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diff --git a/12113-0.txt b/12113-0.txt new file mode 100644 index 0000000..ce218a6 --- /dev/null +++ b/12113-0.txt @@ -0,0 +1,7785 @@ +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 12113 *** + +Eine vornehme Frau. + +von + +Hermann Heiberg. + + +1886 + + + + +Seiner theuren Mutter, + +Asta, geb. Gräfin von Baudissin + +gewidmet. + + + + +Große, kleine Städte! + +Wir sind in einer mittleren Stadt von kaum zwanzigtausend Einwohnern, +immer noch winzig genug, daß alles, was nicht diente, hämmerte oder +ackerte, eine große Familie bildete, in der man sich kannte und sich +miteinander befaßte. + +Und doch trennte sich die gebildete Gesellschaft in verschiedene +Klassen: und wie stets und überall hielt die eine sich aus besserem Teig +gebacken als die andere. + +Als der Krieg von 1866 beendet war, empfing die nunmehr preußische Stadt +eine Garnison; es wurden, neben Infanterie, einige Schwadronen Husaren +nach C. verlegt. Aber die Offiziersfamilien sonderten sich, zumal da sie +noch Fremdlinge waren, gänzlich ab, und nur zu den höheren Beamten und +dem Adel nahmen sie diejenige Fühlung, welche ihnen gleichsam +vorgeschrieben war. Im übrigen konnte die Bürgerschaft mit der +stehenden Einquartierung wohl zufrieden sein, denn unter den Husaren +befanden sich wohlhabende, sogar reiche Leute, welche das Geld nicht in +die Schublade versteckten. + +Die neuen Verhältnisse waren dem Städtchen günstig. Der Geschäftsgeist +regte sich, und besonders die Bautätigkeit erwachte. Die Bürger +verdienten Geld und fanden sich rascher in die neuen Dinge, als man +erwartet hatte. + +Und so verging die Zeit mit ihrem Wechsel, und so lebte die +Einwohnerschaft mit ihrem Spott, ihrer Neugierde und ihrem Gerede über +ihre Nebenmenschen wie allerorten in dieser unvollkommenen Welt. + +Eines Tages ward die Stadt C. durch eine Annonce überrascht, welche sich +in dem täglich erscheinenden Blättchen, scharf umrändert und groß +gedruckt, auf der letzten Seite befand: „Gesucht sofort eine große +Wohnung von zwölf bis fünfzehn Zimmern mit Stallung und Nebengelassen. +Eventuell wird auf ein ganzes Haus reflektiert. Man beliebe sich--“ +u.s.w. + +Die Neugierde, welche sich zunächst an den Stammtischen der Ressourcen +kundgab, ward nicht sogleich befriedigt. Selbst der Redakteur der +C.schen Zeitung wußte keine Auskunft zu geben. Endlich lösten sich die +Zweifel. Einer der Husarenoffiziere war vor einiger Zeit versetzt +worden, und in dem Wohnungssuchenden entdeckte man den neuen +Rittmeister. + +Zu gleicher Zeit verbreiteten sich allerlei Gerüchte über die +Ankömmlinge, welche geeignet waren, die Gemüter zu beschäftigen. Von ihm +wurde behauptet, daß er zwar ein vollendeter Kavalier und ein gerechter +Vorgesetzter sei, aber von einer so finsteren Schwermut beherrscht +werde, daß er den Umgang mit Menschen ängstlich meide, während man ihr +neben großer frappanter Schönheit Verschwendungs- und Vergnügungssucht, +ja sogar einen leichtfertigen Lebenswandel nachsagte. Erhebliche +Erbschaften sollten schon durch ihre Finger geglitten sein, und es ward +als ein Glück bezeichnet, daß sich der übrigens große Reichtum des +Grafen auf unantastbare Fideikommißkapitalien stütze. Die Frau Gräfin +gliche, hieß es, einer heißbrennenden Sonne, vor welcher der eisigste +und umfangreichste Goldhügel zerschmelzen müsse. + +In jedem Fall war man sehr gespannt auf die neue Bekanntschaft, und in +Offizierskreisen ward eifrig überlegt, welche Stellung man zu einer Frau +einnehmen solle, der ein solcher Ruf voranging. + +Sehr angenehm ward von diesem Wechsel ein Bauunternehmer berührt, der +eine von einem parkähnlichen Garten umschlossene große Villa gleich vor +der Stadt besaß und nun um einen hohen Preis einem Mieter fand. Der +Graf ließ sich Zeichnungen und genaue Beschreibungen einsenden und +bewilligte eine ganz erhebliche Summe zur Verschönerung der inneren, +ursprünglich für einfachere Ansprüche berechneten Räume. + +So wurden beispielsweise sämtliche Gesellschaftszimmer in mattgrüner und +blauer Seide tapeziert, und das ganze Haus erhielt einen genau im Muster +übereinstimmenden, hellen Teppich in Flur und sämtlichen Gemächern. Aber +auch sonst wurden Veränderungen getroffen, welche das Besitztum zu einem +fast fürstlichen Aufenthalt umwandelten. Die Thüren mußten +ebenholzdunkel gemalt und mit Arabesken in Gold versehen werden. Die +Öfen wichen zum Teil Kaminen aus schwarzem oder rotem Marmor, und die +Außenwände der Villa wurden durch eine zartgraue Ölfarbe verschönt, +wodurch sich das „Schlößchen“ reizend von den umgebenden grünen Bäumen +abhob. + +Geradezu Bewunderung erregten aber die Pferdeställe. Es erschien zum +Zweck ihres Ausbaues ein Lieferant aus Berlin, der rasch alles ausmaß +und in kürzester Zeit das Innere derartigen Veränderungen unterwarf, daß +die Einwohner von C., und unter ihnen besonders alle Sportfreunde, +neugierig herbeigeeilt kamen, um diesen Musterstall in Marmor, Mahagoni +und Gußeisen in Augenschein zu nehmen. Es hieß, die ganze Einrichtung +sei auf einer der letzten Weltausstellungen prämiiert worden. Und dann +trafen endlich auch die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände ein. + +Der Tapezierer berichtete Wunderdinge von den Gemälden, Bildern, +ausgelegten Schränken, Bronzen und sonstigen kostbaren Kunstsachen. Die +Portièren und Gardinen waren meistens aus geblümtem chinesischem +Seidenstoff gefertigt, und kein Tisch, kein Stuhl befand sich in der +Sendung, der nicht hätte als ein Musterstück gelten können. Aber--und +das erfüllte den Handwerksmeister mit gerechtem Erstaunen--fast nichts +war heil und ganz, mit Ausnahme der ohne Zweifel dem Gebrauch des Grafen +dienenden Möbel. Eine solche Beschädigung konnte nicht durch den Umzug +entstanden sein, sie war sicher das Ergebnis einer grenzenlosen +Unordnung und Vernachlässigung. + +Auf geschehene Meldung und Anfrage erfolgte keine Antwort, wohl aber +erschien nach einigen Tagen der Haushofmeister, ein hagerer, ernst +dreinblickender Mann, der erklärte, daß die gräfliche Familie ihm auf +dem Fuße folge und jetzt keine Zeit mehr für Reparaturen vorhanden sei. +Diese müßten später vorgenommen werden. + +An einem Maitage des Jahres 1867 traf die Familie ein. In ihrem Gefolge +befand sich eine große Dienerschaft und neben zahlreichen edlen Pferden, +auch ein paar herrliche Hunde, die beim Abladen der schier unzähligen +Koffer einen gewaltigen Lärm anstimmten und von der graziösen Frau, die +mit sechs schlanken Kindern dem Wagen entstieg, wie nach langer Trennung +gehätschelt und geliebkost wurden. Sie vergaß darüber das Haus und den +Eintritt, bis sie die Augen aufschlug und bei dem Anblick der Villa und +des Parkes ihrer frohen Überraschung in lebhafter Weise Ausdruck +verlieh. Dabei redete sie auch ihre Dienerschaft an und ermunterte +diese, in ihre Bewunderung einzustimmen. + +Währenddessen war der Rittmeister in das Haus getreten und rief aus +einem Fenster des Hochparterre ungeduldig und streng: + +„Ange, komm nun doch und kümmere Dich um die Kinder!“ + +Etwas Eigenartigeres als diese konnte man nicht sehen. Eins war schöner +als das andere. Alle waren blond, aber das Haar hatte jenen goldig +schimmernden Anhauch und die Körperhaut jene unnachahmliche Farbe, +welche wir an den Menschen des Nordens im Gegensatz zu den Bewohnern des +Südens bewundern. Wie schon ein Sonnenstrahl seine Spuren auf dem +Milchweiß der Blonden zurückläßt, so flammt auch sichtbarer, und durch +den rosenfarbenen Schimmer reizvoller, das Blut durch die Wangen dieser +von der Natur bevorzugten Geschöpfe. + +Wenn Mutter und Kinder beisammen standen, konnte man sie für Geschwister +halten. Frau von Clairefort glich einem menschgewordenen Engel; sie trug +mit Recht ihren Namen. Und sie ging auch mit ihren Kindern um, als sei +sie selbst noch ein unselbständiges Wesen. Sie blickte sie erstaunt und +in ein plötzliches lächeln ausbrechend an, sie tummele sich mit ihnen +und lag spielend auf dem Teppich, auf welchem auch die Hunde +umhersprangen. Fehlte dies oder das, so riß sie wohl ein Tüchelchen von +ihrem vornehm gebauten Hals, statt das fehlende Garderobestück +herbeizuholen; und wenn die Kinder sie küßten und um Freiheit bettelten, +statt nach der Anweisung der Gouvernante an die Schularbeiten zu gehen, +lief sie gar mit ihnen fort und versteckte sich und jene vor den +drohenden Stirnfalten der Erzieherin. + +Morgens ruhte sie mit der ganzen herbeigeeilten Schar in einem +spitzenbedeckten Bett und ließ sich umhalsen und hätscheln. Es war, als +ob der eben erwachte Frühling seine Kinder um sich versammelt habe. Was +so bezaubernd wirkte, war der naive, unbewußte Liebreiz aller dieser +zartgearteten Menschen, und doch war die Gräfin Ange so stählern +abgehärtet, ward so wenig beeinflußt von jedweder Anstrengung, daß sie +den Schlaf fast wie eine überflüssige Gewohnheit an sich herantreten +ließ. + +Wo sie erschien, ward alles hell, denn ihr süßes Gesicht, ihre klugen +Augen, ihre anmutigen Gebärden, ihr silberhelles Lachen und ihre durch +keine Künstelei beeinflußte lebhafte Fröhlichkeit riß die Umgebung fort. +Und doch war's niemals eine närrische Laune, von der sie sich leiten +ließ, und ihr nicht erst durch Grübeln geweckter Verstand kleidete jeden +Gedanken in eine graziöse Form. Ihr Ernst war so tiefsinnig und ihr +Urteil über Menschen und Dinge oft so zutreffend, daß man es nicht für +möglich hielt, dieselbe Frau habe eben mit kindlich-hilfloser Naivetät +die tausend Unarten ihrer kleinen Schar ertragen, sich zuletzt machtlos +in einen Winkel vergraben und bitterlich ausgeweint. + +„Bitte, bitte, sei artig, Carlitos,“ flehte sie, und trotzig warf +Carlitos den stolzen Kopf in den Nacken und beging dieselbe Unart. Aber +zornig gegen ihre Engelschar konnte sie überhaupt nicht werden, viel +weniger hatte sich ihre Hand jemals zum Schlage gegen diese erhoben, +obgleich Ange mit ihrem starken, gestählten Handgelenk das wildeste +Pferd zu zähmen imstande war. Reiten und Fahren war Ange Claireforts +Leidenschaft. Sie hatte den edelsten Renner im Stall, und nicht minder +zärtlich klopfte sie den Hals von „Blitz“, ihrem Lieblingspferd, als die +schlanken Glieder ihrer beiden Windhunde.-- + +Carlitos, der Älteste, war ein wilder, schlanker Bursche mit vielen +impertinenten Sommersprossen auf der feingeschnittenen Nase und mit +dunklem, gleichsam boshaft leuchtendem Haar in rotem Schimmer. Dann +kamen Zwillinge, zwei Mädchen von einer solchen sanften Schönheit und so +mädchenhaft in der Erscheinung, daß die Menschen auf der Gasse +stillstanden, um ihnen nachzuschauen. + +Diesen folgten wieder zwei Knaben. Sie hatten lange, in der Mitte +gescheitelte goldblonde Haare, waren tannenschlank gewachsen, lebhaft, +ausgelassen, aber doch voll Herzensgüte und schüchtern gegen Fremde. +Wenn sie bisweilen mit ihren vornehmen Gesichtern so scheu +dreinblickten, ward man unwillkürlich an die Söhne Eduards erinnert. + +Die kleine Ange war das Ebenbild der Mutter, nur erschien sie fast noch +graziöser. Eine Elfengestalt, dabei träumerisch, für sich, und mit jenem +vorwurfsvoll-ernsten Ausblick, der zögern läßt, sich solchen Kindern zu +nähern. + +Nach vier Wochen redete man in C. von nichts anderem als von dem Grafen +Clairefort und seiner schönen Gemahlin. Die bösen Reden waren +verstummt, nachdem man sie ein einiges Mal gesehen hatte. Der Graf +entsprach dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. Er war nur noch +zurückhaltender, als er geschildert ward. Man fand einen äußerst +aristokratischen, wortkargen, aber im Verkehr mit den feinsten Manieren +ausstatteten Mann, der es mit seinen militärischen Obliegenheiten so +streng nahm, daß diese Strenge an Härte streifte. Natürlich zerbrach +sich auch alle Welt den Kopf, wie wohl zwei so verschieden geartete +Menschen miteinander lebten. Stärkere Gegensätze waren nicht denkbar. Er +ein ernster, pedantischer, kränklicher Mann, dem sich zu nähern, +Überwindung kostete, und der in seinen Gedanken, Anschauungen und +Lebensgewohnheiten völlig von dem Durchschnitt der Menschen abwich. Sie +dagegen ein frisches, gesundes, liebenswürdiges, ein naiv-kluges +Geschöpf, mit einem hinreißenden Temperament und einer nicht minder +hinreißenden, ja gefährlichen Schönheit; dazu sorglos, ganz von dem +Eindruck des Augenblicks beherrscht und oft spottend allen Regeln der +eingebürgerten Sitte. + +Wenn sie etwas besonders anregte oder beschäftigte, wenn sie zum +Beispiel ausreiten wollte, vergaß sie alles. Da gab's keine Innehaltung +einer Zusage oder Verabredung. Da schwiegen alle gewöhnlichen +häuslichen Pflichten, da verfingen nicht die strengen Mienen des +Grafen. Sie flog ihm an den Hals und herzte ihn.--„Laß, laß, +Schatz!--Sei gut, gieb mir meinen Willen.--Du weißt ja doch, daß Du mir +nichts abschlägst.--Weshalb mich quälen?--Nein?--Du versagst mir die +kleine Freude?--Dann küsse ich Dich niemals mehr auf Deine treuen Hände, +auf Deinen verschwiegenen Mund!“--Und ehe er sich's versah, ehe er es +hindern konnte, schlang sie sich zu ihm empor und liebkoste seine Wange. + +Oft mußten die Kinder helfen, diese wilden, zarten, sanftmütigen +Geschöpfe in ihrem seltsamen Gemisch. Und sie thaten alles, was sie +wünschte; immer nahmen sie für ihre Mama Partei und umringten den +bleichen ernsten Mann, bis sich zuletzt ein Lächeln um den geschlossenen +Mund stahl. Und dieses Lächeln war Zustimmung. + +„Wenn Du wüßtest, wie schön Du bist, wenn Du lächelst,“ sagte Ange oft: +„warum bist Du doch immer so ernst, so bärbeißig, Lieber! Bin ich nicht +um Dich, Ange Clairefort, geborene Butin, Herrin auf Schwarzensee und +Dürenfort?“ Dazu lachte sie und stolzierte, ihm Kußhände zuwerfend und +hinter sich schauend, als ob sie ihre Schleppe betrachte, von dannen. Er +neigte dann schwermütig das Haupt und zog sich in seine Gemächer zurück. +Oft war's, als ob der strenge Soldat sich vor dem Kinderlärm und der +ausgelassenen Unart seiner Umgebung flüchte, als ob jeder Nerv in ihm +zucke, ihm Ruhe und Einsamkeit allein wohlthue. + +In der That hatten Claireforts schon viel Herzeleid erfahren. Sie +verloren beide früh ihre Eltern und standen ohne Verwandte in der Welt. +Des Rittmeisters Stammvorfahr, ein Franzose, war nach Deutschland +übergesiedelt, um seiner Gemahlin, einer Rheinländerin, zu folgen, und +die Butins, wenn auch seit Menschengedenken in deutschen Gauen ansässig, +stammten ebenfalls aus französischem Blut. Gerade als Clairefort um die +alleinstehende, blutjunge Baronin von Butin anhielt, starb ihr +bisheriger Vormund, und dies veranlaßte die später Mündigwerdende, die +Gutsbesitzungen zu veräußern; den Erlös brachte sie ihrem Manne als +Mitgift in die Ehe. + +Claireforts hatten ihre Besuche gemacht und empfingen solche. Es nahm +sehr für sie ein, daß sie ihre Visiten nicht auf den vornehmeren und +engeren Kreis beschränkten, in welchem die übrigen Familien verkehrten; +sie gaben auch ihre Karten bei den angesehenen Einwohnern der Stadt ab +und entzückten durch ihre Liebenswürdigkeit alle Welt, mit der sie in +Berührung traten. Besonders lebhaft aber entwickelte sich der Verkehr +zwischen den unverheirateten Offizieren der Garnison und den +Neuangekommenen. Nach wenigen Wochen waren diese fast tägliche Gäste der +Villa, in der stets ein Frühstückstisch bereit stand und in der +man--auch unangemeldet--immer eine vortreffliche Tafel mit auserlesenen +Weinen fand. Es vollzog sich dort alles wie durch Zauberhand geschaffen, +und doch war Ange die denkbar schlechteste Hausfrau. + +Aber Ernst Tibet, der Kammerdiener, sorgte für alles. Dieser +Haushofmeister war ein Mustermensch. So unruhig und wenig umsichtig, so +ungleich und lebendig die Gräfin, ebenso ernst, besonnen und zuverlässig +war Tibet, ein Mann mit angeborener Würde und höflicher Zuvorkommenheit +zugleich. + +„Tibet, bester, goldener Tibet, was beginnen wir? Eben haben sich zehn +Personen angesagt! Die Uhr ist zwei! Um fünf wollen wir speisen!“ + +„Es wird alles nach Ihren Wünschen sein, Frau Gräfin,“ erwidert Tibet, +verbeugt sich und geht seiner Arbeit nach. + +Und wenn Tibet das sagt, dann kann wohl eine kleine Welt einstürzen, +aber wenn sie nicht einstürzt, ist alles auf die Minute, wie er +versprochen. + +Seltsamerweise bekümmerte sich auch der Graf nicht um das Haus, wenig +auch um die Kinder, ebensowenig um seine schöne Ange. Man fragte sich +oft, was eigentlich ihn beschäftige, wofür er sich interessiere, welche +Gedanken hinter seiner hohen Stirn auf- und abwandern möchten. Niemand +vermochte darauf eine zutreffende Antwort zu geben. Es blieb ihm außer +seiner dienstlichen Beschäftigung noch viel Zeit, aber man fand ihn +weder häufig lesend noch schreibend. Er saß meistens zurückgelehnt in +einem alten Erbstuhl des fünfzehnten Jahrhunderts, der vor seinem +Schreibtisch stand, stäubte die Bücher und die vielen kleinen +Nippesgegenstände ab, rauchte, erhob sich wohl einmal, griff sich, wie +um einen Schmerz zu bannen, an den Kopf, schaute in den blühenden Garten +und grübelte weiter über etwas, was keiner zu ergründen vermochte. + +Tibet war jeden Tag eine Stunde, oft länger bei ihm. Er legte Rechnungen +vor, holte sich Anweisungen, empfing Geld, brachte solches, mußte auch +wohl Briefe schreiben, Telegramme besorgen und Gänge machen, über die er +nie Auskunft gab. Tibet war alles in allem, auch bei dem Grafen, und +niemandem begegnete dieser so höflich wie seinem Kammerdiener, wenn er +auch ihm gegenüber die Formen beiseite ließ. + +Unter den Offizieren, die im Clairefortschen Hause verkehrten, befand +sich ein Rittmeister mit Namen von Teut. Alle Welt war erstaunt, daß +dieser allem Familienverkehr abholde, nur seinem Dienst, dem +Pferdesport, der Jagd und starken Gelagen geneigte, keineswegs mehr +junge Mann das Haus des Grafen aufgesucht hatte. Ange war die +Veranlagung gewesen. Bei einem Diner, welches der Oberst gab, zwang sie +ihn, sich mit ihr zu beschäftigen, wies ihm scherzend nach, daß sie vom +Urgroßvater her ein wenig verwandt seien, und fesselte ihn in solchem +Maße, daß er beim Nachhausegehen gegen seine Umgebung in die Worte +ausbrach: „Schön wie eine Rose, klug wie ein Pferd, naiv wie ein Kind, +zudem eine Dame--ein vollendetes Geschöpf!“ + +Von Teut war ein seltsamer, unberechenbarer Mensch im Verkehr, aber nach +übereinstimmendem Urteil ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Sein +Reichtum erlaubte ihm die Ausübung der kostspieligsten Liebhabereien. Zu +diesen gehörten vor allem Jagd und Pferde. Und dieser Umstand genügte +allein schon, sich Ange Clairefort zu nähern. + +Oft schlug er eine Kleinigkeit ab, war unduldsam gegen seine Umgebung, +und dann, wenn ihn Laune oder Herzensdrang trieben, verschenkte er große +Summen. So hatte er einmal einem Kellner im Kasino, der sich +selbständig machen und heiraten wollte, ein nicht unbedeutendes Kapital +darlehensweise überlassen, und als der erste kleine Weltbürger erschien +und jener ihn als Pate einlud, sandte er ihm den quittierten +Schuldschein und schrieb darunter: + +„Axel von Teut sendet Axel Dorn diese Patengabe und hofft, daß er einst +ein braver Bürger und--kommt Zeit und Anlaß--auch ein treuer +Königssoldat sein wird.“ + +Als dies bekannt wurde, sah sich Teut mit Bittschriften überschüttet. Da +las man eines Tages in der Zeitung: + +„Fortan lasse ich alle Bitt- und Bettelbriefe uneröffnet zurückgehen. +Man spare sich die Mühe! Wer meint, ich säh's ihnen nicht an, irrt sich. +Eine solche Übung, wie ich sie habe, macht erfahren. + +Baron von Teut-Eder, + +Rittmeister und Eskadronschef.“ + + * * * * * + +Beim Oberst war eine große Fête angesagt. Ange begann auch heute mit +ihrer Toilette zu einer Zeit, in der andere Frauen bereits die +Handschuhe knöpfen und das Kopftuch um das Haar schlingen. Das kannte +Clairefort, seit ihm das schöne Fräulein von Butin das Jawort gegeben, +und das ertrug er mit jener Resignation, die entweder einer starken +Selbstbeherrschung entspringt oder die sich zuletzt in das +Unvermeidliche machtlos fügen muß. + +„Ange, bist Du bereit? Schon seit einer viertel Stunde wartet der +Wagen!“ rief der Rittmeister und klopfte ungeduldig an die Thür. + +„Gleich, gleich, bester Carlos!“ schmeichelte Ange zurück, huschte +freilich erst in diesem Augenblick aus ihrem Hauskleid und steckte, da +sie das unruhige Auf und Ab ihres erzürnten Tyrannen hörte, auf einen +Augenblick das Köpfchen durch die Öffnung, um ihn mit einem ihrer +bezaubernden Blicke zu beruhigen. + +Das Gemach, in welchem Ange ihre Toilette machte, glich bezüglich des +hastigen und bunten Durcheinander dem Ankleidegemach einer +Bühnenkünstlerin. Hier waren Schubladen geöffnet, in denen die +Gegenstände wild durcheinander geworfen waren, dort lagen auf Diwan und +Stühlen Ballkleider und Spitzenröcke. Wenige Minuten hatten hingereicht, +um hier und in die Garderobenschränke eine heillose Verwirrung zu +bringen. Aber immer war diese lebhafte, unruhige und der +Zeiteinteilungen spottende Frau in ihrer Erscheinung gleich reizend. Wo +war der Künstler, um diesen feingeschnittenen Kopf mit dem tief auf die +Schultern herabgefallenen Seidenhaar zu malen, diese zarte, in den +Formen vollendete Fülle, dieses entzückende Weiß des Nackens, der Arme, +der Hände, vornehmlich aber diesen wahrhaft bezaubernden Körperwuchs mit +seinen vornehmen Linien? + +Bei der Hast, mit der Ange selbst Hand an die Toilette legte oder ihre +Umgebung anwies, röteten sich ihre Wangen, die feinen Nasenflügel +vibrierten und ihre Kinderhände zupften, zerrten und knöpften an den +durchsichtigen, spitzenbesetzten Gewändern umher, als ob tausend +unruhige Funken aus ihren Fingern sprühten. + +Während ihr Haar geflochten ward, saß sie vor dem Trumeau, öffnete den +Mund, betrachtete mit kindlicher Neugier die untadelhaften Reihen ihrer +unter dem Rosarot hervorschimmernden Zähne und lachte in den Spiegel +hinein oder neigte mit leisem Aufschrei das Köpfchen vor dem +ungeschickten Strich des Kammes in dem widerspenstigen Haar. Und dabei +erschienen auch Füßchen, die einem Kinde anzugehören schienen und die +nun von der Jungfer mit seidenen Schuhen bekleidet wurden. + +Als Ange endlich auch in das kostbare pfirsichfarbene Kleid eingespannt +war, als sie durch das Zimmer schritt und die einer Königin würdige +Schleppe hinter ihr herrauschte, als endlich alle die Perlen und +Diamanten in ihrem Haar und an ihrer Brust, die blitzenden Agraffen an +dem Stoffe befestigt waren, sahen selbst die Dienerinnen mit einem Blick +der Bewunderung auf das Kunstwerk, das unter ihren Händen entstanden +war. + +„Sieht's gut aus? Sitzt die Taille?“ fragte Ange naiv, und ein +glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht, als jene lebhaft bestätigten, +was sie zu hören wünschte. + +„Ange, Ange!“ klopfte es nun abermals. „Die Uhr ist halb neun, und Du +bist noch nicht--“ + +„Ich bin fertig, lange fertig, Carlos! Ich warte ja auf Dich!“ rief sie, +blinzelte den Frauen bei ihrer unschuldigen Lüge lächelnd zu und öffnete +die Thür. + +Aber nun kamen noch die Kinder, die doch eigentlich im Bett liegen +sollten. Jorinde weinte und Ben stand mürrisch da. Allerlei Wünsche +wurden laut. + +„Gewiß, gewiß, sei ruhig, mein Liebling! Ja, ja, Carlitos!--Ah, mein +Riechfläschchen und der Fächer, Maria!--Wie, was? Ja, gleich!“ + +Sie eilte fort und suchte in irgend einer Schublade nach den Bonbons und +Leckereien, mit denen sie ihre ungeduldige Schar zu beruhigen pflegte. + +„Nehmen Sie die Schleppe, Rosa!--Ich komme ja, ich komme, Carlos, geh +nur voraus!“ + +Nun mußten die Kinder noch einmal umarmt und geküßt werden. Ein +Handschuhknopf war abgesprungen, auch eine Naht beim hastigen Anziehen +gerissen. „Schnell ein anderes Paar! Im Schubfach links! Fleischfarbene, +Maria, fleischfarbene! Hörst Du?“ + +Ange eilte hinab. „Endlich!“ sagte Carlos. „Vorwärts!“ + +Der Diener, die Hand am Hute, schlug den Wagen zu und schwang sich auf +den Bock. + +„Halt! halt--noch einen Augenblick!“ rief Ange und klopfte ungestüm an +die Scheiben. Die Jungfer kam atemlos mit den Handschuhen. „Zu Befehl, +Frau Gräfin!“ + +So, nun raste endlich der Wagen mit dem Grafen und Ange davon, und die +Dienerschaft wandte sich ins Haus zurück. Auf dem Flur, auf der Treppe +wehte noch der Duft ihrer Gewänder. In allen Zimmern brannten die +Kandelaber--überall die Spuren ihrer lebhaften Unruhe. Die Kinder +schmollten, daß sie nun, weniger rücksichtsvoll angehalten als vorher, +ins Bett getrieben wurden: und ins heiße, schwüle, von Parfüm erfüllte +Ankleidezimmer der Gebieterin, in dem ein halb Dutzend goldene und +silberne Leuchter entzündet waren, in welchem die geöffneten +Schmuckkästchen mit all ihren zurückgebliebenen Herrlichkeiten achtlos +umherstanden und in dem die Luft, die eine schöne, vornehme Frau +ausatmet, wie ein unsichtbarer Hauch die Gegenstände zu umhüllen +schien, traten die Frauen, um alles an seinen Platz zu bringen.-- + +Unwillkürlich verstummte das laute Gespräch in den Sälen, unwillkürlich +traten die Reihen der Gäste zurück und unwillkürlich mußten auch die +eifersüchtigsten Frauen emporblicken, als die Gräfin Ange von Clairefort +an der Seite ihres Mannes die Räume in dem Hause des Obersten betrat. Es +giebt Frauen, deren Erscheinung in der Gesellschaft wirkt, als ob +plötzlich ein Schwan mit lautem Flügelschlag vorüberrauscht. + +Ange war nach wenigen Minuten umgeben und umschwirrt von der halben +Gesellschaft. Nein, von der ganzen Gesellschaft! Denn diejenigen, die +sich ihr nicht näherten, fanden nur nicht den Mut, der schönen, +strahlenden Frau auszudrücken was sie bei ihrem Anblick empfanden. Immer +birgt die Gesellschaft Zaghafte; sie werden nie aussterben; sie bleiben +und gleichen Kindern, welche nur nach wiederholter Ermunterung ein +Händchen reichen. + +Ange hörte, daß man allein auf sie gewartet habe. Sie rief ein +bedauerndes „O! o!“ huschte zu der Frau des Obersten und stellte ihr +durch die bezaubernde Art ihrer Abbitte rasch die gesunkene +Gesellschaftslaune wieder her. Und da sie in der Zerstreuung den ersten +Tanz nicht vergeben hatte und dies zu ihrer freudigen Überraschung +bemerkte, schlüpfte sie durch die sich drängenden und sich +arrangierenden Paare bis zum Gastgeber und legte sanft den Arm in den +seinigen. + +„Gnädige Frau?!“ + +„Den ersten Tanz habe ich wohl ein dutzendmal abgeschlagen, Herr Oberst, +da ich ihn für Sie bestimmt hatte. O, ich bitte, kein Refus! Es ist ja +eine Polonaise.“ schmeichelte sie und zog den nur leise Widerstrebenden +mit sich fort. + +Selten mischte sich Ange in die Reihen der Tanzenden, ohne daß die +pausierenden Paare ihr zuschauten. Man mußte sie ansehen, denn eine +Grazie schien sich unter die Menschen gemischt zu haben. + +Nichts Anmutigeres konnte es geben, als sie einen Walzer tanzen zu +sehen, wenn das ihr eigene, halb verlegene, halb glückliche Lächeln über +die sanften Züge flog und sie das Köpfchen zur Seite neigte. Es lag in +dieser Zurückhaltung gleichsam eine Andeutung, daß sie sich zwar jeder +Laune ihres Tänzers füge, doch nur dem Zwange folgend, ihm erlaube, den +schlanken Leib zu umfassen. Sobald sie sich aber aus dem Arm ihres +Kavaliers gelöst hatte, verschwand diese fast mädchenhafte +Schüchternheit, und ihr lebhaftes Temperament riß sie wieder fort. Sie +schwatzte, lachte und zeigte ein schelmisches Gesicht, sie nickte und +hörte mit neugieriger Aufmerksamkeit zu. + +Beim Souper richteten sich abermals aller Augen auf Ange. Eine feine +Blässe war auf ihr Gesicht getreten. Der wunderbare Abstand der dunklen +Augen und Augenbrauen gegen das Goldblond ihres Seidenhaares wirkte +neben dem mattseidenen, an dem Ausschnitt mit echten weißen Spitzen +besetzten Kleide so überraschend schön, daß man den Blick nicht von ihr +zu wenden vermochte. Und dabei funkelten und blitzten die Steine an Hals +und Ohren, und oft zitterte ein wahrer Sprühregen aus den Diamanten, mit +denen ihr Haupt geschmückt war. + +Die Menschen fühlten sich geehrt und beglückt, wenn Ange sie mit ihren +treublickenden Augen ansah, und ihre Bescheidenheit machte es unmöglich, +daß häßliche Regungen der Mißgunst neben ihr emporstiegen. + +Nach Aufhebung der Tafel, nachdem der Champagner Ange ganz in ein +fröhliches, nur von der Lust beherrschtes Kind verwandelt hatte, als die +ersten Takte eines stürmischen Galopps vom Saale herüberklangen, hielt +es sie nicht mehr neben dem Gastgeber, und mit einem seine Verzeihung +einholenden Blick entschlüpfte sie, um einem jüngeren Kavalier zu +folgen. + +Einmal riß eine Perlenschnur, und die kostbaren Schätze rollten unter +die Tanzenden. Ein kleines Vermögen stand auf dem Spiel, Ange jedoch +lachte und nahm mit entschuldigendem Dank entgegen, was eifrig Suchende +gefunden hatten und ihr überreichten. + +Wiederholt drängte der Rittmeister zum Aufbruch. Aber die Offiziere +umstürmten die reizende Frau, und sie bat wie ein junges Mädchen, das +zum erstenmal den Ball besucht, um Aufschub. Während sie davoneilte, +guckte sie ihn über ihre Schulter an und holte sich durch bittende +Blicke sein nachträgliches Jawort ein. + +Und als sie endlich zurückkehrte und er, die zerrissenen Spitzen der +Schleppe betrachtend, kopfschüttelnd dreinschaute, streifte sie rasch zu +seiner Beruhigung die Handschuhe ab, lehnte sich mit einem: „Nicht +schelten! Gut sein! Carlitos, bitte!“ an ihn und bettelte so lange, bis +er ihr noch die kleine Abkühlungspause zugestand. + +Von der Bewegung beim Tanzen war ihr Haar ein wenig gelockert und ein +feines Strähnchen auf die Stirn gefallen, auch einige prachtvolle Rosen, +die an ihrer Brust saßen und einen blitzenden Diamant umschlossen, +hatten sich entblättert. Ihr Atem glühte, ihre Brust hob und senkte sich +unter der zarten Seide, und während der Fächer in heftiger Bewegung +war, neigte sie den Körper mit jener elastischen Biegsamkeit, die +Frauen so verführerisch macht. + +„Nein, komm, komm, Ange.“ drängte Carlos, von ihrer Schönheit +hingerissen und nur von dem einzigen Gedanken beherrscht, sie den +zudringlichen Blicken ihrer Bewunderer zu entreißen. Sein Auge ruhte mit +einem eifersüchtig verlangenden Ausdruck auf ihr, und sie erwiderte +seinen Blick mit jenen träumerischen Augen, mit denen sie ihm einst ihre +Liebe verraten hatte. + +„Ach, es war himmlisch! Ich habe mich prachtvoll amüsiert! Schade, daß +es schon vorüber ist!“ seufzte die junge Frau, als sie, nach Hause +zurückgekehrt, sich in sanfter Erschöpfung in einen Sessel zurücklehnte. +„Aber Du, Armer, hast Dich gelangweilt! Nicht so, Carlos?“ + +Sie sah ihn zärtlich an. Er schüttelte schwermütig das Haupt und sagte: + +„Nicht doch, Ange!“ Und nach einer Weile flüsterte er leise: „Hast Du +mich noch lieb, Ange?“ + +Da stand sie auf und flog ihm an den Hals. + + * * * * * + +Acht Monate waren vergangen. Teut war ein täglicher Gast im +Clairefortschen Hause geworden, verkehrte mit Frau Ange und der Familie, +als ob er sie von Kindesbeinen an kenne, und schien überhaupt von +Claireforts fortan unzertrennlich. Dieser engere Verkehr führte mit +sich, daß er bald in alle Verhältnisse eingeweiht wurde, und daß man +ihn, da er neben seiner Einsicht eine entschiedene Art an den Tag legte, +auch häufig um Rat fragte. Aber er nahm sich in seiner ehrlichen und +derben Weise auch die Erlaubnis, zu tadeln. + +„Schlecht, mordschlecht erziehen Sie die kleine Gesellschaft!“ rief er +Ange kopfschüttelnd zu, wenn die Kinderschar--ungezogen und +trotzköpfig--ihren Höllenlärm anstimmte, die Möbel mit Stöcken und +Peitschen bearbeitete und gar auf dem Teppich des Wohnzimmers mit Sand +wirtschaftete. Die Dienerschaft war machtlos, denn sie fand keine +Unterstützung bei der Gräfin. Entweder erließ sie Verbote, deren +Zurücknahme sie sich im nächsten Moment wieder abbetteln ließ, oder sie +tröstete Jorinde und Erna, wenn diese von der Gouvernante eine Strafe +erhalten hatten. + +Nun war eben das Mobiliar--ein Gemach nach dem anderen--neu aufgeputzt, +zum Teil mit kostbaren Stoffen überzogen, alles mit einem wahrhaft +verschwenderischen Luxus hergestellt worden, und schon zeigten sich +deutliche Spuren von übermütigen Gewaltthätigkeiten. Der Graf war +mehrmals in einen heftigen Zorn ausgebrochen, hatte Ange ihren Mangel an +Ordnungsliebe und ihre grenzenlose Schwäche gegen die Kinder in den +härtesten Worten vorgeworfen. Hin und wieder rief er den schnell +liebgewonnenen Freund und Vertrauten zum Zeugen an, wie unvernünftig, +wie unverständig seine Frau sei und wie ihn ihre Eigenschaften mit den +Rückwirkungen auf die Kleinen zum Tadel reizen müßten. + +Einmal brach es ungestüm aus ihm heraus, als Teut seine Bewunderung über +Ange ausdrückte. „Ja, Freund,“ rief er, „Sie sind nicht mit ihr +verheiratet! Sie erfreuen sich an dem Guten, das sie Ihnen +entgegenträgt, und schütteln das Unbequeme leicht ab, um so leichter, +als Sie nur indirekt davon berührt werden! Ich aber lebe täglich, +stündlich mit ihr, ich kämpfe seit Jahren gegen ihre Schwächen ohne +Erfolg und habe doch für alles die Verantwortung zu tragen! Ange würde +jedes Jahr eine Million verschenken, wenn sie dieselbe zur Verfügung +hätte, und eine ganze Weltordnung in Verwirrung bringen, wenn sie über +den Wolken herrschte! Jeder ruft mir entgegen: Welch ein reizvolles +Geschöpf! und jeden Tag werde auch ich entwaffnet durch den Zauber +ihrer Liebenswürdigkeit. Aber sie bringt vermöge ihrer untilgbaren, +durch eine grenzenlos verkehrte Erziehung hervorgerufenen Fehler den +ruhigsten, besonnensten und geduldigsten Mann zur Verzweiflung. Die +größten und besten Eigenschaften eines Menschen verwandeln sich in das +Gegenteil, wenn ihnen das Maß fehlt. Sanftmut und Liebenswürdigkeit +sinken zur Charakterlosigkeit herab, Herzensgüte wird Thorheit, Geist +und Verstand streifen an Insanie und je schöner die Hülle, desto größer +der Schmerz, daß sich unter so vollendeten Formen ein so ungeordneter +Geist verbirgt.“ + +„Sie übertreiben, Clairefort!“ rief Teut warm. „Ihre Frau ist ein Engel! +Ihre Fehler sind nicht so schlimmer Art; ja, ich behaupte, sie sind auch +Tugenden! Weint sie nicht wie ein Kind, wenn man ihr vom Unglück +berichtet, möchte sie nicht stets helfen? Hilft sie nicht? Ist sie nicht +rührend besorgt um ihre Kinder und sitzt sie nicht wie jüngst, als +Carlitos krank war, Tag und Nacht an ihrem Bett? Ist sie nicht stets +liebevoll gegen Sie, Clairefort, sieht sie nicht zu Ihnen empor wie zu +einem Höhergearteten und nimmt jeden Tadel, jedes Scheltwort ohne Murren +entgegen? Ist sie nicht ohne Beispiel selbstlos? Verlangt sie je etwas +für sich? Ist es nicht nur immer der Gedanke an andere, der ihre +Entschlüsse bestimmt? Sah man je ein so glückliches Gemisch von +natürlichem Verstand und Herzensgüte?--Ja, sie ist sorglos, kannte nie +eine Einschränkung, weiß nichts von materiellen Sorgen, giebt mit vollen +Händen, oft vielleicht unverständig--“ + +Hier unterbrach Clairefort den Sprechenden, und indem er ihn mit einem +Blick anschaute, durch den man eine vertrauensvolle Äußerung einzuleiten +und sich Verschwiegenheit zu sichern pflegt, sagte er: + +„Nein, nein! Immer, immer unverständig! Maßlos, Freund! Ihre +Verschwendung ist grenzenlos. Wie soll das überhaupt werden? Unter uns: +Wenn das meine Frau noch einige Jahre so forttreibt, bin ich ruiniert. +Schon lange war ich gezwungen, mein Kapital anzugreifen.“ + +Teut schwieg. Was er hörte, überraschte und beunruhigte ihn aufs +höchste. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, weshalb der +Mann, wenn die Dinge so lagen, sein Hauswesen, seine Geselligkeit nicht +einschränke, die zahllose, meist überflüssige Dienerschaft nicht +entlasse und Ange, die ihrer Eigenart nach auch in einfacheren +Verhältnissen zufrieden leben würde, die Gelegenheit nähme, so thöricht +zu wirtschaften. Aber er fand sich doch nicht berechtigt, dergleichen +auszusprechen, und während seines Schwankens kam ihm Clairefort zuvor: + +„Ich weiß, was Sie mir erwidern werden, Teut,“ hob er, unter der +Bestätigung seiner Gedanken wiederholt das Haupt bewegend, an. „Sie +meinen, ich sei nicht minder schuld als Ange. Wir könnten uns anders +einrichten und dadurch Einnahmen und Ausgaben in das richtige +Gleichgewicht bringen. Auch Tibet drängt mich seit Jahr und Tag, aber +dann--dann--“ + +Er hielt inne. Ein ängstlich unschlüssiger Ausdruck trat in seine +Mienen, und nur mit Überwindung lösten sich die Worte aus seinem Munde: + +„Sehen Sie! Es wird Ihnen rätselhaft erscheinen,“ fuhr er endlich +abgerissen und in Pausen sprechend, fort. „Ich liebe meine Frau +grenzenlos. Ich fürchte dann--ich fürchte--daß sie sich mir entfremden +könnte. Eine unbeschreibliche Angst überfällt mich, ich könnte ihre +Liebe einmal verlieren--durch einen Wandel der Verhältnisse. Ich sinne +selbst ratlos darüber nach, was in meiner Seele vorgeht. Tausend +Gedanken bestürmen mich. Oft habe ich schon gedacht: Wenn sie doch +einmal das Leben so liebt--ich möchte es ihr erhalten--ihre Fröhlichkeit +ist doch lauter Sonnenschein;--und dann--dann--möchte ich, daß sie der +Himmel früh zu sich nähme, damit sie Sorge und Kummer nie kennen lernt. +Aber kann man eines geliebten Menschen Tod wünschen? Das ist doch +unfaßbar. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich möchte ändern und +vermag es nicht--vermag es durchaus nicht. Die Schwächen, die meiner +Liebe entspringen, sind größer als meine bessere Einsicht.“ + +Teut saß stumm und schaute vor sich nieder, denn neben ihm seufzte der +Mann in tiefer Bewegung auf.--Welch ein Einblick in das Seelenleben +eines Menschen. Voll Klarheit, ja voll Ungeduld und Tadel über +unhaltbare Zustände, und doch aus eifersüchtiger angstvoller Liebe zu +schwach, um beizeiten ein zweifellos hereinbrechendes Unglück von sich, +seinem Weibe und seinen Kindern abzuwenden?! + +Einmal zuckte Teut unbehaglich zusammen, denn plötzlich stieg die +Zukunft vor ihm auf. Die unabweisbaren Folgen solcher Verhältnisse +traten unheimlich vor seine Seele. Vielleicht war ihm in dem +Clairefortschen Hause eine große, undankbare Aufgabe beschieden, und +jene Selbstliebe, die Unbequemes von sich stößt und nur unbehelligt +genießen will, behielt die Oberhand. Was scherten ihn am Ende die +fremden Menschen, dieser Mann mit seiner Unschlüssigkeit, seiner +Melancholie und seinem ehelichen Unbehagen, diese in den Tag lebende +Frau mit ihrer Unerfahrenheit und ihrem sorglosen Lebenswandel? + +Aber das war nur eine schnell vorübergehende Regung. Er sprang auf, +faßte Claireforts Hand und sagte: + +„Und trotz alledem muß geschehen, was Sie für Recht erkennen, lieber +Clairefort! Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, soweit es in meinen Kräften +steht. Soll ich einmal mit Frau Ange reden?“ + +Bei diesem Anerbieten bohrte sich ein eigentümlicher Blick aus den Augen +des Grafen auf den Sprechenden. Aber zum Glück bemerkte Teut ihn nicht, +und als die Männer nach längerer Auseinandersetzung schieden, ging jener +unter dem Eindruck, daß Clairefort, selbst machtlos zum Handeln, die +dargebotene Hand aufs dankbarste ergriffen habe. + +Wohlan denn! Teut war beiden näher getreten als kaum anderen Menschen je +zuvor; er liebte Ange und die Kinder, die deshalb ein Recht auf ihn +gewonnen hatten. Er wollte handeln--handeln wie ein Mann, aber auch wie +ein kluger, besonnener Mann! + + * * * * * + +Seit Stunden ging Teut in seinem Zimmer auf und ab. Immer neue Gedanken +durchkreuzten sein Gehirn. Oft warf er sich in einen Stuhl, schlug nach +seiner Gewohnheit, wenn ihn etwas erregte, heftig mit den Hacken seiner +Reitstiefel aneinander und strich lebhaft seinen langen, blonden +Schnurrbart. Die Backenknochen seines stark markierten, mageren +Gesichtes traten scharf hervor, und fortwährend ließ er das Glas, das in +seinem linken Auge steckte, fallen, um es im nächsten Augenblick wieder +an seinen Platz zu schieben. Wenn dies, der neueren Zeit angehörende +Monocle nicht sein Gesicht verunziert, und wenn er nicht den Husarenrock +getragen hätte, würde man geglaubt haben, einen Ritter früherer Zeiten +vor sich zu sehen. Diese hohe, wettergebräunte und schon etwas stark +gefurchte Stirn, diese blitzenden, unheimlich kühnen Augen, dieser +sarkastische Mund und dieser halbschlanke, große, starke, geschmeidige +Körper erinnerten an die Gestalt eines Recken vergangener Jahrhunderte. + +„Der Teufel werde klug aus der Geschichte!