+nicht gleich das Wort. Und als er es noch immer nicht fand und, um es zu
+gewinnen, aufstand und das Fenster öffnete, obgleich von draußen der
+Spätherbstnachmittag kühl ins Zimmer drang, erhob sich Teut und sagte:
+
+„Nun, Clairefort, dann will ich zuerst sprechen. Sie wünschen abermals
+über Ihre Frau mit mir zu reden, oder richtiger über Ihre Frau und mich,
+und Sie wollen mir sagen, daß es besser ist, wenn alles beim alten
+bleibt, ja noch mehr, daß Sie mich mehr aus der Entfernung schätzen als
+in Ihrer Nähe und deshalb--nein, ich bitte, lieber Clairefort, wir
+wollen einmal deutsch sprechen!--und deshalb wünschen, daß ich meine
+Besuche einstelle. Sie sind in blinder, thörichter Eifersucht befangen
+und zeigen dadurch, wie wenig Sie den Charakter Ihrer edlen Frau zu
+schätzen wissen, wie gering Sie auch von mir denken. Aber da ich Ihnen
+nachfühlen kann, ja heute mich ganz hineinzuversetzen vermag, weshalb es
+Ihnen schwer wird, zu thun, was Sie als recht befunden, was auszuführen
+aber eine heilige Pflicht ist gegen Ihre Familie, gegen Ihr künftiges
+Wohlergehen, deshalb sagte ich als Freund, der Ihre Frau wie eine
+Schwester liebt und der Ihnen warm und herzlich zugethan ist: ‚ich will
+Dir helfen. Lasse mich handeln, und wenn's gelungen ist, dann heiße mich
+meinethalben gehen.‘ So wollte ich es, so dachte ich es! Sie,
+Clairefort, zweifelten schon bei dem ersten Schritt, den ich that, wie
+mir scheinen will, an meiner Aufrichtigkeit und an der Reinheit meiner
+Gesinnungen. Als Ihre Frau mir dankte und es in ihrem kindlichen Herzen
+überströmte, standen Sie da wie ein zorniger Brigant und kämpften nur
+mühsam Ihre Leidenschaft nieder. Und nun noch eins! Jederzeit bin ich
+für Ihre Frau auf der Welt--für sie und ihre Kinder! Aber ich bitte Sie
+auch um derentwillen, unterdrücken Sie so falsche, durch nichts
+gerechtfertigte Regungen! Habe ich durch meine Rede unangenehme
+Empfindungen geweckt, habe ich Ihnen gar wehe gethan, Clairefort, so
+sehen Sie mir dies nach! Vergessen Sie! Es mußte Klarheit zwischen uns
+sein! So, und jetzt lassen Sie mich gehen. Ich wünsche noch, Ihrer Frau
+zu sagen, daß wir uns als Männer ausgesprochen haben. Ich wünsche es,
+weil ich den furchtsamen Blick in ihrem lieben Gesicht beobachtete und
+sie niemals leiden sehen möchte, wo immer es in meiner Macht steht, dies
+zu verhindern.“
+
+Clairefort hatte das Fenster wieder geschlossen. Er stand, das Gesicht
+der Scheibe zugewendet, bewegungslos. Einigemal hatte es in seinem
+Körper gezuckt, mehreremal ballte er die Faust--aber er hatte kein Wort
+entgegnet und sprach auch jetzt nicht. Als Teut sich zur Thür wandte,
+als sich in seinem langsamen Schritt nicht Zwang, wohl aber die
+Erwartung einer Erwiderung von jener Seite ausdrückte, kehrte sich
+Clairefort zu ihm.
+
+Es war feucht in seinen Augen, ein unsagbarer Schmerz irrte um seine
+zuckenden Mundwinkel, und er sah Teut mit einem so hilflosen Blicke an,
+daß dieser auf ihn zueilte und ihm die Hand drückte.--
+
+War nun endlich alles im alten Geleise? Teut war darüber nicht im
+klaren. Ange aber schmiegte sich ängstlich und fragend an den Freund,
+als er ihr Gemach betrat. Sobald er aber auf ihre hastigen Fragen mit
+jener vertrauenerweckenden Ruhe antwortete, die ihn so anziehend machte,
+entwichen die ernsten Schatten auf ihrem Gesicht, wiederbelebte Hoffnung
+verschönte ihre Züge und in ihrem unzerstörbaren Sanguinismus glaubte
+sie schon wieder das Beste.
+
+„Sie bleiben heute nicht zu Tisch, Teut? Wann kommen Sie? Wann reiten
+wir aus? Sie sind doch morgen bei dem Diner? Sehen wir uns noch?“ So
+fragte sie und so schien bereits alles wieder verwischt, was sie noch
+eben so zaghaft berührt hatte.
+
+ * * * * *
+
+Die Zeit war vergangen.
+
+Teut hatte durchgesetzt, was er wollte. Der größte Teil der Dienerschaft
+wurde entfernt. In das Hauswesen, in Küche und Keller kam eine andere
+Ordnung, in die Erziehung der Kinder ein anderer Geist. Die neue
+Gouvernante erhielt die gemessensten Befehle und empfing Vollmachten,
+die verhinderten, daß das frühere planlose Treiben fortgesetzt wurde.
+
+Unter dem Vorgeben, daß ein trauriges Familienereignis verbiete,
+Gesellschaften mitzumachen und in gewohnter Weise Besuch im Hause zu
+empfangen, ward auch diese kostspielige Seite des bisherigen Lebens
+einschränkt, und Ange mußte sich dazu verstehen, mit einer streng
+begrenzten Summe die eigene Toilette und die ihrer Kinder zu bestreiten.
+Das alles schaute sie mit harter Nüchternheit an; die Schule des Lebens
+schlägt ihre Pfade nicht durch blühende Büsche, sie fordert Entbehrungen
+und Kämpfe.
+
+„Wo sind die Kinder?“ fragte Ange, und die Antwort hieß: „Sie lernen,
+sie haben Unterricht.“ Wenn sie den Kopf in die Thür steckte, sah sie
+das strenge, unbewegliche Gesicht der neuen Gouvernante und oft genug
+ein Thränlein in den Augen ihrer Lieblinge. Die Befriedigung
+augenblicklicher Neigungen stieß auf Schwierigkeiten. Wenn sie Einkäufe
+gemacht hatte und die Rechnung vorgelegt wurde, gab es Szenen mit
+Carlos. Er sandte den Diener ohne Geld zurück und dieser stand ratlos
+da. Tibet lief mit bedrückter Miene hin und her, und durch die offene
+Thür sah Ange den wartenden Boten, der nicht befriedigt wurde, und die
+betroffenen Gesichter ihrer Umgebung, die ihre stummen Bemerkungen
+machten.
+
+„Konrad soll anspannen!“ befahl sie, und wenn sie zum Ausfahren
+gerüstet, hinabsteigen wollte, stand statt des Wagens der Kutscher vor
+ihr und erklärte, das eine Pferd sei krank. Ange fragte nicht, weshalb
+man statt der Schimmel nicht die Braunen anspanne; die Braunen waren
+verkauft worden.
+
+Wenn es ihr plötzlich durch den Kopf fuhr, wie früher Freunde um sich zu
+versammeln, schüttelte Carlos den Kopf, und statt des reich beladenen
+Frühstückstisches, welcher für gern gesehene Gäste immer bereit gewesen
+war, standen nun kleine Brotschnittchen neben einer bereits
+angebrochenen Flasche Wein auf der sauber gedeckten, aber kargen Tafel.
+
+Nichts durfte mehr angeschrieben werden. Tibet erklärte, lediglich Geld
+für die täglichen Bedürfnisse zu haben und besondere Ausgaben nur nach
+Rücksprache mit dem Grafen bestreiten zu können.
+
+Drunten in Küche und Stall begegnete man mürrischen Mienen. Teils
+wirkte die Kündigung nach, teils verglich man die alten Zeiten mit den
+neuen und fand sich enttäuscht. Die reichlichen Trinkgelder, welche die
+Gäste bei dem täglichen Verkehr und nach den vielen Gesellschaften in
+die Hände der Dienerschaft hatten gleiten lassen, blieben jetzt aus.
+
+Die Familie Clairefort ward von ihrer eigenen Umgebung hämisch und
+tadelnd beschwatzt, und an die plötzlichen Veränderungen und
+Einschränkungen knüpften sich zudem die übertriebenen Vermutungen.
+
+Bisweilen wandte sich Ange in ihrer Ratlosigkeit an Carlos und bat ihn,
+in einigen Dingen nachzugeben. Sie schilderte ihm die vielen kleinen
+Ungelegenheiten, berichtete von diesem und jenem und forderte Abhilfe.
+Wenn sie dann so eindringlich auf ihn einsprach und mit ihrer
+bezaubernden Art durchzusetzen versuchte, was sie wünschte, gab er wohl
+nach; ja einigemal brauste er sogar auf, und böse Worte gegen Teut
+entschlüpften ihm.
+
+Aber nur, wenn Erinnerungen an frühere Zeiten seinen Stolz weckten, wenn
+er Teuts Hand allzu deutlich zu erkennen glaubte, dann überfiel ihn ein
+eigensinniger Widerstand, und die Eifersucht verführte ihn zu falschen
+Deutungen. Es erfolgten dann Auseinandersetzungen mit dem Rittmeister,
+der aber stets ruhig blieb und immer wieder auf die festen Abmachungen
+verwies, welche von Anbeginn vereinbart waren.
+
+Anges Klagen entstanden freilich immer nur aus Hilflosigkeit; sie dachte
+niemals an sich. Wenn aber das Schluchzen der Kinder über die ihnen
+geraubte Freiheit an ihr Ohr schlug, verließen sie alte guten Vorsätze.
+Oft flüchtete sie sich mit ihrem Kummer in ein entfernteres Gemach und
+weinte sich dort aus. Es gab Augenblicke, wo sie hätte Teut hassen
+können.
+
+Aber dieser feste Charakter ließ sich nicht beirren. Es schien, als ob
+er unempfindlich sei gegen jeden Angriff, jeden Vorwurf und Tadel. In
+seiner kurzen, bestimmten Art verteidigte er seinen Standpunkt, ließ
+sich nicht überreden und nicht überzeugen, und nur einmal, als es ihm
+gar zu arg wurde, riß er an dem langen Schnurrbart und rief:
+
+„Entweder--oder! Ich habe Euer beiderseitiges Wort! Reut es Euch,
+macht's nach Eurem Behagen!“
+
+Freilich sah Teut auch, nachdem er alles geordnet, daß die Fröhlichkeit
+ihren. Auszug aus dem Hause gehalten hatte. Clairefort ward ernster,
+mißmutiger, unzugänglicher als je, und Ange, der leichtbeschwingte
+Vogel, der Freiheit und Bewegung, Licht und Luft um sich fühlen mußte,
+ließ die Flügel hängen. Einigemal griff sich Teut an die Stirn und
+überlegte, ob er auch recht gehandelt habe. Allerdings, verständige
+Verhältnisse waren geschaffen, aber alles schien in dem Hause geknickt.
+Die Kinder, diese frischen, ungebundenen und zärtlichen Geschöpfe,
+schlichen eingeschüchtert und befangen umher. Die Zucht in den
+Schulstunden, die Arbeiten, die sie außer diesen beschäftigten, der
+jetzt fehlende fröhliche Trost, den sie früher bei Mama Ange fanden,
+machte sie verdrossen und verschlossen, und es zeigte sich, daß sie der
+Geist der Mutter beherrsche, der nun einmal nur im hellen Sonnenlicht
+und in der Freiheit gedeihen konnte. Und die Rückwirkung blieb auch bei
+Teut trotz äußerer Unempfindlichkeit nicht aus. Mit Wehmut sah er, wie
+ernst Ange geworden war und wie sie sich nach dem alten, zwanglosen
+Leben zurücksehnte. Selten noch tönte ihr helles, herzliches Lachen
+durch die Räume.
+
+Einmal fand er sie weinend unter den Kindern sitzen und sich mühend,
+ihnen bei ihren Arbeiten zu helfen. Kein heiterer Zug glitt über ihr
+Gesicht, als Teut sich näherte, und die wohlerzogenen Kleinen erhoben
+sich, gaben ihre Händchen und machten ihre Knixe, statt wie früher
+stürmisch auf ihn zuzueilen und ihn zu umschlingen.
+
+Jeden Tag sandte Teut das frische Bouquet, jeden Tag nahm es Ange
+entgegen, aber sie hatte keine Freude mehr daran. „Ach, schicken Sie
+doch nicht die schönen Blumen, Teut; sie verwelken ja doch--und es ist
+überflüssig--und kostspielig--“
+
+Sie wandte sich ab und suchte ihre Thränen zu verbergen.
+
+„Ange! Ange!“ rief Teut. „Das von Ihnen? Sagen Sie mir, was Sie
+bekümmert, weshalb Sie so hart, so ungerecht gegen mich sind?“
+
+„Schaffen Sie die Gouvernante aus dem Hause; ich hasse die Person!“ rief
+Ange in furchtbarer Erregung. „Aber bald, bald, sonst passiert ein
+Unglück! Sie vergiftet meine süßen Kinder mit ihrer Strenge, ihrer
+Pedanterie und ihrer scheinheiligen Christenlehre. Sehen Sie doch--was
+man aus ihnen gemacht hat? Ist das noch mein feuriger Carlitos, sind das
+meine Erna und Jorinde; und die beiden besten Kinder, Ben und Fred? Was
+ist aus ihnen geworden? Ange habe ich ihr schon entzogen! Sie hat das
+kleine Geschöpf mit einem Lineal geschlagen! O, ich erwürge diese Person
+nächstens!“
+
+„Ange, Ange, beruhigen Sie sich! Vieles kann ja nach Ihren Wünschen
+geschehen! Carlos wird gewiß gutheißen, was Sie verständigerweise
+anordnen.“
+
+„Er? Der? Sitzt er nicht auf seinem Zimmer und grübelt den ganzen Tag?
+Sehen wir ihn anders als bei den Mahlzeiten? Ist er noch mein bester,
+heißgeliebter Mann?--Ein verdrießlicher Hypochonder, ein rauher,
+abwehrender Mensch hockt drüben, der an nichts Freude hat--nicht
+einmal“--jetzt traf bitterliches Schluchzen Teuts Ohr--„an seiner
+Familie, an seinen Kindern! O, wie grenzenlos unglücklich bin ich! Wo
+ist die alte, gute Zeit geblieben! Unser Haus ist ja eine Totengruft
+geworden!“
+
+Unter heftiger Bewegung hörte Teut das alles an. Trug er denn die
+Schuld? Hatte er das alles heraufbeschworen?--Vielleicht! Er erkannte,
+daß meistens nur die Not selbst zur Lehrmeisterin der Menschen wird. Er
+hatte eingegriffen in die Pläne des Schicksals. Statt aus dem Regen den
+Sonnenschein von neuem hervorbrechen zu lassen, hatte er diesem zu
+frühzeitig ein Dach gebaut, und ein Dach, welches das goldene Licht
+verscheuchte.
+
+ * * * * *
+
+Teut saß in seinem Zimmer und arbeitete. Seit Stunden war er nicht vom
+Schreibtisch gewichen, und einige Male lehnte er sich zurück und blickte
+sinnend und verloren die Pinselstriche der flüchtigen Malerei zählend,
+zur Decke empor. Die letzten Vorgänge hatten einen tiefen Eindruck auf
+ihn gemacht. Er litt mit seiner geliebten Ange und verstand alles und
+sann, wie ihr zu helfen sei. Aber konnte er ihr die sorglose
+Fröhlichkeit zurückgeben? Konnte er sie wieder jung machen? Was sie
+innerlich litt, übertrug sich auf ihre Erscheinung. Schon begann sich
+etwas von dem holden Zauber zu lösen, der sie vor Jahren so
+unwiderstehlich gemacht hatte.
+
+Und dann sagte er sich doch, daß nicht die veränderte Lebensweise schuld
+sein könne, sondern ganz andere Dinge Ange beschäftigen müßten. Ja, das
+war es! Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe, und den Ersatz, welchen
+sie früher in ihren Kindern fand, entbehrte sie jetzt doppelt, da man
+sie ihr halb genommen hatte. Aber das letztere konnte doch wieder ins
+rechte Geleis gebracht werden. Ein Wechsel in der Persönlichkeit, die
+den Unterricht erteilte, war schnell zu bewerkstelligen. Es brauchte
+nicht alles wie bisher auf die Spitze getrieben zu werden: es gab auch
+freundliche Ermahnungen statt rücksichtslose Strenge, und es handelte
+sich nicht um Lernen und Wissen allein. Der gute Mittelweg war auch hier
+der richtige, und indem man diesen einschlug, würde wiederkehren, wonach
+Ange verlangte. Eines stand fest in Teut: auch jetzt mußte er
+eingreifen, da Clairefort zu keiner Initiative zu bewegen war.
+
+Wie oft hatte Ange geklagt, daß sie nicht auszukommen vermöge, wie sehr
+sie sich einschränken müsse. Clairefort blieb bei alledem taub. Aus ihm
+war jetzt ein ängstlicher Sparer, ein Geizhals geworden.
+
+„Kann ich Sie heute einmal ruhig sprechen? Sind Sie zu hören aufgelegt,
+liebe Ange?“ fragte Teut an einem der nächsten Tage. Sie nickte und
+legte die Hände in den Schoß. Seltsam! Teut bemerkte, daß sie sich
+vernachlässigte, keinen sonderlichen Wert mehr auf ihr Äußeres legte:
+auf Blumen und Schmuck wie früher.
+
+Auch heute sah sie unvorteilhaft aus. Das graue Hauskleid stand ihr
+nicht eben gut, und das wundervolle Haar saß versteckt unter einer
+Haube, die sie um viele Jahre älter machte.
+
+„Ich wollte Ihnen nach unserem letzten Gespräch eine Bitte vorlegen,“
+fuhr Teut fort. „Ich habe viel über das nachgedacht, was Sie mir gesagt
+haben.“
+
+Sie neigte das Haupt, ohne Ausdruck in ihrem stillen Gesicht.
+
+„Ich höre, daß Carlos seinen Abschied nehmen will, daß er ihn nehmen
+muß--“
+
+„Wie?“ unterbrach ihn Ange ängstlich.
+
+„Ja! Sein Zustand--sein hartnäckiges Nervenleiden macht ihm die Ausübung
+seiner militärischen Pflichten unmöglich. Besser denn, bei Zeiten die
+anstrengende Thätigkeit einstellen. Aber--dadurch wird sich--Ihre
+Einnahme noch mehr verkleinern, Ange--“
+
+„Ja gewiß!“ sagte sie tonlos.
+
+„Da wollte ich denn--“--er zögerte, riß an seinem Schnurrbart und eine
+seltsame Röte trat auf seine starken Backenknochen--„Sie bitten, Ange.
+daß Sie mich wie einen Bruder ansehen mögen, daß Sie--ich weiß nicht, ob
+Sie mich verstehen, Ange--daß wenn Sie etwa einmal einen Wunsch
+haben--etwa für die Kinder einen Wunsch haben sollten--wenn--wenn--Sie
+hören nicht, Ange?“
+
+„O, o!“ hauchte die junge Frau. „Nicht weiter!“ Ihre Stimme versagte vor
+Rührung; sie vermochte nicht zu sprechen, und sie trocknete die Thränen
+mit dem Tüchelchen, das sie hervorgezogen hatte.
+
+„Doch, doch,“ sagte Teut weich und ergriff ihre Hand, ihre kleine Hand,
+die so schmal und krank heute aussah. Aber weiter wagte er nicht zu
+sprechen; es trat eine längere Pause ein. Die Dinge ringsum erschienen
+noch ernster, stummer als sonst. Es wehte ein Hauch von trostloser Öde
+durch das Haus, in dem das Lachen erstorben war.
+
+„Und die Gouvernante? die Gouvernante? Schicken wir sie fort?“
+flüsterte Ange zaghaft. Sie dachte nicht an sich: immer waren es die
+Kinder, mit denen sie sich in ihren Gedanken beschäftigte.
+
+„Gewiß, gewiß!“ betätigte Teut lebhaft. „Noch heute spreche ich mit
+Carlos! Alles, alles soll sich nach Ihren Wünschen gestalten! Alles, was
+Sie, meine teure Ange, wieder fröhlich--und glücklich machen kann!“
+
+„Ein Gott, kein Mensch sind Sie!“ tönte es von Anges Lippen. Sie verbarg
+ihr Gesicht in den Händen und schluchzte.
+
+Teut stand auf und trat ihr näher. Sie erhob den Blick--einen Blick, in
+dem der Abglanz ihrer Seele sich spiegelte, einen Blick, in dem der Mann
+alles fand, was er je zu hoffen gewünscht, und alles, was im Austausch
+Liebe gegen Liebe zu geben vermag!
+
+Es war vorauszusehen, daß von dem, was sich im Laufe der Zeit in der
+Clairefortschen Familie zugetragen hatte, mancherlei hinausdrang, und
+daß die öffentliche Meinung sich begierig und mit wenig Wohlwollen
+eines Gegenstandes bemächtigte, der zu so verschiedenen Deutungen Anlaß
+gab.
+
+In erster Linie ward das Verhältnis Teuts zu Frau Ange besprochen,
+und es fand kaum ein mündlicher Austausch in den C.schen
+Gesellschaftskreisen statt, ohne daß die holde Frau mit bösen Nachreden
+überschüttet ward. Wie der Sturm rücksichtslos über ein in seinem
+unschuldigen weißen Blütenschmuck stehendes Bäumchen dahinwütet, so
+zerpflückte man Anges Ehre und guten Ruf. Da der Graf, hieß es, ein
+bedauernswerter, durch sein Nervenleiden kaum mehr zurechnungsfähiger
+Mann wäre, sei es nicht zu verwundern, daß das empörende Treiben
+ungeahndet unter seinen Augen sich vollziehe. Auch könne man es einem
+lebenslustigen, unverheirateten Husarenrittmeister nicht verübeln, wenn
+er die süßen Früchte, welche eine so verführerische und gefallsüchtige
+Frau ihm darbiete, nicht zurückweise. Ärgererregend genug sei es, daß er
+nicht einmal die gewöhnlichen Rücksichten beobachte und das Verhältnis
+so offen zu Tage treten lasse; aber auch das werde durch ihr
+exzentrisches und leichtfertiges Wesen eher entschuldigt.
+
+In dieser und ähnlicher Weise erging sich die Gesellschaft in ihrem
+Urteil und hielt es--selbst nur allzu erprobt in Dingen, die man jenen
+unterzuschieben sich unterfing--für unmöglich, daß Menschen etwas
+anderes verbinden könne als eine strafbare Leidenschaft.
+
+Aber man blieb dabei nicht stehen. Die Vermögensverhältnisse Claireforts
+wurden gleichfalls einer Beurteilung unterzogen. Es sei nichts mit dem
+großen Reichtum! Nur der maßlosen Verschwendungssucht der Frau
+widerstandslos nachgebend, habe Clairefort die Villa in solcher
+luxuriösen Weise herrichten lassen und einen Aufwand gutgeheißen, der
+jeder Beschreibung spotte.
+
+Nun sei der Rückschlag bereits eingetreten. Niemand wolle mehr Kredit
+geben; ja, man habe den Dienstboten, welche man entlassen mußte, kaum
+den Lohn zahlen können. Des Grafen schwermütiges Leiden sei auf diese
+mit täglicher Sorge verknüpften Verhältnisse zurückzuführen, und wenn
+von seinem Abschied die Rede, so sei dieser wohl kein freiwilliger.
+
+Ah, und diese Kinder! Habe man jemals eine unverantwortlichere Erziehung
+erlebt? Wie die Affen wandelten sie einher und erregten Ärger bei alt
+und jung durch ihre Geziertheit und ihr hochmütiges Auftreten. Zuletzt
+gedachte man auch noch des geheimnisvollen Verhältnisses zwischen Tibet
+und dem Grafen und bezeichnete den Kammerdiener als einen gefährlichen
+Menschen, der im Trüben fische und das sonderbar erscheinende
+Vertrauen, das man ihm schenke, lediglich zu seinem Vorteil ausbeute.
+
+Bisher war Teut nichts von allen diesen Dingen zu Ohren gekommen. Es lag
+auch in der Natur der Sache, daß man gegen ihn Verhältnisse nicht
+berührte, in denen er selbst eine so hervortretende Rolle spielte.
+
+Inzwischen aber ereignete sich etwas, das ihm über die Anschauungen der
+Menge die Augen öffnete und was nicht ohne Rückwirkung auf ihn selbst
+blieb. Die Offiziere verkehrten häufig in der Familie eines Herrn von
+Ink, eines Gutsbesitzers, der vor längeren Jahren, bei Gelegenheit einer
+zweiten Heirat, seinen Besitz verkauft und eine Übersiedelung in die
+Stadt bewirkt hatte. Er war ein mehr als harmloser Mensch, der niemandem
+sonderlich gefiel, aber auch niemandem im Wege stand. Seine Gattin
+dagegen gehörte zu jenen Frauen, deren rücksichtsloser Egoismus und
+deren mit einem bedeutenden Verstand verbundene Thatkraft oftmals
+bedauern lassen, daß ihnen nicht eine andere Stellung und ein anderer
+Wirkungskreis in der Welt angewiesen ist.
+
+Frau Olga konnte nur hassen oder lieben; richtiger gesagt: nur hassen
+oder die Menschen sich dienstbar machen, denn sie besaß neben einem
+übertriebenen Hochmut, wenig Herz und zertrat ohne Bedenken, was sich
+ihr hindernd in den Weg stellte. Es war indessen bei allen diesen
+Eigenschaften bezeichnend, daß sie gegen Menschen, die eine Stellung in
+der Gesellschaft einnahmen, sich von einer geschmeidigen Höflichkeit
+zeigte und nicht ruhte, bis es ihr gelang, in einen engeren Verkehr mit
+ihnen zu treten.
+
+Ihr Hauswesen war musterhaft geordnet; man amüsierte sich gut in dem
+Inkschen Hause. Frau Olga befolgte eine weise Lehre, die so wenigen
+bekannt ist und jedenfalls selten befolgt wird. Sie betrachtete den Gast
+wie einen Vogel, der sich nach seiner Neigung hier oder dort unter den
+Baum flüchtet, nascht, zwitschert und nach Geschmack und Laune wieder
+davonfliegt.
+
+Der Verkehr mit dem sprichwörtlich reichen Rittmeister Baron von
+Teut-Eder war seit Jahren für Frau Olga eine unerfüllte Hoffnung
+geblieben. Alle ihre Versuche, ihn heranzuziehen, scheiterten an seiner
+höflichen, aber entschiedenen Abwehr. Dies reizte Frau von Ink um so
+mehr, als Widerstand in solchen Fällen den Wert erhöht. Überdies besaß
+sie drei Töchter, von denen eine aus der ersten Ehe ihres Gatten
+stammte.
+
+Klara von Ink, ein blasses, äußerst graziöses, aber nicht mehr ganz
+junges Mädchen, sah man häufig mit verweinten Augen. Zwei Menschen
+konnten sich nicht ehrlicher hassen als Mutter und Stieftochter, aber
+selten fand man auch zwei so verschiedene Charaktern.
+
+Klara war eine offene, aufrichtige, allem Schein abgeneigte Natur,
+während die Tiefen der Seele einer Frau Olga noch niemand ergründet
+hatte. Natürlich wünschte Frau von Ink ihre beiden recht hübschen Kinder
+zu verheiraten, aber nicht minder lag ihr daran, sich endlich Klaras zu
+entledigen. Teut war eine überaus glänzende Partie. Beide paßten im
+Alter zusammen, und aus dieser Verbindung konnten sich ebensoviele
+Annehmlichkeiten entwickeln, wie jetzt Mißhelligkeiten an der
+Tagesordnung waren. Im übrigen würde Frau Olga auch ihrer Tochter
+gleichen Namens oder der hübschen Eva nichts in den Weg gestellt haben,
+obgleich der Rittmeister fast deren Vater hätte sein können.
+
+Ink und Teut hatten sich neuerdings bei einem Pferdehandel berührt.
+Daraus entwickelte sich eine mehrfache Begegnung, die mit sich führte,
+daß Herr von Ink den Rittmeister eines Vormittags in sein Haus
+einzutreten und ihn an dem eben servierten Frühstück teil zu nehmen bat.
+Teut konnte sich dem nicht entziehen, und nun hatte die ehrsüchtige Frau
+endlich ihren Wunsch erreicht! Bevor der Gast Abschied nahm, mußte er
+wohl oder übel noch eine Einladung zu einem unmittelbar bevorstehenden
+Diner annehmen. Welch ein Triumph für Frau Olga, die sicher eine der
+gewohnheitsmäßigen Absagen im letzten Augenblick gefürchtet hatte, als
+der vielbesprochene Baron wirklich zu der festgesetzten Stunde eintraf
+und damit dauernd für das Inksche Haus gewonnen zu sein schien. Aber
+auch noch einen anderen längst verfolgten Plan hoffte Frau Olga durch
+die Annäherung an den Rittmeister zu erreichen. Auch Claireforts
+gehörten zu den Personen, mit denen es ihr nicht gelungen war, in nähere
+Berührung zu treten, und nun fand sie eine bequeme und, wie sie
+vermeinte, sichere Anknüpfung durch Teut. Die gräfliche Familie einmal
+bei sich zu sehen, einen Blick in das dortige Hauswesen werfen zu können
+oder gar mit Claireforts dauernd zu verkehren, gehörte zu jenen
+sehnsüchtigen Wünschen, deren Erfüllung sie kaum zu hoffen gewagt.
+
+Schon bei dem Mittagessen--Teut hatte als letzter eingetretener Gast die
+Ehre, die Frau des Hauses zu führen--brachte Olga das Gespräch auf
+Claireforts, aber dieser wich geschickt aus. Er erzählte kurz und
+bedauernd, daß es seinem Freunde körperlich und geistig schlecht gehe,
+daß die Frau Gräfin sich infolgedessen mehr und mehr von aller
+Geselligkeit habe zurückziehen müssen und im übrigen die vollendetste
+Frau unter Gottes Sonne sei. Er ließ auch einiges über seine Person und
+seine Verhältnisse fallen und erwähnte, daß die Verwaltung seiner
+Besitztümer durch fremde Hand manche Unzuträglichkeiten mit sich führe.
+Er sei aber, wie er hinzufügte, ein Gewohnheitsmensch und zudem ein
+eingereichter Soldat, der nur sein Handwerk, seine Pferde und die Jagd
+liebe und dabei doch so bequem werde, daß er beispielsweise eine
+Einladung seines Vetters zu einem auf acht Tage berechneten Feste auf
+dessen Gütern ausgeschlagen habe.
+
+Nur eins hätte ihn bestimmen können, seines Verwandten Aufforderung
+Folge zu leisten, und zwar der Wunsch, darauf hinzuwirken, daß dieser
+unverbesserliche Junggeselle nun endlich heirate.
+
+„Ah, das sagen Sie?“ rief Frau von Ink, von diesem Gespräch besonders
+gefesselt, „Sie, der Sie ja fast ein Weiberfeind sind, das heißt--mit
+einer Ausnahme,“ fügte sie lächelnd hinzu.
+
+„Ich bestreite dies entschieden, gnädige Frau,“ erwiderte Teut, ohne den
+Schlußsatz zu beachten. „Ich verehre die Frauen wie alles Schöne auf der
+Welt, aber ich habe kein Glück und kein Geschick im Verkehr mit ihnen.
+Zudem--je älter man wird--“
+
+„Sie sprechen von Alter!?“
+
+Teut nickte. „Gewiß, wie hoch schätzen Sie mich, gnädige Frau?“
+
+„Nun, jedenfalls sind Sie in dem besten--im Heiratsalter. Was, liebes
+Kind?“ unterbrach sie sich entschuldigend, als plötzlich Eva hinter
+ihren Stuhl trat und eine Frage an sie richtete.
+
+Teut schob sich artig zurück, während die Damen einige Worte
+austauschten, und zugleich beobachtete er Olgas Tochter genauer. Eva
+glich einer wilden Rose in ihrer Erscheinung: sie war in der That sehr
+hübsch, aber das Gesicht war geistlos.
+
+„Ich bitte um Verzeihung!“ wandte sich Frau Olga wieder zu ihrem Gast.
+
+„Ein schönes junges Mädchen,“ sagte Teut verbindlich und von einer
+gewissen Absicht beherrscht. „Sie haben hier gleich einen Beweis, daß es
+unmöglich ist, die Frauen nicht zu verehren.“
+
+Frau Olga sah mit einem Anflug angenehmer Überraschung den Sprechenden
+an. Hatte sie recht gehört? Sie wußte von Teut, daß er wohl Derbheiten,
+aber selten Artigkeiten zu sagen pflegte.
+
+„Ah, Sie Spötter!“ erwiderte sie, in der Absicht, mehr zu hören. Teut
+aber lächelte und schwieg. Es gefiel ihm, sie in Zweifel zu lassen.
+Endlich sagte er:
+
+„Ihre beiden Jüngsten--Zwillinge, wenn ich nicht irre?--sind gleich
+liebreizend. Das ist sehr schlimm.“
+
+„Schlimm? Wie so? selbst unter der Voraussetzung der Richtigkeit Ihrer
+schmeichelhaften Behauptung.“
+
+„Nun schlimm insofern, gnädige Frau! als doch niemand beide Damen zu
+heiraten vermag, und weil eine von ihnen zu wählen, neben der höchsten
+Befriedigung des Besitzes zugleich den höchsten Schmerz über einen
+sicheren Verlust hervorrufen würde.“
+
+„Ich vermute, Sie wollen ein wenig Spott treiben,“ sagte Frau Olga.
+„Überhaupt--und damit zugleich ein offenes Bekenntnis--, nachdem ich
+endlich das Glück habe, Sie näher kennen lernen zu dürfen, finde ich
+doch die Bestätigung dessen, was man mir so oft erzählt hat.“
+
+„Nur eine Bestätigung?“ scherzte Teut. „Ich hatte gehofft, daß meine
+Person die Beschreibung weit überträfe, denn ich bin überzeugt, Sie
+finden nur Gutes.“
+
+„Wer weiß! Sie sind der erste Mann, der mir im Leben begegnet ist, vor
+dessen Sarkasmus ich mich fürchte.“
+
+Dergleichen halbe Artigkeiten und halben Tadel enthaltende Äußerungen
+liebte Frau Olga. Sie hatte unzählige bereit, wenn sie jemanden fesseln
+wollte.
+
+Zu ihrem Erstaunen sagte Teut ernst:
+
+„Es liegt vielleicht etwas Berechtigtes darin, gnädige Frau. Ich bin ein
+so ehrlicher Hasser der gesellschaftlichen Lüge und Vergeltung, daß ich
+rücksichtslos meine Meinung, oft genug meinen Abscheu dagegen
+ausspreche. Und natürlich, jeder, der nicht mit Komödie spielt, wird
+naturgemäß gefürchtet.“
+
+Frau Olga kam in eine etwas unbequeme Stimmung; es war ja fast
+undenkbar, daß ein Mann von so guter Erziehung wie Teut diese Bemerkung
+gegen sie persönlich zugespitzt hatte, aber andererseits konnte sie kaum
+anders, als diese auf sich beziehen.
+
+Es lag auch in ihrer Art, dergleichen nicht zu übergehen, denn ihre
+Klugheit verließ sie nur allzu häufig, wenn ihre Empfindlichkeit oder
+ihre Eitelkeit verletzt wurden. Sie entgegnete deshalb in einem recht
+schroffen Tone:
+
+„Nein, meine Furcht stützt sich auf etwas anderes, Herr Rittmeister. Was
+Sie hervorheben, könnte ja in unserem Verkehr überhaupt keinen Anlaß zu
+einer solchen geben!“
+
+„Natürlich,“ sagte Teut ernsthaft, ließ aber einen infam ironischen Zug
+um seine Mundwinkel spielen. „Und bitte, weiter, meine Gnädige?“
+
+Frau Olga hob in einiger Erregung das Glas empor, das Teut eben gefüllt
+hatte, trank es hastig aus und erwiderte, mühsam ihren Unmut
+versteckend:
+
+„Ich liebe die Gradheit und Offenheit wie Sie. Diese kann mich nur mit
+Respekt erfüllen und wird mir nie Unbehagen einflößen. Aber Ihre--“ Sie
+stockte.
+
+„Nun, gnädige Frau?“
+
+„Ah, gleichviel!“ machte Olga und zuckte die Achseln.
+
+„Wie, meine gnädige Frau,“ sagte Teut in einem verbindlichen Tone und
+doch mit demselben teuflischen Lächeln, „Sie laden mich in Ihr sonst so
+unvergleichliches Haus und wollen mich auf die Folter spannen? Ist das
+christlich? Ich bitte--wenn nicht etwas Bedenkliches für mich die Folge
+sein soll--“
+
+„Ja, ja! Das ist es! Sie sind boshaft! Sie sind's auch jetzt! Das ist
+eine Eigenschaft, die mir allerdings Furcht einflößt, ja, die ich hasse,
+denn es giebt gegen diese keine Waffen.“
+
+In diesem Augenblick schlug Herr von Ink ans Glas und brachte eine
+seiner gewöhnlichen geistlosen Gesundheiten aus.
+
+Auch das reizte Frau Olga.
+
+„Sehr, sehr hübsch!“ warf Teut hin und bewegte den Kopf.
+
+Frau Olga hätte ihn mit dem silbernen Fischmesser töten können.
+
+Nach dem Diner ging man in den Garten und nahm den Kaffee. Sodann wurde
+ein Ausflug zu Pferde und Wagen geplant.
+
+Vor dem Inkschen Hause hielten bereits die Stallknechte mit den
+Reitpferden, und die Kutscher warteten auf dem Bock.
+
+Teut, der meistens in einem zierlich gebauten, für zwei Personen
+berechneten Wagen kutschierte und dessen langgeschweifte, dunkelschwarze
+Renner ihm allseitig beneidet wurden, bot Frau Olga den Platz in seinem
+Wagen an. Sie war sehr glücklich über diese Auszeichnung, um so mehr,
+als bisher nur Frau Ange Clairefort eine solche genossen, freilich so
+oft genossen hatte, daß der verleumdungssüchtige Mund der Stadt dies
+Fuhrwerk schon mit einem Spottnamen belegt hatte.
+
+Der Nachmittag war herrlich. Man hatte mit Rücksicht auf den Ausflug
+früher gespeist, und es winkten angenehme Stunden.
+
+Als alles sich passend zusammengefunden hatte, gab Rittmeister von Zirp,
+der häufigste Gast des Hauses, ein nicht ganz übler, aber wegen seiner
+unbedachtsamen Schwätzereien Teut nicht allzu sympathischer Kamerad,
+das Zeichen zum Aufbruch, und die lustige Kavalkade setzte sich in
+Bewegung.
+
+Schon bei der Abfahrt hatte sich viel Volk zusammengefunden, das die
+Kutscher in ihren bunten Livreen und die prächtigen Reitpferde
+anstaunte. Allen voran fuhr Teut mit Frau Olga. Seine Renner flogen
+dahin, und in der That war es begreiflich, daß die Augen der Einwohner
+sich besonders auf dieses Gefährt richteten. War man doch gewohnt, nur
+Ange an der Seite des Rittmeisters zu sehen, während jetzt die nicht
+minder viel besprochene Frau von Ink neben dem bizarren Rittmeister
+dahinkutschierte.
+
+Mit einer großen Spannung sah Olga dem Augenblick entgegen, wo sie an
+der Clairefortschen Villa vorbeifahren würden. Ob Teut wohl
+hinüberschauen, ob wohl zufällig die Gräfin auf dem Balkon oder im
+Garten sein werde? Olgas Triumph über die viel beneidete Frau wäre ein
+vollendeter gewesen! Aber als sie die Villa erreichten, lag das Haus
+inmitten seines herrlichen Parkes wie ausgestorben. Nicht einmal eins
+der Kinder, auch niemand von der Dienerschaft war sichtbar.
+
+Plötzlich machten die Pferde--gewohnt, hier zu halten--eine rasche
+Seitenbewegung, und Olga ergriff unwillkürlich Teuts Arm, indem sie
+einen leisen Schrei ausstieß.
+
+„Was ist, meine Gnädige?“ fragte Teut kurz und wandte den Blick in
+raschem Wechsel von der Villa zu den Tieren und von diesen zu ihr.
+
+Olga erklärte entschuldigend, und der Wagen eilte weiter.
+
+„Sie scheinen etwas ängstlich zu sein! Wünschen Sie, daß ich langsamer
+fahre?“ fuhr er fort und zog die Zügel an.
+
+Olga verneinte, obgleich das Gegenteil der Fall war.
+
+„Neben einem so vollendeten Pferdelenker kann man keine Furcht
+empfinden,“ sagte sie, in ihren schmeichelnden Ton zurückfallend; aber
+sie bereite, gerade dieses Wort gebraucht zu haben, denn Teut fiel ein
+und rief lachend:
+
+„Ah, also auf dem Bock bin ich nicht gefährlich, gnädige Frau? Wenn Sie
+sich nur nicht täuschen werden!“
+
+Nach einigen Zwischengesprächen brachte Olga nochmals die Rede auf Ange.
+Sie wollte durchaus etwas Näheres über sie aus seinem Munde hören.
+
+„Frau von Clairefort ist wohl eine treffliche Reiterin und soll, wie ich
+höre, selbst mit Vieren erstaunlich sicher fahren?“
+
+„Allerdings, sie sucht ihresgleichen!“ erwiderte Teut, kurz abbrechend,
+machte Olga--mit der Peitsche in die Ferne weisend--auf einen hübschen
+Punkt aufmerksam und erging sich über diesen und die Umgegend in
+lebhafte Lobeserhebungen.
+
+Olga verstand. Er wollte nicht von Claireforts sprechen. Es ärgerte sie,
+daß er diese Menschen gleichsam wie seine Domäne betrachtete und durch
+Sein Ausweichen den Abstand andeuten zu wollen schien, der zwischen ihr
+und Ange lag.
+
+Sie beschloß aber doch noch einen Versuch zu machen. Vielleicht stand
+sie auch nur unter einem Vorurteil! Sie nahm letzteres an, weil sie es
+wünschte.
+
+„Es interessiert mich sehr, etwas über Frau von Clairefort zu erfahren,“
+begann sie. „Ich erinnere mich nicht, jemals einer so schönen und
+interessanten Frau begegnet zu sein, und würde es als eine Bevorzugung
+ansehen, ihr einmal persönlich näher treten zu dürfen. Sie soll
+neuerdings sehr ernst geworden sein und sich fast ausschließlich der
+Erziehung ihrer Kinder widmen? Übrigens, welch eine Schar von
+entzückenden Geschöpfen!“
+
+Teut fiel bei diesen Worten Anges Trauer und alles das wieder ein, was
+ihn so lebhaft beschäftigte. Auch reizte ihn die etwas zudringliche Art
+Olgas, nachdem er hinlänglich an den Tag gelegt hatte, daß er über
+seine Freunde nicht sprechen wollte. Er sagte deshalb, ganz entsprechend
+seiner Art:
+
+„Meine Freunde haben ihren Umgang aus vorher schon erwähnten Gründen
+wesentlich eingeschränkt und leben sehr zurückgezogen. Ich würde sonst
+mit Vergnügen bereit sein, der Frau Gräfin Ihre Wünsche zu übermitteln,
+gnädige Frau, und bin überzeugt, daß Sie bestätigt finden würden, was
+ich Ihnen bereits bei Tisch über die Familie mitteilte. Überdies ist es
+möglich, daß uns Claireforts verlassen werden, sobald der Graf seinen
+Abschied genommen hat.“
+
+„Nimmt er seinen Abschied?“ fragte Olga, zugleich durch eine Bewegung
+ihren Dank für Teuts Bereitwilligkeit ausdrückend. „Ich denke, man giebt
+ihn dem Herrn Grafen.“
+
+„Wer sagt das?“ fuhr Teut auf und lenkte mit rascher Biegung in einen
+Seitenpfad.
+
+„Nun, ich hörte so, Herr Rittmeister. Ich bin indes durch den Ton Ihrer
+Frage belehrt und bitte um Verzeihung. Übrigens zirkulieren über die
+Clairefortsche Familie so viele widersprechende Nachrichten und sie
+bildet so oft den Gegenstand des Gespräches, daß es schwer ist, sich ein
+einigermaßen zutreffendes Bild von derselben zu entwerfen.“
+
+Teut horchte gespannt auf. Beide Hände waren beschäftigt; nur allzu gern
+hätte er seinen Schnurrbart gedreht. „Wie? Meine ruhig lebenden,
+liebenswürdigen Freunde werden so viel besprochen? Es ist das erste Mal,
+daß ich dies höre. Nun, ich denke, man kann nur Gutes von ihnen sagen,
+gnädige Frau,“ entgegnete er mit gezwungener Sorglosigkeit.
+
+Olga schwieg. Da sie ihre Pläne vereitelt sah, wollte sie wenigstens
+ihre kleine Frauenrache.
+
+Teut ließ die Pferde im Schritt gehen, sah mit einem nicht
+mißzuverstehenden Blick seine Begleiterin an und sagte:
+
+„Sie schweigen, meine gnädige Frau. Ich bitte da Sie selbst das Thema
+berührten.“
+
+Nun gut! dachte Olga und fuhr laut fort: „Setzt es Sie in Verwunderung,
+daß man über eine Dame spricht, die so abweichende Gewohnheiten hat wie
+Frau von Clairefort, die reitet und selbst auf dem Bock sitzt, die so
+schön und so lebhaft ist, deren Mann sich vor der Welt mit seinem
+geheimnisvollen Kammerdiener verschließt, und der mit einem so
+ungewöhnlichen Aufwande sein Hauswesen einrichtete, um plötzlich man
+sagt so--eine fast ängstliche Sparsamkeit einzuführen?“
+
+Olga brach ab. Was sie sagte, war nicht verletzend, aber sie wußte, daß
+jedes Wort Teut kränken mußte.
+
+„Sie sprachen noch nicht von mir. Ich gehöre doch auch zu den
+Gegenständen dieser sehr überflüssigen Betrachtungen des verehrlichen
+Publikums. Wollen Sie nicht die Güte haben, nun auch die Ansichten über
+mich beizufügen,“ erwiderte Teut, ohne eine Miene zu verziehen.
+
+„Ich glaube nur die Thatsachen, aus denen Urteile und Ansichten sich
+folgern, wiedergegeben zu haben, Herr Rittmeister.“
+
+„Ganz recht, meine Gnädige. Und die Thatsachen, die sich auf mich
+beziehen?“
+
+„Sie sind täglicher Gast im Hause und erscheinen öffentlich stets neben
+Frau von Clairefort--“
+
+„Allerdings, und weiter, wenn ich bitten darf?“
+
+„Nun, deshalb glaubt das Publikum ein Recht zu haben, Bemerkungen zu
+machen, die freilich und natürlich jeder Unbefangene verdammt.“
+
+„Ah, vortrefflich! Und zu diesen Unbefangenen gehören auch Sie, gnädige
+Frau, und der Intimus Ihres Hauses, Herr von Zirp?“
+
+Der Ton, in dem Teut diese Worte sprach, war allerdings impertinent, ja
+beleidigend; aber der Blick, mit dem Olga erwiderte, gab nichts nach.
+
+Das Gespräch verstummte, und unter einer recht peinlichen Stimmung
+legten beide den übrigen Teil des Weges zurück. Vor Teut war ein Vorhang
+zurückgezogen, dessen Hintergrund ihn erschreckte. Er biß sich auf die
+Lippen und knirschte mit den Zähnen. Diesen Engel hatte man zu
+verdächtigen gewagt, und eine Frau wie seine Begleiterin fand eine
+boshafte Freude an der Wiedergabe solchen Geschwätzes.
+
+Teut durchschaute Olga nur zu gut. Da er ihr die Aussicht genommen, mit
+Ange in Berührung zu treten, ließ sie die Maske fallen und zeigte ihr
+wahres Gesicht--
+
+Ärger und Reue wühlten in ihr. Sie fühlte, daß sie durch dieses Gespräch
+alles verloren hatte. Ihr entging vielleicht sogar das, was sie mit
+etwas mehr Selbstbeherrschung sich hätte erhalten können: der künftige
+Umgang mit dem für sie doch allzu interessanten Rittmeister.
+
+Und diese Einsicht, aber auch die Hoffnung, daß er vielleicht vergessen
+könne, veranlaßte sie, zuerst wieder das Wort zu ergreifen und in
+möglichst unbefangener Weise gleichgültige Gesprächsgegenstände zu
+berühren. Es ward ihr dies erleichtert, da man inzwischen nahe dem Ziele
+war, und einige Herren, darunter mehrere von Teuts Kameraden,
+herangaloppierend, sich dem Wagen näherten.
+
+„Wir fürchteten schon, daß Herr Rittmeister von Teut Sie zu entführen
+gedenke, gnädige Frau!“ rief einer von ihnen, ein junger Assessor. „Sie
+waren uns gänzlich entrückt, und wir haben Mühe gehabt, Sie einzuholen.