“ murmelte er, endlich sein +Sinnen unterbrechend, griff in eine Kiste mit schweren Cigarren, +entzündete eine, verschluckte den Rauch und stieß ihn in einer mächtigen +Säule wieder von sich. + +In diesem Augenblick öffnete sein Diener Jamp die Thür und überreichte +die Rechnung eines Blumenhändlers in Höhe von einigen hundert Thalern. +Es war der aufgesummte Betrag für die frischblühenden Bouquets, welche +Ange ausnahmslos jeden Tag in ihren Zimmern fand. Teut prüfte, zog das +Schubfach und fügte der Zahlung ein reichliches Trinkgeld bei. Nun +schloß sich wieder die Thür und nun waren auch Teuts Gedanken wieder bei +Ange. Er rief sich die letzte Unterredung mit Clairefort ins Gedächtnis +zurück und alles das, was vorhergegangen war. Oft erschien ihm wie ein +Traum, was er in den letzten zehn Monaten erlebt, vornehmlich das, was +er an sich selbst erfahren hatte. + +Als jüngerer Offizier, kurz bevor ihm das Vermögen seines Vaters und +seiner Geschwister zugefallen war, hatte er um ein junges Mädchen aus +bürgerlichem Stande geworben und seine Heiratspläne unter Umständen +aufgeben müssen, die ihm das weibliche Geschlecht verächtlich gemacht +hatten. Er sah fortan in den Frauen nur ein Spielzeug, fast weniger als +das. + +Nun war er Ange Clairefort begegnet und liebte sie nach acht Tagen mit +einer brennenden Leidenschaft. + +Wenige Tage nach dem erwähnten Gespräch ritt er mit Ange aus. Es war ein +wundervoller Herbsttag, einer jener Tage, an denen Frühling und Sommer +noch einmal auf die verlangende Erde zurückzueilen und alle ihre +Schönheit reifer und gemilderter zugleich über die Welt auszuströmen +scheinen. + +Die Sonne funkelte in den Bäumen, verwandelte mattes Gelb in glänzendes +Gold und braune Blätter in goldkupfernes Metall. Die ganze Natur +durchströmte sie mit einer durchsichtigen Helle, mit einer Klarheit, als +sei jedes unreine Stäubchen von erfrischenden Lüften fortgeweht, und als +seien diese selbst herabgestiegen aus kühlen, stillen Himmelshöhen. + +Teut war kein Mensch, der sich jemals in Gefühlsäußerungen erging. Er +empfand alles Schöne und Gute, aber es lag nicht in seiner Natur oder es +fehlte ihm der Drang, seine Empfindungen in Worte zu übersetzen. + +Anders Ange. Die sanften Farben auf ihren Wangen glühten, sie sog die +Luft ein, hielt das seit einer Viertelstunde rasch dahintrabende Pferd +an und warf einen fragenden Blick auf ihren Begleiter. Sie hatten, +seitdem sie das Haus verlassen, kein Wort gewechselt. Niemals war Teut +so stumm gewesen wie heute. + +„Drüben!“ sagte er und zeigte auf ein kleines unter den Bäumen +verstecktes Häuschen. Er hielt nicht, wie Ange, sein Pferd an. + +„Weiterreiten?“ fragte sie, als ob sie ihn nicht verstanden. Sie ärgerte +sich über seine formlose Art, die sie ihm schon häufig im stillen +vorgeworfen hatte. Teut nickte, ohne etwas hinzuzufügen. + +So erreichten sie beide--Ange in einer etwas unbehaglichen Stimmung--das +Wirtshaus. Ehe der Stallknecht herbeieilen konnte, war Teut +herabgesprungen und hatte Ange vom Pferde gehoben. Es war, als ob +Christophorus das Jesukindlein über den Fluß tragen wolle. Wie ein +zartes Püppchen lag sie ihm im Arm, und wie ein Riese setzte er sie +nieder. + +„Drüben ist eine herrliche Aussicht. Wollen wir gehen?“ fragte er artig +und reichte ihr den Arm. + +Aber sie dankte, schürzte das Reitkleid und schritt neben ihm durch +einen linksseitig einbiegenden, mit Bäumen besetzten Weg. Nach wenigen +Augenblicken berührten sie eine Kirche und einen Gottesacker. Es sah +recht verwildert dort aus. Aus der zerbrochenen eisernen Einfriedigung +hingen Schlingpflanzen in den Farben des Herbstes, und Unkraut wucherte +auf den Gräbern. Dann stiegen sie eine leichte Anhöhe empor und +schritten auf einen Eichenwald zu. Kleines, kurzes Gebüsch drängte sich +über den Fußpfad, es ging unregelmäßig bergauf, bergab. + +Endlich umfing sie der Herbstwald und die Kühle. Hier glänzte es hell +durch die Bäume; lange, wundervolle Lichtstreifen lagen auf dem grünen +Erdboden. Dort flimmerte es im dichteren Gebüsch, als ob kleine +versteckte Sonnen vergeblich hervorzubrechen versuchten, und einmal, bei +einem Durchblick zur Rechten, schauten sie in einen verlassenen, +gänzlich abgeschlossenen, mit Gras dicht bewachsenen Feldweg, auf dem +die Einsamkeit einen märchenhaften Schlaf zu träumen schien. Aber sie +schritten weiter, erreichten endlich eine Bank auf einer von +blätterreichen Eichen umstandenen Anhöhe, und sahen nun meilenweit ins +Land. + +Es ging ein sanftes Jubilieren durch die blaue, durchsichtige Luft. Die +letzten Vögel zwitscherten, und riesige Lichtströme warf die Sonne über +Wiesen, Felder und ferne Wälder. Hier und dort glitzerten Streifen eines +in malerischen Windungen auftauchenden Flusses zwischen den sanft +dahingestreckten Matten, als ob plötzlich die Erde ausgebrochen sei und +flüssiges Silber seine Bahn suche. + +Ange ward gedrängt, ihrem Entzücken Ausdruck zu geben, aber ihr +Begleiter war scheinbar noch ebenso mißmutig wie vorher. + +„In welch schlechter Laune haben Sie mich heute begleitet?“ hob sie an +und richtete ihren lebhaften Blick auf sein unbewegliches Gesicht. + +„Nein!“ erwiderte er. „Aber ich habe einiges auf dem Herzen, und +hier“--er lud sie zum Sitzen ein--„will ich Ihnen einmal sagen, wozu +bisher stets der rechte Augenblick gefehlt hat.“ + +Die feine Röte auf Anges Gesicht wich einer leichten Blässe. Ein halb +zaghafter, halb ungeduldiger Ausdruck stahl sich in ihre Mienen, und +sie faßte die Reitgerte fester. Aber sie überwand sich und sagte +ungezwungen: + +„Wohlan, setzen wir uns und erzählen Sie mir etwas. Aber nichts, nichts +Unangenehmes heute, lieber Teut. Ein andermal. Ich bin fröhlich; weshalb +mir das nehmen? O, ich bin glücklich hier in dieser schönen Welt. +Bitte!“ + +Teut zuckte zusammen. Immer, wenn sie in diesem zärtlichen und bittenden +Tone sprach, zögerte er, ihr auch nur durch tadelnden Blick eine +Verstimmung zu bereiten. Wieviel besser verstand er jetzt Claireforts +Zaudern als ehedem! Dieses unschuldsvolle Kind mit seiner sorglosen +Fröhlichkeit und seiner Freude am Leben erschien ihm wie ein eben aus +der Hand des Schöpfers hervorgegangenes Kunstwerk. Und diesen reinen +Spiegel sollte er trüben, gar zersplittern? Aber einmal mußte es doch +geschehen. Er strich wiederholt den Schnurrbart und sagte endlich: + +„Liebe Frau Ange! Hören Sie zu. Ich bitte Sie bei unserer Freundschaft +darum.“ + +Etwas ganz Besonderes mußte es doch sein. In Anges Gesicht trat ein +hilfloser Ausdruck, und ein eigener Glanz schimmerte in ihren sanften +Augen. + +„Ich höre!“ sagte sie leise und legte die Hände ineinander. + +„Sehen Sie, liebe Ange--Darf ich Sie so nennen?“ Er wandte sich zu ihr, +sah sie fragend an und über sein edles, männliches Gesicht flog ein +hinreißender Zug von Herzensgüte. Und sie nickte mit einer Miene und +bejahte mit einem Blicke, als ob sie ein Engel sei, der einem Sünder +Gottes Verzeihung überbringe. + +„Wir kennen uns nun schon fast ein Jahr. Durch Sie hat sich mein Leben +fast ganz verändert. Ich hatte bereits von allem Abschied genommen, was +Haus und Familie heißt, und mich in die Rolle eines alten Junggesellen +hineingefunden. Meine dienstliche Beschäftigung, der Umgang mit den +Kameraden, die Befriedigung allerlei berechtigter und unberechtigter +Passionen, nach Umständen einmal ein Stück ungehinderter Freiheit--ich +könnte ja ganz ein freier Mann sein und meinen Neigungen leben, aber ich +fühle Pflichten in mir gegen mein Vaterland und meinen König--genügte +mir. Da sah ich Sie, Ange; und weshalb sollte ich es verhehlen--ich +liebte Sie bei unserer ersten Begegnung und werde Sie lieben, solange +ein Atem in mir ist.“ + +Er sah sie nicht an, während er sprach. + +Wenn er emporgeschaut hätte, würde er bemerkt haben, daß sie wie +träumend ins Land und in die Ferne schaute; aber er würde auch in ihrem +Angesicht gelesen haben, wie sie alle seine Worte verschlang und wie +die letzten sie erbeben machten. + +Ein feuchter Glanz verdunkelte auf Augenblicke ihre Augensterne, und +versteckt strichen ihre kleinen Finger über die Wimpern. + +„Aber weil ich Ihnen so gut bin--Sie wie ein Bruder und Freund liebe,“ +fuhr Teut fort, „muß ich Ihnen etwas sagen, was Ihr Glück betrifft.“ Und +nun sprach er in langer Rede auf sie ein. Er tadelte und tröstete, er +forderte und flehte. Er teilte ihr Carlos' Worte an jenem Tage mit, +klärte sie über ihre Verhältnisse auf und ließ das Bild einer düsteren, +vielleicht durch ihre Handlungsweise heraufbeschworenen Zukunft vor ihr +Auge treten. Atemlos horchte sie auf und erbebte. Welch drohende, +vernichtende Wolken hingen über ihrem ahnungslosen Haupt! Nachdem er +geendet, saß sie lange stumm und sprach kein Wort. Aber als dann aus +seinem Munde ihr Name drang: „Liebe Ange, liebe Freundin, zürnen Sie +mir?“ da überwältigte sie ihr Gefühl und sie neigte das Haupt und +schluchzte. + +Er wagte es: er strich sanft über ihr Haar; er that, als ob er nichts +anderes fühle als Mitleid, nichts anderes geben wolle als Trost, und +doch bedurfte er seiner ganzen Kraft, um sie nicht in dem Ausbruch +unterdrückter Leidenschaft ans Herz zu ziehen. + + * * * * * + +Am nächsten Tage nach diesem Ausflug traten Clairefort und Teut nach +Tisch--es waren heute ausnahmsweise nur drei Gedecke, da die Kinder +früher speisten--in des ersteren Gemach. + +Clairefort schien düsterer als je, es war während der Tafel, bei welcher +Tibet mit seinem geräuschlosen Schritt bedient hatte, fast keine Silbe +über seine Lippen gekommen, und Ange--noch unter dem Eindruck der +jüngsten Unterredung--verhielt sich ebenso einsilbig. + +In dem matt erleuchteten, dunkel tapezierten Zimmer kam es Teut heute +fast unheimlich vor. Seltsam schaute der Marmorkopf einer Venus aus dem +Dunkel hervor, und düster starrten ihm die Arabesken aus dem Teppich +entgegen, der den Fußboden bedeckte. + +Eine Weile saßen beide Männer rauchend und ohne zu reden, nebeneinander. +Jedem lagen Worte auf der Zunge, keiner wollte zuerst sprechen. Endlich +sagte Clairefort tonlos: + +„Sie haben gestern mit Ange gesprochen, Teut?“ + +Der Angeredete nickte, ohne etwas zu erwidern. + +Clairefort wiederholte nun seine Frage. + +„Ja,“ sagte Teut, „ich habe mit Ihrer Frau geredet.“ + +„Was sagte sie, bitte?“ + +Ohne auf diese Frage unmittelbar zu antworten, entgegnete Teut: „Hat +sie Ihnen keine Mitteilung gemacht?“ + +„Nun--ja und nein! Sie sprach sehr unzusammenhängend. Sie hing sich an +meinen Hals, weinte und rief: ‚Ich will mich bessern, Carlos!‘ Ich +vermutete, daß diese Äußerung aus dem Gespräch mit Ihnen hervorgegangen +sei. Gesagt hat mir Ange nichts.“ + +Teut horchte auf.--Wie rührend! Welch eine liebenswürdige Reue lag in +diesen paar Worten! + +„Gut! Warten wir also ab, Clairefort!“ + +„Ja--“ sagte dieser gedehnt und offenbar unbefriedigt. + +Jetzt sah Teut Clairefort versteckt ins Auge. Ein verdrossener, nervöser +Zug lag auf seinem Gesicht. Plötzlich stieg in Teut ein beunruhigender +Gedanke auf. War Clairefort eifersüchtig? Was stand ihm und Ange bevor, +wenn seine Vermutung sich betätigte? Und zugleich überfiel ihn ein +gefährlicher Drang, diesen Verdacht zu lösen und zu bekämpfen. Er wollte +Vertrauen, er wollte für Freundschaft und Hingebung nicht Mißtrauen, +Verstimmung--vielleicht weit Schlimmeres noch. + +„Clairefort--!“ hob er durch die peinvolle Stille an. „Clairefort, ich +bin Ihr Freund! Sie hatten wohl nie einen aufrichtigeren Freund! +Glauben Sie das?“ + +Clairefort erhob den Blick und sah Teut verlegen an. + +„Ja, lieber Teut! Weshalb fragen, weshalb--beteuern Sie?“ + +Der letzte Satz kam zögernd hervor. Die Worte verfehlten auch ihre +Wirkung nicht, denn Teut sagte abweisend: + +„Ich beteuerte nichts! Ich wollte Ihnen nur einmal, ein einziges Mal, +nachdem Sie mir ein Vertrauen schenkten, das man höchstens etwa seinem +Bruder in ähnlichen Verhältnissen zuwendet, sagen, daß Sie--was immer +sich ereignen könnte--darauf rechnen dürfen, daß ich Ihr wirklicher +Freund bin und stets als ein solcher handeln werde. Verstehen wir uns +jetzt?“ + +„Ja,“ nickte Clairefort; er schien aber keineswegs überzeugt. + +Teut sprang auf. Er trat auf Clairefort zu und faßte seine Hand. „Armer +Clairefort,“ sagte er. „Ich bedauere Sie aus tiefster Seele, um so mehr, +weil ich verstehen kann, was Sie bedrängt. Aber niemals begegnete ein +Mensch einem anderen mit ungerechterem Mißtrauen. Und nun noch einen +Rat, bevor wir heute scheiden. Erleichtern Sie Ihrer Frau die +Entschlüsse. Handeln Sie, Clairefort, und seien Sie dabei ein Mann und +ein wohlwollender Freund zugleich. Verstehen Sie?“ + +Clairefort antwortete nichts. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner +Brust. Teut wandte sich zur Thür. Als er eben das Zimmer verlassen +wollte, erhob sich ersterer rasch, berührte Teuts Schulter und sagte +leise: + +„Verzeihung, Teut! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“ + +Die Erinnerung an diesen Vorfall beschäftigte Teuts Gedanken. Aber doch +begriff er eins nicht, und deshalb grübelte er hin und her. + +Ange hatte ihm erklärt, die Sorgen ihres Mannes seien sicher +ungerechtfertigte. Schon seine Mutter habe unter dem Wahne gelebt, sie +könne nicht auskommen und sei doch im Besitz eines ungewöhnlich großen +Vermögens gewesen. Dies wäre eine Krankheit aller Claireforts. Es sei +ungenau, behauptete sie, daß die Zinsen nicht genügten, um alle Ausgaben +zu bestreiten. Sie glaube im Gegenteil zu wissen, daß Tibet +vierteljährliche Überschüsse, von denen ganze Familien bequem würden +leben können, zum Banquier trage. Auch habe sie selbst ein völlig +unberührtes, nach ihrem Tode den Kindern zufallendes Vermögen, das +ausreiche, eine Familie mit größeren Ansprüchen zu befriedigen. +Trotzdem gebe sie aber zu, daß ihr Aufwand ein großer sei, daß sie +vieles verschwende, und daß es verständig sei, alles einschränken. + +Sie bat Teut, da ihr Mann Geldverhältnisse, wer weiß aus welchen +Gründen, niemals gegen sie berühre, ihn auszuforschen und ihr zu +berichten. Sie könne, fügte sie hinzu, auch Tibet fragen, aber dieser +sei in solchem Punkte stets verschlossen. Zudem erachte sie es als nicht +angemessen, einen Untergebenen zwischen sich und ihren Gemahl zu +stellen. + +Bei der nächsten Begegnung zwischen Clairefort und Teut nahm sich +letzterer vor, diesen Punkt schon deshalb durch eine Frage aufzuklären, +weil alle Maßnahmen danach zu treffen waren. Falls Clairefort die +Wahrheit gesprochen, mußte Teut, um nicht auf halbem Wege stehen zu +bleiben, auf sofortige Einschränkungen dringen, und diese konnten doch, +wie die Dinge lagen, nur von Ange ausgehen. + +An einem der nächsten Tage, an welchem Clairefort Teut in der alten +herzlichen Weise begegnete, knüpfte letzterer an diesen Zwischenfall an +und sagte: + +„Sie haben mich, Clairefort, in Ihre intimsten Verhältnisse eingeweiht. +Ich habe nicht nach den Gründen gefragt. Entweder war es die Folge jenes +natürlichen Dranges, der uns in schweren Nöten zur Mitteilung treibt, +oder Sie erkannten Ihre Machtlosigkeit und fühlten das Bedürfnis, sich +einer Freundeshilfe zu bedienen. Gleichviel! Sie schenkten mir Ihr +Vertrauen, und ich gab Ihnen mein Wort, dieses nach bestem Vermögen zu +rechtfertigen. Unter solchen Umständen ist nun aber völlige Offenheit +eine unbedingte Notwendigkeit.“ + +In Claireforts Augen blitzte es bei dieser Anrede auf. Eine seltsame +Spannung malte sich in seinen Zügen; offenbar mißdeutete oder +überschätzte er den Sinn der Worte. Teut verstand nicht, was Clairefort +beunruhigte, aber um so mehr beeilte er sich, fortzufahren: + +„Eines ist noch der Aufklärung bedürftig,“ sagte er in gelassenem Tone, +„und ich bitte meine Frage nicht als eine ungerechtfertigte Einmischung +zu betrachten. Ange behauptet, daß Sie nur eine übertriebene Sorge +beherrsche, daß Ihre und ihre eigenen Renten so groß seien, daß jährlich +erhebliche Überschüsse aus den Zinsen zurückgelegt werden könnten.“ + +„Nun,“ rief Clairefort, offenbar erleichtert, aber immerhin erregt, und +in dieser Erregung nur den letzten Äußerungen Teuts Gehör schenkend, +„ich denke, daß wir keine Kinder sind! Es ist, wie ich Ihnen sagte. Mein +Ehrenwort darauf,--das ich indes nur erhärtend hinzufüge, weil die +Behauptung meiner Frau der meinigen gegenübersteht. Durch den Sturz +eines Bankhauses habe ich große Summen verloren, wodurch mein Vermögen +ganz außerordentlich zusammengeschmolzen ist. Das weiß auch Ange, denke +ich--“ + +„Nein! Sie weiß gar nichts! Aber gut,“ sagte Teut, „wenn dem so ist, +dann werde ich mit Ihrer Erlaubnis handeln!“ + + * * * * * + +Kurze Zeit darauf hatte Teut Gelegenheit, noch einmal mit Ange zu +sprechen. Ein Vorfall, der nur allzu bezeichnend für sie war, gab dazu +Veranlassung. Er trat am Spätnachmittag ins Haus und fand sie bei der +Besichtigung eines seidenen Kleides, das sie gerade der Jungfer mit den +Worten zurückgab: „Nein, auch das geht nicht. Ich werde mir dann für das +Fest ein neues machen lassen und heute noch ausfahren, um den Stoff +auszusuchen.“ + +„Ich störe wohl, Frau Gräfin--“ hob Teut, rücksichtsvoll ins Zimmer +tretend, an. + +Sie schüttelte ihren Kinderkopf, raffte errötend und verlegen allerlei +auf den Stühlen umherliegende Garderobengegenstände auf, schob sie der +Kammerjungfer über den Arm und hieß sie und Erna, welche eben, die Thür +sperrweit offen lassend, ins Zimmer gestürmt kam, gehen. + +„Nein, halt! Warten Sie, Charlotte!“ unterbrach sie aber doch ihren +Befehl. „Der Herr Rittmeister mag entscheiden.“ + +Die Jungfer that, wie ihr gesagt wurde. Sie legte die Kleider auf einen +Stuhl und suchte unter den überreichen Ballroben eine hervor, die sie +ihrer ungeduldig wartenden Herrin überreichte. + +„Ich verstehe von Kleidern gar nichts,“ sagte Teut schroff. Es störte +ihn, daß Ange in Gegenwart der Zofe mit ihm dergleichen Dinge besprechen +wollte. + +Ange sah ihn mißmutig an, wollte etwas erwidern, unterdrückte aber die +Entgegnung. + +Inzwischen nahm Erna eines der Kleider an sich, fuhr mit den Armen +hinein, schob die Schleppe mit den Füßen ungeschickt hin und her, so daß +sie diese mit den bestäubten Schuhen berührte, und rief endlich laut: +„Mama, Mama, sieh einmal!“ + +„Aber Erna, Erna!“ flehte Ange und eilte erschrocken hinzu. Das Kind +aber hob den seidenen Rock empor, lief rasch davon und rief: „Das müssen +Jorinde und Ange sehen! Nein, nein, ich gebe es nicht!“ + +Ange ließ denn auch das Kind gehen und machte der Zofe ein Zeichen, +nachzueilen. + +Als sie zu Teut emporblickte, begegnete sie seiner mißbilligenden +Miene. „Unverbesserlich sind Sie, liebe Gräfin,“ sagte er und schüttelte +den Kopf. + +„Nicht schelten!“ bettelte sie und sah ihn mit ihrem bezaubernden Blicke +an. „Aber doch ernsthaft raten! Sehen Sie, liebster Teut, das ist mein +bestes Kleid, und darin kann ich doch den Ball nicht besuchen, nicht +wahr?“ + +Allerdings: das Kleid war unverantwortlich behandelt. Die Spitzen, mit +denen man es besetzt hatte, waren zerrissen; die Schleppe war besudelt, +an der Taille fehlten Knöpfe. Im übrigen war der Stoff eine mit +anmutigen Blumenbouquets durchwirkte weiße Seide, einer Königin würdig. + +„Man könnte die Robe einer geschickten Schneiderin übergeben, sie mit +neuen Spitzen garnieren und säubern lassen,“ sagte Teut phlegmatisch. Er +war selbst erstaunt über den Umfang seiner Kenntnisse und über seine +praktischen Ratschläge. + +„Nein, nein!“ sagte Ange, als ob es sich um ein Puppenkostüm handle. +„Hier ist ja sogar ein großes Loch!“ und sie zeigte ihm den Rock, in +welchem übrigens nur die Naht hinten seitlich eingerissen war. + +„Kann genäht werden!“ entschied Teut mit seiner stoischen Ruhe. + +„Ach, mit Ihnen über Toilette sprechen! Kommen Sie, Teut! Wir haben +wundervolle Melonen erhalten. Der Frühstückstisch ist gedeckt.“ + +„Nein,“ sagte er, „erst muß ich Sie sprechen. Heute ist die erste +Lektion.“ + +Sie sah ihn mit ihrem naiven Blick an, dann glitt ein ungeduldiger +Ausdruck über ihr Gesicht. + +„Wieder eine Waldpredigt! Nein, heute mag ich nicht; weshalb quälen Sie +mich! Ach, wie war ich sonst glücklich! Nun stehen Sie neben mir wie ein +Schulmeister; ich bin doch kein Kind mehr!“ + +„Doch, ja,“ sagte Teut kurz. Und dann weicher: „Sie sind ein Kind, ein +liebes, reizvolles Kind. Aber nun kommen Sie! Lassen Sie uns noch einmal +reden!“ + +Er stand auf und schloß die Thür. Ange graute bei diesen Vorbereitungen. + +„Zuerst, liebe Freundin--bitte, setzen Sie sich doch mir gegenüber, dort +in den Fauteuil“ (sie that es schmollend und zerpflückte eine spät +erblühte weiße Rose, deren Blätter sie auf den Teppich fallen +ließ)--„ein sehr ernstes Wort! Ich habe mit Clairefort gesprochen; es +ist, wie er sagt. Sie besitzen heute nur einen Teil Ihres beiderseitigen +Vermögens.“ + +Er hielt einen Augenblick inne und beobachtete die Wirkung seiner Worte. + +„Und wie ist dies zugegangen?“ fragte Ange mehr neugierig als +erschrocken. + +„Ein Banquier, bei dem Clairefort seine Papiere niedergelegt hatte, +mußte seine Zahlungen einstellen. Es ging dort alles verloren.“ + +„Der arme, arme Clairefort! Ist er sehr betrübt?“ hob sie besorgt an. +Sie forschte ängstlich in Teuts Angesicht; sie dachte nur an ihren Mann, +wie er die Sache aufgenommen, in welcher Stimmung er sei. Ob sie gehen +solle, um ihn zu trösten, ihm zu sagen, daß sie auch fortan sparsamer +sein wolle. Es bliebe dann gewiß noch genug, schloß sie. + +„Ja, das ist es. Nun sehen Sie doch ein, daß Sie ganz anders leben +müssen, daß Sie den großen, überflüssigen Hausstand einschränken, die +Kinder regelmäßig in die Schule schicken und sich sorgsamer um Ihre +Wirtschaft bekümmern müssen!“ sagte Teut ernst. + +Sie nickte wie ein Kind, das gescholten wird, das voll guter Vorsätze +ist, zerknirscht anhört, was es verbrochen hat, bis Natur und Freiheit, +bis Spiel und Tändelei alles wieder verwischen. + +„Das erste wird sein, daß wir auch Tibet ins Vertrauen ziehen. Wir +werden überlegen müssen, wer von der Dienerschaft bleiben kann, welche +Ausgaben überflüssig sind, wie die Geselligkeit zu beschränken, wie +Fuhrwerk und Pferde drunten--“ + +„Meine himmlischen Pferde auch?“ rief Ange „Und gar die Hunde? Müssen +wir ein anderes Haus, eine andere Wohnung beziehen? Ach, Teut, sagen +Sie, ist's denn so schlimm? Besitzen wir nichts, gar nichts mehr? +Sprechen Sie ein Trostwort!“ + +Mit tränendem Blick sah sie zu ihm empor und erwartete zitternd seine +Antwort. + +Umfang und Bedeutung der eingetretenen Verhältnisse überschätzte sie nun +so sehr, daß sie sich, wie ihre weiteren Fragen ergaben, schon in einem +kleinen, beschränkten Häuschen sah und mit Ängsten an ihre Kinder +dachte, die dadurch Entbehrungen erleiden würden. Teut erkannte besorgt, +welchen Eindruck seine Worte hervorgerufen, welche Schreckbilder er +unbeabsichtigt heraufbeschworen hatte. + +„Sie sollen nichts entbehren, liebe Freundin!“ beruhigte er, hingerissen +von Anges Anmut, von ihrem bei alten diesen Erörterungen hervortretenden +selbstlosen Wesen, und strich in heftiger Bewegung den Schnurrbart. +„Nichts, meine teure Freundin! Ich stehe dafür! Nur Überflüssiges, +Thörichtes wollen wir beseitigen. Schon um der Kinder willen werden +wir--“ Er betonte die Worte und stockte. + +Sie schaute ihn an. Was lag alles in diesen guten, klugen Augen, die +sich mit solcher Innigkeit auf sie richteten. Und da riß es sie fort; +sie schnellte empor und umschlang den tröstenden Freund in stürmischer +Freude mit ihren Armen. + +In diesem Augenblick öffnete sich die Thür; beide flogen auseinander. +Clairefort aber, der sich zeigte, sagte mit einem eisigen Blick: „Ach, +ich störe wohl?“ + +„Carlos, Carlos!“ rief Ange, ahnend, daß sich etwas Furchtbares ereignen +würde, und stürmte dem Fortgegangenen nach. Teut aber schlug heftig mit +den Hacken der Reiterstiefel zusammen und seufzte einige Male tief auf. + + * * * * * + +„Wann kann ich die Ehre haben, Sie zu sprechen? + +von Clairefort.“ + +„Bitte, kommen Sie rasch! + +Ange.“ + +Teut blickte gedankenvoll auf zwei Blättchen, die er empfangen hatte und +die diese Worte enthielten. Seit einigen Tagen war er nicht zu +Claireforts zurückgekehrt; nun war geschehen, was er hatte kommen sehen. + +Er übersetzte sich die Worte seiner Freunde in seine Sprache. +„Rechtfertigen Sie sich!“ lauteten diese.--„Eilen Sie, ich bin sehr +unglücklich und bedarf Ihres Trostes!“ deutete er sich jene. + +Lange Zeit saß Teut grübelnd da und ließ alles, was geschehen war, noch +einmal an seinem Geist vorübergehen. Hin und wieder erhob er den Blick, +und dieser haftete mechanisch an den vielen Gegenständen, die seine +Gemächer ausfüllten. In einem genialen Durcheinander sah man die +widersprechendsten Dinge. Auf einem seidenbezogenen Sessel lag ein +neuer, ungebrauchter Sattel, an den Wänden zur Linken hingen, flankiert +von ausgestopften Vogel- und anderen Tierköpfen, Pistolen, Säbel und +sonstige alte und neue Waffen. Die rechte Wandseite nahm ein übergroßes, +wundervoll ausgeführtes Frauenbrustbild in der zarten Manier Angelika +Kaufmanns ein; daneben waren in unregelmäßigen Abständen Photographieen, +zahlreiche Kupferstiche und Lithographieen aufgehängt, teils Porträts, +teils Jagd- und Reiterbilder: hier ein Sturz vom Pferde beim Rennen, +dort rote Röcke mit Trara hinter dem fliehenden Wild im Walde. + +Auf den Tischen lagen Berge von Handschuhen, vertrocknete Blumen, +aufgerufene Kartons und Jagdutensilien. Auf einem chinesischen Kästchen +erhob sich eine Bronzefigur Napoleons I. mit verschränkten Armen. Ihm +zur Seite stand eine halbnackte, zum Sprung ins Bad bereite +Frauengestalt aus weißem Marmor. Auf einer an den Tisch gerückten +Etagère lagen in merkwürdiger Ordnung zahlreiche Cigarrenetuis: viele +mit Wappen in Silber oder Elfenbein; auch kostbar gebundene Bücher; +daneben erhoben sich einige Medaillonbilder auf zierlichen +Gestellen--und all diese Gegenstände beherrschte eine weißschimmernde +marmorne Klytia mit dem schwermütig sanften Blick. Auf dem grünen +Teppich, der das ganze Zimmer bedeckte, war vor einem Schreibtisch das +riesige Fell eines Eisbären ausgebreitet, und den ersteren bedeckten +zahlreiche Schriften, Papier, aufgeschnittene Bücher und +Schreibmaterialien, die sich um eine alte französische Uhr gruppierten, +welche hier Platz gefunden hatte. Und ringsum saubere hellpolierte oder +tiefschwarze Möbel; auch einige primitiv gearbeitete, aber praktisch +eingerichtete Schränke, aus deren geöffneten Schubladen Rehposten, +Patronen und Pulversäcke hervorschauten. Endlich stand in der Mitte des +Zimmers ein mit einem Tigerfell behangener Chaiselongue, der aber selten +benutzt zu werden schien, denn eine ganze kleine Bibliothek war hier +aufgeschichtet. + +Früher hatte Teut täglich viele Stunden in seiner Wohnung zugebracht. Er +blätterte in den Journalen, las die neuesten deutschen und französischen +Romane, empfing Billetdoux und beantwortete sie, schraubte wohl mit +zufriedenem Lächeln einen Flintenlauf vom Kolben oder drückte an dem +Schloß und freute sich der schönen Ciselierungen am Rohr. Oder er +richtete im Nebengemach, im Eßzimmer, ein Abendessen, bereitete selbst +die Bowle und stand in lederner Hausjoppe neben Flaschen und Gläsern. +Aber alles hatte seinen Reiz verloren. Jede Stunde, die er nicht im +Dienst war, floh er die Räume und eilte zu Ange. + +Aber noch mehr. Die rechte Freude am Dasein war dahin; es gab nur noch +Kämpfe, Sorgen, Selbstüberwindungen, um ein gegebenes Wort zu erfüllen. +Ihr guter Geist wollte er ja fortan auf Erden sein, das hatte er +geschworen--ihr Freund--ihr stumm verzichtender Verehrer.-- + +„Kleine Ange, kleine liebe Ange,“ flüsterte der Mann und grub die Zähne +in die Lippen, um seiner innerlichen Erregung Herr zu werden. „Nun +beginnt der große Roman--der Roman unseres Lebens!“ + + * * * * * + +Teut beantwortete beide Briefe zugleich. Ange schrieb er: + +„Auch von Carlos erhielt ich einige Zeilen. Der kurze formelle Inhalt +läßt mich schließen, daß es sich um nichts Gutes handelt! Ich komme +bestimmt heut abend. Dann sieht Sie + +Ihr getreuer Teut.“ + +Dem Freunde aber sandte er nur seine Karte und schrieb: + +„Ich besuche Sie kurz vor der Theestunde in Ihrem Zimmer. + +v.T.“ + +Als aber der Nachmittag kam, änderte Teut seinen Entschluß. Es fiel ihm +ein, daß er den Kameraden versprochen hatte, abends den Besuch eines +Freundes im Kasino zu feiern. Er ging deshalb früher zu Claireforts. Als +er die Wohnung erreichte, stieg er, in Gedanken verloren und ohne sich +umzusehen, die Treppe empor. Er wünschte, obgleich er das Richtige zu +vermuten glaubte, zunächst von Ange zu erfahren, was vorgefallen sei, +und dann Clairefort aufzusuchen. Zu seiner Überraschung fand er alle +Thüren offen und weder jemanden im Empfangssalon noch in Anges +Gemächern, überall aber eine große Unordnung. + +Hier stand das Schaukelpferd eines der Knaben, dort hing, neben +fortgeworfenem Spielzeug, eine Puppe mit gesenktem Kopf und schlaffen +Armen rückwärts über einem Stuhlpolster. Auf dem Tisch des Wohngemaches +lagen Kinderhüte und der hastig abgestreifte Paletot eines der Kinder. +In Anges Schreibtisch war eine Schublade aufgezogen, und eine Sammlung +von zartgefärbten Handschuhen lag in wilder Unordnung durcheinander. +Einer hing mit schlaffen Fingern über den Rand des Schubfaches hinaus. + +Teut schritt weiter bis an die Kinderzimmer. Er fand auch hier +niemanden, aber ein ähnliches Durcheinander. + +Die Wohnung machte den Eindruck, als ob eine Familie in fliegender Hast, +vor einer Gefahr flüchtend und alles im Stiche lassend, davongeeilt sei. +Kopfschüttelnd ging Teut weiter und trat gegenüber in Claireforts +Privatgemach. Er klopfte. Keine Antwort. Er öffnete behutsam. Hier fand +er es wie stets: dieselbe peinlich-übertriebene Ordnung, derselbe +düstere Ernst, derselbe Mangel an freundlichen, belebenden Eindrücken. +Keine Blume, keine lebhaften Bilder! Ein Hauch von Schwermut lag über +dem Gemach ausgebreitet und nur allzu deutlich drückte sich in den +Räumen der Charakter seines Bewohners aus. + +Natürlich that auch die Dienerschaft, unter solchem Beispiel und keine +strenge Hand über sich fühlend, was sie wollte. Nirgends ein männliches +oder ein weibliches Wesen, das nach dem Fortgang der Herrschaft die +Thüren geschlossen und in den Zimmern Ordnung geschaffen hätte. + +Teut wandte sich zurück, und während er noch überlegte, ob er nach Hause +zurückkehren oder warten solle, bis die offenbar auf einer Ausfahrt +begriffene Familie wiederkommen werde, hörte er Schritte. Er horchte auf +und trat einen Augenblick beiseite. Es war Tibet, der geschäftig +ausräumte, hier sich nach einem Spielzeug, dort nach einem +Kleidungsstück bückte und ordnend die Hand an Tisch und Stühle legte. +Ja, Tibet, Tibet! Er übernahm die Pflichten aller. + +„Die Herrschaften sind aus gefahren?“ fragte Teut, nun hervortretend und +den Kammerdiener begrüßend. + +„Jawohl, Herr Baron. Frau Gräfin macht Besuche mit den Kindern; der Herr +Graf ist schon früher fortgeritten.“ Er sprach in seiner gewohnten +ehrerbietigen Weise und schob eine Puppe, die er gerade in der Hand +hatte, verlegen hinter sich. + +Teut nickte und ließ sich nieder. Es kam ihm sehr gelegen, den +Vertrauten des Hauses einmal allein zu treffen, und er beschloß, ein +Gespräch mit ihm anzuknüpfen. + +„Wie lange sind Sie eigentlich schon in der gräflichen Familie, Tibet?“ + +„Seit meinem fünfundzwanzigsten Jahre,“ erwiderte dieser mit einem +melancholischen Anflug in der Stimme. + +„Im Hause der Familie Butin oder bei Claireforts?“ + +„Bei Claireforts.“ + +„Und Sie hatten nie eine andere Beschäftigung oder Tätigkeit?“ + +„Doch, Herr Baron!“ + +„Und welche?“ + +„Ich wollte mich ursprünglich dem Kaufmannsstande widmen.“ + +„So so! Hatten Ihre Eltern schon Beziehungen zu der Familie?“ + +„Nein, Herr Baron.“ + +„Sie sind wohl schon ein guter Vierziger, Tibet?“ + +„Ja, Herr Baron.“ + +Nein--ja, Herr Baron! Auch im Verfolg des Gespräches gab er diese +einsilbigen Antworten. Dieser Mensch sprach nur, wenn man ihn fragte, +und dann lediglich das Notwendigste. Teut beschloß, es anders +anzufangen, und indem er in bekannter Weise die Stiefelhacken +zusammenschlug und den Schnurrbart drehte, sagte er mit starker +Betonung. + +„Tibet!“ + +„Herr Baron!“ + +„Ich weiß, daß Sie eine große Anhänglichkeit an den Herrn Grafen und +besonders auch an die Frau Gräfin haben. Sie wissen zugleich, daß ich +ein aufrichtiger Freund der Familie bin. Nicht wahr, Sie glauben das?“ + +Statt zu antworten, sah Tibet Teut einen Augenblick mit höchster +Befremdung an. „Ja, ich verehre die Frau Gräfin wie niemand sonst.“ Die +zweite Frage überging er. + +„Gut. So dachte ich. Aber zu mir haben Sie wenig Vertrauen, Tibet, nicht +wahr?“ lächelte Teut. + +„Ich verstehe nicht, Herr Baron.“ Tibet schlug verlegen die Augen zu +Boden. + +„Sie verstehen recht gut. Sprechen wir einmal offen miteinander.“ + +Tibet stand noch immer mit der Puppe in der Hand, die wie gelähmt Arme +und Beine hängen ließ. Wenn man diesen großen, hageren, ernsthaft +dreinschauenden Mann in der dunklen Kleidung so dastehen sah, mußte man +unwillkürlich lächeln. + +Als Teut die letzten Worte sprach, überfiel Tibet--man sah es +deutlich--ein starkes Unbehagen. Zuletzt malten sich eine gewisse +Abwehr, ja Trotz in seinen Mienen. + +„Also, Tibet,“ fuhr Teut unbekümmert fort, „ohne Umschweife! Hier im +Hause ist nicht alles, wie es sein soll. Die Gräfin weiß keine +Wirtschaft zu führen, der Graf leidet darunter--nicht nur in seiner +Schatulle. Sie wissen das alles.--Das muß anders werden. Beide wünschen +es auch, aber die Gräfin versteht es nicht zu ändern, und den Grafen +halten andere Gründe zurück. Ich möchte bei Zeiten etwas verhindern, was +sonst unabänderlich scheint. Wollen Sie mir helfen?“ + +„Ich?“ fragte Tibet kurz, starrköpfig und fast aus der Rolle des +Untergebenen fallend. „Ich bin ein Diener! Wie dürfte ich wagen, mich in +die Angelegenheiten meiner Herrschaft zu mischen?“ + +„Sie sind kein Diener hier im Hause, sondern ein Freund, zudem ein +braver, ehrlicher Mann, Tibet. Versprechen Sie mir, um dieser +Freundschaft willen, die Sie für die Familie hegen, mein treuer +Verbündeter zu werden!“ + +Einige Augenblicke stand Tibet unbeweglich; die Puppe war jetzt so tief +herabgesunken, daß die kleinen lackledernen Schuhe mit Kreuzbändern den +Fußboden berührten. Endlich sagte er aufschauend: + +„Herr Baron, ich will es mir überlegen. Ich danke Ihnen für Ihre gute +Meinung. Gestatten Sie mir indessen jetzt--Ah, da kommen die +Herrschaften bereits!“ + +Und offenbar erleichtert und mit einer entschuldigenden Bewegung eilte +er ans Fenster, guckte rasch hier- und dorthin und entfernte sich +endlich, alle Siebensachen unter den Arm raffend, durch die nach dem +Ausgang führende Thür. + +Teut sah nach der Uhr. Es war Tischzeit geworden und für seine Absichten +somit zu spät. Während er noch zauderte, trat Clairefort von der +entgegengesetzten Seite in den Salon, blickte überrascht auf, als er +Teut in dem Stuhl sitzend fand, schritt förmlich auf ihn zu und sagte +gezwungen: + +„Ah, ich glaubte Sie erst heut abend erwarten zu dürfen! Aber wenn es +Ihnen gefällig ist--Zugleich meinen Dank für Ihre Artigkeit. Ich wäre +natürlich zu Ihnen--“ + +„Bitte, bitte!“ erwiderte Teut in seiner kurzen Weise. „Ich bin ja Ihr +täglicher Gast! Weshalb wollten Sie sich zu mir bemühen? Ich stehe also +ganz zu Ihrer Verfügung.“ + +Mit diesen Worten machte er einige Schritte, Clairefort zu folgen. Aber +zu gleicher Zeit öffnete sich auch die Thür und Ange, in einem reizenden +Promenadenkostüm, das goldene Haar rückwärts in zwei nachlässige Knoten +geschlungen, die Wangen von der kalten Luft sanft gerötet, das Gesicht +ganz umrahmt von einem kleinen, rosaseidenen Hütchen, trat rasch und +lebhaft ins Zimmer. Ihr folgte die Schar ihrer Engel, eins schöner; +graziöser und vornehmer als das andere. In der That ein entzückender +Anblick. + +Des Grafen nicht achtend, ganz beschäftigt mit dem Bilde, das sich ihm +bot, eilte ihr Teut entgegen, und sie begrüßten sich mit einer +Herzlichkeit, als ob sie eine lange Zeit getrennt gewesen wären. + +Aber in demselben Augenblick und während die Kinder Teut jubelnd +umringten, veränderten sich Anges Züge und erhielten einen furchtsamen +Ausdruck. + +Da stand der Graf, finster, bleich, und biß sich auf die Lippen. Da +stand er, der Herr des Hauses und weder Frau noch Kinder näherten sich +ihm. Aber alle umringten ihn--ihn, den Hausfreund, dem auch er sein +größtes Vertrauen geschenkt und den er doch in diesem Augenblick mehr +haßte als den Tod. + +„Wartet mit dem Essen!“ sagte Clairefort, seinen Unmut schlecht +verbergend, und machte eine Bewegung gegen Teut, ihm zu folgen. +Letzterer sah noch Anges erbleichendes Gesicht und warf ihr einen +beruhigenden Blick zu. Dann schloß sich hinter beiden Männern die Thür. + +Als sie Platz genommen, knöpfte Clairefort den Rock auf und holte tief +Atem. Teut aber sagte nachlässig und mit einem Anflug von Ungeduld: +„Nun, was steht zu Diensten, Clairefort?“ + +Durch diesen Ton war jener schon halb entwaffnet; jedenfalls fand er +nicht gleich das Wort. Und als er es noch immer nicht fand und, um es zu +gewinnen, aufstand und das Fenster öffnete, obgleich von draußen der +Spätherbstnachmittag kühl ins Zimmer drang, erhob sich Teut und sagte: + +„Nun, Clairefort, dann will ich zuerst sprechen. Sie wünschen abermals +über Ihre Frau mit mir zu reden, oder richtiger über Ihre Frau und mich, +und Sie wollen mir sagen, daß es besser ist, wenn alles beim alten +bleibt, ja noch mehr, daß Sie mich mehr aus der Entfernung schätzen als +in Ihrer Nähe und deshalb--nein, ich bitte, lieber Clairefort, wir +wollen einmal deutsch sprechen!--und deshalb wünschen, daß ich meine +Besuche einstelle. Sie sind in blinder, thörichter Eifersucht befangen +und zeigen dadurch, wie wenig Sie den Charakter Ihrer edlen Frau zu +schätzen wissen, wie gering Sie auch von mir denken. Aber da ich Ihnen +nachfühlen kann, ja heute mich ganz hineinzuversetzen vermag, weshalb es +Ihnen schwer wird, zu thun, was Sie als recht befunden, was auszuführen +aber eine heilige Pflicht ist gegen Ihre Familie, gegen Ihr künftiges +Wohlergehen, deshalb sagte ich als Freund, der Ihre Frau wie eine +Schwester liebt und der Ihnen warm und herzlich zugethan ist: ‚ich will +Dir helfen. Lasse mich handeln, und wenn's gelungen ist, dann heiße mich +meinethalben gehen.‘ So wollte ich es, so dachte ich es! Sie, +Clairefort, zweifelten schon bei dem ersten Schritt, den ich that, wie +mir scheinen will, an meiner Aufrichtigkeit und an der Reinheit meiner +Gesinnungen. Als Ihre Frau mir dankte und es in ihrem kindlichen Herzen +überströmte, standen Sie da wie ein zorniger Brigant und kämpften nur +mühsam Ihre Leidenschaft nieder. Und nun noch eins! Jederzeit bin ich +für Ihre Frau auf der Welt--für sie und ihre Kinder! Aber ich bitte Sie +auch um derentwillen, unterdrücken Sie so falsche, durch nichts +gerechtfertigte Regungen! Habe ich durch meine Rede unangenehme +Empfindungen geweckt, habe ich Ihnen gar wehe gethan, Clairefort, so +sehen Sie mir dies nach! Vergessen Sie! Es mußte Klarheit zwischen uns +sein! So, und jetzt lassen Sie mich gehen. Ich wünsche noch, Ihrer Frau +zu sagen, daß wir uns als Männer ausgesprochen haben. Ich wünsche es, +weil ich den furchtsamen Blick in ihrem lieben Gesicht beobachtete und +sie niemals leiden sehen möchte, wo immer es in meiner Macht steht, dies +zu verhindern.“ + +Clairefort hatte das Fenster wieder geschlossen. Er stand, das Gesicht +der Scheibe zugewendet, bewegungslos. Einigemal hatte es in seinem +Körper gezuckt, mehreremal ballte er die Faust--aber er hatte kein Wort +entgegnet und sprach auch jetzt nicht. Als Teut sich zur Thür wandte, +als sich in seinem langsamen Schritt nicht Zwang, wohl aber die +Erwartung einer Erwiderung von jener Seite ausdrückte, kehrte sich +Clairefort zu ihm. + +Es war feucht in seinen Augen, ein unsagbarer Schmerz irrte um seine +zuckenden Mundwinkel, und er sah Teut mit einem so hilflosen Blicke an, +daß dieser auf ihn zueilte und ihm die Hand drückte.-- + +War nun endlich alles im alten Geleise? Teut war darüber nicht im +klaren. Ange aber schmiegte sich ängstlich und fragend an den Freund, +als er ihr Gemach betrat. Sobald er aber auf ihre hastigen Fragen mit +jener vertrauenerweckenden Ruhe antwortete, die ihn so anziehend machte, +entwichen die ernsten Schatten auf ihrem Gesicht, wiederbelebte Hoffnung +verschönte ihre Züge und in ihrem unzerstörbaren Sanguinismus glaubte +sie schon wieder das Beste. + +„Sie bleiben heute nicht zu Tisch, Teut? Wann kommen Sie? Wann reiten +wir aus? Sie sind doch morgen bei dem Diner? Sehen wir uns noch?“ So +fragte sie und so schien bereits alles wieder verwischt, was sie noch +eben so zaghaft berührt hatte. + + * * * * * + +Die Zeit war vergangen. + +Teut hatte durchgesetzt, was er wollte. Der größte Teil der Dienerschaft +wurde entfernt. In das Hauswesen, in Küche und Keller kam eine andere +Ordnung, in die Erziehung der Kinder ein anderer Geist. Die neue +Gouvernante erhielt die gemessensten Befehle und empfing Vollmachten, +die verhinderten, daß das frühere planlose Treiben fortgesetzt wurde. + +Unter dem Vorgeben, daß ein trauriges Familienereignis verbiete, +Gesellschaften mitzumachen und in gewohnter Weise Besuch im Hause zu +empfangen, ward auch diese kostspielige Seite des bisherigen Lebens +einschränkt, und Ange mußte sich dazu verstehen, mit einer streng +begrenzten Summe die eigene Toilette und die ihrer Kinder zu bestreiten. +Das alles schaute sie mit harter Nüchternheit an; die Schule des Lebens +schlägt ihre Pfade nicht durch blühende Büsche, sie fordert Entbehrungen +und Kämpfe. + +„Wo sind die Kinder?“ fragte Ange, und die Antwort hieß: „Sie lernen, +sie haben Unterricht.“ Wenn sie den Kopf in die Thür steckte, sah sie +das strenge, unbewegliche Gesicht der neuen Gouvernante und oft genug +ein Thränlein in den Augen ihrer Lieblinge. Die Befriedigung +augenblicklicher Neigungen stieß auf Schwierigkeiten. Wenn sie Einkäufe +gemacht hatte und die Rechnung vorgelegt wurde, gab es Szenen mit +Carlos. Er sandte den Diener ohne Geld zurück und dieser stand ratlos +da. Tibet lief mit bedrückter Miene hin und her, und durch die offene +Thür sah Ange den wartenden Boten, der nicht befriedigt wurde, und die +betroffenen Gesichter ihrer Umgebung, die ihre stummen Bemerkungen +machten. + +„Konrad soll anspannen!