+Aber da kommen auch die übrigen,“ fuhr er fort, und in der That stob
+eine Wolke auf, in deren grauem Staubnebel man Pferdeköpfe, blitzende
+Knöpfe und blanke Uniformen erkannte.
+
+Teut, der an alles dachte, hatte seinen Reitknecht vorausgesandt. Als
+man am Bestimmungsort eintraf, stand dieser schon wartend da und nahm
+das Gefährt in Empfang.
+
+Während Teut Olga vom Wagen hob, drückte sie ihm leicht die Hand und
+flüsterte: „Sie sind verstimmt, Herr Rittmeister. Unsere gute, eben
+begonnene Freundschaft hat doch keinen Stoß erlitten? Ich hoffe es
+nicht.“
+
+Teut aber sagte: „Sie hatten doch recht mit Ihrer Befürchtung, meine
+gnädige Frau. Ich nehme den halben Zweifel, den ich bei Tisch aussprach,
+jetzt ganz zurück.“
+
+Nach diesen Worten verbeugte er sich artig und ließ Olga betroffen und
+nach einer Deutung seiner Worte suchend, stehen.
+
+Wie sehr deren Laune durch diesen Zwischenfall gelitten hatte, davon
+erhielt Klara einen nachdrücklichen Beweis, die, einer guten Regung
+folgend, auf sie zugeeilt kam, und sich nach ihrem Befinden erkundigte.
+Ohne ihr darauf zu antworten oder gar zu danken, herrschte Olga sie an:
+
+„Mein Gott, wie Dir nur wieder der Hut sitzt und wie Du Dein Kleid
+zugerichtet hast! Sieh nur! Wie ein Harfenmädchen siehst Du aus! Geh und
+ordne Deine Toilette!“
+
+Und unmittelbar nach diesen in einem empörenden Ton gesprochenen Worten
+wandte sie sich mit ihrem liebenswürdigen Lächeln zu einem der Herren,
+der an sie herantrat und ihr den Arm bot.
+
+Klara stand einen Augenblick leichenblaß. Ihre Augen füllten sich mit
+Thränen des Zorns, und ihr Gesicht glühte vor Erregung.
+
+Die Gesellschaft nahm nach einem kurzen Spaziergang, dessen Ziel ein
+hübsches Wäldchen gewesen war, das Abendessen auf einer Terrasse ein,
+welche einen zu dem Wirtshause gehörenden Garten begrenzte. Links- und
+rechtsseitig von derselben zog sich die Landstraße hin, und geradezu
+schaute man auf den Fluß.
+
+Es war in der That ein außerordentlich schöner Punkt. Langsam zogen, von
+der Abenddämmerung schon halb verschlungen, große Segelfahrzeuge
+vorüber, die, aus der Flut geheimnisvoll auftauchend, einem Traumbilde
+anzugehören, nicht aber die Vermittler harten Tagewerkes zu sein
+schienen.
+
+Aber drüben sah man auf der stahlgrauen, vom zarten, rötlichen
+Abendsonnenschein umrahmten Wasserfläche die größeren Segelfahrzeuge
+wie abgelöst von der spiegelstillen Flut, und die zwischen ihnen hin-
+und herirrenden kleineren Böte erhöhten durch den Gegensatz die
+majestätische Ruhe ihrer Erscheinung.
+
+Im Nachtschlaf ruhten schon die Wälder, von drüben erscholl friedlicher
+Gesang, mitunter ertönte auch ein helles Hallo über das Wasser; und vom
+jenseitigen Ufer, an dem die glitzernden Lichter der Wirtshäuser
+aufblitzten, drang einmal leise Militärmusik herüber.
+
+Und über all diesem: über der silbernen Stahlflut, über den stummen
+Gebüschen, über den traumselig dahingleitenden Fahrzeugen, über den
+Menschen mit ihren ernsten oder sorglosen Gedanken, schwamm der Mond am
+blaudunklen Himmel und sandte sein weltdurchleuchtendes, geisterhaftes
+Licht herab.
+
+Im ganzen weiten Umkreis eine einzige gewaltige, schneeweiße Wolke mit
+Riesenfangarmen und Flügeln, unmittelbar über der Mondscheibe schwebend,
+gebannt, unbeweglich, gleichsam im Schönheitszauber erstarrt.
+
+Teut stand an dem Rande der Brüstung und überschaute die Landschaft.
+Auch die übrigen hatten sich erhoben, denn nun rasselte es über der
+nahen Brücke, und in überschnellem Lauf flog ein Wagen dahin. Deutlich
+waren Menschen und Dinge noch erkennbar.
+
+Und dann plötzlich erscholl aus Kindermund der laute und jubelnde Ruf:
+„Onkel Axel! Onkel Axel!“ und aus dem vorübereilenden Wagen winkten
+Händchen, und eine schöne junge Frau, die den Wagen lenkte, nickte
+lebhaft, und neigte, die Gesellschaft bemerkend, mit verlegener
+Artigkeit das Haupt. Es war Ange, die, von einem ihrer Ausflüge
+heimkehrend, jetzt rasch nach Hause drängte.
+
+Wie sie so dasaß mit dem vornehmen, auf den feinen Schultern ruhenden
+Kopf, umweht von dem weißen Schleier, der in die Abendluft
+hinausflatterte, so leicht und graziös in der Erscheinung und doch so
+fest und sicher die Zügel der raschen und ungeduldigen Pferde regierend,
+mußte sie die Blicke der Menschen fesseln. In wenigen Sekunden jedoch
+war sie den Nachschauenden entschwunden, und unwillkürlich wandten sich
+aller Augen auf Teut.
+
+Es gab wohl niemanden in der Gesellschaft, den nicht der gleiche Gedanke
+beherrschte, und einer von ihnen gab diesem auch Ausdruck. Es war der
+Assessor, der mit zudringlicher Vertraulichkeit an Teut herantrat und
+leicht hinwarf:
+
+„Da war ja Ihre kleine, entzückende Gräfin, Herr Rittmeister--“
+
+Aber er sprach nicht aus, denn Teut wandte sich mit seinem
+starkknochigen Gnugesicht zu ihm, und indem er den Sprechenden mit einem
+Blicke musterte, vor dem jener unwillkürlich den seinigen zu Boden
+senkte, sagte er mit schneidender Zurückweisung:
+
+„Da war die Frau Gräfin Ange von Clairefort, mein Herr! Der von Ihnen
+beliebte Ausdruck war respektwidrig und äußerst unpassend! Sie werden
+die Güte haben, sich dies für kommende Fälle zu merken!“
+
+Und dann drehte er dem gemaßregelten Assessor den Rücken und ging auf
+Klara von Ink zu, mit der er sich, ohne die übrige Gesellschaft für den
+Rest des Abends sonderlich zu beachten, ausschließlich beschäftigte.
+
+Auch bot er, den Augenblick erspähend, wo Olga einen Platz neben Baron
+von Zirp wählte, jener seinen Wagen an und kutschierte, seinen
+Reitknecht hinter sich, eilend in die Stadt zurück. Seine Verabschiedung
+von Inks war überaus höflich, aber förmlich. Auch lehnte es Teut ab, an
+diesem Abend der Aufforderung seiner Kameraden zum weiteren
+Beisammenbleiben zu folgen.
+
+Als der Wächter die Morgenstunde abrief, saß er, die Hand an die Stirn
+gestützt, noch immer grübeln in seinem juchtenduftenden Arbeitszimmer.
+Ein wilder Kampf von Empfindungen, der in seiner Brust tobte, raubte ihm
+Ruhe und Schlaf.
+
+ * * * * *
+
+Ange ward, als sie dem Wagen entstieg und ihre kleine Schar von der
+Dienerschaft herabgehoben wurde, von dem ernsten Ausdruck überrascht,
+der sich in Tibets dienen widerspiegelte. Er stand, wie immer, wenn sie
+zurückkehrte, vorn auf dem Treppenausbau der Villa und öffnete
+ehrerbietig die Thür.
+
+„Was ist?“ fragte sie ängstlich und hieß ihn durch ihre lebhaften
+Gebärden rascher sprechen, als es seine Gewohnheit war.
+
+„Carlitos hat heute nachmittag einen heftigen Anfall von Ohnmacht und
+Erbrechen gehabt; wir haben ihn gleich ins Bett gebracht, Frau Gräfin.“
+
+Ange schrie auf und flog die Stufen empor.
+
+„War der Arzt schon da? Ist der Graf in seinem Zimmer?“ redete sie
+hastig im Vorübereilen die Kammerjungfer an, ohne die Antwort
+abzuwarten. Sie durcheilte die Wohnräume und erreichte das Kinderzimmer.
+Hinter ihr schoß wie immer der Strom der Kleinen, die rasch abgezogenen
+Kleider und Hüte in den Händen und achtlos nach sich schleifend.
+
+„Stille, stille, süße Kinder! Unser Carlitos ist nicht wohl!“ dämpfte
+sie, als jene ins Gemach stürmten. Sie saß bereits an dem Bett ihres
+Knaben und ließ die Hand auf seiner heißen Stirn ruhen. „Wachst Du, mein
+Carlitos?“ flüsterte sie und neigte sich zu ihm herab.
+
+Er wachte nicht und er schlief nichts; er wälzte sich unruhig hin und
+her, und die Hände erglühten in trockener Fieberhitze. Ange übergab die
+lebhafte Jorinde und die übrigen Kinder der eintretenden Jungfer und
+hieß sie ins Speisezimmer hinübergehen. Sie selbst eilte, nachdem sie
+kühle Tücher über Carlitos' Stirn gelegt, zunächst in das Zimmer ihres
+Mannes.
+
+Der Graf saß--ein schmerzerweckender Anblick--in seinem großen Stuhl und
+hatte den Kopf in die Hände vergraben. Die Vorhänge waren fest
+zugezogen, die mit einem grünen Schirm umgebene Lampe verbreitete ein
+mattes, schwermütiges Licht, und eine atembeengende Luft erfüllte das
+Gemach. Dazu die unheimliche Stille und diese peinliche, den Dingen ihr
+fröhliches Gesicht raubende Ordnung. Ange erschien der dumpfe Raum wie
+eine Gruft; unwillkürlich schrak sie zusammen. Und kein Lebenszeichen
+von ihm, als sie die Thür öffnete. Er war entweder eingeschlafen oder
+eine Erschöpfung hatte ihn in einen halbwachen, willenlosen Zustand
+versetzt.
+
+„Lieber Carlos!“ sagte Ange weich und trat an den Stuhl, in dem die
+große gebrochene Gestalt ruhte.
+
+„Du wünschest?“ fragte eine tiefe Stimme.
+
+„Weißt Du denn nicht, daß unser Carlitos krank ist? Ich komme, Dich zu
+fragen, was der Arzt gesagt hat. Ich bin in großer Sorge.“
+
+Er neigte langsam und müde den Kopf zur Bestätigung.
+
+„Es ist bis jetzt alles geschehen, was er angeordnet hat. Ich war bei
+unserem Knaben. Er schläft. Der Doktor meint, man müsse die Nacht
+abwarten, es würden vielleicht kalte Bäder nötig sein.“
+
+„Und was ist es?“ fragte Ange äußerlich ruhig, innerlich von einer
+unbeschreiblichen Angst verzehrt.
+
+„Ich weiß es nicht,“ sagte Clairefort tonlos und ließ das Haupt wieder
+in die gestützte Rechte zurückfallen.
+
+Sie sank neben ihm herab und ergriff die schlaff herabhängende Linke.
+„Mein Carlos!“ hauchte sie leise und innig.
+
+Er gab den Druck sanft zurück, aber er hob sie nicht auf, und für
+Augenblicke schien es in dem Gemach wie ausgestorben. Nur ein leises
+Schluchzen war vernehmbar, das aus Anges bedrängter Seele emporstieg.
+Sie wußten beide, um was es sich handelte, weshalb sie neben ihm
+hingesunken war und weinte.
+
+War das derselbe Mann, der einst um Ange von Butins Hand geworben, der
+kräftige Mann, aus dessen Augen das Leben blitzte?
+
+Wie hatte man Ange ihr Glück geneidet! Er hatte sie umworben wie kaum
+ein Mann ein Weib zuvor. Ihr Lächeln, ihr sanfter Blick berauschten ihn,
+ihre Fröhlichkeit riß auch ihn mit fort, und jede noch so thörichte
+Hoffnung auf eine ewige Dauer des Glückes teilte er mit ihr.
+
+Und wie Carlitos geboren ward und später Jorinde und Erna--hatte er
+nicht im ungestümen Freudentaumel das Haus mit Blumen schmücken lassen,
+seine Umgebung beschenkt und täglich stundenlang dankerfüllt an ihrem
+Bett gesessen? Und ähnlich war's noch, als die beiden schönen Knaben zur
+Welt kamen. Er plante mit Ange, was sie dermaleinst werden sollten, wie
+er für ihre, für der übrigen Zukunft sorgen könne.
+
+Bei der Geburt der kleinen Ange hatte sich schon manches anders
+gestaltet. Clairefort war nicht mehr so herzlich, so teilnehmend: andere
+Dinge beschäftigten ihn.
+
+Es schien, als ob ihn etwas heftig bedrücke, als ob ein schwerer Kummer
+an ihm nage. Die Rückkehr zu einer heiteren, sorgloseren Stimmung war
+immer nur eine vorübergehende, und sie war stets mit einem sichtlichen
+Zwang verbunden. Und dann wurde er immer finsterer, immer wortkarger,
+immer ausweichender, lebte nur für sich, schalt wohl einmal in heftigem
+Zorn, aber flüchtete sich doch wieder in seine Einsamkeit.
+
+Bei der Übersiedelung nach C. ergriff ihn scheinbar noch einmal die alte
+Freude am Leben. Er überschüttete Ange mit Zärtlichkeit, lauschte ihre
+Wünsche ab und sprach von einem neuen Leben in neuen Verhältnissen. Auch
+verkehrte er nicht mehr so abgeschlossen und geheimnisvoll mit Tibet.
+
+Aber bald war's wieder wie ehedem, ja schlimmer, denn der alte Kummer
+schien ihn von neuem zu bedrücken, und auch die Eifersucht verzehrte
+ihn. Und doch suchte er sein Weib nicht an sich heranzuziehen, und nur
+vorübergehend war er verständigen Auseinandersetzungen zugänglich.
+Allmählich ward er leidend die nervösen Beschwerden nahmen zu. Der Arzt
+hatte es ausgesprochen, es war nicht zu verbergen: ein unheilbares
+Rückenmarkleiden zehrte an ihm. Zuletzt kam er um seinen Abschied ein.
+
+Nun saß er da; kein Mann, kein Soldat, kein Reitersmann mehr, gebrochen,
+ein lebensmüder Greis, leise oder laut in Schmerzen wimmernd.
+
+Aber nicht körperliche Leiden hatten allein ihn gelähmt. Er hatte
+geklagt über jede Ausgabe und doch nicht die Kraft gehabt, etwas zu
+ändern, oder etwas zu verweigern.
+
+Ja, gewiß, auch die Sorgen quälten und verfolgten ihn.
+
+Und neben diesem gedachte Ange Teuts. Welch ein Mann, welch ein Freund!
+Wie er eingegriffen hatte in die Verhältnisse, wie er alles so wohl
+gestaltet, und wie mürrisch ihm Carlos gedankt hatte.
+
+Was sollte nur werden! Wie traurig, wie trostlos starrte der Frau das
+Leben und die Zukunft entgegen! Heute war sie, von Teut wiederholt
+ermuntert, einmal wieder hinausgefahren und hatte sich hineingeträumt
+für Stunden in die alten sorglosen Zeiten.
+
+Ihre Gedanken wurden aber durch die Erinnerung an Carlitos unterbrochen.
+
+„Carlos, mein Carlos!“ flüsterte sie. „Ich leide entsetzlich, weil ich
+weiß, daß Du leidest. Sag, Carlos“--sie stockte; sie drückte seine Hand
+und legte ihr Köpfchen an seine Schulter--„liebst Du mich noch?“
+
+„O Ange--Ange!“ preßte der Mann hervor. „Ob ich Dich liebe?“
+
+Plötzlich wandte er sich mit mühsamer, aber rascher Bewegung zu ihr,
+umfaßte sie mit seinen Armen, hob sie empor und bedeckte ihr Gesicht
+mit Küssen und--mit Thränen.
+
+„Sag mir, was Dich beunruhigt, mein Carlos, was Dich bedrückt neben
+Deiner Krankheit, um die ich Tag und Nacht sorge,“ hob Ange endlich an
+und schmiegte sich fester an die Brust ihres Mannes.
+
+Clairefort zitterte, als ob er an ein Verbrechen erinnert werde. Sie
+fühlte es. Ein drängendes, unerklärlich angstvolles Gefühl jagte durch
+ihr Inneres.
+
+Aber er stand ihr nicht Rede, selbst jetzt nicht, wo ihre Seelen in
+Liebe und Zärtlichkeit zusammenschmolzen, selbst jetzt nicht, wo das
+Höchste sie ergriff, was Menschenbrust zu durchdringen vermag.
+
+Sie war zu vornehm geartet, etwas erzwingen zu wollen, was ihr nicht
+freiwillig gewährt wurde. Und um ihn nicht im Zweifel zu lassen,
+flüsterte sie besänftigend:
+
+„Nicht Neugierde läßt mich bitten, mein einziger teurer Carlos, nur
+Sorge--Sorge--um Dich--“
+
+Die letzten Worte wurden erdrückt durch ihr Schluchzen. Er aber seufzte,
+von Seelenschmerz gefoltert, tief auf, und nun sein Haupt an ihrer Brust
+bergend wie ein Kind, hauchte er: „O Ange, Ange, Du Engel--nicht nur dem
+Namen nach ein Engel!“
+
+Nachdem Ange ihren Mann verlassen hatte, beherrschte sie nur der einzige
+Gedanke, wie sie ihrem Kinde helfen könne. Sie ordnete an, daß noch
+einmal zum Doktor gesandt werde, und widerrief es doch wieder, weil er
+kaum vor einer Stunde das Haus verlassen hatte. Sie befahl, anzuspannen,
+um zu ihm zu fahren, und doch sandte sie den Wagen wieder fort. Endlich
+beschloß sie noch einen anderen Arzt zu Rate zu ziehen und dies bei
+jenem am nächsten Tage durch ihre Angst und Sorge zu entschuldigen. Sie
+schrieb auch wirklich ein Billet, und ein Diener mußte damit forteilen;
+aber er kam unverrichtet Sache zurück, da jener aufs Land gerufen war.
+
+Nun endlich wandte sie sich mit ihren Gedanken zu Teut.
+
+Konnte sie den Freund in so später Abendstunde zu sich bitten?
+
+Sie hockte an dem Bett des Knaben und betrachtete jede seiner
+Bewegungen. Ach, wenn sie ihm doch nicht nachgegeben hätte, als er
+darauf bestand, zurückzubleiben, um in dem nahgelegenen Weiher zu
+fischen! Dort konnten giftige Dünste emporgestiegen sein--er mochte sich
+heftig erkältet haben--oder ihm war gar ein Unfall zugestoßen, den er
+verschwiegen hatte. So ging es in ihr auf und ab. Immer von neuem kühlte
+sie des Knaben Stirn, rückte ihm das Kopfkissen, horchte, lauschte auf
+seine Atemzüge und war zärtlich und ängstlich um ihn besorgt.
+
+Aber die Krankheit nahm nach Mitternacht einen heftigeren Charakter an.
+Carlitos wollte aus dem Bett und sprach wirre Dinge.
+
+Er kämpfte mit ihr, während sie ihm weinend widerstand.
+
+„Ach, sei doch ruhig, mein lieber Carlitos, ich flehe Dich an! Siehst Du
+nicht, daß Deine Mama bei Dir ist! Bitte, bitte, Carlitos, bleibe liegen
+und rege Dich nicht auf!“
+
+Aber er kannte sie schon nicht mehr, er raste in heftigem Fieber.
+
+In Todesängsten zog Ange die Schnur. Tibet erschien. Er saß geduldig
+wartend im Nebenzimmer. „Gehen Sie, gehen Sie und sehen Sie, ob der Graf
+noch wacht. Wenn er kommen kann, bitten Sie ihn zu mir; sollte er aber
+ruhen--“ Jetzt rührte sich der Knabe wieder und schlug um sich.
+
+„O Tibet, Tibet, mein Kind! Nein, nein, hören Sie! Eilen Sie! Man soll
+eine Wanne bringen, Eiswasser und dann--Ich danke Ihnen im voraus,
+Tibet! Eilen Sie zu Herrn von Teut, sagen Sie ihm, ich ließe ihn
+flehentlich bitten, zu kommen! Nicht wahr, der Doktor sagte, man solle,
+wenn das Fieber schlimmer werde, ihn kalt begießen? Ah, und die Fenster
+sind geschlossen! Wir müssen sie öffnen! Ich hörte, Luft, frische Luft
+sei vor allem nötig!“
+
+Und Tibet eilte fort, und die Frau war wieder allein mit ihrer Sorge
+und Angst.
+
+Teut war erschienen, hatte getröstet und hatte geholfen. Er setzte den
+Kleinen in die Wanne und tropfte Wasser aus großen Schwämmen über das
+heißglühende Haupt; er hob ihn vom Lager und bettete ihn von neuem; er
+ordnete an, daß die übrigen Kinder in andere Gemächer geschafft wurden,
+und bewirkte durch seine Fürsorge, daß Carlitos gegen Morgen in einen
+ruhigeren Schlaf versank.
+
+Aber war es, daß gegen dieses Rasen des Fiebers keine menschliche Hilfe
+etwas vermochte, oder daß das unerforschliche Schicksal es bestimmt
+hatte--das Herz dieser holden Frau sollte brechen. Nach zeitweiliger
+Besserung tobte die Krankheit nur noch heftiger, und was man mit allen
+Mitteln zu bannen suchte, schien sich lediglich zu verstärken.
+
+Die Ärzte suchten zu trösten, aber das Kind war verloren. Nach
+mehrtägigem Ringen fielen des Knaben Wangen ein, eine seltsame Farbe
+bedeckte sein Gesicht, trocken wurde Stirn und Hände, aus dem Munde
+drang ein Hauch, vor dem Ange erbebte, und endlich--es ging ein Schrei
+durch das Krankenzimmer--erlosch der Herzschlag des Kindes.
+
+ * * * * *
+
+„Teut,“ sagte Ange, die in einem Zimmer nach Garten gebettet war
+und--einem Marmorbild vergleichbar, das Thränen vergießt--jedes
+menschliche Mitleid wachrufen mußte, einige Tage später, „eine Bitte
+habe ich an Sie, wenn mein süßer Knabe--“--hier brach die Stimme und
+verlor sich in ein so verzehrendes Schluchzen, daß des starken Mannes
+Inneres erbebte--„wenn morgen Carlitos begraben wird, lassen Sie Lux und
+Lady Anna den Totenwagen ziehen. Wissen Sie noch, Teut, wie Carlitos die
+Tiere liebte? Sie zu besitzen, war sein höchster Wunsch. Er wollte ganz
+werden wie Sie, Teut. Alles, was Sie thaten, was Sie besaßen, war
+unnachahmlich. Nicht wahr, Sie haben ihn auch geliebt--?“
+
+Thränen erstickten von neuem ihre Stimme.
+
+Teut wandte sich ab und trat ans Fenster. Ja, ihr Wunsch sollte erfüllt
+werden, aber es bedurfte dazu einer Vorbereitung, vor der Teut einen
+Augenblick zurückschreckte. Diese wilden Geschöpfe gingen in keinem
+bedächtigen Trauerschritt; sie mußten gejagt, erschöpft werden, um
+sanften Schrittes des Knaben sterbliche Überreste an den Totenacker zu
+führen. „Es giebt nichts, was ich Ihnen verweigern würde, Ange,“ sagte
+Teut bewegt und reichte der blassen Kranken die Hand. „Ich gehe jetzt,
+um alles vorzubereiten.“
+
+Er riß sich gewaltsam von ihr los, besuchte Clairefort, der ganz
+gebrochen daniederlag, und eilte nach Hause. Hier traf er noch einige
+auf das Begräbnis bezügliche Anordnungen, und dann ließ er anspannen.
+Seine zwei Diener mußten sich auf den Rücksitz setzen und nun verließ er
+die Stadt.
+
+Im Carriere jagte Teut über die Landstraßen, fuhr die ganze Nacht,
+erbarmungslos auf die Tiere einhauend, und als sie endlich
+zurückkehrten, als Lux und Lady Anna standen, zitterten sie wie in
+Fieberschauern und keuchten wie gemarterte Schlachtrufe. Ein Geschirr,
+mit weißen Rosen, Lilien und Kamelien völlig übersät, war bereits
+eingetroffen. Es ward Lux und Lady Anna angelegt, und sie selbst vor den
+dunklen Trauerwagen gespannt, von dem unzählige Rosenbüschel in
+denselben Farben herabhingen oder zu Blumenkronen aufgebunden waren.
+
+So erreichte Teut, von Scharen Neugieriger gefolgt, die Villa.
+
+Im Hause roch es scharf und unheimlich nach Lebensblumen und Lorbeer,
+zudem erfüllte eine betäubende Luft alle Räume, denn Kränze und
+schleifenverzierte Bouquets lagen berghoch in den Vorzimmern.
+
+Endlich war der Augenblick gekommen. Man hob den mit Blüten und
+Blättern überschütteten Sarg empor und trug ihn hinab.
+
+Teut führte Clairefort und Ange, die jetzt thränenlos vor Schmerz, mit
+irrem Blick, an seinem Arme hing, ans Fenster, öffnete es und ließ sie
+hinausschauen.
+
+In diesem Augenblick ertönte in sanften Akkorden ein Trauermarsch,
+langgezogen, schmerzvoll und jeden Anwesenden bis ins Herz rührend.
+
+Und dann sah Ange auf Teuts Lieblingspferde, die mit gesenkten Köpfen,
+gleichsam mittrauernd und mitempfindend, dastanden und deren schwarze
+Leiber von den weißen Abschiedsblumen umwunden waren, die Teut seinem
+kleinen Freunde Carlitos mit auf den Weg gab.
+
+„Carlitos, Carlitos--mein einziger süßer Knabe!--O Carlos! Teut--Teut!“
+brach es aus Ange hervor, und in den ersterbenden Blick mischte sich ein
+Ausdruck dankbarer Hingebung, der Teut für alles belohnen konnte.
+
+Endlich überließen die Männer Ange den Händen der Frauen und schlossen
+sich den in Trauerkleidern harrenden Geschwistern des Verdorbenen an.
+Wie sie schön waren mit ihren seinen, blassen Gesichtern und mit ihrem
+goldenen Haar, und vor allem, wie rührend die kleine Ange aussah, die
+hinter dem Sarge einherschritt.
+
+Es war, als sei die Mutter noch einmal jung geworden, nun aber kein
+menschliches Gebilde mehr, sondern ein herabgestiegener Engel mit jenem
+schwermütigen Verzicht in den ernsten Zügen, welche wir in den
+Heiligenbildern großer Meister bewundern.
+
+Als die Klänge der Musik in der Ferne verhallt, als die letzten dunklen
+Gestalten Anges Blick entrückt waren, als nun Wirklichkeit geworden,
+wogegen sich die Gedanken und Empfindungen der Frau in überqualvollen
+Tag- und Nachstunden aufgelehnt hatten, da schoß auch der Schmerz noch
+einmal empor, stieß seine brennenden Zungen in das Herz der geprüften
+Frau und bewirkte, daß sie mit einem dumpfen Schrei zu Boden fiel.
+
+So fand Tibet, der im Nebenzimmer, bleich wie ein Verurteilter, den
+Vorgängen draußen mit dem Blick gefolgt war und nun erschrocken
+herbeieilte, seine schöne, arme, geliebte Herrin.
+
+Wenige Wochen waren vergangen. Teut saß in dem Clairefortschen
+Wohnzimmer und hatte die kleine Ange auf dem Schoß. Das Kind spielte mit
+einer silbernen Kette, die aus dem Waffenrock hervorschaute, und zerrte
+zuletzt daran. Schon oft hatte Ange auf das geheimnisvolle Ticken
+gelauscht, nun trieb sie heute abermals die Neugierde. „Warte,“ sagte
+Teut gutmütig, löste die Uhr und legte sie in die zarte Hand des holden
+kleinen Mädchens.
+
+„Carlitos hatte auch eine Uhr,“ hob Ange an, während sie mit den
+Fingerspitzen auf das Glas tupfte. Und zu Teut aufblickend, fuhr sie
+fort: „Hat er sie mitgenommen? Ist sie auch beim lieben Gott?“
+
+Als Teut nicht gleich antwortete, glitt sie ihm vom Schoß und rief
+lebhaft: „Danach muß ich Mama fragen!“
+
+Er aber hielt sie fest und zog sie abermals an sich.
+
+„Bleib, Ange. Mama schläft. Wir dürfen sie nicht stören. Ich will Dir
+alles erzählen: Nein, mein Liebling, seine Uhr hat Carlitos nicht
+mitgenommen. Die hat Dein Papa. Vielleicht, wenn Du erwachsen bist,
+erhältst Du sie.“
+
+„Die ist ja viel zu groß! Das ist ja eine Herrenuhr!“ rief Ange mit
+abweisender Wichtigkeit; „Mama hat mir eine kleine versprochen--eine
+ganz kleine, wie Bella ihre--“
+
+„Bella? Wer ist Bella?“
+
+„Das ist doch meine große Puppe.“
+
+„Ach, verzeih, Ange, daß ich das nicht wußte.“
+
+„Soll ich sie holen?“ nickte das Kind lebhaft. Und ohne Antwort
+abzuwarten, lief sie fort und kam gleich zurück.
+
+„Es geht jetzt nicht, Onkel,“ erklärte sie ernsthaft, „Bella schläft.“
+
+„So? Sie schläft? Kannst Du sie nicht wecken? Bitte, bringe sie, damit
+ich sie kennen lerne.“
+
+Ange schüttelte den reizenden Kopf, aber in das bleiche Gesichtchen
+stahl sich ein schelmischer Ausdruck.
+
+„Da ist sie ja! Da ist sie ja! Und Du hast gar nichts gemerkt!“ jubelte
+sie, zog das hinter dem Rücken versteckte Püppchen hervor und legte es
+ihm in die Arme. „Ist sie hübsch, Onkel?“
+
+„Sehr hübsch, Ange.“
+
+„Ich habe noch eine, aber--“
+
+„Nun?“
+
+„Ben hat ihr ein Auge eingestoßen und auch die Nase.“
+
+„Da muß ich Dir wohl eine neue schenken, Ange?“
+
+Die Kleine schüttelte den Kopf.
+
+„Nein? Weshalb nicht?“
+
+„Mama sagt, Du schenktest uns schon so viel. Wir dürften Dich nie mehr
+um etwas bitten.“
+
+„So, das sagt Mama? Aber Du hast ja nicht gebeten, Ange. Ich habe sie
+Dir ja angeboten.“
+
+Einen Augenblick sann das Kind und dachte nach, dann nickte es lebhaft:
+
+„Ja, eine recht große, die auch schlafen kann und ein seidenes Kleid
+hat, Onkel Axel. Schenkst Du sie mir bald--heute?“
+
+„Ich will sehen, Ange. Aber mir fällt etwas ein. Wenn ich Dir nun eine
+Puppe bringe und den übrigen keine?“
+
+„Die andern spielen ja gar nicht mehr mit Puppen!“ rief Ange, Teuts
+Unwissenheit mit höchster Verachtung strafend.
+
+„Ganz recht! Aber sie möchten gewiß etwas anderes haben, was ihnen
+Freude macht. Erna wünscht sich vielleicht einen seidenen Sonnenschirm,
+Jorinde einen neuen Hut, und Ben und Fred möchten gerne kleine Ponys
+haben.“
+
+„Ja, ja, Onkel Axel,“ rief Ange stürmisch, „schenk ihnen Ponys, dann
+können wir zusammen ausfahren--“ Aber sie unterbrach sich ebenso rasch:
+„Nein, Onkel, es geht doch nicht. Mama will ja nicht, daß Du uns etwas
+schenkst. Papa erlaubt es nicht.“
+
+Teut horchte auf.
+
+„Er fragte Mama, woher sie ihr Geld hätte. Mama weinte und sagte, daß Du
+uns Geld geschenkt hättest. Da wurde Papa so böse, daß wir auch alle
+weinten und hinausgehen mußten. Mama darf nichts von Dir nehmen, Onkel.
+Nein, Onkel, schenke Ben und Fred keine Ponys. Papa nimmt sie ihnen doch
+weg, und sie werden bestraft. Aber ich will Papa bitten, ob Du mir eine
+Puppe schenken darfst. Ja, Onkel? Mama soll ihn bitten.“
+
+Teut antwortete nicht. Es schwirrte ihm noch in den Ohren, was das Kind
+gesprochen, und seine Gedanken waren weit ab.
+
+„Onkel Axel, Onkel Axel! Hörst Du denn gar nicht?“
+
+„Ja, mein liebes Kind,“ flüsterte Teut, wie aus einem Traum erwachend.
+„Du wirst Deine Puppe erhalten.“
+
+Ange klatschte in die Hände und sprang von ihm fort.
+
+ * * * * *
+
+Am selben Tage in der Nachmittagsstunde öffnete Jamp die Wohnstubenthür
+seines Herrn und meldete den Rittmeister von Zirp.
+
+„Ah, Zirp! Willkommen! Nehmen Sie Platz!“
+
+„Ich störe doch nicht?“
+
+„Keineswegs--bitte! hier Cigarren.“
+
+Nach wenigen Augenblicken saßen sich die beiden Herren gegenüber.
+
+„Ich komme,“ hob Zirp an, „Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten,
+Teut.“
+
+„Bitte, wenn es in meiner Macht steht--“
+
+„Also, ohne Einleitungen. Ich brauche fünftausend Mark, die ich
+augenblicklich nicht habe, die ich aber durch Bürgschaft erhalten kann.
+Ich wollte Sie nun bitten, liebster Teut, daß Sie--“
+
+„Bürgschaften übernehme ich nie,“ erwiderte Teut. „Ich habe meinem Vater
+einen Schwur geleistet, mich niemals in der Weise zu verpflichten. Also
+dieser Fall ist ausgeschlossen.“
+
+„Fatal! Ich brauche das Geld bereits morgen und weiß es sonst nicht
+anzuschaffen.“
+
+„Hm, bis morgen--?“ sagte Teut nachdenklich. Und nach einer Pause:
+„Entschuldigen Sie die Frage, wie die Sache sich so auf die Stunde hat
+zuspitzen können? Es wird gar nicht möglich sein, Ihnen so rasch zu
+dienen.“
+
+Teut schlug mit den Hacken zusammen, und in Zirps Mienen malte sich
+einige Verlegenheit. Er streifte die Asche von der Cigarre auf den
+Fußboden ab und benutzte dann mit einem nachträglichen „Pardon!“ den
+bereit gestellten Aschbecher.
+
+„Bitte, bitte!“ schob Teut phlegmatisch ein.
+
+„Hören Sie, lieber Teut,“ begann Zirp mit gezwungenem Anlauf, „ich will
+offen reden. Ich habe Wechsel ausgestellt, die bereits gestern fällig
+waren. Ich hoffte sie auf die Stunde bezahlen zu können. Allein meine
+Schwester, auf die ich sicher rechnete, hat mir mein Ansuchen
+abgelehnt.“
+
+Er hielt inne, aber Teut kam ihm nicht zu Hilfe. Eine peinliche Pause
+trat ein.
+
+„Wohl,“ sagte Teut endlich und strich den langen Schnurrbart; „ich
+begreife. Aber was ich durchaus nicht verstehe“--Zirp fand diesen
+hochmütigen Ton, dieses etwas schulmeisterliche Wesen Teuts ganz
+unerträglich--„wie wollen Sie denn nach der üblichen Frist von drei
+Monaten zahlen?“
+
+Zirp biß sich auf die Lippen und knipste abermals die Asche auf den
+Teppich.
+
+„Können Sie eine Garantie geben, daß Sie um jene Zeit die
+Schwierigkeiten zu beseitigen vermögen?“
+
+„Gewiß, gewiß!“ erwiderte Zirp leichtfertig.
+
+„Und diese wäre?“ fuhr Teut unerbittlich fort.
+
+„Nun, meine Schwester wird sich breitschlagen lassen--“
+
+„Hm! Aber wenn Sie sich nun doch in dieser Annahme irren?“
+
+„Ah, das ist ja nicht denkbar! Sie muß ja--“
+
+„Sie muß? Weshalb? Entschuldigen Sie--“
+
+„Nun es steht doch alles auf dem Spiel, wenn ich nicht zahle. Sie
+kennen ja die Konsequenzen.“
+
+Zirp wagte während der Schlußworte das Auge nicht emporzuschlagen.
+
+Teut sah ihn an und schüttelte den Kopf; dann sagte er in einem milden
+Ton:
+
+„Zirp! Sie waren bisher leichtsinnig. Ich schätzte Sie aber als
+Ehrenmann. Wäre es nicht besser, Sie beugten bei Zeiten einer
+Katastrophe vor, die mir bei dieser Sachlage unausbleiblich erscheint?“
+
+Zirp hatte sich erhoben und ordnete auf der Etagère Teuts zahlreiche
+Cigarrentaschen. Halb gärte es in ihm auf, halb packte ihn die bessere
+Einsicht. Endlich sagte er: „Ich sehe, daß Sie mir nicht helfen wollen.
+Bitte--“ unterbrach er seine Rede, als Teut eine Bewegung machte, „ich
+mache Ihnen daraus keinen Vorwurf. Da Sie aber in bester Absicht
+gesprochen haben--ohne Zweifel--wie soll ich mit Ihren Ratschlägen und
+Hindeutungen auf die Zukunft morgen meine Verpflichtungen erfüllen?“
+
+Ohne eine unmittelbare Antwort zu geben, sagte Teut, sich gegen die
+Fensterbank lehnend und einen Siegelring an seiner kräftigen Hand
+drehend:
+
+„Wer ist der Inhaber des Wechsels und wieviel sind Sie wirklich darauf
+schuldig?“
+
+„Matt hat das Papier in Händen,“ ertönte es kleinlaut.
+
+„Ich dachte es mir! Und wie viel empfingen Sie darauf?“
+
+„Dreitausend Mark hat mir der Schuft gegeben.“
+
+Teut sann einen Augenblick nach. Dann erhob er den Blick, sah Zirp
+freundlich an und sagte kurz entschlossen:
+
+„Gut, dreitausend Mark und einen guten Zins über den landesüblichen will
+ich Matt zahlen, auch selbst den Kerl vornehmen und alles für Sie
+ordnen--“
+
+„O Teut, lieber, braver Freund!“
+
+„Halt, Zirp! Ich habe eine Bedingung: Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß
+Sie nicht mehr spielen und nie mehr Wechsel unterzeichnen.“
+
+Zirp machte eine zustimmende Bewegung.
+
+„Nein, nein, nicht so rasch! Besinnen Sie sich wohl!--Ferner: Sie
+beantworten mir eine Frage, wahrheitsgetreu, ohne Rückhalt, als
+Kavalier.“
+
+Zirp horchte gespannt auf. Des Sprechenden Stimme klang
+verändert--ernster, fast drohend.
+
+„Ich bitte, sprechen Sie, Teut.“
+
+„Nein, Zirp, erst antworten Sie mir, ob Sie meine Bitte erfüllen wollen.
+Was ich von Ihnen fordere, ist nichts, was Sie mit Ihren Grundsätzen in
+Konflikt bringen kann, denn derjenige, der gut genug ist, in intimsten
+Privatangelegenheiten als Freund zu helfen, ist wohl so viel wert wie
+diejenigen, bei denen der Antragsteller die Stunden seiner Langenweile
+vertreibt. Also?“
+
+„Gut! Obgleich mir Ihre Rede unverständlich ist und obgleich ich fast
+erschreckt bin durch den feierlichen Ton--ich gebe Ihnen hiermit mein
+Ehrenwort, daß ich Ihre Frage nach bestem Wissen, wahrheitsgetreu,
+beantworten werde.“
+
+„Nun,“ hob Teut an, „dann frage ich Sie: Hat jemals jemand behauptet,
+daß--die Gräfin Ange--Clairefort--meine--Geliebte--sei?“ Teut stieß die
+Worte zögernd, in Absätzen hervor. In scharfer Abgrenzung markierten
+sich die Linien seines mageren Gesichtes und seine Mundwinkel zuckten.
+Zugleich schob er das Monocle ins Auge und schien Zirp mit seinen
+Blicken durchbohren zu wollen.
+
+„Sie schweigen?“ drang es heiser aus Teuts Munde. „Gut! Das ist auch
+eine Antwort. Ich danke Ihnen. Rechnen Sie auf mich; aber“--und ein so
+drohender Ernst malte sich auf des Rittmeisters Zügen, daß Zirp
+unwillkürlich zusammenschrak--„ich rechne auch auf Sie, daß Sie in
+Zukunft Ihre Reitpeitsche jedem ins Gesicht schlagen, der es wagen
+sollte, diese edle Frau auch nur durch eine Miene zu verdächtigen!“
+
+Für Augenblicke war es stumm zwischen beiden Männern. Teut hatte sich
+abgewandt und schaute auf die Gasse. Endlich trat Zirp näher und ergriff
+dessen Hand.
+
+„Teut, welch ein Mensch sind Sie! Unter Tausenden ist nicht
+Ihresgleichen. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich eingedenk sein werde
+dieser Stunde und mich Ihnen bewähren werde als Freund. Dank, nochmals
+Dank! Ich gehe jetzt. Adieu----.“ Zirp wartete. Keine Bewegung, keine
+Antwort.
+
+Erst nach geraumer Zeit veränderte der Mann, dem ein so braves Herz
+unter des Königs Rock schlug, seine Stellung, und mit einem Blick, in
+dem sich widerspiegelte das Leiden seiner Seele, drückte er jenem die
+Hand und bat ihn durch eine Bewegung, das Zimmer zu verlassen.--
+
+Vierzehn Tage später empfing Teut von Zirp die Anzeige, daß dieser sich
+mit Eva von Ink verlobt habe. Anfänglich starrte Teut das Billet
+überrascht an und schüttelte den Kopf, bald aber ergriff er die Feder
+und schrieb unter Beifügung des inzwischen eingelösten Wechsels die
+nachfolgenden Worte:
+
+„Lieber Freund! Ich gratuliere. Sie haben den Weg eingeschlagen, der
+Ihnen die Ausführung Ihrer Entschlüsse zu einem neuen Leben
+erleichtert, ja, wie ich hoffe, sichert! Bravo deshalb!
+
+Stets Ihr
+
+Axel von Teut-Eder.“
+
+Auch der Familie Ink sandte Teut seine Glückwünsche, aber einen Besuch
+machte er nicht.
+
+ * * * * *
+
+Der Sommer 1870 war gekommen, der Krieg zwischen Deutschland und
+Frankreich stand vor der Thür. Eine ungeheure Erregung hatte alle
+Gemüter ergriffen, und auch in C. sprach man von nichts anderem als von
+diesem drohenden, in alle Verhältnisse eingreifenden Ereignis. Begierig
+lasen die Männer die Zeitungen, eine Nachricht überholte die andere, und
+in den militärischen Kreisen herrschte fieberhafte Spannung über die zu
+erwartenden Marschordres.
+
+„Ist's wahr, ist's möglich?“ rief Ange und eilte Teut entgegen, der sich
+sogleich zu seinen Freunden begab. „Haben Sie schon Befehl zum Ausrücken
+erhalten? Wann? Wohin geht's? O, kommen Sie! Carlos ist in großer
+Ungeduld, Sie zu sehen und zu sprechen.“ Und sie zog ihn mit sich fort
+in ihres Mannes Gemach.
+
+Clairefort war kaum wiederzuerkennen. Die drei Jahre, seitdem er nach
+C. versetzt war, hatten ihn völlig verändert. Sein Blick war unheimlich
+starr, ein schwarzer Bart umrahmte sein Gesicht, und die mageren Finger
+zuckten in nervöser Erregung. Er bewegte sich unsicher, hielt sich
+meistens an den Möbeln fest und schritt auch dann mit jenen willenlosen
+Bewegungen einher, an denen man die Rückenmarkleidenden erkennt. Durch
+übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel hatte er seinen Zustand nicht
+gebessert, und oft glich er, wenn er aus dem künstlichen Schlaf
+erwachte, einem Geisteskranken.
+
+Heute war er klarer; er hob sich in seinem neuerdings für ihn
+angefertigten Krankenstuhl empor und richtete einen fragenden Blick auf
+den Eintretenden.
+
+„Schon etwas Neues, Teut? Wann geht's fort? Ah, und ich liege hier, ein
+ohnmächtiger Kranker, und muß zusehen.“
+
+Ange tröstete mitleidig und verwies auf Besserung, freilich ohne es
+selbst zu glauben. Teut nickte ernst und gab Antwort auf diese und
+spätere Fragen.
+
+„Ich denke, wir werden übermorgen C. verlassen“, sagte er. „Dem Oberst
+ist nur mitgeteilt, daß wir uns bis dahin marschfertig halten sollen.
+Eine bestimmte Ordre ist noch nicht eingetroffen.“
+
+„Schon übermorgen,“ rief Ange erschrocken, ließ die Arme sinken, die
+noch eben auf der hohen Lehne des Krankenstuhls geruht hatten, und legte
+die Hand aufs Herz. Auch Clairefort wiederholte dieselben Worte, aber
+wie ein Abwesender, der mit seinen Gedanken weit fort ist.
+
+„Bitte, Ange,“ hob er endlich mit sichtlicher Überwindung an, „verlasse
+uns jetzt. Ich habe etwas mit Teut zu besprechen.“
+
+Ange sah das ernste Gesicht der beiden Männer und wandte sich gehorsam
+zum Gehen. Teuts Mienen blieben unbeweglich: vergeblich suchte sie
+seinen Blick.
+
+Nachdem sie das Gemach verlassen hatte, fiel Clairefort zurück und
+bedeckte das Gesicht mit den Händen.
+
+„Sie sind bewegt! Was ist Ihnen, Clairefort?“ begann Teut, einen Stuhl
+herbeirückend und des Freundes Schulter berührend. „Sie wünschen mir
+etwas zu sagen? Ich höre, Clairefort.“
+
+Er hielt inne und erwartete, daß jener das Wort ergreifen werde. Als
+Clairefort stumm blieb, fuhr er fort:
+
+„Reden Sie! Was es auch sei, es fällt in den tiefsten Brunnen! Teilen
+Sie sich dem Freunde mit, der alles verstehen, und alles--“
+
+„Verzeihen kann?“ ergänzte der Kranke, richtete sich plötzlich empor
+und sah Teut mit einem flehenden Blicke an.
+
+„Ja,“ sagte Teut, „der alles verzeihen kann.“
+
+Endlich beim Abschied, vielleicht beim Nimmerwiedersehen löste sich
+Claireforts Zunge. Wie lange hatte Teut ein Vertrauen herbeigesehnt, das
+unter den gegebenen Verhältnissen so natürlich war. Immer hatte
+Clairefort geschwiegen. Oft schien er einen Anlauf nehmen zu wollen, um
+sein Inneres zu öffnen, um abzustoßen, was ihn bedrückte, aber stets
+hatte sich sein Mund wieder geschlossen.
+
+„Wohlan, es sei!“ begann Clairefort. „Es drängt mich, Ihnen heute zu
+sagen, was mich quält, Teut. Wer weiß, ob Sie mich noch lebend finden,
+wenn Sie zurückkehren. Hoffen wir es nicht, daß ich inzwischen
+davongehe, nehmen wir aber an, daß wir uns das letzte Mal
+gegenüberstehen. Vergeben. Sie mir auch--“ Clairefort stockte und holte
+mühsam Atem--„wenn ich Ihnen so oft wehe gethan habe, Sie durch
+Empfindlichkeiten, durch eifersüchtige Regungen, durch ein falsches
+Ehrgefühl kränke. Rechnen Sie, wenn es Ihnen möglich ist, ein wenig mit
+meinem Zustand, den ich selbst in seiner Bedeutung und seinem Umfang
+nicht kannte. Ich bin ein willenloser, schwankender Mensch geworden.
+Ach, Freund--“ Clairefort unterbrach sich, Schweißtropfen traten auf
+seine Stirn, und die Hände irrten unruhig umher--„ich habe mich
+unsühnbar vergangen gegen meine Frau und--meine Kinder--“ Er hielt inne,
+und auf seinem Gesicht malte sich eine furchtbare Angst. Er wollte
+weiter reden, aber vermochte es nicht.
+
+Teut sprach sanft auf ihn ein: „Erholen Sie sich, Clairefort. Und
+nochmals: Fürchten Sie keinen Tadel! Was es auch sei, vertrauen Sie sich
+mir an.“
+
+„Nun denn--“ ächzte jener und griff krampfhaft nach des Freundes Hand.
+„Nun denn--hören Sie. Ich habe--ich habe--nein, ich vermag Ihnen das
+Verbrechen--meine Schande nicht aufzudecken! Und doch möchte ich nichts
+verschweigen einem Manne, der wie keiner mein Vertrauen verdient, der es
+fordern kann, dem ich schon lange mich hätte eröffnen folgen, zu dem ich
+aber nicht sprach, weil die Scham mich erdrückte.“
+
+Teut hörte mit angstvoller Spannung zu. Was würde er hören? Schande,
+Verbrechen? Vergeblich sann er hin und her.
+
+„Seien Sie ein Mann, Clairefort. Raffen Sie sich auf. Wir sind hier zu
+zweien. Es bedarf keiner Versicherung, daß nie eine Silbe über meine
+Lippen kommen wird.“
+
+„Nun denn, Teut, ich habe--unser ganzes Vermögen, das Vermögen meiner
+Frau, mein eigenes, das meiner Kinder--an der Börse verspielt,“
+zitterte es aus des Kranken Munde. „Wir leben schon seit Jahresfrist von
+dem letzten durch Tibet ohne mein Wissen geretteten Kapital--und stehen
+in wenigen Wochen vor dem--vor dem Nichts--dem ich--ich--“
+
+Der Mann fiel zusammen wie ein Scheit, das im Ofen zu Asche verglommen,
+plötzlich sich ablöst.
+
+Teut wurde leichenblaß; es krallte sich um sein Inneres Schmerz und
+Empörung zugleich. Was er hörte, war mehr als entsetzlich. Das konnte
+ein Mann thun einem solchen Wesen, solchen Kindern? Er biß sich auf die
+Lippen und sprang empor. Aber nur einen Augenblicke dann lichtete sich
+in der Brust dieses seltenen Menschen der Funke edler Gesinnung, und
+lodernd schoß die Liebe empor für sie, der er geschworen, ein Freund zu
+sein fürs ganze Leben.
+
+„Clairefort,“ sprach er, „wir erörterten nur einmal Geldangelegenheiten,
+und es soll heute das letzte Mal sein. Fürchten Sie nichts. Anders wird
+Ihr Leben sich zwar gestalten, aber Sie werden nicht darben. Axel von
+Teut meint es ernst mit Freundschaft und Gelöbnissen. Diese Versicherung
+sei Ihnen genug. Was geschehen, was hinter uns liegt, werde nie wieder
+zwischen uns berührt. Nur eine Bitte spreche ich aus: Sichern Sie mir
+zu, daß Ange nie erfahren wird, wie Ihr Vermögen zerronnen, noch
+weniger, daß es gänzlich dahin ist. Verschweigen Sie namentlich die
+Rolle, welche fortan der Freund übernimmt. Ich gelte von heute als
+Verwalter Ihrer Einkünfte und als der Vormund Ihrer Kinder. Sind Sie
+einverstanden?“
+
+Clairefort hob sich empor. Seine Knie schlotterten, seine Augen glänzten
+überirdisch, aber indem er die Arme ausstreckte, um sich an des Freundes
+Brust zu werfen, glitt er aus und fiel schwerfällig auf den Teppich.
+
+Teut beugte sich herab und horchte an seinem Herzen. Es schlug. Rasch
+eilte er zur Klingel. Gleich darauf trat Ange, von Tibet gefolgt, ins
+Zimmer.
+
+„Beruhigen Sie sich, Gräfin,“ sagte Teut besänftigend. „Es ist nichts
+Schlimmes. Bringen wir Carlos ins Bett. Nur eine Ohnmacht. Er fühlte
+sich so schwach. Es wird vorübergehen.“
+
+Ange forschte angstvoll in den ernsten Mienen des Sprechenden, während
+Tibet seinen Herrn aufrichtete und sorgsam zu betten suchte.
+
+Nichts! Nur einmal sah er sie an, und in seinem Auge blitzte die alte,
+mit Trauer vermischte Zärtlichkeit.
+
+Und dann kam der Abschied. Es war an einem Spätnachmittage. Ange war im
+Begriff, in den Garten hinabzusteigen, um die abgekühlte Luft zu
+genießen und nach den Kindern zu sehen. Jorinde und Ben schaukelten
+unter den schon dunkle Schatten werfenden Buchen in der Hängematte, und
+Fred und Erna holten Gießkannen herbei, um den Blumen ihrer Beete Wasser
+zu geben. Aus den Gebüschen, aus dem Erdreich quoll ein sanfter Duft,
+denn der Tau reizte die zarten Nerven der Bäume und Gräser. Bevor Ange
+die letzten Treppenstufen erreicht hatte, öffnete sich die Thür und Teut
+trat ihr entgegen. Sie sah an seinem Blick, daß er komme, um lebewohl zu
+sagen.
+
+„Ich gehe zu Carlos hinauf,“ sagte Teut, „falls Sie in den Garten
+wollen, werde ich Sie später dort aussuchen. Noch diesen Abend verlassen
+wir die Stadt.“
+
+Ange lehnte sich an das Geländer und legte die Hand auf die Brust.
+
+„Also wirklich?“ Sie sah ihn mit einem ihrer stillen Blicke an, und er
+suchte ihre Augen mit einem Ausdruck, in dem sich nur zu deutlich
+widerspiegelte, was ihn bewegte.
+
+„Werden Sie mitunter meiner gedenken, Ange?“
+
+Sie antwortete nicht, sie neigte nur leise das Haupt. Wie schön sie
+gerade heute war! Ein eng anschließendes schwarzes Kleid umspannte
+ihren Leib, und zwei weiße Rosen schmückten ihre Brust. Um den Kopf
+hatte sie ein leichtes Tuch geschlagen, unter dem das zarte Gold ihres
+Haares hervorschaute. Und in dem Blauweiß ihrer Augen schwammen jene
+sanften und doch so dunkel blitzenden Sterne, welche kein Mann vergaß,
+wenn er sie einmal gesehen hatte. Während sie so vor ihm stand und das
+leichte Haupt auf die Hand stützte, fielen die reichen Spitzen des
+Gewandes zurück, und ein Arm von tadellosem Ebenmaß ward sichtbar. Ihre
+Gestalt schien in diesem Augenblicke frei in der Luft zu schweben, bei
+der unnachahmlichen Grazie ihrer Erscheinung von der Erde abgelöst zu
+sein.
+
+„Liebe Ange!“ flüsterte Teut, von ihrem Anblick hingerissen, und trat
+einige Schritte vorwärts.
+
+Sie aber glitt langsam die Stufen hinab und bat ihn durch eine Bewegung,
+ihr zu folgen.
+
+Sie umschritten, ungesehen von den Kindern, das Haus und bogen in einen
+stillen Laubgang ein. Die untergegangene Sonne webte noch mit schwachen
+Lichtern in der Ferne; hier war es fast dunkel.
+
+Wortkarg gingen sie nebeneinander her; beiden stockte die Sprache. Als
+sie zum zweitenmal den Weg maßen, schlug der Ruf eines der Kinder an ihr
+Ohr. „Mama Ange! Mama Ange! Wo bist du?“
+
+Nun ergriff er hastig ihre Hand, legte seinen Arm um ihren Leib, und
+indem sie es duldete, fühlte er, daß eine Sekunde ihr Haupt an seiner
+Brust ruhte.
+
+„Dank, Dank für alles, Teut! Auf Wiedersehen!“ schluchzte sie und riß
+sich von ihm los. „O Ange, Ange, meine liebe Freundin! Vergessen Sie
+mich nicht!“ flüsterte der Mann und hielt die aus dem Dunkel wie eine
+Lichterscheinung hervortretende Gestalt zurück.
+
+„Niemals, niemals, Teut!“ preßte sie unter Thränen hervor. „Doch
+nun--die Kinder rufen!“
+
+Sie traten aus den sie umgebenden Bäumen heraus. Im Grase zirpte es
+leise, ein Vogel flatterte schlaftrunken in den Zweigen. Drüben schien
+die Sonne ganz versunken; der Tag war zur Ruhe gegangen, und ihre Hände
+lösten sich.
+
+ * * * * *
+
+„Lieber Teut!
+
+Gottlob, daß Ihr Brief kam. Sie haben mich aus einer unsagbaren Angst
+befreit. Jetzt weiß ich, daß Sie am Leben und gesund sind; nun tritt
+alles übrige in den Hintergrund. Ich schreibe auch gleich, um Ihnen an
+den Tag zu legen, wie sehr meine Gedanken bei Ihnen sind.
+
+Lassen Sie mich vorerst erzählen, wie es bei uns geht. Carlos' Zustand
+ist derselbe hilflose, aber er ist zeitweise heiterer und mitteilsamer.
+Ich war sehr gerührt, als er vorgestern die Kinder zu sich kommen ließ,
+sie liebkoste und sich mit ihnen beschäftigte. Das ist seit Jahr und Tag
+nicht mehr der Fall gewesen.
+
+Sie glauben aber auch nicht, wie artig die kleine Schar ist und welche
+Fortschritte sie macht.
+
+Ben und Fred gehen nun ins Gymnasium und stolzieren sehr wichtig mit
+ihren Schulranzen einher. Mit Fräulein Elise, der Gouvernante, geht es
+fortdauernd gut. Sie ist eine liebenswürdige, gutherzige Dame, und die
+Mädchen zeigen ihr auch täglich, wie lieb sie dieselbe haben.
+
+Es wird Sie freuen, lieber, vortrefflicher Freund, daß Carlos jetzt auch
+nicht mehr so übertrieben sparsam ist. Seit Ihrem Fortgang hat er für
+den Haushalt zugelegt, und auch Tibet hat mehr zur Verfügung als in dem
+letzten halben Jahre. Ich hatte schreckliche, peinliche Verpflichtungen
+bei Handwerkern und in meiner Umgebung--schelten Sie nur nichts ich
+verstand es ja bisher so schlecht, lerne es aber gewiß noch einmal ganz
+gut--, die nun alle bezahlt sind. Welch ein köstliches Gefühl, keine
+Schulden zu haben!
+
+Die Villa behalten wir einstweilen, da die Miete ermäßigt ist. Carlos
+stellte dem Besitzer die Alternative, abzulassen oder der Kündigung
+gewärtig zu sein.
+
+Sehen Sie, so ist es bei uns. Wäre mein teurer Carlos nicht so krank,
+lebte Carlitos noch und wären Sie nicht fort, Sie mein lieber, treuer
+Teut, ich würde sagen, daß wir vollkommen glücklich sind!
+
+Ich bekam neulich, auf Empfehlung von Fräulein Elise, die Briefe der
+Madame de Sévigné an ihre Tochter in die Hand. Welch ein Genuß! Jede
+Mutter sollte lesen, was diese weltkluge und feinfühlende Frau
+geschrieben hat, und suchen, es sich zu eigen zu machen.
+
+Noch eins. Jorinde spielt jetzt wirklich allerliebst Klavier, und
+neulich hatte sie mit Fred ein kleines vierhändiges Stück zu Carlos'
+Geburtstag eingeübt, das großen Erfolg hatte. Elise war sehr stolz, und
+ich habe ihr--das werden Sie, Bärbeißiger, nun wieder höchst
+unvernünftig finden--eines meiner seidenen Kleider geschenkt.
+
+Ich komme ja doch nicht mehr in die Gesellschaft, habe auch, ehrlich
+bekannt, wenig Verlangen danach.
+
+Neulich hat Frau von Ink mir einen Besuch gemacht. Ich begegnete
+Fräulein Eva, der Braut, und nahm sie mit mir. Ich finde es doch sehr
+artig, daß sie sich persönlich bedankt hat. Ich weiß, Sie mögen die Dame
+nicht, gestehe aber, daß ich sie sehr liebenswürdig finde, und daß ich
+den Eindruck habe, sie meine es gut mit mir.
+
+Nein! nein! höre ich Sie sprechen. Nun, wenn Sie kommen, können wir ja
+den Verkehr wieder einschlafen lassen.
+
+Fred läßt Ihnen sagen, Sie möchten ihm einen französischen Tschako
+mitbringen. Werden Sie es nicht vergessen? Ange umarmt Sie zärtlich.
+Eben kommt sie herbeigelaufen und will Bonbons. Sie erhält aber keine.
+Onkel Axel möchte französische Bonbons schicken! meint sie.
+
+Heute will ich meines Carlitos' Grab besuchen, Teut; ich lege auch in
+Ihrem Namen eine Blume darauf nieder.
+
+Und nun leben Sie wohl, Sie Einziger, Bester, und schreiben Sie bald
+wieder und Gutes Ihrer Sie herzlich grüßenden und dankbaren
+
+Ange von Clairefort.
+
+Ach, wenn doch der schreckliche Krieg erst beendet wäre!“
+
+Als Teut diese Zeilen empfangen hatte, schrieb er einen Feldpostbrief,
+welcher an seinen Banquier in Berlin gerichtet war. Dieser Brief, von
+dessen Inhalt Ange später Kenntnis erhielt, möge hier Platz finden.
+
+„Geehrter Herr!
+
+Kurz vor meiner Abreise von C. ersuchte ich Sie monatlich die Summe von
+tausend Mark an die Adresse des Bankhauses Danz u. Co. in C. abzuführen
+und demselben mitzuteilen, daß dieser Betrag gegen die eigenhändige
+Quittung des Grafen Carlos von Clairefort und die Gegenzeichnung des
+Empfangnehmenden Ernst Tibet auszufolgen sei.
+
+Ich bitte, und zwar vom ersten des kommenden Monats ab, diesen Betrag um
+fünfhundert Mark zu erhöhen, also fortan fünfzehnhundert Mark zur
+Begleichung einer Schuld an den Herrn Grafen Clairefort zu zahlen. Wegen
+der an mich zu sendenden Monatsraten bleibt es bei den früheren
+Bestimmungen.
+
+Ich ersuche Sie zugleich, sich umzusehen, ob die beiden großen Posten
+von je dreihunderttausend Mark nicht in Zukunft zu fünf Prozent in
+zweiten Hypotheken unterzubringen wären. Ich denke, es giebt dergleichen
+sichere Anlagen, und ich könnte meine Einnahmen erhöhen. Da ich in der
+Folge vom Zinsenkapital nicht mehr zurücklegen kann, muß ich mich etwas
+einzurichten suchen.
+
+Dem dortigen Hilfskomitee für die Verwundeten wollen Sie unter A.v.E.
+gefälligst fünftausend Mark überweisen.
+
+Ich sage Ihnen im voraus meinen Dank und erbitte Ihre baldigen
+Mitteilungen.
+
+Baron von Teut-Eder,
+
+Rittmeister und Eskadronchef.“
+
+ * * * * *
+
+Die beiden Briefe, nach ihrem Inhalt bezeichnend für Ange und Teut,
+wurden im September geschrieben, aber bereits zwei Monate später trat im
+Clairefortschen Hause ein so folgenschweres Ereignis ein, daß alles für
+die Familie in Frage gestellt schien.
+
+Als sich Ange eines Morgens in das Zimmer ihres Mannes begab, um sich
+ihrer Gewohnheit gemäß, nach seinem Befinden zu erkundigen, schlug ihr
+eine unerträgliche Hitze entgegen, und sie fand ihn nicht wie sonst
+bereits an seinem Schreibtische sitzen. Wenn Clairefort starke Schmerzen
+in der Nacht fürchtete, pflegte er häufig noch spät abends von Tibet
+heizen zu lassen, denn nur allzuoft verursachte ihm sein Zustand
+Schlaflosigkeit.
+
+Als Ange ins Gemach spähte, fand sie zu ihrem Schrecken, den Nachttisch
+umgeworfen; Glaser, Leuchter und Flaschen waren herabgestürzt und
+bedeckten Fußboden und Teppich. Clairefort selbst aber lag--das Haupt
+nach unten und mit den Füßen das Kopfkissen berührend--neben der
+zurückgeschlagenen Schlafdecke wie ein Lebloser hingestreckt.
+
+Ange flog ans Bett und horchte auf ihres Mannes Atem. Sein Herz schlug
+so leise, daß sie es kaum zu hören vermochte, und sein Aussehen war so
+verändert, daß sie--jetzt todesgeängstigt--die Schnur zog.
+
+„Was ist geschehen? Was ist geschehen, Tibet?“ rief sie, als dieser
+näher trat. „Waren Sie noch in der Nacht bei dem Grafen? Sehen Sie, wie
+schrecklich er aussieht! Sein Herzschlag geht leise! Ich ängstige mich
+namenlos!“
+
+Tibet warf einen betroffenen Blick umher und näherte sich seinem Herrn.
+
+„Ich möchte glauben, daß der Herr Graf wohl ein sehr starkes
+Schlafpulver zu sich genommen hat,“ erklärte er beruhigend. „Während
+heftiger Träume mag er um sich geschlagen und zufällig den Tisch berührt
+haben. Das ist früher auch schon vorgekommen.“
+
+„Ach, der Arme!“ sagte Ange mitleidig. „Gewiß hatte er wieder seine
+furchtbaren Schmerzen. Und meinen Sie, daß er schläft, daß keine Gefahr
+vorhanden ist, Tibet?“
+
+„Nein, Frau Gräfin, dürfen sich beruhigen.“
+
+Nach dieser Versicherung traten beide ins Wohngemach.
+
+„Glauben Sie nicht,“ fragte Ange nach einer Pause und dämpfte ihre
+Stimme, „daß diese starken Schlafmittel sehr schädliche Nachwirkungen
+haben?“
+
+„Ja, Frau Gräfin,“ erwiderte Tibet; „aber viel schlimmer sind noch--“
+
+Er unterbrach sich mit einem Gesichtsausdruck, als ob das letzte Wort
+ihm nur entschlüpft sei.
+
+Als Ange sah, daß ihr etwas verheimlicht werden sollte, stieg ihre
+Angst.
+
+„Nicht doch, nicht doch! Sie wollen mir etwas verschweigen. Ich will und
+muß es aber wissen. Ach Tibet! War es überhaupt gut, daß Sie nie
+mitteilsam gegen mich waren? Wer weiß, ob nicht manches hier im Hause
+anders stände!“
+
+Sie strich sich mit der schmalen Hand über die thränenden Augen.
+
+„Reden Sie, ich beschwöre Sie!“ fuhr sie fort, als er noch immer
+schwieg. „Was ist noch schlimmer? und welche Heimlichkeiten haben Sie
+mit meinem Gemahl schon seit Jahren?“
+
+„Ach, Frau Gräfin--“ stotterte Tibet und sah Ange bittend an. „Es ist
+nichts, gewiß nicht!“
+
+„Ist es denn Neugierde, die mich veranlaßt, Sie zu fragen?“ sagte Ange
+mit sanftem Ernst und blickte Tibet traurig an. „Ist es nicht die Sorge
+für meinen geliebten Mann! Ach, ach! wie viele thränenvolle Stunden habe
+ich schon um seinetwillen gehabt!“
+
+Tibet hatte ganz die Fassung verloren. Er stand da wie jemand, der sich
+eines schweren Vergebens schuldig fühlt und aus Scham und Verzweiflung
+kein Wort findet. Endlich raffte er sich auf und sagte:
+
+„Verzeihen Sie mir, Frau Gräfin. In allem, was ich that, folgte ich dem
+Befehl des Herrn Grafen. Wenn ich unrecht that--ich that gewiß unrecht
+gegen Sie--o, so vergeben Sie es mir!“
+
+„Nun wohl! Lassen wir Vergangenes! Aber was ist jetzt?“ drängte Ange.
+„Sprechen Sie endlich.“
+
+Tibet sah mit scheuem Blick nach der Thür und flüsterte leise: „Schon
+seit reichlich einem Jahr nimmt der Herr Graf überaus starke Dosen
+Morphium zu sich. Niemand weiß es. Er befahl mir unbedingte
+Verschwiegenheit. Auch gegen Sie verbot er, darüber zu sprechen.“
+
+Ange bewegte traurig das Haupt: plötzlich aber schrak sie auf.
+
+„Barmherziger Himmel! Sollte ihm doch bereits etwas zugestoßen sein?“
+
+Sie eilte von Tibet fort, wandte sich ins Nebenzimmer und stieß,
+hineinblickend, einen Schrei aus.
+
+Clairefort saß wachend aufrecht im Bett. Er sah Ange mit stieren Augen
+an und schien sie doch nicht zu sehen. Unzusammenhängende Worte glitten
+über seine Lippen.
+
+„Carlos, Carlos, mein geliebter Carlos!“ rief Ange, flog an sein Lager
+und ergriff seine Hand.
+
+„Sag, was ist Dir? O, komme zu Dir! Es ist Ange, Deine Ange! Hörst Du
+sie nicht?“
+
+Er nickte wie ein Abwesender. Offenbar ward er nicht Herr der ihn
+bedrückenden Vorstellungen, und um sie zu verscheuchen, glitt er
+wiederholt mit den kranken Händen über Stirn und Haar.
+
+Ange heftete mit zerrissenem Herzen die Augen auf ihren Mann. Auch Tibet
+war tief erschüttert durch diesen Anblick.
+
+„Wünschest Du das Frühstück, Carlos? Soll ich nicht die Fenster öffnen
+und frische Luft hereinlassen? Willst Du aufstehen--Dich in Deinen Stuhl
+setzen? Sprich Lieber! Was hast Du? Ach, ach!“
+
+Nichts! Er schien nicht zu hören, und sie sank wie zerknickt neben ihm
+nieder.
+
+Immer starrte er geradeaus, griff sich an die Stirn und suchte mit
+vergeblicher Anstrengung seinen Geist zu ordnen.
+
+Jetzt erhob sich Ange und riß die Fenster auf.
+
+„O, ich ersticke in dieser Luft! Sie muß auch Dir schädlich sein! Komm,
+laß Dich mit Wasser benetzen. Tibet helfen Sie! Wir wollen den Grafen
+drinnen in dem luftigen Zimmer betten.“
+
+Aber Clairefort fiel, ehe sie ihn berührten, schwerfällig zurück, schloß
+die Augen und blieb bewußtlos liegen. Es hatten ihn abermals der Schlaf
+oder eine Ohnmacht befallen.
+
+Nun eilte Tibet zu dem Arzt, und inzwischen saß Ange wie eine
+Verzweifelte an dem Bett des Kranken.
+
+Nach einer Weile kamen die Kinder, die ihre Mama vergeblich beim
+Frühstück erwartet hatten. Es schnitt Ange durch die Seele, als sie so
+fröhlich und ahnungslos hereinstürmten. Noch lag die feine Röte einer
+gesund verbrachten Nacht auf ihren Wangen, noch umströmte sie in ihren
+sauberen hellen Morgenkleidern jene aufquellende Frische, die namentlich
+Kinder nach dem Schlafe wie ein unsichtbarer Hauch umwebt.
+
+„Mama, Mama, wo bleibst Du denn?“ rief die kleine Ange und stand da und
+sah so schön aus, als ob eine zarte Blüte eben vom Baum geschwebt sei.
+
+Aber sie schraken zurück, als sie den kummervollen Ausdruck in Anges
+Augen bemerkten, als sie mit ihrem Instinkt begriffen, daß ihrem Papa
+etwas zugestoßen sein müsse.
+
+„Geht, geht, lieben Kinder!“ sagte Ange sanft und traurig wie damals,
+als den kleinen Carlitos das furchtbare Fieber erfaßt hatte. „Papa ist
+sehr krank. Ich muß noch bei ihm bleiben. Ich komme bald! Frühstückt nur
+allein--und--dann eilt euch. Ben, Fred, ist's nicht schon Zeit für die
+Schule?“
+
+Sie nickten gehorsam und schlichen auf den Zehen davon.
+
+Und doch war dies nur ein trauriges Vorspiel zu dem noch traurigeren
+Ende.
+
+Zwar erholte sich Clairefort, und einige Zeit schien er sogar wieder
+geistig frischer und körperlich gesunder, aber dann erfaßte ihn von
+neuem eine wortkarge teilnahmlose Schwermut. Er wollte niemanden sehen
+und sandte selbst Tibet fort, der neuerdings bei ihm nachts gewacht
+hatte.
+
+„Nein, nein, gehen Sie! Seit lange hatten Sie keinen ordentlichen
+Schlaf, Tibet. Ich fühle mich heute ganz wohl und bedarf Ihrer nicht
+mehr,“ beschied er ihn eines Abends und bestand auf seinem Willen.
+
+Als Tibet sich entfernt hatte--ein ungewöhnlich freundlicher Blick traf
+ihn heute aus Claireforts Auge--, setzte sich dieser an seinen
+Schreibtisch und arbeitete mehrere Stunden. Endlich erhob er sich mühsam
+und trat, sich an Tisch und Stühlen vorwärts tastend, an den Spiegel. Er
+blickte hinein und schrak vor seinem eigenen Bilde zurück. Es machte ihn
+sogar ängstlich, denn er schaute sich furchtsam um, und ein Schauer flog
+über seinen Körper.
+
+„Sterben!“ flüsterte er. „Ja dann fallen alle Gespenster, weichen alle
+Schmerzen und sind alle Seelenqualen vorüber.“
+
+Auf dem Wege zu seinem Schlafgemach blieb er noch einmal zaudernd
+stehen.
+
+Nur allzu lang ist oft die Brücke! Ein einziger plötzlicher Gedanke,
+irgend eine liebe oder peinliche Erinnerung verknüpft den Menschen von
+neuem mit dem Leben, und der grauenhafte, blitzartig oder allmählich
+entstandene Entschluß wird doch zu Nichte.
+
+Clairefort ließ sich aufs Bett nieder und griff mit zitternden Händen
+tief unter die Decke. Bei dieser Bewegung setzten unerwartet die
+Schmerzen wieder an, und wimmernd hielt er inne. Aber bald begann er von
+neuem, fand endlich, was er hier verborgen hielt, und stellte es auf
+den Tisch. Es waren zwei Flaschen mit verschiedenem Inhalt.
+
+„Dies wird sicher genügen, um nicht wieder aufzuwachen,“ murmelte er.
+Aber doch verging noch eine lange Zeit, ehe er sich zum Sterben rüstete.
+Seine Gedanken flogen hin und her wie Herbstvögel; oft traten ihm
+Thränen ins Auge. Einmal schleppte er sich in sein Wohngemach zurück,
+öffnete den Schreibtisch und nahm Anges Bild hervor. Es war zur Zeit
+ihrer Verlobung gemalt.
+
+„Ach, wie schön, wie schön!“ flüsterte der Mann und bedeckte das Glas
+mit Küssen. „Und Dich soll ich verlassen? Und Euch, Euch, Ihr süßen
+Kinder--“
+
+Es packte ihn die Angst und die Scham, furchtbare Schauer jagten durch
+seine Seele. Kalter Schweiß brach hervor auf seiner Stirn. Was wurde aus
+ihnen? Welch ein erbärmlicher, gewissenloser Mensch war er! Er wollte
+davongehen, und nicht einmal für das Nächstliegende, ja vielleicht nicht
+einmal für sein eigenes Totenhemd war gesorgt.
+
+Aber halt! War da nicht ein Geräusch auf dem Korridor?
+
+Hastig verschloß Clairefort das Porträt, als sei's ein Vergehen, es zu
+betrachten. Er lauschte herzklopfend--schlich wie ein Dieb an seine
+eigene Thür. Aber es war nichts.
+
+Nun nahm er seinen Platz wieder ein und lehnte sich zurück. Konnte er
+noch gesund, schmerzensfrei werden?
+
+Nein, jetzt niemals mehr! Ohne Morphium vermochte er überhaupt ferner
+nicht zu leben. Was that er noch auf der Welt? Seine Pflicht, die
+Pflicht gegen die Seinigen hielt ihn! Nein, auch die konnte ihn nicht
+ans Leben fesseln. Er war ja ein Nichts. Er war nur eine Last--nur ein--
+
+Es übermannte ihn die Seelenqual: er schluchzte und erschrak vor den
+Tönen, die sich seiner eigenen Brust entrangen. Er war nur ein Hindernis
+für Anges Glück. Fort denn, je schneller, desto besser!--Teut! Teut! Da
+kam ihm der Gedanke an ihn. Welch ein Mensch! Er würde sie nicht
+verlassen. Nein, sicher nicht! Gut, also sterben--
+
+Was Clairefort noch zu sagen hat, befindet sich in den Blättern
+aufgezeichnet, welche Ange morgen finden wird.
+
+Aber wenn er nun nicht stirbt, wenn es nicht gelingt, wie jüngst? Er
+bewegt den Kopf. Wohl, er wird das Schriftstück unter sein Kopfkissen
+legen, nicht auf den Tisch. Wacht er abermals auf, dann bleibt seine
+Absicht verborgen.
+
+Während er sich an sein Bett wendet, ziehen noch einmal die letzten
+Jahre an ihm vorüber. Wie er zum erstenmal gespielt und ihn dann der
+Teufel erfaßt hat, wie er vom Glück begünstigt wird und dann doch alles
+wieder verliert. Und immer von neuem verliert! Wie er innehalten will
+und doch sich überredet, er werde den Verlust zurückerobern,
+endlich--ein Verzweifelter--die größten Summen einsetzt, um abermals
+betrogen zu werden und zuletzt sich sogar am fremden Eigentum vergreift!
+Das Vermögen seiner Frau, seiner Kinder opfert er auch noch dem
+wahnsinnigen Gelüste!
+
+Die Decke auf dem kleinen Nachttisch hat sich verschoben. Clairefort
+zupft daran. Noch im letzten Augenblicks beherrscht ihn der kleinste
+Gewohnheitsdrang.
+
+Er legte sich nieder, macht fast pedantisch alle Vorbereitungen,
+zittert, setzt erst das eine Glas an, greift dann zum anderen--
+
+Nun sinkt er zurück----
+
+ * * * * *
+
+Noch während Carlos' sterbliche Überreste in der Villa standen, warf
+Ange einen Blick in die zurückgelassenen Blätter. Sie las den Inhalt in
+der zweiten beginnenden Nacht, und die Gespenster des Entsetzens drangen
+auf sie ein.
+
+Sie zerknitterte die Schriftstücke in ihrer Hand, sprang empor und rief
+nach Tibet. Ernst, bleich, ahnend, was vorgefallen, erschien der Mann
+und blieb wie angewurzelt an der Thür stehen.
+
+„Tibet! Tibet!“ schrie Ange, blaß, abgehärmt und kaum wiederzuerkennen
+durch die Wirkungen ihres maßlosen Schmerzes. „Das alles wußten Sie seit
+langen Jahren und Sie schwiegen? Dem allen waren Sie ein Helfer und
+kannten und liebten doch meine Kinder? O Mensch, sprechen Sie, damit ich
+wenigstens einen Grund finde, Ihnen zu verzeihen! Nicht verloren durch
+Ungemach, alles was wir besaßen--nein, durch Spiel--durch Spiel! Man
+sitzt über Menschen zu Gericht, tötet sie, wenn sie, von der
+Leidenschaft fortgerissen, einen andern morden!--Ist Leidenschaft denn
+Vernunft, und kann man richten, wo die Vernunft fehlte? Aber wie ahndet
+ein Gott ein so furchtbares Verbrechen?--Wie er es ahndet? An dem Glück
+Lebendiger, indem er die Unschuldigen ins Verderben zieht! Kinder,
+reine, arglose Geschöpfe müssen dafür büßen!--Was hier geschehen, sucht
+seinesgleichen; Ich las wohl Schreckliches, wie Menschen sich gegen
+Menschen versündigten; ich hörte von Mord, Gift, Verrat, Folter. Ist
+eine solche Handlungsweise nicht herzloser, unmenschlicher? Ein
+Familienvater, der weiß, daß ihn Gott mit zehrender Krankheit
+geschlagen, spielt--spielt auch dann noch ohne Anlaß, ohne Not,
+vergreift sich an fremdem Eigentum und wagt das letzte um eines Vorteils
+willen, der ihn um keinen Schatten glücklicher machen konnte. Zuletzt
+giebt er sich den Tod--ein Selbstmörder!--Ein Selbstmörder?--O leise,
+leise, daß es niemand hört! Verbrennen wir diese Schande! Rasch,
+Tibet!--Und doch, nein! Es ist ja von seiner Hand, das letzte von ihm,
+welcher der Vater meiner Kinder war, den ich so unsagbar liebte, der
+litt, in Schmerzen sich wand!--Nein, nein, vergessen Sie, was ich sagte!
+Ich sprach irre. Mit meinem Herzen hatte es nichts zu thun. Ich weiß,
+wie er gelitten hat. Kein Mensch starb unter solchen Qualen, keinen
+Menschen gab es, den der Tod bei Lebzeiten schon so marterte!--Aber was
+soll nun werden? Hier, hier steht's. Ein rätselhafter Satz: ‚Und dennoch
+ist für Deine Zukunft gesorgt, Ange. Ich glaube es. Dieser Glaube, diese
+Hoffnung erleichtert mir den Tod. Ich darf nicht reden. Ein Schwur
+verbietet es. Frage Tibet, ihn bindet kein Gelöbnis.‘--Nun, so reden
+Sie, Tibet! Was ist's? Um meiner armen Kinder willen flehe ich Sie an!
+Sprechen Sie! Ach! ach!“
+
+Ange sank in einen Stuhl neben dem Tische nieder, auf dem Carlos'
+furchtbares Vermächtnis lag, und weinte so herzerbarmend, daß dem Manne,
+der das alles stumm angehört hatte, bei diesem Jammer das Herz
+zerschmolz.
+
+Als Tibet immer noch nicht antwortete, schoß Ange empor:
+
+„Sprechen Sie!“ rief sie. „Ich fordere es bei dem Andenken des
+Unglücklichen! Ich fordere es für die Unmündigen! Ich erbitte es--um
+meinetwillen--“
+
+Ihre Stimme versagte.
+
+„O, beruhigen Sie sich, Frau Gräfin!“ zitterte es aus Tibets Munde. „Ich
+will sprechen, da Sie es verlangen, und ich schwöre Ihnen bei dem Gott,
+an den ich glaube, daß ich unschuldig bin! Ich habe in all den Jahren
+den Grafen angefleht, von dem unseligen Spiel zu lassen. Ich habe ihm
+sogar in dem Gedanken an Sie und die Kinder einmal einen Gewinn
+verheimlicht, bis die Not--“--er stockte, und Ange sah ihn fragend und
+furchtsam an--„bis die Not mich zwang. Wir hatten nichts mehr zum Leben.
+Mit diesem Betrage bestritt ich im letzten halben Jahre die Ausgaben
+bis, bis--“
+
+Ange unterbrach ihn nicht; sie saß wie erstarrt.
+
+„Ein Eid band mir die Zunge. Ich verdanke ja alles dem Herrn Grafen. Ich
+durfte nicht reden und litt mehr darunter, als Worte zu beschreiben
+vermögen, Frau Gräfin; glauben Sie mir! O, vernichten Sie mich nicht
+ganz, indem Sie mir Ihr Wohlwollen entziehen!“
+
+„Gut, gut! Weiter!“ drängte Ange leichenblaß und in steigender Erregung.
+„Und das Geheimnis? Ich will alles wissen. Auch das Schrecklichste kann
+mich nicht mehr erschüttern, und ist es ein Trost, eine
+Erleichterung--nun, um so besser.“
+
+Noch zögerte Tibet; die Zunge war ihm wie gelähmt. Seine Knie
+schlotterten. Er wußte, was er hervorrief. Er hörte schon den Schrei der
+Empörung von ihren Lippen.
+
+„Mensch,“ rief Ange und ballte die kleinen Hände in furchtbarer
+Erregung, „machen Sie nun ein Ende! Ich bin ein Weib, zarter, schwacher
+geartet, auch nicht vertraut mit Hinterlist und Lügen--“
+
+„O, Frau Gräfin!“ ächzte Tibet bei diesen Worten. Eine fahle Blässe flog
+über sein Gesicht.
+
+Sie begriff, wie tief sie ihn verwundet. Sie sah es und streckte ihm die
+Hand entgegen. Sie wußte nicht mehr, was sie sprach. Sie bat es ihm ab,
+und ein Schimmer dankbarer Freude flog über seine Züge.
+
+„Nun denn--“ sagte Tibet kurz und ohne Betonung, „wir leben bereits seit
+Ausbruch des Krieges von der Güte des Herrn von Teut. Ich habe monatlich
+tausend Mark, später fünfzehnhundert Mark bei einem hiesigen Bankhaus
+für unseren Unterhalt erhoben.“
+
+Ja, nun schrie allerdings die Frau auf, daß die Gegenstände umher zu
+erbeben schienen. Es hallte durch das ganze Haus, drang in den kleinsten
+Raum.
+
+„Carlos! Carlos!“ rang es sich aus Anges Brust. Er mußte in seinem
+Totenschrein aufwachen bei diesem Schrei, denn er umfaßte eine Welt von
+Empörung, Schmerz und Scham. Derselbe Mann, der Teut durch Eifersucht
+verwundet, durch Mißtrauen gekränkt, noch jüngst durch hochmütige
+Zurückweisung von Geschenken verletzt hatte, nahm Wohlthaten in solchem
+Umfange und verwies im Sterben, im Selbstmord auf die Hochherzigkeit
+dieses Freundes.
+
+Für Augenblicke war es totenstill in dem Zimmer. Ange brach zusammen,
+und Tibet stand wie eine Bildsäule. Endlich erhob sie den Blick und
+winkte ihm, das Gemach zu verlassen.
+
+Bevor Anges Gatte draußen auf dem Kirchhof neben dem kleinen Carlitos
+bestattet wurde, trat Ange noch einmal an sein Totenlager. Die Vorhänge
+des nach dem Garten gehenden Zimmers waren herabgelassen, und eine
+erstickende Luft benahm ihr fast den Atem.
+
+Nun sah sie ihn zum letztenmal: in einer Stunde sollte der Sarg
+geschlossen werden. Er glich kaum einem Abgeschiedenen. Ruhe lag auf
+seinen Zügen, und um die Mundwinkel spielte jetzt im Tode jenes milde
+Lächeln, das Ange für so manchen ernsten Blick und so manche mürrische
+Miene während seiner Lebenszeit entschädigt hatte.
+
+„Vergieb, Carlos!“ flüsterte sie und berührte mit ihrer Hand die weiße
+Stirn des Toten. Und in ihren Gedanken fuhr sie, das Auge auf ihn
+gerichtet, fort: „Im ersten Schmerz bäumte ich mich gegen Dich auf. Ich
+saß über Dir zu Gericht und vergaß, daß ich allein an allem schuld bin.
+In den Blättern, die Du mir hinterlassen hast, steht auf jeder Seite,
+wie sehr Du mich liebtest und wie Deine Gedanken sich immer damit
+beschäftigten, daß ich nichts entbehren möge von dem, womit Du mich seit
+unserer Ehe umgeben hattest. Ja, ja, mein Geliebter, Du wolltest unseren
+Besitz vermehren--nicht aus eitler Gewinnsucht, nein, für mich, damit
+ich ein Wohlleben nicht einschränken brauchte, in dem Du mich allein
+glücklich wähntest. Du irrtest, Carlos! Ich nahm alles, weil ich es
+fand, weil Du mir nie einen Zwang, eine Beschränkung auferlegtest. Ich
+wäre nicht minder glücklich gewesen in bescheidenen Verhältnissen, denn
+Deine Liebe, der Besitz unserer Kinder war mein Glück. Ja, vergieb mir,
+daß ich nicht selbst erkannte, wie thöricht mein Leben war, daß ich
+nicht aus den mich umgebenden Erscheinungen Vergleiche zog und eine
+Lebensweise änderte, die schon die tausendfältige Not anderer verbietet.
+Aber, Carlos, begehrte ich auch für meine Person viel, Du hast mir
+verziehen, weil ich es nicht besser verstand. Hier, hier schwöre ich Dir
+in dieser Stunde, mein Carlos, daß ich denen, die Gott mir erhalten hat,
+eine treue, sorgsame Mutter sein will und--vermag ich es--sie erziehen
+werde zu braven, tüchtigen, einfachen Menschen. O, wie graut mir heute
+vor dem Reichtum. Alles, was mich umgiebt, ekelt mich an. Es sind die
+Bilder des Scheins, der Lüge, der Überhebung.“
+
+Ange sank schluchzend an dem Sarge nieder. Jetzt kamen ihr wieder die
+Gedanken, die sie bald nach ihres Gatten Tode beherrscht hatten: Was
+ward aus ihren unmündigen Kindern? Es war begreiflich, daß ein so
+seelenvolles Wesen wie Ange Clairefort mitten im Schmerz Betrachtungen
+über ihre Zukunft und die Handlungsweise ihres Mannes angestellt hatte,
+weil ihr Denken und Fühlen zu eng mit ihren Kindern verwachsen war. So
+war auch ihre Empörung, so waren auch die Ausbrüche ihrer Verzweiflung
+nichts anderes als ein Ausfluß ihrer Liebe, und nur zu bald wichen diese
+Erregungen einem sanfteren Schmerz, in welchem sie alle Schuld von dem
+Toten abzuwälzen suchte.
+
+Es wäre unnatürlich gewesen, wenn sich Anges Gedanken nicht auch zu Teut
+gewendet hätten, wenn nicht die Hoffnung in ihr emporgestiegen wäre, er
+werde sie nicht verlassen, jetzt, wo die Sorge sich an sie heranwälzte.
+
+Aber in diese Hoffnung mischten sich Angst und Scham. Jetzt, vielleicht
+in diesem Augenblick, war Teut schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie
+zitterte bei diesem Gedanken, aber sie schüttelte sich auch in
+seelischer Qual, wenn sie überdachte, daß sie fortan allein auf seine
+Wohlthaten würde angewiesen sein.
+
+Ihr Stolz bäumte sich auf; sie faßte die wirrsten Entschlüsse, bis sie
+nach langen Irrgängen der Überlegung immer wieder zu der entsetzlichen
+Einsicht zurückkehrte: Es bleibt entweder nur die Wohlthätigkeit fremder
+Menschen, damit Deine Kinder leben können, damit sie nicht darben und
+vergehen, damit sie erzogen werden, um brauchbare Mitglieder der
+menschlichen Gesellschaft zu werden, oder--
+
+Ja, da kamen andere furchtbare Gedanken, die sich in ihrem Gehirn
+festbrannten, die geboren wurden aus Hilflosigkeit und Verzweiflung. Wie
+wäre es, wenn sie mit ihren Kindern dem folgte, der hier im Sarge lag?
+Was stand den Armen bevor! Demütigung, Entbehrung, Not--gar Schande.
+
+Sie hörte sie klagen und weinen. Sie scharten sich um ihre Mama. Sie
+bettelten um die ihnen jetzt entzogenen notwendigen Dinge, sie wollen
+ihre unschuldigen Liebhabereien, sie kamen, damit ihre kleinen Herzen
+getröstet wurden.
+
+Und die Menschen! Wie sie zischelten und mit den Fingern zeigten, wie
+sie sich abwandten und gar hämisch frohlockten, daß diese übermütige,
+verwöhnte Frau die Bitterkeit des Lebens nun auch endlich kostete wie
+sie selbst.
+
+Ah, wie das alles ihre Seele marterte! Ja, lieber sollte sie ihre
+Kinder, sich selbst töten----
+
+Aber ein Herz wie das ihre mußte schon bei dem bloßen Gedanken an den
+Tod ihrer Kinder erstarren.
+
+Nein! nein! Entsetzlich! Lieber Not leiden, ja betteln, als ihren süßen
+Geschöpfen auch nur ein Haar krümmen! Und Sterben war nicht eine Sache
+des Willens; zum Selbstmord gehörten tausend Dinge, die sie nicht
+verstand und bei deren Vorstellung ihr grauste.
+
+„Barmherziger Schöpfer, vergieb! Vergieb auch Du mir, mein Carlos, diese
+gräßlichen, unreinen Gedanken!“ betete Ange, faltete die Hände und
+atmete, aus dem Schauder ihrer Vorstellungen befreit, erleichtert auf.
+
+Sie besaß so kostbaren Schmuck, daß sie durch dessen Verwertung noch
+eine Zeit lang ohne Wohlthaten leben konnte. Diese Überlegung war ihr
+gekommen in der letzten schlaflosen Nacht und erleichterte ihr
+wenigstens die nächsten Sorgen.
+
+Bevor Ange, durch die Handwerker aufgestört, das Zimmer verließ, brachen
+doch noch einmal die Thränen unaufhaltsam hervor. Sie rief eilend die
+Kinder, ließ sie niederknien und betete mit ihnen.
+
+„Hattet Ihr ihn lieb, Euren Papa?“ schluchzte sie.
+
+Die Kinder nickten ängstlich und scharten sich mit den feinen blassen
+Gesichtern um die Mama.
+
+Als sie sich endlich zur Thür wandten, schmiegte sich die kleine Ange an
+ihre Mutter und sagte: „Wird Papa auch so hübsch begraben wie Carlitos?“
+
+Bei dieser Frage zuckte Ange zusammen.
+
+„Nein, Ange, nein! Onkel Axel ist ja nicht da.“
+
+„Kommt er denn nicht?“
+
+Ange antwortete nicht; sie bewegte nur das Haupt und zog hastig die
+Kleinen mit sich fort, die nun zum letztenmal das bleiche Gesicht ihres
+Papas gesehen hatten.
+
+ * * * * *
+
+Während noch der Graf über der Erde stand, war ein Brief von Frau von
+Ink an Ange eingelaufen.
+
+„Ich muß es Ihnen aussprechen, gnädige Gräfin“--schrieb Olga--„wie sehr
+ich schon bei dem Tode Ihres herrlichen Knaben mit Ihnen fühlte und wie
+mich heute Ihr Schicksal bewegt! Ein Fremder vermag gegenüber einer
+solchen Trauer nichts. Das barmherzigste und mitleidigste Wort muß ohne
+Wirkung verhallen, weil die Besänftigung des Schmerzes nicht abhängig
+ist von äußerlichen Einflüssen, sondern in dem Menschen selbst sich
+reisen muß durch die allheilende Zeit. Und unter dieser Erwägung,
+gnädige und hochverehrte Frau, wird vielleicht auch meine aus
+aufrichtigster Teilnahme hervorgehende Bitte wirkungslos sein, daß Sie
+sich Ihrem Kummer nicht allzusehr hingeben mögen und daß Sie sich der
+Hoffnung nicht verschließen, daß auch für Sie wieder lebensfrohere Tage
+zurückkehren werden. Ich wünsche es von ganzem Herzen und würde überaus
+glücklich sein, wenn Sie mir gestatten wollten, Ihnen bald einmal
+mündlich mein Beileid ausdrücken zu dürfen. Glauben Sie, ich bitte, an
+das herzliche Mitgefühl und die verehrungsvolle Freundschaft Ihrer sehr
+ergebenen
+
+Olga von Ink.“
+
+Ange fand in der Aufregung, Unruhe und Sorge der ersten Tage keine Zeit,
+diesen Brief zu beantworten. Sie ward aber an das Schreiben erinnert,
+als bald nach dem Begräbnis--es war der Erste des neuen Monats--Tibet
+sich ihr mit unschlüssiger Miene näherte und erklärte, daß das Bankhaus
+weitere Zahlungen verweigere. Es habe, berichtete dieser, den bestimmten
+Auftrag, nur gegen die eigenhändige Quittung des Grafen zu zahlen.
+Er--der Banquier--wisse ja selbst nicht, aus welcher Quelle jene Summen
+flössen, und müsse deshalb jedenfalls erst nähere Weisungen
+rücksichtlich der weiteren Ordnung der Angelegenheit abwarten. Daraus
+ergebe sich alles übrige.
+
+Ange verlor auf Augenblicke gänzlich die Fassung. Schon der zustimmende
+Entschluß, Tibet wie bisher den Monatsbetrag erheben zu lassen, war ihr
+namenlos schwer geworden. Zweimal rief sie ihn, als er sich schon die
+Treppe hinabwandte, schamerfüllt zurück. Erst des umsichtigen Beraters
+Auseinandersetzungen über die unbedingte Notwendigkeit: die Bestreitung
+der durch den Todesfall hervorgerufenen Ausgaben, die täglichen
+Bedürfnisse des Haushaltes, die fällige Miete, die Kinder, die
+Dienstboten, endlich dessen beschwichtigender Hinweis, daß dieser Betrag
+aus irgend welchem Erlös ihres Eigentums zurückerstattet werden könne,
+schlugen Anges zitternde Bedenken nieder, und stumm nickend, hatte sie
+ihn endlich gehen lassen.
+
+Und nun wurden alle diese ihrer feinen Seele entsprungenen Qualen doch
+noch weit mehr vergrößert durch--das Nichts.
+
+Tibet kam mit leeren Händen!
+
+Teut schreiben, ihn bitten, Geld anzuweisen, das vermochte Ange nicht.
+Sie wies diesen Gedanken als völlig ausgeschlossen zurück.
+
+Jetzt erinnerte sie sich wieder ihres Schmuckes. Bei dieser Überlegung
+ängstigte sie es aber, daß Tibet ihn ausbieten, in C. ausbieten, wenige
+Tage nach Carlos' Begräbnis denselben veräußern solle. Nein, auch das
+gewann Ange nicht über sich.