“ befahl sie, und wenn sie zum Ausfahren +gerüstet, hinabsteigen wollte, stand statt des Wagens der Kutscher vor +ihr und erklärte, das eine Pferd sei krank. Ange fragte nicht, weshalb +man statt der Schimmel nicht die Braunen anspanne; die Braunen waren +verkauft worden. + +Wenn es ihr plötzlich durch den Kopf fuhr, wie früher Freunde um sich zu +versammeln, schüttelte Carlos den Kopf, und statt des reich beladenen +Frühstückstisches, welcher für gern gesehene Gäste immer bereit gewesen +war, standen nun kleine Brotschnittchen neben einer bereits +angebrochenen Flasche Wein auf der sauber gedeckten, aber kargen Tafel. + +Nichts durfte mehr angeschrieben werden. Tibet erklärte, lediglich Geld +für die täglichen Bedürfnisse zu haben und besondere Ausgaben nur nach +Rücksprache mit dem Grafen bestreiten zu können. + +Drunten in Küche und Stall begegnete man mürrischen Mienen. Teils +wirkte die Kündigung nach, teils verglich man die alten Zeiten mit den +neuen und fand sich enttäuscht. Die reichlichen Trinkgelder, welche die +Gäste bei dem täglichen Verkehr und nach den vielen Gesellschaften in +die Hände der Dienerschaft hatten gleiten lassen, blieben jetzt aus. + +Die Familie Clairefort ward von ihrer eigenen Umgebung hämisch und +tadelnd beschwatzt, und an die plötzlichen Veränderungen und +Einschränkungen knüpften sich zudem die übertriebenen Vermutungen. + +Bisweilen wandte sich Ange in ihrer Ratlosigkeit an Carlos und bat ihn, +in einigen Dingen nachzugeben. Sie schilderte ihm die vielen kleinen +Ungelegenheiten, berichtete von diesem und jenem und forderte Abhilfe. +Wenn sie dann so eindringlich auf ihn einsprach und mit ihrer +bezaubernden Art durchzusetzen versuchte, was sie wünschte, gab er wohl +nach; ja einigemal brauste er sogar auf, und böse Worte gegen Teut +entschlüpften ihm. + +Aber nur, wenn Erinnerungen an frühere Zeiten seinen Stolz weckten, wenn +er Teuts Hand allzu deutlich zu erkennen glaubte, dann überfiel ihn ein +eigensinniger Widerstand, und die Eifersucht verführte ihn zu falschen +Deutungen. Es erfolgten dann Auseinandersetzungen mit dem Rittmeister, +der aber stets ruhig blieb und immer wieder auf die festen Abmachungen +verwies, welche von Anbeginn vereinbart waren. + +Anges Klagen entstanden freilich immer nur aus Hilflosigkeit; sie dachte +niemals an sich. Wenn aber das Schluchzen der Kinder über die ihnen +geraubte Freiheit an ihr Ohr schlug, verließen sie alte guten Vorsätze. +Oft flüchtete sie sich mit ihrem Kummer in ein entfernteres Gemach und +weinte sich dort aus. Es gab Augenblicke, wo sie hätte Teut hassen +können. + +Aber dieser feste Charakter ließ sich nicht beirren. Es schien, als ob +er unempfindlich sei gegen jeden Angriff, jeden Vorwurf und Tadel. In +seiner kurzen, bestimmten Art verteidigte er seinen Standpunkt, ließ +sich nicht überreden und nicht überzeugen, und nur einmal, als es ihm +gar zu arg wurde, riß er an dem langen Schnurrbart und rief: + +„Entweder--oder! Ich habe Euer beiderseitiges Wort! Reut es Euch, +macht's nach Eurem Behagen!“ + +Freilich sah Teut auch, nachdem er alles geordnet, daß die Fröhlichkeit +ihren. Auszug aus dem Hause gehalten hatte. Clairefort ward ernster, +mißmutiger, unzugänglicher als je, und Ange, der leichtbeschwingte +Vogel, der Freiheit und Bewegung, Licht und Luft um sich fühlen mußte, +ließ die Flügel hängen. Einigemal griff sich Teut an die Stirn und +überlegte, ob er auch recht gehandelt habe. Allerdings, verständige +Verhältnisse waren geschaffen, aber alles schien in dem Hause geknickt. +Die Kinder, diese frischen, ungebundenen und zärtlichen Geschöpfe, +schlichen eingeschüchtert und befangen umher. Die Zucht in den +Schulstunden, die Arbeiten, die sie außer diesen beschäftigten, der +jetzt fehlende fröhliche Trost, den sie früher bei Mama Ange fanden, +machte sie verdrossen und verschlossen, und es zeigte sich, daß sie der +Geist der Mutter beherrsche, der nun einmal nur im hellen Sonnenlicht +und in der Freiheit gedeihen konnte. Und die Rückwirkung blieb auch bei +Teut trotz äußerer Unempfindlichkeit nicht aus. Mit Wehmut sah er, wie +ernst Ange geworden war und wie sie sich nach dem alten, zwanglosen +Leben zurücksehnte. Selten noch tönte ihr helles, herzliches Lachen +durch die Räume. + +Einmal fand er sie weinend unter den Kindern sitzen und sich mühend, +ihnen bei ihren Arbeiten zu helfen. Kein heiterer Zug glitt über ihr +Gesicht, als Teut sich näherte, und die wohlerzogenen Kleinen erhoben +sich, gaben ihre Händchen und machten ihre Knixe, statt wie früher +stürmisch auf ihn zuzueilen und ihn zu umschlingen. + +Jeden Tag sandte Teut das frische Bouquet, jeden Tag nahm es Ange +entgegen, aber sie hatte keine Freude mehr daran. „Ach, schicken Sie +doch nicht die schönen Blumen, Teut; sie verwelken ja doch--und es ist +überflüssig--und kostspielig--“ + +Sie wandte sich ab und suchte ihre Thränen zu verbergen. + +„Ange! Ange!“ rief Teut. „Das von Ihnen? Sagen Sie mir, was Sie +bekümmert, weshalb Sie so hart, so ungerecht gegen mich sind?“ + +„Schaffen Sie die Gouvernante aus dem Hause; ich hasse die Person!“ rief +Ange in furchtbarer Erregung. „Aber bald, bald, sonst passiert ein +Unglück! Sie vergiftet meine süßen Kinder mit ihrer Strenge, ihrer +Pedanterie und ihrer scheinheiligen Christenlehre. Sehen Sie doch--was +man aus ihnen gemacht hat? Ist das noch mein feuriger Carlitos, sind das +meine Erna und Jorinde; und die beiden besten Kinder, Ben und Fred? Was +ist aus ihnen geworden? Ange habe ich ihr schon entzogen! Sie hat das +kleine Geschöpf mit einem Lineal geschlagen! O, ich erwürge diese Person +nächstens!“ + +„Ange, Ange, beruhigen Sie sich! Vieles kann ja nach Ihren Wünschen +geschehen! Carlos wird gewiß gutheißen, was Sie verständigerweise +anordnen.“ + +„Er? Der? Sitzt er nicht auf seinem Zimmer und grübelt den ganzen Tag? +Sehen wir ihn anders als bei den Mahlzeiten? Ist er noch mein bester, +heißgeliebter Mann?--Ein verdrießlicher Hypochonder, ein rauher, +abwehrender Mensch hockt drüben, der an nichts Freude hat--nicht +einmal“--jetzt traf bitterliches Schluchzen Teuts Ohr--„an seiner +Familie, an seinen Kindern! O, wie grenzenlos unglücklich bin ich! Wo +ist die alte, gute Zeit geblieben! Unser Haus ist ja eine Totengruft +geworden!“ + +Unter heftiger Bewegung hörte Teut das alles an. Trug er denn die +Schuld? Hatte er das alles heraufbeschworen?--Vielleicht! Er erkannte, +daß meistens nur die Not selbst zur Lehrmeisterin der Menschen wird. Er +hatte eingegriffen in die Pläne des Schicksals. Statt aus dem Regen den +Sonnenschein von neuem hervorbrechen zu lassen, hatte er diesem zu +frühzeitig ein Dach gebaut, und ein Dach, welches das goldene Licht +verscheuchte. + + * * * * * + +Teut saß in seinem Zimmer und arbeitete. Seit Stunden war er nicht vom +Schreibtisch gewichen, und einige Male lehnte er sich zurück und blickte +sinnend und verloren die Pinselstriche der flüchtigen Malerei zählend, +zur Decke empor. Die letzten Vorgänge hatten einen tiefen Eindruck auf +ihn gemacht. Er litt mit seiner geliebten Ange und verstand alles und +sann, wie ihr zu helfen sei. Aber konnte er ihr die sorglose +Fröhlichkeit zurückgeben? Konnte er sie wieder jung machen? Was sie +innerlich litt, übertrug sich auf ihre Erscheinung. Schon begann sich +etwas von dem holden Zauber zu lösen, der sie vor Jahren so +unwiderstehlich gemacht hatte. + +Und dann sagte er sich doch, daß nicht die veränderte Lebensweise schuld +sein könne, sondern ganz andere Dinge Ange beschäftigen müßten. Ja, das +war es! Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe, und den Ersatz, welchen +sie früher in ihren Kindern fand, entbehrte sie jetzt doppelt, da man +sie ihr halb genommen hatte. Aber das letztere konnte doch wieder ins +rechte Geleis gebracht werden. Ein Wechsel in der Persönlichkeit, die +den Unterricht erteilte, war schnell zu bewerkstelligen. Es brauchte +nicht alles wie bisher auf die Spitze getrieben zu werden: es gab auch +freundliche Ermahnungen statt rücksichtslose Strenge, und es handelte +sich nicht um Lernen und Wissen allein. Der gute Mittelweg war auch hier +der richtige, und indem man diesen einschlug, würde wiederkehren, wonach +Ange verlangte. Eines stand fest in Teut: auch jetzt mußte er +eingreifen, da Clairefort zu keiner Initiative zu bewegen war. + +Wie oft hatte Ange geklagt, daß sie nicht auszukommen vermöge, wie sehr +sie sich einschränken müsse. Clairefort blieb bei alledem taub. Aus ihm +war jetzt ein ängstlicher Sparer, ein Geizhals geworden. + +„Kann ich Sie heute einmal ruhig sprechen? Sind Sie zu hören aufgelegt, +liebe Ange?“ fragte Teut an einem der nächsten Tage. Sie nickte und +legte die Hände in den Schoß. Seltsam! Teut bemerkte, daß sie sich +vernachlässigte, keinen sonderlichen Wert mehr auf ihr Äußeres legte: +auf Blumen und Schmuck wie früher. + +Auch heute sah sie unvorteilhaft aus. Das graue Hauskleid stand ihr +nicht eben gut, und das wundervolle Haar saß versteckt unter einer +Haube, die sie um viele Jahre älter machte. + +„Ich wollte Ihnen nach unserem letzten Gespräch eine Bitte vorlegen,“ +fuhr Teut fort. „Ich habe viel über das nachgedacht, was Sie mir gesagt +haben.“ + +Sie neigte das Haupt, ohne Ausdruck in ihrem stillen Gesicht. + +„Ich höre, daß Carlos seinen Abschied nehmen will, daß er ihn nehmen +muß--“ + +„Wie?“ unterbrach ihn Ange ängstlich. + +„Ja! Sein Zustand--sein hartnäckiges Nervenleiden macht ihm die Ausübung +seiner militärischen Pflichten unmöglich. Besser denn, bei Zeiten die +anstrengende Thätigkeit einstellen. Aber--dadurch wird sich--Ihre +Einnahme noch mehr verkleinern, Ange--“ + +„Ja gewiß!“ sagte sie tonlos. + +„Da wollte ich denn--“--er zögerte, riß an seinem Schnurrbart und eine +seltsame Röte trat auf seine starken Backenknochen--„Sie bitten, Ange. +daß Sie mich wie einen Bruder ansehen mögen, daß Sie--ich weiß nicht, ob +Sie mich verstehen, Ange--daß wenn Sie etwa einmal einen Wunsch +haben--etwa für die Kinder einen Wunsch haben sollten--wenn--wenn--Sie +hören nicht, Ange?“ + +„O, o!“ hauchte die junge Frau. „Nicht weiter!“ Ihre Stimme versagte vor +Rührung; sie vermochte nicht zu sprechen, und sie trocknete die Thränen +mit dem Tüchelchen, das sie hervorgezogen hatte. + +„Doch, doch,“ sagte Teut weich und ergriff ihre Hand, ihre kleine Hand, +die so schmal und krank heute aussah. Aber weiter wagte er nicht zu +sprechen; es trat eine längere Pause ein. Die Dinge ringsum erschienen +noch ernster, stummer als sonst. Es wehte ein Hauch von trostloser Öde +durch das Haus, in dem das Lachen erstorben war. + +„Und die Gouvernante? die Gouvernante? Schicken wir sie fort?“ +flüsterte Ange zaghaft. Sie dachte nicht an sich: immer waren es die +Kinder, mit denen sie sich in ihren Gedanken beschäftigte. + +„Gewiß, gewiß!“ betätigte Teut lebhaft. „Noch heute spreche ich mit +Carlos! Alles, alles soll sich nach Ihren Wünschen gestalten! Alles, was +Sie, meine teure Ange, wieder fröhlich--und glücklich machen kann!“ + +„Ein Gott, kein Mensch sind Sie!“ tönte es von Anges Lippen. Sie verbarg +ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. + +Teut stand auf und trat ihr näher. Sie erhob den Blick--einen Blick, in +dem der Abglanz ihrer Seele sich spiegelte, einen Blick, in dem der Mann +alles fand, was er je zu hoffen gewünscht, und alles, was im Austausch +Liebe gegen Liebe zu geben vermag! + +Es war vorauszusehen, daß von dem, was sich im Laufe der Zeit in der +Clairefortschen Familie zugetragen hatte, mancherlei hinausdrang, und +daß die öffentliche Meinung sich begierig und mit wenig Wohlwollen +eines Gegenstandes bemächtigte, der zu so verschiedenen Deutungen Anlaß +gab. + +In erster Linie ward das Verhältnis Teuts zu Frau Ange besprochen, +und es fand kaum ein mündlicher Austausch in den C.schen +Gesellschaftskreisen statt, ohne daß die holde Frau mit bösen Nachreden +überschüttet ward. Wie der Sturm rücksichtslos über ein in seinem +unschuldigen weißen Blütenschmuck stehendes Bäumchen dahinwütet, so +zerpflückte man Anges Ehre und guten Ruf. Da der Graf, hieß es, ein +bedauernswerter, durch sein Nervenleiden kaum mehr zurechnungsfähiger +Mann wäre, sei es nicht zu verwundern, daß das empörende Treiben +ungeahndet unter seinen Augen sich vollziehe. Auch könne man es einem +lebenslustigen, unverheirateten Husarenrittmeister nicht verübeln, wenn +er die süßen Früchte, welche eine so verführerische und gefallsüchtige +Frau ihm darbiete, nicht zurückweise. Ärgererregend genug sei es, daß er +nicht einmal die gewöhnlichen Rücksichten beobachte und das Verhältnis +so offen zu Tage treten lasse; aber auch das werde durch ihr +exzentrisches und leichtfertiges Wesen eher entschuldigt. + +In dieser und ähnlicher Weise erging sich die Gesellschaft in ihrem +Urteil und hielt es--selbst nur allzu erprobt in Dingen, die man jenen +unterzuschieben sich unterfing--für unmöglich, daß Menschen etwas +anderes verbinden könne als eine strafbare Leidenschaft. + +Aber man blieb dabei nicht stehen. Die Vermögensverhältnisse Claireforts +wurden gleichfalls einer Beurteilung unterzogen. Es sei nichts mit dem +großen Reichtum! Nur der maßlosen Verschwendungssucht der Frau +widerstandslos nachgebend, habe Clairefort die Villa in solcher +luxuriösen Weise herrichten lassen und einen Aufwand gutgeheißen, der +jeder Beschreibung spotte. + +Nun sei der Rückschlag bereits eingetreten. Niemand wolle mehr Kredit +geben; ja, man habe den Dienstboten, welche man entlassen mußte, kaum +den Lohn zahlen können. Des Grafen schwermütiges Leiden sei auf diese +mit täglicher Sorge verknüpften Verhältnisse zurückzuführen, und wenn +von seinem Abschied die Rede, so sei dieser wohl kein freiwilliger. + +Ah, und diese Kinder! Habe man jemals eine unverantwortlichere Erziehung +erlebt? Wie die Affen wandelten sie einher und erregten Ärger bei alt +und jung durch ihre Geziertheit und ihr hochmütiges Auftreten. Zuletzt +gedachte man auch noch des geheimnisvollen Verhältnisses zwischen Tibet +und dem Grafen und bezeichnete den Kammerdiener als einen gefährlichen +Menschen, der im Trüben fische und das sonderbar erscheinende +Vertrauen, das man ihm schenke, lediglich zu seinem Vorteil ausbeute. + +Bisher war Teut nichts von allen diesen Dingen zu Ohren gekommen. Es lag +auch in der Natur der Sache, daß man gegen ihn Verhältnisse nicht +berührte, in denen er selbst eine so hervortretende Rolle spielte. + +Inzwischen aber ereignete sich etwas, das ihm über die Anschauungen der +Menge die Augen öffnete und was nicht ohne Rückwirkung auf ihn selbst +blieb. Die Offiziere verkehrten häufig in der Familie eines Herrn von +Ink, eines Gutsbesitzers, der vor längeren Jahren, bei Gelegenheit einer +zweiten Heirat, seinen Besitz verkauft und eine Übersiedelung in die +Stadt bewirkt hatte. Er war ein mehr als harmloser Mensch, der niemandem +sonderlich gefiel, aber auch niemandem im Wege stand. Seine Gattin +dagegen gehörte zu jenen Frauen, deren rücksichtsloser Egoismus und +deren mit einem bedeutenden Verstand verbundene Thatkraft oftmals +bedauern lassen, daß ihnen nicht eine andere Stellung und ein anderer +Wirkungskreis in der Welt angewiesen ist. + +Frau Olga konnte nur hassen oder lieben; richtiger gesagt: nur hassen +oder die Menschen sich dienstbar machen, denn sie besaß neben einem +übertriebenen Hochmut, wenig Herz und zertrat ohne Bedenken, was sich +ihr hindernd in den Weg stellte. Es war indessen bei allen diesen +Eigenschaften bezeichnend, daß sie gegen Menschen, die eine Stellung in +der Gesellschaft einnahmen, sich von einer geschmeidigen Höflichkeit +zeigte und nicht ruhte, bis es ihr gelang, in einen engeren Verkehr mit +ihnen zu treten. + +Ihr Hauswesen war musterhaft geordnet; man amüsierte sich gut in dem +Inkschen Hause. Frau Olga befolgte eine weise Lehre, die so wenigen +bekannt ist und jedenfalls selten befolgt wird. Sie betrachtete den Gast +wie einen Vogel, der sich nach seiner Neigung hier oder dort unter den +Baum flüchtet, nascht, zwitschert und nach Geschmack und Laune wieder +davonfliegt. + +Der Verkehr mit dem sprichwörtlich reichen Rittmeister Baron von +Teut-Eder war seit Jahren für Frau Olga eine unerfüllte Hoffnung +geblieben. Alle ihre Versuche, ihn heranzuziehen, scheiterten an seiner +höflichen, aber entschiedenen Abwehr. Dies reizte Frau von Ink um so +mehr, als Widerstand in solchen Fällen den Wert erhöht. Überdies besaß +sie drei Töchter, von denen eine aus der ersten Ehe ihres Gatten +stammte. + +Klara von Ink, ein blasses, äußerst graziöses, aber nicht mehr ganz +junges Mädchen, sah man häufig mit verweinten Augen. Zwei Menschen +konnten sich nicht ehrlicher hassen als Mutter und Stieftochter, aber +selten fand man auch zwei so verschiedene Charaktern. + +Klara war eine offene, aufrichtige, allem Schein abgeneigte Natur, +während die Tiefen der Seele einer Frau Olga noch niemand ergründet +hatte. Natürlich wünschte Frau von Ink ihre beiden recht hübschen Kinder +zu verheiraten, aber nicht minder lag ihr daran, sich endlich Klaras zu +entledigen. Teut war eine überaus glänzende Partie. Beide paßten im +Alter zusammen, und aus dieser Verbindung konnten sich ebensoviele +Annehmlichkeiten entwickeln, wie jetzt Mißhelligkeiten an der +Tagesordnung waren. Im übrigen würde Frau Olga auch ihrer Tochter +gleichen Namens oder der hübschen Eva nichts in den Weg gestellt haben, +obgleich der Rittmeister fast deren Vater hätte sein können. + +Ink und Teut hatten sich neuerdings bei einem Pferdehandel berührt. +Daraus entwickelte sich eine mehrfache Begegnung, die mit sich führte, +daß Herr von Ink den Rittmeister eines Vormittags in sein Haus +einzutreten und ihn an dem eben servierten Frühstück teil zu nehmen bat. +Teut konnte sich dem nicht entziehen, und nun hatte die ehrsüchtige Frau +endlich ihren Wunsch erreicht! Bevor der Gast Abschied nahm, mußte er +wohl oder übel noch eine Einladung zu einem unmittelbar bevorstehenden +Diner annehmen. Welch ein Triumph für Frau Olga, die sicher eine der +gewohnheitsmäßigen Absagen im letzten Augenblick gefürchtet hatte, als +der vielbesprochene Baron wirklich zu der festgesetzten Stunde eintraf +und damit dauernd für das Inksche Haus gewonnen zu sein schien. Aber +auch noch einen anderen längst verfolgten Plan hoffte Frau Olga durch +die Annäherung an den Rittmeister zu erreichen. Auch Claireforts +gehörten zu den Personen, mit denen es ihr nicht gelungen war, in nähere +Berührung zu treten, und nun fand sie eine bequeme und, wie sie +vermeinte, sichere Anknüpfung durch Teut. Die gräfliche Familie einmal +bei sich zu sehen, einen Blick in das dortige Hauswesen werfen zu können +oder gar mit Claireforts dauernd zu verkehren, gehörte zu jenen +sehnsüchtigen Wünschen, deren Erfüllung sie kaum zu hoffen gewagt. + +Schon bei dem Mittagessen--Teut hatte als letzter eingetretener Gast die +Ehre, die Frau des Hauses zu führen--brachte Olga das Gespräch auf +Claireforts, aber dieser wich geschickt aus. Er erzählte kurz und +bedauernd, daß es seinem Freunde körperlich und geistig schlecht gehe, +daß die Frau Gräfin sich infolgedessen mehr und mehr von aller +Geselligkeit habe zurückziehen müssen und im übrigen die vollendetste +Frau unter Gottes Sonne sei. Er ließ auch einiges über seine Person und +seine Verhältnisse fallen und erwähnte, daß die Verwaltung seiner +Besitztümer durch fremde Hand manche Unzuträglichkeiten mit sich führe. +Er sei aber, wie er hinzufügte, ein Gewohnheitsmensch und zudem ein +eingereichter Soldat, der nur sein Handwerk, seine Pferde und die Jagd +liebe und dabei doch so bequem werde, daß er beispielsweise eine +Einladung seines Vetters zu einem auf acht Tage berechneten Feste auf +dessen Gütern ausgeschlagen habe. + +Nur eins hätte ihn bestimmen können, seines Verwandten Aufforderung +Folge zu leisten, und zwar der Wunsch, darauf hinzuwirken, daß dieser +unverbesserliche Junggeselle nun endlich heirate. + +„Ah, das sagen Sie?“ rief Frau von Ink, von diesem Gespräch besonders +gefesselt, „Sie, der Sie ja fast ein Weiberfeind sind, das heißt--mit +einer Ausnahme,“ fügte sie lächelnd hinzu. + +„Ich bestreite dies entschieden, gnädige Frau,“ erwiderte Teut, ohne den +Schlußsatz zu beachten. „Ich verehre die Frauen wie alles Schöne auf der +Welt, aber ich habe kein Glück und kein Geschick im Verkehr mit ihnen. +Zudem--je älter man wird--“ + +„Sie sprechen von Alter!?“ + +Teut nickte. „Gewiß, wie hoch schätzen Sie mich, gnädige Frau?“ + +„Nun, jedenfalls sind Sie in dem besten--im Heiratsalter. Was, liebes +Kind?“ unterbrach sie sich entschuldigend, als plötzlich Eva hinter +ihren Stuhl trat und eine Frage an sie richtete. + +Teut schob sich artig zurück, während die Damen einige Worte +austauschten, und zugleich beobachtete er Olgas Tochter genauer. Eva +glich einer wilden Rose in ihrer Erscheinung: sie war in der That sehr +hübsch, aber das Gesicht war geistlos. + +„Ich bitte um Verzeihung!“ wandte sich Frau Olga wieder zu ihrem Gast. + +„Ein schönes junges Mädchen,“ sagte Teut verbindlich und von einer +gewissen Absicht beherrscht. „Sie haben hier gleich einen Beweis, daß es +unmöglich ist, die Frauen nicht zu verehren.“ + +Frau Olga sah mit einem Anflug angenehmer Überraschung den Sprechenden +an. Hatte sie recht gehört? Sie wußte von Teut, daß er wohl Derbheiten, +aber selten Artigkeiten zu sagen pflegte. + +„Ah, Sie Spötter!“ erwiderte sie, in der Absicht, mehr zu hören. Teut +aber lächelte und schwieg. Es gefiel ihm, sie in Zweifel zu lassen. +Endlich sagte er: + +„Ihre beiden Jüngsten--Zwillinge, wenn ich nicht irre?--sind gleich +liebreizend. Das ist sehr schlimm.“ + +„Schlimm? Wie so? selbst unter der Voraussetzung der Richtigkeit Ihrer +schmeichelhaften Behauptung.“ + +„Nun schlimm insofern, gnädige Frau! als doch niemand beide Damen zu +heiraten vermag, und weil eine von ihnen zu wählen, neben der höchsten +Befriedigung des Besitzes zugleich den höchsten Schmerz über einen +sicheren Verlust hervorrufen würde.“ + +„Ich vermute, Sie wollen ein wenig Spott treiben,“ sagte Frau Olga. +„Überhaupt--und damit zugleich ein offenes Bekenntnis--, nachdem ich +endlich das Glück habe, Sie näher kennen lernen zu dürfen, finde ich +doch die Bestätigung dessen, was man mir so oft erzählt hat.“ + +„Nur eine Bestätigung?“ scherzte Teut. „Ich hatte gehofft, daß meine +Person die Beschreibung weit überträfe, denn ich bin überzeugt, Sie +finden nur Gutes.“ + +„Wer weiß! Sie sind der erste Mann, der mir im Leben begegnet ist, vor +dessen Sarkasmus ich mich fürchte.“ + +Dergleichen halbe Artigkeiten und halben Tadel enthaltende Äußerungen +liebte Frau Olga. Sie hatte unzählige bereit, wenn sie jemanden fesseln +wollte. + +Zu ihrem Erstaunen sagte Teut ernst: + +„Es liegt vielleicht etwas Berechtigtes darin, gnädige Frau. Ich bin ein +so ehrlicher Hasser der gesellschaftlichen Lüge und Vergeltung, daß ich +rücksichtslos meine Meinung, oft genug meinen Abscheu dagegen +ausspreche. Und natürlich, jeder, der nicht mit Komödie spielt, wird +naturgemäß gefürchtet.“ + +Frau Olga kam in eine etwas unbequeme Stimmung; es war ja fast +undenkbar, daß ein Mann von so guter Erziehung wie Teut diese Bemerkung +gegen sie persönlich zugespitzt hatte, aber andererseits konnte sie kaum +anders, als diese auf sich beziehen. + +Es lag auch in ihrer Art, dergleichen nicht zu übergehen, denn ihre +Klugheit verließ sie nur allzu häufig, wenn ihre Empfindlichkeit oder +ihre Eitelkeit verletzt wurden. Sie entgegnete deshalb in einem recht +schroffen Tone: + +„Nein, meine Furcht stützt sich auf etwas anderes, Herr Rittmeister. Was +Sie hervorheben, könnte ja in unserem Verkehr überhaupt keinen Anlaß zu +einer solchen geben!“ + +„Natürlich,“ sagte Teut ernsthaft, ließ aber einen infam ironischen Zug +um seine Mundwinkel spielen. „Und bitte, weiter, meine Gnädige?“ + +Frau Olga hob in einiger Erregung das Glas empor, das Teut eben gefüllt +hatte, trank es hastig aus und erwiderte, mühsam ihren Unmut +versteckend: + +„Ich liebe die Gradheit und Offenheit wie Sie. Diese kann mich nur mit +Respekt erfüllen und wird mir nie Unbehagen einflößen. Aber Ihre--“ Sie +stockte. + +„Nun, gnädige Frau?“ + +„Ah, gleichviel!“ machte Olga und zuckte die Achseln. + +„Wie, meine gnädige Frau,“ sagte Teut in einem verbindlichen Tone und +doch mit demselben teuflischen Lächeln, „Sie laden mich in Ihr sonst so +unvergleichliches Haus und wollen mich auf die Folter spannen? Ist das +christlich? Ich bitte--wenn nicht etwas Bedenkliches für mich die Folge +sein soll--“ + +„Ja, ja! Das ist es! Sie sind boshaft! Sie sind's auch jetzt! Das ist +eine Eigenschaft, die mir allerdings Furcht einflößt, ja, die ich hasse, +denn es giebt gegen diese keine Waffen.“ + +In diesem Augenblick schlug Herr von Ink ans Glas und brachte eine +seiner gewöhnlichen geistlosen Gesundheiten aus. + +Auch das reizte Frau Olga. + +„Sehr, sehr hübsch!“ warf Teut hin und bewegte den Kopf. + +Frau Olga hätte ihn mit dem silbernen Fischmesser töten können. + +Nach dem Diner ging man in den Garten und nahm den Kaffee. Sodann wurde +ein Ausflug zu Pferde und Wagen geplant. + +Vor dem Inkschen Hause hielten bereits die Stallknechte mit den +Reitpferden, und die Kutscher warteten auf dem Bock. + +Teut, der meistens in einem zierlich gebauten, für zwei Personen +berechneten Wagen kutschierte und dessen langgeschweifte, dunkelschwarze +Renner ihm allseitig beneidet wurden, bot Frau Olga den Platz in seinem +Wagen an. Sie war sehr glücklich über diese Auszeichnung, um so mehr, +als bisher nur Frau Ange Clairefort eine solche genossen, freilich so +oft genossen hatte, daß der verleumdungssüchtige Mund der Stadt dies +Fuhrwerk schon mit einem Spottnamen belegt hatte. + +Der Nachmittag war herrlich. Man hatte mit Rücksicht auf den Ausflug +früher gespeist, und es winkten angenehme Stunden. + +Als alles sich passend zusammengefunden hatte, gab Rittmeister von Zirp, +der häufigste Gast des Hauses, ein nicht ganz übler, aber wegen seiner +unbedachtsamen Schwätzereien Teut nicht allzu sympathischer Kamerad, +das Zeichen zum Aufbruch, und die lustige Kavalkade setzte sich in +Bewegung. + +Schon bei der Abfahrt hatte sich viel Volk zusammengefunden, das die +Kutscher in ihren bunten Livreen und die prächtigen Reitpferde +anstaunte. Allen voran fuhr Teut mit Frau Olga. Seine Renner flogen +dahin, und in der That war es begreiflich, daß die Augen der Einwohner +sich besonders auf dieses Gefährt richteten. War man doch gewohnt, nur +Ange an der Seite des Rittmeisters zu sehen, während jetzt die nicht +minder viel besprochene Frau von Ink neben dem bizarren Rittmeister +dahinkutschierte. + +Mit einer großen Spannung sah Olga dem Augenblick entgegen, wo sie an +der Clairefortschen Villa vorbeifahren würden. Ob Teut wohl +hinüberschauen, ob wohl zufällig die Gräfin auf dem Balkon oder im +Garten sein werde? Olgas Triumph über die viel beneidete Frau wäre ein +vollendeter gewesen! Aber als sie die Villa erreichten, lag das Haus +inmitten seines herrlichen Parkes wie ausgestorben. Nicht einmal eins +der Kinder, auch niemand von der Dienerschaft war sichtbar. + +Plötzlich machten die Pferde--gewohnt, hier zu halten--eine rasche +Seitenbewegung, und Olga ergriff unwillkürlich Teuts Arm, indem sie +einen leisen Schrei ausstieß. + +„Was ist, meine Gnädige?“ fragte Teut kurz und wandte den Blick in +raschem Wechsel von der Villa zu den Tieren und von diesen zu ihr. + +Olga erklärte entschuldigend, und der Wagen eilte weiter. + +„Sie scheinen etwas ängstlich zu sein! Wünschen Sie, daß ich langsamer +fahre?“ fuhr er fort und zog die Zügel an. + +Olga verneinte, obgleich das Gegenteil der Fall war. + +„Neben einem so vollendeten Pferdelenker kann man keine Furcht +empfinden,“ sagte sie, in ihren schmeichelnden Ton zurückfallend; aber +sie bereite, gerade dieses Wort gebraucht zu haben, denn Teut fiel ein +und rief lachend: + +„Ah, also auf dem Bock bin ich nicht gefährlich, gnädige Frau? Wenn Sie +sich nur nicht täuschen werden!“ + +Nach einigen Zwischengesprächen brachte Olga nochmals die Rede auf Ange. +Sie wollte durchaus etwas Näheres über sie aus seinem Munde hören. + +„Frau von Clairefort ist wohl eine treffliche Reiterin und soll, wie ich +höre, selbst mit Vieren erstaunlich sicher fahren?“ + +„Allerdings, sie sucht ihresgleichen!“ erwiderte Teut, kurz abbrechend, +machte Olga--mit der Peitsche in die Ferne weisend--auf einen hübschen +Punkt aufmerksam und erging sich über diesen und die Umgegend in +lebhafte Lobeserhebungen. + +Olga verstand. Er wollte nicht von Claireforts sprechen. Es ärgerte sie, +daß er diese Menschen gleichsam wie seine Domäne betrachtete und durch +Sein Ausweichen den Abstand andeuten zu wollen schien, der zwischen ihr +und Ange lag. + +Sie beschloß aber doch noch einen Versuch zu machen. Vielleicht stand +sie auch nur unter einem Vorurteil! Sie nahm letzteres an, weil sie es +wünschte. + +„Es interessiert mich sehr, etwas über Frau von Clairefort zu erfahren,“ +begann sie. „Ich erinnere mich nicht, jemals einer so schönen und +interessanten Frau begegnet zu sein, und würde es als eine Bevorzugung +ansehen, ihr einmal persönlich näher treten zu dürfen. Sie soll +neuerdings sehr ernst geworden sein und sich fast ausschließlich der +Erziehung ihrer Kinder widmen? Übrigens, welch eine Schar von +entzückenden Geschöpfen!“ + +Teut fiel bei diesen Worten Anges Trauer und alles das wieder ein, was +ihn so lebhaft beschäftigte. Auch reizte ihn die etwas zudringliche Art +Olgas, nachdem er hinlänglich an den Tag gelegt hatte, daß er über +seine Freunde nicht sprechen wollte. Er sagte deshalb, ganz entsprechend +seiner Art: + +„Meine Freunde haben ihren Umgang aus vorher schon erwähnten Gründen +wesentlich eingeschränkt und leben sehr zurückgezogen. Ich würde sonst +mit Vergnügen bereit sein, der Frau Gräfin Ihre Wünsche zu übermitteln, +gnädige Frau, und bin überzeugt, daß Sie bestätigt finden würden, was +ich Ihnen bereits bei Tisch über die Familie mitteilte. Überdies ist es +möglich, daß uns Claireforts verlassen werden, sobald der Graf seinen +Abschied genommen hat.“ + +„Nimmt er seinen Abschied?“ fragte Olga, zugleich durch eine Bewegung +ihren Dank für Teuts Bereitwilligkeit ausdrückend. „Ich denke, man giebt +ihn dem Herrn Grafen.“ + +„Wer sagt das?“ fuhr Teut auf und lenkte mit rascher Biegung in einen +Seitenpfad. + +„Nun, ich hörte so, Herr Rittmeister. Ich bin indes durch den Ton Ihrer +Frage belehrt und bitte um Verzeihung. Übrigens zirkulieren über die +Clairefortsche Familie so viele widersprechende Nachrichten und sie +bildet so oft den Gegenstand des Gespräches, daß es schwer ist, sich ein +einigermaßen zutreffendes Bild von derselben zu entwerfen.“ + +Teut horchte gespannt auf. Beide Hände waren beschäftigt; nur allzu gern +hätte er seinen Schnurrbart gedreht. „Wie? Meine ruhig lebenden, +liebenswürdigen Freunde werden so viel besprochen? Es ist das erste Mal, +daß ich dies höre. Nun, ich denke, man kann nur Gutes von ihnen sagen, +gnädige Frau,“ entgegnete er mit gezwungener Sorglosigkeit. + +Olga schwieg. Da sie ihre Pläne vereitelt sah, wollte sie wenigstens +ihre kleine Frauenrache. + +Teut ließ die Pferde im Schritt gehen, sah mit einem nicht +mißzuverstehenden Blick seine Begleiterin an und sagte: + +„Sie schweigen, meine gnädige Frau. Ich bitte da Sie selbst das Thema +berührten.“ + +Nun gut! dachte Olga und fuhr laut fort: „Setzt es Sie in Verwunderung, +daß man über eine Dame spricht, die so abweichende Gewohnheiten hat wie +Frau von Clairefort, die reitet und selbst auf dem Bock sitzt, die so +schön und so lebhaft ist, deren Mann sich vor der Welt mit seinem +geheimnisvollen Kammerdiener verschließt, und der mit einem so +ungewöhnlichen Aufwande sein Hauswesen einrichtete, um plötzlich man +sagt so--eine fast ängstliche Sparsamkeit einzuführen?“ + +Olga brach ab. Was sie sagte, war nicht verletzend, aber sie wußte, daß +jedes Wort Teut kränken mußte. + +„Sie sprachen noch nicht von mir. Ich gehöre doch auch zu den +Gegenständen dieser sehr überflüssigen Betrachtungen des verehrlichen +Publikums. Wollen Sie nicht die Güte haben, nun auch die Ansichten über +mich beizufügen,“ erwiderte Teut, ohne eine Miene zu verziehen. + +„Ich glaube nur die Thatsachen, aus denen Urteile und Ansichten sich +folgern, wiedergegeben zu haben, Herr Rittmeister.“ + +„Ganz recht, meine Gnädige. Und die Thatsachen, die sich auf mich +beziehen?“ + +„Sie sind täglicher Gast im Hause und erscheinen öffentlich stets neben +Frau von Clairefort--“ + +„Allerdings, und weiter, wenn ich bitten darf?“ + +„Nun, deshalb glaubt das Publikum ein Recht zu haben, Bemerkungen zu +machen, die freilich und natürlich jeder Unbefangene verdammt.“ + +„Ah, vortrefflich! Und zu diesen Unbefangenen gehören auch Sie, gnädige +Frau, und der Intimus Ihres Hauses, Herr von Zirp?“ + +Der Ton, in dem Teut diese Worte sprach, war allerdings impertinent, ja +beleidigend; aber der Blick, mit dem Olga erwiderte, gab nichts nach. + +Das Gespräch verstummte, und unter einer recht peinlichen Stimmung +legten beide den übrigen Teil des Weges zurück. Vor Teut war ein Vorhang +zurückgezogen, dessen Hintergrund ihn erschreckte. Er biß sich auf die +Lippen und knirschte mit den Zähnen. Diesen Engel hatte man zu +verdächtigen gewagt, und eine Frau wie seine Begleiterin fand eine +boshafte Freude an der Wiedergabe solchen Geschwätzes. + +Teut durchschaute Olga nur zu gut. Da er ihr die Aussicht genommen, mit +Ange in Berührung zu treten, ließ sie die Maske fallen und zeigte ihr +wahres Gesicht-- + +Ärger und Reue wühlten in ihr. Sie fühlte, daß sie durch dieses Gespräch +alles verloren hatte. Ihr entging vielleicht sogar das, was sie mit +etwas mehr Selbstbeherrschung sich hätte erhalten können: der künftige +Umgang mit dem für sie doch allzu interessanten Rittmeister. + +Und diese Einsicht, aber auch die Hoffnung, daß er vielleicht vergessen +könne, veranlaßte sie, zuerst wieder das Wort zu ergreifen und in +möglichst unbefangener Weise gleichgültige Gesprächsgegenstände zu +berühren. Es ward ihr dies erleichtert, da man inzwischen nahe dem Ziele +war, und einige Herren, darunter mehrere von Teuts Kameraden, +herangaloppierend, sich dem Wagen näherten. + +„Wir fürchteten schon, daß Herr Rittmeister von Teut Sie zu entführen +gedenke, gnädige Frau!“ rief einer von ihnen, ein junger Assessor. „Sie +waren uns gänzlich entrückt, und wir haben Mühe gehabt, Sie einzuholen. +Aber da kommen auch die übrigen,“ fuhr er fort, und in der That stob +eine Wolke auf, in deren grauem Staubnebel man Pferdeköpfe, blitzende +Knöpfe und blanke Uniformen erkannte. + +Teut, der an alles dachte, hatte seinen Reitknecht vorausgesandt. Als +man am Bestimmungsort eintraf, stand dieser schon wartend da und nahm +das Gefährt in Empfang. + +Während Teut Olga vom Wagen hob, drückte sie ihm leicht die Hand und +flüsterte: „Sie sind verstimmt, Herr Rittmeister. Unsere gute, eben +begonnene Freundschaft hat doch keinen Stoß erlitten? Ich hoffe es +nicht.“ + +Teut aber sagte: „Sie hatten doch recht mit Ihrer Befürchtung, meine +gnädige Frau. Ich nehme den halben Zweifel, den ich bei Tisch aussprach, +jetzt ganz zurück.“ + +Nach diesen Worten verbeugte er sich artig und ließ Olga betroffen und +nach einer Deutung seiner Worte suchend, stehen. + +Wie sehr deren Laune durch diesen Zwischenfall gelitten hatte, davon +erhielt Klara einen nachdrücklichen Beweis, die, einer guten Regung +folgend, auf sie zugeeilt kam, und sich nach ihrem Befinden erkundigte. +Ohne ihr darauf zu antworten oder gar zu danken, herrschte Olga sie an: + +„Mein Gott, wie Dir nur wieder der Hut sitzt und wie Du Dein Kleid +zugerichtet hast! Sieh nur! Wie ein Harfenmädchen siehst Du aus! Geh und +ordne Deine Toilette!“ + +Und unmittelbar nach diesen in einem empörenden Ton gesprochenen Worten +wandte sie sich mit ihrem liebenswürdigen Lächeln zu einem der Herren, +der an sie herantrat und ihr den Arm bot. + +Klara stand einen Augenblick leichenblaß. Ihre Augen füllten sich mit +Thränen des Zorns, und ihr Gesicht glühte vor Erregung. + +Die Gesellschaft nahm nach einem kurzen Spaziergang, dessen Ziel ein +hübsches Wäldchen gewesen war, das Abendessen auf einer Terrasse ein, +welche einen zu dem Wirtshause gehörenden Garten begrenzte. Links- und +rechtsseitig von derselben zog sich die Landstraße hin, und geradezu +schaute man auf den Fluß. + +Es war in der That ein außerordentlich schöner Punkt. Langsam zogen, von +der Abenddämmerung schon halb verschlungen, große Segelfahrzeuge +vorüber, die, aus der Flut geheimnisvoll auftauchend, einem Traumbilde +anzugehören, nicht aber die Vermittler harten Tagewerkes zu sein +schienen. + +Aber drüben sah man auf der stahlgrauen, vom zarten, rötlichen +Abendsonnenschein umrahmten Wasserfläche die größeren Segelfahrzeuge +wie abgelöst von der spiegelstillen Flut, und die zwischen ihnen hin- +und herirrenden kleineren Böte erhöhten durch den Gegensatz die +majestätische Ruhe ihrer Erscheinung. + +Im Nachtschlaf ruhten schon die Wälder, von drüben erscholl friedlicher +Gesang, mitunter ertönte auch ein helles Hallo über das Wasser; und vom +jenseitigen Ufer, an dem die glitzernden Lichter der Wirtshäuser +aufblitzten, drang einmal leise Militärmusik herüber. + +Und über all diesem: über der silbernen Stahlflut, über den stummen +Gebüschen, über den traumselig dahingleitenden Fahrzeugen, über den +Menschen mit ihren ernsten oder sorglosen Gedanken, schwamm der Mond am +blaudunklen Himmel und sandte sein weltdurchleuchtendes, geisterhaftes +Licht herab. + +Im ganzen weiten Umkreis eine einzige gewaltige, schneeweiße Wolke mit +Riesenfangarmen und Flügeln, unmittelbar über der Mondscheibe schwebend, +gebannt, unbeweglich, gleichsam im Schönheitszauber erstarrt. + +Teut stand an dem Rande der Brüstung und überschaute die Landschaft. +Auch die übrigen hatten sich erhoben, denn nun rasselte es über der +nahen Brücke, und in überschnellem Lauf flog ein Wagen dahin. Deutlich +waren Menschen und Dinge noch erkennbar. + +Und dann plötzlich erscholl aus Kindermund der laute und jubelnde Ruf: +„Onkel Axel! Onkel Axel!“ und aus dem vorübereilenden Wagen winkten +Händchen, und eine schöne junge Frau, die den Wagen lenkte, nickte +lebhaft, und neigte, die Gesellschaft bemerkend, mit verlegener +Artigkeit das Haupt. Es war Ange, die, von einem ihrer Ausflüge +heimkehrend, jetzt rasch nach Hause drängte. + +Wie sie so dasaß mit dem vornehmen, auf den feinen Schultern ruhenden +Kopf, umweht von dem weißen Schleier, der in die Abendluft +hinausflatterte, so leicht und graziös in der Erscheinung und doch so +fest und sicher die Zügel der raschen und ungeduldigen Pferde regierend, +mußte sie die Blicke der Menschen fesseln. In wenigen Sekunden jedoch +war sie den Nachschauenden entschwunden, und unwillkürlich wandten sich +aller Augen auf Teut. + +Es gab wohl niemanden in der Gesellschaft, den nicht der gleiche Gedanke +beherrschte, und einer von ihnen gab diesem auch Ausdruck. Es war der +Assessor, der mit zudringlicher Vertraulichkeit an Teut herantrat und +leicht hinwarf: + +„Da war ja Ihre kleine, entzückende Gräfin, Herr Rittmeister--“ + +Aber er sprach nicht aus, denn Teut wandte sich mit seinem +starkknochigen Gnugesicht zu ihm, und indem er den Sprechenden mit einem +Blicke musterte, vor dem jener unwillkürlich den seinigen zu Boden +senkte, sagte er mit schneidender Zurückweisung: + +„Da war die Frau Gräfin Ange von Clairefort, mein Herr! Der von Ihnen +beliebte Ausdruck war respektwidrig und äußerst unpassend! Sie werden +die Güte haben, sich dies für kommende Fälle zu merken!“ + +Und dann drehte er dem gemaßregelten Assessor den Rücken und ging auf +Klara von Ink zu, mit der er sich, ohne die übrige Gesellschaft für den +Rest des Abends sonderlich zu beachten, ausschließlich beschäftigte. + +Auch bot er, den Augenblick erspähend, wo Olga einen Platz neben Baron +von Zirp wählte, jener seinen Wagen an und kutschierte, seinen +Reitknecht hinter sich, eilend in die Stadt zurück. Seine Verabschiedung +von Inks war überaus höflich, aber förmlich. Auch lehnte es Teut ab, an +diesem Abend der Aufforderung seiner Kameraden zum weiteren +Beisammenbleiben zu folgen. + +Als der Wächter die Morgenstunde abrief, saß er, die Hand an die Stirn +gestützt, noch immer grübeln in seinem juchtenduftenden Arbeitszimmer. +Ein wilder Kampf von Empfindungen, der in seiner Brust tobte, raubte ihm +Ruhe und Schlaf. + + * * * * * + +Ange ward, als sie dem Wagen entstieg und ihre kleine Schar von der +Dienerschaft herabgehoben wurde, von dem ernsten Ausdruck überrascht, +der sich in Tibets dienen widerspiegelte. Er stand, wie immer, wenn sie +zurückkehrte, vorn auf dem Treppenausbau der Villa und öffnete +ehrerbietig die Thür. + +„Was ist?“ fragte sie ängstlich und hieß ihn durch ihre lebhaften +Gebärden rascher sprechen, als es seine Gewohnheit war. + +„Carlitos hat heute nachmittag einen heftigen Anfall von Ohnmacht und +Erbrechen gehabt; wir haben ihn gleich ins Bett gebracht, Frau Gräfin.“ + +Ange schrie auf und flog die Stufen empor. + +„War der Arzt schon da? Ist der Graf in seinem Zimmer?