+
+Endlich erhob sie den Blick zu dem Manne, der mit der ernsten und
+bekümmerten Miene vor ihr stand, und sagte: „Was raten Sie, jetzt zu
+thun, Tibet?“
+
+„Frau Gräfin,“ stieß dieser heraus, „wollen Sie mir nicht zürnen? Ich
+wüßte wenigstens vorläufig für das Drängendste Hilfe, wenn Sie diese
+annehmen wollten. Verzeihen Sie, wenn ich mich unbescheiden
+aufdränge--ich habe ein kleines Kapital gespart, darf ich dieses--“
+
+„O braver Mensch!“ rief Ange gerührt; aber sogleich verbesserte sie
+sich: „Nein, Tibet, nein! Auch Sie noch der Ungewißheit preisgeben?
+Niemals! Ich darf Ihr Anerbieten nicht annehmen!“
+
+„Sie können mir ja den Vorschuß später zurückgeben, Frau Gräfin,“
+beharrte Tibet stockend. „Es ist ja Ihr eigen Geld--ich empfing es von
+Ihnen--ich verdanke es Ihrer Güte.“
+
+Ange, zwar ergriffen von Tibets selbstlosem Zureden, aber, ihrer
+Veranlagung entsprechend, gerade deshalb von ihrem Gefühl lediglich
+beherrscht, hörte nicht auf seine Worte. Sie schüttelte den Kopf und
+zeigte in ihren Mienen ein deutliches Nein.
+
+In diesem Augenblick meldete einer der Diener, daß Frau von Ink
+vorgefahren sei und um die Erlaubnis bitte, der Frau Gräfin aufwarten zu
+dürfen.
+
+War dies nicht ein Fingerzeig des Himmels? Ange schwankte unschlüssig;
+endlich neigte sie den Kopf und der Diener eilte fort.
+
+Gleich darauf hörte sie auch schon, wie Olga in ihrer ungestümen, etwas
+plumpen Weise den Wagenschlag hinter sich zuwarf und die Treppen der
+Villa hinaufeilte. Und nun trat sie, von Tibet gemeldet, ins Zimmer,
+umarmte Ange mit allen Zeichen der Betrübnis und setzte sich ihr mit dem
+Ausdruck aufrichtigster Teilnahme gegenüber. Dabei streifte ihr Blick
+das Gemach, und die kleinen Unordnungen blieben ihr nicht verborgen.
+
+Nach einem längeren Austausch über den Verlauf der Krankheit und die
+letzten kummervollen Tage nahm Olga das Wort und sagte:
+
+„Und nun noch eins, Frau Gräfin. Sollte ich Ihnen in etwas dienen
+können, bitte, verfügen Sie ganz über mich. Ich versichere Sie, daß ich
+außerordentlich glücklich sein würde, wenn ich Ihnen in irgend einer
+Weise meine Freundschaft und Teilnahme an den Tag legen könnte!“
+
+Ange, der es in ihrer angstvollen Lage und angesichts von so viel
+Herzlichkeit schon auf den Lippen gezuckt hatte, vorzutragen, was sie
+beschäftigte, atmete erleichtert auf und nahm sogleich das Wort:
+
+„Sie kommen mir in Ihrer Güte zuvor, gnädige Frau: ich danke Ihnen von
+ganzem Herzen. Ich hätte allerdings wohl eine große Bitte--“ Sie
+stockte.
+
+Olga horchte auf. Diese Gesprächswendung berührte sie aufs angenehmste.
+Was konnte Ange Großes wünschen, und wie hoch würde eine Frau wie diese
+ihr den geringsten Dienst anrechnen!
+
+Auch die Rückwirkungen auf Teut überlegte sie rasch. Noch immer hoffte
+Olga auf einen Ausgleich mit dem Rittmeister, und in dem geheimsten
+Schubfach ihres Innern nicht nur auf diesen, sondern, zuguterletzt auch
+auf eine bedeutungsvolle Anknüpfung zwischen ihm und einer ihrer
+Töchter.
+
+„Sprechen Sie, sprechen Sie, gnädige Frau--Ich bitte!“ rief Olga lebhaft
+nach Anges Worten.
+
+Und nun setzte Ange dieser kaltherzigen, nur von ihren eigenen
+Interessen beherrschten Frau in ziemlich unzusammenhängender und
+unklarer Weise auseinander, daß sie durch den plötzlichen Tod ihres
+Gatten in peinlichste Verlegenheit geraten und vorübergehend einer
+größeren Summe Geldes benötigt sei.
+
+„Arme Gräfin! Auch das noch! Die kleinlichen Nebensorgen bei so großem
+Schmerz und Kummer!“ rief Olga mit vortrefflich gespieltem Ausdruck der
+Teilnahme in den Mienen, in Wirklichkeit erfaßt von einer mit
+Schadenfreude vermochten äußerten Befremdung. „Ja wie ist da zu helfen?
+Offenheit gegen Offenheit, liebe Frau Gräfin! Wir haben allerdings ein
+aus unserem Gutsverkauf hervorgegangenes, recht ansehnliches Vermögen,
+aber alles, das weiß ich, ist unkündbar festgelegt für eine lange Reihe
+von Jahren, und die Summe, deren Sie bedürfen--Sie nannten fünftausend
+Mark, wenn ich recht verstand? Nicht wahr, Frau Gräfin? Ja, ja, ganz
+richtig!--ist etwa der fünfte Teil unserer ganzen Zinseneinnahme im
+Jahre.“ Diese Redewendung--ein feiner Dolchstoß--war absichtlich. „Zudem
+habe ich persönlich gar keine Verfügung; meinen Mann müßte ich schon ins
+Vertrauen ziehen.“
+
+Ange hatte in ihrer Unerfahrenheit nur von ihren Verlegenheiten und von
+deren Abhilfe gesprochen. Über die Rückzahlung ließ sie nichts fallen,
+diese war ja in ihren Augen selbstverständlich, aber so unterblieb
+dasjenige, was für Olga natürlich die Hauptsache war. Die letztere war
+sogar überzeugt, daß Ange diesen Punkt nur in ihrer Erregung und in
+ihrer Naivetät nicht berührt hatte, aber sie hütete sich, selbst eine
+Brücke zu schlagen, die ihr eine Ablehnung erschwerte. Obgleich sie
+deshalb entschlossen war, nicht einmal mit ihrem Manne die Möglichkeit
+einer Hilfe in Überlegung zu ziehen, fügte sie doch hinzu:
+
+„Wenn Sie gestatten, werde ich also mit Ink sprechen und alles thun, was
+in meinen Kräften steht--natürlich--selbstverständlich, liebe Frau
+Gräfin! Aus diesem Grunde aber will ich mich auch gleich wieder
+empfehlen. Ich möchte bald etwas Gutes melden, da ich den
+unerträglichen Zustand begreife, in welchem Sie sich befinden. Würde es
+möglicherweise in einigen Tagen früh genug sein?“ fuhr sie heuchlerisch
+fort. „Ja? Nun gut. Ich denke sicher, es wird sich machen! Mein Mann ist
+ja so teilnehmend und gut, daß ich ihn zu überreden hoffe, wenn es
+irgend möglich ist.“
+
+Ange, die schon alles gewonnen glaubte, dankte mit gerührten Worten.
+Besonders beglückt aber war sie, als ihr Olga beim Abschied die Hand
+drückte und die Worte zuflüsterte: „In jedem Fall, wie sich auch die
+Dinge gestalten“ (hier deckte sich Olga nicht nur den Rückzug, sondern
+vergoldete diesen auch noch durch eine Äußerung, deren Wirkung auf Ange
+sie richtig berechnete) „seien Sie versichert, daß niemand von dieser
+Angelegenheit etwas erfahren wird, daß sie bei mir unter einem stummen
+Munde ruhen bleibt.“
+
+Nach diesen Worten und nach einer abermaligen zärtlichen Umarmung ging
+sie.
+
+An demselben Abend hatte Ange bereits eine von vielen schönen Worten
+umrankte Ablehnung, und um dieselbe Stunde fand eine Unterredung
+zwischen ihr und Tibet statt. Sie verhehlte ihm weder den Inhalt von
+Olgas Brief, noch die jetzt in ihr emporsteigende Befürchtung, daß jene
+nicht verschwiegen sein werde. Sie bewegte sich in leisen Hoffnungen,
+daß ihr Tibet in diesem Punkt nicht recht geben werde, aber er nickte
+zustimmend und sagte:
+
+„Frau Gräfin, wenn Sie nur das nicht gethan hätten! Morgen wird's die
+ganze Stadt wissen!“
+
+Ange erschrak. Was sie beängstigte, bestätigte Tibet mit kalter
+Einsicht. Ihr Stolz bäumte sich auf, und eine angstvolle Scheu vor den
+Menschen bemächtigte sich ihrer. Nun würde auch ihre Umgebung, ihre
+Dienerschaft bald darum wissen, daß sie in ihrem fürstlich
+eingerichteten Hause eine Bettlerin sei. Sie sah schon die Mienen derer,
+die bald geschmeidige Katzen, bald fletschende Wölfe sind, je nachdem
+sie glauben oder fürchten, es könne ihnen des Teufels bestlockender
+Köder werden oder entgehen.
+
+Und nun kam Ange in ihrer Ratlosigkeit auf die Verwertung der Diamanten
+zu sprechen, und Tibet widerriet lebhaft.
+
+Es ist eine eigentümliche, sich stets wiederholende Erscheinung, daß
+einfache Leute den Verlust geringfügiger Dinge in solchen Lebenslagen
+schwerer empfinden als irgend etwas anderes. Das Unglück selbst
+entlockt ihnen nicht so viele Thränen als die Aussicht, sich von
+gewissem Tand trennen zu müssen. Die Pfändung einer Uhr, einer Kette,
+eines Medaillons, ja oft eines blitzenden Küchengeräts raubt ihnen den
+letzten Trost und versetzt sie in einen Zustand heftiger Gemütserregung.
+Ebenso erging es Tibet, bei dem überdies noch die gleichsam ins Blut
+übergegangene Ehrfurcht vor den Personen und Dingen, unter denen er
+gleichsam aufgewachsen, mitwirkte.
+
+Er war außer sich, als Ange ihre Absicht zu erkennen gab, und bot in
+fast demütiger Weise von neuem seine Ersparnisse an.
+
+Aber in Ange kämpfte edle Vorsicht mit der Scheu, sich ihrem Diener zu
+verpflichten. Sie wies Tibets Anerbieten abermals aufs entschiedenste
+zurück.
+
+Tibet schlug nun vor, wenigstens den Verkauf nicht in C., sondern in
+einer anderen Stadt zu bewirken. Es sei kaum einmal wahrscheinlich, daß
+am Orte jemand eine so große Summe dafür hergeben oder darauf anleihen
+werde. Den Schmuck lediglich zu verpfänden, empfahl Tibet zudem
+dringend, immer in der Hoffnung, dieser könne Ange doch noch gerettet
+werden.
+
+Ange nahm seinen endlichen Vorschlag, nach Frankfurt zu reisen, lebhaft
+auf. Sie eilte fort, kam zurück und öffnete ihr Schmuckkästchen.
+
+Als es aus Auswählen ging, ward's ihr schwer. Nicht der Verlust der
+Juwelen ließ sie zaudern, aber es schien ihr wie eine Entheiligung,
+fortzugeben, woran sich so viele teure Erinnerungen knüpften.
+
+„Hier, hier!“ rief sie indessen schnell wieder gefaßt. „Ich weiß, daß
+diese Perlen Tausende wert sind. Wie kann ich fragen? Ich muß an meine
+Kinder denken, an die Pflichten, die ich gegen meine Umgebung habe,
+solange sie zu fordern hat. Alles andere ist nebensächlich.“
+
+Nun machten sie sich daran, den Wert des Schmuckes abzuschätzen.
+
+„Und wenn das dahin ist?“ zuckte es in Ange auf. „Wenn das dahin, was
+dann?“
+
+Immer wieder packte sie ein angstvolles Grauen vor der Zukunft, immer
+wieder mußte sie sich zurückrufen, daß das alles Wahrheit, keine
+Vorstellung, kein Roman sei, den eine lebhafte Phantasie sich ausgedacht
+hatte. Nein! nein! Carlos war tot; sie blieb zurück mit fünf lebendigen
+Geschöpfen und besaß außer diesen Kleinodien und ihrer Einrichtung
+nichts!
+
+ * * * * *
+
+Einige Tage nach diesem Zwischenfall--es war am Spätabend und die
+Kinder ruhten bereits--überreichte der Diener Ange ein Telegramm. Die
+Gouvernante, die noch eben an ihrer Seite gesessen, hatte das Zimmer
+verlassen, und da Ange allein war, gab sie sich ganz ihren Gedanken hin.
+Im Kamin brannte ein lebhaftes Feuer, das einen hellen Schein und
+zugleich wohlthuende Wärme in dem Gemach verbreitete. Draußen aber fuhr
+ein rücksichtsloser Sturm durch die Bäume und rüttelte den hohen Schnee,
+der die Erde bedeckte, aus seiner Ruhe auf.
+
+Ange öffnete hastig die Depesche, und mit einem leisen Schrei sank sie
+zurück.
+
+„Auch das noch!“ glitt es von ihren Lippen.
+
+„Bin wegen Diebstahlsverdacht verhaftet. Wertsachen sind mit Beschlag
+belegt. Frau Gräfin persönliches Erscheinen hier auf dem
+Kriminal-Kommissariat möglichst bald erforderlich. Bedaure unendlich
+hervorgerufene Unruhe.
+
+Gehorsamst Tibet.“
+
+„Auch das noch!“ wiederholte Ange noch einmal und blickte wie eine
+Irrsinnige ins Leere. Es schien mit den Prüfungen erst der Anfang
+gemacht; immer Neues ballte sich zusammen, um die gequälte Frau zu
+ängstigen, zu verwirren und völlig mutlos zu machen.
+
+Als Ange damals Olgas Billet empfangen hatte, saß sie wie erstarrt. Aber
+zunächst waren es nicht die dadurch wieder emporsteigenden Geldsorgen,
+die sie beunruhigten, sondern es jagten Scham und Enttäuschung und neben
+diesen die Gefühle bitterer Reue durch ihre Seele. Sie sah Teut vor
+sich, der ernst und vorwurfsvoll den Kopf schüttelte und ihr zurief:
+„Sie haben wieder Ihren Verstand spazieren geschickt und sich mit Ihrem
+Gemütsdrang auf den Weg gemacht. Warnte ich Sie nicht vor dieser Frau?
+Das alles hätte ich Ihnen vorherigen können, und unnötig, ja, zu Ihrem
+Schaden haben Sie sich bloß gestellt. Frau von Inks Gutherzigkeit ist
+nur Maske, und überall, wenn das Unglück in die Hinterpforte schleicht,
+ist die Welt plötzlich von Menschen ausgestorben.“
+
+Als die Gouvernante zurückkehrte, verbarg Ange die Depesche, schützte
+Müdigkeit vor und zog sich zurück. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie
+in einen Stuhl und weinte sich aus.
+
+„O Carlos, Carlos! Wer sang mir an meiner Wiege von so viel Herzeleid!“
+flüsterte Ange. „Bin ich ein so schwacher Mensch, daß die Angst Tag und
+Nacht durch mein Inneres jagt, daß ich nicht mehr lachen,
+daß--ach--ach--“--hier brachen die Thränen durch die zarten Finger--„daß
+der Anblick meiner Kinder mich nicht mehr zu trösten vermag?“
+
+Sie ergriff die Lampe und wandte sich in das Zimmer ihres Mannes.
+
+Der eigentümliche Duft, der stets die Räume durchweht hatte, erfüllte
+sie auch heute noch. Carlos saß nicht mehr in dem hohen Stuhl. Ringsum
+die Spuren eines lebenden, nun für immer dahingegangenen Menschen.
+Geradlinig wie sonst standen die Bücher in den Regalen. Im
+unverschobenen Winkel lag die Schreibmappe. Hier hing sein Säbel, die
+Militärmütze, dort standen noch seine Reiterstiefel, und drüben lagen
+die weißledernen Handschuhe, die er abgestreift hatte, als er des Königs
+Rock auszog.
+
+Von einer unheimlichen Angst erfaßt, drehte Ange den Schlüssel zu
+Carlos' Schlafgemach ab. Ihr war plötzlich, als ob der Tote in der Thür
+erschienen sei und nicht mitleidig, nein, ernst und vorwurfsvoll sie
+angeblickt habe. Weilte sein Geist noch in den Räumen, wirkte sein Wesen
+noch nach, das fieberhaft und reizbar jeden Eintritt abgewehrt hatte?
+
+Ange suchte sich zu fassen und öffnete die Schubladen des
+Schreibtisches.
+
+Ein plötzlicher unerklärlicher Drang hatte sie hierher getrieben. Noch
+einmal mußte sie die Aufzeichnungen durchblättern, die er ihr
+hinterlassen. Sie wußte, daß sie nichts darin finden werde als neuen
+Anreiz für ihren Schmerz; aber ein ruheloses Gefühl durchhastete sie,
+seine Schriftzüge zu lesen, an seinem Mitleid Trost zu finden.
+
+Ja das war es! Sie sehnte sich nach Trost, weil sie keinen Menschen auf
+der Welt hatte, an dessen Brust sie sich werfen und ausweinen konnte.
+Einen gab es doch! Ja, er wog alle übrigen auf: aber er war fern, kam
+vielleicht nie zurück.
+
+Ange sann nach, ehe sie zu lesen begann.
+
+Wie abergläubische Menschen ein Buch aufschlagen und nach der Auslegung
+eines zufällig gefundenen Wortes ihren Entschluß fassen, so tastete Ange
+in Carlos' Nachlaß nach einem erlösenden Ausdruck. Tiefer
+zurückgeschoben, fand sie, beim Ausräumen, noch einige Blätter, die sie
+bisher nicht beachtet hatte. Sie waren durchstrichen, offenbar
+ausgesondert und zum Vernichten beiseite gelegt. Sie griff hastig danach
+und begann zu lesen.
+
+Das Schriftstück datierte noch aus der Zeit ihrer ersten Liebe und war
+viele Jahre vor ihrer Übersiedelung nach C. geschrieben.
+
+In diesem Augenblick glaubte Ange einen Ruf zu vernehmen. Kam er aus dem
+Schlafgemach der Knaben drüben? Ängstlich lauschte sie--ja unheimlich
+ward ihr--aber er wiederholte sich nicht. Stumm war die Nacht.
+
+„Für meine teure Ange, wenn ich einmal gestorben sein werde. Ich
+schreibe diese Worte unter dem Eindruck, daß mir nur kurz zu leben
+bestimmt ist. Ich habe keinen thatsächlichen Anhalt dafür, es beherrscht
+mich aber ein ahnendes Gefühl. Heute ist ein Mensch frisch und
+thatkräftig, morgen ist er dahin. Auch ein böser Zufall kann uns
+plötzlich abrufen.
+
+„Sieh, Ange, da drängt es mich, Dir an dieser Stelle noch einmal mein
+Herz zu öffnen und Dir zu sagen, wie unbeschreiblich ich Dich geliebt
+habe. Als ich Dich zum erstenmal sah, hielt ich es nicht für möglich,
+daß ein so holdes Wesen wie Du, mich vor allen anderen auswählen könne,
+und als ich es endlich aus Deinem Munde hörte, schwankte ich zwischen
+Furcht und Glückseligkeit. Weshalb? Weil mich ein trauriges Vorgefühl
+beherrschte. Ich fühlte, daß ich Dir nie würde etwas abschlagen können,
+und doch hatte ich, da Du ein unerfahrenes Kind warst, die Aufgabe,
+Dich für das Leben zu erziehen, Dich zu leiten und zu belehren.
+
+„Weißt Du, Ange, daß ich mich mitunter ins Freie geflüchtet habe in
+zitternder Angst, wenn Dir das Geringste zugestoßen war. Ich bin im
+Schlachtgetümmel gestanden, die Kugeln haben um meinen Kopf gepfiffen,
+und ich habe, das Zeichen zum Angriff gebend, empfindungslos mich in den
+Kampf gestürzt; ich kenne auch keine Furcht vor greifbaren Dingen, aber
+ich bebte bei dem Gedanken, daß Du littest, daß ich Dich durch dieses
+Leiden verlieren könne.
+
+„Wenn ich einmal mürrisch gegen Dich gewesen war, folterten mich
+Vorwürfe, und ein heißer Drang, Dich zu versöhnen, Dir von neuem
+Liebesbeweise zu geben, quoll in mir auf. Freilich unterließ ich sie.
+Ich habe diesen Zwiespalt nie begriffen.
+
+„Deine Schönheit, Dein Liebreiz, Deine unbeschreibliche Herzensgüte
+ängstigten mich. Ich fühlte, daß Du einst darunter leiden und daß wir
+beide dadurch zu Grunde gelten müßten.
+
+„Ich zittere bei dem Gedanken, daß ich früher aus der Welt gehen werde
+als Du, aber nur deshalb, Ange, meine teure Ange--glaube mir--, weil ich
+weiß, daß Du, so gut auch altes bestellt sein mag, niemals verstehen
+wirst, Dich einzurichten und--gänzlich unbekannt mit dem Wert des
+Geldes--vermöge Deines unbesonnenen Dranges, aller Welt zu helfen, immer
+nur auf das Geben, nie auf eine Beschränkung bedacht sein wirst.
+
+„Ich dachte darüber nach, unser Vermögen so festzusetzen und durch
+fremde Hand so für Dich verwalten zu lassen, daß Dir unübersteigbare
+Schranken in Deinen Ausgaben auferlegt werden würden. Aber abgesehen
+davon, daß die Wirkung dieser Vorsicht dennoch eine zweifelhafte sein
+kann, widersteht es mir auch, Dich in solcher Weise zu bevormunden. Ich
+beschwöre Dich aber bei der Liebe und bei dem Glück unserer Kinder, sieh
+Dich um in der Welt und traue nicht jedermann. Wo Dein Herz am lautesten
+spricht, sei am vorsichtigsten.
+
+„Aber noch mehr! Thue Du, was ich unterlasse. Berate Dich mit unserem
+Anwalt und gieb ihm zu erkennen, was ich als Wunsch Dir hier
+ausgesprochen habe. Hörst Du, Ange? Willst Du diese Bitte ansehen als
+meinen letzten Willen, ihn ausführen als einen Akt der Pietät gegen
+mich?
+
+„Ich hoffe, unser Vermögen noch so zu vermehren, daß selbst die größten
+Ansprüche zu befriedigen sein werden. Vielleicht, wenn Du diese Worte
+liest, ist es mir bereits gelungen. Tibet wird Dir alles vorlegen. Ihm
+kannst Du ganz vertrauen. Ich habe ihn erprobt und fand ihn bewährt in
+allen Verhältnissen, ja selbst unter Versuchungen, denen andere kaum
+widerstanden haben würden. Ich bitte Dich, daß Du Dich seines
+verständigen Rates, seiner Hilfe bedienst, wenn ich nicht mehr unter
+Euch sein werde, und namentlich hoffe ich, daß Du ihn niemals von Deiner
+Seite läßt, es sei denn, daß er selbst zu gehen begehren sollte.
+Betrachte ihn nicht als einen Diener, als einen Untergeordneten. Sein
+Herz ist von Gold, sein Verstand--obgleich in der großen Welt nicht
+gestählt--kühl und besonnen. Bedenke ihn auch einst reichlich!
+
+„Du findest in unserem Testament, wie ich wünsche, daß er für alle mir
+geleisteten Dienste belohnt werden soll.
+
+„Ange, Ange! Wenn ich mir vorstelle, Du könntest je unglücklich sein aus
+Herzenskummer, aus Sorge! Wenn ich daran denke, es könnte Dich eine böse
+Krankheit erfassen und Du müßtest mit täglichen Schmerzen kämpfen! Ich
+bitte das Schicksal, alles von Dir abzuwenden.“
+
+Anges Augen flossen über; sie beugte sich über die Blätter und stützte
+das Haupt.
+
+Aus Liebe hatte er gefehlt; diese Aufzeichnungen erhärteten es nur allzu
+überzeugend. Nun war auch das letzte verwischt, was in ihrem Herzen sich
+noch in Zweifeln hätte bewegen können. Nichts blieb zurück als sanfte
+Trauer und Schmerz des Mitleides.
+
+Mochte die Welt Carlos schmähen, sie wußte ihn frei von Schuld; eine
+nicht minder große traf sie selbst, und ihre Kinder wollte sie lehren,
+sein Andenken hoch zu halten für alle Zeiten.
+
+Und Tibet? Wohlan! Ange mußte handeln! Am nächsten Tage beschloß sie
+abzureisen, um ihn aus seiner peinlichen Lage zu befreien.
+
+ * * * * *
+
+Ange erhob sich am nächsten Morgen ihrer Reisevorbereitungen wegen schon
+in aller Frühe. Einer der Diener mußte forteilen, sich nach dem Abgang
+der Züge zu erkundigen, und die Jungfer ward herbeigerufen, die
+Garderobe einzupacken. Während Ange noch den sie umringenden Kindern
+Antwort erteilte, sich auch beschwatzen ließ, den Knaben wegen ihrer
+Abreise die Schule zu erlassen, ja überlegte, ob sie nicht etwa die
+kleine Ange mitnehmen solle, die ihr diese Bitte unter zärtlichen
+Schmeichelworten vortrug, fiel ihr plötzlich ein, daß sie vielleicht
+nicht einmal genügend Geld für die Eisenbahnfahrt habe. Sie eilte in ihr
+Kabinet, öffnete den Schreibtisch und zählte mit fiebernder Hast, was
+noch vorhanden sei. Bis zum letzten Augenblick war sie gewohnt gewesen,
+daß Tibet alle Geldangelegenheiten besorgte. Es fiel ihr jetzt sogar ein
+und es bedrückte sie, daß sie diesem nicht einmal das Reisegeld
+eingehändigt habe. Sie würde in der Folge fast nichts ihr eigen nennen!
+Nur diese Thatsache in ihrer Allgemeinheit und in ihrem nüchternen
+Schrecken waren in ihr hasten geblieben. Was augenblicklich nötig war,
+was sie noch in ihrem Besitz fand, darüber hatte sie nicht nachgedacht.
+
+Als nun Ange ihren Schreibtisch durchsuchte, fand sie nur noch drei
+kleine Goldstücke. Völlig enttäuscht, ließ sie die Arme sinken und
+beugte mutlos das Haupt.
+
+„Darf ich denn mitreisen, Mama?“ schmeichelte in diesem Augenblick eine
+Stimme. Es war die kleine Ange, welche ihr leise nachgeeilt war und sich
+nun bittend an sie drängte.
+
+„Ach, nein, nein, mein Liebling!“ rief Ange, aus ihrer Ratlosigkeit
+aufgeweckt. „Ich weiß selbst noch nicht einmal, ob ich heute fortkomme.
+Laß mich jetzt, süße Ange. Geh hinüber; ich bin gleich bei Euch.“
+
+Die Kleine schlich verdrießlich und weinend von dannen und nur zu
+fühlbar ward Ange durch die Frage des Kindes erinnert, wie heute alles
+anders sei, denn ehedem!
+
+Was sollte nun geschehen?
+
+Tibet war in einer Lage, aus welcher die Pflicht gebot, ihn so rasch wie
+möglich zu befreien. Ange durfte keinen Augenblick zögern, und nun ward
+sie doch aus solchen Gründen vielleicht am Reisen verhindert!
+
+Und was sollte sie ihrer Umgebung sagen, wenn sie etwa alle Vorkehrungen
+wieder aufhob?
+
+Nach der abschlägigen Antwort von Olga, bei der Befürchtung, alle Welt
+vermute, wisse bereits um ihre Lage, vermeinte sie, sich durch das
+Nebensächlichste bloßzustellen und unliebsamen Vermutungen Nahrung zu
+geben.
+
+War es denn Wirklichkeit? Sie besaß nicht einmal mehr die genügenden
+Mittel, eine kleine Reise anzutreten, und doch war sie rings umgeben von
+Luxus und erhob noch immer den Anspruch auf einen großen Haushalt?
+
+Dieser Schein, diese Widersinnigkeit erhöhten Anges bedrückte Stimmung;
+dazu trat ihre Unkenntnis menschlicher Verhältnisse. Brauchte sie für
+die Reise nach Frankfurt das Dreifache oder Fünffache, was sie besaß?
+Sie wußte es nicht. Sie war schon so scheu und unsicher geworden, daß
+sie nicht nach den Kosten der Fahrt zu fragen wagte, weil sie fürchtete,
+dies werde auffallen.
+
+Auch die Mittel und Zwecke nach ihrer Bedeutung verwechselte sie
+bereits. So überlegte sie, ob sie noch das Recht habe, in einem Coupé
+erster oder zweiter Klasse zu fahren. Nein! Wer nichts besaß, hatte die
+Pflicht sich einzuschränken. Sie durfte nur das billigste Billet kaufen.
+
+Aber sie sollte an den Bahnhof eilen in ihrem eigenen Wagen, gefolgt von
+einem Diener, zurücklassend einen solchen Haushalt, und einen Sitz neben
+rauchenden, vielleicht trunkenen Männern einnehmen in einem ungeheizten
+Coupé? Sie, die vornehme Dame, in dem kostbaren Reisemantel, der ein
+kleines Vermögen gekostet halte?
+
+Ah! der Pelz kostete Hunderte, und sie sorgte um einen Bruchteil, wollte
+um diesen fast verzweifeln? Hatte er einen so großen Wert, weshalb ihn
+nicht veräußern?
+
+Das war es ja eben! Sie war machtlos zum Handeln, jetzt wenigstens in
+diesen ersten Tagen. Immer wieder diese Gegensätze von Wahrheit und
+Schein!
+
+„Carlos, Carlos!“ schrie Ange auf. Noch einmal stieg das Gefühl der
+Bitterkeit empor, freilich um in dieser sanften Seele ebenso schnell
+wieder zu verlöschen.
+
+Zuletzt ward Ange noch von einem anderen unruhigen Gedanken beherrscht.
+Wenn sie nicht zurückkehrte! Wenn jemand ihres Gatten Papiere fand, sie
+las und der Welt offenbar ward, er habe Hand an sich selbst gelegt--?
+
+Höher als alles stand doch die Pflicht, seinen Namen über das Grab hoch
+zu halten. Sie beschloß, seine Aufzeichnungen zu vernichten, und ihre
+Pietät ließ sie doch wieder mit der Ausführung zaudern.
+
+So stand das arme Weib, in der Hand die wenigen Goldstücke und das Herz
+voller Zweifel, Sorgen und Ängsten. Sie befand sich in einem Zustande
+des grausamsten Kampfes. Ihre gute Natur lehnte sich auf gegen die
+geheimen Flüsterstimmen ihres inneren, welche ihr zuriefen: Sprich
+irgend eine Lüge und Du wirst Dich aus Deiner Sorge befreien!
+
+Immer wieder durchkreuzten ihre Gedanken die Frage: Wo schaffst Du Dir
+Geld? Und immer wieder antwortete das geschäftige Teufelchen: Meide die
+Wahrheit, umgehe, verschweige sie und verbirg Deine Not unter einer
+sorglosen Miene.
+
+Und diese flüsternde Stimme hatte nicht ganz unrecht. Olgas Brief gab
+den Beweis. Einmal beschloß Ange, sich der Gouvernante anzuvertrauen,
+aber sie verwarf diesen Plan wie alle anderen. Lügen, verheimlichen
+konnte sie nicht: offen alles darzulegen, verbot ihr nach den
+gewonnenen Erfahrungen die Klugheit.
+
+Inzwischen kehrte der Diener zurück und meldete, daß der Zug um die
+Mittagszeit abginge. Es fehlten noch einige Stunden. Schon wollte er
+sich nach Erledigung seines Auftrages entfernen, als Ange gleichgültig
+hinwarf:
+
+„Wissen Sie zufällig den Preis des Billets, Philipp?“
+
+Der Diener bejahte, indem er in einem Kursbuch nachschlug, das er
+gekauft hatte und Ange einhändigte.
+
+Wie bezeichnend war es!
+
+Während er suchte, beunruhigte Ange der Gedanke, daß dieses Büchlein
+noch bezahlt werden müsse, daß der Diener den Betrag verauslagt habe.
+
+Nun nannte dieser den Fahrpreis für die erste Klasse.
+
+„Und die zweite?“ fragte Ange obenhin, indem sie in ihren Gedanken die
+genannte Summe hastig mit ihrem kleinen Besitz verglich. „Gut, ich danke
+Ihnen.“
+
+Der Diener verbeugte sich und ging. Es war Ange beinah ein Trost, daß
+jener als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, daß sie die erste
+Klasse wählen werde. Noch schien ihre Umgebung von den gänzlich
+veränderten Verhältnissen nichts zu wissen.
+
+Und das Geld, das Ange besaß, reichte. Freilich, es blieb nichts im
+Hause zurück, aber in zwei Tagen war ja auch sicher alles geschehen! So
+beruhigte sie sich und beschloß zu reisen. Sie gab die letzten
+Anordnungen, redete der kleinen Ange so lange begütigend zu, bis diese
+sich zufrieden gab, und fuhr endlich zur festgesetzten Stunde an den
+Bahnhof. Die Kinder bestiegen mit ihr den Wagen und wurden wie stets,
+wenn sie erschienen, von den Menschen neugierig beobachtet.
+
+Da stand die Gouvernante; in ehrerbietiger Entfernung auch ein Teil der
+Dienerschaft; vor dem Portal hielt die offene Kalesche, geschmückt mit
+dem gräflichen Wappen; auf dem Bock saß der Kutscher in der prächtigen
+Livree, das Coupé bestieg die schöne, vornehme Frau in dem wundervollen
+Pelz. Kein Wunder, daß der einzelne den Abstand zwischen sich und jener
+abwog. Gewiß, sie war doch eine beneidenswerte Frau! Wenn sie auch
+Herzeleid gehabt hatte, sie kämpfte doch nicht mit den täglichen
+Nadelstichen des Lebens. Sie saß wenigstens in ihren prachtvollen Räumen
+in Fülle und Wohlleben, war in ganz anderen Verhältnissen als jene, die
+umherstanden!
+
+Und nun Umarmungen und Lebewohl! Ein heißes Thränlein funkelte in Anges
+Auge. Und noch ein Abschiedskuß, und noch einer. Jetzt pfiff die
+Lokomotive. „Adieu, adieu! Seid folgsam und artig, süßen Kinder!“ Ein
+weißes Tüchlein flatterte noch eine Weile aus dem Coupé. Nun war Mama
+Ange abgereist.
+
+ * * * * *
+
+Ange blieb allein, und die Fahrt verlief rasch. Ihre Gedanken waren so
+lebendig, daß sie kaum bemerkte, was um sie her vorging. Vornehmlich
+beschäftigte sie sich mit Teut. Sie hatte ihm in kurzen Worten
+geschrieben und ihn gebeten, daß er ihr gleich antworten möge. Wenn sie
+doch erst einen Brief von ihm in Händen halten, wenn seine Trostworte.
+wenn sein Mitgefühl sie berühren würden!
+
+Es beängstigte sie, daß er so lange nichts hatte von sich hören lassen.
+Freilich, die Truppen zogen von Ort zu Ort, Kämpfe wurden ausgekämpft,
+Schlachten wurden geschlagen; wo blieb Zeit und Ruhe selbst für die
+wichtigsten Dinge!
+
+Wie oft überfiel Ange ein heftiges Verlangen nach ihm! Sie sehnte sich
+nach seinem Blick, nach seinem Wort. Wo er wirkte, fügten sich die Dinge
+von selbst. Ein unbeschreibliches Gefühl der Sicherheit hatte sie stets
+durchdrungen, wenn Teut in ihrer Nähe war und ihr ratend zur Seite
+stand.
+
+Und dann richteten sich abwechselnd ihre Gedanken auf Tibet und die
+Kinder. Die Dinge, die jenen betrafen, so peinlicher Natur sie waren,
+beunruhigten sie weniger, aber es beschäftigte ihre Gedanken, ob ihnen
+nichts zustoßen werde. Ben sollte den Magen schonen, Erna hatte Medizin
+zu nehmen, fand sie abschreckend bitter, und nur ihre Mama vermochte sie
+bisher zu überzeugen, daß diese ihr notwendig sei. Und die Schularbeiten
+der Knaben, und der Kummer der kleinen Ange! Ob sie sich wohl beruhigt
+haben würde? Wie bitterlich hatte sie am Bahnhof geweint.
+
+Einigemal warf Ange den Blick aus dem Fenster und ließ die schon halb
+unter dem Dämmerlicht verblassenden Dinge an sich vorüberziehen. Ein
+unruhiges, stürmisches Wetter mit Schneetreiben war aufgekommen und
+legte seine Himmelsflocken dicht und erbarmungslos auf die Landschaft
+ringsum. Hier tauchten im raschen Fluge Dörfer, Städte, ein einzelnes
+Haus, dort ein Feuerfunken in die Luft sendender Fabrikschornstein
+empor; dann kleine, wie verlorene Posten in der Schnee-Einöde
+erscheinende Wärterhäuschen, scharf begrenzte Telegraphendrähte, bald
+sich neigend, bald emporstrebend zu den glockengezierten Stützen,
+blitzartig wie dunkle Erdfäden sichtbar werdend und verschwindend. Und
+jetzt wieder flaches, endloses, schneebedecktes Land, aus dem ein
+einzelner entblätterter Baum wie ein roh entkleidetes Wahrzeichen der
+Jahreszeit melancholisch sich abzeichnete. Und fort, immer fort in
+rasender Eile, stundenlang, bis dem schrillen Pfiff der Lokomotive das
+Stöhnen der Bremse folgte, und sowohl die Szenerie draußen, wie auch das
+tobende Geräusch des dahinstürmenden Zuges seinen Charakter veränderte:
+Jetzt hohle, wie unterirdisch klingende Schläge, hervorgerufen durch
+einige düster aufstrebende, auf den Nebengeleisen flehende
+Eisenbahnwagen; kleine rote und grüne Lichter, wie unheimliche
+Erdgeister, allmählich hellere Luft, als Reflex des auftauchenden Lebens
+in Häusern und Hütten, und dann ein letzter kurzer Schrei der
+Lokomotive, nochmals kreischendes Bremsen und endlich Stillstand und
+Ruhe.
+
+Und jetzt Rufe, eilende Schritte, lautes Sprechen, das Rasseln der
+Postpacketwagen, Auf- und Zuschlagen von Thüren, und um die Coupéfenster
+zugleich ein pfeifendes Sausen aus der sturmdurchwehten Bahnhofshalle.
+
+Dann ging's abermals wie auf einem von Furien gepeitschten, lebenden
+Ungetüm hinaus in den Sturm, in den Schnee und in die Nacht. Und wieder
+dieselben oder ähnliche Bilder: Reihen von ungleichen Häusern,
+weißglitzernde Dächer, Hunderte von Lichtern, lange, von spärlicher
+Helle beschienene, verlassene Gassen, aus der umnebelten Luft wie
+erstarrt emporragende Kirchtürme, wieder Güterwagen, eine einzelne wie
+ein Dämon mit roten Feueraugen vorbeisausende Lokomotive--ein Ruck, noch
+ein rücksichtsloser Ruck an den Weichen, und nun endlich ein
+gleichmäßiges, jagendes, keuchendes, stoßendes Stampfen des
+dahinfliegenden Kurierzuges.
+
+Nach einstündiger Fahrt hielt der Zug wiederum eine Minute. Die Thür in
+Anges Coupé ward aufgerissen. Es schien eine der letzten Stationen vor
+Frankfurt zu sein. Rasche Worte erfolgten zwischen einem in hastigem
+Laufe herbeieilenden Passagier und dem Schaffner. „Schnell hier! Es ist
+höchste Zeit--“
+
+Ein Pfiff des Zugführers--ein Schlag;--ein Herr stieg ein, noch ein
+Pfiff der Lokomotive, und nun brauste der Zug von neuem davon.
+
+Der Fremde, scheinbar den besseren Ständen angehörend, grüßte Ange
+flüchtig und schien anfangs, trotz der schwachen Beleuchtung, ganz in
+die Lektüre einer Zeitung vertieft. Allmählich aber begann er seine
+Blicke auf Ange zu richten und sie endlich in einer so zudringlichen
+Weise zu betrachten, daß sie dies lebhaft beunruhigte. Der Mann sah
+unheimlich aus. Er trug einen dunklen Knebelbart, hatte suchende Augen,
+jene Augen, die eine furchtbare, stumme Sprache reden, und neben
+gewählter Kleidung eine bis an den Hals zugeknöpfte scharfrote
+Sammetweste mit weißen Knöpfen. Ange vermochte sich nicht zu erklären,
+weshalb ihr gerade diese Weste ein so unheimliches Gefühl einjagte.
+
+Endlich brach der Mann das Schweigen und fragte in französischer
+Sprache, ob ihr wohl--sie möge verzeihen--ein Hôtel in Frankfurt bekannt
+wäre. Er sei fremd und habe versäumt, sich zu erkundigen. Ange verneinte
+und gab, wenn auch höflich, durch ihre Miene zu verstehen, daß sie
+keinerlei Gespräch anzuknüpfen wünsche.
+
+„Werden Sie auch in Frankfurt übernachten, gnädiges Fräulein?“ begann
+der Fremde trotzdem von neuem.
+
+„Vielleicht--mein Herr!“ und Ange wandte zur größeren Erhärtung ihrer
+entschiedenen Abwehr den Blick gegen das Fenster und schaute hinaus.
+
+Der Fremde verharrte eine Zeitlang unschlüssig, nahm aber dann noch
+einmal das Wort und machte eine mit feinem Spott vermischte
+Entschuldigung. Zugleich veränderte er den Platz und suchte in
+verletzender Zudringlichkeit Anges Aufmerksamkeit zu erregen.
+
+Ange erbebte, aber sie beschränkte sich diesmal auf einen einzigen
+Blick, durch welchen sie den Fremden an seinen Platz zurückzuweisen
+suchte.
+
+In der That schien der Mann endlich belehrt zu sein; er schwieg.
+
+Nun drückte sich Ange mit geschlossenen Augen in die Ecke des Sitzes.
+Aber noch durch die Lider sah sie in ihrer aufzeigenden Angst die rote
+Weste und die funkelnden Augen des Fremden vor sich. Von draußen ertönte
+das hastende Geräusch der dahinfliegenden Wagen; einmal ein kurzer Pfiff
+der Lokomotive; nun jagte ein anderer Zug, von Frankfurt kommend, über
+die Schienen. Wie die wilde Jagd raste und stob er mit kurzem, sausendem
+Gezisch, den Sturmwind im Rücken, an ihnen vorüber. Dann trat das
+frühere regelmäßige Geräusch wieder ein.
+
+„Mein gnädiges Fräulein! Ich bitte, mein gnädiges Fräulein!“ drang nun
+die Stimme des Fremden in halb bittendem, halb zudringlichem Tone an
+Anges Ohr.
+
+„Mein Herr, ich muß dringend ersuchen, daß Sie mich nicht ferner
+belästigen! Sie haben eine Dame vor sich! Noch einmal, zum letztenmal;
+ich habe bereits deutlich gezeigt, daß ich keine Konversation wünsche.“
+
+Aber der Fremde rührte sich nicht von der Stelle. Ange schien ihm in
+ihrem Zorn nur noch reizvoller.
+
+„Wie kann man sich so erregen, so ungehalten sein!“ begann er abermals
+kopfschüttelnd, suchte Anges Augen, rückte näher und tastete unter
+weiteren besänftigenden Worten sogar nach ihrer Hand. Eine heiße
+leidenschaftliche Hand streifte in der That während einer Sekunde Anges
+Rechte.
+
+„Mein Herr, mir fehlen die Worte für Ihr Benehmen! Ich befehle Ihnen,
+sich sofort zurückzuziehen!“ rief Ange, flog empor und richtete ihre
+schlanke, in die dunklen Trauerkleider gehüllte Gestalt so gebietend vor
+dem Manne auf, daß er zurückprallte. „Wenn Ihr besseres Gefühl nicht von
+selbst erwacht, wenn Sie Ihre empörenden Zudringlichkeiten nicht
+einstellen, werde ich die Zugleine ziehen! Ich thue es bei Gott jetzt,
+sogleich--“
+
+Als der Fremde trotz der Entwaffnung, die sich in seinen Mienen
+widerspiegelte, dieser Aufforderung dennoch nicht folgte, faßte Ange den
+Riemen, riß das Fenster auf und rief, während sie nach der Leine
+tastete, in das Dunkel hinaus nach Hilfe.
+
+Die schwarze Nacht schielte mit ihrem mitleidlosen Gesicht in den
+schwach erleuchteten Raum, Flocken ihres weißen Totenbettes wirbelten in
+das Coupé, kalte, eisige Zugluft drängte sich hinein.
+
+Jetzt pfiff die Lokomotive; der schwarze, mit tausend unsichtbaren
+Atomen geschwängerte Rauch warf seinen stinkenden Atem ins Coupé, drang
+mit der eisigen Luft in Anges Kehle und tötete jeden Laut. Vorwärts!
+vorwärts! Der Zug raste dahin! Was scheren den stummen Zeiger an der
+großen Zeituhr menschliche Vorgänge, gar der Schrei eines geängstigten
+Menschenkindes, was die Laune eines Zudringlichen?
+
+Zum Glück für Ange hatte der Zug nun bereits das Frankfurter Weichbild
+erreicht. Der Fremde machte sich hastig mit seinen Sachen zu schaffen,
+und Ange wandte sich, noch atemlos vor Aufregung, ins Coupé zurück.
+Wenige Augenblicke und der letzte Pfiff ertönte. Die Wagen hielten, die
+Thüren wurden aufgemacht, der Fremde sprang mit kurzem, scheuem Gruß
+eilend hinaus, so eilend, daß Ange ihn in der nächsten Sekunde aus den
+Augen verlor, und sie selbst verließ, noch unter den Nachwirkungen der
+Schrecken, die über ihr geschwebt, den unheimlichen Raum und fuhr in die
+Stadt.
+
+ * * * * *
+
+Als Ange nach einer Nacht voll aufregender Träume und Beunruhigungen zu
+einer Überlegung der Aufgaben des Tages gelangte und zunächst sich
+erinnerte, daß sie sich einige Geldmittel verschaffen müsse, saß sie
+lange grübelnd da und vermochte sich nicht zu einem Entschlusse
+aufzuraffen. Nur wer sich in einer Lebenslage jemals befunden hat, in
+der das Notwendigste nicht allein fehlt, sondern auch der Blick in die
+Zukunft das Traurigste vor Augen stellt, wird den Zustand von
+Mutlosigkeit und Unsicherheit begreifen, in welchem sie sich befand.
+
+Die Rückwirkung der Aufregung des verflogenen Abends, die Geldsorge, die
+dadurch hervorgerufenen Eindrücke, namentlich das Gefühl, etwas anderes
+zu scheinen, als die Umgebung voraussetzte, die fremde Stadt, die
+bevorstehende polizeiliche Vernehmung--dies alles übte eine solche
+Wirkung auf Ange aus, daß sie, zum Fortgang schon gerüstet, auf der
+Treppe noch einmal umkehrte, sich in ihr Zimmer zurückbegab, und weinend
+nach Fassung rang.
+
+Und diese ward ihr endlich! Ja, noch mehr. Was bisher zu keinem Ausdruck
+gelangt war, weil der richtige Prüfstein fehlte, gestaltete sich
+allmählich klar und kräftig in ihrem Inneren. Sie gedachte ihrer Kinder,
+und bei der Erinnerung an diese stärkte sich ihr Pflichtgefühl. Der
+Adel ihrer Seele half ihr zu einem unabänderlichen Entschluß und zu
+einem festen Willen. Nun zeigte sich, daß sie aus einem besseren Holz
+geschnitten war als der Durchschnitt derer, die in der Welt
+umherwandeln.
+
+Kein Rückblick mehr auf frühere sorglose Zeiten, keine Vergleiche!
+Geradeaus wollte sie ihr Auge richten! Ein heiliger Ernst durchdrang
+sie: jener sittliche Ernst bemächtigte sich ihrer, ohne den niemand
+wagen darf, auf den Kampfplatz des Lebens zu treten, mit dem aber jeder
+ein Feld sich eröffnet, dessen Enden ohne Grenzen zu sein scheinen.
+
+Ange beschloß, zunächst einen Wagen zu nehmen und nach einem
+Pelzgeschäft zu fahren; von dort wollte sie sich ins Polizeigebäude
+begeben. Nachdem sie Erkundigungen bei dem Portier eingezogen--sie wurde
+rot bei ihrer Frage--, fuhr sie ab.
+
+Kaum zehn Minuten später betrat sie das Magazin und legte den Mantel,
+den sie im Wagen abgezogen hatte, dem Käufer, einem jungen Menschen mit
+einer verdrießlichen Geschäftsmiene, vor.
+
+„Ich bin auf der Reise. Dieser Pelz ist mir überflüssig, ich wünsche ihn
+zu veräußern. Wollen Sie die Güte haben, ihn zu prüfen und einen Preis
+zu nennen?“
+
+Der Angeredete schob das kostbare Stück hin und her, nickte und sagte
+endlich: „Ich glaube, daß wir den Mantel erwerben würden. Aber der Chef
+ist augenblicklich verreist. Wollen Sie ihn nicht bis übermorgen zur
+Verfügung halten? Ich kann den Handel allein nicht abschließen!“
+
+Ange erwiderte, daß dies nicht möglich sei, und bat um eine andere
+Adresse. Nachdem eine mürrische Antwort erfolgt war, entfernte sie sich.
+
+Ange fuhr durch eine Reihe weitläufiger Straßen und Gassen, bevor sie
+ihr Ziel erreichte. Die großen Geschäftshäuser mit ihren geschmückten
+Läden türmten sich vor ihr auf. Sie sah die eilenden Fuhrwerke und
+Menschen, blickte in den Dunst und Wirrwarr des Verkehrs und ward hier
+angezogen, dort abgestoßen von den Bildern des geräuschvollen Lebens.
+Aber diese Eindrücke gingen gleichsam nur wie ein Schatten neben den
+Gedanken einher, die sie beschäftigten.
+
+Und da plötzlich tauchte beim Hinausschauen eine Gestalt vor ihr auf,
+die sie kannte. Im Fluge des Vorüberfahrens sah Ange ihren
+Reisegefährten; sie bemerkte auch während weniger Sekunden die
+Dreieckzipfelchen seiner roten Weste unter dem zugeknöpften Rock. Der
+Mensch hatte Frankfurt also nicht verlassen! Doch gleichviel; wirkte
+auch die Erinnerung auf sie und ließ diese ein angstvolles Unbehagen in
+ihr emporsteigen--das war glücklich überwunden. Jetzt, in der belebten
+Stadt empfand sie keinerlei Furcht.
+
+Endlich hielt der Wagen. Aber hier war nicht, was Ange suchte. Sie
+befand sich in einer kleinen Gasse und begriff nur zu bald, daß der
+Kutscher sie falsch verstanden habe. Ange sah auf die Uhr; es war schon
+spät. Unter raschem Entschluß befahl sie, nach dem Polizeigebäude zu
+fahren. Sie wollte den Wagen warten lassen, auf ihrer Rückkehr den
+Mantel veräußern, und dann den Mann ablohnen.
+
+„Warten Sie!“ sagte Ange, nachdem das Polizeigebäude erreicht war. Und
+in einer unzeitigen Ehrlichkeit fügte sie hinzu: „Es kann etwas lange
+dauern.“
+
+„Dann lohnen Sie mich ab!“ rief der Kutscher. „Mein Pferd geht schon
+seit gestern abend; ich möchte ausspannen.“
+
+Ange erschrak. „Ich habe kein kleines Geld--“
+
+„Ich werde wechseln gehen,“ wandte der Mann ein und sprang vom Bock.
+
+„Nein, nein, warten Sie!“ erklärte Ange, eilte rasch an die Thür und
+schnitt somit alle weiteren Fragen ab, die ihr Ungelegenheiten bereiten
+konnten. Das Geld, das sie in C. zu sich gesteckt, hatte eben für die
+Reise gereicht; sie vermochte den Kutscher nicht einmal zu bezahlen.
+
+Nachdem Ange von dem Portier verständigt worden war, betrat sie das
+Zimmer des Kriminalkommissarius. Einer der dort anwesenden Beamten wußte
+nicht genau Bescheid, der Vorsteher war nicht anwesend. Es blieb Ange
+die Wahl zu warten oder wieder zurückzukehren. Sie schwankte.
+
+Bevor sie sich zum Gehen entschloß, fragte sie nach Tibet, und nach
+einigem Hin- und Herreden empfing sie den Bescheid, der Inkulpat sei in
+Haft, und es sei nicht möglich und gestattet, ihn zu sehen oder zu
+sprechen.
+
+Der Beamte, der höflich, wenn auch kurz Auskunft erteilt hatte, sah
+befremdet empor, als Ange, in Gedanken verloren, vor sich hinstarrte.
+Nun raffte sie sich auf und erklärte, in einigen Stunden wieder anfragen
+zu wollen.
+
+In der Thür wandte sie sich noch einmal um. „Ich bitte, dem Herrn
+Kommissar bei seiner Rückkehr meine Karte übergeben zu wollen und zu
+melden, daß ich mich eingefunden habe.“
+
+Der Beamte schielte auf die Adresse, nickte gleichgültig und sah auf
+seine Arbeit.
+
+„Adieu!“
+
+Dieser Gruß ward kaum erwidert. So ging Ange.
+
+Ins Hôtel zurückgekehrt, ließ sie den Kutscher ablohnen und machte sich
+nach etwas Ruhe und Erholung abermals nach dem Polizeibureau auf den
+Weg.
+
+Als sie nach längerem Warten endlich vorgelassen wurde, stand sie einem
+ernsten Mann mit forschendem Blick gegenüber, und es entspann sich ein
+längeres Gespräch.
+
+„Ich komme, Herr Kommissar, wegen meines am vorgestrigen Tage
+verhafteten Dieners Ernst Tibet.“
+
+„Ich habe die Ehre, die Frau Gräfin von--“ Der Beamte suchte nach Anges
+Namen, bat sie mit einer höflichen Bewegung, Platz zu nehmen, griff
+hinter sich nach einem Aktenfascikel, blätterte darin und neigte
+zustimmend den Kopf, als jene inzwischen das Wort „Clairefort“ selbst
+hinzufügte.
+
+„Ganz recht! Der Verhaftete beruft sich auf die Zeugenschaft der Frau
+Gräfin Ange von Clairefort, geborenen Baronin von Butin, Gemahlin des
+verstorbenen Rittmeisters Carlos von Clairefort. Ist dies richtig,
+gnädige Frau!“ Der Kommissar erhob fragend den Blick.
+
+Ange verbeugte sich.
+
+„Die Vorgänge, die Umstände, welche die Verhaftung des Ernst Tibet
+herbeiführten, sind Ihnen bekannt, gnädige Frau?--Nein?--Ich werde Ihnen
+dann zunächst das Protokoll vorlesen. Indes, eine Vorfrage: Vermögen
+Sie sich zu legitimieren? Ich bitte um Ihre Papiere.“
+
+Ange wußte bei den mehrfach und gleichzeitig gestellten Fragen nicht
+unmittelbar zu antworten; von allen blieb die letztere in ihr hasten.
+„Legitimation? Ich verstehe nicht, Herr Kommissar!“
+
+„Es würde ein amtlich beglaubigtes Schriftstück aus C., etwa von dem
+dortigen Polizeimeister, genügen.--Sie haben kein solches?--Vielleicht
+können Sie sich durch eine hiesige Persönlichkeit rekognoszieren
+lassen.--Auch nicht?--Hm, das erschwert allerdings die Angelegenheit.“
+
+In Anges Mienen trat ein Ausdruck von Enttäuschung und Unruhe zugleich,
+und da ein Kriminalkommissarius wie ein Luchs auf der Lauer liegt und
+jede verdächtige Bewegung beobachtet, auch niemals annimmt, daß ihm die
+Wahrheit gesagt wird, sondern stets das Gegenteil vermutet, so sprachen
+diese Dinge nicht eben zu Anges gunsten.
+
+„Eine Legitimation ist durchaus erforderlich, gnädige Frau,“ fuhr der
+Beamte achselzuckend fort. Die Schwierigkeiten, die sich unvermutet
+erhoben, ängstigten Ange. Sie sah ihr Gegenüber einen Moment ratlos an.
+
+„Ich müßte schon nach C. zurückreisen, Herr Kommissar. Ich weiß keinen
+anderen Weg. Hier kenne ich niemanden. Giebt's keine Möglichkeit? Ich
+bitte freundlichst um Ihren Rat.“
+
+Der Beamte machte eine zweifelnde Bewegung, und in seinem Gesicht malte
+sich nichts, was Ange hätte ermutigen können.
+
+„Ich glaube allerdings, es wird nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie
+an Ort und Stelle--“
+
+„Aber bedenken Sie, Herr Kommissar, ich bin gestern in aller Eile
+abgereist, nun wieder zurück und abermals hierher!“
+
+„Allerdings eine mißliche Aufgabe, gnädige Frau. Aber woher soll ich die
+Überzeugung nehmen, daß ich die Ehre habe, mit der Frau Gräfin von
+Clairefort zu sprechen? Die ganze Angelegenheit macht, ich muß es Ihnen
+offen bekennen, einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Der Inkulpat
+hat sich äußerst verdächtig benommen. Nachdem er die sehr wertvollen,
+wie ich hier berichtet finde, auf eine ganz ungewöhnlich große Summe
+abgeschätzten Diamanten anfänglich als sein Eigentum bezeichnet hatte,
+zog er später diese Aussage zurück und weigerte sich, den Namen seines
+Auftraggebers zu nennen. Der Juwelier mußte Verdacht schöpfen und war in
+der That selbst die Veranlassung, daß die Verhaftung erfolgte. Was ist
+denn Ihnen über den Fall bekannt, gnädige Frau?“
+
+Ange berichtete, was sie wußte. Sie erzählte, daß sie ein Telegramm und
+in diesem die Aufforderung erhalten habe, sofort nach Frankfurt zu
+eilen. Und während sie das erörterte, kam ihr, wie ihr schien, eine
+zutreffende Bemerkung.
+
+„Daß ich die Gräfin von Clairefort bin, Herr Kommissar,“ fuhr sie fort,
+„mag genügend daraus erhellen, daß nur ich die ohne Zweifel mit Ihrer
+Genehmigung abgesandte Depesche empfangen konnte und solche auch in der
+That erhielt. Wollte der Verhaftete eine andere Persönlichkeit
+einschieben, welche Möglichkeit Sie anzunehmen scheinen, so mußte er
+entweder diese zugleich benachrichtigen oder sich in der Zwischenzeit
+mit mir in Verbindung setzen. Wie sollte das geschehen sein? Ich
+erkläre, daß ich die Gräfin von Clairefort bin, daß ich meinen Diener
+beauftragt habe, meine Diamanten zu veräußern, und daß er nur aus
+Delikatesse meinen Namen verschwieg. Die Umstände, welche ihn dazu
+veranlaßten, sind so trauriger Art“--Ange stockte und senkte das
+Auge--„daß Sie darin nur etwas Selbstverständliches finden würden, Herr
+Kommissar, wenn Ihnen solche bekannt wären.“
+
+Der Beamte sah Anges Bewegung und legte ihr durch einige artige Worte
+seine Teilnahme an den Tag. Dann aber nahm er zu dem Gegenstand selbst
+Stellung und sagte:
+
+„Was Sie als untrüglichen Nachweis anführen, meine gnädige Frau, ist für
+mich keiner. Ich bitte, nur den einen Fall ins Auge zu fassen, und ein
+solcher ist unzähligemal vorgekommen. Was kann bei solchen Gelegenheiten
+nicht alles vorbedacht und abgesprochen sein! Stößt dem Schwindler oder
+Dieb eine Ungelegenheit zu, bezeichnet er als Entlastungszeugen eine mit
+ihm im Bunde stehende Persönlichkeit, die sich also im vorliegenden Fall
+etwa--Frau von Clairefort nennt. Diese erscheint, macht ihre Aussagen,
+und der gemeinsame, an einer dritten Person ausgeführte Diebstahl--wer
+weiß wo; in Paris, Madrid oder sonst in der Welt!--bleibt nicht nur
+unentdeckt, sondern die Komplicen ziehen noch mit triumphierender Miene
+ab.--Ohne Zweifel verhält sich das alles in diesem Falle nicht, wie ich
+hier dargelegt habe, aber bedenken Sie, daß es doch möglich sein könnte
+und welche Verantwortung auf mir lastet. Meine vielen Geschäfte
+gestatten mir im allgemeinen nicht, mich mit Zeugen in Erörterungen über
+Eventualitäten einzuladen. Ich gehe streng nach meinen Vorschriften.
+Wird erfüllt, was ich gesetzlich zu verlangen habe, schreite ich an die
+Prüfung und entscheide. Legitimieren Sie sich, und ich werde Ihre
+Aussagen protokollieren, diese mit denen des Tibet vergleichen, Sie
+beide konfrontieren und, wenn ich die Überzeugung gewinne, daß ein
+falscher Verdacht vorliegt, mit größter Genugthuung Ihren Diener
+entlassen und Sie in den Besitz Ihres Eigentums setzen.“
+
+Ange ließ mutlos den Kopf sinken.
+
+„Also es giebt gar keinen--gar keinen Ausweg, Herr Kommissar?“ fragte
+sie und sah ihn mit feuchten Augen an. „Bedenken Sie gütigst! Ich, eine
+einzelne Dame! Noch stehe ich unter den Nachwirkungen einer so ernsten
+Trauer, mein Gatte ist eben gestorben. Ich reiße mich von allem los und
+eile hierher; nun soll ich nochmals zurück! Und dazu die
+Peinlichkeit, in dieser Angelegenheit mit den Ortsbehörden zu
+verhandeln!--Diamantendiebstahl! Verhaftung! Das alles klingt, als ob
+wirklich ein Vergehen vorläge, und doch ist alles so korrekt wie nur
+möglich. Ich bitte, ich flehe Sie an, helfen Sie mir! Ich schwöre Ihnen
+zu, daß ich die Wahrheit rede! Sehe ich aus wie eine Betrügerin? Ihr
+scharfer Blick muß es erraten, daß ich die volle Wahrheit rede!“
+
+Der Beamte sann einen Augenblick nach, dann sagte er:
+
+„Meinen persönlichen Empfindungen darf ich nicht folgen. Diese sprechen
+zu Ihren gunsten, gnädige Frau--ich bitte, beruhigen Sie sich.“ (Ange
+brach in Thränen aus.) „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: ich werde
+an den Polizeimeister in C. telegraphieren. Vermag dieser zu
+recherchieren, daß Sie in C. wohnen, gestern abgereist sind--wann,
+bitte, mit welchem Zug?--Sehr wohl!--auch Ihr Signalement und dasjenige
+Ihres Dieners beizufügen--würden Sie endlich das Original der Depesche
+mir einhändigen können, welche Sie von Ihrem Diener empfingen, so wäre
+ich hinreichend gedeckt und verspreche Ihnen eine rasche Untersuchung
+und Erledigung.“
+
+Ange atmete erleichtert auf.
+
+„Wann darf ich also wieder erscheinen, Herr Kommissar?“
+
+„Ich denke, übermorgen vormittag werde ich im Besitz alles dessen sein,
+was erforderlich ist.“
+
+„Nicht früher?“ warf Ange enttäuscht ein.
+
+„Ich glaube nicht, daß es möglich sein wird.“
+
+„Und darf ich meinen Diener sprechen?“
+
+„Ich bedaure, gnädige Frau--“
+
+„Aber er könnte doch benachrichtigt werden, daß ich hier bin und daß
+alles eingeleitet ist! Sie würden mich sehr verbinden. Der arme Mensch
+wird in einer entsetzlichen Unruhe sein, und Sie begreifen, daß ich ihn
+daraus befreien möchte.“
+
+„Diese Bitte will ich auf Ihren besonderen Wunsch erfüllen, gnädige
+Frau.“
+
+Der Kommissar klingelte.
+
+„Ich danke Ihnen für diese besondere Rücksicht, Mein Herr,“ sagte Ange,
+stark betonend.
+
+Der Beamte neigte höflich den Kopf und erhob sich. „Also auf übermorgen
+zehn Uhr. Ich stehe dann zu Diensten. Ich empfehle mich Ihnen, gnädige
+Frau.“
+
+Eine stumme Verbeugung, nochmals ein Dankeswort, dann war Ange draußen.
+
+„Nach der Pelzhandlung von M.!“
+
+„Straße? Nummer?“
+
+Ange antwortete, stieg ein und der Wagen rollte fort. Nach zehn Minuten
+befand sie sich an Ort und Stelle. Sie brachte ihr Anliegen vor und
+wartete voll Ungeduld auf die Entscheidung. Diese erfolgte erst nach
+längerer Zeit.
+
+„Wir haben im ganzen nicht viel Neigung zum Kauf, obgleich der Pelz sehr
+schön ist,“ sagte der Händler, welcher sich mit seiner Umgebung beraten
+hatte. „Für derartige Ware haben wir hier so gut wie keine Verwendung.
+Indessen, wollen Sie ihn mit achtzig Thalern abgeben, kann das Geschäft
+gemacht werden.“
+
+Seit Wochen hatte sich Ange nicht so glücklich gefühlt. Sie hätte
+aufjauchzen können in der Erleichterung ihrer Seele. Achtzig Thaler! Sie
+hatte zwar mehr erwartet, da der Pelz mehrere Hunderte gekostet hatte,
+aber sie empfing Geld--überhaupt Geld, und--dann fand sich alles andere.
+
+Ange nickte, that noch eine Frage wegen Rückkaufs, empfing den Betrag
+und entfernte sich.
+
+Nach einer Abwesenheit von fast zwei Stunden kehrte sie nun abermals ins
+Hôtel zurück.
+
+ * * * * *
+
+Wer das Leben beobachtet, wird finden, daß diejenigen das höchste
+Ansehen genießen, welche allezeit den Kopf über das Herz stellen, und in
+der That sind diese Menschen die eigentlichen Erhalter unserer sozialen
+Verhältnisse. Was sollte heute aus einer Welt werden, in der die
+Menschen nach den idealen Vorschriften einer biblischen Bergpredigt
+handeln wollten?
+
+Anders steht es mit dem Glück solcher Personen. Die tausendfachen Reize,
+welche den Gemütsmenschen zu teil werden--und mögen diese auch nur
+bestehen in dem Wechsel zwischen Erfolg und Enttäuschung--entgehen
+ihnen. Der Gemütsmensch genießt jede Sekunde, der Verstandesmensch
+entbehrt oft alles. Jener befindet sich bis zum Grabe in einem
+köstlichen Rausche, dieser--oft ohne wesentlichen Kampf mit der
+Außenwelt, der Illusionen bar, lernt den eigentlichen Zauber des Lebens
+gar nicht kennen.
+
+Ange hatte den furchtbaren Ernst ihrer Lage begriffen, und der feste
+Entschluß, ein neues, auf Pflichttreue beruhendes Leben zu beginnen, war
+stark und lebendig in ihr geworden; aber ihre lebensfrohe Weltanschauung
+und ihre sorglose Unerfahrenheit gewannen doch leicht wieder die
+Oberhand und verführten sie, mehr dem Impuls des Augenblicks zu folgen,
+als das Ende der Dinge ins Auge zu fassen. Gestärkt durch neue
+Hoffnungen und im Besitz einiger Mittel, verwischten sich vorübergehend
+die Eindrücke der letzten Tage, und mit dem halbbewußten Anreiz, sich
+ihre glückliche Stimmung zu erhalten, durchschritt sie nach dem
+eingenommenen Mittagessen die Hauptstraßen, guckte in die Läden und
+betrachtete mit naiver Freude alles, was sich neues ihrem Auge bot.
+
+Die schönen Gegenstände, welche in den Schaufenstern ausgebreitet lagen,
+reizten ihre Kauflust. Was ihr gefiel, hatte sie bisher stets
+erhalten--sich erbeten oder selbst gekauft; niemals fand sie den
+geringsten Widerstand. Nun fielen ihr die Kinder ein! Statt eines Tages
+würde sie viele Tage fortbleiben! Dafür mußten ihre Lieblinge doch in
+etwas entschädigt werden!
+
+Unter diesem Gefühlsdrange betrat sie ein Magazin und wählte aus: da
+war etwas für die kleine Ange, hier etwas für Jorinde und Fred, und da
+keines der Kinder bevorzugt werden durfte, kaufte sie auch einige
+hübsche Überflüssigkeiten für Ben und Erna.
+
+Als der Verkäufer die Rechnung summierte, erschrak Ange. Aber dann
+stellte sie sich die Freude und den Jubel der Kleinen vor, gedachte
+nochmals der mancherlei Entbehrungen, welche sie durch ihre Abwesenheit
+erleiden würden, und befahl ohne Zaudern, die Gegenstände abzusenden.
+
+Und dennoch tauchte, als sie draußen zum Nachdenken gelangte, ein
+bekanntes ernstes und tadelndes Gesicht vor ihr auf; ja sie hörte eine
+Stimme, die sie sanft schalt und ihr zurief: „Niemals wirst Du die
+Erfahrungen des Lebens Dir zu nutze machen! Immer wissender wirst Du
+werden, nicht weiser!“ Es war Teut, der auch diesmal vor ihrem inneren
+Auge erschien.
+
+Ange erschrak vor sich selbst. Selbsterkenntnis war ihr gekommen,
+seitdem sie Teut kennen gelernt, Entschlüsse waren in ihr gereift,
+nachdem Carlos davongegangen und sie in Not zurückgelassen hatte, aber
+der Gang durch die Schule des Lebens war noch zu kurz, um seine volle
+Wirkung zu üben.
+
+Den Rest des Tages benutzte sie, um an die Kinder und nochmals an Teut
+zu schreiben. In ihrem ersten Briefe an ihn hatte sie nur Kunde gegeben
+von Carlos' plötzlichem Tode; nun bat sie den Freund, ihr in ihrer Lage
+zu raten. Mit ihrem Zartgefühl zauderte sie lange, die Zukunft zu
+berühren. War in diesem Falle Rat erbitten nicht gleichbedeutend mit
+einem Anspruch auf Teuts erneuerte opferthätige Freundschaft?
+
+Dennoch schrieb Ange.
+
+Nachdem sie aber die Feder aus der Hand gelegt, nochmals alles überlesen
+hatte, und nun den Brief einfalten wollte, stiegen plötzlich Stolz und
+Scham wie heiße Feuer in ihr empor. Sie zauderte, und aus diesem Zaudern
+entstand ein unabänderlicher Entschluß. Ange zerriß, was sie dem Papier
+anvertraut, und warf's in den Kamin.
+
+Es war ein qualvoller, heftiger Widerstreit, der sich in ihrem Inneren
+erhob. Hier winkten Sorglosigkeit, Fülle vielleicht, mindestens aber
+alles, was ihre Kinder schützen würde vor der Grausamkeit des Lebens.
+Dort, in der Zukunft, lagen harte Arbeit, Entbehrung und alle die
+entsetzlichen Begleiter dieser Quälhexe des Daseins.
+
+Und dennoch, und dennoch! Schon die bisherigen Wohlthaten Teuts
+brannten wie glühendes Eisen auf ihrer Seele. Und diese noch
+vermehren?--Niemals! Um keinen Preis! Es war jetzt, wie's war! Etwas
+blieb! Darben würde sie nicht, wenn sie alles veräußerte. Am besten, sie
+floh vor dem Freunde für immer, um so mehr, weil sie ihn liebte und weil
+diese Liebe sie zu einer nachgiebigen Schwäche hinreißen konnte, die sie
+sicher bereuen würde.
+
+ * * * * *
+
+Vier Tage nach dem eben Erzählten saßen sich Ange und Tibet in einem
+Zimmer des Hotel de Russie gegenüber.
+
+Letzterer war am Tage vorher aus der Haft entlassen worden, und hatte
+Anges Eigentum zurückerhalten. Eben hatte er, der Aufforderung seiner
+Herrin folgend, Platz genommen und sich einer ehrerbietigen Haltung
+entäußert, die unter den bestehenden Verhältnissen auch als etwas
+Nebensächliches erscheinen mußte.
+
+„Endlich, endlich, mein guter, braver Tibet!“ sagte Ange und reichte dem
+treuen Menschen die Hand. „Und nun berichten Sie! Ist alles gut
+verlaufen? Wieviel haben Sie empfangen?“
+
+Über Tibets Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln; er griff in die
+Seitentaschen seines Rockes und legte Ange ein Papier vor, das diese
+zwar neugierig betrachtete, aber ohne Verständnis wieder aus der Hand
+gleiten ließ.
+
+„Es ist ein Check auf die Firma Erlanger, Frau Gräfin.
+Fünfundfünfzigtausend Mark haben wir erhalten.“
+
+„Wie? Fünfundfünfzigtausend Mark? Viel; nicht, Tibet?“ rief Ange naiv
+und voller Freude.
+
+„Ich glaube, daß wir mehr bekommen hätten, Frau Gräfin, wenn--“
+
+„Wenn?“
+
+„Die Frau Gräfin wünschten eine rasche Erledigung. Wenn ich das Angebot
+in scheinbar längere Überlegung gezogen hätte, würde möglicherweise ein
+größerer Preis erzielt worden sein!“
+
+„Vielleicht, vielleicht, Tibet! Aber unter den gegebenen
+Verhältnissen--“
+
+„Wenn die Frau Gräfin meine Bitte erfüllt haben würden, wenn ich
+vorläufig hätte eintreten dürfen--“
+
+„Nun kommen Sie schon wieder mit den alten Dingen! Ist's denn nicht gut
+so? Fünfundfünfzigtausend Mark! Das ist weit über meine Erwartung!
+Wieviel meinen Sie, Tibet, daß die Veräußerung meiner Einrichtung
+bringen wird? Hatte der Graf versichert? Wissen Sie etwas darüber?“
+
+„Es ist eine sehr große Summe, Frau Gräfin. Ich erinnere mich nicht
+genau, wieviel es gewesen ist. Allein die Gemälde im Salon haben einen
+bedeutenden Wert.“
+
+„Ah, so daß ich doch nicht ganz eine arme Kirchenmaus sein werde! Wie
+hoch belaufen sich unsere Schulden, die rückständigen Zahlungen der
+letzten Zeit?“
+
+„Sie sind nicht unbedeutend, Frau Gräfin. Aber falls Frau Gräfin, was
+ich nicht hoffe, die Einrichtung veräußern, wird wohl gewiß das Doppelte
+von dem herauskommen, was ich heute für die Diamanten erzielt habe.“
+
+„Also viel, Tibet, sehr viel! Nehmen wir an, daß mir hunderttausend Mark
+bleiben--werde ich diese wohl behalten, nachdem die Schulden, auch
+diejenigen an Baron von Teut, abgetragen sind?--Ja?--Sie wissen
+nicht?--Nun, nehmen wir an, daß mir so viel bliebe--wieviel Zinsen giebt
+das vom Kapital?“
+
+„Viertausend Mark, wenn dieses sicher angelegt werden soll, Frau
+Gräfin.“
+
+„Viertausend Mark--und damit sollten wir uns in einer kleinen Stadt
+nicht bescheiden einrichten können? Wie glücklich bin ich, daß
+wenigstens das meinen Kindern erhalten bleibt!“
+
+Tibet seufzte. Er schien Anges Hoffnungen keineswegs zu teilen.
+
+„Nun. Sie Zweifler, was ist denn jetzt wieder?“
+
+„Der Herr Baron wird sicher nicht leiden, daß die Frau Gräfin Ihre
+Einrichtung verkaufen. Schon wegen der Diamanten werde ich einen
+schweren Stand mit ihm haben.“
+
+Aber Tibet bereute, was er gesprochen hatte, denn die Frau, die ihm
+gegenüber saß, sagte in einem völlig veränderten und keinen Widerspruch
+duldenden Ton:
+
+„Was hat Herr von Teut mit diesen Angelegenheiten zu thun? Ist er mein
+Vormund? Ich wünsche durchaus keine Einmischungen in meine
+Geldangelegenheiten von seiner Seite. Und damit Sie es wissen, ein für
+allemal wissen, Tibet: ich verbiete Ihnen, ohne meinen Willen und meine
+Zustimmung dem Baron irgendwelche Mitteilungen über meine Verhältnisse
+zu machen. Ja, noch mehr. Wenn ich C., was unmittelbar geschehen wird,
+verlasse, darf er meinen Aufenthalt nicht erfahren. Ich würde
+irgendwelche Äußerung von Ihrer Seite, die ohne meine Genehmigung
+geschieht, als eine Indiskretion, ja als einen Treubruch ansehen, und
+Sie würden meine Freundschaft verlieren, die Sie heute in so hohem Grade
+besitzen.“
+
+„Frau Gräfin--“
+
+„Und überall und zur Klarstellung über das, was ich unabänderlich
+beschlossen, Tibet,“ fuhr Ange, ohne Tibets Einwand zu beachten, in
+einer diesem Mann gegenüber vielleicht ungeeigneten, aber ihrer Natur
+entsprechenden Offenheit fort, „merken Sie sich folgendes: Sie werden es
+verstehen, und ich sage es Ihnen, weil wir uns in diesem Augenblicke
+nicht gegenübersitzen als Herrin und Diener, sondern als zwei durch
+lange Jahre und nun auch durch ein trauriges Schicksal verknüpfte
+Personen. Es giebt niemanden auf der Welt, den ich so hoch schätze wie
+den Baron von Teut; er ist mein bester, mein treuester Freund, wie Sie,
+Tibet, es meinem verdorbenen Gemahl gewesen sind. Aber die Dauer der
+Freundschaft ist fast immer bedingt durch Gleichartigkeit der
+Lebensverhältnisse. Da diese sich verändert haben, so könnte unser
+bisheriges gutes Einvernehmen Schaden leiden, und um unter allen
+Umständen solches zu verhüten, will ich ihn in Zukunft meiden. Ich kenne
+ihn. Seine freigebige Hand kann sich nicht schließen, ich aber will
+keine Wohlthaten empfangen, und wenn ich hungern sollte! Daraus ergiebt
+sich alles. Auch wir müssen uns trennen, mein braver Tibet! Ich vermag
+Ihnen nichts zu bieten und darf Sie nicht zurückhalten, sich ein anderes
+sicheres Brot zu suchen.“
+
+„Wie--auch mich wollen Sie von sich stoßen, Frau Gräfin?“ rief Tibet.
+
+„Ich will Sie nicht von mir stoßen! Ach, Tibet, ich trenne mich nur
+allzu schwer von Ihnen. Aber gestehen Sie selbst! Meine Einnahme wird in
+der Folge gering sein, meine Familie ist zahlreich; ich kann Sie nicht
+belohnen, wie ich es möchte. Ja, noch mehr: ich kann Ihnen überhaupt
+nicht--“
+
+„Ich wünsche auch gar nichts, Frau Gräfin. Ich bitte nur, bei Ihnen und
+den Kindern bleiben zu dürfen, die mir ans Herz gewachsen sind.“ Den
+Schlußsatz sprach Tibet, dieser unverbesserliche Egoist, nicht ohne
+Berechnung. Und er täuschte sich auch nicht bezüglich der Wirkung seiner
+Worte.
+
+Immer, wenn die Kinder in Frage kamen, ward Ange wieder schwach oder
+schwankend. Sie hingen voll Zärtlichkeit an dem alten Diener des Hauses.
+Sie stellte sich vor, wie gut er stets mit ihnen gewesen, wie er ihre
+Schwächen kannte und wie günstig er sie stets beeinflußt hatte; ja,
+welche Entbehrung eintreten werde, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe sein
+würde.
+
+Ange schüttelte denn auch nur den Kopf; sie bewegte ihn wie jemand, der
+nicht nein und nicht ja zu sagen vermag.
+
+Aber endlich gewann doch das Vernünftige wieder die Oberhand, und sie
+sagte:
+
+„Und dennoch nein--nein, Tibet. Sie sind nicht mehr jung--wollen Sie die
+besten Ihnen noch bleibenden Jahre sich verkümmern, gar mit der Aussicht
+in eine Abhängigkeit treten, welche sicher ein sorgenfreies Alter
+abschneidet?“
+
+„Dafür ist gesorgt, Frau Gräfin. Ich habe ein kleines Kapital, wie Sie
+aus meinem bescheidenen Anerbieten bereits erfahren haben. Ich strebe
+nicht nach Geld! Lassen Sie mich wenigstens vorläufig bei Ihnen bleiben!
+Die nächste Zeit erfordert so viel! Zuerst werde ich die ganze
+Abwickelung in C. besorgen müssen, dann kommt der Umzug, die
+Neueinrichtung, die Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse. Das
+erfordert gewiß ein Jahr, in dem ich mich Ihnen nützlich machen kann.“
+
+Ange sah dem trefflichen Menschen ins Auge, und eine Thräne der Rührung
+stahl sich in ihr eigenes.
+
+„Gut, unter einer Bedingung, Tibet!“ entschied sie, während sie ihre
+Empfindungen zurückdrängte „Sie versprechen mir, daß Sie meine vorher
+geäußerten Wünsche erfüllen, daß Sie dem Baron von Teut--“
+
+Tibet hatte bei den ersten Worten dankbar das Haupt geneigt, jetzt trat
+ein unverkennbarer Ausdruck der Unruhe in seine Züge.
+
+„Nun, Tibet?“ unterbrach sich Ange.
+
+„Darf ich offen sprechen, Frau Gräfin?“
+
+Ange nickte, ergriff einen kleinen Gegenstand, der auf dem Tische lag,
+rollte ihn in ihrer Hand auf und ab und horchte mit einem Anflug von
+Spannung auf.
+
+„Ich gab Herrn Baron von Teut beim Abschied mein Wort, Frau Gräfin, ihm
+von allem Mitteilung zu machen, was die gräfliche Familie anbeträfe. Ich
+meine,“ setzte er schnell auf einen stolzen Blick aus Anges Augen hinzu,
+„ihm sogleich Nachricht zu geben, wenn bei den einmal begehenden
+Verhältnissen Ungelegenheiten eintreten sollten. Ich versprach es nach
+einigem Zaudern, denn früher--damals, als der Herr Baron zuerst ins
+Hauswesen eingriff--hatte ich jede derartige Zumutung abgelehnt. Nun
+wußte ich sicher, daß ich etwas Gutes, Ihnen nur Nützliches damit
+bewirken könne, und sagte zu, was er von mir wünschte. Aber noch etwas
+anderes, Frau Gräfin: der Herr Baron ist, soviel ich weiß, von dem
+seligen Herrn Grafen zum Vormund der Kinder eingesetzt, und derselbe hat
+ihm auch Vollmacht gegeben, Ihre Vermögensangelegenheiten selbständig in
+die Hand zu nehmen. Haben Sie nichts in dem letzten Willen des Herrn
+Grafen--in seinem Testament gefunden?“
+
+„Ah!“ murmelte Ange erregt und wie abwesend vor sich hinstarrend.
+
+„Und zudem, Frau Gräfin,“--fuhr Tibet, Mut gewinnend, fort--„welchen
+Nutzen wird es haben, wenn Sie alles verkaufen? Sie bedürfen doch einer
+Einrichtung, auch an einem anderen Ort! Und glauben die Frau Gräfin
+nicht, daß der Herr Baron bald ausfindig machen wird, wo Sie sich
+aufhalten, und wird er nicht--“
+
+Ange erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab.
+
+Sie rückte an den mit Plüsch bezogenen Stühlen, zupfte an der Tischdecke
+und stieß mit dem kleinen Füßchen ein Schnitzelchen Papier unter das
+Sofa.
+
+„Nein!“ sagte sie und richtete sich empor. „Ich weiß nichts von diesem
+letzten Willen meines Gemahls, und ich fand nichts Derartiges unter
+seinen Papieren. Wozu sollte das auch dienen? Bin ich nicht selbst der
+natürliche Vormund meiner Kinder?“ Und nach kurzer Pause fuhr sie, in
+ihren naiven Ton zurückfallend, fort: „Müßte ich mich denn fügen, wenn
+wirklich ein solches Abkommen vorhanden wäre?“
+
+„Ohne Zweifel, Frau Gräfin.“
+
+„Nun, dann mag es sein! Mag der Vormund raten, aber--“
+
+Ange fiel in den Sessel zurück und bewegte in starker Erregung den Kopf.
+Was sie eben gesprochen, hatte sich unwillkürlich hervorgedrängt. Es war
+nichts, was an Tibet gerichtet war. Er verstand dies auch, denn er
+schwieg taktvoll.
+
+„Meine Kinder sollen“--hob Ange von neuem an--„etwas Tüchtiges lernen,
+und wenn es ein Handwerk ist. Je früher sie leistungsfähige Menschen
+werden, desto eher werden sie sich ihr Brot verdienen können. Darauf
+wird sich meine Sorge richten müssen. Freilich, für die Mädchen ist es
+schwer!
+
+Ich werde sehen, was sie zu begreifen und später nützlich zu verwerten
+vermögen. Das ist mein Plan und mein unumstößlicher Entschluß. Wo ich in
+Ehren mir Erleichterungen verschaffen kann--Erleichterungen, die man
+Unbemittelten in den Schulen durch Stipendien in ähnlichen Fällen
+gewährt, werde ich sie suchen. Komme ich in die Lage, ein Darlehen zu
+nehmen, so werde ich das als ein Geschäft betrachten--kurz, Tibet, ich
+gehe meinen eigenen geraden Weg, und nichts, nichts wird mich davon
+zurückbringen oder abhalten!“
+
+„Gewiß, gewiß, Frau Gräfin,“ bestätigte Tibet einlenkend und voll
+Staunens. War das dieselbe Frau, die er seit so vielen Jahren in fast
+hilfloser Weise sich hatte bewegen sehen, die immer wie ein
+unerfahrenes, von jedem Impuls getriebenes Wesen gehandelt, die selbst
+einem Teut seiner Zeit das um ihrer Kinder willen abgebettelt, was sie
+doch als recht und vernünftig erkannt hatte!?
+
+Er machte, von der Entschiedenheit ihres Wesens betroffen, auch
+fernerhin keinen Einwand mehr, verneigte sich nur stumm und bat, ihn
+wegen der Reisevorbereitungen zu entlassen.--
+
+Die Nachwirkung der vorhergegangenen Aufregung trat erst später bei Ange
+ein. Zunächst hielt sie noch die Sehnsucht nach den Kindern, dann die
+freudige Erwartung des Wiedersehens aufrecht.
+
+Als der Zug sich am Tage der Rückkehr C. näherte, als Ange sich
+vorstellte, alle ihre Lieblinge am Bahnhofe wiederzusehen, klopfte ihr
+das Herz so gewaltig, daß ihr fast der Atem stockte: und als endlich das
+Ziel erreicht war, als die Kinder ihre Händchen ausstreckten und sie
+beim Aussteigen küssend und jubelnd umringten, da erschien Ange alles,
+was vorgegangen, geringfügig gegen diesen Augenblick des Glücks.
+
+ * * * * *
+
+Ange hatte bereits auf der Rückfahrt noch einmal mit Tibet überlegt,
+welche Schritte für die Zukunft einzuschlagen seien. Sie blieb dabei,
+ihren Haushalt aufzulösen und C. zu verlassen; Tibet sollte nicht nur
+mit dem Besitzer der Villa wegen einer früheren Auflösung des
+Mietvertrages sprechen, sondern auch die Dienerschaft sofort entlassen.
+Das sämtliche entbehrliche Mobiliar, Pferde und Wagen, alle Kunst- und
+Luxusgegenstände wollte Ange veräußern und sich mit dem Erlös aus diesen
+und anderen zu verkaufenden Gegenständen in eine kleine Stadt
+zurückziehen. Über den Ort hatte sie sich noch nicht schlüssig gemacht.
+Jeder Tag, an welchem der kostspielige Haushalt fortdauerte, schmälerte
+das Kapital, das Ange unter Berücksichtigung der noch zu lösenden
+Verpflichtungen endlich verbleiben konnte.
+
+Eine Stütze fand sie in dem Polizeimeister von C., dem sie gleich nach
+ihrer Rückkehr einen Besuch machte, um ihm für seine erfolgreiche Hilfe
+zu danken. Er riet ihr, vor der öffentlichen Veräußerung der Einrichtung
+abzurufen, und versprach, mit Rat und That beizustehen. Auch überlegte
+er in einer längeren Unterredung mit ihr den Wohnort und gab Ange
+Ratschläge, die ihr bei ihrer Unerfahrenheit von großem Nutzen waren.
+
+Anges Entschlüsse wurden auch nicht erschüttert, als nun an einem
+Morgen endlich zwei Briefe einliefen, von denen einer von Teut selbst
+mit zitternder Hand geschrieben war und die Worte enthielt: „Heute nur
+mein innigstes Beileid, liebe Ange; Carlos' Tod hat mich aufs tiefste
+ergriffen. Ich bin voll Sorge daß ich nicht jetzt bei Ihnen sein kann,
+um Sie zu trösten und Ihnen helfend zur Seite zu stehen. Aber ich liege
+schwerverwundet darnieder und--“
+
+Hier brach das Schreiben ab, dem nur noch ein undeutliches A.v.T. später
+hinzugefügt war.
+
+Der zweite Brief, der von Teuts Diener Jamp abgefaßt und einige Tage
+später abgesandt war, teilte im Auftrage des Herrn Rittmeisters mit, daß
+die Geschäftsangelegenheiten geordnet werden würden, daß der Herr
+Rittmeister neuerdings einen Rückfall gehabt habe, daß der Herr
+Rittmeister den Kindern Grüße sende und daß der Herr Rittmeister
+ausführlicher schreiben werde, sobald er nur wieder bei Kräften sei.
+
+Ja, einige Tage später kam noch ein Schreiben, das folgendermaßen
+lautete:
+
+„Frau Gräfin werden verzeihen, wenn ich nochmals schreibe, indem Herr
+Rittmeister neulich stark phantasierten, und sollte ich heute Frau
+Gräfin schreiben, daß ich nach Herrn Rittmeisters Verwalter geschrieben
+hätte, alles für Frau Gräfin auf Schloß Eder in Bereitschaft zu setzen,
+und Frau Gräfin so gut sein möchten, dahin abzureisen, aber Herrn
+Verwalter vorher in ergebende Kenntnis zu setzen, wann Frau Gräfin
+einträfen.
+
+Herr Rittmeister raten Frau Gräfin nichts zu unternehmen, zu thun, bis
+Herr Rittmeister wieder gesund sind, aber bald abzureisen.
+
+In Ehrerbietung und Gehorsamkeit
+
+Jamp.“
+
+Als Ange diesen Brief gelesen hatte, überwältigte sie ihr Gefühl;
+Teilnahme und Rührung kämpften in ihrem Inneren. „Ich wußte es ja, ich
+wußte es ja,“ murmelte sie, „Du unvergleichlicher Freund würdest meiner
+gedenken, selbst in eigener Not. Im größten Körperschmerz, im Fieber,
+vielleicht nur auf Minuten mit klarem Bewußtsein, hattest Du Gedanken
+für mich und rafftest Dich um meinetwillen auf. O, Du Trefflicher,
+Unvergleichlicher!“
+
+Und nun drängte Tibet noch einmal, Teuts Rat zu befolgen, nichts zu
+verkaufen, nur die Dienerschaft zu entlassen und höchstens die
+überflüssigen Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände bis auf
+spätere Entscheidung zu verpacken und beiseite zu stellen.
+
+Aber Ange Clairefort hatte zu Furchtbares erfahren, um noch an äußeren
+Dingen zu hängen.
+
+Nicht nur die einschneidenden Gegensätze: die Gefahren des Reichtums,
+des sorglosen Genießens, die Wandelbarkeit des Glückes, die
+Vereinsamung, die den Unglücklichen trifft, hafteten in ihrem
+Inneren--auch der Adel ihrer Gesinnung widersetzte sich, heute noch
+etwas anderes zu scheinen, als sie war. Sie wußte ja, was sie besaß, und
+die Ehre gebot, fortan alles abzuweisen, was Luxus und Wohlleben hieß.
+
+„Kommt, Kinder,“ sagte sie an demselben Abend zu ihren Kleinen, die sie
+umringten und die sie heute bei der Erinnerung an frühere Zeiten: an
+Carlos' Tod und Teuts schwere Krankheit in ihrer überströmenden
+Empfindung so oft, und scheinbar ohne Anlaß an die Brust gedrückt hatte.
+„Bevor ihr einschlaft, faltet die Hände und betet recht inbrünstig zum
+lieben Gott, daß er Onkel Axel bald gesund machen möge. Er ist im Kriege
+verwundet, liegt gefährlich krank und bedarf Eurer kindlichen Fürbitte.“
+
+ * * * * *
+
+Einige Tage nach der Frankfurter Reise saß Tibet um die Abendzeit eifrig
+schreibend in seinem Zimmer. Man hätte ihn auf den ersten Blick kaum
+wiedererkannt. In dem Hausrock, welchen er gegen den schwarzen Frack
+vertauscht hatte, den er allezeit zu tragen pflegte, wirkte seine
+Erscheinung ganz fremdartig.
+
+Aber die peinliche Ordnung in dem wohnlichen Gemach stand im Einklang zu
+dem bedächtig arbeitenden Manne mit dem hageren glatten Gesicht, in dem
+sich Ernst und Nachdenken spiegelten. Langsam, oft innehaltend und
+überlegend, schrieb er nieder, was durch seine Gedanken ging.
+
+Als er seine Arbeit beendet hatte, waren es viele Stunden nach
+Mitternacht geworden. Nun las er noch einmal den Brief durch, und fügte
+hier und dort ein Tüttelchen und ein fehlendes Komma hinzu. Das lange,
+sorgfältig verfaßte Schreiben war an Teut gerichtet und lautete in
+überraschend glatter Form, wie folgt:
+
+„Hochzuverehrender Herr Baron!
+
+Ihrem Befehl und meiner Zusage entsprechend, verfehle ich nicht, Ihnen
+heute Nachgehendes ganz gehorsamst zu melden:
+
+Ich sende voraus, daß mich unliebsame Zwischenfälle und Abhaltungen
+zögern ließen, Ihnen früher Bericht zu erstatten. Ich fürchte, und noch
+jetzt stehe ich unter diesem Eindruck, daß Ihnen entweder mein Schreiben
+vorenthalten werden würde oder daß sein Inhalt Ihnen eine schädliche
+Aufregung bringen könnte.
+
+Ich muß aber mein Bedenken niederschlagen wegen der eingetretenen
+Umstände und gebe mich der Hoffnung hin, daß ich für alle Beteiligten
+das Richtige erwähle, wenn ich meine Zeilen an Sie absende. Ich befinde
+mich zudem in einem Zustande des Zweifels, der mich solchergestalt
+bedrückt, daß ich gleichzeitig auch um meinetwillen Ihnen die
+Verhältnisse darlegen muß.
+
+Als Sie, gnädiger Herr, C. verließen, trat ich gewissermaßen in Ihre
+Dienste, und Sie nahmen mir das Wort ab, in dieser Stellung nur das
+Beste für meine Herrschaft, die gräfliche Familie, im Auge zu behalten.
+Sie gaben mir genaue Instruktionen und banden mich durch mein Wort, daß
+unser eigentliches Verhältnis, wenn es mir gestattet sein darf, diesen
+Ausdruck zu gebrauchen, ein Geheimnis zwischen uns bleibe.
+
+Unter den Gesichtspunkten, unter denen Sie mich mit Ihrem Vertrauen
+beehrten, glaubte ich nicht nur nichts Unrechtes zu thun, sondern gerade
+wie ein gewissenhafter Freund gegen die gräfliche Familie zu handeln.
+
+Ich nehme mir die Freiheit, dies zu rekapitulieren, weil die
+eingetretenen Umstände entweder neue Instruktionen erforderlich machen
+oder ich meines Wortes entbunden werden muß.
+
+Wenn ich nun zunächst über die Vorgänge seit dem Tode des Herrn Grafen
+zu berichten mir gestatte, so bitte ich von vornherein zu verzeihen, daß
+ich Dinge berühre, über die auszulassen, mir im Grunde nicht beikommt.
+Aber nur durch Erwähnung dieser werden Sie, gnädiger Herr, einen
+richtigen Einblick in die gegenwärtige Lage gewinnen und mir zweckmäßige
+Befehle erteilen können.
+
+In meinen ersten beiden Schreiben hatte ich die Ehre zu melden, daß der
+Herr Graf ohne Zweifel durch tödlich starke Dosen Morphium und Chloral
+seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe.
+
+Sodann berichtete ich, daß das Bankhaus die Zahlungen an uns
+eingestellt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zweite Schreiben zugegangen
+ist. Die Frau Gräfin befanden sich in einem sehr traurigen Zustande, der
+zwischen heftigem Schmerz und Ausbrüchen des Vorwurfs gegen den
+verstorbenen Herrn Grafen und mich selbst wechselte. Den Höhepunkt
+erreichte die Erregung der Frau Gräfin, als ich--ich bitte, mich deshalb
+nicht zu verdammen--derselben Mitteilung machen mußte, wie die
+gegenwärtige Vermögenslage sei, und welche Stellung Sie, gnädiger Herr,
+zu dieser bereits eingenommen hätten.
+
+Frau Gräfin befahlen mir zu sprechen; ich stand bei Stillschweigen vor
+der Wahl einer falschen Beurteilung, Ungnade und Entlassung.
+
+Es handelte sich um Geld; wir hatten keines. Ich mußte also die
+monatliche Rate einfordern und mich rechtfertigen, als ich wegen
+ungenügender Quittung mit leeren Händen zurückkehrte. Die Hergabe meiner
+kleinen Ersparnisse wies die Frau Gräfin wiederholt schroff zurück.
+
+Nach allem wenden Sie, gnädiger Herr, verstehen, daß einer Erklärung gar
+nicht auszuweichen war. Trotz all meiner Vorstellungen bestand Frau
+Gräfin nach Einblick in ihre trostlosen Verhältnisse auf Veräußerungen
+ihrer Diamanten und sonstigen Schmuckgegenstände.