“ redete sie +hastig im Vorübereilen die Kammerjungfer an, ohne die Antwort +abzuwarten. Sie durcheilte die Wohnräume und erreichte das Kinderzimmer. +Hinter ihr schoß wie immer der Strom der Kleinen, die rasch abgezogenen +Kleider und Hüte in den Händen und achtlos nach sich schleifend. + +„Stille, stille, süße Kinder! Unser Carlitos ist nicht wohl!“ dämpfte +sie, als jene ins Gemach stürmten. Sie saß bereits an dem Bett ihres +Knaben und ließ die Hand auf seiner heißen Stirn ruhen. „Wachst Du, mein +Carlitos?“ flüsterte sie und neigte sich zu ihm herab. + +Er wachte nicht und er schlief nichts; er wälzte sich unruhig hin und +her, und die Hände erglühten in trockener Fieberhitze. Ange übergab die +lebhafte Jorinde und die übrigen Kinder der eintretenden Jungfer und +hieß sie ins Speisezimmer hinübergehen. Sie selbst eilte, nachdem sie +kühle Tücher über Carlitos' Stirn gelegt, zunächst in das Zimmer ihres +Mannes. + +Der Graf saß--ein schmerzerweckender Anblick--in seinem großen Stuhl und +hatte den Kopf in die Hände vergraben. Die Vorhänge waren fest +zugezogen, die mit einem grünen Schirm umgebene Lampe verbreitete ein +mattes, schwermütiges Licht, und eine atembeengende Luft erfüllte das +Gemach. Dazu die unheimliche Stille und diese peinliche, den Dingen ihr +fröhliches Gesicht raubende Ordnung. Ange erschien der dumpfe Raum wie +eine Gruft; unwillkürlich schrak sie zusammen. Und kein Lebenszeichen +von ihm, als sie die Thür öffnete. Er war entweder eingeschlafen oder +eine Erschöpfung hatte ihn in einen halbwachen, willenlosen Zustand +versetzt. + +„Lieber Carlos!“ sagte Ange weich und trat an den Stuhl, in dem die +große gebrochene Gestalt ruhte. + +„Du wünschest?“ fragte eine tiefe Stimme. + +„Weißt Du denn nicht, daß unser Carlitos krank ist? Ich komme, Dich zu +fragen, was der Arzt gesagt hat. Ich bin in großer Sorge.“ + +Er neigte langsam und müde den Kopf zur Bestätigung. + +„Es ist bis jetzt alles geschehen, was er angeordnet hat. Ich war bei +unserem Knaben. Er schläft. Der Doktor meint, man müsse die Nacht +abwarten, es würden vielleicht kalte Bäder nötig sein.“ + +„Und was ist es?“ fragte Ange äußerlich ruhig, innerlich von einer +unbeschreiblichen Angst verzehrt. + +„Ich weiß es nicht,“ sagte Clairefort tonlos und ließ das Haupt wieder +in die gestützte Rechte zurückfallen. + +Sie sank neben ihm herab und ergriff die schlaff herabhängende Linke. +„Mein Carlos!“ hauchte sie leise und innig. + +Er gab den Druck sanft zurück, aber er hob sie nicht auf, und für +Augenblicke schien es in dem Gemach wie ausgestorben. Nur ein leises +Schluchzen war vernehmbar, das aus Anges bedrängter Seele emporstieg. +Sie wußten beide, um was es sich handelte, weshalb sie neben ihm +hingesunken war und weinte. + +War das derselbe Mann, der einst um Ange von Butins Hand geworben, der +kräftige Mann, aus dessen Augen das Leben blitzte? + +Wie hatte man Ange ihr Glück geneidet! Er hatte sie umworben wie kaum +ein Mann ein Weib zuvor. Ihr Lächeln, ihr sanfter Blick berauschten ihn, +ihre Fröhlichkeit riß auch ihn mit fort, und jede noch so thörichte +Hoffnung auf eine ewige Dauer des Glückes teilte er mit ihr. + +Und wie Carlitos geboren ward und später Jorinde und Erna--hatte er +nicht im ungestümen Freudentaumel das Haus mit Blumen schmücken lassen, +seine Umgebung beschenkt und täglich stundenlang dankerfüllt an ihrem +Bett gesessen? Und ähnlich war's noch, als die beiden schönen Knaben zur +Welt kamen. Er plante mit Ange, was sie dermaleinst werden sollten, wie +er für ihre, für der übrigen Zukunft sorgen könne. + +Bei der Geburt der kleinen Ange hatte sich schon manches anders +gestaltet. Clairefort war nicht mehr so herzlich, so teilnehmend: andere +Dinge beschäftigten ihn. + +Es schien, als ob ihn etwas heftig bedrücke, als ob ein schwerer Kummer +an ihm nage. Die Rückkehr zu einer heiteren, sorgloseren Stimmung war +immer nur eine vorübergehende, und sie war stets mit einem sichtlichen +Zwang verbunden. Und dann wurde er immer finsterer, immer wortkarger, +immer ausweichender, lebte nur für sich, schalt wohl einmal in heftigem +Zorn, aber flüchtete sich doch wieder in seine Einsamkeit. + +Bei der Übersiedelung nach C. ergriff ihn scheinbar noch einmal die alte +Freude am Leben. Er überschüttete Ange mit Zärtlichkeit, lauschte ihre +Wünsche ab und sprach von einem neuen Leben in neuen Verhältnissen. Auch +verkehrte er nicht mehr so abgeschlossen und geheimnisvoll mit Tibet. + +Aber bald war's wieder wie ehedem, ja schlimmer, denn der alte Kummer +schien ihn von neuem zu bedrücken, und auch die Eifersucht verzehrte +ihn. Und doch suchte er sein Weib nicht an sich heranzuziehen, und nur +vorübergehend war er verständigen Auseinandersetzungen zugänglich. +Allmählich ward er leidend die nervösen Beschwerden nahmen zu. Der Arzt +hatte es ausgesprochen, es war nicht zu verbergen: ein unheilbares +Rückenmarkleiden zehrte an ihm. Zuletzt kam er um seinen Abschied ein. + +Nun saß er da; kein Mann, kein Soldat, kein Reitersmann mehr, gebrochen, +ein lebensmüder Greis, leise oder laut in Schmerzen wimmernd. + +Aber nicht körperliche Leiden hatten allein ihn gelähmt. Er hatte +geklagt über jede Ausgabe und doch nicht die Kraft gehabt, etwas zu +ändern, oder etwas zu verweigern. + +Ja, gewiß, auch die Sorgen quälten und verfolgten ihn. + +Und neben diesem gedachte Ange Teuts. Welch ein Mann, welch ein Freund! +Wie er eingegriffen hatte in die Verhältnisse, wie er alles so wohl +gestaltet, und wie mürrisch ihm Carlos gedankt hatte. + +Was sollte nur werden! Wie traurig, wie trostlos starrte der Frau das +Leben und die Zukunft entgegen! Heute war sie, von Teut wiederholt +ermuntert, einmal wieder hinausgefahren und hatte sich hineingeträumt +für Stunden in die alten sorglosen Zeiten. + +Ihre Gedanken wurden aber durch die Erinnerung an Carlitos unterbrochen. + +„Carlos, mein Carlos!“ flüsterte sie. „Ich leide entsetzlich, weil ich +weiß, daß Du leidest. Sag, Carlos“--sie stockte; sie drückte seine Hand +und legte ihr Köpfchen an seine Schulter--„liebst Du mich noch?“ + +„O Ange--Ange!“ preßte der Mann hervor. „Ob ich Dich liebe?“ + +Plötzlich wandte er sich mit mühsamer, aber rascher Bewegung zu ihr, +umfaßte sie mit seinen Armen, hob sie empor und bedeckte ihr Gesicht +mit Küssen und--mit Thränen. + +„Sag mir, was Dich beunruhigt, mein Carlos, was Dich bedrückt neben +Deiner Krankheit, um die ich Tag und Nacht sorge,“ hob Ange endlich an +und schmiegte sich fester an die Brust ihres Mannes. + +Clairefort zitterte, als ob er an ein Verbrechen erinnert werde. Sie +fühlte es. Ein drängendes, unerklärlich angstvolles Gefühl jagte durch +ihr Inneres. + +Aber er stand ihr nicht Rede, selbst jetzt nicht, wo ihre Seelen in +Liebe und Zärtlichkeit zusammenschmolzen, selbst jetzt nicht, wo das +Höchste sie ergriff, was Menschenbrust zu durchdringen vermag. + +Sie war zu vornehm geartet, etwas erzwingen zu wollen, was ihr nicht +freiwillig gewährt wurde. Und um ihn nicht im Zweifel zu lassen, +flüsterte sie besänftigend: + +„Nicht Neugierde läßt mich bitten, mein einziger teurer Carlos, nur +Sorge--Sorge--um Dich--“ + +Die letzten Worte wurden erdrückt durch ihr Schluchzen. Er aber seufzte, +von Seelenschmerz gefoltert, tief auf, und nun sein Haupt an ihrer Brust +bergend wie ein Kind, hauchte er: „O Ange, Ange, Du Engel--nicht nur dem +Namen nach ein Engel!“ + +Nachdem Ange ihren Mann verlassen hatte, beherrschte sie nur der einzige +Gedanke, wie sie ihrem Kinde helfen könne. Sie ordnete an, daß noch +einmal zum Doktor gesandt werde, und widerrief es doch wieder, weil er +kaum vor einer Stunde das Haus verlassen hatte. Sie befahl, anzuspannen, +um zu ihm zu fahren, und doch sandte sie den Wagen wieder fort. Endlich +beschloß sie noch einen anderen Arzt zu Rate zu ziehen und dies bei +jenem am nächsten Tage durch ihre Angst und Sorge zu entschuldigen. Sie +schrieb auch wirklich ein Billet, und ein Diener mußte damit forteilen; +aber er kam unverrichtet Sache zurück, da jener aufs Land gerufen war. + +Nun endlich wandte sie sich mit ihren Gedanken zu Teut. + +Konnte sie den Freund in so später Abendstunde zu sich bitten? + +Sie hockte an dem Bett des Knaben und betrachtete jede seiner +Bewegungen. Ach, wenn sie ihm doch nicht nachgegeben hätte, als er +darauf bestand, zurückzubleiben, um in dem nahgelegenen Weiher zu +fischen! Dort konnten giftige Dünste emporgestiegen sein--er mochte sich +heftig erkältet haben--oder ihm war gar ein Unfall zugestoßen, den er +verschwiegen hatte. So ging es in ihr auf und ab. Immer von neuem kühlte +sie des Knaben Stirn, rückte ihm das Kopfkissen, horchte, lauschte auf +seine Atemzüge und war zärtlich und ängstlich um ihn besorgt. + +Aber die Krankheit nahm nach Mitternacht einen heftigeren Charakter an. +Carlitos wollte aus dem Bett und sprach wirre Dinge. + +Er kämpfte mit ihr, während sie ihm weinend widerstand. + +„Ach, sei doch ruhig, mein lieber Carlitos, ich flehe Dich an! Siehst Du +nicht, daß Deine Mama bei Dir ist! Bitte, bitte, Carlitos, bleibe liegen +und rege Dich nicht auf!“ + +Aber er kannte sie schon nicht mehr, er raste in heftigem Fieber. + +In Todesängsten zog Ange die Schnur. Tibet erschien. Er saß geduldig +wartend im Nebenzimmer. „Gehen Sie, gehen Sie und sehen Sie, ob der Graf +noch wacht. Wenn er kommen kann, bitten Sie ihn zu mir; sollte er aber +ruhen--“ Jetzt rührte sich der Knabe wieder und schlug um sich. + +„O Tibet, Tibet, mein Kind! Nein, nein, hören Sie! Eilen Sie! Man soll +eine Wanne bringen, Eiswasser und dann--Ich danke Ihnen im voraus, +Tibet! Eilen Sie zu Herrn von Teut, sagen Sie ihm, ich ließe ihn +flehentlich bitten, zu kommen! Nicht wahr, der Doktor sagte, man solle, +wenn das Fieber schlimmer werde, ihn kalt begießen? Ah, und die Fenster +sind geschlossen! Wir müssen sie öffnen! Ich hörte, Luft, frische Luft +sei vor allem nötig!“ + +Und Tibet eilte fort, und die Frau war wieder allein mit ihrer Sorge +und Angst. + +Teut war erschienen, hatte getröstet und hatte geholfen. Er setzte den +Kleinen in die Wanne und tropfte Wasser aus großen Schwämmen über das +heißglühende Haupt; er hob ihn vom Lager und bettete ihn von neuem; er +ordnete an, daß die übrigen Kinder in andere Gemächer geschafft wurden, +und bewirkte durch seine Fürsorge, daß Carlitos gegen Morgen in einen +ruhigeren Schlaf versank. + +Aber war es, daß gegen dieses Rasen des Fiebers keine menschliche Hilfe +etwas vermochte, oder daß das unerforschliche Schicksal es bestimmt +hatte--das Herz dieser holden Frau sollte brechen. Nach zeitweiliger +Besserung tobte die Krankheit nur noch heftiger, und was man mit allen +Mitteln zu bannen suchte, schien sich lediglich zu verstärken. + +Die Ärzte suchten zu trösten, aber das Kind war verloren. Nach +mehrtägigem Ringen fielen des Knaben Wangen ein, eine seltsame Farbe +bedeckte sein Gesicht, trocken wurde Stirn und Hände, aus dem Munde +drang ein Hauch, vor dem Ange erbebte, und endlich--es ging ein Schrei +durch das Krankenzimmer--erlosch der Herzschlag des Kindes. + + * * * * * + +„Teut,“ sagte Ange, die in einem Zimmer nach Garten gebettet war +und--einem Marmorbild vergleichbar, das Thränen vergießt--jedes +menschliche Mitleid wachrufen mußte, einige Tage später, „eine Bitte +habe ich an Sie, wenn mein süßer Knabe--“--hier brach die Stimme und +verlor sich in ein so verzehrendes Schluchzen, daß des starken Mannes +Inneres erbebte--„wenn morgen Carlitos begraben wird, lassen Sie Lux und +Lady Anna den Totenwagen ziehen. Wissen Sie noch, Teut, wie Carlitos die +Tiere liebte? Sie zu besitzen, war sein höchster Wunsch. Er wollte ganz +werden wie Sie, Teut. Alles, was Sie thaten, was Sie besaßen, war +unnachahmlich. Nicht wahr, Sie haben ihn auch geliebt--?“ + +Thränen erstickten von neuem ihre Stimme. + +Teut wandte sich ab und trat ans Fenster. Ja, ihr Wunsch sollte erfüllt +werden, aber es bedurfte dazu einer Vorbereitung, vor der Teut einen +Augenblick zurückschreckte. Diese wilden Geschöpfe gingen in keinem +bedächtigen Trauerschritt; sie mußten gejagt, erschöpft werden, um +sanften Schrittes des Knaben sterbliche Überreste an den Totenacker zu +führen. „Es giebt nichts, was ich Ihnen verweigern würde, Ange,“ sagte +Teut bewegt und reichte der blassen Kranken die Hand. „Ich gehe jetzt, +um alles vorzubereiten.“ + +Er riß sich gewaltsam von ihr los, besuchte Clairefort, der ganz +gebrochen daniederlag, und eilte nach Hause. Hier traf er noch einige +auf das Begräbnis bezügliche Anordnungen, und dann ließ er anspannen. +Seine zwei Diener mußten sich auf den Rücksitz setzen und nun verließ er +die Stadt. + +Im Carriere jagte Teut über die Landstraßen, fuhr die ganze Nacht, +erbarmungslos auf die Tiere einhauend, und als sie endlich +zurückkehrten, als Lux und Lady Anna standen, zitterten sie wie in +Fieberschauern und keuchten wie gemarterte Schlachtrufe. Ein Geschirr, +mit weißen Rosen, Lilien und Kamelien völlig übersät, war bereits +eingetroffen. Es ward Lux und Lady Anna angelegt, und sie selbst vor den +dunklen Trauerwagen gespannt, von dem unzählige Rosenbüschel in +denselben Farben herabhingen oder zu Blumenkronen aufgebunden waren. + +So erreichte Teut, von Scharen Neugieriger gefolgt, die Villa. + +Im Hause roch es scharf und unheimlich nach Lebensblumen und Lorbeer, +zudem erfüllte eine betäubende Luft alle Räume, denn Kränze und +schleifenverzierte Bouquets lagen berghoch in den Vorzimmern. + +Endlich war der Augenblick gekommen. Man hob den mit Blüten und +Blättern überschütteten Sarg empor und trug ihn hinab. + +Teut führte Clairefort und Ange, die jetzt thränenlos vor Schmerz, mit +irrem Blick, an seinem Arme hing, ans Fenster, öffnete es und ließ sie +hinausschauen. + +In diesem Augenblick ertönte in sanften Akkorden ein Trauermarsch, +langgezogen, schmerzvoll und jeden Anwesenden bis ins Herz rührend. + +Und dann sah Ange auf Teuts Lieblingspferde, die mit gesenkten Köpfen, +gleichsam mittrauernd und mitempfindend, dastanden und deren schwarze +Leiber von den weißen Abschiedsblumen umwunden waren, die Teut seinem +kleinen Freunde Carlitos mit auf den Weg gab. + +„Carlitos, Carlitos--mein einziger süßer Knabe!--O Carlos! Teut--Teut!“ +brach es aus Ange hervor, und in den ersterbenden Blick mischte sich ein +Ausdruck dankbarer Hingebung, der Teut für alles belohnen konnte. + +Endlich überließen die Männer Ange den Händen der Frauen und schlossen +sich den in Trauerkleidern harrenden Geschwistern des Verdorbenen an. +Wie sie schön waren mit ihren seinen, blassen Gesichtern und mit ihrem +goldenen Haar, und vor allem, wie rührend die kleine Ange aussah, die +hinter dem Sarge einherschritt. + +Es war, als sei die Mutter noch einmal jung geworden, nun aber kein +menschliches Gebilde mehr, sondern ein herabgestiegener Engel mit jenem +schwermütigen Verzicht in den ernsten Zügen, welche wir in den +Heiligenbildern großer Meister bewundern. + +Als die Klänge der Musik in der Ferne verhallt, als die letzten dunklen +Gestalten Anges Blick entrückt waren, als nun Wirklichkeit geworden, +wogegen sich die Gedanken und Empfindungen der Frau in überqualvollen +Tag- und Nachstunden aufgelehnt hatten, da schoß auch der Schmerz noch +einmal empor, stieß seine brennenden Zungen in das Herz der geprüften +Frau und bewirkte, daß sie mit einem dumpfen Schrei zu Boden fiel. + +So fand Tibet, der im Nebenzimmer, bleich wie ein Verurteilter, den +Vorgängen draußen mit dem Blick gefolgt war und nun erschrocken +herbeieilte, seine schöne, arme, geliebte Herrin. + +Wenige Wochen waren vergangen. Teut saß in dem Clairefortschen +Wohnzimmer und hatte die kleine Ange auf dem Schoß. Das Kind spielte mit +einer silbernen Kette, die aus dem Waffenrock hervorschaute, und zerrte +zuletzt daran. Schon oft hatte Ange auf das geheimnisvolle Ticken +gelauscht, nun trieb sie heute abermals die Neugierde. „Warte,“ sagte +Teut gutmütig, löste die Uhr und legte sie in die zarte Hand des holden +kleinen Mädchens. + +„Carlitos hatte auch eine Uhr,“ hob Ange an, während sie mit den +Fingerspitzen auf das Glas tupfte. Und zu Teut aufblickend, fuhr sie +fort: „Hat er sie mitgenommen? Ist sie auch beim lieben Gott?“ + +Als Teut nicht gleich antwortete, glitt sie ihm vom Schoß und rief +lebhaft: „Danach muß ich Mama fragen!“ + +Er aber hielt sie fest und zog sie abermals an sich. + +„Bleib, Ange. Mama schläft. Wir dürfen sie nicht stören. Ich will Dir +alles erzählen: Nein, mein Liebling, seine Uhr hat Carlitos nicht +mitgenommen. Die hat Dein Papa. Vielleicht, wenn Du erwachsen bist, +erhältst Du sie.“ + +„Die ist ja viel zu groß! Das ist ja eine Herrenuhr!“ rief Ange mit +abweisender Wichtigkeit; „Mama hat mir eine kleine versprochen--eine +ganz kleine, wie Bella ihre--“ + +„Bella? Wer ist Bella?“ + +„Das ist doch meine große Puppe.“ + +„Ach, verzeih, Ange, daß ich das nicht wußte.“ + +„Soll ich sie holen?“ nickte das Kind lebhaft. Und ohne Antwort +abzuwarten, lief sie fort und kam gleich zurück. + +„Es geht jetzt nicht, Onkel,“ erklärte sie ernsthaft, „Bella schläft.“ + +„So? Sie schläft? Kannst Du sie nicht wecken? Bitte, bringe sie, damit +ich sie kennen lerne.“ + +Ange schüttelte den reizenden Kopf, aber in das bleiche Gesichtchen +stahl sich ein schelmischer Ausdruck. + +„Da ist sie ja! Da ist sie ja! Und Du hast gar nichts gemerkt!“ jubelte +sie, zog das hinter dem Rücken versteckte Püppchen hervor und legte es +ihm in die Arme. „Ist sie hübsch, Onkel?“ + +„Sehr hübsch, Ange.“ + +„Ich habe noch eine, aber--“ + +„Nun?“ + +„Ben hat ihr ein Auge eingestoßen und auch die Nase.“ + +„Da muß ich Dir wohl eine neue schenken, Ange?“ + +Die Kleine schüttelte den Kopf. + +„Nein? Weshalb nicht?“ + +„Mama sagt, Du schenktest uns schon so viel. Wir dürften Dich nie mehr +um etwas bitten.“ + +„So, das sagt Mama? Aber Du hast ja nicht gebeten, Ange. Ich habe sie +Dir ja angeboten.“ + +Einen Augenblick sann das Kind und dachte nach, dann nickte es lebhaft: + +„Ja, eine recht große, die auch schlafen kann und ein seidenes Kleid +hat, Onkel Axel. Schenkst Du sie mir bald--heute?“ + +„Ich will sehen, Ange. Aber mir fällt etwas ein. Wenn ich Dir nun eine +Puppe bringe und den übrigen keine?“ + +„Die andern spielen ja gar nicht mehr mit Puppen!“ rief Ange, Teuts +Unwissenheit mit höchster Verachtung strafend. + +„Ganz recht! Aber sie möchten gewiß etwas anderes haben, was ihnen +Freude macht. Erna wünscht sich vielleicht einen seidenen Sonnenschirm, +Jorinde einen neuen Hut, und Ben und Fred möchten gerne kleine Ponys +haben.“ + +„Ja, ja, Onkel Axel,“ rief Ange stürmisch, „schenk ihnen Ponys, dann +können wir zusammen ausfahren--“ Aber sie unterbrach sich ebenso rasch: +„Nein, Onkel, es geht doch nicht. Mama will ja nicht, daß Du uns etwas +schenkst. Papa erlaubt es nicht.“ + +Teut horchte auf. + +„Er fragte Mama, woher sie ihr Geld hätte. Mama weinte und sagte, daß Du +uns Geld geschenkt hättest. Da wurde Papa so böse, daß wir auch alle +weinten und hinausgehen mußten. Mama darf nichts von Dir nehmen, Onkel. +Nein, Onkel, schenke Ben und Fred keine Ponys. Papa nimmt sie ihnen doch +weg, und sie werden bestraft. Aber ich will Papa bitten, ob Du mir eine +Puppe schenken darfst. Ja, Onkel? Mama soll ihn bitten.“ + +Teut antwortete nicht. Es schwirrte ihm noch in den Ohren, was das Kind +gesprochen, und seine Gedanken waren weit ab. + +„Onkel Axel, Onkel Axel! Hörst Du denn gar nicht?“ + +„Ja, mein liebes Kind,“ flüsterte Teut, wie aus einem Traum erwachend. +„Du wirst Deine Puppe erhalten.“ + +Ange klatschte in die Hände und sprang von ihm fort. + + * * * * * + +Am selben Tage in der Nachmittagsstunde öffnete Jamp die Wohnstubenthür +seines Herrn und meldete den Rittmeister von Zirp. + +„Ah, Zirp! Willkommen! Nehmen Sie Platz!“ + +„Ich störe doch nicht?“ + +„Keineswegs--bitte! hier Cigarren.“ + +Nach wenigen Augenblicken saßen sich die beiden Herren gegenüber. + +„Ich komme,“ hob Zirp an, „Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten, +Teut.“ + +„Bitte, wenn es in meiner Macht steht--“ + +„Also, ohne Einleitungen. Ich brauche fünftausend Mark, die ich +augenblicklich nicht habe, die ich aber durch Bürgschaft erhalten kann. +Ich wollte Sie nun bitten, liebster Teut, daß Sie--“ + +„Bürgschaften übernehme ich nie,“ erwiderte Teut. „Ich habe meinem Vater +einen Schwur geleistet, mich niemals in der Weise zu verpflichten. Also +dieser Fall ist ausgeschlossen.“ + +„Fatal! Ich brauche das Geld bereits morgen und weiß es sonst nicht +anzuschaffen.“ + +„Hm, bis morgen--?“ sagte Teut nachdenklich. Und nach einer Pause: +„Entschuldigen Sie die Frage, wie die Sache sich so auf die Stunde hat +zuspitzen können? Es wird gar nicht möglich sein, Ihnen so rasch zu +dienen.“ + +Teut schlug mit den Hacken zusammen, und in Zirps Mienen malte sich +einige Verlegenheit. Er streifte die Asche von der Cigarre auf den +Fußboden ab und benutzte dann mit einem nachträglichen „Pardon!“ den +bereit gestellten Aschbecher. + +„Bitte, bitte!“ schob Teut phlegmatisch ein. + +„Hören Sie, lieber Teut,“ begann Zirp mit gezwungenem Anlauf, „ich will +offen reden. Ich habe Wechsel ausgestellt, die bereits gestern fällig +waren. Ich hoffte sie auf die Stunde bezahlen zu können. Allein meine +Schwester, auf die ich sicher rechnete, hat mir mein Ansuchen +abgelehnt.“ + +Er hielt inne, aber Teut kam ihm nicht zu Hilfe. Eine peinliche Pause +trat ein. + +„Wohl,“ sagte Teut endlich und strich den langen Schnurrbart; „ich +begreife. Aber was ich durchaus nicht verstehe“--Zirp fand diesen +hochmütigen Ton, dieses etwas schulmeisterliche Wesen Teuts ganz +unerträglich--„wie wollen Sie denn nach der üblichen Frist von drei +Monaten zahlen?“ + +Zirp biß sich auf die Lippen und knipste abermals die Asche auf den +Teppich. + +„Können Sie eine Garantie geben, daß Sie um jene Zeit die +Schwierigkeiten zu beseitigen vermögen?“ + +„Gewiß, gewiß!“ erwiderte Zirp leichtfertig. + +„Und diese wäre?“ fuhr Teut unerbittlich fort. + +„Nun, meine Schwester wird sich breitschlagen lassen--“ + +„Hm! Aber wenn Sie sich nun doch in dieser Annahme irren?“ + +„Ah, das ist ja nicht denkbar! Sie muß ja--“ + +„Sie muß? Weshalb? Entschuldigen Sie--“ + +„Nun es steht doch alles auf dem Spiel, wenn ich nicht zahle. Sie +kennen ja die Konsequenzen.“ + +Zirp wagte während der Schlußworte das Auge nicht emporzuschlagen. + +Teut sah ihn an und schüttelte den Kopf; dann sagte er in einem milden +Ton: + +„Zirp! Sie waren bisher leichtsinnig. Ich schätzte Sie aber als +Ehrenmann. Wäre es nicht besser, Sie beugten bei Zeiten einer +Katastrophe vor, die mir bei dieser Sachlage unausbleiblich erscheint?“ + +Zirp hatte sich erhoben und ordnete auf der Etagère Teuts zahlreiche +Cigarrentaschen. Halb gärte es in ihm auf, halb packte ihn die bessere +Einsicht. Endlich sagte er: „Ich sehe, daß Sie mir nicht helfen wollen. +Bitte--“ unterbrach er seine Rede, als Teut eine Bewegung machte, „ich +mache Ihnen daraus keinen Vorwurf. Da Sie aber in bester Absicht +gesprochen haben--ohne Zweifel--wie soll ich mit Ihren Ratschlägen und +Hindeutungen auf die Zukunft morgen meine Verpflichtungen erfüllen?“ + +Ohne eine unmittelbare Antwort zu geben, sagte Teut, sich gegen die +Fensterbank lehnend und einen Siegelring an seiner kräftigen Hand +drehend: + +„Wer ist der Inhaber des Wechsels und wieviel sind Sie wirklich darauf +schuldig?“ + +„Matt hat das Papier in Händen,“ ertönte es kleinlaut. + +„Ich dachte es mir! Und wie viel empfingen Sie darauf?“ + +„Dreitausend Mark hat mir der Schuft gegeben.“ + +Teut sann einen Augenblick nach. Dann erhob er den Blick, sah Zirp +freundlich an und sagte kurz entschlossen: + +„Gut, dreitausend Mark und einen guten Zins über den landesüblichen will +ich Matt zahlen, auch selbst den Kerl vornehmen und alles für Sie +ordnen--“ + +„O Teut, lieber, braver Freund!“ + +„Halt, Zirp! Ich habe eine Bedingung: Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß +Sie nicht mehr spielen und nie mehr Wechsel unterzeichnen.“ + +Zirp machte eine zustimmende Bewegung. + +„Nein, nein, nicht so rasch! Besinnen Sie sich wohl!--Ferner: Sie +beantworten mir eine Frage, wahrheitsgetreu, ohne Rückhalt, als +Kavalier.“ + +Zirp horchte gespannt auf. Des Sprechenden Stimme klang +verändert--ernster, fast drohend. + +„Ich bitte, sprechen Sie, Teut.“ + +„Nein, Zirp, erst antworten Sie mir, ob Sie meine Bitte erfüllen wollen. +Was ich von Ihnen fordere, ist nichts, was Sie mit Ihren Grundsätzen in +Konflikt bringen kann, denn derjenige, der gut genug ist, in intimsten +Privatangelegenheiten als Freund zu helfen, ist wohl so viel wert wie +diejenigen, bei denen der Antragsteller die Stunden seiner Langenweile +vertreibt. Also?“ + +„Gut! Obgleich mir Ihre Rede unverständlich ist und obgleich ich fast +erschreckt bin durch den feierlichen Ton--ich gebe Ihnen hiermit mein +Ehrenwort, daß ich Ihre Frage nach bestem Wissen, wahrheitsgetreu, +beantworten werde.“ + +„Nun,“ hob Teut an, „dann frage ich Sie: Hat jemals jemand behauptet, +daß--die Gräfin Ange--Clairefort--meine--Geliebte--sei?“ Teut stieß die +Worte zögernd, in Absätzen hervor. In scharfer Abgrenzung markierten +sich die Linien seines mageren Gesichtes und seine Mundwinkel zuckten. +Zugleich schob er das Monocle ins Auge und schien Zirp mit seinen +Blicken durchbohren zu wollen. + +„Sie schweigen?“ drang es heiser aus Teuts Munde. „Gut! Das ist auch +eine Antwort. Ich danke Ihnen. Rechnen Sie auf mich; aber“--und ein so +drohender Ernst malte sich auf des Rittmeisters Zügen, daß Zirp +unwillkürlich zusammenschrak--„ich rechne auch auf Sie, daß Sie in +Zukunft Ihre Reitpeitsche jedem ins Gesicht schlagen, der es wagen +sollte, diese edle Frau auch nur durch eine Miene zu verdächtigen!“ + +Für Augenblicke war es stumm zwischen beiden Männern. Teut hatte sich +abgewandt und schaute auf die Gasse. Endlich trat Zirp näher und ergriff +dessen Hand. + +„Teut, welch ein Mensch sind Sie! Unter Tausenden ist nicht +Ihresgleichen. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich eingedenk sein werde +dieser Stunde und mich Ihnen bewähren werde als Freund. Dank, nochmals +Dank! Ich gehe jetzt. Adieu----.“ Zirp wartete. Keine Bewegung, keine +Antwort. + +Erst nach geraumer Zeit veränderte der Mann, dem ein so braves Herz +unter des Königs Rock schlug, seine Stellung, und mit einem Blick, in +dem sich widerspiegelte das Leiden seiner Seele, drückte er jenem die +Hand und bat ihn durch eine Bewegung, das Zimmer zu verlassen.-- + +Vierzehn Tage später empfing Teut von Zirp die Anzeige, daß dieser sich +mit Eva von Ink verlobt habe. Anfänglich starrte Teut das Billet +überrascht an und schüttelte den Kopf, bald aber ergriff er die Feder +und schrieb unter Beifügung des inzwischen eingelösten Wechsels die +nachfolgenden Worte: + +„Lieber Freund! Ich gratuliere. Sie haben den Weg eingeschlagen, der +Ihnen die Ausführung Ihrer Entschlüsse zu einem neuen Leben +erleichtert, ja, wie ich hoffe, sichert! Bravo deshalb! + +Stets Ihr + +Axel von Teut-Eder.“ + +Auch der Familie Ink sandte Teut seine Glückwünsche, aber einen Besuch +machte er nicht. + + * * * * * + +Der Sommer 1870 war gekommen, der Krieg zwischen Deutschland und +Frankreich stand vor der Thür. Eine ungeheure Erregung hatte alle +Gemüter ergriffen, und auch in C. sprach man von nichts anderem als von +diesem drohenden, in alle Verhältnisse eingreifenden Ereignis. Begierig +lasen die Männer die Zeitungen, eine Nachricht überholte die andere, und +in den militärischen Kreisen herrschte fieberhafte Spannung über die zu +erwartenden Marschordres. + +„Ist's wahr, ist's möglich?“ rief Ange und eilte Teut entgegen, der sich +sogleich zu seinen Freunden begab. „Haben Sie schon Befehl zum Ausrücken +erhalten? Wann? Wohin geht's? O, kommen Sie! Carlos ist in großer +Ungeduld, Sie zu sehen und zu sprechen.“ Und sie zog ihn mit sich fort +in ihres Mannes Gemach. + +Clairefort war kaum wiederzuerkennen. Die drei Jahre, seitdem er nach +C. versetzt war, hatten ihn völlig verändert. Sein Blick war unheimlich +starr, ein schwarzer Bart umrahmte sein Gesicht, und die mageren Finger +zuckten in nervöser Erregung. Er bewegte sich unsicher, hielt sich +meistens an den Möbeln fest und schritt auch dann mit jenen willenlosen +Bewegungen einher, an denen man die Rückenmarkleidenden erkennt. Durch +übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel hatte er seinen Zustand nicht +gebessert, und oft glich er, wenn er aus dem künstlichen Schlaf +erwachte, einem Geisteskranken. + +Heute war er klarer; er hob sich in seinem neuerdings für ihn +angefertigten Krankenstuhl empor und richtete einen fragenden Blick auf +den Eintretenden. + +„Schon etwas Neues, Teut? Wann geht's fort? Ah, und ich liege hier, ein +ohnmächtiger Kranker, und muß zusehen.“ + +Ange tröstete mitleidig und verwies auf Besserung, freilich ohne es +selbst zu glauben. Teut nickte ernst und gab Antwort auf diese und +spätere Fragen. + +„Ich denke, wir werden übermorgen C. verlassen“, sagte er. „Dem Oberst +ist nur mitgeteilt, daß wir uns bis dahin marschfertig halten sollen. +Eine bestimmte Ordre ist noch nicht eingetroffen.“ + +„Schon übermorgen,“ rief Ange erschrocken, ließ die Arme sinken, die +noch eben auf der hohen Lehne des Krankenstuhls geruht hatten, und legte +die Hand aufs Herz. Auch Clairefort wiederholte dieselben Worte, aber +wie ein Abwesender, der mit seinen Gedanken weit fort ist. + +„Bitte, Ange,“ hob er endlich mit sichtlicher Überwindung an, „verlasse +uns jetzt. Ich habe etwas mit Teut zu besprechen.“ + +Ange sah das ernste Gesicht der beiden Männer und wandte sich gehorsam +zum Gehen. Teuts Mienen blieben unbeweglich: vergeblich suchte sie +seinen Blick. + +Nachdem sie das Gemach verlassen hatte, fiel Clairefort zurück und +bedeckte das Gesicht mit den Händen. + +„Sie sind bewegt! Was ist Ihnen, Clairefort?“ begann Teut, einen Stuhl +herbeirückend und des Freundes Schulter berührend. „Sie wünschen mir +etwas zu sagen? Ich höre, Clairefort.“ + +Er hielt inne und erwartete, daß jener das Wort ergreifen werde. Als +Clairefort stumm blieb, fuhr er fort: + +„Reden Sie! Was es auch sei, es fällt in den tiefsten Brunnen! Teilen +Sie sich dem Freunde mit, der alles verstehen, und alles--“ + +„Verzeihen kann?“ ergänzte der Kranke, richtete sich plötzlich empor +und sah Teut mit einem flehenden Blicke an. + +„Ja,“ sagte Teut, „der alles verzeihen kann.“ + +Endlich beim Abschied, vielleicht beim Nimmerwiedersehen löste sich +Claireforts Zunge. Wie lange hatte Teut ein Vertrauen herbeigesehnt, das +unter den gegebenen Verhältnissen so natürlich war. Immer hatte +Clairefort geschwiegen. Oft schien er einen Anlauf nehmen zu wollen, um +sein Inneres zu öffnen, um abzustoßen, was ihn bedrückte, aber stets +hatte sich sein Mund wieder geschlossen. + +„Wohlan, es sei!“ begann Clairefort. „Es drängt mich, Ihnen heute zu +sagen, was mich quält, Teut. Wer weiß, ob Sie mich noch lebend finden, +wenn Sie zurückkehren. Hoffen wir es nicht, daß ich inzwischen +davongehe, nehmen wir aber an, daß wir uns das letzte Mal +gegenüberstehen. Vergeben. Sie mir auch--“ Clairefort stockte und holte +mühsam Atem--„wenn ich Ihnen so oft wehe gethan habe, Sie durch +Empfindlichkeiten, durch eifersüchtige Regungen, durch ein falsches +Ehrgefühl kränke. Rechnen Sie, wenn es Ihnen möglich ist, ein wenig mit +meinem Zustand, den ich selbst in seiner Bedeutung und seinem Umfang +nicht kannte. Ich bin ein willenloser, schwankender Mensch geworden. +Ach, Freund--“ Clairefort unterbrach sich, Schweißtropfen traten auf +seine Stirn, und die Hände irrten unruhig umher--„ich habe mich +unsühnbar vergangen gegen meine Frau und--meine Kinder--“ Er hielt inne, +und auf seinem Gesicht malte sich eine furchtbare Angst. Er wollte +weiter reden, aber vermochte es nicht. + +Teut sprach sanft auf ihn ein: „Erholen Sie sich, Clairefort. Und +nochmals: Fürchten Sie keinen Tadel! Was es auch sei, vertrauen Sie sich +mir an.“ + +„Nun denn--“ ächzte jener und griff krampfhaft nach des Freundes Hand. +„Nun denn--hören Sie. Ich habe--ich habe--nein, ich vermag Ihnen das +Verbrechen--meine Schande nicht aufzudecken! Und doch möchte ich nichts +verschweigen einem Manne, der wie keiner mein Vertrauen verdient, der es +fordern kann, dem ich schon lange mich hätte eröffnen folgen, zu dem ich +aber nicht sprach, weil die Scham mich erdrückte.“ + +Teut hörte mit angstvoller Spannung zu. Was würde er hören? Schande, +Verbrechen? Vergeblich sann er hin und her. + +„Seien Sie ein Mann, Clairefort. Raffen Sie sich auf. Wir sind hier zu +zweien. Es bedarf keiner Versicherung, daß nie eine Silbe über meine +Lippen kommen wird.“ + +„Nun denn, Teut, ich habe--unser ganzes Vermögen, das Vermögen meiner +Frau, mein eigenes, das meiner Kinder--an der Börse verspielt,“ +zitterte es aus des Kranken Munde. „Wir leben schon seit Jahresfrist von +dem letzten durch Tibet ohne mein Wissen geretteten Kapital--und stehen +in wenigen Wochen vor dem--vor dem Nichts--dem ich--ich--“ + +Der Mann fiel zusammen wie ein Scheit, das im Ofen zu Asche verglommen, +plötzlich sich ablöst. + +Teut wurde leichenblaß; es krallte sich um sein Inneres Schmerz und +Empörung zugleich. Was er hörte, war mehr als entsetzlich. Das konnte +ein Mann thun einem solchen Wesen, solchen Kindern? Er biß sich auf die +Lippen und sprang empor. Aber nur einen Augenblicke dann lichtete sich +in der Brust dieses seltenen Menschen der Funke edler Gesinnung, und +lodernd schoß die Liebe empor für sie, der er geschworen, ein Freund zu +sein fürs ganze Leben. + +„Clairefort,“ sprach er, „wir erörterten nur einmal Geldangelegenheiten, +und es soll heute das letzte Mal sein. Fürchten Sie nichts. Anders wird +Ihr Leben sich zwar gestalten, aber Sie werden nicht darben. Axel von +Teut meint es ernst mit Freundschaft und Gelöbnissen. Diese Versicherung +sei Ihnen genug. Was geschehen, was hinter uns liegt, werde nie wieder +zwischen uns berührt. Nur eine Bitte spreche ich aus: Sichern Sie mir +zu, daß Ange nie erfahren wird, wie Ihr Vermögen zerronnen, noch +weniger, daß es gänzlich dahin ist. Verschweigen Sie namentlich die +Rolle, welche fortan der Freund übernimmt. Ich gelte von heute als +Verwalter Ihrer Einkünfte und als der Vormund Ihrer Kinder. Sind Sie +einverstanden?“ + +Clairefort hob sich empor. Seine Knie schlotterten, seine Augen glänzten +überirdisch, aber indem er die Arme ausstreckte, um sich an des Freundes +Brust zu werfen, glitt er aus und fiel schwerfällig auf den Teppich. + +Teut beugte sich herab und horchte an seinem Herzen. Es schlug. Rasch +eilte er zur Klingel. Gleich darauf trat Ange, von Tibet gefolgt, ins +Zimmer. + +„Beruhigen Sie sich, Gräfin,“ sagte Teut besänftigend. „Es ist nichts +Schlimmes. Bringen wir Carlos ins Bett. Nur eine Ohnmacht. Er fühlte +sich so schwach. Es wird vorübergehen.“ + +Ange forschte angstvoll in den ernsten Mienen des Sprechenden, während +Tibet seinen Herrn aufrichtete und sorgsam zu betten suchte. + +Nichts! Nur einmal sah er sie an, und in seinem Auge blitzte die alte, +mit Trauer vermischte Zärtlichkeit. + +Und dann kam der Abschied. Es war an einem Spätnachmittage. Ange war im +Begriff, in den Garten hinabzusteigen, um die abgekühlte Luft zu +genießen und nach den Kindern zu sehen. Jorinde und Ben schaukelten +unter den schon dunkle Schatten werfenden Buchen in der Hängematte, und +Fred und Erna holten Gießkannen herbei, um den Blumen ihrer Beete Wasser +zu geben. Aus den Gebüschen, aus dem Erdreich quoll ein sanfter Duft, +denn der Tau reizte die zarten Nerven der Bäume und Gräser. Bevor Ange +die letzten Treppenstufen erreicht hatte, öffnete sich die Thür und Teut +trat ihr entgegen. Sie sah an seinem Blick, daß er komme, um lebewohl zu +sagen. + +„Ich gehe zu Carlos hinauf,“ sagte Teut, „falls Sie in den Garten +wollen, werde ich Sie später dort aussuchen. Noch diesen Abend verlassen +wir die Stadt.“ + +Ange lehnte sich an das Geländer und legte die Hand auf die Brust. + +„Also wirklich?“ Sie sah ihn mit einem ihrer stillen Blicke an, und er +suchte ihre Augen mit einem Ausdruck, in dem sich nur zu deutlich +widerspiegelte, was ihn bewegte. + +„Werden Sie mitunter meiner gedenken, Ange?“ + +Sie antwortete nicht, sie neigte nur leise das Haupt. Wie schön sie +gerade heute war! Ein eng anschließendes schwarzes Kleid umspannte +ihren Leib, und zwei weiße Rosen schmückten ihre Brust. Um den Kopf +hatte sie ein leichtes Tuch geschlagen, unter dem das zarte Gold ihres +Haares hervorschaute. Und in dem Blauweiß ihrer Augen schwammen jene +sanften und doch so dunkel blitzenden Sterne, welche kein Mann vergaß, +wenn er sie einmal gesehen hatte. Während sie so vor ihm stand und das +leichte Haupt auf die Hand stützte, fielen die reichen Spitzen des +Gewandes zurück, und ein Arm von tadellosem Ebenmaß ward sichtbar. Ihre +Gestalt schien in diesem Augenblicke frei in der Luft zu schweben, bei +der unnachahmlichen Grazie ihrer Erscheinung von der Erde abgelöst zu +sein. + +„Liebe Ange!“ flüsterte Teut, von ihrem Anblick hingerissen, und trat +einige Schritte vorwärts. + +Sie aber glitt langsam die Stufen hinab und bat ihn durch eine Bewegung, +ihr zu folgen. + +Sie umschritten, ungesehen von den Kindern, das Haus und bogen in einen +stillen Laubgang ein. Die untergegangene Sonne webte noch mit schwachen +Lichtern in der Ferne; hier war es fast dunkel. + +Wortkarg gingen sie nebeneinander her; beiden stockte die Sprache. Als +sie zum zweitenmal den Weg maßen, schlug der Ruf eines der Kinder an ihr +Ohr. „Mama Ange! Mama Ange! Wo bist du?“ + +Nun ergriff er hastig ihre Hand, legte seinen Arm um ihren Leib, und +indem sie es duldete, fühlte er, daß eine Sekunde ihr Haupt an seiner +Brust ruhte. + +„Dank, Dank für alles, Teut! Auf Wiedersehen!“ schluchzte sie und riß +sich von ihm los. „O Ange, Ange, meine liebe Freundin! Vergessen Sie +mich nicht!“ flüsterte der Mann und hielt die aus dem Dunkel wie eine +Lichterscheinung hervortretende Gestalt zurück. + +„Niemals, niemals, Teut!“ preßte sie unter Thränen hervor. „Doch +nun--die Kinder rufen!“ + +Sie traten aus den sie umgebenden Bäumen heraus. Im Grase zirpte es +leise, ein Vogel flatterte schlaftrunken in den Zweigen. Drüben schien +die Sonne ganz versunken; der Tag war zur Ruhe gegangen, und ihre Hände +lösten sich. + + * * * * * + +„Lieber Teut! + +Gottlob, daß Ihr Brief kam. Sie haben mich aus einer unsagbaren Angst +befreit. Jetzt weiß ich, daß Sie am Leben und gesund sind; nun tritt +alles übrige in den Hintergrund. Ich schreibe auch gleich, um Ihnen an +den Tag zu legen, wie sehr meine Gedanken bei Ihnen sind. + +Lassen Sie mich vorerst erzählen, wie es bei uns geht. Carlos' Zustand +ist derselbe hilflose, aber er ist zeitweise heiterer und mitteilsamer. +Ich war sehr gerührt, als er vorgestern die Kinder zu sich kommen ließ, +sie liebkoste und sich mit ihnen beschäftigte. Das ist seit Jahr und Tag +nicht mehr der Fall gewesen. + +Sie glauben aber auch nicht, wie artig die kleine Schar ist und welche +Fortschritte sie macht. + +Ben und Fred gehen nun ins Gymnasium und stolzieren sehr wichtig mit +ihren Schulranzen einher. Mit Fräulein Elise, der Gouvernante, geht es +fortdauernd gut. Sie ist eine liebenswürdige, gutherzige Dame, und die +Mädchen zeigen ihr auch täglich, wie lieb sie dieselbe haben. + +Es wird Sie freuen, lieber, vortrefflicher Freund, daß Carlos jetzt auch +nicht mehr so übertrieben sparsam ist. Seit Ihrem Fortgang hat er für +den Haushalt zugelegt, und auch Tibet hat mehr zur Verfügung als in dem +letzten halben Jahre. Ich hatte schreckliche, peinliche Verpflichtungen +bei Handwerkern und in meiner Umgebung--schelten Sie nur nichts ich +verstand es ja bisher so schlecht, lerne es aber gewiß noch einmal ganz +gut--, die nun alle bezahlt sind. Welch ein köstliches Gefühl, keine +Schulden zu haben! + +Die Villa behalten wir einstweilen, da die Miete ermäßigt ist. Carlos +stellte dem Besitzer die Alternative, abzulassen oder der Kündigung +gewärtig zu sein. + +Sehen Sie, so ist es bei uns. Wäre mein teurer Carlos nicht so krank, +lebte Carlitos noch und wären Sie nicht fort, Sie mein lieber, treuer +Teut, ich würde sagen, daß wir vollkommen glücklich sind! + +Ich bekam neulich, auf Empfehlung von Fräulein Elise, die Briefe der +Madame de Sévigné an ihre Tochter in die Hand. Welch ein Genuß! Jede +Mutter sollte lesen, was diese weltkluge und feinfühlende Frau +geschrieben hat, und suchen, es sich zu eigen zu machen. + +Noch eins. Jorinde spielt jetzt wirklich allerliebst Klavier, und +neulich hatte sie mit Fred ein kleines vierhändiges Stück zu Carlos' +Geburtstag eingeübt, das großen Erfolg hatte. Elise war sehr stolz, und +ich habe ihr--das werden Sie, Bärbeißiger, nun wieder höchst +unvernünftig finden--eines meiner seidenen Kleider geschenkt. + +Ich komme ja doch nicht mehr in die Gesellschaft, habe auch, ehrlich +bekannt, wenig Verlangen danach. + +Neulich hat Frau von Ink mir einen Besuch gemacht. Ich begegnete +Fräulein Eva, der Braut, und nahm sie mit mir. Ich finde es doch sehr +artig, daß sie sich persönlich bedankt hat. Ich weiß, Sie mögen die Dame +nicht, gestehe aber, daß ich sie sehr liebenswürdig finde, und daß ich +den Eindruck habe, sie meine es gut mit mir. + +Nein! nein! höre ich Sie sprechen. Nun, wenn Sie kommen, können wir ja +den Verkehr wieder einschlafen lassen. + +Fred läßt Ihnen sagen, Sie möchten ihm einen französischen Tschako +mitbringen. Werden Sie es nicht vergessen? Ange umarmt Sie zärtlich. +Eben kommt sie herbeigelaufen und will Bonbons. Sie erhält aber keine. +Onkel Axel möchte französische Bonbons schicken! meint sie. + +Heute will ich meines Carlitos' Grab besuchen, Teut; ich lege auch in +Ihrem Namen eine Blume darauf nieder. + +Und nun leben Sie wohl, Sie Einziger, Bester, und schreiben Sie bald +wieder und Gutes Ihrer Sie herzlich grüßenden und dankbaren + +Ange von Clairefort. + +Ach, wenn doch der schreckliche Krieg erst beendet wäre!