+
+Ich gelange nun zu demjenigen Punkt, bei dessen Erwähnung ich Ihre
+Nachsicht, gnädiger Herr, einholen muß: die Frau Gräfin erklärte mir auf
+das bestimmteste, daß sie ihren Hausstand aufzulösen wünschte und aus
+dem Erlöse ihrer überflüssigen Wertgegenstände gesonnen sei, neben den
+übrigen Verpflichtungen in erster Linie diejenigen gegen den Herrn Baron
+abzulösen.
+
+Die Frau Gräfin äußerte, daß diese Vorschüsse sie im höchsten Maße
+bedrückten, und daß sie lieber Not leiden wolle, als irgend welche
+Darlehen oder gar Freundesgaben aus Ihrer Hand fernerhin empfangen. Das
+Freundschaftsverhältnis zu Ihnen, gnädiger Herr, das unter den
+bisherigen gleichen Lebensverhältnissen ein so gutes gewesen sei, könne
+Schaden leiden, und Frau Gräfin zögen es daher vor, sich Ihrer
+freundschaftlichen Hilfe (da diese ohne Zweifel auf Ratschläge sich
+nicht beschränken werde) nicht mehr zu bedienen, sondern sogar Ihnen in
+Zukunft fern zu bleiben. Die Frau Gräfin, die C. verlassen und nach
+einem kleinen, noch nicht feststehenden Orte übersiedeln will, um sich
+dort mit den ihr bleibenden Mitteln einzurichten, stellten sogar das
+Ansinnen an mich, Ihnen nicht zu verraten, wohin sie gehen werde, und
+nehmen als selbstverständlich an, daß ich Ihnen auch sonst keinerlei
+Mitteilungen zukommen lassen würde.
+
+Da Frau Gräfin sich so sehr gegen alles, was sich ihrem Entschlusse
+entgegenstellen könnte, auflehnt, bin ich völlig machtlos. Um die
+erwähnten Pläne auszuführen, bleibt ja allerdings nichts anderes übrig,
+als den gegenwärtigen Besitz zu Geld zu machen. Ich schätze die
+Zinseneinnahme in Zukunft auf kaum viertausend Mark, welches einem baren
+Kapital von hunderttausend Mark entsprechen würde.
+
+Was befehlen Sie nun, gnädiger Herr?
+
+Soll ich scheinbar den Verkauf zulassen und etwa das Ganze ohne Wissen
+der Frau Gräfin für des Herrn Baron Rechnung ankaufen? In solchem Falle
+ist schnelle Instruktion erforderlich. Ferner: Wie soll ich mich in
+Zukunft verhalten? Darf ich noch mit dem Herrn Baron korrespondieren?
+Soll ich nach der Neuordnung aller Verhältnisse den Dienst bei der Frau
+Gräfin verlassen?
+
+Wenn ich die letztere Frage aufwerfe, so bitte ich diese nicht
+mißzuverstehen. Ich habe mich gegen die Frau Gräfin bereit erklärt, ohne
+Entschädigung zu bleiben, und würde mich nur entfernen, wenn der Herr
+Baron darin etwas Zweckmäßiges für die Frau Gräfin erkennen würden. Mir
+ist dies zur Zeit allerdings als vorteilhaft nicht ersichtlich.
+
+In jedem Falle werden Sie, gnädiger Herr, gewiß verstehen, daß ich kein
+doppeltes Spiel treiben kann und mich eines wirklichen Vertrauensbruches
+schuldig machen würde, wenn unsere Verabredungen ganz in der bisherigen
+Weise bestehen bleiben.
+
+Sofern es meine Befugnis nicht überschreitet, möchte ich mir den
+gehorsamen Vorschlag gestatten, daß ich bei der Frau Gräfin ausharre,
+aber nichts thue, was mit den Entschließungen der Frau Gräfin in
+Widerspruch gerät, und somit nur in dem Sinne zur Verfügung des Herrn
+Baron bleibe, daß ich nach besten Kräften über das Wohlergehen der
+Familie wache. Wenn ich die Hand dazu biete, das Eigentum der Frau
+Gräfin für Rechnung des Herrn Baron zu erwerben, so glaube ich, dadurch
+nicht unehrlich gegen die Frau Gräfin zu handeln.
+
+Nochmals bitte ich um Verzeihung, meine Befugnisse durch Darlegung
+persönlicher Anschauungen und durch die Berührung intimer Verhältnisse
+überschritten zu haben, und hoffe im übrigen, daß der gnädige Herr aus
+meinen Darlegungen ein richtiges Bild zu gewinnen vermögen.
+
+Ich empfehle mich dem ferneren Wohlwollen und der Nachsicht des gnädigen
+Herrn und erwarte weitere Befehle.
+
+Ganz gehorsamst
+
+Tibet,
+
+Kammerdiener.“
+
+Bereits am nächsten Morgen begann Ange mit den Vorbereitungen zu ihrem
+Umzuge und ward bei diesen von Tibet eifrigst unterstützt. Es galt eine
+Auswahl unter denjenigen Gegenständen zu treffen, welche veräußert
+werden und welche der künftigen Wohnungseinrichtung dienen sollten. Zu
+diesem Zwecke wurden zunächst einige Räume leer gemacht, und nun begann
+das Wählen. Claireforts Zimmer beschloß Ange zu behalten, ebenso wurden
+die Möbel aus dem Zimmer der Kinder für den ferneren Gebrauch
+zurückgestellt. Dazu kamen noch die Kücheneinrichtungen und all
+derjenige Hausrat, durch den sich eine Wohnung in bescheidener Weise
+vervollständigt.
+
+Tibet war plötzlich ganz gefügig und erhob nicht einen einzigen Einwand.
+Er fertigte eine genaue Liste für den Auktionator an und machte mit
+Hilfe der noch vorhandenen Dienerschaft eine so übersichtliche
+Aufstellung, daß schon nach wenigen Tagen die Arbeit im wesentlichen
+beendet war.
+
+Sodann beriet er mit Ange, wie alles übrige abzuwickeln sei, verhandelte
+mit dem Hausbesitzer und mit dem Personal, einigte sich mit jenem,
+entließ dieses sogleich bis auf eins der Mädchen, welches in Anges
+Diensten zu bleiben wünschte, und beglich auch alle Rechnungen, welche
+zu bezahlen waren. Es erübrigte nun nur noch die Summe, welche die
+Familie von Teut empfangen hatte, und bevor Tibet diese zu dem Banquier
+trug, hatte er noch eine Unterredung mit Ange, in welcher auch der
+zukünftige Wohnort zur Erörterung gelangte.
+
+Ange war nicht minder thätig gewesen, wenn auch alles nach ihrer
+besonderen Art geschah. Sofern sich in den hohen Bergen von unnützen
+Kleinigkeiten und Firlefanzereien etwas befand, das der Kinder Verlangen
+reizte und das sie wieder hervorzogen, konnte Ange ihren Bitten nicht
+widerstehen und packte es in die ohnehin schon mit vielen
+Überflüssigkeiten belasteten Koffer.
+
+Bisweilen hielt sie inne und vergaß, was sie eben beschäftigt hatte. Bei
+diesem und jenem Gegenstand kamen ihr Erinnerungen, die ihre Gedanken
+ganz in Anspruch nahmen, und Vergleiche stiegen auf zwischen heute und
+früher. Da stahlen sich denn häufig Thränen ins Auge, und mutlos ließ
+sie die Arme sinken.
+
+Oft wunderte sie sich, daß alles so glatt verlief, daß niemand Einspruch
+erhob, wenn sie etwas anordnete. Früher handelten andere für sie, sie
+ließ sich belehren und befolgte zweckmäßige Ratschläge. Ange hatte es
+als selbstverständlich angesehen, daß sie die Dinge nicht verstand und
+daß ihre Umgebung für sie handelte. Jetzt fiel ihr plötzlich ein, wie
+schwer es doch eigentlich sei, praktisch einzugreifen, und fast wunderte
+sie sich, daß sie so ruhig und besonnen in Frankfurt aufgetreten sei.
+Also, sie vermochte es doch! Daran richtete sich denn ihr gesunkener Mut
+wieder auf.
+
+Gewiß, wenn erst alles in dem neuen Geleise sein werde, würde sie
+vorsichtig überlegen, nicht mehr nach plötzlichen Impulsen handeln,
+sich's vernünftig und sparsam einrichten und auch das Kleine achten. Ihr
+Kopf war voll von Plänen und guten Vorsätzen, und ihre Zuversicht wuchs,
+bis dann die Kinder mit ihren berechtigten und unberechtigten
+Bedürfnissen vor ihr auftauchten und sie vorübergehend doch voll Zweifel
+in die Zukunft blickte.
+
+„Nun, mein lieber Tibet!“ sagte Ange und ließ sich in Carlos' Zimmer,
+das gegenwärtig als Wohngemach diente, ermüdet und abgespannt in einen
+Sessel gleiten. „Haben Sie auch die Zahlung an Herrn Baron von Teut
+bereits geleistet oder müssen wir diese verschieben, bis die Auktion
+stattgefunden hat?“
+
+„Wenn Frau Gräfin wirklich meinen, daß auch dieser Betrag--“
+
+„Wenn--Tibet!--Dieser Betrag steht in erster, in gleicher Linie mit
+allen übrigen! Natürlich! Darüber habe ich Ihnen meine Ansicht bereits
+wiederholt ausgesprochen. Ich komme nur auf diesen Gegenstand zurück,
+weil die Summe hoch ist und ich nicht weiß, ob gegenwärtig schon unsere
+Mittel reichen.“
+
+„Allerdings, Frau Gräfin, es scheint durchaus ratsam, daß wir warten. Um
+so mehr möchte ich dies vorschlagen, weil gerade Umzug und
+Neueinrichtung viel größere Summen verschlingen werden, als wir in
+vorläufige Berechnung gezogen haben. Unser Bestand schmolz schon
+gewaltig zusammen--ganz gewaltig.“
+
+„Nun wohl! Wir haben aber keine Schulden mehr? Alles ist bezahlt?--Welch
+ein Wort!“
+
+„Ganz recht, Frau Gräfin! Indessen--“
+
+„Nun?“
+
+„Es wird mir recht schwer--ich möchte die Frau Gräfin nicht entmutigen,
+aber ich fürchte, wir behalten bei weitem nicht die ursprünglich
+gedachte Summe, aus deren Zinsen Sie sich einrichten müssen. Ich bin
+besorgt, Frau Gräfin, und muß deshalb die Frage in Ihrem Interesse
+nochmals anregen, ob es nicht doch zu überlegen sein würde, die
+Vorschüsse des Herr Baron einstweilen auf sich beruhen zu lassen.“
+
+Auf Anges Gesicht malten sich Schrecken und Enttäuschung zugleich. Nach
+einer kurzen Pause fragte sie, und aus dieser Frage klang der Zwang
+hervor, den sie sich anthun mußte:
+
+„Wie hoch beläuft sich--doch noch--der Betrag, welchen wir Herrn Baron
+von Teut schulden?“
+
+Tibet gab Antwort.
+
+„Das ist sehr viel!“ sagte sie kaum hörbar und ganz mit ihren Gedanken
+beschäftigt.
+
+„Vielleicht der fünfte Teil alles dessen, was Ihnen bleibt, Frau
+Gräfin.“
+
+„Und wieviel glauben Sie, Tibet, daß mir im schlechtesten,
+allerschlechtesten Falle an Zinsen werden könnte?“
+
+„Ich erlaubte mir, Frau Gräfin, schon auf der Reise auseinandersetzen,
+daß bei wirklich sicherer Geldanlage nur auf einen Zins von vier Prozent
+gerechnet werden darf.“
+
+„Und Sie meinen wirklich, das ursprünglich angenommene Kapital würde mir
+nicht einmal bleiben?“
+
+„Ich fürchte, nein, Frau Gräfin--wenn Herr von Teut bezahlt werden soll!
+Die Frau Gräfin können nach den vorgelegten Quittungen selbst
+berechnen.“
+
+Ange konnte eigentlich nicht berechnen, aber sie nickte und schwieg.
+
+„Wieviel braucht wohl im Durchschnitt eine gebildete Familie mit fünf
+Kindern unter bescheidenen Verhältnissen, Tibet?“ hob sie nach einer
+kleinen Pause an.
+
+Mit der Beantwortung dieser Frage fielen alle Illusionen, welche Ange
+sich bisher gemacht hatte. Tibet litt bei diesen Gesprächen. Vielleicht
+fühlte er sogar noch tiefer als Ange den Schmerz, die Enttäuschung,
+obgleich er scheinbar so teilnahmlos die Wahrheit ans Licht zu ziehen
+bemüht war. Er gewann es auch nicht über sich, der mut- und
+trostbedürftigen und mit so guten Vorsätzen ihr neues Leben beginnenden
+Frau den Vorhang ganz hinwegzuziehen. Er umging ihre Frage und
+erwiderte:
+
+„Es kommt ja sehr auf die Stadt an, ob das Leben teuer oder billig ist.
+In kleinen Städten gestaltet sich alles besser.“
+
+„Es ist wohl fast ein Unterschied um die Hälfte?“ fiel Ange hoffend und
+lebhaft ihre eigenen Worte bestätigend, ein.
+
+„Ich möchte es glauben, Frau Gräfin.“
+
+„Ich weiß nicht, wie ich's richtig mache, Tibet. Nur so viel ist mir
+klar, daß ich keinen ruhigen Tag, keine ruhige Stunde haben werde, wenn
+ich Schulden besitze, wenn namentlich--“ sie stockte und fuhr dann fast
+heftig fort: „Wir müssen Herrn von Teut zahlen, was er meinem Gatten
+geborgt hat, sobald die Dinge hier geordnet sind; wie's auch immer sein
+mag! Werde ich weniger besitzen, werde ich doch das unvergleichliche
+Bewußtsein haben, niemandem mehr verpflichtet zu sein!“
+
+Und nach dieser vorläufig alle Gegeneinwendungen abschneidenden
+Entscheidung verbeugte sich Tibet und brachte das Gespräch auf Umzug und
+Wohnort.
+
+„Haben die Frau Gräfin schon eine Entscheidung getroffen? Bleibt es
+Eisenach, wozu der Herr Polizeimeister geraten?“
+
+Ange bestätigte.
+
+„Es würde sich dann wohl empfehlen, daß ich zunächst dahin abreise, um
+eine Wohnung zu mieten, und dann wieder zurückkehre, um hier den Verkauf
+des Mobiliars zu beaufsichtigen. Ich weiß nun aber nicht, ob ich der
+Frau Gräfin Wünsche bezüglich dieser treffen werde. Vielleicht
+entschließen Sie sich, die Reise ebenfalls anzutreten.“
+
+Das Gespräch wurde unterbrochen, weil die beiden Knaben herbeigeeilt
+kamen, die draußen auf der Straße gespielt hatten. Ihre Mienen waren
+betroffen, und Ben kam zorngerötet ins Zimmer gelaufen.
+
+„Was ist? Was habt Ihr?“ fragte Ange besorgt.
+
+„Der--der--Karl von drüben--vom Krämer sagt, daß--“ hob Ben an.
+
+„Wir haben uns gestritten; er stieß, ich stand Ben bei!“ fiel Fred ein.
+
+„Nun?“
+
+„Er sagte, wir wären schöne Grafen. Mama hätte nicht mal die Rechnung
+bezahlt. Sein Vater könnte kein Geld kriegen und die anderen auch
+nicht--“
+
+„Er schimpfte; er brauchte Ausdrücke von uns--na, ich hab's ihm
+gegeben!“ ergänzte Ben.
+
+Ange sah Tibet fragend an, und Blässe trat auf ihre Wangen. Tibet
+verstand und nahm rasch das Wort:
+
+„Es ist alles--das letzte schon gestern bezahlt, Frau Gräfin!“
+
+„Ah!“ riefen beide Knaben zu gleicher Zeit, und ihre Blicke flammten.
+„Dem wollen wir's geben!“
+
+„Nicht so, nicht so, Kinder!“ rief Ange angstvoll, aber suchte sich in
+Gegenwart der Knaben zu fassen. „Laßt den Streit! Geht ruhig Eures Weges
+und meidet die Nachbarskinder. Hört Ihr? Ihr hörtet, daß er die
+Unwahrheit sprach. Und nun geht! Ich habe noch mit Tibet zu sprechen.“
+
+Die Knaben entfernten sich gehorsam, aber noch erregt und lebhaft
+sprechend.
+
+„Es wird Zeit, daß ich fortkomme,“ rief Ange. „Je eher, je besser; es
+brennt der Boden unter mir. Was die Menschen wohl alles reden! Wie sie
+sich mit uns beschäftigen! Schon bei dem Gedanken steigt mir das Blut in
+die Schläfen.--Wann können Sie reisen, Tibet?“
+
+„Heute--Morgen, Frau Gräfin--“
+
+„Gut, also morgen! Sie werden eine Wohnung wählen und rasch
+zurückkehren. Wollte Gott, ich säße schon an einem anderen Ort und fände
+endlich Ruhe und--“ Ange brach in heftige Thränen aus.
+
+„Es wird alles gut werden, Frau Gräfin! Gewiß, gewiß! Sie sollten sich
+durch dergleichen Dinge nicht aufregen!“ besänftigte Tibet, heftete
+einen besorgten Blick auf seine Gebieterin und suchte bescheiden ihr
+Auge, um in diesem zu lesen, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt
+hätten. Wirklich stahl sich ein Lächeln um Anges Mund bei Tibets
+Worten; es war aber ein trauriges Lächeln.
+
+ * * * * *
+
+Nach den vorerwähnten Ereignissen war reichlich ein halbes Jahr
+verflossen, als an einem warmen Juniabend des Jahres 187- zwei Männer in
+dem kleinen Gärtchen saßen, welches zu dem sogenannten Sommerhause des
+Hotels „Zur Rose“ in Wiesbaden gehört.
+
+Auf dem im Freien gedeckten Tische standen die Reste eines reichlichen
+Abendessens, und eben hatte der Kellner ein Licht gebracht, mit dem die
+Cigarren entzündet worden waren.
+
+„Hm, hm,“ sagte der Major von Teut--denn er war es--zu dem ihm
+gegenübersitzenden Manne und blies den Rauch einer starken Cigarre nach
+seiner Gewohnheit durch die Nase. „Das klingt ja alles so gut und
+doch wieder auch so ernst, wie ich's mir gedacht habe. Aber
+vielleicht--zunächst--wer weiß--war's auch besser so!?--Was haben Sie
+denn der Gräfin über Ihre Reise gesagt? Wie haben Sie diese begründet?“
+
+„Ich gab vor, daß ich die Meinigen besuchen wolle.“
+
+„Ah! Sie haben Familie, Tibet? Das ist mir ja ganz neu! Auch der
+verstorbene Graf und die Gräfin haben mir nie davon gesprochen.“
+
+„Sie wußten auch davon nichts, gnädiger Herr.“
+
+Teut wollte diesen Gegenstand offenbar des näheren berühren, denn er
+blickte fragend empor. Aber ein anderer Gedanke überholte, was sich ihm
+eben aufgedrängt hatte. Er sagte abbrechend: „So, so--Aber noch eins!
+Wie haben Sie es angefangen, daß die Gräfin nichts von all den kleinen
+Hinterlisten gemerkt hat? Glaubt sie, daß ihre Einnahme bisher immer
+reichte, und daß sie lediglich durch ihre Sparsamkeit alles gut gemacht
+hat?“
+
+Über das immer noch bleiche Gesicht des Sprechenden flog ein fragendes
+Lächeln, und er strich den Schnurrbart in sichtlicher Spannung.
+
+„Allerdings, aber es hat mancherlei Künste gekostet, gnädiger Herr!“
+entgegnen Tibet, und in der Erinnerung des falschen Spiels, das er
+getrieben, sichtlich bedrückt. „Anfänglich, damals, als Sie auf meinen
+Brief antworteten und mir Verhaltungsmaßregeln gaben, war ich
+zweifelhaft, ob's möglich sein werde, diese auszuführen. Ich mußte mir
+erst alles zurechtlegen und förmlich ausklügeln, wie ich dem Argwohn der
+Frau Gräfin begegnen könne. Wenn ich Einkäufe machte, erklärte ich, die
+Waren seien im Preise gesunken, und die Frau Gräfin sah mich dann groß
+an und machte ein zufriedenes Gesicht. Im Anfang freilich wollte sie
+überhaupt nichts von dergleichen hören. Ich erlaubte mir den Vorschlag,
+daß ich wie früher die Wirtschaft besorgen dürfe, und that dies
+insbesondere, weil ich dann alles ohne Schwierigkeit einrichten konnte.
+Aber darauf wollte die Frau Gräfin nicht eingehen. Sie müsse die Dinge
+selbst übersehen, meinte sie, sonst könne sie nicht wirtschaften lernen.
+Mit der Miete hätte sich bald alles verraten. Ich machte, des gnädigen
+Herrn Befehl folgend, dem Wirte Mitteilung, daß er von uns nur die
+Hälfte erhalten, daß das übrige anderweitig berichtigt werden würde. Ich
+nahm ihm das Versprechen ab, gegen die Frau Gräfin Stillschweigen zu
+beobachten und auch seine Umgebung zu verständigen. Eines Morgens nun
+unterhielt sich die Frau Gräfin mit einem Einwohner, und bei dieser
+Gelegenheit war von den Wohnungen in Eisenach die Rede. Da äußerte
+dieser die unsere sei nicht billig, während die Frau Gräfin gerade ihrem
+Erstaunen Ausdruck gab, wie preiswürdig dieselbe sei. Ein Wort gab das
+andere. Endlich ward ich herbeigerufen und bestätigte die Aussagen
+meiner Herrin. Als jener sich entfernt hatte, betrachtete mich die Frau
+Gräfin bereits mit einigem Mißtrauen und brach endlich in die Worte
+aus: ‚Haben Sie gehört? Er hat vor uns dies Haus bewohnt und das
+Doppelte bezahlt. Wie ist es möglich, Tibet, daß Sie die Villa um die
+Hälfte mieten konnten?‘--‚Die Frau Gräfin haben ja den Mietskontrakt in
+Händen,‘ erwiderte ich, als ob ich den eigentlichen Sinn dieser
+Nachfrage gar nicht verstanden hätte. Kopfschüttelnd ging die Frau
+Gräfin davon. Schon fürchtete ich, daß alles würde entdeckt werden.“
+
+„Und das Schulgeld?“ fragte Teut, der mit größter Aufmerksamkeit
+zugehört hatte. „Wie haben Sie das gemacht?“
+
+„Ich habe gleich das ganze Semester bezahlt und der Frau Gräfin
+gesagt--“--Tibet hielt inne, dunkle Schamröte färbte seine Wangen--„daß
+der Direktor auf meine Vorstellung dasselbe erlassen habe.“
+
+„Und das glaubte die Gräfin?“
+
+„Vorläufig ja, Herr Baron. Aber ich zittere doch jeden Tag, daß es ans
+Licht kommt, und dann--“
+
+„Und Steuern?“ fragte Teut und konnte sich des Lächelns nicht erwehren,
+weil er wie ein Beichtvater alle Vergehen aus dem armen Sünder
+herausholte.
+
+„Die habe ich gar nicht erwähnt! Davon hat die Frau Gräfin keine Ahnung.
+Ich fing den Steuerboten ab und--“
+
+„Und drohten ihm mit allen Folterqualen der Hölle, wenn er noch einmal
+erscheine?“ schaltete Teut mit gutmütigem Spotte ein.
+
+„Ja, Herr Baron, Sie können wohl scherzen.“ sagte Tibet, nun wieder von
+dem Ernst und der Verantwortlichkeit seiner Aufgabe erfaßt. „Aber Sie
+mögen mir glauben, daß die Dinge sich nicht so freundlich abspielen
+werden, wenn die Frau Gräfin jemals erfahren sollte, was wir gethan
+haben.“
+
+Teut trank seinen Wein und wollte, um einer aufsteigenden Empfindung
+Herr zu werden, die Stiefelhacken zusammenschlagen. Aber es war nur eine
+Bewegung. Mit einem leisen Anflug von Schmerz hielt er inne. Nicht ohne
+Grund! Das eine, das linke Bein fehlte, er hatte es im Kriege eingebüßt.
+
+„Aber die Kinder?“ fragte Teut nach einer Pause. „Wie geht's denen?
+Entwickeln sie sich gut? Sind sie fleißig?“
+
+Tibet nickte. „Gewiß, gnädiger Herr! Wir helfen beide, die Frau Gräfin
+und ich, bei den Schularbeiten.“
+
+„Ist die kleine Ange hübsch geworden, Tibet? Sie versprach sehr schön zu
+werden!“
+
+Tibet betätigte lebhaft. „Ange ist ein sehr schönes Kind, gnädiger Herr,
+und so klug, daß es mich oft fast ängstlich macht. In der kurzen Zeit
+von einem halben Jahre spielt sie schon kleine Stücke auf dem Klavier
+und ist so sicher dabei, daß man erstaunen muß.“
+
+„So, so! Wer unterrichtet sie denn?“
+
+„Die Frau Gräfin selbst, Herr Baron! Jeden Nachmittag erhält Ange
+Unterricht von der Frau Gräfin, und Erna und Jorinde müssen ebenfalls
+täglich bei ihr üben. Sie machen alle gute Fortschritte.“
+
+Teut machte eine Bewegung, er murmelte auch etwas vor sich hin, das
+Tibet nicht verstand. „Wie ist denn Eure Tageseinteilung, Tibet? Die
+Frau Gräfin muß ja sehr in Anspruch genommen sein. Sie hat doch Mädchen
+zur Hilfe?“
+
+„Nur eins, Herr Baron! Aber die wurde uns gleich schwer krank und mußte
+wochenlang das Bett hüten. Da hat die Frau Gräfin selbst morgens Kaffee
+gemacht, die Stuben geräumt, die Kinder angezogen und in die Schule
+befördert. Die Frau Gräfin ist überhaupt von morgens früh bis abends
+spät unausgesetzt in der Wirtschaft und um die Kinder beschäftigt.“
+
+Teut murmelte wieder etwas.
+
+„Ah! herrliches Weib!“ glaubte Tibet zu hören.
+
+„Und Sie, Tibet?“ fragte Teut dann kurz und mit einem scheinbaren
+Vorwurf, während in sein Auge ein silbernes Pünktlein trat.
+
+„Ich, ich?“ erwiderte Tibet arglos und verlegen zugleich. „Ich habe
+morgens alle die Stiefel geputzt, die--die--gröbere Arbeit in den
+Schlafstuben besorgt und der Kinder Betten gemacht und--und auch gekocht
+während der Zeit. Kochen kann die Frau Gräfin nicht; aber sie lernt es
+schon ganz gut. Neulich hatten wir zwei Gerichte, die sie ganz allein
+zubereitet hatte. Ihre Augen glänzten, als es den Kindern so gut
+schmeckte. Die Frau Gräfin war so glücklich, daß sie im Zimmer
+herumtanzte.“
+
+„Aber Freund!“ schaltete Teut scheinbar tadelnd ein. „Weshalb haben Sie
+denn damals nicht eine Hilfe genommen?“
+
+„Die Frau Gräfin wollte es durchaus nicht, gnädiger Herr! Sie meinte, es
+sei der beste Weg, alles zu lernen. Freilich, ich folgte auch nichts
+thun--aber ich habe sie sogar überrascht und in einer Nacht mit Hilfe
+einer Frau die Wäsche besorgt. Die Alte hat die Garderobengegenstände
+vorgenommen, ich machte mich an Servietten und Tischzeug. Gegen Morgen
+haben wir aufgehängt, jeder sein Teil.“
+
+„Allen Respekt!“ murmelte Teut, trank in hastigen Zügen und schenkte von
+neuem aus der Flasche ein. „In der That, über alles Lob erhaben! Aber
+das muß doch anders werden!“ Und nach einer Pause: „Wenn ich nur einen
+Weg wüßte--“
+
+Tibet hatte nur halb gehört, aber doch genug, um zu verstehen. Er nahm
+sich, in der Sorge um seine Herrin, die Erlaubnis einzufallen, und
+sagte:
+
+„Wenn der Herr Baron mir gestatten wollten, einen Vorschlag zu machen?“
+
+Teut bewegte den stolzen Kopf und sagte in seiner kurzen, unhöflich
+klingenden Weise:
+
+„Nun, was soll's?“
+
+Tibet ward durch diesen Ton eingeschüchtert. Er fürchtete, sich eine
+Vertraulichkeit angemaßt zu haben, die ihm nicht zukam. Takt und
+Vorsicht riefen ihm zu, sich in den bisherigen Grenzen zu halten. Er
+entgegnete deshalb rasch:
+
+„O, es war doch nichts, gnädiger Herr--“
+
+Teut blickte auf und sah, daß Tibet mit dem Ausdruck einer gewissen
+Enttäuschung vor ihm saß. Er verstand und bereute seine Schroffheit.
+
+Ohne auf den Gegenstand zurückzukommen, dessen Berührung von jener Seite
+ihm nach den wunderbaren seelischen Schwankungen, denen jeder, selbst
+der beste und vorurteilsfreiere Mensch, unterworfen ist, plötzlich
+widerstrebt hatte, sagte er:
+
+„Eine Angelegenheit will ich doch heute gleich berühren, Tibet. Mein
+Zustand verhinderte mich, Ihnen das bisher zu schreiben:
+
+Vom Ersten des nächsten Monats sind Sie bei mir für Lebenszeit als
+Sekretär engagiert. Es werden Ihnen monatlich dreihundert Mark von
+meinem Rendanten ausbezahlt werden. Alle Ihre Auslagen seit vorigem Jahr
+werden Sie mir baldigst aufgeben, und auch das Honorar für die
+verflossene Zeit werde ich ordnen. Sind Sie damit einverstanden, Tibet?“
+
+„Herr Baron!--Gnädiger Herr!“ rief Tibet. Er erhob sich und neigte in
+seiner überströmenden Empfindung das Gesicht auf die Hand des Mannes,
+der seine Worte mit einem Blick begleitet hatte, in dem sich die ganze
+Fülle seines unvergleichlichen Herzens widerspiegelte.
+
+„Aber Waschen und Kochen ist nun vorbei! Das paßt nicht für den Sekretär
+und Vertrauten des Herrn von Teut-Eder, nicht wahr? Und nun wollen wir
+morgen weiter reden, Tibet! Es wird kühl, ich muß ins Haus, Jamp, Jamp!“
+rief er mit seiner schneidigen Stimme, und dieser eilte herbei, um ihn
+ins Gartenhaus zu geleiten.
+
+Nachtfalter und weiße Sommermotten irrten durch die warme Luft. Drüben
+zirpte es in dem dunklen Garten, und aus dem Rasen drang der sanfte
+erdige Geruch des Sommers. Im Hôtel zur Rose aber blitzten Lichter
+durchs ganze Haus, und durch die Abendstille ertönte noch einmal
+verspätetes Lachen sich haschender Kinder. Eine Zeit lang stand Tibet
+wie träumend da. Endlich warf er den Blick gen Himmel, und eine Thräne
+stahl sich in die ernsten Augen des Mannes.
+
+Er gedachte seines zerstörten Lebensglückes und der Menschen, die er
+liebte--seiner schon ein halbes Jahr nach der Trauung unheilbar
+erkrankten Frau, seiner Mutter, seiner Schwester--, aber das Naß, das in
+seine Augen trat, entquoll diesmal der unbeschreiblichen Empfindung, daß
+nun sicher für die Zukunft jener gesorgt sei.
+
+ * * * * *
+
+Tibet wurde am nächsten Morgen zu Teut zum Frühstück befohlen und fand
+den Major, umgeben von tausend Siebensachen, die auf Tischen und Stühlen
+umherlagen, bereits eifrig schreibend. Er trug einen kurzen, seidenen
+Hausrock, und um den offenen Hals war lose ein weißes Tuch von demselben
+Stoff geschlungen. Aus den Ärmeln guckte eine feine Batistmanschette
+hervor, und sein Fuß steckte in einem roten ledernen Schuh.
+
+„Guten Morgen, Herr Sekretär!“ rief Teut, ohne sich umzuwenden. „Bitte,
+nehmen Sie Platz! Gut geschlafen?“
+
+Tibet bejahte. „Darf ich mich erkundigen, wie der Herr Baron geruht
+haben?“
+
+„Ah--nicht zum besten, Tibet! Die verteufelte Sache beschäftigt mich
+allzusehr. Wie Ameisen laufen die Gedanken in meinem Kopfe herum. Aber
+ich glaube jetzt einen Ausweg gefunden zu haben.“ Hier wandte sich der
+Major um, sah, daß Tibet noch immer stand, und unterbrach seinen Satz
+durch die wiederholte Aufforderung, einen Stuhl zu nehmen.
+
+„Also, wie ich schon gestern sagte, Tibet, so geht die Sache auf die
+Länge doch nicht!“ hob Teut an, humpelte durchs Zimmer, winkte dem
+herbeieilenden Tibet ab, klingelte, gab dem eintretenden Jamp einen
+Befehl und ließ sich dann an dem Frühstückstisch nieder.
+
+Mit inniger Teilnahme sah Tibet, wie unbehilflich der bisher so
+kernfeste, kräftige Mann mit dem künstlichen Bein sich bewegte und
+welche Spuren Strapazen und Krankheit auf seinem Angesicht
+zurückgelassen hatten.
+
+„Bedienen Sie sich!--Also, Tibet, so geht's nicht. Aus diesem Grunde bat
+ich Sie auch, mich hier zu besuchen. Sie sollen mit der Gräfin sprechen;
+ich habe einen Plan, dem sie hoffentlich beipflichten wird. Die
+Sommerferien sind vor der Thür, die Gräfin wird gewiß wünschen, ihren
+Kleinen ein Vergnügen zu bereiten und selbst sich ein wenig nach all
+den Aufregungen und Sorgen zu zerstreuen. Ich werde sie einladen, auf
+Schloß Eder diese Wochen zuzubringen, und will meiner Cousine, der
+Gräfin Aspern, schreiben, dort die Honneurs zu machen. Ich werde dann
+vielleicht auch--später--nachkommen und bei dieser Gelegenheit
+auszuführen suchen, was ich seit dem Tode des Grafen in mir herumtrage.
+Was meinen Sie dazu, Tibet?“
+
+„Vortrefflich, Herr Baron! Aber ich fürchte, daß die Frau Gräfin dieser
+Einladung ein entschiedenes Nein entgegenstellen wird. Wir haben so oft
+über diese Dinge gesprochen--alles war fruchtlos. Die Frau Gräfin
+geht--darf ich mich ganz offen äußern, Herr Baron?“--Teut erhob den
+Kopf, nickte und trennte die eben mit dem silbernen Löffel zerschlagene
+Schale von einem Ei.--„Die Frau Gräfin geht davon aus, daß der gnädige
+Herr sie beeinflussen will, Wohnort und jetzige Lebensweise zu ändern.
+Dagegen sträubt sie sich--der Herr Baron kennen die Gründe--zum Teil
+wenigstens--“
+
+„Hm--zum Teil?“ fragte Teut. „Ist's noch etwas anderes, als was Sie mir
+mitteilten und was ich bei dem Charakter der Gräfin auch wohl verstanden
+habe?“
+
+Tibet zuckte die Schultern nur machte die Miene eines Menschen, der
+wohl sprechen möchte, aber sich's doch nicht getraut.
+
+„Nun?“ forschte Teut ungeduldig. Aber dann in einen anderen Ton
+übergehend sagte er: „Ein für allemal, Tibet! Ich nannte Sie gestern
+meinen Vertrauten, aber noch mehr, ich betrachte Sie als meinen Freund!
+Sprechen Sie, was es auch sei! Das Schicksal, das Wohlergehen dieser
+Frau beschäftigt mich mehr als mein eigenes. Der Zweck, ja der ganze
+Zweck meines Lebens ist, sie glücklich zu machen. Ich versprach's dem
+Grafen beim Abschied, und viel früher hatte ich mir's selbst
+zugeschworen. Das alles wissen Sie am besten. Also, weshalb hinterm
+Berge halten, wo diesem Vorhaben genützt werden kann!?--Ah!“ fuhr Teut
+seufzend und stark betonend fort und lehnte sich zurück. „Ich sollte nur
+kein Krüppel sein! Wir säßen nicht hier und berieten! Nur dieser Umstand
+hat verhindert, daß ich--alles wäre lange--“ Er fuhr sich mit der Hand
+über das Gesicht, und ein Ausdruck von tiefer Trauer blieb in seinen
+Zügen haften.
+
+„Nun, Herr Baron,“ sagte Tibet, rasch den Rest des Frühstücksbrötchens
+hinabschluckend und seinem Herrn ins Auge schauend, „wenn ich denn
+sprechen darf, wie mir's ums Herz ist?--Ich meine--ich meine--die Frau
+Gräfin hat--eine--tiefe Neigung zu dem gnädigen Herrn, und darin ist
+alles zu suchen! Wenn die Frau Gräfin sich so scheu zurückzieht,
+so--so--“
+
+Tibet spähte ängstlich auf Teuts Angesicht, während er sprach. Trotz
+aller Ermunterung stand er unter dem Eindruck, dies, eben dies hätte er
+niemals ansprechen dürfen.
+
+Teut hatte sich gerade erhoben, um sich eine Cigarre zu holen. Nach
+Tibets Worten blieb er am Fenster stehen und schaute lange wortlos
+hinaus.
+
+Als er sich wieder umwandte, blickte er Tibet mit freundlichem Ernst ins
+Auge und schüttelte den Kopf. „Sie täuschen sich, Tibet! Täuschen sich
+gewiß! Und wenn nicht--wenn nicht--Nein, solche Gedanken habe ich
+begraben ein für allemal--“
+
+Nun ging er abermals ans Fenster und ließ gewaltige Rauchwolken der
+angezündeten Cigarre durchs Zimmer schweben. Der eindringende
+Sonnenstrahl fing sie auf und verwandelte sie in lichtes Blau. Eine
+lange Pause trat ein, ohne daß eine Silbe gesprochen ward.
+
+„Ah! ja!“ rief dann Teut plötzlich. „Es muß so sein! Hören Sie mich an,
+Tibet! Machen Sie also der Gräfin den Vorschlag auf mein Anerbieten
+einzugehen. Sie wissen ja, wie und wo am besten einzusetzen ist.
+Stecken Sie sich hinter die Kinder! Wenn diese betteln, daß ihr Wunsch
+erfüllt wird, kann sie nicht widerstehen! Und wenn die Gräfin auf den
+leidigen Punkt kommt--Sie wissen--meine gefürchtete offene Hand und
+dergleichen Thorheiten mehr--so sagen Sie ihr--ja, so sagen Sie ihr, was
+Sie wollen, aber in allen Fällen, daß ich ihr verspräche, niemals diesen
+Punkt zu berühren, viel weniger ihren Absichten entgegen zu handeln.“
+
+„Zu Befehl, Herr Baron! Ich hoffe, Ihrem Vertrauen Ehre zu machen. Ich
+werde mein möglichstes thun.--Nur eins! Wenn ich diesen Auftrag erhalte,
+muß ich eingestehen, daß ich Sie gesehen habe, und das wird den Argwohn
+der Frau Gräfin wecken. Je scheinbar unvorbereiteter ich das vortrage,
+um so besser ist es!“
+
+„Nun, im Flunkern haben Sie ja schon gute Übung, Tibet!“ lächelte Teut
+und suchte doch durch seine Miene den auf Tibet hervorgerufenen Eindruck
+zu verwischen. „Ich denke, Sie müßten schon sagen, Ihre Angehörigen
+wohnten hier in der Gegend, und zufällig hätten Sie mich getroffen. Wo
+wohnen denn eigentlich die Ihrigen?“
+
+Tibet nannte den Ort.
+
+„Ah--in M.! Sind Sie auch dort geboren?“
+
+„Ja, Herr Baron.“
+
+„Und lebt Ihr Vater noch?“
+
+„Nein, Herr Baron.“
+
+„Ihre Mutter ist Witwe?“
+
+„Ja, Herr Baron--“
+
+Teut unterbrach Tibet lächelnd und sagte, sich eines Gesprächs
+erinnernd, das er einst im Clairefortschen Hause mit demselben Manne
+geführt, der jetzt so einsilbig Antwort ereilte: „Ganz wie
+damals:--ja--nein, Herr Baron!--antworten Sie mir, Tibet. Aber ich will
+gar nicht in Ihre Geheimnisse dringen. Nur mein Interesse für Ihre
+Person ließ mich fragen.“
+
+„Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, Herr Baron. Mich leitete etwas
+anderes. Was ich über die Meinigen mitzuteilen habe, ist sehr wenig
+erfreulicher Natur. Ich habe nie darüber geredet, schon deshalb nicht,
+weil meine Person dabei eine nicht gleichgültige Rolle spielt.“
+
+„In der That,“ sagte Teut teilnehmend, „geht es den Ihrigen schlecht?
+Haben Sie etwa noch unversorgte Geschwister?“
+
+„Ich habe“--hier stockte Tibet eine Weile--„eine arme kranke Frau,
+unheilbar krank und gelähmt seit der ersten Zeit unserer Ehe, die mir
+ein kurzes Glück gewährte; sie lebt bei meiner Mutter und meiner
+Schwester, die sie pflegt, gnädiger Herr. Auch meine Mutter war schon
+völlig gelähmt, als mein Vater, der als Musiker sein Brot verdiente,
+starb. Vermögen war keins vorhanden bei seinem Tode. Ich hatte
+ursprünglich das Gymnasium bis zur Aufnahme in die Prima besucht und
+wurde dann--wie ich früher schon mitzuteilen mir erlaubte--Kaufmann. Ich
+hatte aber darin kein Glück, es wollte mir nicht gelingen, vorwärts zu
+kommen. Die dringende eigene Not und die meiner Angehörigen, die ganz
+auf mich angewiesen waren, bestimmte mich, die Stellung eines
+Haushofmeisters bei dem Herrn Grafen von Clairefort anzunehmen, die ich
+seit so vielen Jahren bekleidet habe. Ich mußte verdienen, gleichviel in
+welcher Lebensstellung, und hier fand ich, was ich suchte. Während
+dieser Zeit habe ich die Meinigen ernährt, ja mir selbst ein wenig
+sparen können für meine späteren Tage. Was ich empfand, gnädiger Herr,
+als Sie mir gestern die Aussicht eröffneten, fürs Leben an Ihrer Seite
+bleiben zu dürfen, vermag ich nicht zu sagen. Und Sie werden nach dieser
+Darlegung auch verstehen, welche Sorge von mir genommen ist. Ich bin ja
+nun sicher, daß die Meinigen--“ In dem hageren Gesicht stieg's bei
+diesen Worten auf, wie wenn der Sonnenschein plötzlich durch dunkle
+Wolken bricht, und die Rührung übermannte den Mann so sehr, daß er sich
+abwandte.
+
+„Wie? Alle die Jahre haben Ihre Frau, Ihre Mutter und Schwester
+lediglich von Ihrem Fleiß gelebt?“ sagte Teut voll bewundernden
+Erstaunens. „Braver Mann! Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen! Ich schätze
+es um so höher, weil selbst Ihre engsten Freunde von diesen Dingen
+nichts wußten. Es bleibt wahr: Die echten Perlen liegen versteckt in den
+Muscheln tief auf dem Meeresgrund! Man muß sie mühsam hervorholen. Eine
+echte Perle ist solche Pflichterfüllung und den Ruhm nicht an den
+breiten Weg stellen! Sie üben sie um ihrer selbst willen, in der Stille,
+ohne Geräusch. Das heißt ein Christ sein! Hier meine Hand, Sie braver
+Mensch! Ich bitte jetzt um Ihre Freundschaft! Ich biete sie Ihnen nicht
+mehr an!“
+
+Tibet richtete sich bei diesen Worten in seiner ganzen Größe empor; ein
+ungewöhnlicher Glanz trat in seine Augen, und über sein Angesicht flog
+der Widerschein eines Sturmes von Empfindungen.
+
+„O, zu viel! Zu viel, gnädiger Herr!“ rief er in jenem Rausche, der nur
+die Brust solcher Menschen zu durchdringen vermag. „Mit diesem Worte
+habe ich nicht umsonst gelebt! Mit diesem Tage werde ich ein anderer in
+dieser Welt und die Welt eine andere für mich! Aber mit diesem Worte,
+gnädiger Herr, haben Sie auch Ernst Tibet zu Ihrem Schatten gemacht für
+alle Tage und Stunden seines Lebens! Was ich bin und habe für die
+Zukunft, gehört Ihnen!“
+
+ * * * * *
+
+Es war Morgenzeit. Ange öffnete voll Ungeduld einen Brief, den sie
+soeben erhalten hatte. Derselbe war von Tibet, welcher mitteilte, daß er
+an dem heutigen Tage zurückkehren werde. Als Ange dies mittags den
+Kindern kundgab, faßten sie einstimmig den Beschluß, ihn vom Bahnhof
+abzuholen. Nun standen sie erwartungsvoll da und schauten über den
+Perron hinaus. Als der Zug endlich näher kam, drängten sie sich
+zusammen, und waren voll Ungeduld, den Langersehnten zu begrüßen.
+
+„Tibet! Tibet! Hier!“ riefen sie und stürmten auf den Ankömmling zu, der
+sich gerührt zu ihnen hinabbeugte und ihre Liebkosungen entgegennahm.
+Alle griffen zugleich nach seiner Hand, um einen besonderen Vorzug zu
+genießen, bis endlich Jorinde und Ange sich seine Rechte und Linke
+eroberten.
+
+Tibets erste Frage galt der Mama, und diese ward zufriedenstellend
+beantwortet. Mama Ange ginge es gut; sie habe auch an den Bahnhof
+kommen wollen, sei aber abgehalten worden. Dann setzte sich die kleine
+Schar, Tibet in der Mitte, in Bewegung.--
+
+An demselben Abend saßen sich Herrin und Diener im Wohnzimmer gegenüber.
+
+Tibet erzählte, wie's ihm auf der Reise ergangen sei, und Ange hörte
+freundlich und aufmerksam zu.
+
+„Auch den Herrn Major von Teut habe ich gesehen und gesprochen,“ warf
+Tibet in unbefangenem Tone hin, nachdem er den ersten Bericht erstattet
+hatte. „Er läßt sich der Frau Gräfin aufs angelegentlichste empfehlen.“
+
+Ange blickte im höchsten Grade befremdet empor. „Wie? Sie haben Herrn
+von Teut gesehen, Tibet? Wann? Wo? Und ganz zufällig?“
+
+Tibet nickte und erzählte eine Geschichte, die er sich unterwegs zurecht
+gelegt hatte.
+
+„Und geht's ihm besser? Geht's ihm wieder gut?“ fuhr Ange zögernd fort.
+
+Tibet betätigte und wollte schon, froh, daß die Dinge sich so günstig
+gefügt hatten, fortfahren. Aber entweder wünschte Ange das Gespräch
+nicht fortzusetzen oder sie wollte Zeit gewinnen. Sie brach ab und kam
+auf allerlei häusliche Angelegenheiten.
+
+Inzwischen grübelte Tibet, wie er die Dinge nach seinen Wünschen
+einrichten könne, und sagte endlich, eine kleine Pause benutzend,
+ziemlich unvermittelt:
+
+„Ich habe auch einen Auftrag an die Frau Gräfin von dem Herrn Baron
+auszurichten. Ich vergaß vorher--“
+
+Ange sah Tibet fest ins Auge, aber sie hinderte ihn nicht am
+Weitersprechen. Nur ein kurzes: „Nun?“ glitt von ihren Lippen.
+
+„Zunächst läßt sich der Herr Baron für den Brief der Frau Gräfin recht
+sehr bedanken. Er würde denselben schon beantwortet haben, wenn er nicht
+wünschte, der Frau Gräfin mündlich--“
+
+Tibet hielt inne; er fürchtete nun sicher eine Unterbrechung. Aber zu
+seiner Überraschung sagte Ange nichts, nur ihr Blick blieb noch ebenso
+ernst, ja, so eigentümlich auf ihm haften, daß er unwillkürlich die
+Augen niederschlagen mußte. Er raffte sich aber auf und fuhr fort:
+
+„Der Herr Baron hofft in einigen Wochen wieder so weit hergestellt zu
+sein, daß er Wiesbaden verlassen kann. Er will dann nach Eder reisen und
+auf dieser Reise die Frau Gräfin gern in Eisenach begrüßen.“
+
+„Und was sagten Sie dazu, Tibet?“ fragte Ange kalt.
+
+„Ich--ich--Frau Gräfin--“ Er sprach nicht aus. Einen Augenblick
+schwiegen beide: nur Anges fleißige Nadel, die auf-und abflog,
+unterbrach die Stille. In dem Gemache stand ein runder Tisch, der von
+einer Lampe erhellt ward. Ringsum befanden sich die Möbel, welche einst
+in Carlos' Zimmer Platz gefunden hatten. Dieselben Bilder schmückten die
+Wände; selbst die kleinen Nippessachen von damals standen auf dem
+Schreibtisch. Plötzlich legte Ange die Arbeit aus der Hand, und sagte,
+dem Manne, der ihr gegenübersaß, forschend ins Auge schauend:
+
+„Tibet!“
+
+„Frau Gräfin?“
+
+„Was soll ich von Ihnen denken? Sie haben Herrn Baron von Teut gesehen
+und einen solchen Auftrag übernommen? Ich werde irre an Ihnen. Ich muß
+es Ihnen aussprechen. Also war's doch wie ich vermutete. Hinter meinem
+Rücken! Also war's doch, wie ich fürchtete, als Sie mir von einer
+notwendigen Reise sprachen!“
+
+„Frau Gräfin--ich bitte--ich verstehe nicht--“
+
+„Sie verstehen ganz gut, Tibet! Mehr noch. Sie waren befangen, als Sie
+in unserem Gespräch auf diesen Gegenstand kamen, und da ich nicht arglos
+war, beobachtete ich Sie.“
+
+Ange stützte schwermütig den Kopf und schien für Augenblicke ganz mit
+anderen Gedanken beschäftigt. Sie hörte nichts von Tibets Beteuerungen,
+nichts von seiner geläufigen Rede, durch die er ihr das Mißtrauen zu
+nehmen suchte. Erst als er zu einem anderen Mittel griff, sie seinen
+Plänen gefügiger zu machen, und plötzlich sagte: „Sehr, sehr verändert
+hat sich doch der Herr Baron. Sie wissen, Frau Gräfin, das Traurige noch
+gar nicht. Ich gelangte noch nicht dazu, dies Ihnen mitzuteilen. Der
+Herr Baron hat das linke Bein im Kriege verloren!“ überwogen Teilnahme
+und Sorge alle anderen Gedanken.
+
+„Wie? was?“ rief Ange erregt, ließ die Arbeit fallen, erhob sich von
+ihrem Stuhl und blickte Tibet mit allen Zeichen der Bestürzung an.
+„Amputiert? Das Bein verloren?“
+
+Tibet atmete erleichtert auf.
+
+„Mein armer, armer Freund!“ flüsterte Ange vor sich hin. „Ist er sehr
+ernst, sehr bedrückt deshalb, Tibet? Sie sagen, er habe so leidend
+ausgesehen? O, und das wußte ich nicht einmal! Das verschwieg er mir.
+Ich möchte zu ihm eilen, ihn trösten, ihn pflegen--“
+
+Aber sie unterbrach sich ebenso rasch, setzte sich wieder und ergriff
+still und wortlos die eben fallen gelassene Arbeit.
+
+„Erzählen Sie weiter, Tibet. Berichten Sie mir, was Herr von Teut Ihnen
+gesagt hat,“ hob sie dann gelassen an. „Natürlich verlangt es mich
+Näheres zu erfahren.“
+
+„Zu Befehl, Frau Gräfin. Ich fand den Herrn Baron sehr wortkarg und
+offenbar tief verstimmt. Er äußerte die Absicht, sich ganz von allem
+zurückzuziehen, fortan in Eder zu wohnen und jeden Verkehr einstellen.
+Welche Stimmung den Herrn Baron beherrschte“--nun hielt Tibet es an der
+Zeit, seine Pläne auszuführen, und er that es mit zitterndem
+Herzen--„mögen Frau Gräfin daraus erkennen, daß, als zufällig in einem
+Gespräch zwischen dem Herrn Baron und einem dort anwesenden Freunde die
+Rede auf des letzteren bevorstehende Heirat kam und derselbe den Herrn
+Baron scherzend auf Gleiches hinwies, dieser sagte: ‚Lieber Freund, das
+war längst und ist jetzt erst recht für alte Zeiten begraben! Nichts
+blüht mir noch auf Erden, selbst meine besten Freunde habe ich--ohne
+meine Schuld, ich darf es sagen--verloren!‘“
+
+Tibet schwieg und wartete. Weiße Rosen brachen hervor auf Anges Wangen.
+Eine Blässe färbte diese, vor der Tibet erschrak. War er zu weit
+gegangen, hatte er zu rasch, zu unvermittelt gehandelt. Gewiß, so
+schien es, denn Ange sagte bitter: „Galt mir die letzte Bemerkung,
+Tibet? Nur das wünsche ich noch zu wissen.“
+
+Der Mann schwieg.
+
+„Nun?“ wiederholte sie hart.
+
+„Ich glaube--ich weiß nicht, Frau Gräfin.“
+
+„Und was sagen Sie zu alle dem, Tibet?“
+
+Plötzlich brachen die Thränen unter Anges Wimpern hervor; ihre Augen
+verschleierten sich, und jener zaghafte Ausdruck trat in ihre Mienen,
+der das Gesicht von Kindern und Erwachsenen gleich rührend verändert.
+
+Tibet wollte reden, aber Ange schüttelte den Kopf und wehrte ihm ab.
+„Ich habe schon zu viel heute abend gehört,“ sagte sie kurz und in
+seltsamer Weise abbrechend. „Wir sprechen morgen weiter. Gute Nacht.“
+
+Noch stand der Mann eine Weile; er hoffte, Ange würde wenigstens noch
+einmal emporblicken. Nichts! Nun verbeugte er sich und ging.
+
+Sobald Tibet das Zimmer verlassen hatte, sprang Ange auf und durchmaß
+den Raum mit erregten Schritten. Ihre Gestalt hatte trotz der
+Anstrengungen des letzten Jahres an reizvoller Fülle gewonnen. Die Züge
+ihres Gesichtes waren ausdrucksvoller geworden ihre dunklen gesättigten
+Augen hatten eine eigene Glut und jenen rätselhaften, halb
+schmachtenden, halb in sich gekehrten Ausdruck, der uns so
+unwiderstehlich zu Frauen hinzieht. Noch immer wirkte ihre Erscheinung
+überraschend, noch immer war sie eine blendend schöne Frau. Wie es in
+ihrem Innern gärte nach diesen Mitteilungen! Jene Liebe, die sich noch
+unter dem Schmerz um einen teuren Verdorbenen in zartem Empfinden gegen
+eine andere auflehnt, jene tiefe wahre Liebe, die ihre Neigung ängstlich
+verbirgt, jene stolze Liebe, die fürchtet, sie könne nicht um ihrer
+selbst willen begehrt werden, durchdrang das Herz der Frau--und nun war
+alles vernichtet, was doch hoffend in dem tiefsten Winkel ihrer Seele
+geschlummert hatte. Denn es giebt Wünsche, die der Mensch aus besserer
+Einsicht zurückdrängt bis zum letzten Atemzug--Wünsche auch, von denen
+er weiß, daß sie sich nie erfüllen können, aber die doch beglücken, so
+lange ein Wahrscheinlichkeitsschimmer bleibt.
+
+Teut ein Krüppel! Teut des Trostes, vielleicht noch der Pflege
+bedürftig; Teut abwehrend gegen alles, was sonst Menschen mit Menschen
+verbindet; Teut voll Verbitterung. Teut--die Liebe, den Besitz eines
+Weibes ein für allemal von sich weisend im mißmutigen Verzichten!
+
+Und sie stieß ihn von sich, wo sie ihm vielleicht ersetzen konnte,
+wonach sein Herz verlangte; sie erfüllte--vielleicht in falschem
+Stolze--nicht einmal die Pflichten dankbarer Freundschaft!?
+
+Ange verlor den Faden für den richtigen Maßstab dessen, was Recht und
+Pflicht geboten.
+
+Was sollte sie thun? Ehre, Stolz, Scham und Liebe kämpften in ihr und
+ließen sie zu keinem Entschluß gelangen. Einmal hatte sie alles
+zurückgedrängt, nur ein Gedanke beherrschte sie: Wie's auch kommen,
+wie's auch sein mochte, sie mußte an seiner Seite stehen, solange sie
+ihn unglücklich, zweifelnd und zagend wußte.
+
+Schon glaubte sie klar zu sein und den Kampf überwunden zu haben. Aber
+dann nahm doch wieder die angstvolle Befürchtung von ihr Besitz, Teut
+könne jetzt gerade zu dem Schlusse gelangen, sie suche nur nach einem
+Vorwand, sich ihm zu nähern. Diese Annäherung könne als eine stumme
+Werbung von ihrer Seite erscheinen, sie sei noch die alte leichtfertige,
+nur dem Genuß lebende und nach plötzlichen Eingebungen handelnde Frau
+von ehedem, dasselbe nur von halben Pflichten erfüllte Wesen ohne rechte
+Grundsätze, festen Willen und Thatkraft.
+
+Und dann würde in diesem Falle an sie herantreten, was sie zurückweisen
+wollte um jeden Preis: die Mildtätigkeit aus seiner Hand. Sie, gerade
+sie hatte doch einen so großen, ja vielleicht allen Anteil an der
+entsetzlichen Nacktheit der Dinge nach Carlos' Tode, und Teut war es
+gewesen, der sie gewarnt und dessen Warnung sie nur ein halbes Ohr
+geschenkt; er hatte in der Not geholfen und kam nun wieder und mußte
+helfen, weil sie es nicht verstand, sich einzurichten, immer gleich
+thöricht und unbeholfen dem Leben gegenüberstand. Scham und Stolz, auch
+Quellen falscher Scham, falschen Stolzes brachen wieder in ihr auf und
+ließen sie, wie bisher so oft, den rechten Weg verfehlen.
+
+ * * * * *
+
+Am folgenden Vormittage fand sich für Tibet keine Gelegenheit, abermals
+mit Ange zu sprechen. Er forschte auf ihrem Gesicht, ob das Gespräch des
+vorhergehenden Abends böse Nachwirkungen zurückgelassen habe, und in der
+That schien es ihm, als ob ihr Blick ernster als sonst, ihr Morgengruß
+nicht so warm sei, wie er stets gewesen. Er war voll Ungeduld, mit ihr
+zu sprechen, um so mehr, als er bisher nur die Vorbereitungen für den
+Auftrag getroffen hatte, der ihm von Teut geworden war.
+
+Nachmittags gab Ange einer Bitte der Kinder nach, mit ihnen einen
+Spaziergang zu unternehmen. Sie verständigte Tibet, daß sie zum
+Abendbrot zurückkehren werde, und machte sich mit ihren Lieblingen auf
+den Weg zur Wartburg.
+
+Ange sehnte sich selbst hinaus; in der freien Natur hoffte sie besser
+der sie bestürmenden Gedanken Herr zu werden und zu irgend einem
+Entschlusse zu gelangen, der Teut wenigstens bewies, daß sie ihm nicht
+teilnahmlos gegenüberstand.
+
+Niemals war ihr der Sommer so schön erschienen wie in diesem Jahre. Die
+Bäume standen in blütenschwerer Fülle, und als sie den Weg zur Wartburg
+hinaufstiegen, hemmte sie immer von neuem ihre Schritte, um ihre Blicke
+ringsum auf die Gegend zu werfen, oder bei Lichtpunkten auf das vor
+ihnen liegende Thal hinabzuschauen.
+
+Ange wohnte vor der Stadt in einer von ihrem Auslugepunkte linksseitig
+belegenen kleinen Villa. Auch heute ruhten die Kinder nicht eher, als
+bis die unter dem Grün hervorschimmernden weißen Mauern herausgesucht
+und alle Einzelheiten festgestellt worden waren.
+
+Als sie die Burg fast erreicht hatten, streiften sie bei einer
+Wegwendung einen älteren Herrn, vor dem Ben und Fred eilfertig die Mütze
+zogen und der freundlich dankte. Bei dieser Gelegenheit entglitt jenem
+der Spazierstock, und die Kinder eilten herzu, um denselben aufzuheben.
+
+„Dank, liebe Kinder! Ah, Ben und Fred Clairefort!“ sagte er. „Seid Ihr
+alle kleine Claireforts?“ fuhr er fort und lüftete, gegen Ange gewendet,
+den Hut und verbeugte sich artig.
+
+„Es ist unser Herr Direktor, Mama,“ flüsterte Fred und forderte Ange
+durch Zeichen und Geberden auf, stehen zu bleiben.
+
+Inzwischen war der Herr selbst schon näher getreten und sagte mit
+ausnehmender Höflichkeit:
+
+„Ich habe wohl die Ehre, der Frau Gräfin von Clairefort
+gegenüberstehen?“
+
+Ange bejahte, und bald entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, dem die
+Kinder, nach kleiner Menschen Art, neugierig und mit halb offenem Munde
+zuhörten. Als aber auf die beiden Knaben die Rede kam, ihres Fleißes und
+ihrer Fortschritte gedacht ward, verscheuchte Ange sie durch einen
+Blick, und sie traten beiseite. Beim endlichen Abschied drängte es sie,
+dem Direktor noch einige Worte zu sagen.
+
+„Ich habe Ihnen schon schriftlich meinen Dank ausgesprochen für die
+große Güte, die Sie mir erwiesen haben, Herr Direktor. Gestatten Sie,
+daß ich Ihnen diesen für Ihre Befürwortung und die mir dadurch
+entstandene Erleichterung auch mündlich wiederhole.“
+
+Der Direktor blickte überrascht empor, und da er offenbar nicht
+verstand, worauf Ange hinzielte, zuckte er unter einigen darauf
+bezüglichen Worten die Achseln.
+
+„Ich bitte, gnädige Frau, ich verstehe nicht ganz. Meine
+Befürwortung?--Ihr Brief?--Ich habe keinen solchen erhalten.“
+
+„Ich spreche von der Erlassung des Schulgeldes für meine Knaben, Herr
+Direktor; Sie erinnern sich, daß Sie die Freundlichkeit hatten--“
+
+„Hier liegt wohl ein Irrtum vor, gnädige Frau,“ berichtigte jener mit
+höflicher Wendung. „Es ist nach dieser Richtung von Ihnen nie ein Antrag
+gestellt worden, wenigstens mir nicht zugekommen, Frau Gräfin. Wohl aber
+hat Ihr Bevollmächtigter seiner Zeit das Schulgeld auf Ihren besonderen
+Wunsch für das ganze Semester berichtigt.“
+
+Ange war so verwirrt, daß sie im ersten Augenblick nicht zu sprechen
+vermochte; die Röte höchster Verlegenheit stieg ihr in die Wangen. Dann
+aber brach sie mit einem gezwungenen Lächeln und wie unter plötzlichem
+Besinnen das Gespräch ab und sagte: „Ach, ganz recht. Es war
+allerdings--ein--Irrtum meinerseits!“
+
+Noch wenige Sekunden, dann war der Direktor auf dem der Stadt
+zugewendeten Wege verschwunden und Ange mit ihren Kindern auf dem
+Weitermarsche nach der Burg.
+
+Dieser Zwischenfall weckte in Anges Innerem ein solches Heer von
+widerstreitenden Empfindungen, daß sie zerstreut und völlig wortlos
+neben ihrer kleinen Schar einherschritt.
+
+Das gestrige Gespräch mit Tibet und nun diese Eröffnung! Was würde sie
+alles erfahren! Sie konnte es nicht erwarten, nach Hause zurückzukehren,
+und nur die Rücksicht auf die Kinder veranlaßt sie, den Spaziergang
+fortzusetzen.--
+
+Nach dem Abendbrot--die Kleinen waren früh ins Bett geschickt--ersuchte
+Ange Tibet unter dem Vorwande zu bleiben, daß sie noch einige Fragen an
+ihn zu richten habe. Auf Tibet hatte es den ganzen Tag wie eine schwere
+Last gelegen, und einmal hatte er es schon verwünscht, Teuts Auftrag
+übernommen zu haben. Dennoch ergriff er nach einem kurzen Vorgespräch
+zuerst wieder das Wort in dieser Angelegenheit.
+
+„Ich wollte gestern noch hinzufügen,“ begann er, und suchte eine
+unbefangene Miene anzunehmen, „daß der Herr Baron der Frau Gräfin den
+Vorschlag macht, die Sommerferien auf Schloß Eder zuzubringen. Der Herr
+Baron ging namentlich davon aus, daß dies den Kindern Freude machen
+werde.“ Tibet forschte in Anges Gesicht. „Und auch der Gräfin sei, wie
+der Herr Baron meinte, Luftveränderung und Ruhe nach den Aufregungen
+und Anstrengungen sicher außerordentlich förderlich. Der Herr Baron
+bittet die Frau Gräfin dringend, diese Einladung annehmen zu wollen.“
+
+„Tibet!“ sagte Ange, schüttelte den Kopf und sah den Mann mit demselben
+vorwurfsvollen Blick an wie am gestrigen Tage.
+
+„Frau Gräfin?“
+
+„Was hatten Sie mir versprochen? Was hielten Sie selbst, nach meinen
+Auseinanderlegen und Ihrer damaligen Miene nach zu deuten, für richtig?
+deshalb schenkte ich Ihnen mein Vertrauen--ein Vertrauen, das sich nicht
+auf oberflächliche Erklärungen beschränkte, sondern auch die Gründe
+entwickelte? Nur einem Freunde öffnet man sein Herz, wie ich es gethan.
+Sie haben mich hintergangen, Sie haben gegen meinen Willen gehandelt,
+Sie haben mich betrogen. Und da Sie mich betrogen haben, verliere ich
+den Glauben an die Menschheit. Ich glaube nichts--nichts mehr!“
+
+Bei den letzten Worten erhob sich Ange, die in steigender Erregung
+gesprochen hatte, trat an ihren Schreibtisch und blieb dort abgewendet
+und von ihren Gefühlen überwältigt, stehen.
+
+Tibet war blaß geworden und zerrte an den Knöpfen seines Rockes. Er
+wollte sprechen, aber er vermochte es nicht.
+
+„Ihre Anschuldigungen, Frau Gräfin, sind so schwere,“ stieß er endlich
+heraus, „daß ich vergeblich nach Worten ringe. Um mich verteidigen zu
+können, bitte ich, mir nähere Aufklärungen geben zu wollen. Was habe ich
+gethan, um Vertrauen und Freundschaft zu verlieren? Ja, es ist wahr, ich
+habe einen Auftrag von dem Herrn Baron entgegengenommen, und ich habe
+nicht gezögert, mich desselben zu entledigen, weil der Vorschlag nach
+meiner unmaßgeblichen Ansicht ein guter, der Frau Gräfin und den Kindern
+ein nützlicher war. Daß aber die Frau Gräfin daraus--“
+
+„Ach, reden wir endlich deutsch! Gehen wir nicht ferner um das Wesen der
+Sache herum!“ fiel Ange Tibet heftig in die Rede. „Sie wissen so gut wie
+ich, worin der Schwerpunkt liegt! Sie sind sich wohl bewußt, weshalb ich
+erregt, erschreckt, empört bin! Werfen Sie die Maske endlich ab, Tibet,
+seien Sie wenigstens jetzt ehrlich und gestehen Sie, daß Sie Teuts Agent
+sind, daß Sie von ihm Verhaltungsmaßregeln empfingen in Angelegenheiten,
+die ich abzuweisen suchte mit allen Mitteln, in Angelegenheiten, welche
+hervorgingen aus zartester Empfindung und deshalb von Ihnen hätten
+geachtet werden sollen als etwas Heiliges! Ja, ja, jetzt glaubt man mir
+das alles bieten zu können! Hätten Sie gewagt, gegen meine Befehle,
+gegen meine Bitten zu handeln, als ich noch die gebietende, von Reichtum
+umgebene Frau von Clairefort war? Nein, sicher nein! Aber nun, da ich
+arm, verlassen und durch die Verhältnisse gedemütigt bin, glauben Sie
+das Recht einer Bevormundung gewonnen zu haben, meinen Sie, mir Ihre
+unzarten Dienstleistungen aufdrängen zu dürfen--“ Sie hörte Tibets
+raschen Atem, sah sein erregtes Gesicht und fuhr doch fort: „Also
+richtig war meine Ahnung und allzusehr traf ein, was ich fürchtete,
+obgleich ich mir schon vorwarf, diese Dinge zu viel und zu oft berührt
+zu haben! Nun erfahren Sie es nochmals, obgleich es das A und O aller
+meiner Gespräche war, die ich mit Ihnen pflog: nicht als etwas Gutes,
+Dankenswertes sehe ich das alles an, sondern als etwas Unwürdiges,
+Beleidigendes!--Ehrlos--ja, ehrlos handelten Sie, wenn Sie mich gegen
+meinen Wunsch und Befehl nach Ihren eigenen kleinlichen Auffassungen zu
+messen sich erdreisteten und danach handelten!“
+
+„Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ drang's aus Tibets Munde, und wie einst, als
+Carlos gestorben war und ihn Anges beleidigte Worte trafen, stand er
+bebend am ganzen Leibe. „Ehrlos--sagen Sie? Ehrlos?--Nun, dann darf ich
+in der Folge Ihre Schwelle nicht mehr berühren! In dies reine Haus darf
+kein Ehrloser treten!“
+
+„Nein, nein, Sie haben recht!“ rief Ange außer sich in gekränktem Stolz
+und in der Verzweiflung ihrer vernichteten Liebe. „Gehen Sie! Gehen Sie!
+Ich will versuchen, Ihnen zu verzeihen im Gedenken des vielen Guten, das
+ich von Ihnen empfing. Auch das in der Erregung gesprochene Wort nehme
+ich zurück. Aber unseres Beisammenbleibens ist nicht mehr! Gehen Sie!“
+Nach diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und wollte, nicht mehr
+Herrin ihrer Gefühle, das Zimmer verlassen.
+
+„Ich thue, was Sie befehlen!“ flüsterte Tibet. „Wie sehr Sie mir aber
+unrecht thaten, Frau Gräfin--“
+
+„Wie--unrecht?“ rief sie, nochmals zurücktretend, und reckte ihre
+schlanke Gestalt hoch empor. „Unrecht?“ wiederholte sie. Ihre feinen
+Nasenflügel vibrierten und ihre Augen blitzten. „Trieben Sie Ihre
+zudringliche und bevormundende Dienstfertigkeit nicht so weit, daß ich
+heute wie eine Närrin vor dem Direktor des Gymnasiums stand? Ich dankte
+ihm für seine Güte gegen die Knaben. Solche Güte anzunehmen, schämte ich
+mich nicht, denn es ist der Staat, der den Bedrängten einen Teil der
+Pflichten abnimmt, die ihnen obliegen, um ihre Kinder zu tüchtigen
+Menschen heranzubilden. Er thut damit nur etwas Weises. Sie vermögen es
+ihm einst zu lohnen, indem sie gute Bürger werden. Wissen Sie, was er
+erwiderte? Daß er weder eine Eingabe noch einen Dankesbrief von meiner
+Hand empfangen! Nun, was sagen Sie dazu?--Sie unterschlugen Eingabe und
+Brief, Sie belogen mich, während ich Ihnen Hab und Gut hingab in
+grenzenlosem Vertrauen, ja mehr noch, mich Ihnen sogar anvertraute in
+Dingen, die schwer, wohl nie über die Lippen eines Weibes dringen,
+selbst unter gleichen Verhältnissen. Nun, Tibet, sind Sie der Agent des
+Herrn Baron von Teut?--Einmal wenigstens seien Sie wahr!“
+
+Tibet schüttelte sich, als ob er die Flamme, die in seiner Brust
+emporstieg, auslöschen, als ob er die übermenschliche Erregung, die
+jeden Nerv pulsieren machte, abstreifen könne. Und dann drang es heiser
+aus seinem Munde: „Und doch waren meine Gedanken rein, meine Absichten
+die besten, meine Handlungsweise selbstlos; und doch war alles--so
+falsch die Mittel sein mochten--das Ergebnis meiner unbegrenzten Hingabe
+an Ihre Person. Das sagt Ihnen, Frau Gräfin, Ernst Tibet, der sich heute
+für immer von Ihnen verabschiedet.“
+
+Er sprach's und verließ das Zimmer. Ange stand da, wie ein weißer Stein.
+Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie hörte, wie der Mann auf sein
+Zimmer ging. Sie sah durch die Mauern, daß er sich eilte, seine Sachen
+zu packen. Eine wahnsinnige Angst erfaßte sie; sie hätte aufschreien und
+ihm nachstürzen mögen, und doch hielten sie die nachwirkende
+Empörung--und das einmal gesprochene Wort zurück.--Nun ging auch er, der
+letzte, den sie hatte und der doch--sie wußte es--ein Freund war, wie
+außer Teut seinesgleichen nicht zu finden auf dieser liebeleeren Welt.
+
+ * * * * *
+
+Umfang und volle Bedeutung dessen, was geschehen war, stieg vor Ange
+erst in den nachfolgenden Tagen auf. Auch die Reue blieb nicht aus, aber
+Ange erstickte diese Regung. Ein Mensch, der für seine Überzeugung
+kämpft, für den giebt's kein Rechts und kein Links. Nur ein einziger
+gerader Pfad ist vorgezeichnet. So war es auch hier. Sprach ihr Herz zu
+gunsten Tibets, so verwischte doch ihr stolzes, beleidigtes Gefühl
+wieder die versöhnlichen Regungen. Das waren keine bloßen Worte gewesen,
+die sie einst in Frankfurt gesprochen und deren Inhalt sie ihm später so
+oft wiederholt hatte. Sie wollte, sie mußte den Weg gehen, welchen sie
+ihm bezeichnet hatte. Ihr besseres Ich, ihr Ehrgefühl hatten
+gesprochen, und diesen mußte sie folgen.
+
+Vielleicht--es mochte sein--hatte sie die Dinge zu sehr auf die Spitze
+getrieben, ließ ihrem verletzten Stolze zu sehr die Zügel schießen. Aber
+lag nicht gerade in dieser Form, ihr Erleichterungen zu verschaffen,
+etwas von jener leis spöttelnden Bevormundung, welcher sie sich
+entziehen, zu der sie gerade Teut Recht und Veranlassung hatte nehmen
+wollen?----So blieb in ihr haften, wogegen sich doch im Grunde ihr Herz
+und ihr Verstand auflehnten, und sie tötete die mahnende Stimme ihres
+Innern, die ihr sogar zurannte, daß ihre Handlungsweise gegen Tibet den
+Grundsätzen hochherziger Gesinnung schon deshalb nicht entsprach, weil
+sie ihn--sie mußte es eingestehen--zugleich schuldlos für die
+Enttäuschungen ihrer Liebe hatte büßen lassen.
+
+Schon am nächsten Tage traf ein vollkommen geschäftlich gehaltenes
+Schreiben von Tibet ein, in welchem er die genaueren Angaben machte über
+alles, was seither seiner Sorge anvertraut gewesen war und jetzt Ange
+allein obliegen sollte. Insbesondere machte er ihr über ihre
+Geldangelegenheiten Mitteilung und gab in höflich gemessener Form
+Ratschläge, indem er auf den bisher von ihm beobachteten Gebrauch
+hinwies. Um sie vor ferneren Enttäuschungen zu bewahren, bekannte er in
+diesem Briefe, welche Ausgaben er ohne ihr Zuthun bestritten hatte, und
+fügte endlich hinzu, daß er im Auftrage des Barons von Teut gehandelt
+habe. Eine Angabe über die Höhe derjenigen Summe, mit welcher letzterer
+für Ange eingetreten war, gab er aber nicht, und sie beeilte sich
+deshalb--unter welchen Empfindungen ist leicht zu bemessen--ihn
+schriftlich zu ersuchen, ihr sofort darüber eine Nachricht zukommen zu
+lassen. Am Schluß des Tibetschen Briefes hieß es:
+
+„Frau Gräfin werden über die Zwischenfälle heute nicht anders, aber
+ruhiger denken, das ist meine sehnliche Hoffnung. Und da auch ich den
+Dingen nach der gestrigen Unterredung mit veränderten Ansichten
+gegenüberstehe, so mag es mir mit Rücksicht auf die jahrelangen
+Beziehungen, die ich zu der Frau Gräfin pflegen durfte und in deren
+Verlauf die gnädige Frau mir so oft ein Lob und ein freundliches Wort zu
+erteilen geruhten, gestattet sein, zu sagen: daß ich tief bereue und
+stets wiederkehren werde, sobald mich die Frau Gräfin rufen. Wenn diesem
+Rufe hinzugefügt sein wird, daß die Frau Gräfin mir vergeben haben--ich
+bitte Gott, daß dieser Tag mir noch einmal werden wird--, dann bin ich
+entschädigt für alles, was auch mir Schweres, Ernstes und Sorgenvolles
+in meinem Leben begegnete und das mich doch nicht hinderte, meine
+höchste Lebensaufgabe darin zu erkennen, der Frau Gräfin und Ihrer
+Familie ein bescheidener, wahrer, wenn auch in den Mitteln häufig
+irrender Freund zu sein.
+
+Ich bitte gehorsamst, die gräflichen Kinder grüßen zu wollen, denen ich
+nicht einmal ein Lebewohl sagen konnte u.s.w.“
+
+Ange las diesen Brief in tiefster Bewegung. Was hätte sie darum gegeben,
+wenn die Dinge, die sich enthüllt hatten, nicht geschehen wären.
+
+Plötzlich lag ihr Leben vor ihr wie eine endlos zu durchschreitende
+Wüste, und doch fühlte sie jetzt schon, daß sie erlahmte. Ihr Herz
+erbebte, obgleich sie kaum den Fuß über die Grenzen gesetzt hatte. Aber
+sie raffte sich auf zum ernsten Tagewerk, und ruhige Überlegung gewann
+die Oberhand.
+
+Ange begann zu rechnen. Zum erstenmal in ihrem Leben beschäftigte sich
+Ange von Clairefort mit Zahlen. Bis spät in die Nacht, wenn die Kinder
+schon schliefen, schrieb und summierte sie, stellte fest und strich
+wieder aus, fügte hinzu und kürzte von neuem. Und sie ward gewahr, was
+jedem sich offenbart, der mit diesen unerbittlichen Ausrufungs- und
+Fragezeichen zu kämpfen hat. Auch ihr erschienen alle Einnahmeposten
+wie Quecksilberkügelchen, die man fassen zu können wähnt, und die dann
+plötzlich in bisher unsichtbare Poren verschwinden, während die
+Ausgabesummen zudringlich emporschießen, wachsen und sich vermehren.
+
+Als Ange zum erstenmal alles zusammengestellt hatte und, glücklich
+aufatmend, zu dem Resultat gelangt war, es werde gehen, da fiel ihr
+plötzlich ein, daß Schulgeld und Steuern noch fehlten, daß der Feuerung
+für den Winter, ihrer eigenen Garderobe, der Abzahlung an Teut nicht
+gedacht sei, daß die unvorhergesehenen Ausgaben--und sei's auch nur eine
+Gabe der Wohlthätigkeit--nicht mit vorgesehen wären.
+
+Nun ging's abermals ans Rechnen, aber die Zahlen waren wenig biegsam und
+trotzten allem Beschönigen. Und mit diesem Unvorhergesehenen war's nicht
+einmal am Ende! Wenn--wenn--Krankheit kam? Arzt, Apotheker--das
+Vielerlei, was zu einer sorgfältigen Pflege gehört! Ange sann und
+plante. Wo konnte noch gespart werden? Gab's nicht einen Posten, der
+überflüssig erschien?--Nein, nein!--Und wenn sie nun selbst krank ward,
+wenn sie gar--Was wurde aus den Kindern? Konnte sie nicht sterben? War's
+nicht erste, vornehmste Pflicht, an diesen Fall zu denken? Mußte sie
+nicht ihr Leben versichern?--Aber woher nehmen? Da fiel's wieder wie
+Regenschauer auf ihre Seele, da raunte ihr eine fürchterlich nüchterne
+Stimme zu, daß selbst der beste, ehrlichste Anfang doch nur ein
+schlechtes Ende haben könne. Sie vermochte mit ihrem kleinen Zinskapital
+nicht alles zu bestreiten. Es war unmöglich, unmöglich!
+
+Aber Ange erstarkte in ihrem Pflichtgefühl und in ihrer Liebe zu den
+Kindern und beschloß zu handeln. Sie schrieb an den Direktor des
+Gymnasiums und bat um Nachlaß des Schulgeldes, indem sie begründete,
+worauf sie schon einmal hingedeutet hatte. Wegen einer Ermäßigung der
+Steuern befragte sie an einem der kommenden Tage ihren Nachbar um Rat.
+Sie empfand keine Scham dabei, während sie doch ehedem schon gezittert
+hatte, ihr Diener könne bemerken, daß ihr das Geld zur Reise fehle. Sie
+schüttelte verwundert den Kopf, als sie dieser Zeit gedachte; ja, sie
+begriff heute nicht, daß ihr das Eingeständnis ihrer bedrängten Lage
+jemals schwer geworden sei.
+
+Und nun begann in der Folge der wirkliche Lebenskampf. Welche
+Auseinandersetzungen mit den Kindern, wenn sie nach alter Gewohnheit
+irgend etwas begehrten, das ihnen die Laune eingab!
+
+„Nein, nein!“ sagte Ange.
+
+„Weshalb nicht, Mama?“
+
+„Weil ich es nicht will; weil es überflüssig ist.“
+
+Die kleine Ange, bisher ohne eine Entbehrung, schielte dann wohl zum
+Einholen eines beipflichtenden Lächelns wegen dieser unerwarteten Worte
+zu den älteren Geschwistern hinüber. Aber sie fand kein Echo für ihren
+kindlichen Unverstand. Jene fühlten mit ihrem Instinkt, daß die Sache
+durchaus nichts Komisches habe.
+
+ * * * * *
+
+Das erste, was Ange nach Tibets Fortgang überlegte und in der Folge auch
+zur Ausführung brachte, war eine noch strengere Tageseinteilung als
+bisher. Sie stand in aller Frühe auf und sorgte, daß die Kinder
+Frühstück erhielten und in die Schule gelangten.
+
+Während die Magd Einkäufe machte und nach diesen an die Vorbereitung für
+das Mittagessen ging, besorgte Ange die übrige Hausarbeit.
+
+Gleich nach Tisch begannen die Arbeitsstunden für die Kinder. Ange
+suchte den Knaben sowohl behilflich zu sein wie den Mädchen und gab den
+letzteren auch täglich den von Tibet erwähnten Musikunterricht.
+
+Wenn die Witterung es erlaubte, ward ein gemeinsamer Spaziergang
+unternommen, und den Rest des Tages beschäftigte sich Ange mit dem
+Vielerlei, was zu einer Wirtschaft gehört: dem Ausbessern der Kleider,
+mit Handarbeit und ihrem kleinen Rechnungswesen.
+
+Alle ihre Gedanken waren auf die Kinder gerichtet. Aus den
+Schulbibliotheken wurden Bücher herbeigeholt, und abwechselnd las eines
+der Kinder abends vor. Die sich daran knüpfenden Fragen beantwortete
+Ange nach bestem Können, und wenn dieses nicht ausreichte, griff sie zu
+Hilfsmitteln, die sich unter Carlos' Nachlaß befanden, und saß dann--ein
+Kind unter Kindern--und suchte auch sich neugierig zu belehren.
+
+Jeden Wunsch, der in ihren Lieblingen aufstieg, hörte sie an, und
+überlegte vorher, ob er erfüllbar sei. Sie hatte sich zum Grundsatz
+gemacht, nie gleich ja zu sagen, sondern sich erst Bedenkzeit
+auszubitten. Wenn sie dann--wie meistens--eine abschlägige Antwort
+erteilte, begann wohl ein: „Warum nicht, Mama? Bitte!“ und ein Betteln
+und Drängen, dem sie nur schwer zu widerstehen vermochte. Die Kinder
+hatten so viele Grunde wie draußen Blüten auf den Bäumen, und wo diese
+fehlten, schmeichelten sie und machten Angriffe auf Anges schwaches
+Herz. Aber sie blieb fest, wenn es auch heiß in ihrem Inneren aufstieg.
+Ben stand ihr stets zur Seite und wehrte die übrigen ab. Er hatte viel
+Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Carlitos. Der Knabe war voll
+Herzensgüte, er besaß Charakter, und für seine Jahre überraschte er
+durch die Reise seines Urteils und das Gesetzte seines Wesens. Dabei war
+er voll Aufopferung für seine Mutter, die er zärtlich liebte. Sobald es
+ihr galt, war ihm keine Arbeit zu schlecht oder zu schwer; wenn keiner
+Zeit hatte--er hatte sie stets. Er half ihr, selbst bei Küchenarbeit,
+und lief fort, wenn etwas rasch besorgt werden mußte.
+
+Der Knabe fühlte nicht mehr instinktiv, sondern war sich bewußt, wie die
+Dinge lagen, und sein Herz trieb ihn, seiner Mutter die täglichen
+Beschwerden zu erleichtern.
+
+Das alles aber trat nur zum Vorschein im Hause. Draußen war der Knabe
+ein völlig anderer. Vor allen übrigen besaß er einen brennenden Ehrgeiz.
+Jeden Tag berichtete er, was in der Schule geschehen, wie ihm Recht oder
+Unrecht geworden, und er überlegte, wie er es anzufangen habe, auf den
+Sprossen seiner Sturmleiter weiter emporzusteigen.
+
+Und alles stand ihm gut; er konnte nicht anders sein, wie er war. Wenn
+aber einmal ein Lächeln über sein hübsches Gesicht glitt oder gar seine
+Augen tiefere Empfindungen widerspiegelten, dann war der so schön, daß
+er einem Maler hätte Modell stehen können.
+
+„Wie heißt Du?“
+
+„Graf Benno von Clairefort.“
+
+Nie nannte er sich anders, aber seltsamerweise rief dies selbst bei
+Erwachsenen kein Lächeln hervor.
+
+ * * * * *
+
+Bisweilen schien Ange altes, was früher gewesen, wie ein Traum, und in
+diesem Bilde ihrer Vorstellungen tauchte immer von neuem Teut auf. Wer
+ihr einstmals gesagt hätte, sie werde ihn ängstlich fliehen, und deshalb
+fliehen, weil er Wort gehalten in allem, was er ihr damals in besseren
+Tagen im Walde versprochen, und welches doch das Höchste war, was ein
+Mensch dem anderen gewähren konnte--den würde sie einen unverständigen
+Thoren gescholten haben. Und doch war's kein Traumbild. Sie war heute
+vielleicht von ihm getrennt--fürs ganze Leben! Würde er, nach der
+bisherigen Beurteilung ihrer Person, ihre Haltung nicht als eine
+Weiberlaune deuten? Sie sah ihn vor sich--das überlegene Lächeln
+umspielte seinen Mund, er schüttelte über solche Kindereien den Kopf.
+Hatte er gar recht?
+
+Und dann kam's wieder über sie eines Tages in dem grübelnden Suchen
+nach dem Rechten, in der ängstlichen Besorgnis, den verletzt zu haben,
+dem sie so viel verdankte und der nun stumm blieb, als ob er unter die
+Toten gegangen.
+
+Sie beschloß, ihm zu schreiben und ihren Standpunkt zu verteidigen. Aber
+mitten darin hielt sie wieder inne.
+
+Was sie auch schrieb, sie konnte seine Gedanken nicht beeinflussen.
+Vielleicht betrachtete er den Inhalt ihres Briefes nur als Vorwand ihrer
+veränderten Gesinnung. Und war's nicht auch begreiflich, natürlich, daß
+sich nun auch sein Stolz regte? War er einer von denen, die sich anderen
+zudringlich nähern? Nein! Und da er ihr nicht mit denselben Gefühlen
+gegenüberstand--sie wußte es nun aus Tibets Munde--, hatte er ihr
+Andenken vielleicht ausgelöscht--ausgelöscht für immer?
+
+Und nun sollte sie das erste Wort geben, in ihm den Eindruck
+hervorrufen, endlich sei sie durch Lebensnot und Sorge, gedrängt auch
+von ihrer alten Natur, doch gekommen und habe erbeten, was sie einst so
+schroff zurückgewiesen? Nimmermehr! Vorbei war's mit all den Hoffnungen,
+die sich an frühere Zeiten knüpften! Es gab nur einen Lichtstrahl: das
+Glück der Kinder, und in diesem allein mußte sie ihr eigenes suchen.
+Somit unterblieb das Schreiben.
+
+Aus dem schwankenden Herbst schritt allmählich der Winter mit
+rücksichtslosen Schritten hervor, stäubte, des Widerstandes nicht
+achtend und seines Rechtes sicher, mit Schneewirbeln über die Landschaft
+und schlug die ganze Natur in seine weißen Decken ein.
+
+Aber mit dem Winter traten auch die Sorgen wie weiße Gespenster an Ange
+heran. Als sie von ihrem Bankhause die Quartalszinsen erhielt und einen
+Überschlag machte, was noch zu bezahlen und was nötig war, bis das neue
+Jahr erschien, sah sie, daß ihr jetzt schon fast nichts mehr blieb. Ange
+hatte trotz äußerster Sparsamkeit kleine Schulden machen müssen, und die
+von Tibet gemeldete erschrecklich hohe Summe, welche Teut in dem ersten
+halben Jahre zu ihrem Haushalt beigesteuert hatte, ragte noch drohend
+über dem übrigen empor. Gerade diese zu tilgen, beschäftigte immer aufs
+neue, zulegt fast ausschließlich Anges Gedanken. Schon machte sie sich
+Vorwürfe, daß sie nicht früher abgezahlt hatte. Teut triumphierte
+vielleicht, daß sie so eilfertig und trotzig darnach begehrt--und nun
+doch alles still war.
+
+Sie beschloß--es war ein falscher Entschluß--ihren Nachbar, einen
+kleinen, mit einer Haushälterin lebenden Kapitalisten--um eine größere
+Summe darlehnsweise zu bitten und solche Teut sogleich einzusenden.
+
+Als sie schon auf dem Wege war, flüsterte ihr eine besonnene Stimme zu,
+daß ein einziges Goldstück als Abtrag genügen werde, um sich vor sich
+selbst und vor Teut zu rechtfertigen. Aber mit leiser Eitelkeit
+vermischter Stolz überwog, was bessere Einsicht ihr zurannte, und sie
+zog die Klingel und betrat das Haus.
+
+Es giebt Wohnungen, denen eine kalte Luft entströmt, selbst zur
+Sommerszeit. Frostiges Selbstbehagen, das einen engen, abwehrenden Kreis
+um sich zieht, die übrige Welt nur sieht, sie nur anhört und sich nur
+mit ihr beschäftigt, sofern diese keinerlei Ansprüche erhebt,
+durchdringt die Bewohner und wirkt so erkaltend, daß es sich selbst den
+toten Dingen mitzuteilen scheint.
+
+Als Ange den Flur beschritt, überfiel sie jene Zaghaftigkeit, welche
+fast immer den allzu raschen Vorstellungen unserer Phantasie zu folgen
+pflegt.
+
+Auf dem großen Flur standen zwei in peinlicher Sauberkeit gehaltene, in
+Eichenholzfarbe gemalte Schränke, die den Eintretenden schon kalt
+anstarrten. Und sonst nichts ringsum: kein Spiegel, keine Stühle, keine
+Kleiderhaken, keine Uhr. Was eine rasche Hand etwa stehlen konnte, war
+weislich entfernt. Ein kalter, übersauberer, abgeschlossener Raum, in
+dem die Klingel impertinent laut nachtönte! Nun klopfte Ange.
+
+„Ah, Frau Gräfin!“ sagte die Gesellschafterin artig. Es war eine alte
+Dame in einem einfachen dunklen Kleide und mit einer weißen Mütze auf
+dem Kopf. „Bitte, Herr Putz ist zugegen.“
+
+Putz hatte nichts in der Welt zu thun; er schwatzte überaus gern, sprach
+eigentlich nur von sich und stand trotz seines Egoismus und der
+Langenweile, die er ausströmte--lediglich im Raterteilen war er ein
+Verschwender--unter dem Eindruck, der Verkehr und Umgang mit ihm sei für
+andere ein ungewöhnlicher Vorzug. Daß er nur seinen Neigungen dabei
+folgte, lediglich sich selbst die Zeit vertrieb, und daß durch den
+Verkehr irgend eine Gegenseitigkeit erwachse, diese Gedanken kamen nie
+in seinen Kopf.
+
+Während Ange sich umschaute, hatte sie beim Anblick der Personen und der
+altbekannten Dinge plötzlich die Überzeugung, ihre Bitte werde ihr
+abgeschlagen werden. War's doch Putz, den sie bereits in ihre
+Verhältnisse einen Einblick hatte thun lassen, indem sie ihn um Auskunft
+wegen Ermäßigung der Steuern gebeten. Es war ihr unfaßlich, daß sie das
+nicht vorher bedacht, und sie schalt ihren Mangel an Überlegung nun, da
+es zu spät war.
+
+Ange fand übrigens nicht so rasch Gelegenheit dem Alten vorzutragen,
+was sie beschäftigte. Die Gesellschafterin war ein unliebsamer Zeuge,
+und selbst, als diese einmal fortging, fand sich kein Anknüpfungspunkt.
+
+So wurden denn gleichgültige Gesprächsgegenstände berührt, und Ange
+empfand doppeltes Unbehagen an der Unterhaltung, da sie ihre Absicht
+nicht auszuführen vermochte.
+
+Plötzlich sagte Putz: „Nun, haben Sie Nachricht von der Steuerbehörde,
+Frau Gräfin? Ich wollte schon immer fragen.“
+
+Ange bejahte. Sie berichtete, daß man sie aufgefordert habe, ihre
+Anträge nachweislich zu belegen, und daß dann eine nochmalige Prüfung
+stattfinden solle. Vorläufig müsse die Summe gezahlt werden, zu der sie
+eingeschätzt sei.
+
+„Ganz recht, ganz recht! So, so!“ sagte der Alte, und nach kurzer Pause
+fuhr er fort: „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte, Frau
+Gräfin--recht gern, mit größtem Vergnügen!“
+
+Die Gesellschafterin war noch nicht zurückgekehrt. Diese freundlichen
+Worte ermutigten Ange. Nun, so konnte es denn sein! Plötzlich war sie
+wieder voller Hoffnungen.
+
+„Ich danke Ihnen sehr, Herr Putz. Ich wollte auch noch in einer anderen
+Sache Ihren Rat oder vielmehr Ihre Hilfe erbitten.“
+
+„Bitte, bitte, Frau Gräfin!“ Der Alte war immer neugierig. Das Gespräch
+hatte schon etwas geschleppt, nun ward es wieder anziehend.
+
+„Also, Herr Nachbar, ich möchte Sie fragen, ob Sie mir wohl zwölfhundert
+Mark würden leihen wollen, die ich nach und nach abzahlen könnte. Ich,
+ich--“ Ange stockte.
+
+„Bitte, Frau Gräfin!“ Putz wollte alles hören. Es fiel ihm nicht ein,
+auf dergleichen Dinge einzugehen, aber hören wollte er. Anges Vertrauen
+wuchs.
+
+„Ich habe,“ fuhr sie geläufiger fort, „eine einzige alte Schuld, die
+mich zwar nicht drückt, durchaus nicht drückt--ich meine, derentwegen
+ich nicht gedrängt werde, die ich aber aus anderen Gründen--“
+
+„Hm, ich begreife,“ sagte Putz. Und als Ange nicht gleich fortfuhr,
+fügte er, seine Neugierde nur schlecht unterdrückend, hinzu: „Von einem
+Verwandten wahrscheinlich?“
+
+„Nein, nicht von einem Verwandten; ich habe überhaupt nicht einen
+einzigen Verwandten auf der Welt, weder von seiten meiner Eltern noch
+von seiten meines Gatten.“ Wie unvorsichtig war diese Offenherzigkeit!
+Ange sah es ein--zu spät. Ihr war plötzlich, als ob sie Olga von Ink
+gegenübersäße, und all ihre Hoffnungen sanken in einen tiefen Brunnen.
+„Ich habe das Geld von--von--“ Nun stand Ange sogar vor dem Namen; sie
+sollte vor diesem Menschen Teuts Namen aussprechen! Wohin war sie
+geraten! Sie suchte und griff in ihrer Ratlosigkeit zu einer Unwahrheit,
+vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, wo es sich um ernste Dinge
+handelte. „Von Herrn Tibet,“ platzte sie heraus.
+
+„Ah so!“ sagte Putz, offenbar aufs höchste überrascht, und zog die
+Augenbrauen über die listigen Augen. „Von Herrn Tibet? Er ist fort,
+nicht wahr? Kehrt er überhaupt nicht zu Ihnen zurück?“
+
+Ange bereute, was sie gesagt; wie bereute sie überhaupt jetzt, daß sie
+gesprochen! Es wurde ihr klar, daß der Mann nur seine Neugierde
+befriedigen wolle und daß der Gegenstand ihn nicht im geringsten
+interessiere.
+
+Sie war nun auf demselben Punkt angelangt, von dem sie in richtiger
+Erkenntnis ausgegangen. Sie hatte endlich wirklich die Enttäuschung,
+nach der sie verlangt hatte.
+
+„Nein, er kehrt nicht zurück,“ sagte sie kurz abweisend. „Aber, um
+wieder auf die Sache zu kommen: wie ist es, Herr Putz, würden Sie mir
+die Hand bieten?“
+
+Auskosten mußte Ange die Enttäuschung bis auf den Grund.
+
+„Ich kann nicht, Frau Gräfin, mit dem besten Willen kann ich nicht!