“ + +Als Teut diese Zeilen empfangen hatte, schrieb er einen Feldpostbrief, +welcher an seinen Banquier in Berlin gerichtet war. Dieser Brief, von +dessen Inhalt Ange später Kenntnis erhielt, möge hier Platz finden. + +„Geehrter Herr! + +Kurz vor meiner Abreise von C. ersuchte ich Sie monatlich die Summe von +tausend Mark an die Adresse des Bankhauses Danz u. Co. in C. abzuführen +und demselben mitzuteilen, daß dieser Betrag gegen die eigenhändige +Quittung des Grafen Carlos von Clairefort und die Gegenzeichnung des +Empfangnehmenden Ernst Tibet auszufolgen sei. + +Ich bitte, und zwar vom ersten des kommenden Monats ab, diesen Betrag um +fünfhundert Mark zu erhöhen, also fortan fünfzehnhundert Mark zur +Begleichung einer Schuld an den Herrn Grafen Clairefort zu zahlen. Wegen +der an mich zu sendenden Monatsraten bleibt es bei den früheren +Bestimmungen. + +Ich ersuche Sie zugleich, sich umzusehen, ob die beiden großen Posten +von je dreihunderttausend Mark nicht in Zukunft zu fünf Prozent in +zweiten Hypotheken unterzubringen wären. Ich denke, es giebt dergleichen +sichere Anlagen, und ich könnte meine Einnahmen erhöhen. Da ich in der +Folge vom Zinsenkapital nicht mehr zurücklegen kann, muß ich mich etwas +einzurichten suchen. + +Dem dortigen Hilfskomitee für die Verwundeten wollen Sie unter A.v.E. +gefälligst fünftausend Mark überweisen. + +Ich sage Ihnen im voraus meinen Dank und erbitte Ihre baldigen +Mitteilungen. + +Baron von Teut-Eder, + +Rittmeister und Eskadronchef.“ + + * * * * * + +Die beiden Briefe, nach ihrem Inhalt bezeichnend für Ange und Teut, +wurden im September geschrieben, aber bereits zwei Monate später trat im +Clairefortschen Hause ein so folgenschweres Ereignis ein, daß alles für +die Familie in Frage gestellt schien. + +Als sich Ange eines Morgens in das Zimmer ihres Mannes begab, um sich +ihrer Gewohnheit gemäß, nach seinem Befinden zu erkundigen, schlug ihr +eine unerträgliche Hitze entgegen, und sie fand ihn nicht wie sonst +bereits an seinem Schreibtische sitzen. Wenn Clairefort starke Schmerzen +in der Nacht fürchtete, pflegte er häufig noch spät abends von Tibet +heizen zu lassen, denn nur allzuoft verursachte ihm sein Zustand +Schlaflosigkeit. + +Als Ange ins Gemach spähte, fand sie zu ihrem Schrecken, den Nachttisch +umgeworfen; Glaser, Leuchter und Flaschen waren herabgestürzt und +bedeckten Fußboden und Teppich. Clairefort selbst aber lag--das Haupt +nach unten und mit den Füßen das Kopfkissen berührend--neben der +zurückgeschlagenen Schlafdecke wie ein Lebloser hingestreckt. + +Ange flog ans Bett und horchte auf ihres Mannes Atem. Sein Herz schlug +so leise, daß sie es kaum zu hören vermochte, und sein Aussehen war so +verändert, daß sie--jetzt todesgeängstigt--die Schnur zog. + +„Was ist geschehen? Was ist geschehen, Tibet?“ rief sie, als dieser +näher trat. „Waren Sie noch in der Nacht bei dem Grafen? Sehen Sie, wie +schrecklich er aussieht! Sein Herzschlag geht leise! Ich ängstige mich +namenlos!“ + +Tibet warf einen betroffenen Blick umher und näherte sich seinem Herrn. + +„Ich möchte glauben, daß der Herr Graf wohl ein sehr starkes +Schlafpulver zu sich genommen hat,“ erklärte er beruhigend. „Während +heftiger Träume mag er um sich geschlagen und zufällig den Tisch berührt +haben. Das ist früher auch schon vorgekommen.“ + +„Ach, der Arme!“ sagte Ange mitleidig. „Gewiß hatte er wieder seine +furchtbaren Schmerzen. Und meinen Sie, daß er schläft, daß keine Gefahr +vorhanden ist, Tibet?“ + +„Nein, Frau Gräfin, dürfen sich beruhigen.“ + +Nach dieser Versicherung traten beide ins Wohngemach. + +„Glauben Sie nicht,“ fragte Ange nach einer Pause und dämpfte ihre +Stimme, „daß diese starken Schlafmittel sehr schädliche Nachwirkungen +haben?“ + +„Ja, Frau Gräfin,“ erwiderte Tibet; „aber viel schlimmer sind noch--“ + +Er unterbrach sich mit einem Gesichtsausdruck, als ob das letzte Wort +ihm nur entschlüpft sei. + +Als Ange sah, daß ihr etwas verheimlicht werden sollte, stieg ihre +Angst. + +„Nicht doch, nicht doch! Sie wollen mir etwas verschweigen. Ich will und +muß es aber wissen. Ach Tibet! War es überhaupt gut, daß Sie nie +mitteilsam gegen mich waren? Wer weiß, ob nicht manches hier im Hause +anders stände!“ + +Sie strich sich mit der schmalen Hand über die thränenden Augen. + +„Reden Sie, ich beschwöre Sie!“ fuhr sie fort, als er noch immer +schwieg. „Was ist noch schlimmer? und welche Heimlichkeiten haben Sie +mit meinem Gemahl schon seit Jahren?“ + +„Ach, Frau Gräfin--“ stotterte Tibet und sah Ange bittend an. „Es ist +nichts, gewiß nicht!“ + +„Ist es denn Neugierde, die mich veranlaßt, Sie zu fragen?“ sagte Ange +mit sanftem Ernst und blickte Tibet traurig an. „Ist es nicht die Sorge +für meinen geliebten Mann! Ach, ach! wie viele thränenvolle Stunden habe +ich schon um seinetwillen gehabt!“ + +Tibet hatte ganz die Fassung verloren. Er stand da wie jemand, der sich +eines schweren Vergebens schuldig fühlt und aus Scham und Verzweiflung +kein Wort findet. Endlich raffte er sich auf und sagte: + +„Verzeihen Sie mir, Frau Gräfin. In allem, was ich that, folgte ich dem +Befehl des Herrn Grafen. Wenn ich unrecht that--ich that gewiß unrecht +gegen Sie--o, so vergeben Sie es mir!“ + +„Nun wohl! Lassen wir Vergangenes! Aber was ist jetzt?“ drängte Ange. +„Sprechen Sie endlich.“ + +Tibet sah mit scheuem Blick nach der Thür und flüsterte leise: „Schon +seit reichlich einem Jahr nimmt der Herr Graf überaus starke Dosen +Morphium zu sich. Niemand weiß es. Er befahl mir unbedingte +Verschwiegenheit. Auch gegen Sie verbot er, darüber zu sprechen.“ + +Ange bewegte traurig das Haupt: plötzlich aber schrak sie auf. + +„Barmherziger Himmel! Sollte ihm doch bereits etwas zugestoßen sein?“ + +Sie eilte von Tibet fort, wandte sich ins Nebenzimmer und stieß, +hineinblickend, einen Schrei aus. + +Clairefort saß wachend aufrecht im Bett. Er sah Ange mit stieren Augen +an und schien sie doch nicht zu sehen. Unzusammenhängende Worte glitten +über seine Lippen. + +„Carlos, Carlos, mein geliebter Carlos!“ rief Ange, flog an sein Lager +und ergriff seine Hand. + +„Sag, was ist Dir? O, komme zu Dir! Es ist Ange, Deine Ange! Hörst Du +sie nicht?“ + +Er nickte wie ein Abwesender. Offenbar ward er nicht Herr der ihn +bedrückenden Vorstellungen, und um sie zu verscheuchen, glitt er +wiederholt mit den kranken Händen über Stirn und Haar. + +Ange heftete mit zerrissenem Herzen die Augen auf ihren Mann. Auch Tibet +war tief erschüttert durch diesen Anblick. + +„Wünschest Du das Frühstück, Carlos? Soll ich nicht die Fenster öffnen +und frische Luft hereinlassen? Willst Du aufstehen--Dich in Deinen Stuhl +setzen? Sprich Lieber! Was hast Du? Ach, ach!“ + +Nichts! Er schien nicht zu hören, und sie sank wie zerknickt neben ihm +nieder. + +Immer starrte er geradeaus, griff sich an die Stirn und suchte mit +vergeblicher Anstrengung seinen Geist zu ordnen. + +Jetzt erhob sich Ange und riß die Fenster auf. + +„O, ich ersticke in dieser Luft! Sie muß auch Dir schädlich sein! Komm, +laß Dich mit Wasser benetzen. Tibet helfen Sie! Wir wollen den Grafen +drinnen in dem luftigen Zimmer betten.“ + +Aber Clairefort fiel, ehe sie ihn berührten, schwerfällig zurück, schloß +die Augen und blieb bewußtlos liegen. Es hatten ihn abermals der Schlaf +oder eine Ohnmacht befallen. + +Nun eilte Tibet zu dem Arzt, und inzwischen saß Ange wie eine +Verzweifelte an dem Bett des Kranken. + +Nach einer Weile kamen die Kinder, die ihre Mama vergeblich beim +Frühstück erwartet hatten. Es schnitt Ange durch die Seele, als sie so +fröhlich und ahnungslos hereinstürmten. Noch lag die feine Röte einer +gesund verbrachten Nacht auf ihren Wangen, noch umströmte sie in ihren +sauberen hellen Morgenkleidern jene aufquellende Frische, die namentlich +Kinder nach dem Schlafe wie ein unsichtbarer Hauch umwebt. + +„Mama, Mama, wo bleibst Du denn?“ rief die kleine Ange und stand da und +sah so schön aus, als ob eine zarte Blüte eben vom Baum geschwebt sei. + +Aber sie schraken zurück, als sie den kummervollen Ausdruck in Anges +Augen bemerkten, als sie mit ihrem Instinkt begriffen, daß ihrem Papa +etwas zugestoßen sein müsse. + +„Geht, geht, lieben Kinder!“ sagte Ange sanft und traurig wie damals, +als den kleinen Carlitos das furchtbare Fieber erfaßt hatte. „Papa ist +sehr krank. Ich muß noch bei ihm bleiben. Ich komme bald! Frühstückt nur +allein--und--dann eilt euch. Ben, Fred, ist's nicht schon Zeit für die +Schule?“ + +Sie nickten gehorsam und schlichen auf den Zehen davon. + +Und doch war dies nur ein trauriges Vorspiel zu dem noch traurigeren +Ende. + +Zwar erholte sich Clairefort, und einige Zeit schien er sogar wieder +geistig frischer und körperlich gesunder, aber dann erfaßte ihn von +neuem eine wortkarge teilnahmlose Schwermut. Er wollte niemanden sehen +und sandte selbst Tibet fort, der neuerdings bei ihm nachts gewacht +hatte. + +„Nein, nein, gehen Sie! Seit lange hatten Sie keinen ordentlichen +Schlaf, Tibet. Ich fühle mich heute ganz wohl und bedarf Ihrer nicht +mehr,“ beschied er ihn eines Abends und bestand auf seinem Willen. + +Als Tibet sich entfernt hatte--ein ungewöhnlich freundlicher Blick traf +ihn heute aus Claireforts Auge--, setzte sich dieser an seinen +Schreibtisch und arbeitete mehrere Stunden. Endlich erhob er sich mühsam +und trat, sich an Tisch und Stühlen vorwärts tastend, an den Spiegel. Er +blickte hinein und schrak vor seinem eigenen Bilde zurück. Es machte ihn +sogar ängstlich, denn er schaute sich furchtsam um, und ein Schauer flog +über seinen Körper. + +„Sterben!“ flüsterte er. „Ja dann fallen alle Gespenster, weichen alle +Schmerzen und sind alle Seelenqualen vorüber.“ + +Auf dem Wege zu seinem Schlafgemach blieb er noch einmal zaudernd +stehen. + +Nur allzu lang ist oft die Brücke! Ein einziger plötzlicher Gedanke, +irgend eine liebe oder peinliche Erinnerung verknüpft den Menschen von +neuem mit dem Leben, und der grauenhafte, blitzartig oder allmählich +entstandene Entschluß wird doch zu Nichte. + +Clairefort ließ sich aufs Bett nieder und griff mit zitternden Händen +tief unter die Decke. Bei dieser Bewegung setzten unerwartet die +Schmerzen wieder an, und wimmernd hielt er inne. Aber bald begann er von +neuem, fand endlich, was er hier verborgen hielt, und stellte es auf +den Tisch. Es waren zwei Flaschen mit verschiedenem Inhalt. + +„Dies wird sicher genügen, um nicht wieder aufzuwachen,“ murmelte er. +Aber doch verging noch eine lange Zeit, ehe er sich zum Sterben rüstete. +Seine Gedanken flogen hin und her wie Herbstvögel; oft traten ihm +Thränen ins Auge. Einmal schleppte er sich in sein Wohngemach zurück, +öffnete den Schreibtisch und nahm Anges Bild hervor. Es war zur Zeit +ihrer Verlobung gemalt. + +„Ach, wie schön, wie schön!“ flüsterte der Mann und bedeckte das Glas +mit Küssen. „Und Dich soll ich verlassen? Und Euch, Euch, Ihr süßen +Kinder--“ + +Es packte ihn die Angst und die Scham, furchtbare Schauer jagten durch +seine Seele. Kalter Schweiß brach hervor auf seiner Stirn. Was wurde aus +ihnen? Welch ein erbärmlicher, gewissenloser Mensch war er! Er wollte +davongehen, und nicht einmal für das Nächstliegende, ja vielleicht nicht +einmal für sein eigenes Totenhemd war gesorgt. + +Aber halt! War da nicht ein Geräusch auf dem Korridor? + +Hastig verschloß Clairefort das Porträt, als sei's ein Vergehen, es zu +betrachten. Er lauschte herzklopfend--schlich wie ein Dieb an seine +eigene Thür. Aber es war nichts. + +Nun nahm er seinen Platz wieder ein und lehnte sich zurück. Konnte er +noch gesund, schmerzensfrei werden? + +Nein, jetzt niemals mehr! Ohne Morphium vermochte er überhaupt ferner +nicht zu leben. Was that er noch auf der Welt? Seine Pflicht, die +Pflicht gegen die Seinigen hielt ihn! Nein, auch die konnte ihn nicht +ans Leben fesseln. Er war ja ein Nichts. Er war nur eine Last--nur ein-- + +Es übermannte ihn die Seelenqual: er schluchzte und erschrak vor den +Tönen, die sich seiner eigenen Brust entrangen. Er war nur ein Hindernis +für Anges Glück. Fort denn, je schneller, desto besser!--Teut! Teut! Da +kam ihm der Gedanke an ihn. Welch ein Mensch! Er würde sie nicht +verlassen. Nein, sicher nicht! Gut, also sterben-- + +Was Clairefort noch zu sagen hat, befindet sich in den Blättern +aufgezeichnet, welche Ange morgen finden wird. + +Aber wenn er nun nicht stirbt, wenn es nicht gelingt, wie jüngst? Er +bewegt den Kopf. Wohl, er wird das Schriftstück unter sein Kopfkissen +legen, nicht auf den Tisch. Wacht er abermals auf, dann bleibt seine +Absicht verborgen. + +Während er sich an sein Bett wendet, ziehen noch einmal die letzten +Jahre an ihm vorüber. Wie er zum erstenmal gespielt und ihn dann der +Teufel erfaßt hat, wie er vom Glück begünstigt wird und dann doch alles +wieder verliert. Und immer von neuem verliert! Wie er innehalten will +und doch sich überredet, er werde den Verlust zurückerobern, +endlich--ein Verzweifelter--die größten Summen einsetzt, um abermals +betrogen zu werden und zuletzt sich sogar am fremden Eigentum vergreift! +Das Vermögen seiner Frau, seiner Kinder opfert er auch noch dem +wahnsinnigen Gelüste! + +Die Decke auf dem kleinen Nachttisch hat sich verschoben. Clairefort +zupft daran. Noch im letzten Augenblicks beherrscht ihn der kleinste +Gewohnheitsdrang. + +Er legte sich nieder, macht fast pedantisch alle Vorbereitungen, +zittert, setzt erst das eine Glas an, greift dann zum anderen-- + +Nun sinkt er zurück---- + + * * * * * + +Noch während Carlos' sterbliche Überreste in der Villa standen, warf +Ange einen Blick in die zurückgelassenen Blätter. Sie las den Inhalt in +der zweiten beginnenden Nacht, und die Gespenster des Entsetzens drangen +auf sie ein. + +Sie zerknitterte die Schriftstücke in ihrer Hand, sprang empor und rief +nach Tibet. Ernst, bleich, ahnend, was vorgefallen, erschien der Mann +und blieb wie angewurzelt an der Thür stehen. + +„Tibet! Tibet!“ schrie Ange, blaß, abgehärmt und kaum wiederzuerkennen +durch die Wirkungen ihres maßlosen Schmerzes. „Das alles wußten Sie seit +langen Jahren und Sie schwiegen? Dem allen waren Sie ein Helfer und +kannten und liebten doch meine Kinder? O Mensch, sprechen Sie, damit ich +wenigstens einen Grund finde, Ihnen zu verzeihen! Nicht verloren durch +Ungemach, alles was wir besaßen--nein, durch Spiel--durch Spiel! Man +sitzt über Menschen zu Gericht, tötet sie, wenn sie, von der +Leidenschaft fortgerissen, einen andern morden!--Ist Leidenschaft denn +Vernunft, und kann man richten, wo die Vernunft fehlte? Aber wie ahndet +ein Gott ein so furchtbares Verbrechen?--Wie er es ahndet? An dem Glück +Lebendiger, indem er die Unschuldigen ins Verderben zieht! Kinder, +reine, arglose Geschöpfe müssen dafür büßen!--Was hier geschehen, sucht +seinesgleichen; Ich las wohl Schreckliches, wie Menschen sich gegen +Menschen versündigten; ich hörte von Mord, Gift, Verrat, Folter. Ist +eine solche Handlungsweise nicht herzloser, unmenschlicher? Ein +Familienvater, der weiß, daß ihn Gott mit zehrender Krankheit +geschlagen, spielt--spielt auch dann noch ohne Anlaß, ohne Not, +vergreift sich an fremdem Eigentum und wagt das letzte um eines Vorteils +willen, der ihn um keinen Schatten glücklicher machen konnte. Zuletzt +giebt er sich den Tod--ein Selbstmörder!--Ein Selbstmörder?--O leise, +leise, daß es niemand hört! Verbrennen wir diese Schande! Rasch, +Tibet!--Und doch, nein! Es ist ja von seiner Hand, das letzte von ihm, +welcher der Vater meiner Kinder war, den ich so unsagbar liebte, der +litt, in Schmerzen sich wand!--Nein, nein, vergessen Sie, was ich sagte! +Ich sprach irre. Mit meinem Herzen hatte es nichts zu thun. Ich weiß, +wie er gelitten hat. Kein Mensch starb unter solchen Qualen, keinen +Menschen gab es, den der Tod bei Lebzeiten schon so marterte!--Aber was +soll nun werden? Hier, hier steht's. Ein rätselhafter Satz: ‚Und dennoch +ist für Deine Zukunft gesorgt, Ange. Ich glaube es. Dieser Glaube, diese +Hoffnung erleichtert mir den Tod. Ich darf nicht reden. Ein Schwur +verbietet es. Frage Tibet, ihn bindet kein Gelöbnis.‘--Nun, so reden +Sie, Tibet! Was ist's? Um meiner armen Kinder willen flehe ich Sie an! +Sprechen Sie! Ach! ach!“ + +Ange sank in einen Stuhl neben dem Tische nieder, auf dem Carlos' +furchtbares Vermächtnis lag, und weinte so herzerbarmend, daß dem Manne, +der das alles stumm angehört hatte, bei diesem Jammer das Herz +zerschmolz. + +Als Tibet immer noch nicht antwortete, schoß Ange empor: + +„Sprechen Sie!“ rief sie. „Ich fordere es bei dem Andenken des +Unglücklichen! Ich fordere es für die Unmündigen! Ich erbitte es--um +meinetwillen--“ + +Ihre Stimme versagte. + +„O, beruhigen Sie sich, Frau Gräfin!“ zitterte es aus Tibets Munde. „Ich +will sprechen, da Sie es verlangen, und ich schwöre Ihnen bei dem Gott, +an den ich glaube, daß ich unschuldig bin! Ich habe in all den Jahren +den Grafen angefleht, von dem unseligen Spiel zu lassen. Ich habe ihm +sogar in dem Gedanken an Sie und die Kinder einmal einen Gewinn +verheimlicht, bis die Not--“--er stockte, und Ange sah ihn fragend und +furchtsam an--„bis die Not mich zwang. Wir hatten nichts mehr zum Leben. +Mit diesem Betrage bestritt ich im letzten halben Jahre die Ausgaben +bis, bis--“ + +Ange unterbrach ihn nicht; sie saß wie erstarrt. + +„Ein Eid band mir die Zunge. Ich verdanke ja alles dem Herrn Grafen. Ich +durfte nicht reden und litt mehr darunter, als Worte zu beschreiben +vermögen, Frau Gräfin; glauben Sie mir! O, vernichten Sie mich nicht +ganz, indem Sie mir Ihr Wohlwollen entziehen!“ + +„Gut, gut! Weiter!“ drängte Ange leichenblaß und in steigender Erregung. +„Und das Geheimnis? Ich will alles wissen. Auch das Schrecklichste kann +mich nicht mehr erschüttern, und ist es ein Trost, eine +Erleichterung--nun, um so besser.“ + +Noch zögerte Tibet; die Zunge war ihm wie gelähmt. Seine Knie +schlotterten. Er wußte, was er hervorrief. Er hörte schon den Schrei der +Empörung von ihren Lippen. + +„Mensch,“ rief Ange und ballte die kleinen Hände in furchtbarer +Erregung, „machen Sie nun ein Ende! Ich bin ein Weib, zarter, schwacher +geartet, auch nicht vertraut mit Hinterlist und Lügen--“ + +„O, Frau Gräfin!“ ächzte Tibet bei diesen Worten. Eine fahle Blässe flog +über sein Gesicht. + +Sie begriff, wie tief sie ihn verwundet. Sie sah es und streckte ihm die +Hand entgegen. Sie wußte nicht mehr, was sie sprach. Sie bat es ihm ab, +und ein Schimmer dankbarer Freude flog über seine Züge. + +„Nun denn--“ sagte Tibet kurz und ohne Betonung, „wir leben bereits seit +Ausbruch des Krieges von der Güte des Herrn von Teut. Ich habe monatlich +tausend Mark, später fünfzehnhundert Mark bei einem hiesigen Bankhaus +für unseren Unterhalt erhoben.“ + +Ja, nun schrie allerdings die Frau auf, daß die Gegenstände umher zu +erbeben schienen. Es hallte durch das ganze Haus, drang in den kleinsten +Raum. + +„Carlos! Carlos!“ rang es sich aus Anges Brust. Er mußte in seinem +Totenschrein aufwachen bei diesem Schrei, denn er umfaßte eine Welt von +Empörung, Schmerz und Scham. Derselbe Mann, der Teut durch Eifersucht +verwundet, durch Mißtrauen gekränkt, noch jüngst durch hochmütige +Zurückweisung von Geschenken verletzt hatte, nahm Wohlthaten in solchem +Umfange und verwies im Sterben, im Selbstmord auf die Hochherzigkeit +dieses Freundes. + +Für Augenblicke war es totenstill in dem Zimmer. Ange brach zusammen, +und Tibet stand wie eine Bildsäule. Endlich erhob sie den Blick und +winkte ihm, das Gemach zu verlassen. + +Bevor Anges Gatte draußen auf dem Kirchhof neben dem kleinen Carlitos +bestattet wurde, trat Ange noch einmal an sein Totenlager. Die Vorhänge +des nach dem Garten gehenden Zimmers waren herabgelassen, und eine +erstickende Luft benahm ihr fast den Atem. + +Nun sah sie ihn zum letztenmal: in einer Stunde sollte der Sarg +geschlossen werden. Er glich kaum einem Abgeschiedenen. Ruhe lag auf +seinen Zügen, und um die Mundwinkel spielte jetzt im Tode jenes milde +Lächeln, das Ange für so manchen ernsten Blick und so manche mürrische +Miene während seiner Lebenszeit entschädigt hatte. + +„Vergieb, Carlos!“ flüsterte sie und berührte mit ihrer Hand die weiße +Stirn des Toten. Und in ihren Gedanken fuhr sie, das Auge auf ihn +gerichtet, fort: „Im ersten Schmerz bäumte ich mich gegen Dich auf. Ich +saß über Dir zu Gericht und vergaß, daß ich allein an allem schuld bin. +In den Blättern, die Du mir hinterlassen hast, steht auf jeder Seite, +wie sehr Du mich liebtest und wie Deine Gedanken sich immer damit +beschäftigten, daß ich nichts entbehren möge von dem, womit Du mich seit +unserer Ehe umgeben hattest. Ja, ja, mein Geliebter, Du wolltest unseren +Besitz vermehren--nicht aus eitler Gewinnsucht, nein, für mich, damit +ich ein Wohlleben nicht einschränken brauchte, in dem Du mich allein +glücklich wähntest. Du irrtest, Carlos! Ich nahm alles, weil ich es +fand, weil Du mir nie einen Zwang, eine Beschränkung auferlegtest. Ich +wäre nicht minder glücklich gewesen in bescheidenen Verhältnissen, denn +Deine Liebe, der Besitz unserer Kinder war mein Glück. Ja, vergieb mir, +daß ich nicht selbst erkannte, wie thöricht mein Leben war, daß ich +nicht aus den mich umgebenden Erscheinungen Vergleiche zog und eine +Lebensweise änderte, die schon die tausendfältige Not anderer verbietet. +Aber, Carlos, begehrte ich auch für meine Person viel, Du hast mir +verziehen, weil ich es nicht besser verstand. Hier, hier schwöre ich Dir +in dieser Stunde, mein Carlos, daß ich denen, die Gott mir erhalten hat, +eine treue, sorgsame Mutter sein will und--vermag ich es--sie erziehen +werde zu braven, tüchtigen, einfachen Menschen. O, wie graut mir heute +vor dem Reichtum. Alles, was mich umgiebt, ekelt mich an. Es sind die +Bilder des Scheins, der Lüge, der Überhebung.“ + +Ange sank schluchzend an dem Sarge nieder. Jetzt kamen ihr wieder die +Gedanken, die sie bald nach ihres Gatten Tode beherrscht hatten: Was +ward aus ihren unmündigen Kindern? Es war begreiflich, daß ein so +seelenvolles Wesen wie Ange Clairefort mitten im Schmerz Betrachtungen +über ihre Zukunft und die Handlungsweise ihres Mannes angestellt hatte, +weil ihr Denken und Fühlen zu eng mit ihren Kindern verwachsen war. So +war auch ihre Empörung, so waren auch die Ausbrüche ihrer Verzweiflung +nichts anderes als ein Ausfluß ihrer Liebe, und nur zu bald wichen diese +Erregungen einem sanfteren Schmerz, in welchem sie alle Schuld von dem +Toten abzuwälzen suchte. + +Es wäre unnatürlich gewesen, wenn sich Anges Gedanken nicht auch zu Teut +gewendet hätten, wenn nicht die Hoffnung in ihr emporgestiegen wäre, er +werde sie nicht verlassen, jetzt, wo die Sorge sich an sie heranwälzte. + +Aber in diese Hoffnung mischten sich Angst und Scham. Jetzt, vielleicht +in diesem Augenblick, war Teut schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie +zitterte bei diesem Gedanken, aber sie schüttelte sich auch in +seelischer Qual, wenn sie überdachte, daß sie fortan allein auf seine +Wohlthaten würde angewiesen sein. + +Ihr Stolz bäumte sich auf; sie faßte die wirrsten Entschlüsse, bis sie +nach langen Irrgängen der Überlegung immer wieder zu der entsetzlichen +Einsicht zurückkehrte: Es bleibt entweder nur die Wohlthätigkeit fremder +Menschen, damit Deine Kinder leben können, damit sie nicht darben und +vergehen, damit sie erzogen werden, um brauchbare Mitglieder der +menschlichen Gesellschaft zu werden, oder-- + +Ja, da kamen andere furchtbare Gedanken, die sich in ihrem Gehirn +festbrannten, die geboren wurden aus Hilflosigkeit und Verzweiflung. Wie +wäre es, wenn sie mit ihren Kindern dem folgte, der hier im Sarge lag? +Was stand den Armen bevor! Demütigung, Entbehrung, Not--gar Schande. + +Sie hörte sie klagen und weinen. Sie scharten sich um ihre Mama. Sie +bettelten um die ihnen jetzt entzogenen notwendigen Dinge, sie wollen +ihre unschuldigen Liebhabereien, sie kamen, damit ihre kleinen Herzen +getröstet wurden. + +Und die Menschen! Wie sie zischelten und mit den Fingern zeigten, wie +sie sich abwandten und gar hämisch frohlockten, daß diese übermütige, +verwöhnte Frau die Bitterkeit des Lebens nun auch endlich kostete wie +sie selbst. + +Ah, wie das alles ihre Seele marterte! Ja, lieber sollte sie ihre +Kinder, sich selbst töten---- + +Aber ein Herz wie das ihre mußte schon bei dem bloßen Gedanken an den +Tod ihrer Kinder erstarren. + +Nein! nein! Entsetzlich! Lieber Not leiden, ja betteln, als ihren süßen +Geschöpfen auch nur ein Haar krümmen! Und Sterben war nicht eine Sache +des Willens; zum Selbstmord gehörten tausend Dinge, die sie nicht +verstand und bei deren Vorstellung ihr grauste. + +„Barmherziger Schöpfer, vergieb! Vergieb auch Du mir, mein Carlos, diese +gräßlichen, unreinen Gedanken!“ betete Ange, faltete die Hände und +atmete, aus dem Schauder ihrer Vorstellungen befreit, erleichtert auf. + +Sie besaß so kostbaren Schmuck, daß sie durch dessen Verwertung noch +eine Zeit lang ohne Wohlthaten leben konnte. Diese Überlegung war ihr +gekommen in der letzten schlaflosen Nacht und erleichterte ihr +wenigstens die nächsten Sorgen. + +Bevor Ange, durch die Handwerker aufgestört, das Zimmer verließ, brachen +doch noch einmal die Thränen unaufhaltsam hervor. Sie rief eilend die +Kinder, ließ sie niederknien und betete mit ihnen. + +„Hattet Ihr ihn lieb, Euren Papa?“ schluchzte sie. + +Die Kinder nickten ängstlich und scharten sich mit den feinen blassen +Gesichtern um die Mama. + +Als sie sich endlich zur Thür wandten, schmiegte sich die kleine Ange an +ihre Mutter und sagte: „Wird Papa auch so hübsch begraben wie Carlitos?“ + +Bei dieser Frage zuckte Ange zusammen. + +„Nein, Ange, nein! Onkel Axel ist ja nicht da.“ + +„Kommt er denn nicht?“ + +Ange antwortete nicht; sie bewegte nur das Haupt und zog hastig die +Kleinen mit sich fort, die nun zum letztenmal das bleiche Gesicht ihres +Papas gesehen hatten. + + * * * * * + +Während noch der Graf über der Erde stand, war ein Brief von Frau von +Ink an Ange eingelaufen. + +„Ich muß es Ihnen aussprechen, gnädige Gräfin“--schrieb Olga--„wie sehr +ich schon bei dem Tode Ihres herrlichen Knaben mit Ihnen fühlte und wie +mich heute Ihr Schicksal bewegt! Ein Fremder vermag gegenüber einer +solchen Trauer nichts. Das barmherzigste und mitleidigste Wort muß ohne +Wirkung verhallen, weil die Besänftigung des Schmerzes nicht abhängig +ist von äußerlichen Einflüssen, sondern in dem Menschen selbst sich +reisen muß durch die allheilende Zeit. Und unter dieser Erwägung, +gnädige und hochverehrte Frau, wird vielleicht auch meine aus +aufrichtigster Teilnahme hervorgehende Bitte wirkungslos sein, daß Sie +sich Ihrem Kummer nicht allzusehr hingeben mögen und daß Sie sich der +Hoffnung nicht verschließen, daß auch für Sie wieder lebensfrohere Tage +zurückkehren werden. Ich wünsche es von ganzem Herzen und würde überaus +glücklich sein, wenn Sie mir gestatten wollten, Ihnen bald einmal +mündlich mein Beileid ausdrücken zu dürfen. Glauben Sie, ich bitte, an +das herzliche Mitgefühl und die verehrungsvolle Freundschaft Ihrer sehr +ergebenen + +Olga von Ink.“ + +Ange fand in der Aufregung, Unruhe und Sorge der ersten Tage keine Zeit, +diesen Brief zu beantworten. Sie ward aber an das Schreiben erinnert, +als bald nach dem Begräbnis--es war der Erste des neuen Monats--Tibet +sich ihr mit unschlüssiger Miene näherte und erklärte, daß das Bankhaus +weitere Zahlungen verweigere. Es habe, berichtete dieser, den bestimmten +Auftrag, nur gegen die eigenhändige Quittung des Grafen zu zahlen. +Er--der Banquier--wisse ja selbst nicht, aus welcher Quelle jene Summen +flössen, und müsse deshalb jedenfalls erst nähere Weisungen +rücksichtlich der weiteren Ordnung der Angelegenheit abwarten. Daraus +ergebe sich alles übrige. + +Ange verlor auf Augenblicke gänzlich die Fassung. Schon der zustimmende +Entschluß, Tibet wie bisher den Monatsbetrag erheben zu lassen, war ihr +namenlos schwer geworden. Zweimal rief sie ihn, als er sich schon die +Treppe hinabwandte, schamerfüllt zurück. Erst des umsichtigen Beraters +Auseinandersetzungen über die unbedingte Notwendigkeit: die Bestreitung +der durch den Todesfall hervorgerufenen Ausgaben, die täglichen +Bedürfnisse des Haushaltes, die fällige Miete, die Kinder, die +Dienstboten, endlich dessen beschwichtigender Hinweis, daß dieser Betrag +aus irgend welchem Erlös ihres Eigentums zurückerstattet werden könne, +schlugen Anges zitternde Bedenken nieder, und stumm nickend, hatte sie +ihn endlich gehen lassen. + +Und nun wurden alle diese ihrer feinen Seele entsprungenen Qualen doch +noch weit mehr vergrößert durch--das Nichts. + +Tibet kam mit leeren Händen! + +Teut schreiben, ihn bitten, Geld anzuweisen, das vermochte Ange nicht. +Sie wies diesen Gedanken als völlig ausgeschlossen zurück. + +Jetzt erinnerte sie sich wieder ihres Schmuckes. Bei dieser Überlegung +ängstigte sie es aber, daß Tibet ihn ausbieten, in C. ausbieten, wenige +Tage nach Carlos' Begräbnis denselben veräußern solle. Nein, auch das +gewann Ange nicht über sich. + +Endlich erhob sie den Blick zu dem Manne, der mit der ernsten und +bekümmerten Miene vor ihr stand, und sagte: „Was raten Sie, jetzt zu +thun, Tibet?“ + +„Frau Gräfin,“ stieß dieser heraus, „wollen Sie mir nicht zürnen? Ich +wüßte wenigstens vorläufig für das Drängendste Hilfe, wenn Sie diese +annehmen wollten. Verzeihen Sie, wenn ich mich unbescheiden +aufdränge--ich habe ein kleines Kapital gespart, darf ich dieses--“ + +„O braver Mensch!“ rief Ange gerührt; aber sogleich verbesserte sie +sich: „Nein, Tibet, nein! Auch Sie noch der Ungewißheit preisgeben? +Niemals! Ich darf Ihr Anerbieten nicht annehmen!“ + +„Sie können mir ja den Vorschuß später zurückgeben, Frau Gräfin,“ +beharrte Tibet stockend. „Es ist ja Ihr eigen Geld--ich empfing es von +Ihnen--ich verdanke es Ihrer Güte.“ + +Ange, zwar ergriffen von Tibets selbstlosem Zureden, aber, ihrer +Veranlagung entsprechend, gerade deshalb von ihrem Gefühl lediglich +beherrscht, hörte nicht auf seine Worte. Sie schüttelte den Kopf und +zeigte in ihren Mienen ein deutliches Nein. + +In diesem Augenblick meldete einer der Diener, daß Frau von Ink +vorgefahren sei und um die Erlaubnis bitte, der Frau Gräfin aufwarten zu +dürfen. + +War dies nicht ein Fingerzeig des Himmels? Ange schwankte unschlüssig; +endlich neigte sie den Kopf und der Diener eilte fort. + +Gleich darauf hörte sie auch schon, wie Olga in ihrer ungestümen, etwas +plumpen Weise den Wagenschlag hinter sich zuwarf und die Treppen der +Villa hinaufeilte. Und nun trat sie, von Tibet gemeldet, ins Zimmer, +umarmte Ange mit allen Zeichen der Betrübnis und setzte sich ihr mit dem +Ausdruck aufrichtigster Teilnahme gegenüber. Dabei streifte ihr Blick +das Gemach, und die kleinen Unordnungen blieben ihr nicht verborgen. + +Nach einem längeren Austausch über den Verlauf der Krankheit und die +letzten kummervollen Tage nahm Olga das Wort und sagte: + +„Und nun noch eins, Frau Gräfin. Sollte ich Ihnen in etwas dienen +können, bitte, verfügen Sie ganz über mich. Ich versichere Sie, daß ich +außerordentlich glücklich sein würde, wenn ich Ihnen in irgend einer +Weise meine Freundschaft und Teilnahme an den Tag legen könnte!“ + +Ange, der es in ihrer angstvollen Lage und angesichts von so viel +Herzlichkeit schon auf den Lippen gezuckt hatte, vorzutragen, was sie +beschäftigte, atmete erleichtert auf und nahm sogleich das Wort: + +„Sie kommen mir in Ihrer Güte zuvor, gnädige Frau: ich danke Ihnen von +ganzem Herzen. Ich hätte allerdings wohl eine große Bitte--“ Sie +stockte. + +Olga horchte auf. Diese Gesprächswendung berührte sie aufs angenehmste. +Was konnte Ange Großes wünschen, und wie hoch würde eine Frau wie diese +ihr den geringsten Dienst anrechnen! + +Auch die Rückwirkungen auf Teut überlegte sie rasch. Noch immer hoffte +Olga auf einen Ausgleich mit dem Rittmeister, und in dem geheimsten +Schubfach ihres Innern nicht nur auf diesen, sondern, zuguterletzt auch +auf eine bedeutungsvolle Anknüpfung zwischen ihm und einer ihrer +Töchter. + +„Sprechen Sie, sprechen Sie, gnädige Frau--Ich bitte!“ rief Olga lebhaft +nach Anges Worten. + +Und nun setzte Ange dieser kaltherzigen, nur von ihren eigenen +Interessen beherrschten Frau in ziemlich unzusammenhängender und +unklarer Weise auseinander, daß sie durch den plötzlichen Tod ihres +Gatten in peinlichste Verlegenheit geraten und vorübergehend einer +größeren Summe Geldes benötigt sei. + +„Arme Gräfin! Auch das noch! Die kleinlichen Nebensorgen bei so großem +Schmerz und Kummer!“ rief Olga mit vortrefflich gespieltem Ausdruck der +Teilnahme in den Mienen, in Wirklichkeit erfaßt von einer mit +Schadenfreude vermochten äußerten Befremdung. „Ja wie ist da zu helfen? +Offenheit gegen Offenheit, liebe Frau Gräfin! Wir haben allerdings ein +aus unserem Gutsverkauf hervorgegangenes, recht ansehnliches Vermögen, +aber alles, das weiß ich, ist unkündbar festgelegt für eine lange Reihe +von Jahren, und die Summe, deren Sie bedürfen--Sie nannten fünftausend +Mark, wenn ich recht verstand? Nicht wahr, Frau Gräfin? Ja, ja, ganz +richtig!--ist etwa der fünfte Teil unserer ganzen Zinseneinnahme im +Jahre.“ Diese Redewendung--ein feiner Dolchstoß--war absichtlich. „Zudem +habe ich persönlich gar keine Verfügung; meinen Mann müßte ich schon ins +Vertrauen ziehen.“ + +Ange hatte in ihrer Unerfahrenheit nur von ihren Verlegenheiten und von +deren Abhilfe gesprochen. Über die Rückzahlung ließ sie nichts fallen, +diese war ja in ihren Augen selbstverständlich, aber so unterblieb +dasjenige, was für Olga natürlich die Hauptsache war. Die letztere war +sogar überzeugt, daß Ange diesen Punkt nur in ihrer Erregung und in +ihrer Naivetät nicht berührt hatte, aber sie hütete sich, selbst eine +Brücke zu schlagen, die ihr eine Ablehnung erschwerte. Obgleich sie +deshalb entschlossen war, nicht einmal mit ihrem Manne die Möglichkeit +einer Hilfe in Überlegung zu ziehen, fügte sie doch hinzu: + +„Wenn Sie gestatten, werde ich also mit Ink sprechen und alles thun, was +in meinen Kräften steht--natürlich--selbstverständlich, liebe Frau +Gräfin! Aus diesem Grunde aber will ich mich auch gleich wieder +empfehlen. Ich möchte bald etwas Gutes melden, da ich den +unerträglichen Zustand begreife, in welchem Sie sich befinden. Würde es +möglicherweise in einigen Tagen früh genug sein?“ fuhr sie heuchlerisch +fort. „Ja? Nun gut. Ich denke sicher, es wird sich machen! Mein Mann ist +ja so teilnehmend und gut, daß ich ihn zu überreden hoffe, wenn es +irgend möglich ist.“ + +Ange, die schon alles gewonnen glaubte, dankte mit gerührten Worten. +Besonders beglückt aber war sie, als ihr Olga beim Abschied die Hand +drückte und die Worte zuflüsterte: „In jedem Fall, wie sich auch die +Dinge gestalten“ (hier deckte sich Olga nicht nur den Rückzug, sondern +vergoldete diesen auch noch durch eine Äußerung, deren Wirkung auf Ange +sie richtig berechnete) „seien Sie versichert, daß niemand von dieser +Angelegenheit etwas erfahren wird, daß sie bei mir unter einem stummen +Munde ruhen bleibt.“ + +Nach diesen Worten und nach einer abermaligen zärtlichen Umarmung ging +sie. + +An demselben Abend hatte Ange bereits eine von vielen schönen Worten +umrankte Ablehnung, und um dieselbe Stunde fand eine Unterredung +zwischen ihr und Tibet statt. Sie verhehlte ihm weder den Inhalt von +Olgas Brief, noch die jetzt in ihr emporsteigende Befürchtung, daß jene +nicht verschwiegen sein werde. Sie bewegte sich in leisen Hoffnungen, +daß ihr Tibet in diesem Punkt nicht recht geben werde, aber er nickte +zustimmend und sagte: + +„Frau Gräfin, wenn Sie nur das nicht gethan hätten! Morgen wird's die +ganze Stadt wissen!“ + +Ange erschrak. Was sie beängstigte, bestätigte Tibet mit kalter +Einsicht. Ihr Stolz bäumte sich auf, und eine angstvolle Scheu vor den +Menschen bemächtigte sich ihrer. Nun würde auch ihre Umgebung, ihre +Dienerschaft bald darum wissen, daß sie in ihrem fürstlich +eingerichteten Hause eine Bettlerin sei. Sie sah schon die Mienen derer, +die bald geschmeidige Katzen, bald fletschende Wölfe sind, je nachdem +sie glauben oder fürchten, es könne ihnen des Teufels bestlockender +Köder werden oder entgehen. + +Und nun kam Ange in ihrer Ratlosigkeit auf die Verwertung der Diamanten +zu sprechen, und Tibet widerriet lebhaft. + +Es ist eine eigentümliche, sich stets wiederholende Erscheinung, daß +einfache Leute den Verlust geringfügiger Dinge in solchen Lebenslagen +schwerer empfinden als irgend etwas anderes. Das Unglück selbst +entlockt ihnen nicht so viele Thränen als die Aussicht, sich von +gewissem Tand trennen zu müssen. Die Pfändung einer Uhr, einer Kette, +eines Medaillons, ja oft eines blitzenden Küchengeräts raubt ihnen den +letzten Trost und versetzt sie in einen Zustand heftiger Gemütserregung. +Ebenso erging es Tibet, bei dem überdies noch die gleichsam ins Blut +übergegangene Ehrfurcht vor den Personen und Dingen, unter denen er +gleichsam aufgewachsen, mitwirkte. + +Er war außer sich, als Ange ihre Absicht zu erkennen gab, und bot in +fast demütiger Weise von neuem seine Ersparnisse an. + +Aber in Ange kämpfte edle Vorsicht mit der Scheu, sich ihrem Diener zu +verpflichten. Sie wies Tibets Anerbieten abermals aufs entschiedenste +zurück. + +Tibet schlug nun vor, wenigstens den Verkauf nicht in C., sondern in +einer anderen Stadt zu bewirken. Es sei kaum einmal wahrscheinlich, daß +am Orte jemand eine so große Summe dafür hergeben oder darauf anleihen +werde. Den Schmuck lediglich zu verpfänden, empfahl Tibet zudem +dringend, immer in der Hoffnung, dieser könne Ange doch noch gerettet +werden. + +Ange nahm seinen endlichen Vorschlag, nach Frankfurt zu reisen, lebhaft +auf. Sie eilte fort, kam zurück und öffnete ihr Schmuckkästchen. + +Als es aus Auswählen ging, ward's ihr schwer. Nicht der Verlust der +Juwelen ließ sie zaudern, aber es schien ihr wie eine Entheiligung, +fortzugeben, woran sich so viele teure Erinnerungen knüpften. + +„Hier, hier!“ rief sie indessen schnell wieder gefaßt. „Ich weiß, daß +diese Perlen Tausende wert sind. Wie kann ich fragen? Ich muß an meine +Kinder denken, an die Pflichten, die ich gegen meine Umgebung habe, +solange sie zu fordern hat. Alles andere ist nebensächlich.“ + +Nun machten sie sich daran, den Wert des Schmuckes abzuschätzen. + +„Und wenn das dahin ist?“ zuckte es in Ange auf. „Wenn das dahin, was +dann?“ + +Immer wieder packte sie ein angstvolles Grauen vor der Zukunft, immer +wieder mußte sie sich zurückrufen, daß das alles Wahrheit, keine +Vorstellung, kein Roman sei, den eine lebhafte Phantasie sich ausgedacht +hatte. Nein! nein! Carlos war tot; sie blieb zurück mit fünf lebendigen +Geschöpfen und besaß außer diesen Kleinodien und ihrer Einrichtung +nichts! + + * * * * * + +Einige Tage nach diesem Zwischenfall--es war am Spätabend und die +Kinder ruhten bereits--überreichte der Diener Ange ein Telegramm. Die +Gouvernante, die noch eben an ihrer Seite gesessen, hatte das Zimmer +verlassen, und da Ange allein war, gab sie sich ganz ihren Gedanken hin. +Im Kamin brannte ein lebhaftes Feuer, das einen hellen Schein und +zugleich wohlthuende Wärme in dem Gemach verbreitete. Draußen aber fuhr +ein rücksichtsloser Sturm durch die Bäume und rüttelte den hohen Schnee, +der die Erde bedeckte, aus seiner Ruhe auf. + +Ange öffnete hastig die Depesche, und mit einem leisen Schrei sank sie +zurück. + +„Auch das noch!“ glitt es von ihren Lippen. + +„Bin wegen Diebstahlsverdacht verhaftet. Wertsachen sind mit Beschlag +belegt. Frau Gräfin persönliches Erscheinen hier auf dem +Kriminal-Kommissariat möglichst bald erforderlich. Bedaure unendlich +hervorgerufene Unruhe. + +Gehorsamst Tibet.“ + +„Auch das noch!“ wiederholte Ange noch einmal und blickte wie eine +Irrsinnige ins Leere. Es schien mit den Prüfungen erst der Anfang +gemacht; immer Neues ballte sich zusammen, um die gequälte Frau zu +ängstigen, zu verwirren und völlig mutlos zu machen. + +Als Ange damals Olgas Billet empfangen hatte, saß sie wie erstarrt. Aber +zunächst waren es nicht die dadurch wieder emporsteigenden Geldsorgen, +die sie beunruhigten, sondern es jagten Scham und Enttäuschung und neben +diesen die Gefühle bitterer Reue durch ihre Seele. Sie sah Teut vor +sich, der ernst und vorwurfsvoll den Kopf schüttelte und ihr zurief: +„Sie haben wieder Ihren Verstand spazieren geschickt und sich mit Ihrem +Gemütsdrang auf den Weg gemacht. Warnte ich Sie nicht vor dieser Frau? +Das alles hätte ich Ihnen vorherigen können, und unnötig, ja, zu Ihrem +Schaden haben Sie sich bloß gestellt. Frau von Inks Gutherzigkeit ist +nur Maske, und überall, wenn das Unglück in die Hinterpforte schleicht, +ist die Welt plötzlich von Menschen ausgestorben.“ + +Als die Gouvernante zurückkehrte, verbarg Ange die Depesche, schützte +Müdigkeit vor und zog sich zurück. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie +in einen Stuhl und weinte sich aus. + +„O Carlos, Carlos! Wer sang mir an meiner Wiege von so viel Herzeleid!“ +flüsterte Ange. „Bin ich ein so schwacher Mensch, daß die Angst Tag und +Nacht durch mein Inneres jagt, daß ich nicht mehr lachen, +daß--ach--ach--“--hier brachen die Thränen durch die zarten Finger--„daß +der Anblick meiner Kinder mich nicht mehr zu trösten vermag?“ + +Sie ergriff die Lampe und wandte sich in das Zimmer ihres Mannes. + +Der eigentümliche Duft, der stets die Räume durchweht hatte, erfüllte +sie auch heute noch. Carlos saß nicht mehr in dem hohen Stuhl. Ringsum +die Spuren eines lebenden, nun für immer dahingegangenen Menschen. +Geradlinig wie sonst standen die Bücher in den Regalen. Im +unverschobenen Winkel lag die Schreibmappe. Hier hing sein Säbel, die +Militärmütze, dort standen noch seine Reiterstiefel, und drüben lagen +die weißledernen Handschuhe, die er abgestreift hatte, als er des Königs +Rock auszog. + +Von einer unheimlichen Angst erfaßt, drehte Ange den Schlüssel zu +Carlos' Schlafgemach ab. Ihr war plötzlich, als ob der Tote in der Thür +erschienen sei und nicht mitleidig, nein, ernst und vorwurfsvoll sie +angeblickt habe. Weilte sein Geist noch in den Räumen, wirkte sein Wesen +noch nach, das fieberhaft und reizbar jeden Eintritt abgewehrt hatte? + +Ange suchte sich zu fassen und öffnete die Schubladen des +Schreibtisches. + +Ein plötzlicher unerklärlicher Drang hatte sie hierher getrieben. Noch +einmal mußte sie die Aufzeichnungen durchblättern, die er ihr +hinterlassen. Sie wußte, daß sie nichts darin finden werde als neuen +Anreiz für ihren Schmerz; aber ein ruheloses Gefühl durchhastete sie, +seine Schriftzüge zu lesen, an seinem Mitleid Trost zu finden. + +Ja das war es! Sie sehnte sich nach Trost, weil sie keinen Menschen auf +der Welt hatte, an dessen Brust sie sich werfen und ausweinen konnte. +Einen gab es doch! Ja, er wog alle übrigen auf: aber er war fern, kam +vielleicht nie zurück. + +Ange sann nach, ehe sie zu lesen begann. + +Wie abergläubische Menschen ein Buch aufschlagen und nach der Auslegung +eines zufällig gefundenen Wortes ihren Entschluß fassen, so tastete Ange +in Carlos' Nachlaß nach einem erlösenden Ausdruck. Tiefer +zurückgeschoben, fand sie, beim Ausräumen, noch einige Blätter, die sie +bisher nicht beachtet hatte. Sie waren durchstrichen, offenbar +ausgesondert und zum Vernichten beiseite gelegt. Sie griff hastig danach +und begann zu lesen. + +Das Schriftstück datierte noch aus der Zeit ihrer ersten Liebe und war +viele Jahre vor ihrer Übersiedelung nach C. geschrieben. + +In diesem Augenblick glaubte Ange einen Ruf zu vernehmen. Kam er aus dem +Schlafgemach der Knaben drüben? Ängstlich lauschte sie--ja unheimlich +ward ihr--aber er wiederholte sich nicht. Stumm war die Nacht. + +„Für meine teure Ange, wenn ich einmal gestorben sein werde. Ich +schreibe diese Worte unter dem Eindruck, daß mir nur kurz zu leben +bestimmt ist. Ich habe keinen thatsächlichen Anhalt dafür, es beherrscht +mich aber ein ahnendes Gefühl. Heute ist ein Mensch frisch und +thatkräftig, morgen ist er dahin. Auch ein böser Zufall kann uns +plötzlich abrufen. + +„Sieh, Ange, da drängt es mich, Dir an dieser Stelle noch einmal mein +Herz zu öffnen und Dir zu sagen, wie unbeschreiblich ich Dich geliebt +habe. Als ich Dich zum erstenmal sah, hielt ich es nicht für möglich, +daß ein so holdes Wesen wie Du, mich vor allen anderen auswählen könne, +und als ich es endlich aus Deinem Munde hörte, schwankte ich zwischen +Furcht und Glückseligkeit. Weshalb? Weil mich ein trauriges Vorgefühl +beherrschte. Ich fühlte, daß ich Dir nie würde etwas abschlagen können, +und doch hatte ich, da Du ein unerfahrenes Kind warst, die Aufgabe, +Dich für das Leben zu erziehen, Dich zu leiten und zu belehren. + +„Weißt Du, Ange, daß ich mich mitunter ins Freie geflüchtet habe in +zitternder Angst, wenn Dir das Geringste zugestoßen war. Ich bin im +Schlachtgetümmel gestanden, die Kugeln haben um meinen Kopf gepfiffen, +und ich habe, das Zeichen zum Angriff gebend, empfindungslos mich in den +Kampf gestürzt; ich kenne auch keine Furcht vor greifbaren Dingen, aber +ich bebte bei dem Gedanken, daß Du littest, daß ich Dich durch dieses +Leiden verlieren könne. + +„Wenn ich einmal mürrisch gegen Dich gewesen war, folterten mich +Vorwürfe, und ein heißer Drang, Dich zu versöhnen, Dir von neuem +Liebesbeweise zu geben, quoll in mir auf. Freilich unterließ ich sie. +Ich habe diesen Zwiespalt nie begriffen. + +„Deine Schönheit, Dein Liebreiz, Deine unbeschreibliche Herzensgüte +ängstigten mich. Ich fühlte, daß Du einst darunter leiden und daß wir +beide dadurch zu Grunde gelten müßten. + +„Ich zittere bei dem Gedanken, daß ich früher aus der Welt gehen werde +als Du, aber nur deshalb, Ange, meine teure Ange--glaube mir--, weil ich +weiß, daß Du, so gut auch altes bestellt sein mag, niemals verstehen +wirst, Dich einzurichten und--gänzlich unbekannt mit dem Wert des +Geldes--vermöge Deines unbesonnenen Dranges, aller Welt zu helfen, immer +nur auf das Geben, nie auf eine Beschränkung bedacht sein wirst. + +„Ich dachte darüber nach, unser Vermögen so festzusetzen und durch +fremde Hand so für Dich verwalten zu lassen, daß Dir unübersteigbare +Schranken in Deinen Ausgaben auferlegt werden würden. Aber abgesehen +davon, daß die Wirkung dieser Vorsicht dennoch eine zweifelhafte sein +kann, widersteht es mir auch, Dich in solcher Weise zu bevormunden. Ich +beschwöre Dich aber bei der Liebe und bei dem Glück unserer Kinder, sieh +Dich um in der Welt und traue nicht jedermann. Wo Dein Herz am lautesten +spricht, sei am vorsichtigsten. + +„Aber noch mehr! Thue Du, was ich unterlasse. Berate Dich mit unserem +Anwalt und gieb ihm zu erkennen, was ich als Wunsch Dir hier +ausgesprochen habe. Hörst Du, Ange? Willst Du diese Bitte ansehen als +meinen letzten Willen, ihn ausführen als einen Akt der Pietät gegen +mich? + +„Ich hoffe, unser Vermögen noch so zu vermehren, daß selbst die größten +Ansprüche zu befriedigen sein werden. Vielleicht, wenn Du diese Worte +liest, ist es mir bereits gelungen. Tibet wird Dir alles vorlegen. Ihm +kannst Du ganz vertrauen. Ich habe ihn erprobt und fand ihn bewährt in +allen Verhältnissen, ja selbst unter Versuchungen, denen andere kaum +widerstanden haben würden. Ich bitte Dich, daß Du Dich seines +verständigen Rates, seiner Hilfe bedienst, wenn ich nicht mehr unter +Euch sein werde, und namentlich hoffe ich, daß Du ihn niemals von Deiner +Seite läßt, es sei denn, daß er selbst zu gehen begehren sollte. +Betrachte ihn nicht als einen Diener, als einen Untergeordneten. Sein +Herz ist von Gold, sein Verstand--obgleich in der großen Welt nicht +gestählt--kühl und besonnen. Bedenke ihn auch einst reichlich! + +„Du findest in unserem Testament, wie ich wünsche, daß er für alle mir +geleisteten Dienste belohnt werden soll. + +„Ange, Ange! Wenn ich mir vorstelle, Du könntest je unglücklich sein aus +Herzenskummer, aus Sorge! Wenn ich daran denke, es könnte Dich eine böse +Krankheit erfassen und Du müßtest mit täglichen Schmerzen kämpfen! Ich +bitte das Schicksal, alles von Dir abzuwenden.“ + +Anges Augen flossen über; sie beugte sich über die Blätter und stützte +das Haupt. + +Aus Liebe hatte er gefehlt; diese Aufzeichnungen erhärteten es nur allzu +überzeugend. Nun war auch das letzte verwischt, was in ihrem Herzen sich +noch in Zweifeln hätte bewegen können. Nichts blieb zurück als sanfte +Trauer und Schmerz des Mitleides. + +Mochte die Welt Carlos schmähen, sie wußte ihn frei von Schuld; eine +nicht minder große traf sie selbst, und ihre Kinder wollte sie lehren, +sein Andenken hoch zu halten für alle Zeiten. + +Und Tibet? Wohlan! Ange mußte handeln! Am nächsten Tage beschloß sie +abzureisen, um ihn aus seiner peinlichen Lage zu befreien. + + * * * * * + +Ange erhob sich am nächsten Morgen ihrer Reisevorbereitungen wegen schon +in aller Frühe. Einer der Diener mußte forteilen, sich nach dem Abgang +der Züge zu erkundigen, und die Jungfer ward herbeigerufen, die +Garderobe einzupacken. Während Ange noch den sie umringenden Kindern +Antwort erteilte, sich auch beschwatzen ließ, den Knaben wegen ihrer +Abreise die Schule zu erlassen, ja überlegte, ob sie nicht etwa die +kleine Ange mitnehmen solle, die ihr diese Bitte unter zärtlichen +Schmeichelworten vortrug, fiel ihr plötzlich ein, daß sie vielleicht +nicht einmal genügend Geld für die Eisenbahnfahrt habe. Sie eilte in ihr +Kabinet, öffnete den Schreibtisch und zählte mit fiebernder Hast, was +noch vorhanden sei. Bis zum letzten Augenblick war sie gewohnt gewesen, +daß Tibet alle Geldangelegenheiten besorgte. Es fiel ihr jetzt sogar ein +und es bedrückte sie, daß sie diesem nicht einmal das Reisegeld +eingehändigt habe. Sie würde in der Folge fast nichts ihr eigen nennen! +Nur diese Thatsache in ihrer Allgemeinheit und in ihrem nüchternen +Schrecken waren in ihr hasten geblieben. Was augenblicklich nötig war, +was sie noch in ihrem Besitz fand, darüber hatte sie nicht nachgedacht. + +Als nun Ange ihren Schreibtisch durchsuchte, fand sie nur noch drei +kleine Goldstücke. Völlig enttäuscht, ließ sie die Arme sinken und +beugte mutlos das Haupt. + +„Darf ich denn mitreisen, Mama?“ schmeichelte in diesem Augenblick eine +Stimme. Es war die kleine Ange, welche ihr leise nachgeeilt war und sich +nun bittend an sie drängte. + +„Ach, nein, nein, mein Liebling!“ rief Ange, aus ihrer Ratlosigkeit +aufgeweckt. „Ich weiß selbst noch nicht einmal, ob ich heute fortkomme. +Laß mich jetzt, süße Ange. Geh hinüber; ich bin gleich bei Euch.“ + +Die Kleine schlich verdrießlich und weinend von dannen und nur zu +fühlbar ward Ange durch die Frage des Kindes erinnert, wie heute alles +anders sei, denn ehedem! + +Was sollte nun geschehen? + +Tibet war in einer Lage, aus welcher die Pflicht gebot, ihn so rasch wie +möglich zu befreien. Ange durfte keinen Augenblick zögern, und nun ward +sie doch aus solchen Gründen vielleicht am Reisen verhindert! + +Und was sollte sie ihrer Umgebung sagen, wenn sie etwa alle Vorkehrungen +wieder aufhob? + +Nach der abschlägigen Antwort von Olga, bei der Befürchtung, alle Welt +vermute, wisse bereits um ihre Lage, vermeinte sie, sich durch das +Nebensächlichste bloßzustellen und unliebsamen Vermutungen Nahrung zu +geben. + +War es denn Wirklichkeit? Sie besaß nicht einmal mehr die genügenden +Mittel, eine kleine Reise anzutreten, und doch war sie rings umgeben von +Luxus und erhob noch immer den Anspruch auf einen großen Haushalt? + +Dieser Schein, diese Widersinnigkeit erhöhten Anges bedrückte Stimmung; +dazu trat ihre Unkenntnis menschlicher Verhältnisse. Brauchte sie für +die Reise nach Frankfurt das Dreifache oder Fünffache, was sie besaß? +Sie wußte es nicht. Sie war schon so scheu und unsicher geworden, daß +sie nicht nach den Kosten der Fahrt zu fragen wagte, weil sie fürchtete, +dies werde auffallen. + +Auch die Mittel und Zwecke nach ihrer Bedeutung verwechselte sie +bereits. So überlegte sie, ob sie noch das Recht habe, in einem Coupé +erster oder zweiter Klasse zu fahren. Nein! Wer nichts besaß, hatte die +Pflicht sich einzuschränken. Sie durfte nur das billigste Billet kaufen. + +Aber sie sollte an den Bahnhof eilen in ihrem eigenen Wagen, gefolgt von +einem Diener, zurücklassend einen solchen Haushalt, und einen Sitz neben +rauchenden, vielleicht trunkenen Männern einnehmen in einem ungeheizten +Coupé? Sie, die vornehme Dame, in dem kostbaren Reisemantel, der ein +kleines Vermögen gekostet halte? + +Ah! der Pelz kostete Hunderte, und sie sorgte um einen Bruchteil, wollte +um diesen fast verzweifeln? Hatte er einen so großen Wert, weshalb ihn +nicht veräußern? + +Das war es ja eben! Sie war machtlos zum Handeln, jetzt wenigstens in +diesen ersten Tagen. Immer wieder diese Gegensätze von Wahrheit und +Schein! + +„Carlos, Carlos!“ schrie Ange auf. Noch einmal stieg das Gefühl der +Bitterkeit empor, freilich um in dieser sanften Seele ebenso schnell +wieder zu verlöschen. + +Zuletzt ward Ange noch von einem anderen unruhigen Gedanken beherrscht. +Wenn sie nicht zurückkehrte! Wenn jemand ihres Gatten Papiere fand, sie +las und der Welt offenbar ward, er habe Hand an sich selbst gelegt--? + +Höher als alles stand doch die Pflicht, seinen Namen über das Grab hoch +zu halten. Sie beschloß, seine Aufzeichnungen zu vernichten, und ihre +Pietät ließ sie doch wieder mit der Ausführung zaudern. + +So stand das arme Weib, in der Hand die wenigen Goldstücke und das Herz +voller Zweifel, Sorgen und Ängsten. Sie befand sich in einem Zustande +des grausamsten Kampfes. Ihre gute Natur lehnte sich auf gegen die +geheimen Flüsterstimmen ihres inneren, welche ihr zuriefen: Sprich +irgend eine Lüge und Du wirst Dich aus Deiner Sorge befreien! + +Immer wieder durchkreuzten ihre Gedanken die Frage: Wo schaffst Du Dir +Geld? Und immer wieder antwortete das geschäftige Teufelchen: Meide die +Wahrheit, umgehe, verschweige sie und verbirg Deine Not unter einer +sorglosen Miene. + +Und diese flüsternde Stimme hatte nicht ganz unrecht. Olgas Brief gab +den Beweis. Einmal beschloß Ange, sich der Gouvernante anzuvertrauen, +aber sie verwarf diesen Plan wie alle anderen. Lügen, verheimlichen +konnte sie nicht: offen alles darzulegen, verbot ihr nach den +gewonnenen Erfahrungen die Klugheit. + +Inzwischen kehrte der Diener zurück und meldete, daß der Zug um die +Mittagszeit abginge. Es fehlten noch einige Stunden. Schon wollte er +sich nach Erledigung seines Auftrages entfernen, als Ange gleichgültig +hinwarf: + +„Wissen Sie zufällig den Preis des Billets, Philipp?“ + +Der Diener bejahte, indem er in einem Kursbuch nachschlug, das er +gekauft hatte und Ange einhändigte. + +Wie bezeichnend war es! + +Während er suchte, beunruhigte Ange der Gedanke, daß dieses Büchlein +noch bezahlt werden müsse, daß der Diener den Betrag verauslagt habe. + +Nun nannte dieser den Fahrpreis für die erste Klasse. + +„Und die zweite?“ fragte Ange obenhin, indem sie in ihren Gedanken die +genannte Summe hastig mit ihrem kleinen Besitz verglich. „Gut, ich danke +Ihnen.“ + +Der Diener verbeugte sich und ging. Es war Ange beinah ein Trost, daß +jener als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, daß sie die erste +Klasse wählen werde. Noch schien ihre Umgebung von den gänzlich +veränderten Verhältnissen nichts zu wissen. + +Und das Geld, das Ange besaß, reichte. Freilich, es blieb nichts im +Hause zurück, aber in zwei Tagen war ja auch sicher alles geschehen! So +beruhigte sie sich und beschloß zu reisen. Sie gab die letzten +Anordnungen, redete der kleinen Ange so lange begütigend zu, bis diese +sich zufrieden gab, und fuhr endlich zur festgesetzten Stunde an den +Bahnhof. Die Kinder bestiegen mit ihr den Wagen und wurden wie stets, +wenn sie erschienen, von den Menschen neugierig beobachtet. + +Da stand die Gouvernante; in ehrerbietiger Entfernung auch ein Teil der +Dienerschaft; vor dem Portal hielt die offene Kalesche, geschmückt mit +dem gräflichen Wappen; auf dem Bock saß der Kutscher in der prächtigen +Livree, das Coupé bestieg die schöne, vornehme Frau in dem wundervollen +Pelz. Kein Wunder, daß der einzelne den Abstand zwischen sich und jener +abwog. Gewiß, sie war doch eine beneidenswerte Frau! Wenn sie auch +Herzeleid gehabt hatte, sie kämpfte doch nicht mit den täglichen +Nadelstichen des Lebens. Sie saß wenigstens in ihren prachtvollen Räumen +in Fülle und Wohlleben, war in ganz anderen Verhältnissen als jene, die +umherstanden! + +Und nun Umarmungen und Lebewohl! Ein heißes Thränlein funkelte in Anges +Auge. Und noch ein Abschiedskuß, und noch einer. Jetzt pfiff die +Lokomotive. „Adieu, adieu! Seid folgsam und artig, süßen Kinder!“ Ein +weißes Tüchlein flatterte noch eine Weile aus dem Coupé. Nun war Mama +Ange abgereist. + + * * * * * + +Ange blieb allein, und die Fahrt verlief rasch. Ihre Gedanken waren so +lebendig, daß sie kaum bemerkte, was um sie her vorging. Vornehmlich +beschäftigte sie sich mit Teut. Sie hatte ihm in kurzen Worten +geschrieben und ihn gebeten, daß er ihr gleich antworten möge. Wenn sie +doch erst einen Brief von ihm in Händen halten, wenn seine Trostworte. +wenn sein Mitgefühl sie berühren würden! + +Es beängstigte sie, daß er so lange nichts hatte von sich hören lassen. +Freilich, die Truppen zogen von Ort zu Ort, Kämpfe wurden ausgekämpft, +Schlachten wurden geschlagen; wo blieb Zeit und Ruhe selbst für die +wichtigsten Dinge! + +Wie oft überfiel Ange ein heftiges Verlangen nach ihm! Sie sehnte sich +nach seinem Blick, nach seinem Wort. Wo er wirkte, fügten sich die Dinge +von selbst. Ein unbeschreibliches Gefühl der Sicherheit hatte sie stets +durchdrungen, wenn Teut in ihrer Nähe war und ihr ratend zur Seite +stand. + +Und dann richteten sich abwechselnd ihre Gedanken auf Tibet und die +Kinder. Die Dinge, die jenen betrafen, so peinlicher Natur sie waren, +beunruhigten sie weniger, aber es beschäftigte ihre Gedanken, ob ihnen +nichts zustoßen werde. Ben sollte den Magen schonen, Erna hatte Medizin +zu nehmen, fand sie abschreckend bitter, und nur ihre Mama vermochte sie +bisher zu überzeugen, daß diese ihr notwendig sei. Und die Schularbeiten +der Knaben, und der Kummer der kleinen Ange! Ob sie sich wohl beruhigt +haben würde? Wie bitterlich hatte sie am Bahnhof geweint. + +Einigemal warf Ange den Blick aus dem Fenster und ließ die schon halb +unter dem Dämmerlicht verblassenden Dinge an sich vorüberziehen. Ein +unruhiges, stürmisches Wetter mit Schneetreiben war aufgekommen und +legte seine Himmelsflocken dicht und erbarmungslos auf die Landschaft +ringsum. Hier tauchten im raschen Fluge Dörfer, Städte, ein einzelnes +Haus, dort ein Feuerfunken in die Luft sendender Fabrikschornstein +empor; dann kleine, wie verlorene Posten in der Schnee-Einöde +erscheinende Wärterhäuschen, scharf begrenzte Telegraphendrähte, bald +sich neigend, bald emporstrebend zu den glockengezierten Stützen, +blitzartig wie dunkle Erdfäden sichtbar werdend und verschwindend. Und +jetzt wieder flaches, endloses, schneebedecktes Land, aus dem ein +einzelner entblätterter Baum wie ein roh entkleidetes Wahrzeichen der +Jahreszeit melancholisch sich abzeichnete. Und fort, immer fort in +rasender Eile, stundenlang, bis dem schrillen Pfiff der Lokomotive das +Stöhnen der Bremse folgte, und sowohl die Szenerie draußen, wie auch das +tobende Geräusch des dahinstürmenden Zuges seinen Charakter veränderte: +Jetzt hohle, wie unterirdisch klingende Schläge, hervorgerufen durch +einige düster aufstrebende, auf den Nebengeleisen flehende +Eisenbahnwagen; kleine rote und grüne Lichter, wie unheimliche +Erdgeister, allmählich hellere Luft, als Reflex des auftauchenden Lebens +in Häusern und Hütten, und dann ein letzter kurzer Schrei der +Lokomotive, nochmals kreischendes Bremsen und endlich Stillstand und +Ruhe. + +Und jetzt Rufe, eilende Schritte, lautes Sprechen, das Rasseln der +Postpacketwagen, Auf- und Zuschlagen von Thüren, und um die Coupéfenster +zugleich ein pfeifendes Sausen aus der sturmdurchwehten Bahnhofshalle. + +Dann ging's abermals wie auf einem von Furien gepeitschten, lebenden +Ungetüm hinaus in den Sturm, in den Schnee und in die Nacht. Und wieder +dieselben oder ähnliche Bilder: Reihen von ungleichen Häusern, +weißglitzernde Dächer, Hunderte von Lichtern, lange, von spärlicher +Helle beschienene, verlassene Gassen, aus der umnebelten Luft wie +erstarrt emporragende Kirchtürme, wieder Güterwagen, eine einzelne wie +ein Dämon mit roten Feueraugen vorbeisausende Lokomotive--ein Ruck, noch +ein rücksichtsloser Ruck an den Weichen, und nun endlich ein +gleichmäßiges, jagendes, keuchendes, stoßendes Stampfen des +dahinfliegenden Kurierzuges. + +Nach einstündiger Fahrt hielt der Zug wiederum eine Minute. Die Thür in +Anges Coupé ward aufgerissen. Es schien eine der letzten Stationen vor +Frankfurt zu sein. Rasche Worte erfolgten zwischen einem in hastigem +Laufe herbeieilenden Passagier und dem Schaffner. „Schnell hier! Es ist +höchste Zeit--“ + +Ein Pfiff des Zugführers--ein Schlag;--ein Herr stieg ein, noch ein +Pfiff der Lokomotive, und nun brauste der Zug von neuem davon. + +Der Fremde, scheinbar den besseren Ständen angehörend, grüßte Ange +flüchtig und schien anfangs, trotz der schwachen Beleuchtung, ganz in +die Lektüre einer Zeitung vertieft. Allmählich aber begann er seine +Blicke auf Ange zu richten und sie endlich in einer so zudringlichen +Weise zu betrachten, daß sie dies lebhaft beunruhigte. Der Mann sah +unheimlich aus. Er trug einen dunklen Knebelbart, hatte suchende Augen, +jene Augen, die eine furchtbare, stumme Sprache reden, und neben +gewählter Kleidung eine bis an den Hals zugeknöpfte scharfrote +Sammetweste mit weißen Knöpfen. Ange vermochte sich nicht zu erklären, +weshalb ihr gerade diese Weste ein so unheimliches Gefühl einjagte. + +Endlich brach der Mann das Schweigen und fragte in französischer +Sprache, ob ihr wohl--sie möge verzeihen--ein Hôtel in Frankfurt bekannt +wäre. Er sei fremd und habe versäumt, sich zu erkundigen. Ange verneinte +und gab, wenn auch höflich, durch ihre Miene zu verstehen, daß sie +keinerlei Gespräch anzuknüpfen wünsche. + +„Werden Sie auch in Frankfurt übernachten, gnädiges Fräulein?“ begann +der Fremde trotzdem von neuem. + +„Vielleicht--mein Herr!“ und Ange wandte zur größeren Erhärtung ihrer +entschiedenen Abwehr den Blick gegen das Fenster und schaute hinaus. + +Der Fremde verharrte eine Zeitlang unschlüssig, nahm aber dann noch +einmal das Wort und machte eine mit feinem Spott vermischte +Entschuldigung. Zugleich veränderte er den Platz und suchte in +verletzender Zudringlichkeit Anges Aufmerksamkeit zu erregen. + +Ange erbebte, aber sie beschränkte sich diesmal auf einen einzigen +Blick, durch welchen sie den Fremden an seinen Platz zurückzuweisen +suchte. + +In der That schien der Mann endlich belehrt zu sein; er schwieg. + +Nun drückte sich Ange mit geschlossenen Augen in die Ecke des Sitzes. +Aber noch durch die Lider sah sie in ihrer aufzeigenden Angst die rote +Weste und die funkelnden Augen des Fremden vor sich. Von draußen ertönte +das hastende Geräusch der dahinfliegenden Wagen; einmal ein kurzer Pfiff +der Lokomotive; nun jagte ein anderer Zug, von Frankfurt kommend, über +die Schienen. Wie die wilde Jagd raste und stob er mit kurzem, sausendem +Gezisch, den Sturmwind im Rücken, an ihnen vorüber. Dann trat das +frühere regelmäßige Geräusch wieder ein. + +„Mein gnädiges Fräulein! Ich bitte, mein gnädiges Fräulein!“ drang nun +die Stimme des Fremden in halb bittendem, halb zudringlichem Tone an +Anges Ohr. + +„Mein Herr, ich muß dringend ersuchen, daß Sie mich nicht ferner +belästigen! Sie haben eine Dame vor sich! Noch einmal, zum letztenmal; +ich habe bereits deutlich gezeigt, daß ich keine Konversation wünsche.“ + +Aber der Fremde rührte sich nicht von der Stelle. Ange schien ihm in +ihrem Zorn nur noch reizvoller. + +„Wie kann man sich so erregen, so ungehalten sein!“ begann er abermals +kopfschüttelnd, suchte Anges Augen, rückte näher und tastete unter +weiteren besänftigenden Worten sogar nach ihrer Hand. Eine heiße +leidenschaftliche Hand streifte in der That während einer Sekunde Anges +Rechte. + +„Mein Herr, mir fehlen die Worte für Ihr Benehmen! Ich befehle Ihnen, +sich sofort zurückzuziehen!“ rief Ange, flog empor und richtete ihre +schlanke, in die dunklen Trauerkleider gehüllte Gestalt so gebietend vor +dem Manne auf, daß er zurückprallte. „Wenn Ihr besseres Gefühl nicht von +selbst erwacht, wenn Sie Ihre empörenden Zudringlichkeiten nicht +einstellen, werde ich die Zugleine ziehen! Ich thue es bei Gott jetzt, +sogleich--“ + +Als der Fremde trotz der Entwaffnung, die sich in seinen Mienen +widerspiegelte, dieser Aufforderung dennoch nicht folgte, faßte Ange den +Riemen, riß das Fenster auf und rief, während sie nach der Leine +tastete, in das Dunkel hinaus nach Hilfe. + +Die schwarze Nacht schielte mit ihrem mitleidlosen Gesicht in den +schwach erleuchteten Raum, Flocken ihres weißen Totenbettes wirbelten in +das Coupé, kalte, eisige Zugluft drängte sich hinein. + +Jetzt pfiff die Lokomotive; der schwarze, mit tausend unsichtbaren +Atomen geschwängerte Rauch warf seinen stinkenden Atem ins Coupé, drang +mit der eisigen Luft in Anges Kehle und tötete jeden Laut. Vorwärts! +vorwärts! Der Zug raste dahin! Was scheren den stummen Zeiger an der +großen Zeituhr menschliche Vorgänge, gar der Schrei eines geängstigten +Menschenkindes, was die Laune eines Zudringlichen? + +Zum Glück für Ange hatte der Zug nun bereits das Frankfurter Weichbild +erreicht. Der Fremde machte sich hastig mit seinen Sachen zu schaffen, +und Ange wandte sich, noch atemlos vor Aufregung, ins Coupé zurück. +Wenige Augenblicke und der letzte Pfiff ertönte. Die Wagen hielten, die +Thüren wurden aufgemacht, der Fremde sprang mit kurzem, scheuem Gruß +eilend hinaus, so eilend, daß Ange ihn in der nächsten Sekunde aus den +Augen verlor, und sie selbst verließ, noch unter den Nachwirkungen der +Schrecken, die über ihr geschwebt, den unheimlichen Raum und fuhr in die +Stadt. + + * * * * * + +Als Ange nach einer Nacht voll aufregender Träume und Beunruhigungen zu +einer Überlegung der Aufgaben des Tages gelangte und zunächst sich +erinnerte, daß sie sich einige Geldmittel verschaffen müsse, saß sie +lange grübelnd da und vermochte sich nicht zu einem Entschlusse +aufzuraffen. Nur wer sich in einer Lebenslage jemals befunden hat, in +der das Notwendigste nicht allein fehlt, sondern auch der Blick in die +Zukunft das Traurigste vor Augen stellt, wird den Zustand von +Mutlosigkeit und Unsicherheit begreifen, in welchem sie sich befand. + +Die Rückwirkung der Aufregung des verflogenen Abends, die Geldsorge, die +dadurch hervorgerufenen Eindrücke, namentlich das Gefühl, etwas anderes +zu scheinen, als die Umgebung voraussetzte, die fremde Stadt, die +bevorstehende polizeiliche Vernehmung--dies alles übte eine solche +Wirkung auf Ange aus, daß sie, zum Fortgang schon gerüstet, auf der +Treppe noch einmal umkehrte, sich in ihr Zimmer zurückbegab, und weinend +nach Fassung rang. + +Und diese ward ihr endlich! Ja, noch mehr. Was bisher zu keinem Ausdruck +gelangt war, weil der richtige Prüfstein fehlte, gestaltete sich +allmählich klar und kräftig in ihrem Inneren. Sie gedachte ihrer Kinder, +und bei der Erinnerung an diese stärkte sich ihr Pflichtgefühl. Der +Adel ihrer Seele half ihr zu einem unabänderlichen Entschluß und zu +einem festen Willen. Nun zeigte sich, daß sie aus einem besseren Holz +geschnitten war als der Durchschnitt derer, die in der Welt +umherwandeln. + +Kein Rückblick mehr auf frühere sorglose Zeiten, keine Vergleiche! +Geradeaus wollte sie ihr Auge richten! Ein heiliger Ernst durchdrang +sie: jener sittliche Ernst bemächtigte sich ihrer, ohne den niemand +wagen darf, auf den Kampfplatz des Lebens zu treten, mit dem aber jeder +ein Feld sich eröffnet, dessen Enden ohne Grenzen zu sein scheinen. + +Ange beschloß, zunächst einen Wagen zu nehmen und nach einem +Pelzgeschäft zu fahren; von dort wollte sie sich ins Polizeigebäude +begeben. Nachdem sie Erkundigungen bei dem Portier eingezogen--sie wurde +rot bei ihrer Frage--, fuhr sie ab. + +Kaum zehn Minuten später betrat sie das Magazin und legte den Mantel, +den sie im Wagen abgezogen hatte, dem Käufer, einem jungen Menschen mit +einer verdrießlichen Geschäftsmiene, vor. + +„Ich bin auf der Reise. Dieser Pelz ist mir überflüssig, ich wünsche ihn +zu veräußern. Wollen Sie die Güte haben, ihn zu prüfen und einen Preis +zu nennen?“ + +Der Angeredete schob das kostbare Stück hin und her, nickte und sagte +endlich: „Ich glaube, daß wir den Mantel erwerben würden. Aber der Chef +ist augenblicklich verreist. Wollen Sie ihn nicht bis übermorgen zur +Verfügung halten? Ich kann den Handel allein nicht abschließen!“ + +Ange erwiderte, daß dies nicht möglich sei, und bat um eine andere +Adresse. Nachdem eine mürrische Antwort erfolgt war, entfernte sie sich. + +Ange fuhr durch eine Reihe weitläufiger Straßen und Gassen, bevor sie +ihr Ziel erreichte. Die großen Geschäftshäuser mit ihren geschmückten +Läden türmten sich vor ihr auf. Sie sah die eilenden Fuhrwerke und +Menschen, blickte in den Dunst und Wirrwarr des Verkehrs und ward hier +angezogen, dort abgestoßen von den Bildern des geräuschvollen Lebens. +Aber diese Eindrücke gingen gleichsam nur wie ein Schatten neben den +Gedanken einher, die sie beschäftigten. + +Und da plötzlich tauchte beim Hinausschauen eine Gestalt vor ihr auf, +die sie kannte. Im Fluge des Vorüberfahrens sah Ange ihren +Reisegefährten; sie bemerkte auch während weniger Sekunden die +Dreieckzipfelchen seiner roten Weste unter dem zugeknöpften Rock. Der +Mensch hatte Frankfurt also nicht verlassen! Doch gleichviel; wirkte +auch die Erinnerung auf sie und ließ diese ein angstvolles Unbehagen in +ihr emporsteigen--das war glücklich überwunden. Jetzt, in der belebten +Stadt empfand sie keinerlei Furcht. + +Endlich hielt der Wagen. Aber hier war nicht, was Ange suchte. Sie +befand sich in einer kleinen Gasse und begriff nur zu bald, daß der +Kutscher sie falsch verstanden habe. Ange sah auf die Uhr; es war schon +spät. Unter raschem Entschluß befahl sie, nach dem Polizeigebäude zu +fahren. Sie wollte den Wagen warten lassen, auf ihrer Rückkehr den +Mantel veräußern, und dann den Mann ablohnen. + +„Warten Sie!“ sagte Ange, nachdem das Polizeigebäude erreicht war. Und +in einer unzeitigen Ehrlichkeit fügte sie hinzu: „Es kann etwas lange +dauern.“ + +„Dann lohnen Sie mich ab!“ rief der Kutscher. „Mein Pferd geht schon +seit gestern abend; ich möchte ausspannen.“ + +Ange erschrak. „Ich habe kein kleines Geld--“ + +„Ich werde wechseln gehen,“ wandte der Mann ein und sprang vom Bock. + +„Nein, nein, warten Sie!“ erklärte Ange, eilte rasch an die Thür und +schnitt somit alle weiteren Fragen ab, die ihr Ungelegenheiten bereiten +konnten. Das Geld, das sie in C. zu sich gesteckt, hatte eben für die +Reise gereicht; sie vermochte den Kutscher nicht einmal zu bezahlen. + +Nachdem Ange von dem Portier verständigt worden war, betrat sie das +Zimmer des Kriminalkommissarius. Einer der dort anwesenden Beamten wußte +nicht genau Bescheid, der Vorsteher war nicht anwesend. Es blieb Ange +die Wahl zu warten oder wieder zurückzukehren. Sie schwankte. + +Bevor sie sich zum Gehen entschloß, fragte sie nach Tibet, und nach +einigem Hin- und Herreden empfing sie den Bescheid, der Inkulpat sei in +Haft, und es sei nicht möglich und gestattet, ihn zu sehen oder zu +sprechen. + +Der Beamte, der höflich, wenn auch kurz Auskunft erteilt hatte, sah +befremdet empor, als Ange, in Gedanken verloren, vor sich hinstarrte. +Nun raffte sie sich auf und erklärte, in einigen Stunden wieder anfragen +zu wollen. + +In der Thür wandte sie sich noch einmal um. „Ich bitte, dem Herrn +Kommissar bei seiner Rückkehr meine Karte übergeben zu wollen und zu +melden, daß ich mich eingefunden habe.“ + +Der Beamte schielte auf die Adresse, nickte gleichgültig und sah auf +seine Arbeit. + +„Adieu!“ + +Dieser Gruß ward kaum erwidert. So ging Ange. + +Ins Hôtel zurückgekehrt, ließ sie den Kutscher ablohnen und machte sich +nach etwas Ruhe und Erholung abermals nach dem Polizeibureau auf den +Weg. + +Als sie nach längerem Warten endlich vorgelassen wurde, stand sie einem +ernsten Mann mit forschendem Blick gegenüber, und es entspann sich ein +längeres Gespräch. + +„Ich komme, Herr Kommissar, wegen meines am vorgestrigen Tage +verhafteten Dieners Ernst Tibet.“ + +„Ich habe die Ehre, die Frau Gräfin von--“ Der Beamte suchte nach Anges +Namen, bat sie mit einer höflichen Bewegung, Platz zu nehmen, griff +hinter sich nach einem Aktenfascikel, blätterte darin und neigte +zustimmend den Kopf, als jene inzwischen das Wort „Clairefort“ selbst +hinzufügte. + +„Ganz recht! Der Verhaftete beruft sich auf die Zeugenschaft der Frau +Gräfin Ange von Clairefort, geborenen Baronin von Butin, Gemahlin des +verstorbenen Rittmeisters Carlos von Clairefort. Ist dies richtig, +gnädige Frau!“ Der Kommissar erhob fragend den Blick. + +Ange verbeugte sich. + +„Die Vorgänge, die Umstände, welche die Verhaftung des Ernst Tibet +herbeiführten, sind Ihnen bekannt, gnädige Frau?--Nein?--Ich werde Ihnen +dann zunächst das Protokoll vorlesen. Indes, eine Vorfrage: Vermögen +Sie sich zu legitimieren? Ich bitte um Ihre Papiere.“ + +Ange wußte bei den mehrfach und gleichzeitig gestellten Fragen nicht +unmittelbar zu antworten; von allen blieb die letztere in ihr hasten. +„Legitimation? Ich verstehe nicht, Herr Kommissar!“ + +„Es würde ein amtlich beglaubigtes Schriftstück aus C., etwa von dem +dortigen Polizeimeister, genügen.--Sie haben kein solches?--Vielleicht +können Sie sich durch eine hiesige Persönlichkeit rekognoszieren +lassen.--Auch nicht?--Hm, das erschwert allerdings die Angelegenheit.“ + +In Anges Mienen trat ein Ausdruck von Enttäuschung und Unruhe zugleich, +und da ein Kriminalkommissarius wie ein Luchs auf der Lauer liegt und +jede verdächtige Bewegung beobachtet, auch niemals annimmt, daß ihm die +Wahrheit gesagt wird, sondern stets das Gegenteil vermutet, so sprachen +diese Dinge nicht eben zu Anges gunsten. + +„Eine Legitimation ist durchaus erforderlich, gnädige Frau,“ fuhr der +Beamte achselzuckend fort. Die Schwierigkeiten, die sich unvermutet +erhoben, ängstigten Ange. Sie sah ihr Gegenüber einen Moment ratlos an. + +„Ich müßte schon nach C. zurückreisen, Herr Kommissar. Ich weiß keinen +anderen Weg. Hier kenne ich niemanden. Giebt's keine Möglichkeit? Ich +bitte freundlichst um Ihren Rat.“ + +Der Beamte machte eine zweifelnde Bewegung, und in seinem Gesicht malte +sich nichts, was Ange hätte ermutigen können. + +„Ich glaube allerdings, es wird nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie +an Ort und Stelle--“ + +„Aber bedenken Sie, Herr Kommissar, ich bin gestern in aller Eile +abgereist, nun wieder zurück und abermals hierher!“ + +„Allerdings eine mißliche Aufgabe, gnädige Frau. Aber woher soll ich die +Überzeugung nehmen, daß ich die Ehre habe, mit der Frau Gräfin von +Clairefort zu sprechen? Die ganze Angelegenheit macht, ich muß es Ihnen +offen bekennen, einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Der Inkulpat +hat sich äußerst verdächtig benommen. Nachdem er die sehr wertvollen, +wie ich hier berichtet finde, auf eine ganz ungewöhnlich große Summe +abgeschätzten Diamanten anfänglich als sein Eigentum bezeichnet hatte, +zog er später diese Aussage zurück und weigerte sich, den Namen seines +Auftraggebers zu nennen. Der Juwelier mußte Verdacht schöpfen und war in +der That selbst die Veranlassung, daß die Verhaftung erfolgte. Was ist +denn Ihnen über den Fall bekannt, gnädige Frau?“ + +Ange berichtete, was sie wußte. Sie erzählte, daß sie ein Telegramm und +in diesem die Aufforderung erhalten habe, sofort nach Frankfurt zu +eilen. Und während sie das erörterte, kam ihr, wie ihr schien, eine +zutreffende Bemerkung. + +„Daß ich die Gräfin von Clairefort bin, Herr Kommissar,“ fuhr sie fort, +„mag genügend daraus erhellen, daß nur ich die ohne Zweifel mit Ihrer +Genehmigung abgesandte Depesche empfangen konnte und solche auch in der +That erhielt. Wollte der Verhaftete eine andere Persönlichkeit +einschieben, welche Möglichkeit Sie anzunehmen scheinen, so mußte er +entweder diese zugleich benachrichtigen oder sich in der Zwischenzeit +mit mir in Verbindung setzen. Wie sollte das geschehen sein? Ich +erkläre, daß ich die Gräfin von Clairefort bin, daß ich meinen Diener +beauftragt habe, meine Diamanten zu veräußern, und daß er nur aus +Delikatesse meinen Namen verschwieg. Die Umstände, welche ihn dazu +veranlaßten, sind so trauriger Art“--Ange stockte und senkte das +Auge--„daß Sie darin nur etwas Selbstverständliches finden würden, Herr +Kommissar, wenn Ihnen solche bekannt wären.“ + +Der Beamte sah Anges Bewegung und legte ihr durch einige artige Worte +seine Teilnahme an den Tag. Dann aber nahm er zu dem Gegenstand selbst +Stellung und sagte: + +„Was Sie als untrüglichen Nachweis anführen, meine gnädige Frau, ist für +mich keiner. Ich bitte, nur den einen Fall ins Auge zu fassen, und ein +solcher ist unzähligemal vorgekommen. Was kann bei solchen Gelegenheiten +nicht alles vorbedacht und abgesprochen sein! Stößt dem Schwindler oder +Dieb eine Ungelegenheit zu, bezeichnet er als Entlastungszeugen eine mit +ihm im Bunde stehende Persönlichkeit, die sich also im vorliegenden Fall +etwa--Frau von Clairefort nennt. Diese erscheint, macht ihre Aussagen, +und der gemeinsame, an einer dritten Person ausgeführte Diebstahl--wer +weiß wo; in Paris, Madrid oder sonst in der Welt!--bleibt nicht nur +unentdeckt, sondern die Komplicen ziehen noch mit triumphierender Miene +ab.--Ohne Zweifel verhält sich das alles in diesem Falle nicht, wie ich +hier dargelegt habe, aber bedenken Sie, daß es doch möglich sein könnte +und welche Verantwortung auf mir lastet. Meine vielen Geschäfte +gestatten mir im allgemeinen nicht, mich mit Zeugen in Erörterungen über +Eventualitäten einzuladen. Ich gehe streng nach meinen Vorschriften. +Wird erfüllt, was ich gesetzlich zu verlangen habe, schreite ich an die +Prüfung und entscheide. Legitimieren Sie sich, und ich werde Ihre +Aussagen protokollieren, diese mit denen des Tibet vergleichen, Sie +beide konfrontieren und, wenn ich die Überzeugung gewinne, daß ein +falscher Verdacht vorliegt, mit größter Genugthuung Ihren Diener +entlassen und Sie in den Besitz Ihres Eigentums setzen.“ + +Ange ließ mutlos den Kopf sinken. + +„Also es giebt gar keinen--gar keinen Ausweg, Herr Kommissar?“ fragte +sie und sah ihn mit feuchten Augen an. „Bedenken Sie gütigst! Ich, eine +einzelne Dame! Noch stehe ich unter den Nachwirkungen einer so ernsten +Trauer, mein Gatte ist eben gestorben. Ich reiße mich von allem los und +eile hierher; nun soll ich nochmals zurück! Und dazu die +Peinlichkeit, in dieser Angelegenheit mit den Ortsbehörden zu +verhandeln!--Diamantendiebstahl! Verhaftung! Das alles klingt, als ob +wirklich ein Vergehen vorläge, und doch ist alles so korrekt wie nur +möglich. Ich bitte, ich flehe Sie an, helfen Sie mir! Ich schwöre Ihnen +zu, daß ich die Wahrheit rede! Sehe ich aus wie eine Betrügerin? Ihr +scharfer Blick muß es erraten, daß ich die volle Wahrheit rede!“ + +Der Beamte sann einen Augenblick nach, dann sagte er: + +„Meinen persönlichen Empfindungen darf ich nicht folgen. Diese sprechen +zu Ihren gunsten, gnädige Frau--ich bitte, beruhigen Sie sich.“ (Ange +brach in Thränen aus.) „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: ich werde +an den Polizeimeister in C. telegraphieren. Vermag dieser zu +recherchieren, daß Sie in C. wohnen, gestern abgereist sind--wann, +bitte, mit welchem Zug?--Sehr wohl!--auch Ihr Signalement und dasjenige +Ihres Dieners beizufügen--würden Sie endlich das Original der Depesche +mir einhändigen können, welche Sie von Ihrem Diener empfingen, so wäre +ich hinreichend gedeckt und verspreche Ihnen eine rasche Untersuchung +und Erledigung.“ + +Ange atmete erleichtert auf. + +„Wann darf ich also wieder erscheinen, Herr Kommissar?“ + +„Ich denke, übermorgen vormittag werde ich im Besitz alles dessen sein, +was erforderlich ist.“ + +„Nicht früher?“ warf Ange enttäuscht ein. + +„Ich glaube nicht, daß es möglich sein wird.“ + +„Und darf ich meinen Diener sprechen?“ + +„Ich bedaure, gnädige Frau--“ + +„Aber er könnte doch benachrichtigt werden, daß ich hier bin und daß +alles eingeleitet ist! Sie würden mich sehr verbinden. Der arme Mensch +wird in einer entsetzlichen Unruhe sein, und Sie begreifen, daß ich ihn +daraus befreien möchte.“ + +„Diese Bitte will ich auf Ihren besonderen Wunsch erfüllen, gnädige +Frau.“ + +Der Kommissar klingelte. + +„Ich danke Ihnen für diese besondere Rücksicht, Mein Herr,“ sagte Ange, +stark betonend. + +Der Beamte neigte höflich den Kopf und erhob sich. „Also auf übermorgen +zehn Uhr. Ich stehe dann zu Diensten. Ich empfehle mich Ihnen, gnädige +Frau.“ + +Eine stumme Verbeugung, nochmals ein Dankeswort, dann war Ange draußen. + +„Nach der Pelzhandlung von M.!“ + +„Straße? Nummer?“ + +Ange antwortete, stieg ein und der Wagen rollte fort. Nach zehn Minuten +befand sie sich an Ort und Stelle. Sie brachte ihr Anliegen vor und +wartete voll Ungeduld auf die Entscheidung. Diese erfolgte erst nach +längerer Zeit. + +„Wir haben im ganzen nicht viel Neigung zum Kauf, obgleich der Pelz sehr +schön ist,“ sagte der Händler, welcher sich mit seiner Umgebung beraten +hatte. „Für derartige Ware haben wir hier so gut wie keine Verwendung. +Indessen, wollen Sie ihn mit achtzig Thalern abgeben, kann das Geschäft +gemacht werden.