+Aber--Sie gestatten, daß ich ein freundschaftliches Wort hinzufüge und
+meine Ansicht ausspreche. So sehr ich begreife, daß man seinem
+Dienstboten kein Geld schuldig bleiben möchte--“
+
+Ange unterbrach den Sprechenden und sagte stolz: „Sie gebrauchten den
+Ausdruck Dienstbote! Das ist durchaus nicht zutreffend! Tibet war der
+Sekretär und Bevollmächtigte meines Gatten und zugleich Haushofmeister
+in unserem früheren großen Hauswesen. Er folgte mir aus Freundschaft,
+nachdem meine Lage sich verändert hatte.“
+
+„Ah, ah, ganz wohl! Dann steht die Sache ja sehr günstig. Erlauben Sie
+einem erfahrenen Mann, Frau Gräfin! Selbst wenn ich Ihnen dienen könnte,
+würde ich mir den Vorschlag erlauben, daß Sie dort Stundung erbitten und
+lieber den alten Gläubiger behalten, trotz etwaiger Peinlichkeiten. Geld
+ist Geld! Wer's giebt, will Sicherheit, und--und--“
+
+„Sie haben recht!“ fiel Ange fast übereilig ein. „Sprechen wir nicht
+weiter davon! Nur eins zu meiner Rechtfertigung! Ich ging davon aus, daß
+es Ihnen nicht unbequem sein werde, und da völlige Sicherheit in meiner
+Person liegt--“
+
+„Natürlich, natürlich, Frau Gräfin! Ich würde Ihnen das Geld auf bloßen
+Schuldschein geben--selbstverständlich!“
+
+ * * * * *
+
+Nachdem vier Wochen vergangen waren, fand sich Ange fast völlig von Geld
+entblößt, und sie sann und sann, auf welche Weise sie sich helfen könne.
+Auch der Nachbar kam ihr wieder in den Sinn. Gewiß, wenn sie nicht ihrer
+thörichten Eingebung gefolgt wäre--von ihm hätte sie eine kleine
+Aushilfssumme bereitwillig erhalten. Ob er sie jetzt noch geben würde?
+Vielleicht! Aber die Scham überwog den Drang der Not, und sie gab den
+Gedanken auf.
+
+Einmal überlegte sie auch, an das Bankhaus zu schreiben und um einen
+Vorschuß auf das Januarquartalsgeld zu bitten. Daß dergleichen von ihr
+versucht werden könne, war ihr bisher nicht einmal in den Sinn gekommen.
+Nun weckte die Sorge praktische Gedanken. Aber auch diesen Plan ließ sie
+wieder fallen.
+
+Der Jahresanfang erforderte so viel, daß sie schon nicht wußte, wie
+auskommen. Schaffte sie jetzt Hilfe, so entbehrte sie in der Folge. Das
+war nur ein schwacher Notbehelf, und vielleicht gelang's nicht einmal,
+und sie bereute später den Schritt.
+
+Mit einemmal türmte sich wieder vor ihr auf, wie schwer, wie ganz
+unmöglich es sein werde, mit ihren geringen Mitteln auszukommen, und zu
+dieser Einsicht schlich sich ein anderer Gedanke, der sie so ängstlich
+peinigte, daß ihr die Röte in die Wangen stieg. Hatte sie überhaupt ein
+Recht gehabt, ihren Nachbar um Geld in solcher Höhe anzugehen? War's
+nicht leichtsinnig gewesen und mußte sie sich nicht schämen, daß sie so
+stolz auf ihre Person als Sicherheit hingewiesen hatte?--
+
+Eines Abends machte sich Ben, nachdem die übrigen Kinder bereits zur
+Ruhe gegangen waren, im Wohnzimmer zu thun. Ange nähte an der kleinen
+Ange Schulmappe, an der ein Riemen sich gelöst hatte. Die Nadel war zu
+fein, es ward ihr schwer.
+
+Plötzlich setzte sich der Knabe ihr gegenüber, blieb einen Augenblick
+stumm und begann dann mit einem eigentümlichen Ton in der Stimme:
+
+„Du, Mama, weshalb ist eigentlich Tibet fortgegangen? Du erzähltest
+neulich, ihr hättet ein Zerwürfnis gehabt; war es etwas--etwas mit
+Geld?“
+
+Ange neigte den Kopf; dann sagte sie: „Ja, ja, Ben, das verstehst Du
+nicht.“
+
+„Doch, Mama. Wollte er Geld von Dir haben und konntest Du es ihm nicht
+geben?“
+
+„Nein, Ben, es war umgekehrt.“
+
+„Umgekehrt--wie? Wolltest Du Geld von ihm--“
+
+„Du verstehst falsch, Ben. Er wollte--er gab mir Geld--das heißt--Nein,
+das ist auch nicht richtig. Ich weigerte mich, von ihm--etwas
+anzunehmen, und deshalb--“
+
+Des Knaben Pupillen erweiterten sich, und es jagte über sein Gesicht.
+
+„Er wollte Dir Geld geben, und weil Du es nicht nehmen wolltest, ging
+Tibet fort?“
+
+„Nein, Ben, ich hieß ihn gehen. Aber ich wiederhole, daß ich Dir das
+nicht erzählen, nicht erklären kann.“
+
+„Doch, Mama!“ sagte Ben fest. „Erzähle mir alles, bitte. Ich bin nicht
+mehr ruhig, wenn ich nicht alles weiß. War Papa nicht sehr reich? Hat er
+all sein Geld verloren?“
+
+Ange nickte.
+
+„Hat Tibet damit zu thun?“
+
+„Nein, Ben. Papa war allerdings sehr reich, verlor aber sein Geld in dem
+Bestreben, es für Euch noch zu vermehren. Als er starb, war nichts mehr
+da.“
+
+„Nichts? Das war unrecht. Das war--“ Der Knabe unterbrach und bezwang
+sich. „Ah, und nun wollte Tibet Dir helfen, und Du wolltest nichts
+nehmen, und--“
+
+„Ja, ja, so ähnlich war es, mein lieber Junge. Aber noch einmal: Du
+vermagst den inneren Zusammenhang nicht zu verstehen, frage mich nicht
+weiter.“
+
+„Er meinte es doch aber gut, Mama!“
+
+Ange senkte den Kopf.
+
+„Bist Du ihm böse? Werdet Ihr Euch nicht wieder vertragen?“
+
+„Ich weiß es nicht, mein guter Ben. Ich glaube es nicht--“
+
+„Und weshalb? Nur, weil--“
+
+Abermals bewegte Ange sanft zustimmend das Haupt.
+
+„O, hab ich Dich lieb!“ stieß der Knabe hervor und umhalste seine
+Mutter. „Wenn ich doch erst groß wäre und--und--“
+
+Kraft und Eroberungslust blitzten in seinen Augen. Wenn's an ihm gelegen
+hätte, er würde seine liebe Mama auf die Arme genommen und durch das
+Gewühl der Welt getragen haben.
+
+Als sie ihn nach einer zärtlichen Umarmung entließ und er schon mit
+einem „Gute Nacht!“ in der Thür stand, überflog sein Auge noch einmal
+ihre Gestalt. Er kehrte zurück, umfaßte sie stürmisch und flüsterte:
+
+„Bitte, arbeite nicht zu lange. Ich schlafe nicht ein, bevor Du zu Bett
+gehst. Ja, Mama?“
+
+Welche heiße Liebe blitzte aus beider Augen! Nun schlüpfte er fort und
+suchte sein Lager auf.
+
+ * * * * *
+
+Das war ein Winter. Seit Tagen lag ein starrer, unbeweglicher Schnee auf
+der Landschaft, und die Luft trug jenes liebeleere Grau, bei dessen
+Anblick uns schon fröstelt und schaudert. Dazu kam ein rücksichtsloser,
+Mark und Bein durchkältender Ostwind, der seinen Hauch durch die
+festverschlossenen Thüren jagte und aller Abwehr in den Häusern
+Widerstand entgegensetzte.
+
+Die Kinder kamen mittags, von Frost und Kälte geschüttelt, nach Hause,
+und da die in dem oberen Teil der Villa gelegenen Schlafgemächer nicht
+geheizt wurden, war morgens das Wasser in den Krügen kegelspitz
+gefroren, und nur ein Fingernagel vermochte die Arabesken des Eises zu
+durchdringen, mit dem die Fenster beschlagen waren.
+
+Die Feuerung war schon wieder verbraucht. Die Magd meldete, daß sie die
+letzten Körbe vom Boden herabgeholt habe. Fred kam nach Hause und hatte
+sich auf dem Eise beschädigt. Die Beinkleider waren auf dem Knie
+geplatzt, und Ange schalt und suchte unter dem Vorrat nach anderen. Was
+aber der Knabe an Garderobe besaß, war zu leicht, und so mußte Ange nach
+dem Schneider senden, um sie ausbessern zu lassen, da sie solche Arbeit
+nicht verstand. Das war am Ende nichts, aber oft sind's eher die kleinen
+Verdrießlichkeiten, die uns das Leben erschweren, als die großen.
+
+Über Ernas Winterhut hatten die Mädchen in der Schule allerlei Spott
+getrieben. Der gehöre wohl ihrer Mama oder sei aus einer
+Komödiantengarderobe? so berichtete sie aufgeregt. „Freue Dich, daß Du
+einen Hut hast, mein Kind: er ist heil und sauber. Laß die Kinder
+reden.“
+
+Aber wenn Ange dies auch sagte, schnitt es ihr doch ins Herz. Es war
+allerdings ein Hut, den sie selbst abgelegt hatte, und das Kind sah
+seltsam darin aus. Einen anderen kaufen? Nein! Sie hatte nicht einmal
+Geld, Feuerung zu bestellen, die so bitter nötig war.
+
+Im Anfang hatten die Kinder noch alle hübsche, ja äußerst kleidsame
+Gewänder. Die beiden Mädchen sahen so zierlich und vornehm aus, daß die
+Menschen sich nach ihnen umschauten. Aber inzwischen war so vieles
+schadhaft geworden und nicht erneuert. Die kleine Ange trug zum
+erstenmal auf den Knieen gestopfte Strümpfe und zog das Kleid herunter,
+das dadurch doch nicht länger ward und nichts verbarg.
+
+Die Kopfbedeckungen der Knaben waren reichlich abgenutzt, und Kragen und
+Manschetten mußten länger dienen als früher. Bisweilen drang's Ange mit
+Messern durch die Brust, wenn sie das Aussehen ihrer Lieblinge mit dem
+anderer Kinder verglich.
+
+An einem dieser Abende saß Ange unthätig an ihrem gewohnten Arbeitsbuch
+und stützte voller Kummer und Sorge das Haupt. Sie dachte aber nicht
+einmal an die Gegenwart, sie beschäftigte sich mit der Zukunft. Sie
+mußte rasch die jetzige Wohnung aufgeben, sie war zu teuer. Auch konnten
+die Mädchen so kostspielige Schulen ferner nicht mehr besuchen. Die
+guten Kleider, die Ange noch besaß, waren besser zu verkaufen oder für
+die Kinder zu ändern. Ja, das alles mußte--mußte geschehen! Nur wenn sie
+die bisherigen Ausgaben um die Hälfte einschränkte, dann konnte sie
+auskommen.
+
+„Du bist wieder so betrübt“ flüsterte Ben, seine Mutter sanft
+umschlingend. Die übrigen Geschwister waren noch anwesend; immer scheute
+sich der Knabe, seine Gefühle vor ihnen zu zeigen. Gerade hustete
+Jorinde ängstlich auf und draußen pfiff und tobte es um die lose
+befestigten Fensterladen.
+
+„Nein, nein!“ erwiderte Ange, vor den Tönen zusammenschauernd. „Geh ins
+Bett, mein süßes Kind.--Und ich komme gleich nach und bringe Dir einen
+heißen Trank,“ fuhr sie, zu Jorinde gewendet, fort, die aufgestanden war
+und sich an sie schmiegte.
+
+„Es ist so kalt oben; ich fürchte mich auch. Soll Erna nicht auch zu
+Bett gehen, Mama?“
+
+Es war so kalt! Und Ange konnte nicht heizen. Während der letzten Tage
+hatte sie eine völlige Apathie erfaßt; die Dinge mußten sich durch
+irgend etwas ändern;--wie, das wußte sie nicht; sie that auch nichts
+dafür. Aber es konnte sich doch nichts ändern, ohne daß sie handelte.
+
+„Ich will Dir, solange es noch so kalt ist, das Bett drinnen auf dem
+Sofa einrichten,“ entschied Ange. „Ja, ja, mein liebes Kind, es ist zu
+frostig oben, es ist nicht gut für Deine Brust. Wir müssen sehen, wie
+wir's machen.“
+
+In diesem Augenblick entstand ein Streit zwischen den Geschwistern. Fred
+neckte die beiden Mädchen, Ange weinte und Erna schrie auf, als er die
+Hand gegen sie erhob. Bisher hatte Ben stumm neben seiner Mutter
+gesessen. Er hörte alles und es grub sich in ihn ein. Er sprang empor
+und fuhr gegen seinen Bruder auf. Er packte ihn an die Brust und
+schüttelte ihn wie eine Katze, die sich einer Maus bemächtigt hat. Unter
+der seelischen Erregung, unter dem Mitgefühl für seine Mutter, unter dem
+Leid um seine kranke Schwester ging es zehrend durch sein Inneres. Nun
+hatte ihn die Empörung erfaßt, daß der leichtfertige Ruhestörer selbst
+jetzt keine Rücksicht nahm.
+
+„Ben! Ben!“ rief Ange voller Schrecken und mischte sich unter die
+kämpfenden Knaben. Fred hatte seinen Bruder in die Haare gefaßt und
+suchte ihn unter keuchendem Atem herabzuziehen.
+
+„O, Du! Du! Kannst Du nicht einen Augenblick Rücksicht nehmen? Ich
+wollte Dir schon lange eine Lektion geben! Nein, lass' mich, lass' mich,
+Mama!“ trotzte Ben gegen Anges Befehl und Mahnung auf. „Er hat es
+verdient! Er ist es gar nicht wert, daß Du ihn so lieb hast!“
+
+Und nun lagen beide auf der Erde, und Ben schlug seinen Bruder in
+besinnungsloser Wut auf Kopf und Schultern. Und die kleine Ange weinte
+geängstigt, die Kranke hustete und Erna stand voll Mitgefühl da und
+faltete ratlos die Hände. So wüteten Krankheit, Sorge und Unfriede im
+Hause.
+
+„Auch das noch!“ seufzte Ange wie verzweifelt und ließ sich in ihren
+Stuhl fallen. „O Ben, Fred! Daß ihr mir auch noch solchen Kummer
+macht!“ Sie weinte und schluchzte.
+
+Es giebt Augenblicke, in denen alles tot und trostlos um den Menschen
+ist; in denen seine Seele weint, und ihm traurig ist zum Sterben.
+
+Die Knaben hatten sich erhoben und ordneten ihre Kleider. Ihr hastiger
+Atem ging durchs Gemach; ihre Glieder bebten unter der Erregung. Als Ben
+aber seiner Mutter Stimme hörte, als die gerechte Anklage sein Ohr traf,
+zog plötzlich jähe Blässe über sein Gesicht; er stürzte hinaus, eilte im
+Dunklen auf sein Zimmer, warf sich ins Bett und vergrub das weinende
+Antlitz in die Kissen.
+
+Als endlich der Schlaf ihn übermannen wollte, als nach wühlenden
+Gedanken und nagenden Vorwürfen die Erschlaffung eintrat, blitzte in dem
+kalten, von dem Silberweiß des Winters umrahmten Gemach plötzlich ein
+Licht auf, und fast wie eine überirdische, aber trostreiche Erscheinung
+trat zu ihm seine Mutter mit den tiefen dunklen Augen und dem blassen
+zarten Gesicht. Eine sauste Hand legte sich auf seinen Kopf, und weiche
+Wangen schmiegten sich zärtlich an die seinigen.
+
+„Du Trotzkopf!“ sagte sie und sah ihm in die Augen. „Nun schlaf' Dich
+aus und--Ben, thu's mir zuliebe--vertrag' Dich morgen mit Deinem Bruder
+und gieb ihm das erste Wort!“
+
+Er zögerte, aber er nickte doch, da sie es wollte.
+
+„Ich weiß, ich weiß, Du ängstigst Dich um mich; um meinetwegen erhobst
+Du die Hand gegen ihn,“ flüsterte Ange bewegt. „Aber es war nicht recht,
+Ben! Du thust's nicht wieder, Ben, mein Ben?“
+
+Und da schlangen sich seine Knabenarme um ihren Nacken. Weinend und
+schluchzend hing er an ihrem Halse und bereute, daß er aus Liebe gefehlt
+hatte.
+
+ * * * * *
+
+Ange entschloß sich nach schwersten Kämpfen, an einem der nachfolgenden
+Tage nun doch mit ihrem Nachbar zu sprechen und ihn um etwas Geld
+anzugehen. Sie wußte keinen Rat mehr, war am Ende mit der geringfügigen
+Summe, welche ihr geblieben war, und stand vor einer Not, vor welcher
+alle Bedenken schweigen mußten.
+
+Sie schrieb an Putz zu diesem Zwecke einen kurzen Brief, in welchem sie
+die Bitte aussprach, sie wegen einer dringenden Angelegenheit bei seinem
+gewohnten Morgenspaziergang durch einen Besuch erfreuen zu wollen.
+
+„Nun, verehrte Frau Gräfin, da bin ich,“ sagte er, stieß den Schnee von
+den Füßen und trat in das Wohnzimmer.
+
+Ange stand noch in einer weißen Schürze, und ihre Hand hielt ein
+Wischtuch und einen Staubwedel, mit welchem sie Winkel und Ecken
+gesäubert hatte. Ben, der nun auch wie Jorinde wegen eingetretener
+Erkältung das Zimmer hüten mußte, befand sich im Nebengemach. Er trat
+bei des Nachbars Erscheinen einen Augenblick hervor, verbeugte sich
+höflich und zog dann leise die Thür an. Nun war Ange mit Putz allein.
+
+„Bitte, nehmen Sie Platz, lieber Herr Nachbar,“ sagte sie etwas
+verlegen, streifte die Schürze ab, strich über die erregte Stirn und
+holte einen Stuhl herbei, um sich ihm gegenüber zu setzen.
+
+„Wollen Sie nicht im Sofa--“
+
+„Nein, bitte, bitte, ich sitze hier sehr gut. Muß auch gleich wieder
+fort,“ erwiderte er kurz, legte während des Sprechens die Hände auf den
+Knopf seines Spazierstockes und richtete sein noch von der Kälte
+umwehtes, aus dem hohen Pelz herausschauendes listiges Gesicht auf Ange.
+„Sie schrieben mir, daß Sie mich zu sprechen wünschten, Frau Gräfin.“
+
+„Ja, Herr Putz, und ich habe zunächst um Entschuldigung zu bitten, daß
+ich Sie bemüht habe, statt zu Ihnen zu kommen.“
+
+„Das hat ja nichts auf sich,“ erwiderte er ebenso kurz und fuhr mit
+einem Anflug von Ungeduld fort: „Nun also, Frau Gräfin, bitte--“
+
+„Ich sprach neulich mit Ihnen über eine Geldsache, Herr Putz. Sie hatten
+die Güte, mir Ihren Rat zu erteilen, und ich fand bei näherer
+Überlegung, daß Sie recht hatten,“ begann Ange rücksichtsvoll. „Heute
+handelt es sich um Ähnliches, aber um etwas--“ Ange hielt mitten im
+Sprechen inne, erhob sich, ging an ihren Schreibtisch und nahm ein
+Geldbriefkouvert heraus. „Sehen Sie, Herr Putz, das ist die letzte
+Geldsendung, welche ich am ersten Oktober empfing. Es sind Zinsen, die
+ich vierteljährlich erhalte. Ich komme bis Neujahr nicht aus--ich hatte
+viele unerwartete Ausgaben gerade in den letzten Tagen. Da wollte ich
+Sie nun freundlich bitten, Herr Putz, daß Sie die große Güte haben
+möchten, mir bis Januar mit einer Summe auszuhelfen.“
+
+Ange hielt zaghaft inne und blickte den Mann an, der wie eine
+Brunnenfigur vor ihr saß und keine Miene verzog.
+
+Er schielte auf das Kouvert, das Ange auf den Tisch gelegt hatte, sah
+nur zu genau, that aber, als ob er gleichgültig hinüberblinzele, und
+sagte dann kalt:
+
+„Ja, ja, kann's mir wohl denken--würde auch wohl gefällig sein, Frau
+Gräfin. Ich will aber gleich bemerken, daß ich vor Neujahr auch sehr,
+sehr knapp bin. Ich erhalte Anfang Januar--gerade wie Sie--mein Geld,
+und jetzt, gegen Ende des Monats und um das Fest herum, ist's fast
+unmöglich! Wieviel brauchen Sie denn?“
+
+Ange nannte eine beträchtlich geringere Summe, als sie vor diesen in
+einem so wenig ermunternden Tone gesprochenen Worten hatte erbitten
+wollen.
+
+Putz schien nach einem festen Grundsatz zu handeln, denn er sagte ohne
+Besinnen einfallend:
+
+„Ich bedauere, Ihnen nur die Hälfte vorschießen zu können, Frau Gräfin.
+Schon das macht mir sogar Ungelegenheiten. Wie gesagt--“
+
+„Ah!“ machte Ange nur allzu enttäuscht. Was er ihr bot, war neben der
+Bestreitung dringendster Ausgaben kaum ausreichend für die nächsten acht
+Tage, und bis Weihnachten waren noch fast drei Wochen.
+
+„Und wann gebrauchen Sie das Geld? Heute schon?“ nahm Putz das Wort und
+erhob sich, ohne Anges sichtliche Unruhe zu beachten.
+
+Und wie immer der Ertrinkende nach dem Strohhalm greift, so griff auch
+Ange nach dem Geringen, das sich ihr bot, nahm dankend an, versprach die
+prompte Rückgabe im Januar und unterschrieb einen Schuldschein, den Putz
+sogleich ausfertigte.
+
+Auch den Betrag erhielt sie sofort aus einer Brieftasche, die Putz in
+der Seitentasche seines Rockes bei sich führte. Er schien sich auf die
+Sache vorbereitet zu haben. Weshalb hatte sie ihn sprechen wollen? Doch
+sicherlich um Geld! Natürlich! Was er, ohne ihre Wünsche zu kennen,
+geben wollte, war schon vorher von ihm überlegt worden.
+
+Während Ange und Putz noch einige Worte austauschten, erschien in der
+verbindenden Thür die schlanke Gestalt von Ben, der altes gehört hatte.
+Ein Ausdruck zorniger Erregung malte sich in seinen Zügen, aber auch
+Schmerz, Scham und Mitleid spiegelten sich auf dem Angesicht des stolz
+erhobenen Kopfes. Nun wandte sich Ange zurück, und der Knabe verschwand
+rasch, bevor sie seiner gewahr wurde.
+
+Nach kaum acht Tagen hatte Ange freilich noch Feuerung im Hause, aber
+sonst lagen die Dinge ebenso, fast schlimmer als vordem. Von dem Drange
+getrieben, achselzuckenden Mienen vorzubeugen, machte sie der
+Nachbarschaft größere Abzahlungen, als sie ursprünglich vorgesehen
+hatte, und erfuhr dabei, was jeder täglich beobachten kann, daß Geld der
+fahnenflüchtigste Geselle ist, der je einem Kriegsherrn diente.
+
+Aber nun kam das Weihnachtsfest immer näher, an dem sogar jeder
+Tagelöhner seinen Kindern eine Freude zu bereiten suchte. Ange hatte
+für die Kinder nichts eingekauft, aber diese arbeiteten eifrig und
+versteckt an Geschenken für sie und erinnerten sie dadurch immer von
+neuem, daß sie auch Überraschungen von ihr erwarteten.
+
+Selbst Fred war fleißig mit Gummi und Radiermesser bei einer Zeichnung
+beschäftigt, geschickter allerdings mit diesen, als mit Bleifeder und
+Kreide. Er war einmal ein flüchtiger kleiner Geselle.
+
+ * * * * *
+
+Es war einige Tage vor dem heiligen Feste und um die Abendzeit. Ein
+starker Schneefall hatte die Gegend in starre, bleiche Gewänder gefüllt.
+Von. Mondlicht umflossen, ragte die Wartburg wie ein von Geistern
+bewohntes Schloß unter den weißbedeckten Wäldern hervor. Ringsum in den
+Villen aber glitzerten hinter den Scheiben kleine unruhige Lichter, die
+seltsam, fast unheimlich abstachen gegen, die schweigsame, aller
+lebendigen Farben entkleidete Natur.
+
+Es mochte gegen zehn Uhr abends sein, als ein großer kräftiger Mann, der
+sich soeben auf offener Landstraße von seinem ihn offenbar über Ort und
+Gelegenheit orientierenden Gefährten getrennt hatte, mit langsam
+schwerfälligen Bewegungen die Höhe hinaufstieg, auf der das Häuschen
+lag, welches Ange bewohnte. Je näher er seinem Ziele kam, desto
+bedächtiger wurden seine Schritte. Einigemal hielt er inne und schaute
+spähend um sich. Aber nirgends zeigte sich etwas Lebendiges: die Gegend
+war wie ausgestorben.
+
+Endlich erreichte er das Haus, in welchem noch Licht war, klinkte leise
+eine kleine Pforte auf und wandte sich mit vorsichtigen Bewegungen
+rechtzeitig in den Garten. Vor dem nach diesem herausschauenden Fenster
+war kein Vorhang herabgelassen, es gestattete ungehinderten Einblick.
+
+Der Mann--es war Teut--dämpfte seinen raschen Atem, blieb stehen und
+schaute lange und unverwandt ins Innere des Gemaches. Oftmals griff er
+sich in tiefer Bewegung an die Brust und einmal traten silberfunkelnde
+Tropfen der Rührung in seine Augen über das, was er erblickte.
+
+Ange saß, das Gesicht ihm zugewandt, an dem Tisch, der mitten im
+Wohnzimmer stand, und betrachtete prüfend ein Kleidungsstück, das vor
+ihr auf dem Tische lag. Teut erkannte es als ein Militärbeinkleid, das
+Clairefort gehört haben mochte. Die bleiche Frau prüfte und maß, indem
+sie das kürzere Gewand eines der Knaben dagegen hielt.
+
+Nachdem sie nach einigem Hin und Her zu einem Entschluß gelangt war,
+trennte sie die Nähte auseinander, breitete jeden Teil für sich aus,
+legte das Knabenbeinkleid darüber, schnitt mit vorsichtiger Hand das
+erstere danach zurecht und nähte dann die einzelnen Teile zusammen. Ohne
+auch nur ein einziges Mal aufzuschauen, saß sie über die Arbeit gebückt,
+und nur einmal ließ sie die Nadel ruhen, lehnte sich zurück, hob das
+neue Gewand empor und zupfte an dem Stoff.
+
+Nun vermochte ihr Teut voll ins Angesicht zu schauen, und fiebernd flog
+es durch seine Brust, als ihr liebes, zärtliches und blasses Gesicht vor
+ihm aufstieg.
+
+Einmal war's ihm, als ob sie seiner ansichtig geworden sei, denn
+plötzlich wandte sie mit verändertem, ängstlichem, gleichsam gebanntem
+Blick ihr Auge gegen das Fenster, hinter dem er lauschte. Er trat
+unwillkürlich zurück und spähte aus dem tieferen Dunkel ins Gemach.
+
+Hatte sie ihn gesehen?--Nein! Vielleicht war's einer jener seltsamen
+Ahnungsschauer, die uns erfassen können, wenn auch diejenigen weit von
+uns sind, mit denen wir uns--in blitzartiger Erinnerung--beschäftigen.
+
+Später stützte Ange den Kopf, starrte sinnend vor sich hin, griff dann
+nach einem Bleistift und machte sich auf einem Blättchen Papier
+allerlei Notizen. Offenbar beschäftigte sie sich mit ihren Kindern,
+vielleicht stellte sie noch einmal deren Wünsche für Weihnachten
+zusammen. Und dann begab sie sich abermals voll Eifer an die Arbeit,
+rührte fleißig die Hand und machte nur Pausen, um die Nähte mit dem
+Fingernagel nachzuglätten.
+
+Wer sie heute so sah und einst gekannt hatte! Ein Gefühl heißer Rührung
+mußte emporsteigen und sich in Bewunderung verwandeln.
+
+Einmal über das andere strich Teut in starker Erregung den Schnurrbart.
+Wie lange stand er nun schon da, und doch flog ihm die Zeit wie eilende
+Sekunden. Es waren lebhafte Gedanken, die ihn beschäftigten. Er sah, was
+vor sich ging, und sah's doch nicht; denn während er den Blick
+hineintauchte, gingen zahlreiche Gedanken durch seinen Kopf.
+
+Und nun bewegte Ange in leisem Frost den Oberkörper und fuhr, die Nadel
+falten lassend, wiederholt über die sinkenden Lider. Sie starrte vor
+sich hin, sann und grübelte, bis endlich die Müdigkeit sie überwand und
+ihre Augen sich schlossen. Einmal blinzelte sie noch kämpfend auf, dann
+sank das Haupt tiefer und tiefer, und endlich saß sie regungslos da. Sie
+war eingeschlummert.
+
+„Ange, Ange,“ murmelte der Mann in heftiger Bewegung, richtete noch
+einmal einen langen Blick auf die Schlummernde und verließ nun
+vorsichtig und fast erschreckt durch seine eigenen Schritte auf dem
+hartgefrorenen, knarrenden Erdboden den Ort, an welchem er gesehen, was
+eine stumme, aber so beredte Sprache geredet hatte.
+
+ * * * * *
+
+Am folgenden Vormittage schlich Ange--sie hatte durch Zufall erfahren,
+wo sie gegen Pfand ein Darlehen erhalten konnte--mit zagendem Herzen ins
+Versatzamt und verschaffte sich das Geld, dessen sie so dringend
+benötigt war. Sie hatte unter anderem ihre goldene Uhr--ein kostbares
+Stück--hingegeben und befand sich durch den dafür erhaltenen hohen
+Betrag sogar in der Lage, ihrem Nachbar die vorgeschossene Summe
+zurückzahlen zu können. Sein zögernd gewährter Dienst brannte ihr wie
+Feuer auf der Seele, und sie fand keine Ruhe, bis sie die Summe in seine
+Hände zurückgelegt hatte.
+
+„Wer seine Schulden bezahlt, verbessert sein Vermögen,“ sagte Putz, ohne
+eine Befremdung über den früher innegehaltenen Termin an den Tag zu
+legen, und entließ auch Ange ohne Nachfrage oder Angebot für andere
+Fälle.
+
+An demselben Nachmittag machte Ange sich auf den Weg, um Einkäufe zu
+machen, und Ben, der ihr Helfer und Vertrauter in allen Dingen geworden
+war, mußte sie begleiten. Als sie ziemlich wortkarg neben ihm
+herschritt, schmiegte er sich zärtlich an sie, und als sie ihm seine
+Besorgnisse durch eine fröhliche Miene zu nehmen suchte, sah er sie mit
+seinen tiefen Augen an und drückte ihren Arm fester, den sie gefaßt
+hatte, als sei er ihr kleiner Kavalier.
+
+Als Ange unterwegs noch einmal alles überrechnete und mit einem: „Du
+armer Kerl wirst wenig oder nichts erhalten!“ bedauernde Worte gegen
+ihren Liebling fallen ließ, sagte der Knabe:
+
+„Ich will gar nichts, ich brauche nichts, Mama!“
+
+„Du bekommst auch wirklich nichts, mein lieber Junge, sei ohne Furcht!“
+betätigte sie mitleidig. „Was ich Dir zugedacht habe, ist etwas, das Du
+dringend nötig hast und was ich Dir gern besser gegönnt hätte!“
+
+Am nächsten, dem letzten Abend vor dem Feste, wollten Ange und Ben den
+Baum ausputzen. Heute saß sie noch mit fleißiger Hand und arbeitete an
+einem wollenen Halstuch für Jorinde, der es besser ging, die aber
+geschont und vor kalter Luft in acht genommen werden mußte.
+
+Anges Gesicht war etwas fröhlicher; ein stiller, sanfter Zug lag in
+ihren dienen. Was sie erreicht hatte, erfüllte sie wenigstens
+vorübergehend mit einer glücklichen Befriedigung, und nur eins drängte
+sich schwermütig in ihre Gedanken: daß das Fest ohne Tibet gefeiert
+werden müsse. Sie gedachte auch Carlos', ihres Mannes, aber vornehmlich
+trat Teut in ihre Gedanken. Sie seufzte tief auf. Eine verzehrende
+Sehnsucht erfaßte sie nach ihm. Sie verlangte nach seiner festen Stimme,
+nach seinem Blick, nach seiner Teilnahme, nach seiner--Liebe.
+
+Ange sah nach der Uhr. Es schlug gerade zehn. Noch wollte sie
+aufbleiben, länger als gestern, wo sie zu ihrem Leidwesen dem Schlaf
+erlegen war.
+
+Und gerade in diesem Augenblick vernahm sie draußen ein Geräusch an der
+Thür, und im nächsten wurde auch die Klingel gezogen. Überrascht,
+erschreckt wandte sie den Blick ins Freie. Das Mädchen war schon zur
+Ruhe gegangen, die Kinder schliefen. Sie begriff nicht, wer noch so spät
+Einlaß begehren könne.
+
+Statt auf den Flur zu gehen, trat sie ans Fenster und spähte behutsam
+hinaus. Aber wie von einem Blitz getroffen fuhr sie zurück, denn als sie
+den Vorhang verschob, sah sie unmittelbar neben der Mauer einen Mann,
+von dessen Gestalt sie nur die Umrisse zu erkennen vermochte, dessen
+Züge ihr aber in der Dunkelheit verschleiert blieben. Einen Augenblick!
+Dann faßte sie sich, drückte, ihre Erregung zu dämpfen, die Hand aufs
+Herz und fragte kurz mit künstlicher Fassung: „Wer ist da und was wird
+gewünscht?“
+
+„Liebe Gräfin! Liebe Freundin! Ich bin's, Teut! Erschrecken Sie nicht!
+Soeben bin ich angekommen. Ich muß Sie durchaus sprechen. Bitte, öffnen
+Sie. Verzeihen Sie dieses späte Eindringen.“
+
+Teut--so plötzlich--ohne Anzeige--in später Nacht?--Ange verlor den
+Atem, fast die Besinnung. Es war seine Stimme, dieselbe Stimme, die sie
+so lange nicht gehört und bei deren Klang ihr Herz zu zerspringen
+drohte.
+
+Noch einmal schaute sie hinaus, dann überwog ihr ahnendes Gefühl
+Bedenken und Furcht. Mit einem leisen, zitternden: „Ich komme--ich mache
+auf!“ trat sie hinaus und öffnete.
+
+Ja, es war Teut! Mit einem unterdrückten Schrei, totenblaß--und als er
+nun auf sie zutrat und ihre Hand ergriff--mit dem brennenden Rot der
+Erregung übergossen, stand sie da und war keines Wortes mächtig. Aber
+als sie nun das Zimmer erreicht hatten, als das Licht über seine Züge
+fiel, als die hohe, kräftige Gestalt vor ihr auftauchte, als dieser
+ernste und doch so gütige Blick aus seinen Augen sie traf, da folgte sie
+der unwillkürlichen Bewegung seiner Hände, trat zu ihm heran und lag
+plötzlich sanft weinend an seiner Brust.
+
+Einige Augenblicke verharrten die beiden Menschen in jener stummen,
+inneren Bewegung, in der jeder Gedanke hinabtaucht in eine einzige
+Empfindung und in der Worte zu Thränen werden.
+
+Dann aber faßte er sie und lehnte sie sanft in einen Stuhl, beugte sich
+über sie und schaute ihr lange in die Augen.
+
+„Das alles konnten Sie thun und ganz vergessen, daß Axel von Teut nur
+einen Lebenszweck auf dieser Welt hatte: Sie glücklich zu machen? Aber
+ich komme nicht, zu hadern, sondern Ihnen zu sagen, daß ich meiner
+Unruhe nicht mehr Herr wurde und meine fiebernden Gedanken sich
+zusammendrängten in dem einzigen Wunsche: Sie endlich wiederzusehen! Und
+nun hören Sie mich an und unterbrechen Sie mich nicht. Wollen Sie?“
+
+Leise zustimmend bewegte Ange das Haupt.
+
+„Nehmen, lesen Sie zuvörderst, um Ihnen den Anlaß meines plötzlichen
+Kommens zu erklären,“ fuhr Teut fort und entfaltete einen Brief. „Oder
+nein! Lassen Sie mich,“ unterbrach er sich und begann, Anges Zustimmung
+durch einen sanften Blick einholend:
+
+„Lieber Onkel Axel!“ Ange horchte erschreckt auf bei dieser Einleitung.
+Eine Ahnung des Zusammenhanges stieg in ihr empor und wurde schon zur
+halben Gewißheit.
+
+„Sei nicht böse, wenn ich Dir heute schreibe. Nicht einmal genau weiß
+ich Deine Adresse. Ich habe in der letzten Zeit so viel geweint um meine
+Mama und kann nicht mehr ansehen, daß sie so traurig ist. Lieber Onkel
+Axel! Mama hat so viele Sorgen; ganz gewiß. Tibet ist nicht mehr bei
+uns. Ich weiß weshalb. Wenn Du kommst, erzähle ich Dir alles. Und Du
+wirst kommen, bald, bald, wenn ich Dich bitte. Nicht wahr, lieber Onkel?
+Gewiß würde ich Dir dies nicht schreiben, aber ich muß es thun. Schreibe
+mir, bitte, und adressiere an meinen Schulkameraden, den Tertianer Carl
+von Trock in Eisenach. Er wird mir den Brief geben. Niemals aber darf
+Mama von meinem Brief an Dich wissen. Du sagst es ihr nicht? Bitte,
+lieber Onkel! Und nun grüßt Dich Dein Dich liebender
+
+Benno von Clairefort.
+
+Begreifen Sie jetzt, liebe Freundin? Gewiß, Sie verstehen, und ich habe
+nun endlich erreicht, wonach ich verlangt habe seit Carlos' Tode, was
+mein Recht war, aus einer Zusammengehörigkeit zwischen uns, wie
+menschliche Beziehungen sie kaum wieder aufzuweisen haben. Lassen Sie
+mich von vorn beginnen, damit ich Ihnen erkläre, wie alles sich so
+gestalten mußte. Lassen Sie mich auch deshalb zurückgreifen, um Ihnen zu
+beweisen, daß es nichts gegeben hat, was ich in Ihrer Handlungsweise
+nicht verstand, nicht ehrte.“ Und mit bewegter Stimme rief er das
+Geschehene in ihr Gedächtnis zurück.
+
+„O, wehren Sie mir nicht!“ sagte er, als er ihre Erschütterung sah.
+„Weinen Sie nicht! Sind es noch Thränen des Zorns oder Thränen der
+Versöhnung? Ist's gar--darf ich es hoffen?--ein Beweis, daß ich Ihnen in
+diesem Augenblick die Genugthuung gab, nach der Sie verlangten? Ja, Frau
+Ange?--Ich danke Ihnen.--Und nun hören Sie weiter!“
+
+Teut machte eine kurze Pause, und dann sagte er, behutsam seine Worte
+abwägend und mit einer Zartheit, wie sie nur ihm eigen:
+
+„Ich habe mir folgendes gedacht, liebe Frau Ange: Sie überlegen, ob wir
+nicht an einem Orte gemeinsam wohnen können und uns--als alte
+Freunde--täglich sehen; ja, durch unseren Verkehr uns das Glück
+verschaffen, was uns neben dem Wohlergehen Ihrer Kinder noch auf Erden
+beschieden sein kann. Wenn ich sage ‚uns‘, so verzeihen Sie dieses Wort;
+ich hätte nur von mir sprechen sollen. Ich habe keinen anderen Wunsch,
+als in Ihrer Nähe zu leben und Ihnen zu zeigen, wie sehr ich Ihnen
+zugethan bin. Fürchten Sie keine aufdringliche Freundschaft, Ange, ich
+verspreche Ihnen, daß ich Ihre Ansichten und Absichten ehren werde wie
+ein Gottesgebot. Stimmen Sie zu! Ist es nicht thöricht, daß wir, die wir
+schon zueinander gehörten, als wir uns zum erstenmal begegneten, uns
+voneinander abschließen wie Feinde? Sind wir nicht Freunde? Gingen Sie,
+wenn auch begreiflicherweise bei den furchtbaren Gegensätzen Ihres
+Lebens--nicht zu--weit, nicht zu sehr ins Extrem? Ist es nicht auch eine
+Größe, nehmen zu können? Mißverstehen Sie mich nicht! Wenn ich sprach,
+wünschte ich nur von den natürlichen Rechten der Freundschaft ein Wort
+fallen zu lassen; nicht einen Vorwurf wollte ich Ihnen machen, liebe
+Freundin. Mich zu entschuldigen wünschte ich. Ich ließ mich hinreißen
+von dem unbeschreiblichen Glück, das den Geber durchdringt--ich fehlte;
+aber Sie gaben nicht einen Finger, um mir dieses Glück zu gönnen.--Ich
+habe nichts mehr zu sagen.--Nun, liebe Frau Ange, was meinen Sie?“
+
+Er stand auf und faßte ihre beiden Hände, er suchte ihre verschleierten
+Augen und drängte sich mit seiner Seele zu der ihrigen. Und als dann
+plötzlich so viele Tropfen unter ihren Wimpern zuckten, da wußte er,
+daß sie vergeben hatte, daß alles zwischen ihnen war wie ehedem.
+
+ * * * * *
+
+Bevor Teut sich an dem eben geschilderten Abend von Ange trennte,
+erwirkte er auch Verzeihung für Tibet, der seit seiner Trennung von Ange
+bei ihm in Eder sich aufgehalten und ihn auch nach Eisenach begleitet
+hatte.
+
+Ange aber schloß kein Ange in dieser Nacht. So unvorhergesehen, so
+plötzlich war alles über sie gekommen, so mit einem Schlage waren alle
+Dinge verändert, daß sie sich wiederholt an die Stirn griff; ob's denn
+auch Wahrheit und kein Traum sei. Haltende, brennende Ströme jagten
+durch ihr Inneres. Die stille Liebe zu Teut hatte sich durch das
+Wiedersehen in einen drängenden, stürmischen Frühling verwandelt. Er war
+an ihrer Seite und sie sollte ihn vielleicht wieder verlieren?
+
+Als Ange am nächsten Morgen ihren Kindern mitteilte, Onkel Axel und
+Tibet seien wieder da und würden an dem Weihnachtsfest teilnehmen,
+erscholl lauter Jubel durchs Haus. Ben drängte sich an seine Mutter, als
+sie allein war, und forschte in ihren Augen. „O ja, ja, Du bist wieder
+fröhlich! Ich sehe es!“ preßte er heraus und umhalste sie. Sie aber
+legte die Hand auf sein Haupt und sah ihm forschend ins flammende Auge.
+
+„Wußtest Du gar nichts von Onkel Axels Kommen? Gar nichts?“ Ben bewegte
+stumm den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. Und dann schoß
+plötzlich brennende Röte über sein Gesicht und mit raschem Anlauf
+drückte er seine Mama noch einmal an sich. „Nicht böse sein!“ flüsterte
+er und verschloß unter Küssen ihren Mund.
+
+Einen rührenden Anblick bot es, als Tibet am Mittag zum erstenmal wieder
+die Schwelle des Hauses betrat. Ange war in der Küche, als der Jubel zu
+ihr drang. Als sie sich ihm näherte, machte er eine tiefe, unsichere
+Verbeugung und wartete, wie seine Herrin ihm begegnen würde.
+
+„Willkommen, Tibet!“ sagte Ange, trat auf ihn zu und legte tiefbewegt
+ihre Hand in die seinige. „Alles ist vergessen. Und“--hier brach es aus
+ihren Augen so heftig heraus, daß sich die Kinder unwillkürlich
+zurückzogen--„vergeben Sie--auch mir!“
+
+„O, Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ stotterte der Mann und neigte das Haupt.
+
+Und der Festabend kam; Ange war aufgeblüht in ihrem Glück. Sanfte Rosen
+lagen auf ihren Wangen und ihre Augen glänzten, als hätten
+Diamanttropfen Sonnenstrahlen aufgesogen.
+
+Sie trug dasselbe Kleid--sie hatte es bewahrt und nun hervorgesucht--,
+das damals ihre Gestalt umschloß, als Teut Abschied nahm und in den
+Krieg zog.
+
+Auch eine vollblühende Rose hatte sie sich zu verschaffen gewußt, die
+nun ausgebrochen an ihrer Brust lag wie ein Symbol ihrer reiferen
+Schönheit.
+
+Teut war wie gebannt, als sie ihm gegenüber trat. Für ihn hatte sie sich
+geschmückt, und der zarte Duft der Blüte drang berauschend auf ihn ein.
+
+Ihm war's, als ob sie mit ihrer blendenden Erscheinung nicht in diesen
+Raum gehöre, ihm plötzlich gegenüberträte wie damals in der Villa, und
+alles sei wie ehedem.
+
+Und nun wirkten auch alle anderen Dinge bestrickend auf ihn. Mit welcher
+anmutigen Sicherheit waltete sie im Hause, wie gut, aber wie verständig
+war sie mit ihren Kindern; das Zuviel, das leichte „Ja“ waren
+abgestreift. Das Irrelose, Bewegliche, Hastige in ihrem Wesen war
+gewichen, ein sanfter Ernst umgab sie, der sie verschönte.
+
+Und mit welcher zarten Rücksicht begegnete sie ihm selbst, mit welchem
+Takt wußte sie den Ausgleich zu finden zwischen dem Vergangenen und
+Heute. Alles, was jemals in ihm emporgestiegen war, ward zur brennenden
+Flamme. Saß er ihr auch ernst und mit besonnenem Ausdruck gegenüber, so
+schlug doch bebend sein Herz; richtete er auch nur einen stillen Blick
+auf sie, so hämmerten doch seine Pulse, und einmal ballte er,
+abgewendet, die starken Hände und riß sich zurück aus der
+überwältigenden Qual, die ihm die Brust einschnürte.
+
+Und doch konnte, durfte er nicht sprechen, und wenn seine Seele sich
+auch teilte und wenn sein Verzicht sein Lebensglück vernichtete.
+
+Einmal kamen die Kinder während des Abends ins Nebenzimmer und Tibet
+folgte ihnen. Da trat Teut an Ange heran.
+
+„Wie schön sind Sie, Frau Ange!“ sagte er, ergriff ihre Hand und sah sie
+mit seinen tiefen, guten Augen an. Ange errötete wie ein furchtsames
+Mädchen, und ihre Handflächen bebten in den seinen.
+
+„Und wie gut, wie trefflich sind Sie, liebe Freundin!“ fuhr er leiser
+fort und suchte ihren Blick.
+
+Er sprach's, und die Frau neben ihm zitterte. Nun kam Ben; sie wichen
+von einander. In dem bleichen Angesicht des Knaben blitzte es auf. Er
+sah überrascht auf seine Mutter und auf Teut. Ahnte ihm etwas? Einen
+Augenblick stand er wie erschrocken, dann aber glühte es in seinen
+dunklen Augen, und mit einer unwillkürlichen raschen Bewegung--gab's
+ihm ein Gott ein, oder wußte er selbst nicht, was er that?--eilte er auf
+beide zu, ergriff ihre Hände und neigte sein blondes Haupt auf diese
+herab.
+
+„O, wie ich Euch lieb habe!“ drang es aus des Knaben Brust. Und da
+beugten sich auch unwillkürlich Ange und Teut hernieder und berührten
+gleichzeitig des Knaben Scheitel.
+
+Aber auch ihre Wangen stahlen sich aneinander, und der Liebesgott ließ
+zwei Flammen emporsteigen, die zusammenschlugen in feuriger Lohe.
+
+Derselbe Gedanke durchzog ihr Inneres: die Vorsehung war's, die ihre
+Hände durch den Knaben verband, durch den stolzen, herrlichen Knaben mit
+seiner heißen Seele. Diese legte ihre Hände in einander für immerdar.
+
+Am Tannenbaum nebenan brannten noch die Lichter. Der feine Duft der
+Nadeln und des Wachses durchwehten den Raum in ihrer belebenden
+Mischung. Es war ja Weihnacht--Weihnacht, das Fest der Freude! Drinnen
+ertönte das fröhliche Lachen der Kinder, dazwischen ertönte Tibets
+rauhere, aber gütige Stimme.
+
+Und da waren auch die beiden Menschen, die schon so lange füreinander
+bestimmt waren, nicht mehr mächtig ihrer Gefühle.
+
+Wie ein Sturmwind brauste es durch Teuts Brust, wie ein Kind hob er Ange
+empor, und sie umschlangen sich mit ihren Armen, um sich zu halten fürs
+ganze Leben.
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Eine vornehme Frau, by Hermann Heiberg
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 12113 ***