“ + +Seit Wochen hatte sich Ange nicht so glücklich gefühlt. Sie hätte +aufjauchzen können in der Erleichterung ihrer Seele. Achtzig Thaler! Sie +hatte zwar mehr erwartet, da der Pelz mehrere Hunderte gekostet hatte, +aber sie empfing Geld--überhaupt Geld, und--dann fand sich alles andere. + +Ange nickte, that noch eine Frage wegen Rückkaufs, empfing den Betrag +und entfernte sich. + +Nach einer Abwesenheit von fast zwei Stunden kehrte sie nun abermals ins +Hôtel zurück. + + * * * * * + +Wer das Leben beobachtet, wird finden, daß diejenigen das höchste +Ansehen genießen, welche allezeit den Kopf über das Herz stellen, und in +der That sind diese Menschen die eigentlichen Erhalter unserer sozialen +Verhältnisse. Was sollte heute aus einer Welt werden, in der die +Menschen nach den idealen Vorschriften einer biblischen Bergpredigt +handeln wollten? + +Anders steht es mit dem Glück solcher Personen. Die tausendfachen Reize, +welche den Gemütsmenschen zu teil werden--und mögen diese auch nur +bestehen in dem Wechsel zwischen Erfolg und Enttäuschung--entgehen +ihnen. Der Gemütsmensch genießt jede Sekunde, der Verstandesmensch +entbehrt oft alles. Jener befindet sich bis zum Grabe in einem +köstlichen Rausche, dieser--oft ohne wesentlichen Kampf mit der +Außenwelt, der Illusionen bar, lernt den eigentlichen Zauber des Lebens +gar nicht kennen. + +Ange hatte den furchtbaren Ernst ihrer Lage begriffen, und der feste +Entschluß, ein neues, auf Pflichttreue beruhendes Leben zu beginnen, war +stark und lebendig in ihr geworden; aber ihre lebensfrohe Weltanschauung +und ihre sorglose Unerfahrenheit gewannen doch leicht wieder die +Oberhand und verführten sie, mehr dem Impuls des Augenblicks zu folgen, +als das Ende der Dinge ins Auge zu fassen. Gestärkt durch neue +Hoffnungen und im Besitz einiger Mittel, verwischten sich vorübergehend +die Eindrücke der letzten Tage, und mit dem halbbewußten Anreiz, sich +ihre glückliche Stimmung zu erhalten, durchschritt sie nach dem +eingenommenen Mittagessen die Hauptstraßen, guckte in die Läden und +betrachtete mit naiver Freude alles, was sich neues ihrem Auge bot. + +Die schönen Gegenstände, welche in den Schaufenstern ausgebreitet lagen, +reizten ihre Kauflust. Was ihr gefiel, hatte sie bisher stets +erhalten--sich erbeten oder selbst gekauft; niemals fand sie den +geringsten Widerstand. Nun fielen ihr die Kinder ein! Statt eines Tages +würde sie viele Tage fortbleiben! Dafür mußten ihre Lieblinge doch in +etwas entschädigt werden! + +Unter diesem Gefühlsdrange betrat sie ein Magazin und wählte aus: da +war etwas für die kleine Ange, hier etwas für Jorinde und Fred, und da +keines der Kinder bevorzugt werden durfte, kaufte sie auch einige +hübsche Überflüssigkeiten für Ben und Erna. + +Als der Verkäufer die Rechnung summierte, erschrak Ange. Aber dann +stellte sie sich die Freude und den Jubel der Kleinen vor, gedachte +nochmals der mancherlei Entbehrungen, welche sie durch ihre Abwesenheit +erleiden würden, und befahl ohne Zaudern, die Gegenstände abzusenden. + +Und dennoch tauchte, als sie draußen zum Nachdenken gelangte, ein +bekanntes ernstes und tadelndes Gesicht vor ihr auf; ja sie hörte eine +Stimme, die sie sanft schalt und ihr zurief: „Niemals wirst Du die +Erfahrungen des Lebens Dir zu nutze machen! Immer wissender wirst Du +werden, nicht weiser!“ Es war Teut, der auch diesmal vor ihrem inneren +Auge erschien. + +Ange erschrak vor sich selbst. Selbsterkenntnis war ihr gekommen, +seitdem sie Teut kennen gelernt, Entschlüsse waren in ihr gereift, +nachdem Carlos davongegangen und sie in Not zurückgelassen hatte, aber +der Gang durch die Schule des Lebens war noch zu kurz, um seine volle +Wirkung zu üben. + +Den Rest des Tages benutzte sie, um an die Kinder und nochmals an Teut +zu schreiben. In ihrem ersten Briefe an ihn hatte sie nur Kunde gegeben +von Carlos' plötzlichem Tode; nun bat sie den Freund, ihr in ihrer Lage +zu raten. Mit ihrem Zartgefühl zauderte sie lange, die Zukunft zu +berühren. War in diesem Falle Rat erbitten nicht gleichbedeutend mit +einem Anspruch auf Teuts erneuerte opferthätige Freundschaft? + +Dennoch schrieb Ange. + +Nachdem sie aber die Feder aus der Hand gelegt, nochmals alles überlesen +hatte, und nun den Brief einfalten wollte, stiegen plötzlich Stolz und +Scham wie heiße Feuer in ihr empor. Sie zauderte, und aus diesem Zaudern +entstand ein unabänderlicher Entschluß. Ange zerriß, was sie dem Papier +anvertraut, und warf's in den Kamin. + +Es war ein qualvoller, heftiger Widerstreit, der sich in ihrem Inneren +erhob. Hier winkten Sorglosigkeit, Fülle vielleicht, mindestens aber +alles, was ihre Kinder schützen würde vor der Grausamkeit des Lebens. +Dort, in der Zukunft, lagen harte Arbeit, Entbehrung und alle die +entsetzlichen Begleiter dieser Quälhexe des Daseins. + +Und dennoch, und dennoch! Schon die bisherigen Wohlthaten Teuts +brannten wie glühendes Eisen auf ihrer Seele. Und diese noch +vermehren?--Niemals! Um keinen Preis! Es war jetzt, wie's war! Etwas +blieb! Darben würde sie nicht, wenn sie alles veräußerte. Am besten, sie +floh vor dem Freunde für immer, um so mehr, weil sie ihn liebte und weil +diese Liebe sie zu einer nachgiebigen Schwäche hinreißen konnte, die sie +sicher bereuen würde. + + * * * * * + +Vier Tage nach dem eben Erzählten saßen sich Ange und Tibet in einem +Zimmer des Hotel de Russie gegenüber. + +Letzterer war am Tage vorher aus der Haft entlassen worden, und hatte +Anges Eigentum zurückerhalten. Eben hatte er, der Aufforderung seiner +Herrin folgend, Platz genommen und sich einer ehrerbietigen Haltung +entäußert, die unter den bestehenden Verhältnissen auch als etwas +Nebensächliches erscheinen mußte. + +„Endlich, endlich, mein guter, braver Tibet!“ sagte Ange und reichte dem +treuen Menschen die Hand. „Und nun berichten Sie! Ist alles gut +verlaufen? Wieviel haben Sie empfangen?“ + +Über Tibets Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln; er griff in die +Seitentaschen seines Rockes und legte Ange ein Papier vor, das diese +zwar neugierig betrachtete, aber ohne Verständnis wieder aus der Hand +gleiten ließ. + +„Es ist ein Check auf die Firma Erlanger, Frau Gräfin. +Fünfundfünfzigtausend Mark haben wir erhalten.“ + +„Wie? Fünfundfünfzigtausend Mark? Viel; nicht, Tibet?“ rief Ange naiv +und voller Freude. + +„Ich glaube, daß wir mehr bekommen hätten, Frau Gräfin, wenn--“ + +„Wenn?“ + +„Die Frau Gräfin wünschten eine rasche Erledigung. Wenn ich das Angebot +in scheinbar längere Überlegung gezogen hätte, würde möglicherweise ein +größerer Preis erzielt worden sein!“ + +„Vielleicht, vielleicht, Tibet! Aber unter den gegebenen +Verhältnissen--“ + +„Wenn die Frau Gräfin meine Bitte erfüllt haben würden, wenn ich +vorläufig hätte eintreten dürfen--“ + +„Nun kommen Sie schon wieder mit den alten Dingen! Ist's denn nicht gut +so? Fünfundfünfzigtausend Mark! Das ist weit über meine Erwartung! +Wieviel meinen Sie, Tibet, daß die Veräußerung meiner Einrichtung +bringen wird? Hatte der Graf versichert? Wissen Sie etwas darüber?“ + +„Es ist eine sehr große Summe, Frau Gräfin. Ich erinnere mich nicht +genau, wieviel es gewesen ist. Allein die Gemälde im Salon haben einen +bedeutenden Wert.“ + +„Ah, so daß ich doch nicht ganz eine arme Kirchenmaus sein werde! Wie +hoch belaufen sich unsere Schulden, die rückständigen Zahlungen der +letzten Zeit?“ + +„Sie sind nicht unbedeutend, Frau Gräfin. Aber falls Frau Gräfin, was +ich nicht hoffe, die Einrichtung veräußern, wird wohl gewiß das Doppelte +von dem herauskommen, was ich heute für die Diamanten erzielt habe.“ + +„Also viel, Tibet, sehr viel! Nehmen wir an, daß mir hunderttausend Mark +bleiben--werde ich diese wohl behalten, nachdem die Schulden, auch +diejenigen an Baron von Teut, abgetragen sind?--Ja?--Sie wissen +nicht?--Nun, nehmen wir an, daß mir so viel bliebe--wieviel Zinsen giebt +das vom Kapital?“ + +„Viertausend Mark, wenn dieses sicher angelegt werden soll, Frau +Gräfin.“ + +„Viertausend Mark--und damit sollten wir uns in einer kleinen Stadt +nicht bescheiden einrichten können? Wie glücklich bin ich, daß +wenigstens das meinen Kindern erhalten bleibt!“ + +Tibet seufzte. Er schien Anges Hoffnungen keineswegs zu teilen. + +„Nun. Sie Zweifler, was ist denn jetzt wieder?“ + +„Der Herr Baron wird sicher nicht leiden, daß die Frau Gräfin Ihre +Einrichtung verkaufen. Schon wegen der Diamanten werde ich einen +schweren Stand mit ihm haben.“ + +Aber Tibet bereute, was er gesprochen hatte, denn die Frau, die ihm +gegenüber saß, sagte in einem völlig veränderten und keinen Widerspruch +duldenden Ton: + +„Was hat Herr von Teut mit diesen Angelegenheiten zu thun? Ist er mein +Vormund? Ich wünsche durchaus keine Einmischungen in meine +Geldangelegenheiten von seiner Seite. Und damit Sie es wissen, ein für +allemal wissen, Tibet: ich verbiete Ihnen, ohne meinen Willen und meine +Zustimmung dem Baron irgendwelche Mitteilungen über meine Verhältnisse +zu machen. Ja, noch mehr. Wenn ich C., was unmittelbar geschehen wird, +verlasse, darf er meinen Aufenthalt nicht erfahren. Ich würde +irgendwelche Äußerung von Ihrer Seite, die ohne meine Genehmigung +geschieht, als eine Indiskretion, ja als einen Treubruch ansehen, und +Sie würden meine Freundschaft verlieren, die Sie heute in so hohem Grade +besitzen.“ + +„Frau Gräfin--“ + +„Und überall und zur Klarstellung über das, was ich unabänderlich +beschlossen, Tibet,“ fuhr Ange, ohne Tibets Einwand zu beachten, in +einer diesem Mann gegenüber vielleicht ungeeigneten, aber ihrer Natur +entsprechenden Offenheit fort, „merken Sie sich folgendes: Sie werden es +verstehen, und ich sage es Ihnen, weil wir uns in diesem Augenblicke +nicht gegenübersitzen als Herrin und Diener, sondern als zwei durch +lange Jahre und nun auch durch ein trauriges Schicksal verknüpfte +Personen. Es giebt niemanden auf der Welt, den ich so hoch schätze wie +den Baron von Teut; er ist mein bester, mein treuester Freund, wie Sie, +Tibet, es meinem verdorbenen Gemahl gewesen sind. Aber die Dauer der +Freundschaft ist fast immer bedingt durch Gleichartigkeit der +Lebensverhältnisse. Da diese sich verändert haben, so könnte unser +bisheriges gutes Einvernehmen Schaden leiden, und um unter allen +Umständen solches zu verhüten, will ich ihn in Zukunft meiden. Ich kenne +ihn. Seine freigebige Hand kann sich nicht schließen, ich aber will +keine Wohlthaten empfangen, und wenn ich hungern sollte! Daraus ergiebt +sich alles. Auch wir müssen uns trennen, mein braver Tibet! Ich vermag +Ihnen nichts zu bieten und darf Sie nicht zurückhalten, sich ein anderes +sicheres Brot zu suchen.“ + +„Wie--auch mich wollen Sie von sich stoßen, Frau Gräfin?“ rief Tibet. + +„Ich will Sie nicht von mir stoßen! Ach, Tibet, ich trenne mich nur +allzu schwer von Ihnen. Aber gestehen Sie selbst! Meine Einnahme wird in +der Folge gering sein, meine Familie ist zahlreich; ich kann Sie nicht +belohnen, wie ich es möchte. Ja, noch mehr: ich kann Ihnen überhaupt +nicht--“ + +„Ich wünsche auch gar nichts, Frau Gräfin. Ich bitte nur, bei Ihnen und +den Kindern bleiben zu dürfen, die mir ans Herz gewachsen sind.“ Den +Schlußsatz sprach Tibet, dieser unverbesserliche Egoist, nicht ohne +Berechnung. Und er täuschte sich auch nicht bezüglich der Wirkung seiner +Worte. + +Immer, wenn die Kinder in Frage kamen, ward Ange wieder schwach oder +schwankend. Sie hingen voll Zärtlichkeit an dem alten Diener des Hauses. +Sie stellte sich vor, wie gut er stets mit ihnen gewesen, wie er ihre +Schwächen kannte und wie günstig er sie stets beeinflußt hatte; ja, +welche Entbehrung eintreten werde, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe sein +würde. + +Ange schüttelte denn auch nur den Kopf; sie bewegte ihn wie jemand, der +nicht nein und nicht ja zu sagen vermag. + +Aber endlich gewann doch das Vernünftige wieder die Oberhand, und sie +sagte: + +„Und dennoch nein--nein, Tibet. Sie sind nicht mehr jung--wollen Sie die +besten Ihnen noch bleibenden Jahre sich verkümmern, gar mit der Aussicht +in eine Abhängigkeit treten, welche sicher ein sorgenfreies Alter +abschneidet?“ + +„Dafür ist gesorgt, Frau Gräfin. Ich habe ein kleines Kapital, wie Sie +aus meinem bescheidenen Anerbieten bereits erfahren haben. Ich strebe +nicht nach Geld! Lassen Sie mich wenigstens vorläufig bei Ihnen bleiben! +Die nächste Zeit erfordert so viel! Zuerst werde ich die ganze +Abwickelung in C. besorgen müssen, dann kommt der Umzug, die +Neueinrichtung, die Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse. Das +erfordert gewiß ein Jahr, in dem ich mich Ihnen nützlich machen kann.“ + +Ange sah dem trefflichen Menschen ins Auge, und eine Thräne der Rührung +stahl sich in ihr eigenes. + +„Gut, unter einer Bedingung, Tibet!“ entschied sie, während sie ihre +Empfindungen zurückdrängte „Sie versprechen mir, daß Sie meine vorher +geäußerten Wünsche erfüllen, daß Sie dem Baron von Teut--“ + +Tibet hatte bei den ersten Worten dankbar das Haupt geneigt, jetzt trat +ein unverkennbarer Ausdruck der Unruhe in seine Züge. + +„Nun, Tibet?“ unterbrach sich Ange. + +„Darf ich offen sprechen, Frau Gräfin?“ + +Ange nickte, ergriff einen kleinen Gegenstand, der auf dem Tische lag, +rollte ihn in ihrer Hand auf und ab und horchte mit einem Anflug von +Spannung auf. + +„Ich gab Herrn Baron von Teut beim Abschied mein Wort, Frau Gräfin, ihm +von allem Mitteilung zu machen, was die gräfliche Familie anbeträfe. Ich +meine,“ setzte er schnell auf einen stolzen Blick aus Anges Augen hinzu, +„ihm sogleich Nachricht zu geben, wenn bei den einmal begehenden +Verhältnissen Ungelegenheiten eintreten sollten. Ich versprach es nach +einigem Zaudern, denn früher--damals, als der Herr Baron zuerst ins +Hauswesen eingriff--hatte ich jede derartige Zumutung abgelehnt. Nun +wußte ich sicher, daß ich etwas Gutes, Ihnen nur Nützliches damit +bewirken könne, und sagte zu, was er von mir wünschte. Aber noch etwas +anderes, Frau Gräfin: der Herr Baron ist, soviel ich weiß, von dem +seligen Herrn Grafen zum Vormund der Kinder eingesetzt, und derselbe hat +ihm auch Vollmacht gegeben, Ihre Vermögensangelegenheiten selbständig in +die Hand zu nehmen. Haben Sie nichts in dem letzten Willen des Herrn +Grafen--in seinem Testament gefunden?“ + +„Ah!“ murmelte Ange erregt und wie abwesend vor sich hinstarrend. + +„Und zudem, Frau Gräfin,“--fuhr Tibet, Mut gewinnend, fort--„welchen +Nutzen wird es haben, wenn Sie alles verkaufen? Sie bedürfen doch einer +Einrichtung, auch an einem anderen Ort! Und glauben die Frau Gräfin +nicht, daß der Herr Baron bald ausfindig machen wird, wo Sie sich +aufhalten, und wird er nicht--“ + +Ange erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab. + +Sie rückte an den mit Plüsch bezogenen Stühlen, zupfte an der Tischdecke +und stieß mit dem kleinen Füßchen ein Schnitzelchen Papier unter das +Sofa. + +„Nein!“ sagte sie und richtete sich empor. „Ich weiß nichts von diesem +letzten Willen meines Gemahls, und ich fand nichts Derartiges unter +seinen Papieren. Wozu sollte das auch dienen? Bin ich nicht selbst der +natürliche Vormund meiner Kinder?“ Und nach kurzer Pause fuhr sie, in +ihren naiven Ton zurückfallend, fort: „Müßte ich mich denn fügen, wenn +wirklich ein solches Abkommen vorhanden wäre?“ + +„Ohne Zweifel, Frau Gräfin.“ + +„Nun, dann mag es sein! Mag der Vormund raten, aber--“ + +Ange fiel in den Sessel zurück und bewegte in starker Erregung den Kopf. +Was sie eben gesprochen, hatte sich unwillkürlich hervorgedrängt. Es war +nichts, was an Tibet gerichtet war. Er verstand dies auch, denn er +schwieg taktvoll. + +„Meine Kinder sollen“--hob Ange von neuem an--„etwas Tüchtiges lernen, +und wenn es ein Handwerk ist. Je früher sie leistungsfähige Menschen +werden, desto eher werden sie sich ihr Brot verdienen können. Darauf +wird sich meine Sorge richten müssen. Freilich, für die Mädchen ist es +schwer! + +Ich werde sehen, was sie zu begreifen und später nützlich zu verwerten +vermögen. Das ist mein Plan und mein unumstößlicher Entschluß. Wo ich in +Ehren mir Erleichterungen verschaffen kann--Erleichterungen, die man +Unbemittelten in den Schulen durch Stipendien in ähnlichen Fällen +gewährt, werde ich sie suchen. Komme ich in die Lage, ein Darlehen zu +nehmen, so werde ich das als ein Geschäft betrachten--kurz, Tibet, ich +gehe meinen eigenen geraden Weg, und nichts, nichts wird mich davon +zurückbringen oder abhalten!“ + +„Gewiß, gewiß, Frau Gräfin,“ bestätigte Tibet einlenkend und voll +Staunens. War das dieselbe Frau, die er seit so vielen Jahren in fast +hilfloser Weise sich hatte bewegen sehen, die immer wie ein +unerfahrenes, von jedem Impuls getriebenes Wesen gehandelt, die selbst +einem Teut seiner Zeit das um ihrer Kinder willen abgebettelt, was sie +doch als recht und vernünftig erkannt hatte!? + +Er machte, von der Entschiedenheit ihres Wesens betroffen, auch +fernerhin keinen Einwand mehr, verneigte sich nur stumm und bat, ihn +wegen der Reisevorbereitungen zu entlassen.-- + +Die Nachwirkung der vorhergegangenen Aufregung trat erst später bei Ange +ein. Zunächst hielt sie noch die Sehnsucht nach den Kindern, dann die +freudige Erwartung des Wiedersehens aufrecht. + +Als der Zug sich am Tage der Rückkehr C. näherte, als Ange sich +vorstellte, alle ihre Lieblinge am Bahnhofe wiederzusehen, klopfte ihr +das Herz so gewaltig, daß ihr fast der Atem stockte: und als endlich das +Ziel erreicht war, als die Kinder ihre Händchen ausstreckten und sie +beim Aussteigen küssend und jubelnd umringten, da erschien Ange alles, +was vorgegangen, geringfügig gegen diesen Augenblick des Glücks. + + * * * * * + +Ange hatte bereits auf der Rückfahrt noch einmal mit Tibet überlegt, +welche Schritte für die Zukunft einzuschlagen seien. Sie blieb dabei, +ihren Haushalt aufzulösen und C. zu verlassen; Tibet sollte nicht nur +mit dem Besitzer der Villa wegen einer früheren Auflösung des +Mietvertrages sprechen, sondern auch die Dienerschaft sofort entlassen. +Das sämtliche entbehrliche Mobiliar, Pferde und Wagen, alle Kunst- und +Luxusgegenstände wollte Ange veräußern und sich mit dem Erlös aus diesen +und anderen zu verkaufenden Gegenständen in eine kleine Stadt +zurückziehen. Über den Ort hatte sie sich noch nicht schlüssig gemacht. +Jeder Tag, an welchem der kostspielige Haushalt fortdauerte, schmälerte +das Kapital, das Ange unter Berücksichtigung der noch zu lösenden +Verpflichtungen endlich verbleiben konnte. + +Eine Stütze fand sie in dem Polizeimeister von C., dem sie gleich nach +ihrer Rückkehr einen Besuch machte, um ihm für seine erfolgreiche Hilfe +zu danken. Er riet ihr, vor der öffentlichen Veräußerung der Einrichtung +abzurufen, und versprach, mit Rat und That beizustehen. Auch überlegte +er in einer längeren Unterredung mit ihr den Wohnort und gab Ange +Ratschläge, die ihr bei ihrer Unerfahrenheit von großem Nutzen waren. + +Anges Entschlüsse wurden auch nicht erschüttert, als nun an einem +Morgen endlich zwei Briefe einliefen, von denen einer von Teut selbst +mit zitternder Hand geschrieben war und die Worte enthielt: „Heute nur +mein innigstes Beileid, liebe Ange; Carlos' Tod hat mich aufs tiefste +ergriffen. Ich bin voll Sorge daß ich nicht jetzt bei Ihnen sein kann, +um Sie zu trösten und Ihnen helfend zur Seite zu stehen. Aber ich liege +schwerverwundet darnieder und--“ + +Hier brach das Schreiben ab, dem nur noch ein undeutliches A.v.T. später +hinzugefügt war. + +Der zweite Brief, der von Teuts Diener Jamp abgefaßt und einige Tage +später abgesandt war, teilte im Auftrage des Herrn Rittmeisters mit, daß +die Geschäftsangelegenheiten geordnet werden würden, daß der Herr +Rittmeister neuerdings einen Rückfall gehabt habe, daß der Herr +Rittmeister den Kindern Grüße sende und daß der Herr Rittmeister +ausführlicher schreiben werde, sobald er nur wieder bei Kräften sei. + +Ja, einige Tage später kam noch ein Schreiben, das folgendermaßen +lautete: + +„Frau Gräfin werden verzeihen, wenn ich nochmals schreibe, indem Herr +Rittmeister neulich stark phantasierten, und sollte ich heute Frau +Gräfin schreiben, daß ich nach Herrn Rittmeisters Verwalter geschrieben +hätte, alles für Frau Gräfin auf Schloß Eder in Bereitschaft zu setzen, +und Frau Gräfin so gut sein möchten, dahin abzureisen, aber Herrn +Verwalter vorher in ergebende Kenntnis zu setzen, wann Frau Gräfin +einträfen. + +Herr Rittmeister raten Frau Gräfin nichts zu unternehmen, zu thun, bis +Herr Rittmeister wieder gesund sind, aber bald abzureisen. + +In Ehrerbietung und Gehorsamkeit + +Jamp.“ + +Als Ange diesen Brief gelesen hatte, überwältigte sie ihr Gefühl; +Teilnahme und Rührung kämpften in ihrem Inneren. „Ich wußte es ja, ich +wußte es ja,“ murmelte sie, „Du unvergleichlicher Freund würdest meiner +gedenken, selbst in eigener Not. Im größten Körperschmerz, im Fieber, +vielleicht nur auf Minuten mit klarem Bewußtsein, hattest Du Gedanken +für mich und rafftest Dich um meinetwillen auf. O, Du Trefflicher, +Unvergleichlicher!“ + +Und nun drängte Tibet noch einmal, Teuts Rat zu befolgen, nichts zu +verkaufen, nur die Dienerschaft zu entlassen und höchstens die +überflüssigen Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände bis auf +spätere Entscheidung zu verpacken und beiseite zu stellen. + +Aber Ange Clairefort hatte zu Furchtbares erfahren, um noch an äußeren +Dingen zu hängen. + +Nicht nur die einschneidenden Gegensätze: die Gefahren des Reichtums, +des sorglosen Genießens, die Wandelbarkeit des Glückes, die +Vereinsamung, die den Unglücklichen trifft, hafteten in ihrem +Inneren--auch der Adel ihrer Gesinnung widersetzte sich, heute noch +etwas anderes zu scheinen, als sie war. Sie wußte ja, was sie besaß, und +die Ehre gebot, fortan alles abzuweisen, was Luxus und Wohlleben hieß. + +„Kommt, Kinder,“ sagte sie an demselben Abend zu ihren Kleinen, die sie +umringten und die sie heute bei der Erinnerung an frühere Zeiten: an +Carlos' Tod und Teuts schwere Krankheit in ihrer überströmenden +Empfindung so oft, und scheinbar ohne Anlaß an die Brust gedrückt hatte. +„Bevor ihr einschlaft, faltet die Hände und betet recht inbrünstig zum +lieben Gott, daß er Onkel Axel bald gesund machen möge. Er ist im Kriege +verwundet, liegt gefährlich krank und bedarf Eurer kindlichen Fürbitte.“ + + * * * * * + +Einige Tage nach der Frankfurter Reise saß Tibet um die Abendzeit eifrig +schreibend in seinem Zimmer. Man hätte ihn auf den ersten Blick kaum +wiedererkannt. In dem Hausrock, welchen er gegen den schwarzen Frack +vertauscht hatte, den er allezeit zu tragen pflegte, wirkte seine +Erscheinung ganz fremdartig. + +Aber die peinliche Ordnung in dem wohnlichen Gemach stand im Einklang zu +dem bedächtig arbeitenden Manne mit dem hageren glatten Gesicht, in dem +sich Ernst und Nachdenken spiegelten. Langsam, oft innehaltend und +überlegend, schrieb er nieder, was durch seine Gedanken ging. + +Als er seine Arbeit beendet hatte, waren es viele Stunden nach +Mitternacht geworden. Nun las er noch einmal den Brief durch, und fügte +hier und dort ein Tüttelchen und ein fehlendes Komma hinzu. Das lange, +sorgfältig verfaßte Schreiben war an Teut gerichtet und lautete in +überraschend glatter Form, wie folgt: + +„Hochzuverehrender Herr Baron! + +Ihrem Befehl und meiner Zusage entsprechend, verfehle ich nicht, Ihnen +heute Nachgehendes ganz gehorsamst zu melden: + +Ich sende voraus, daß mich unliebsame Zwischenfälle und Abhaltungen +zögern ließen, Ihnen früher Bericht zu erstatten. Ich fürchte, und noch +jetzt stehe ich unter diesem Eindruck, daß Ihnen entweder mein Schreiben +vorenthalten werden würde oder daß sein Inhalt Ihnen eine schädliche +Aufregung bringen könnte. + +Ich muß aber mein Bedenken niederschlagen wegen der eingetretenen +Umstände und gebe mich der Hoffnung hin, daß ich für alle Beteiligten +das Richtige erwähle, wenn ich meine Zeilen an Sie absende. Ich befinde +mich zudem in einem Zustande des Zweifels, der mich solchergestalt +bedrückt, daß ich gleichzeitig auch um meinetwillen Ihnen die +Verhältnisse darlegen muß. + +Als Sie, gnädiger Herr, C. verließen, trat ich gewissermaßen in Ihre +Dienste, und Sie nahmen mir das Wort ab, in dieser Stellung nur das +Beste für meine Herrschaft, die gräfliche Familie, im Auge zu behalten. +Sie gaben mir genaue Instruktionen und banden mich durch mein Wort, daß +unser eigentliches Verhältnis, wenn es mir gestattet sein darf, diesen +Ausdruck zu gebrauchen, ein Geheimnis zwischen uns bleibe. + +Unter den Gesichtspunkten, unter denen Sie mich mit Ihrem Vertrauen +beehrten, glaubte ich nicht nur nichts Unrechtes zu thun, sondern gerade +wie ein gewissenhafter Freund gegen die gräfliche Familie zu handeln. + +Ich nehme mir die Freiheit, dies zu rekapitulieren, weil die +eingetretenen Umstände entweder neue Instruktionen erforderlich machen +oder ich meines Wortes entbunden werden muß. + +Wenn ich nun zunächst über die Vorgänge seit dem Tode des Herrn Grafen +zu berichten mir gestatte, so bitte ich von vornherein zu verzeihen, daß +ich Dinge berühre, über die auszulassen, mir im Grunde nicht beikommt. +Aber nur durch Erwähnung dieser werden Sie, gnädiger Herr, einen +richtigen Einblick in die gegenwärtige Lage gewinnen und mir zweckmäßige +Befehle erteilen können. + +In meinen ersten beiden Schreiben hatte ich die Ehre zu melden, daß der +Herr Graf ohne Zweifel durch tödlich starke Dosen Morphium und Chloral +seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe. + +Sodann berichtete ich, daß das Bankhaus die Zahlungen an uns +eingestellt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zweite Schreiben zugegangen +ist. Die Frau Gräfin befanden sich in einem sehr traurigen Zustande, der +zwischen heftigem Schmerz und Ausbrüchen des Vorwurfs gegen den +verstorbenen Herrn Grafen und mich selbst wechselte. Den Höhepunkt +erreichte die Erregung der Frau Gräfin, als ich--ich bitte, mich deshalb +nicht zu verdammen--derselben Mitteilung machen mußte, wie die +gegenwärtige Vermögenslage sei, und welche Stellung Sie, gnädiger Herr, +zu dieser bereits eingenommen hätten. + +Frau Gräfin befahlen mir zu sprechen; ich stand bei Stillschweigen vor +der Wahl einer falschen Beurteilung, Ungnade und Entlassung. + +Es handelte sich um Geld; wir hatten keines. Ich mußte also die +monatliche Rate einfordern und mich rechtfertigen, als ich wegen +ungenügender Quittung mit leeren Händen zurückkehrte. Die Hergabe meiner +kleinen Ersparnisse wies die Frau Gräfin wiederholt schroff zurück. + +Nach allem wenden Sie, gnädiger Herr, verstehen, daß einer Erklärung gar +nicht auszuweichen war. Trotz all meiner Vorstellungen bestand Frau +Gräfin nach Einblick in ihre trostlosen Verhältnisse auf Veräußerungen +ihrer Diamanten und sonstigen Schmuckgegenstände. + +Ich gelange nun zu demjenigen Punkt, bei dessen Erwähnung ich Ihre +Nachsicht, gnädiger Herr, einholen muß: die Frau Gräfin erklärte mir auf +das bestimmteste, daß sie ihren Hausstand aufzulösen wünschte und aus +dem Erlöse ihrer überflüssigen Wertgegenstände gesonnen sei, neben den +übrigen Verpflichtungen in erster Linie diejenigen gegen den Herrn Baron +abzulösen. + +Die Frau Gräfin äußerte, daß diese Vorschüsse sie im höchsten Maße +bedrückten, und daß sie lieber Not leiden wolle, als irgend welche +Darlehen oder gar Freundesgaben aus Ihrer Hand fernerhin empfangen. Das +Freundschaftsverhältnis zu Ihnen, gnädiger Herr, das unter den +bisherigen gleichen Lebensverhältnissen ein so gutes gewesen sei, könne +Schaden leiden, und Frau Gräfin zögen es daher vor, sich Ihrer +freundschaftlichen Hilfe (da diese ohne Zweifel auf Ratschläge sich +nicht beschränken werde) nicht mehr zu bedienen, sondern sogar Ihnen in +Zukunft fern zu bleiben. Die Frau Gräfin, die C. verlassen und nach +einem kleinen, noch nicht feststehenden Orte übersiedeln will, um sich +dort mit den ihr bleibenden Mitteln einzurichten, stellten sogar das +Ansinnen an mich, Ihnen nicht zu verraten, wohin sie gehen werde, und +nehmen als selbstverständlich an, daß ich Ihnen auch sonst keinerlei +Mitteilungen zukommen lassen würde. + +Da Frau Gräfin sich so sehr gegen alles, was sich ihrem Entschlusse +entgegenstellen könnte, auflehnt, bin ich völlig machtlos. Um die +erwähnten Pläne auszuführen, bleibt ja allerdings nichts anderes übrig, +als den gegenwärtigen Besitz zu Geld zu machen. Ich schätze die +Zinseneinnahme in Zukunft auf kaum viertausend Mark, welches einem baren +Kapital von hunderttausend Mark entsprechen würde. + +Was befehlen Sie nun, gnädiger Herr? + +Soll ich scheinbar den Verkauf zulassen und etwa das Ganze ohne Wissen +der Frau Gräfin für des Herrn Baron Rechnung ankaufen? In solchem Falle +ist schnelle Instruktion erforderlich. Ferner: Wie soll ich mich in +Zukunft verhalten? Darf ich noch mit dem Herrn Baron korrespondieren? +Soll ich nach der Neuordnung aller Verhältnisse den Dienst bei der Frau +Gräfin verlassen? + +Wenn ich die letztere Frage aufwerfe, so bitte ich diese nicht +mißzuverstehen. Ich habe mich gegen die Frau Gräfin bereit erklärt, ohne +Entschädigung zu bleiben, und würde mich nur entfernen, wenn der Herr +Baron darin etwas Zweckmäßiges für die Frau Gräfin erkennen würden. Mir +ist dies zur Zeit allerdings als vorteilhaft nicht ersichtlich. + +In jedem Falle werden Sie, gnädiger Herr, gewiß verstehen, daß ich kein +doppeltes Spiel treiben kann und mich eines wirklichen Vertrauensbruches +schuldig machen würde, wenn unsere Verabredungen ganz in der bisherigen +Weise bestehen bleiben. + +Sofern es meine Befugnis nicht überschreitet, möchte ich mir den +gehorsamen Vorschlag gestatten, daß ich bei der Frau Gräfin ausharre, +aber nichts thue, was mit den Entschließungen der Frau Gräfin in +Widerspruch gerät, und somit nur in dem Sinne zur Verfügung des Herrn +Baron bleibe, daß ich nach besten Kräften über das Wohlergehen der +Familie wache. Wenn ich die Hand dazu biete, das Eigentum der Frau +Gräfin für Rechnung des Herrn Baron zu erwerben, so glaube ich, dadurch +nicht unehrlich gegen die Frau Gräfin zu handeln. + +Nochmals bitte ich um Verzeihung, meine Befugnisse durch Darlegung +persönlicher Anschauungen und durch die Berührung intimer Verhältnisse +überschritten zu haben, und hoffe im übrigen, daß der gnädige Herr aus +meinen Darlegungen ein richtiges Bild zu gewinnen vermögen. + +Ich empfehle mich dem ferneren Wohlwollen und der Nachsicht des gnädigen +Herrn und erwarte weitere Befehle. + +Ganz gehorsamst + +Tibet, + +Kammerdiener.“ + +Bereits am nächsten Morgen begann Ange mit den Vorbereitungen zu ihrem +Umzuge und ward bei diesen von Tibet eifrigst unterstützt. Es galt eine +Auswahl unter denjenigen Gegenständen zu treffen, welche veräußert +werden und welche der künftigen Wohnungseinrichtung dienen sollten. Zu +diesem Zwecke wurden zunächst einige Räume leer gemacht, und nun begann +das Wählen. Claireforts Zimmer beschloß Ange zu behalten, ebenso wurden +die Möbel aus dem Zimmer der Kinder für den ferneren Gebrauch +zurückgestellt. Dazu kamen noch die Kücheneinrichtungen und all +derjenige Hausrat, durch den sich eine Wohnung in bescheidener Weise +vervollständigt. + +Tibet war plötzlich ganz gefügig und erhob nicht einen einzigen Einwand. +Er fertigte eine genaue Liste für den Auktionator an und machte mit +Hilfe der noch vorhandenen Dienerschaft eine so übersichtliche +Aufstellung, daß schon nach wenigen Tagen die Arbeit im wesentlichen +beendet war. + +Sodann beriet er mit Ange, wie alles übrige abzuwickeln sei, verhandelte +mit dem Hausbesitzer und mit dem Personal, einigte sich mit jenem, +entließ dieses sogleich bis auf eins der Mädchen, welches in Anges +Diensten zu bleiben wünschte, und beglich auch alle Rechnungen, welche +zu bezahlen waren. Es erübrigte nun nur noch die Summe, welche die +Familie von Teut empfangen hatte, und bevor Tibet diese zu dem Banquier +trug, hatte er noch eine Unterredung mit Ange, in welcher auch der +zukünftige Wohnort zur Erörterung gelangte. + +Ange war nicht minder thätig gewesen, wenn auch alles nach ihrer +besonderen Art geschah. Sofern sich in den hohen Bergen von unnützen +Kleinigkeiten und Firlefanzereien etwas befand, das der Kinder Verlangen +reizte und das sie wieder hervorzogen, konnte Ange ihren Bitten nicht +widerstehen und packte es in die ohnehin schon mit vielen +Überflüssigkeiten belasteten Koffer. + +Bisweilen hielt sie inne und vergaß, was sie eben beschäftigt hatte. Bei +diesem und jenem Gegenstand kamen ihr Erinnerungen, die ihre Gedanken +ganz in Anspruch nahmen, und Vergleiche stiegen auf zwischen heute und +früher. Da stahlen sich denn häufig Thränen ins Auge, und mutlos ließ +sie die Arme sinken. + +Oft wunderte sie sich, daß alles so glatt verlief, daß niemand Einspruch +erhob, wenn sie etwas anordnete. Früher handelten andere für sie, sie +ließ sich belehren und befolgte zweckmäßige Ratschläge. Ange hatte es +als selbstverständlich angesehen, daß sie die Dinge nicht verstand und +daß ihre Umgebung für sie handelte. Jetzt fiel ihr plötzlich ein, wie +schwer es doch eigentlich sei, praktisch einzugreifen, und fast wunderte +sie sich, daß sie so ruhig und besonnen in Frankfurt aufgetreten sei. +Also, sie vermochte es doch! Daran richtete sich denn ihr gesunkener Mut +wieder auf. + +Gewiß, wenn erst alles in dem neuen Geleise sein werde, würde sie +vorsichtig überlegen, nicht mehr nach plötzlichen Impulsen handeln, +sich's vernünftig und sparsam einrichten und auch das Kleine achten. Ihr +Kopf war voll von Plänen und guten Vorsätzen, und ihre Zuversicht wuchs, +bis dann die Kinder mit ihren berechtigten und unberechtigten +Bedürfnissen vor ihr auftauchten und sie vorübergehend doch voll Zweifel +in die Zukunft blickte. + +„Nun, mein lieber Tibet!“ sagte Ange und ließ sich in Carlos' Zimmer, +das gegenwärtig als Wohngemach diente, ermüdet und abgespannt in einen +Sessel gleiten. „Haben Sie auch die Zahlung an Herrn Baron von Teut +bereits geleistet oder müssen wir diese verschieben, bis die Auktion +stattgefunden hat?“ + +„Wenn Frau Gräfin wirklich meinen, daß auch dieser Betrag--“ + +„Wenn--Tibet!--Dieser Betrag steht in erster, in gleicher Linie mit +allen übrigen! Natürlich! Darüber habe ich Ihnen meine Ansicht bereits +wiederholt ausgesprochen. Ich komme nur auf diesen Gegenstand zurück, +weil die Summe hoch ist und ich nicht weiß, ob gegenwärtig schon unsere +Mittel reichen.“ + +„Allerdings, Frau Gräfin, es scheint durchaus ratsam, daß wir warten. Um +so mehr möchte ich dies vorschlagen, weil gerade Umzug und +Neueinrichtung viel größere Summen verschlingen werden, als wir in +vorläufige Berechnung gezogen haben. Unser Bestand schmolz schon +gewaltig zusammen--ganz gewaltig.“ + +„Nun wohl! Wir haben aber keine Schulden mehr? Alles ist bezahlt?--Welch +ein Wort!“ + +„Ganz recht, Frau Gräfin! Indessen--“ + +„Nun?“ + +„Es wird mir recht schwer--ich möchte die Frau Gräfin nicht entmutigen, +aber ich fürchte, wir behalten bei weitem nicht die ursprünglich +gedachte Summe, aus deren Zinsen Sie sich einrichten müssen. Ich bin +besorgt, Frau Gräfin, und muß deshalb die Frage in Ihrem Interesse +nochmals anregen, ob es nicht doch zu überlegen sein würde, die +Vorschüsse des Herr Baron einstweilen auf sich beruhen zu lassen.“ + +Auf Anges Gesicht malten sich Schrecken und Enttäuschung zugleich. Nach +einer kurzen Pause fragte sie, und aus dieser Frage klang der Zwang +hervor, den sie sich anthun mußte: + +„Wie hoch beläuft sich--doch noch--der Betrag, welchen wir Herrn Baron +von Teut schulden?“ + +Tibet gab Antwort. + +„Das ist sehr viel!“ sagte sie kaum hörbar und ganz mit ihren Gedanken +beschäftigt. + +„Vielleicht der fünfte Teil alles dessen, was Ihnen bleibt, Frau +Gräfin.“ + +„Und wieviel glauben Sie, Tibet, daß mir im schlechtesten, +allerschlechtesten Falle an Zinsen werden könnte?“ + +„Ich erlaubte mir, Frau Gräfin, schon auf der Reise auseinandersetzen, +daß bei wirklich sicherer Geldanlage nur auf einen Zins von vier Prozent +gerechnet werden darf.“ + +„Und Sie meinen wirklich, das ursprünglich angenommene Kapital würde mir +nicht einmal bleiben?“ + +„Ich fürchte, nein, Frau Gräfin--wenn Herr von Teut bezahlt werden soll! +Die Frau Gräfin können nach den vorgelegten Quittungen selbst +berechnen.“ + +Ange konnte eigentlich nicht berechnen, aber sie nickte und schwieg. + +„Wieviel braucht wohl im Durchschnitt eine gebildete Familie mit fünf +Kindern unter bescheidenen Verhältnissen, Tibet?“ hob sie nach einer +kleinen Pause an. + +Mit der Beantwortung dieser Frage fielen alle Illusionen, welche Ange +sich bisher gemacht hatte. Tibet litt bei diesen Gesprächen. Vielleicht +fühlte er sogar noch tiefer als Ange den Schmerz, die Enttäuschung, +obgleich er scheinbar so teilnahmlos die Wahrheit ans Licht zu ziehen +bemüht war. Er gewann es auch nicht über sich, der mut- und +trostbedürftigen und mit so guten Vorsätzen ihr neues Leben beginnenden +Frau den Vorhang ganz hinwegzuziehen. Er umging ihre Frage und +erwiderte: + +„Es kommt ja sehr auf die Stadt an, ob das Leben teuer oder billig ist. +In kleinen Städten gestaltet sich alles besser.“ + +„Es ist wohl fast ein Unterschied um die Hälfte?“ fiel Ange hoffend und +lebhaft ihre eigenen Worte bestätigend, ein. + +„Ich möchte es glauben, Frau Gräfin.“ + +„Ich weiß nicht, wie ich's richtig mache, Tibet. Nur so viel ist mir +klar, daß ich keinen ruhigen Tag, keine ruhige Stunde haben werde, wenn +ich Schulden besitze, wenn namentlich--“ sie stockte und fuhr dann fast +heftig fort: „Wir müssen Herrn von Teut zahlen, was er meinem Gatten +geborgt hat, sobald die Dinge hier geordnet sind; wie's auch immer sein +mag! Werde ich weniger besitzen, werde ich doch das unvergleichliche +Bewußtsein haben, niemandem mehr verpflichtet zu sein!“ + +Und nach dieser vorläufig alle Gegeneinwendungen abschneidenden +Entscheidung verbeugte sich Tibet und brachte das Gespräch auf Umzug und +Wohnort. + +„Haben die Frau Gräfin schon eine Entscheidung getroffen? Bleibt es +Eisenach, wozu der Herr Polizeimeister geraten?“ + +Ange bestätigte. + +„Es würde sich dann wohl empfehlen, daß ich zunächst dahin abreise, um +eine Wohnung zu mieten, und dann wieder zurückkehre, um hier den Verkauf +des Mobiliars zu beaufsichtigen. Ich weiß nun aber nicht, ob ich der +Frau Gräfin Wünsche bezüglich dieser treffen werde. Vielleicht +entschließen Sie sich, die Reise ebenfalls anzutreten.“ + +Das Gespräch wurde unterbrochen, weil die beiden Knaben herbeigeeilt +kamen, die draußen auf der Straße gespielt hatten. Ihre Mienen waren +betroffen, und Ben kam zorngerötet ins Zimmer gelaufen. + +„Was ist? Was habt Ihr?“ fragte Ange besorgt. + +„Der--der--Karl von drüben--vom Krämer sagt, daß--“ hob Ben an. + +„Wir haben uns gestritten; er stieß, ich stand Ben bei!“ fiel Fred ein. + +„Nun?“ + +„Er sagte, wir wären schöne Grafen. Mama hätte nicht mal die Rechnung +bezahlt. Sein Vater könnte kein Geld kriegen und die anderen auch +nicht--“ + +„Er schimpfte; er brauchte Ausdrücke von uns--na, ich hab's ihm +gegeben!“ ergänzte Ben. + +Ange sah Tibet fragend an, und Blässe trat auf ihre Wangen. Tibet +verstand und nahm rasch das Wort: + +„Es ist alles--das letzte schon gestern bezahlt, Frau Gräfin!“ + +„Ah!“ riefen beide Knaben zu gleicher Zeit, und ihre Blicke flammten. +„Dem wollen wir's geben!“ + +„Nicht so, nicht so, Kinder!“ rief Ange angstvoll, aber suchte sich in +Gegenwart der Knaben zu fassen. „Laßt den Streit! Geht ruhig Eures Weges +und meidet die Nachbarskinder. Hört Ihr? Ihr hörtet, daß er die +Unwahrheit sprach. Und nun geht! Ich habe noch mit Tibet zu sprechen.“ + +Die Knaben entfernten sich gehorsam, aber noch erregt und lebhaft +sprechend. + +„Es wird Zeit, daß ich fortkomme,“ rief Ange. „Je eher, je besser; es +brennt der Boden unter mir. Was die Menschen wohl alles reden! Wie sie +sich mit uns beschäftigen! Schon bei dem Gedanken steigt mir das Blut in +die Schläfen.--Wann können Sie reisen, Tibet?“ + +„Heute--Morgen, Frau Gräfin--“ + +„Gut, also morgen! Sie werden eine Wohnung wählen und rasch +zurückkehren. Wollte Gott, ich säße schon an einem anderen Ort und fände +endlich Ruhe und--“ Ange brach in heftige Thränen aus. + +„Es wird alles gut werden, Frau Gräfin! Gewiß, gewiß! Sie sollten sich +durch dergleichen Dinge nicht aufregen!“ besänftigte Tibet, heftete +einen besorgten Blick auf seine Gebieterin und suchte bescheiden ihr +Auge, um in diesem zu lesen, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt +hätten. Wirklich stahl sich ein Lächeln um Anges Mund bei Tibets +Worten; es war aber ein trauriges Lächeln. + + * * * * * + +Nach den vorerwähnten Ereignissen war reichlich ein halbes Jahr +verflossen, als an einem warmen Juniabend des Jahres 187- zwei Männer in +dem kleinen Gärtchen saßen, welches zu dem sogenannten Sommerhause des +Hotels „Zur Rose“ in Wiesbaden gehört. + +Auf dem im Freien gedeckten Tische standen die Reste eines reichlichen +Abendessens, und eben hatte der Kellner ein Licht gebracht, mit dem die +Cigarren entzündet worden waren. + +„Hm, hm,“ sagte der Major von Teut--denn er war es--zu dem ihm +gegenübersitzenden Manne und blies den Rauch einer starken Cigarre nach +seiner Gewohnheit durch die Nase. „Das klingt ja alles so gut und +doch wieder auch so ernst, wie ich's mir gedacht habe. Aber +vielleicht--zunächst--wer weiß--war's auch besser so!?--Was haben Sie +denn der Gräfin über Ihre Reise gesagt? Wie haben Sie diese begründet?“ + +„Ich gab vor, daß ich die Meinigen besuchen wolle.“ + +„Ah! Sie haben Familie, Tibet? Das ist mir ja ganz neu! Auch der +verstorbene Graf und die Gräfin haben mir nie davon gesprochen.“ + +„Sie wußten auch davon nichts, gnädiger Herr.“ + +Teut wollte diesen Gegenstand offenbar des näheren berühren, denn er +blickte fragend empor. Aber ein anderer Gedanke überholte, was sich ihm +eben aufgedrängt hatte. Er sagte abbrechend: „So, so--Aber noch eins! +Wie haben Sie es angefangen, daß die Gräfin nichts von all den kleinen +Hinterlisten gemerkt hat? Glaubt sie, daß ihre Einnahme bisher immer +reichte, und daß sie lediglich durch ihre Sparsamkeit alles gut gemacht +hat?“ + +Über das immer noch bleiche Gesicht des Sprechenden flog ein fragendes +Lächeln, und er strich den Schnurrbart in sichtlicher Spannung. + +„Allerdings, aber es hat mancherlei Künste gekostet, gnädiger Herr!“ +entgegnen Tibet, und in der Erinnerung des falschen Spiels, das er +getrieben, sichtlich bedrückt. „Anfänglich, damals, als Sie auf meinen +Brief antworteten und mir Verhaltungsmaßregeln gaben, war ich +zweifelhaft, ob's möglich sein werde, diese auszuführen. Ich mußte mir +erst alles zurechtlegen und förmlich ausklügeln, wie ich dem Argwohn der +Frau Gräfin begegnen könne. Wenn ich Einkäufe machte, erklärte ich, die +Waren seien im Preise gesunken, und die Frau Gräfin sah mich dann groß +an und machte ein zufriedenes Gesicht. Im Anfang freilich wollte sie +überhaupt nichts von dergleichen hören. Ich erlaubte mir den Vorschlag, +daß ich wie früher die Wirtschaft besorgen dürfe, und that dies +insbesondere, weil ich dann alles ohne Schwierigkeit einrichten konnte. +Aber darauf wollte die Frau Gräfin nicht eingehen. Sie müsse die Dinge +selbst übersehen, meinte sie, sonst könne sie nicht wirtschaften lernen. +Mit der Miete hätte sich bald alles verraten. Ich machte, des gnädigen +Herrn Befehl folgend, dem Wirte Mitteilung, daß er von uns nur die +Hälfte erhalten, daß das übrige anderweitig berichtigt werden würde. Ich +nahm ihm das Versprechen ab, gegen die Frau Gräfin Stillschweigen zu +beobachten und auch seine Umgebung zu verständigen. Eines Morgens nun +unterhielt sich die Frau Gräfin mit einem Einwohner, und bei dieser +Gelegenheit war von den Wohnungen in Eisenach die Rede. Da äußerte +dieser die unsere sei nicht billig, während die Frau Gräfin gerade ihrem +Erstaunen Ausdruck gab, wie preiswürdig dieselbe sei. Ein Wort gab das +andere. Endlich ward ich herbeigerufen und bestätigte die Aussagen +meiner Herrin. Als jener sich entfernt hatte, betrachtete mich die Frau +Gräfin bereits mit einigem Mißtrauen und brach endlich in die Worte +aus: ‚Haben Sie gehört? Er hat vor uns dies Haus bewohnt und das +Doppelte bezahlt. Wie ist es möglich, Tibet, daß Sie die Villa um die +Hälfte mieten konnten?‘--‚Die Frau Gräfin haben ja den Mietskontrakt in +Händen,‘ erwiderte ich, als ob ich den eigentlichen Sinn dieser +Nachfrage gar nicht verstanden hätte. Kopfschüttelnd ging die Frau +Gräfin davon. Schon fürchtete ich, daß alles würde entdeckt werden.“ + +„Und das Schulgeld?“ fragte Teut, der mit größter Aufmerksamkeit +zugehört hatte. „Wie haben Sie das gemacht?“ + +„Ich habe gleich das ganze Semester bezahlt und der Frau Gräfin +gesagt--“--Tibet hielt inne, dunkle Schamröte färbte seine Wangen--„daß +der Direktor auf meine Vorstellung dasselbe erlassen habe.“ + +„Und das glaubte die Gräfin?“ + +„Vorläufig ja, Herr Baron. Aber ich zittere doch jeden Tag, daß es ans +Licht kommt, und dann--“ + +„Und Steuern?“ fragte Teut und konnte sich des Lächelns nicht erwehren, +weil er wie ein Beichtvater alle Vergehen aus dem armen Sünder +herausholte. + +„Die habe ich gar nicht erwähnt! Davon hat die Frau Gräfin keine Ahnung. +Ich fing den Steuerboten ab und--“ + +„Und drohten ihm mit allen Folterqualen der Hölle, wenn er noch einmal +erscheine?“ schaltete Teut mit gutmütigem Spotte ein. + +„Ja, Herr Baron, Sie können wohl scherzen.“ sagte Tibet, nun wieder von +dem Ernst und der Verantwortlichkeit seiner Aufgabe erfaßt. „Aber Sie +mögen mir glauben, daß die Dinge sich nicht so freundlich abspielen +werden, wenn die Frau Gräfin jemals erfahren sollte, was wir gethan +haben.“ + +Teut trank seinen Wein und wollte, um einer aufsteigenden Empfindung +Herr zu werden, die Stiefelhacken zusammenschlagen. Aber es war nur eine +Bewegung. Mit einem leisen Anflug von Schmerz hielt er inne. Nicht ohne +Grund! Das eine, das linke Bein fehlte, er hatte es im Kriege eingebüßt. + +„Aber die Kinder?“ fragte Teut nach einer Pause. „Wie geht's denen? +Entwickeln sie sich gut? Sind sie fleißig?“ + +Tibet nickte. „Gewiß, gnädiger Herr! Wir helfen beide, die Frau Gräfin +und ich, bei den Schularbeiten.“ + +„Ist die kleine Ange hübsch geworden, Tibet? Sie versprach sehr schön zu +werden!“ + +Tibet betätigte lebhaft. „Ange ist ein sehr schönes Kind, gnädiger Herr, +und so klug, daß es mich oft fast ängstlich macht. In der kurzen Zeit +von einem halben Jahre spielt sie schon kleine Stücke auf dem Klavier +und ist so sicher dabei, daß man erstaunen muß.“ + +„So, so! Wer unterrichtet sie denn?“ + +„Die Frau Gräfin selbst, Herr Baron! Jeden Nachmittag erhält Ange +Unterricht von der Frau Gräfin, und Erna und Jorinde müssen ebenfalls +täglich bei ihr üben. Sie machen alle gute Fortschritte.“ + +Teut machte eine Bewegung, er murmelte auch etwas vor sich hin, das +Tibet nicht verstand. „Wie ist denn Eure Tageseinteilung, Tibet? Die +Frau Gräfin muß ja sehr in Anspruch genommen sein. Sie hat doch Mädchen +zur Hilfe?“ + +„Nur eins, Herr Baron! Aber die wurde uns gleich schwer krank und mußte +wochenlang das Bett hüten. Da hat die Frau Gräfin selbst morgens Kaffee +gemacht, die Stuben geräumt, die Kinder angezogen und in die Schule +befördert. Die Frau Gräfin ist überhaupt von morgens früh bis abends +spät unausgesetzt in der Wirtschaft und um die Kinder beschäftigt.“ + +Teut murmelte wieder etwas. + +„Ah! herrliches Weib!“ glaubte Tibet zu hören. + +„Und Sie, Tibet?“ fragte Teut dann kurz und mit einem scheinbaren +Vorwurf, während in sein Auge ein silbernes Pünktlein trat. + +„Ich, ich?“ erwiderte Tibet arglos und verlegen zugleich. „Ich habe +morgens alle die Stiefel geputzt, die--die--gröbere Arbeit in den +Schlafstuben besorgt und der Kinder Betten gemacht und--und auch gekocht +während der Zeit. Kochen kann die Frau Gräfin nicht; aber sie lernt es +schon ganz gut. Neulich hatten wir zwei Gerichte, die sie ganz allein +zubereitet hatte. Ihre Augen glänzten, als es den Kindern so gut +schmeckte. Die Frau Gräfin war so glücklich, daß sie im Zimmer +herumtanzte.“ + +„Aber Freund!“ schaltete Teut scheinbar tadelnd ein. „Weshalb haben Sie +denn damals nicht eine Hilfe genommen?“ + +„Die Frau Gräfin wollte es durchaus nicht, gnädiger Herr! Sie meinte, es +sei der beste Weg, alles zu lernen. Freilich, ich folgte auch nichts +thun--aber ich habe sie sogar überrascht und in einer Nacht mit Hilfe +einer Frau die Wäsche besorgt. Die Alte hat die Garderobengegenstände +vorgenommen, ich machte mich an Servietten und Tischzeug. Gegen Morgen +haben wir aufgehängt, jeder sein Teil.“ + +„Allen Respekt!“ murmelte Teut, trank in hastigen Zügen und schenkte von +neuem aus der Flasche ein. „In der That, über alles Lob erhaben! Aber +das muß doch anders werden!“ Und nach einer Pause: „Wenn ich nur einen +Weg wüßte--“ + +Tibet hatte nur halb gehört, aber doch genug, um zu verstehen. Er nahm +sich, in der Sorge um seine Herrin, die Erlaubnis einzufallen, und +sagte: + +„Wenn der Herr Baron mir gestatten wollten, einen Vorschlag zu machen?“ + +Teut bewegte den stolzen Kopf und sagte in seiner kurzen, unhöflich +klingenden Weise: + +„Nun, was soll's?“ + +Tibet ward durch diesen Ton eingeschüchtert. Er fürchtete, sich eine +Vertraulichkeit angemaßt zu haben, die ihm nicht zukam. Takt und +Vorsicht riefen ihm zu, sich in den bisherigen Grenzen zu halten. Er +entgegnete deshalb rasch: + +„O, es war doch nichts, gnädiger Herr--“ + +Teut blickte auf und sah, daß Tibet mit dem Ausdruck einer gewissen +Enttäuschung vor ihm saß. Er verstand und bereute seine Schroffheit. + +Ohne auf den Gegenstand zurückzukommen, dessen Berührung von jener Seite +ihm nach den wunderbaren seelischen Schwankungen, denen jeder, selbst +der beste und vorurteilsfreiere Mensch, unterworfen ist, plötzlich +widerstrebt hatte, sagte er: + +„Eine Angelegenheit will ich doch heute gleich berühren, Tibet. Mein +Zustand verhinderte mich, Ihnen das bisher zu schreiben: + +Vom Ersten des nächsten Monats sind Sie bei mir für Lebenszeit als +Sekretär engagiert. Es werden Ihnen monatlich dreihundert Mark von +meinem Rendanten ausbezahlt werden. Alle Ihre Auslagen seit vorigem Jahr +werden Sie mir baldigst aufgeben, und auch das Honorar für die +verflossene Zeit werde ich ordnen. Sind Sie damit einverstanden, Tibet?“ + +„Herr Baron!--Gnädiger Herr!“ rief Tibet. Er erhob sich und neigte in +seiner überströmenden Empfindung das Gesicht auf die Hand des Mannes, +der seine Worte mit einem Blick begleitet hatte, in dem sich die ganze +Fülle seines unvergleichlichen Herzens widerspiegelte. + +„Aber Waschen und Kochen ist nun vorbei! Das paßt nicht für den Sekretär +und Vertrauten des Herrn von Teut-Eder, nicht wahr? Und nun wollen wir +morgen weiter reden, Tibet! Es wird kühl, ich muß ins Haus, Jamp, Jamp!“ +rief er mit seiner schneidigen Stimme, und dieser eilte herbei, um ihn +ins Gartenhaus zu geleiten. + +Nachtfalter und weiße Sommermotten irrten durch die warme Luft. Drüben +zirpte es in dem dunklen Garten, und aus dem Rasen drang der sanfte +erdige Geruch des Sommers. Im Hôtel zur Rose aber blitzten Lichter +durchs ganze Haus, und durch die Abendstille ertönte noch einmal +verspätetes Lachen sich haschender Kinder. Eine Zeit lang stand Tibet +wie träumend da. Endlich warf er den Blick gen Himmel, und eine Thräne +stahl sich in die ernsten Augen des Mannes. + +Er gedachte seines zerstörten Lebensglückes und der Menschen, die er +liebte--seiner schon ein halbes Jahr nach der Trauung unheilbar +erkrankten Frau, seiner Mutter, seiner Schwester--, aber das Naß, das in +seine Augen trat, entquoll diesmal der unbeschreiblichen Empfindung, daß +nun sicher für die Zukunft jener gesorgt sei. + + * * * * * + +Tibet wurde am nächsten Morgen zu Teut zum Frühstück befohlen und fand +den Major, umgeben von tausend Siebensachen, die auf Tischen und Stühlen +umherlagen, bereits eifrig schreibend. Er trug einen kurzen, seidenen +Hausrock, und um den offenen Hals war lose ein weißes Tuch von demselben +Stoff geschlungen. Aus den Ärmeln guckte eine feine Batistmanschette +hervor, und sein Fuß steckte in einem roten ledernen Schuh. + +„Guten Morgen, Herr Sekretär!“ rief Teut, ohne sich umzuwenden. „Bitte, +nehmen Sie Platz! Gut geschlafen?“ + +Tibet bejahte. „Darf ich mich erkundigen, wie der Herr Baron geruht +haben?“ + +„Ah--nicht zum besten, Tibet! Die verteufelte Sache beschäftigt mich +allzusehr. Wie Ameisen laufen die Gedanken in meinem Kopfe herum. Aber +ich glaube jetzt einen Ausweg gefunden zu haben.“ Hier wandte sich der +Major um, sah, daß Tibet noch immer stand, und unterbrach seinen Satz +durch die wiederholte Aufforderung, einen Stuhl zu nehmen. + +„Also, wie ich schon gestern sagte, Tibet, so geht die Sache auf die +Länge doch nicht!“ hob Teut an, humpelte durchs Zimmer, winkte dem +herbeieilenden Tibet ab, klingelte, gab dem eintretenden Jamp einen +Befehl und ließ sich dann an dem Frühstückstisch nieder. + +Mit inniger Teilnahme sah Tibet, wie unbehilflich der bisher so +kernfeste, kräftige Mann mit dem künstlichen Bein sich bewegte und +welche Spuren Strapazen und Krankheit auf seinem Angesicht +zurückgelassen hatten. + +„Bedienen Sie sich!--Also, Tibet, so geht's nicht. Aus diesem Grunde bat +ich Sie auch, mich hier zu besuchen. Sie sollen mit der Gräfin sprechen; +ich habe einen Plan, dem sie hoffentlich beipflichten wird. Die +Sommerferien sind vor der Thür, die Gräfin wird gewiß wünschen, ihren +Kleinen ein Vergnügen zu bereiten und selbst sich ein wenig nach all +den Aufregungen und Sorgen zu zerstreuen. Ich werde sie einladen, auf +Schloß Eder diese Wochen zuzubringen, und will meiner Cousine, der +Gräfin Aspern, schreiben, dort die Honneurs zu machen. Ich werde dann +vielleicht auch--später--nachkommen und bei dieser Gelegenheit +auszuführen suchen, was ich seit dem Tode des Grafen in mir herumtrage. +Was meinen Sie dazu, Tibet?“ + +„Vortrefflich, Herr Baron! Aber ich fürchte, daß die Frau Gräfin dieser +Einladung ein entschiedenes Nein entgegenstellen wird. Wir haben so oft +über diese Dinge gesprochen--alles war fruchtlos. Die Frau Gräfin +geht--darf ich mich ganz offen äußern, Herr Baron?“--Teut erhob den +Kopf, nickte und trennte die eben mit dem silbernen Löffel zerschlagene +Schale von einem Ei.--„Die Frau Gräfin geht davon aus, daß der gnädige +Herr sie beeinflussen will, Wohnort und jetzige Lebensweise zu ändern. +Dagegen sträubt sie sich--der Herr Baron kennen die Gründe--zum Teil +wenigstens--“ + +„Hm--zum Teil?“ fragte Teut. „Ist's noch etwas anderes, als was Sie mir +mitteilten und was ich bei dem Charakter der Gräfin auch wohl verstanden +habe?“ + +Tibet zuckte die Schultern nur machte die Miene eines Menschen, der +wohl sprechen möchte, aber sich's doch nicht getraut. + +„Nun?“ forschte Teut ungeduldig. Aber dann in einen anderen Ton +übergehend sagte er: „Ein für allemal, Tibet! Ich nannte Sie gestern +meinen Vertrauten, aber noch mehr, ich betrachte Sie als meinen Freund! +Sprechen Sie, was es auch sei! Das Schicksal, das Wohlergehen dieser +Frau beschäftigt mich mehr als mein eigenes. Der Zweck, ja der ganze +Zweck meines Lebens ist, sie glücklich zu machen. Ich versprach's dem +Grafen beim Abschied, und viel früher hatte ich mir's selbst +zugeschworen. Das alles wissen Sie am besten. Also, weshalb hinterm +Berge halten, wo diesem Vorhaben genützt werden kann!?--Ah!“ fuhr Teut +seufzend und stark betonend fort und lehnte sich zurück. „Ich sollte nur +kein Krüppel sein! Wir säßen nicht hier und berieten! Nur dieser Umstand +hat verhindert, daß ich--alles wäre lange--“ Er fuhr sich mit der Hand +über das Gesicht, und ein Ausdruck von tiefer Trauer blieb in seinen +Zügen haften. + +„Nun, Herr Baron,“ sagte Tibet, rasch den Rest des Frühstücksbrötchens +hinabschluckend und seinem Herrn ins Auge schauend, „wenn ich denn +sprechen darf, wie mir's ums Herz ist?--Ich meine--ich meine--die Frau +Gräfin hat--eine--tiefe Neigung zu dem gnädigen Herrn, und darin ist +alles zu suchen! Wenn die Frau Gräfin sich so scheu zurückzieht, +so--so--“ + +Tibet spähte ängstlich auf Teuts Angesicht, während er sprach. Trotz +aller Ermunterung stand er unter dem Eindruck, dies, eben dies hätte er +niemals ansprechen dürfen. + +Teut hatte sich gerade erhoben, um sich eine Cigarre zu holen. Nach +Tibets Worten blieb er am Fenster stehen und schaute lange wortlos +hinaus. + +Als er sich wieder umwandte, blickte er Tibet mit freundlichem Ernst ins +Auge und schüttelte den Kopf. „Sie täuschen sich, Tibet! Täuschen sich +gewiß! Und wenn nicht--wenn nicht--Nein, solche Gedanken habe ich +begraben ein für allemal--“ + +Nun ging er abermals ans Fenster und ließ gewaltige Rauchwolken der +angezündeten Cigarre durchs Zimmer schweben. Der eindringende +Sonnenstrahl fing sie auf und verwandelte sie in lichtes Blau. Eine +lange Pause trat ein, ohne daß eine Silbe gesprochen ward. + +„Ah! ja!“ rief dann Teut plötzlich. „Es muß so sein! Hören Sie mich an, +Tibet! Machen Sie also der Gräfin den Vorschlag auf mein Anerbieten +einzugehen. Sie wissen ja, wie und wo am besten einzusetzen ist. +Stecken Sie sich hinter die Kinder! Wenn diese betteln, daß ihr Wunsch +erfüllt wird, kann sie nicht widerstehen! Und wenn die Gräfin auf den +leidigen Punkt kommt--Sie wissen--meine gefürchtete offene Hand und +dergleichen Thorheiten mehr--so sagen Sie ihr--ja, so sagen Sie ihr, was +Sie wollen, aber in allen Fällen, daß ich ihr verspräche, niemals diesen +Punkt zu berühren, viel weniger ihren Absichten entgegen zu handeln.“ + +„Zu Befehl, Herr Baron! Ich hoffe, Ihrem Vertrauen Ehre zu machen. Ich +werde mein möglichstes thun.--Nur eins! Wenn ich diesen Auftrag erhalte, +muß ich eingestehen, daß ich Sie gesehen habe, und das wird den Argwohn +der Frau Gräfin wecken. Je scheinbar unvorbereiteter ich das vortrage, +um so besser ist es!“ + +„Nun, im Flunkern haben Sie ja schon gute Übung, Tibet!“ lächelte Teut +und suchte doch durch seine Miene den auf Tibet hervorgerufenen Eindruck +zu verwischen. „Ich denke, Sie müßten schon sagen, Ihre Angehörigen +wohnten hier in der Gegend, und zufällig hätten Sie mich getroffen. Wo +wohnen denn eigentlich die Ihrigen?“ + +Tibet nannte den Ort. + +„Ah--in M.! Sind Sie auch dort geboren?“ + +„Ja, Herr Baron.“ + +„Und lebt Ihr Vater noch?“ + +„Nein, Herr Baron.“ + +„Ihre Mutter ist Witwe?“ + +„Ja, Herr Baron--“ + +Teut unterbrach Tibet lächelnd und sagte, sich eines Gesprächs +erinnernd, das er einst im Clairefortschen Hause mit demselben Manne +geführt, der jetzt so einsilbig Antwort ereilte: „Ganz wie +damals:--ja--nein, Herr Baron!--antworten Sie mir, Tibet. Aber ich will +gar nicht in Ihre Geheimnisse dringen. Nur mein Interesse für Ihre +Person ließ mich fragen.“ + +„Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, Herr Baron. Mich leitete etwas +anderes. Was ich über die Meinigen mitzuteilen habe, ist sehr wenig +erfreulicher Natur. Ich habe nie darüber geredet, schon deshalb nicht, +weil meine Person dabei eine nicht gleichgültige Rolle spielt.“ + +„In der That,“ sagte Teut teilnehmend, „geht es den Ihrigen schlecht? +Haben Sie etwa noch unversorgte Geschwister?“ + +„Ich habe“--hier stockte Tibet eine Weile--„eine arme kranke Frau, +unheilbar krank und gelähmt seit der ersten Zeit unserer Ehe, die mir +ein kurzes Glück gewährte; sie lebt bei meiner Mutter und meiner +Schwester, die sie pflegt, gnädiger Herr. Auch meine Mutter war schon +völlig gelähmt, als mein Vater, der als Musiker sein Brot verdiente, +starb. Vermögen war keins vorhanden bei seinem Tode. Ich hatte +ursprünglich das Gymnasium bis zur Aufnahme in die Prima besucht und +wurde dann--wie ich früher schon mitzuteilen mir erlaubte--Kaufmann. Ich +hatte aber darin kein Glück, es wollte mir nicht gelingen, vorwärts zu +kommen. Die dringende eigene Not und die meiner Angehörigen, die ganz +auf mich angewiesen waren, bestimmte mich, die Stellung eines +Haushofmeisters bei dem Herrn Grafen von Clairefort anzunehmen, die ich +seit so vielen Jahren bekleidet habe. Ich mußte verdienen, gleichviel in +welcher Lebensstellung, und hier fand ich, was ich suchte. Während +dieser Zeit habe ich die Meinigen ernährt, ja mir selbst ein wenig +sparen können für meine späteren Tage. Was ich empfand, gnädiger Herr, +als Sie mir gestern die Aussicht eröffneten, fürs Leben an Ihrer Seite +bleiben zu dürfen, vermag ich nicht zu sagen. Und Sie werden nach dieser +Darlegung auch verstehen, welche Sorge von mir genommen ist. Ich bin ja +nun sicher, daß die Meinigen--“ In dem hageren Gesicht stieg's bei +diesen Worten auf, wie wenn der Sonnenschein plötzlich durch dunkle +Wolken bricht, und die Rührung übermannte den Mann so sehr, daß er sich +abwandte. + +„Wie? Alle die Jahre haben Ihre Frau, Ihre Mutter und Schwester +lediglich von Ihrem Fleiß gelebt?“ sagte Teut voll bewundernden +Erstaunens. „Braver Mann! Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen! Ich schätze +es um so höher, weil selbst Ihre engsten Freunde von diesen Dingen +nichts wußten. Es bleibt wahr: Die echten Perlen liegen versteckt in den +Muscheln tief auf dem Meeresgrund! Man muß sie mühsam hervorholen. Eine +echte Perle ist solche Pflichterfüllung und den Ruhm nicht an den +breiten Weg stellen! Sie üben sie um ihrer selbst willen, in der Stille, +ohne Geräusch. Das heißt ein Christ sein! Hier meine Hand, Sie braver +Mensch! Ich bitte jetzt um Ihre Freundschaft! Ich biete sie Ihnen nicht +mehr an!“ + +Tibet richtete sich bei diesen Worten in seiner ganzen Größe empor; ein +ungewöhnlicher Glanz trat in seine Augen, und über sein Angesicht flog +der Widerschein eines Sturmes von Empfindungen. + +„O, zu viel! Zu viel, gnädiger Herr!“ rief er in jenem Rausche, der nur +die Brust solcher Menschen zu durchdringen vermag. „Mit diesem Worte +habe ich nicht umsonst gelebt! Mit diesem Tage werde ich ein anderer in +dieser Welt und die Welt eine andere für mich! Aber mit diesem Worte, +gnädiger Herr, haben Sie auch Ernst Tibet zu Ihrem Schatten gemacht für +alle Tage und Stunden seines Lebens! Was ich bin und habe für die +Zukunft, gehört Ihnen!“ + + * * * * * + +Es war Morgenzeit. Ange öffnete voll Ungeduld einen Brief, den sie +soeben erhalten hatte. Derselbe war von Tibet, welcher mitteilte, daß er +an dem heutigen Tage zurückkehren werde. Als Ange dies mittags den +Kindern kundgab, faßten sie einstimmig den Beschluß, ihn vom Bahnhof +abzuholen. Nun standen sie erwartungsvoll da und schauten über den +Perron hinaus. Als der Zug endlich näher kam, drängten sie sich +zusammen, und waren voll Ungeduld, den Langersehnten zu begrüßen. + +„Tibet! Tibet! Hier!“ riefen sie und stürmten auf den Ankömmling zu, der +sich gerührt zu ihnen hinabbeugte und ihre Liebkosungen entgegennahm. +Alle griffen zugleich nach seiner Hand, um einen besonderen Vorzug zu +genießen, bis endlich Jorinde und Ange sich seine Rechte und Linke +eroberten. + +Tibets erste Frage galt der Mama, und diese ward zufriedenstellend +beantwortet. Mama Ange ginge es gut; sie habe auch an den Bahnhof +kommen wollen, sei aber abgehalten worden. Dann setzte sich die kleine +Schar, Tibet in der Mitte, in Bewegung.-- + +An demselben Abend saßen sich Herrin und Diener im Wohnzimmer gegenüber. + +Tibet erzählte, wie's ihm auf der Reise ergangen sei, und Ange hörte +freundlich und aufmerksam zu. + +„Auch den Herrn Major von Teut habe ich gesehen und gesprochen,“ warf +Tibet in unbefangenem Tone hin, nachdem er den ersten Bericht erstattet +hatte. „Er läßt sich der Frau Gräfin aufs angelegentlichste empfehlen.“ + +Ange blickte im höchsten Grade befremdet empor. „Wie? Sie haben Herrn +von Teut gesehen, Tibet? Wann? Wo? Und ganz zufällig?“ + +Tibet nickte und erzählte eine Geschichte, die er sich unterwegs zurecht +gelegt hatte. + +„Und geht's ihm besser? Geht's ihm wieder gut?“ fuhr Ange zögernd fort. + +Tibet betätigte und wollte schon, froh, daß die Dinge sich so günstig +gefügt hatten, fortfahren. Aber entweder wünschte Ange das Gespräch +nicht fortzusetzen oder sie wollte Zeit gewinnen. Sie brach ab und kam +auf allerlei häusliche Angelegenheiten. + +Inzwischen grübelte Tibet, wie er die Dinge nach seinen Wünschen +einrichten könne, und sagte endlich, eine kleine Pause benutzend, +ziemlich unvermittelt: + +„Ich habe auch einen Auftrag an die Frau Gräfin von dem Herrn Baron +auszurichten. Ich vergaß vorher--“ + +Ange sah Tibet fest ins Auge, aber sie hinderte ihn nicht am +Weitersprechen. Nur ein kurzes: „Nun?“ glitt von ihren Lippen. + +„Zunächst läßt sich der Herr Baron für den Brief der Frau Gräfin recht +sehr bedanken. Er würde denselben schon beantwortet haben, wenn er nicht +wünschte, der Frau Gräfin mündlich--“ + +Tibet hielt inne; er fürchtete nun sicher eine Unterbrechung. Aber zu +seiner Überraschung sagte Ange nichts, nur ihr Blick blieb noch ebenso +ernst, ja, so eigentümlich auf ihm haften, daß er unwillkürlich die +Augen niederschlagen mußte. Er raffte sich aber auf und fuhr fort: + +„Der Herr Baron hofft in einigen Wochen wieder so weit hergestellt zu +sein, daß er Wiesbaden verlassen kann. Er will dann nach Eder reisen und +auf dieser Reise die Frau Gräfin gern in Eisenach begrüßen.“ + +„Und was sagten Sie dazu, Tibet?“ fragte Ange kalt. + +„Ich--ich--Frau Gräfin--“ Er sprach nicht aus. Einen Augenblick +schwiegen beide: nur Anges fleißige Nadel, die auf-und abflog, +unterbrach die Stille. In dem Gemache stand ein runder Tisch, der von +einer Lampe erhellt ward. Ringsum befanden sich die Möbel, welche einst +in Carlos' Zimmer Platz gefunden hatten. Dieselben Bilder schmückten die +Wände; selbst die kleinen Nippessachen von damals standen auf dem +Schreibtisch. Plötzlich legte Ange die Arbeit aus der Hand, und sagte, +dem Manne, der ihr gegenübersaß, forschend ins Auge schauend: + +„Tibet!“ + +„Frau Gräfin?“ + +„Was soll ich von Ihnen denken? Sie haben Herrn Baron von Teut gesehen +und einen solchen Auftrag übernommen? Ich werde irre an Ihnen. Ich muß +es Ihnen aussprechen. Also war's doch wie ich vermutete. Hinter meinem +Rücken! Also war's doch, wie ich fürchtete, als Sie mir von einer +notwendigen Reise sprachen!“ + +„Frau Gräfin--ich bitte--ich verstehe nicht--“ + +„Sie verstehen ganz gut, Tibet! Mehr noch. Sie waren befangen, als Sie +in unserem Gespräch auf diesen Gegenstand kamen, und da ich nicht arglos +war, beobachtete ich Sie.“ + +Ange stützte schwermütig den Kopf und schien für Augenblicke ganz mit +anderen Gedanken beschäftigt. Sie hörte nichts von Tibets Beteuerungen, +nichts von seiner geläufigen Rede, durch die er ihr das Mißtrauen zu +nehmen suchte. Erst als er zu einem anderen Mittel griff, sie seinen +Plänen gefügiger zu machen, und plötzlich sagte: „Sehr, sehr verändert +hat sich doch der Herr Baron. Sie wissen, Frau Gräfin, das Traurige noch +gar nicht. Ich gelangte noch nicht dazu, dies Ihnen mitzuteilen. Der +Herr Baron hat das linke Bein im Kriege verloren!“ überwogen Teilnahme +und Sorge alle anderen Gedanken. + +„Wie? was?“ rief Ange erregt, ließ die Arbeit fallen, erhob sich von +ihrem Stuhl und blickte Tibet mit allen Zeichen der Bestürzung an. +„Amputiert? Das Bein verloren?“ + +Tibet atmete erleichtert auf. + +„Mein armer, armer Freund!“ flüsterte Ange vor sich hin. „Ist er sehr +ernst, sehr bedrückt deshalb, Tibet? Sie sagen, er habe so leidend +ausgesehen? O, und das wußte ich nicht einmal! Das verschwieg er mir. +Ich möchte zu ihm eilen, ihn trösten, ihn pflegen--“ + +Aber sie unterbrach sich ebenso rasch, setzte sich wieder und ergriff +still und wortlos die eben fallen gelassene Arbeit. + +„Erzählen Sie weiter, Tibet. Berichten Sie mir, was Herr von Teut Ihnen +gesagt hat,“ hob sie dann gelassen an. „Natürlich verlangt es mich +Näheres zu erfahren.“ + +„Zu Befehl, Frau Gräfin. Ich fand den Herrn Baron sehr wortkarg und +offenbar tief verstimmt. Er äußerte die Absicht, sich ganz von allem +zurückzuziehen, fortan in Eder zu wohnen und jeden Verkehr einstellen. +Welche Stimmung den Herrn Baron beherrschte“--nun hielt Tibet es an der +Zeit, seine Pläne auszuführen, und er that es mit zitterndem +Herzen--„mögen Frau Gräfin daraus erkennen, daß, als zufällig in einem +Gespräch zwischen dem Herrn Baron und einem dort anwesenden Freunde die +Rede auf des letzteren bevorstehende Heirat kam und derselbe den Herrn +Baron scherzend auf Gleiches hinwies, dieser sagte: ‚Lieber Freund, das +war längst und ist jetzt erst recht für alte Zeiten begraben! Nichts +blüht mir noch auf Erden, selbst meine besten Freunde habe ich--ohne +meine Schuld, ich darf es sagen--verloren!‘“ + +Tibet schwieg und wartete. Weiße Rosen brachen hervor auf Anges Wangen. +Eine Blässe färbte diese, vor der Tibet erschrak. War er zu weit +gegangen, hatte er zu rasch, zu unvermittelt gehandelt. Gewiß, so +schien es, denn Ange sagte bitter: „Galt mir die letzte Bemerkung, +Tibet? Nur das wünsche ich noch zu wissen.“ + +Der Mann schwieg. + +„Nun?“ wiederholte sie hart. + +„Ich glaube--ich weiß nicht, Frau Gräfin.“ + +„Und was sagen Sie zu alle dem, Tibet?“ + +Plötzlich brachen die Thränen unter Anges Wimpern hervor; ihre Augen +verschleierten sich, und jener zaghafte Ausdruck trat in ihre Mienen, +der das Gesicht von Kindern und Erwachsenen gleich rührend verändert. + +Tibet wollte reden, aber Ange schüttelte den Kopf und wehrte ihm ab. +„Ich habe schon zu viel heute abend gehört,“ sagte sie kurz und in +seltsamer Weise abbrechend. „Wir sprechen morgen weiter. Gute Nacht.“ + +Noch stand der Mann eine Weile; er hoffte, Ange würde wenigstens noch +einmal emporblicken. Nichts! Nun verbeugte er sich und ging. + +Sobald Tibet das Zimmer verlassen hatte, sprang Ange auf und durchmaß +den Raum mit erregten Schritten. Ihre Gestalt hatte trotz der +Anstrengungen des letzten Jahres an reizvoller Fülle gewonnen. Die Züge +ihres Gesichtes waren ausdrucksvoller geworden ihre dunklen gesättigten +Augen hatten eine eigene Glut und jenen rätselhaften, halb +schmachtenden, halb in sich gekehrten Ausdruck, der uns so +unwiderstehlich zu Frauen hinzieht. Noch immer wirkte ihre Erscheinung +überraschend, noch immer war sie eine blendend schöne Frau. Wie es in +ihrem Innern gärte nach diesen Mitteilungen! Jene Liebe, die sich noch +unter dem Schmerz um einen teuren Verdorbenen in zartem Empfinden gegen +eine andere auflehnt, jene tiefe wahre Liebe, die ihre Neigung ängstlich +verbirgt, jene stolze Liebe, die fürchtet, sie könne nicht um ihrer +selbst willen begehrt werden, durchdrang das Herz der Frau--und nun war +alles vernichtet, was doch hoffend in dem tiefsten Winkel ihrer Seele +geschlummert hatte. Denn es giebt Wünsche, die der Mensch aus besserer +Einsicht zurückdrängt bis zum letzten Atemzug--Wünsche auch, von denen +er weiß, daß sie sich nie erfüllen können, aber die doch beglücken, so +lange ein Wahrscheinlichkeitsschimmer bleibt. + +Teut ein Krüppel! Teut des Trostes, vielleicht noch der Pflege +bedürftig; Teut abwehrend gegen alles, was sonst Menschen mit Menschen +verbindet; Teut voll Verbitterung. Teut--die Liebe, den Besitz eines +Weibes ein für allemal von sich weisend im mißmutigen Verzichten! + +Und sie stieß ihn von sich, wo sie ihm vielleicht ersetzen konnte, +wonach sein Herz verlangte; sie erfüllte--vielleicht in falschem +Stolze--nicht einmal die Pflichten dankbarer Freundschaft!? + +Ange verlor den Faden für den richtigen Maßstab dessen, was Recht und +Pflicht geboten. + +Was sollte sie thun? Ehre, Stolz, Scham und Liebe kämpften in ihr und +ließen sie zu keinem Entschluß gelangen. Einmal hatte sie alles +zurückgedrängt, nur ein Gedanke beherrschte sie: Wie's auch kommen, +wie's auch sein mochte, sie mußte an seiner Seite stehen, solange sie +ihn unglücklich, zweifelnd und zagend wußte. + +Schon glaubte sie klar zu sein und den Kampf überwunden zu haben. Aber +dann nahm doch wieder die angstvolle Befürchtung von ihr Besitz, Teut +könne jetzt gerade zu dem Schlusse gelangen, sie suche nur nach einem +Vorwand, sich ihm zu nähern. Diese Annäherung könne als eine stumme +Werbung von ihrer Seite erscheinen, sie sei noch die alte leichtfertige, +nur dem Genuß lebende und nach plötzlichen Eingebungen handelnde Frau +von ehedem, dasselbe nur von halben Pflichten erfüllte Wesen ohne rechte +Grundsätze, festen Willen und Thatkraft. + +Und dann würde in diesem Falle an sie herantreten, was sie zurückweisen +wollte um jeden Preis: die Mildtätigkeit aus seiner Hand. Sie, gerade +sie hatte doch einen so großen, ja vielleicht allen Anteil an der +entsetzlichen Nacktheit der Dinge nach Carlos' Tode, und Teut war es +gewesen, der sie gewarnt und dessen Warnung sie nur ein halbes Ohr +geschenkt; er hatte in der Not geholfen und kam nun wieder und mußte +helfen, weil sie es nicht verstand, sich einzurichten, immer gleich +thöricht und unbeholfen dem Leben gegenüberstand. Scham und Stolz, auch +Quellen falscher Scham, falschen Stolzes brachen wieder in ihr auf und +ließen sie, wie bisher so oft, den rechten Weg verfehlen. + + * * * * * + +Am folgenden Vormittage fand sich für Tibet keine Gelegenheit, abermals +mit Ange zu sprechen. Er forschte auf ihrem Gesicht, ob das Gespräch des +vorhergehenden Abends böse Nachwirkungen zurückgelassen habe, und in der +That schien es ihm, als ob ihr Blick ernster als sonst, ihr Morgengruß +nicht so warm sei, wie er stets gewesen. Er war voll Ungeduld, mit ihr +zu sprechen, um so mehr, als er bisher nur die Vorbereitungen für den +Auftrag getroffen hatte, der ihm von Teut geworden war. + +Nachmittags gab Ange einer Bitte der Kinder nach, mit ihnen einen +Spaziergang zu unternehmen. Sie verständigte Tibet, daß sie zum +Abendbrot zurückkehren werde, und machte sich mit ihren Lieblingen auf +den Weg zur Wartburg. + +Ange sehnte sich selbst hinaus; in der freien Natur hoffte sie besser +der sie bestürmenden Gedanken Herr zu werden und zu irgend einem +Entschlusse zu gelangen, der Teut wenigstens bewies, daß sie ihm nicht +teilnahmlos gegenüberstand. + +Niemals war ihr der Sommer so schön erschienen wie in diesem Jahre. Die +Bäume standen in blütenschwerer Fülle, und als sie den Weg zur Wartburg +hinaufstiegen, hemmte sie immer von neuem ihre Schritte, um ihre Blicke +ringsum auf die Gegend zu werfen, oder bei Lichtpunkten auf das vor +ihnen liegende Thal hinabzuschauen. + +Ange wohnte vor der Stadt in einer von ihrem Auslugepunkte linksseitig +belegenen kleinen Villa. Auch heute ruhten die Kinder nicht eher, als +bis die unter dem Grün hervorschimmernden weißen Mauern herausgesucht +und alle Einzelheiten festgestellt worden waren. + +Als sie die Burg fast erreicht hatten, streiften sie bei einer +Wegwendung einen älteren Herrn, vor dem Ben und Fred eilfertig die Mütze +zogen und der freundlich dankte. Bei dieser Gelegenheit entglitt jenem +der Spazierstock, und die Kinder eilten herzu, um denselben aufzuheben. + +„Dank, liebe Kinder! Ah, Ben und Fred Clairefort!“ sagte er. „Seid Ihr +alle kleine Claireforts?“ fuhr er fort und lüftete, gegen Ange gewendet, +den Hut und verbeugte sich artig. + +„Es ist unser Herr Direktor, Mama,“ flüsterte Fred und forderte Ange +durch Zeichen und Geberden auf, stehen zu bleiben. + +Inzwischen war der Herr selbst schon näher getreten und sagte mit +ausnehmender Höflichkeit: + +„Ich habe wohl die Ehre, der Frau Gräfin von Clairefort +gegenüberstehen?“ + +Ange bejahte, und bald entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, dem die +Kinder, nach kleiner Menschen Art, neugierig und mit halb offenem Munde +zuhörten. Als aber auf die beiden Knaben die Rede kam, ihres Fleißes und +ihrer Fortschritte gedacht ward, verscheuchte Ange sie durch einen +Blick, und sie traten beiseite. Beim endlichen Abschied drängte es sie, +dem Direktor noch einige Worte zu sagen. + +„Ich habe Ihnen schon schriftlich meinen Dank ausgesprochen für die +große Güte, die Sie mir erwiesen haben, Herr Direktor. Gestatten Sie, +daß ich Ihnen diesen für Ihre Befürwortung und die mir dadurch +entstandene Erleichterung auch mündlich wiederhole.“ + +Der Direktor blickte überrascht empor, und da er offenbar nicht +verstand, worauf Ange hinzielte, zuckte er unter einigen darauf +bezüglichen Worten die Achseln. + +„Ich bitte, gnädige Frau, ich verstehe nicht ganz. Meine +Befürwortung?--Ihr Brief?--Ich habe keinen solchen erhalten.“ + +„Ich spreche von der Erlassung des Schulgeldes für meine Knaben, Herr +Direktor; Sie erinnern sich, daß Sie die Freundlichkeit hatten--“ + +„Hier liegt wohl ein Irrtum vor, gnädige Frau,“ berichtigte jener mit +höflicher Wendung. „Es ist nach dieser Richtung von Ihnen nie ein Antrag +gestellt worden, wenigstens mir nicht zugekommen, Frau Gräfin. Wohl aber +hat Ihr Bevollmächtigter seiner Zeit das Schulgeld auf Ihren besonderen +Wunsch für das ganze Semester berichtigt.“ + +Ange war so verwirrt, daß sie im ersten Augenblick nicht zu sprechen +vermochte; die Röte höchster Verlegenheit stieg ihr in die Wangen. Dann +aber brach sie mit einem gezwungenen Lächeln und wie unter plötzlichem +Besinnen das Gespräch ab und sagte: „Ach, ganz recht. Es war +allerdings--ein--Irrtum meinerseits!“ + +Noch wenige Sekunden, dann war der Direktor auf dem der Stadt +zugewendeten Wege verschwunden und Ange mit ihren Kindern auf dem +Weitermarsche nach der Burg. + +Dieser Zwischenfall weckte in Anges Innerem ein solches Heer von +widerstreitenden Empfindungen, daß sie zerstreut und völlig wortlos +neben ihrer kleinen Schar einherschritt. + +Das gestrige Gespräch mit Tibet und nun diese Eröffnung! Was würde sie +alles erfahren! Sie konnte es nicht erwarten, nach Hause zurückzukehren, +und nur die Rücksicht auf die Kinder veranlaßt sie, den Spaziergang +fortzusetzen.-- + +Nach dem Abendbrot--die Kleinen waren früh ins Bett geschickt--ersuchte +Ange Tibet unter dem Vorwande zu bleiben, daß sie noch einige Fragen an +ihn zu richten habe. Auf Tibet hatte es den ganzen Tag wie eine schwere +Last gelegen, und einmal hatte er es schon verwünscht, Teuts Auftrag +übernommen zu haben. Dennoch ergriff er nach einem kurzen Vorgespräch +zuerst wieder das Wort in dieser Angelegenheit. + +„Ich wollte gestern noch hinzufügen,“ begann er, und suchte eine +unbefangene Miene anzunehmen, „daß der Herr Baron der Frau Gräfin den +Vorschlag macht, die Sommerferien auf Schloß Eder zuzubringen. Der Herr +Baron ging namentlich davon aus, daß dies den Kindern Freude machen +werde.“ Tibet forschte in Anges Gesicht. „Und auch der Gräfin sei, wie +der Herr Baron meinte, Luftveränderung und Ruhe nach den Aufregungen +und Anstrengungen sicher außerordentlich förderlich. Der Herr Baron +bittet die Frau Gräfin dringend, diese Einladung annehmen zu wollen.“ + +„Tibet!“ sagte Ange, schüttelte den Kopf und sah den Mann mit demselben +vorwurfsvollen Blick an wie am gestrigen Tage. + +„Frau Gräfin?“ + +„Was hatten Sie mir versprochen? Was hielten Sie selbst, nach meinen +Auseinanderlegen und Ihrer damaligen Miene nach zu deuten, für richtig? +deshalb schenkte ich Ihnen mein Vertrauen--ein Vertrauen, das sich nicht +auf oberflächliche Erklärungen beschränkte, sondern auch die Gründe +entwickelte? Nur einem Freunde öffnet man sein Herz, wie ich es gethan. +Sie haben mich hintergangen, Sie haben gegen meinen Willen gehandelt, +Sie haben mich betrogen. Und da Sie mich betrogen haben, verliere ich +den Glauben an die Menschheit. Ich glaube nichts--nichts mehr!“ + +Bei den letzten Worten erhob sich Ange, die in steigender Erregung +gesprochen hatte, trat an ihren Schreibtisch und blieb dort abgewendet +und von ihren Gefühlen überwältigt, stehen. + +Tibet war blaß geworden und zerrte an den Knöpfen seines Rockes. Er +wollte sprechen, aber er vermochte es nicht. + +„Ihre Anschuldigungen, Frau Gräfin, sind so schwere,“ stieß er endlich +heraus, „daß ich vergeblich nach Worten ringe. Um mich verteidigen zu +können, bitte ich, mir nähere Aufklärungen geben zu wollen. Was habe ich +gethan, um Vertrauen und Freundschaft zu verlieren? Ja, es ist wahr, ich +habe einen Auftrag von dem Herrn Baron entgegengenommen, und ich habe +nicht gezögert, mich desselben zu entledigen, weil der Vorschlag nach +meiner unmaßgeblichen Ansicht ein guter, der Frau Gräfin und den Kindern +ein nützlicher war. Daß aber die Frau Gräfin daraus--“ + +„Ach, reden wir endlich deutsch! Gehen wir nicht ferner um das Wesen der +Sache herum!“ fiel Ange Tibet heftig in die Rede. „Sie wissen so gut wie +ich, worin der Schwerpunkt liegt! Sie sind sich wohl bewußt, weshalb ich +erregt, erschreckt, empört bin! Werfen Sie die Maske endlich ab, Tibet, +seien Sie wenigstens jetzt ehrlich und gestehen Sie, daß Sie Teuts Agent +sind, daß Sie von ihm Verhaltungsmaßregeln empfingen in Angelegenheiten, +die ich abzuweisen suchte mit allen Mitteln, in Angelegenheiten, welche +hervorgingen aus zartester Empfindung und deshalb von Ihnen hätten +geachtet werden sollen als etwas Heiliges! Ja, ja, jetzt glaubt man mir +das alles bieten zu können! Hätten Sie gewagt, gegen meine Befehle, +gegen meine Bitten zu handeln, als ich noch die gebietende, von Reichtum +umgebene Frau von Clairefort war? Nein, sicher nein! Aber nun, da ich +arm, verlassen und durch die Verhältnisse gedemütigt bin, glauben Sie +das Recht einer Bevormundung gewonnen zu haben, meinen Sie, mir Ihre +unzarten Dienstleistungen aufdrängen zu dürfen--“ Sie hörte Tibets +raschen Atem, sah sein erregtes Gesicht und fuhr doch fort: „Also +richtig war meine Ahnung und allzusehr traf ein, was ich fürchtete, +obgleich ich mir schon vorwarf, diese Dinge zu viel und zu oft berührt +zu haben! Nun erfahren Sie es nochmals, obgleich es das A und O aller +meiner Gespräche war, die ich mit Ihnen pflog: nicht als etwas Gutes, +Dankenswertes sehe ich das alles an, sondern als etwas Unwürdiges, +Beleidigendes!--Ehrlos--ja, ehrlos handelten Sie, wenn Sie mich gegen +meinen Wunsch und Befehl nach Ihren eigenen kleinlichen Auffassungen zu +messen sich erdreisteten und danach handelten!“ + +„Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ drang's aus Tibets Munde, und wie einst, als +Carlos gestorben war und ihn Anges beleidigte Worte trafen, stand er +bebend am ganzen Leibe. „Ehrlos--sagen Sie? Ehrlos?--Nun, dann darf ich +in der Folge Ihre Schwelle nicht mehr berühren! In dies reine Haus darf +kein Ehrloser treten!“ + +„Nein, nein, Sie haben recht!“ rief Ange außer sich in gekränktem Stolz +und in der Verzweiflung ihrer vernichteten Liebe. „Gehen Sie! Gehen Sie! +Ich will versuchen, Ihnen zu verzeihen im Gedenken des vielen Guten, das +ich von Ihnen empfing. Auch das in der Erregung gesprochene Wort nehme +ich zurück. Aber unseres Beisammenbleibens ist nicht mehr! Gehen Sie!“ +Nach diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und wollte, nicht mehr +Herrin ihrer Gefühle, das Zimmer verlassen. + +„Ich thue, was Sie befehlen!“ flüsterte Tibet. „Wie sehr Sie mir aber +unrecht thaten, Frau Gräfin--“ + +„Wie--unrecht?“ rief sie, nochmals zurücktretend, und reckte ihre +schlanke Gestalt hoch empor. „Unrecht?“ wiederholte sie. Ihre feinen +Nasenflügel vibrierten und ihre Augen blitzten. „Trieben Sie Ihre +zudringliche und bevormundende Dienstfertigkeit nicht so weit, daß ich +heute wie eine Närrin vor dem Direktor des Gymnasiums stand? Ich dankte +ihm für seine Güte gegen die Knaben. Solche Güte anzunehmen, schämte ich +mich nicht, denn es ist der Staat, der den Bedrängten einen Teil der +Pflichten abnimmt, die ihnen obliegen, um ihre Kinder zu tüchtigen +Menschen heranzubilden. Er thut damit nur etwas Weises. Sie vermögen es +ihm einst zu lohnen, indem sie gute Bürger werden. Wissen Sie, was er +erwiderte? Daß er weder eine Eingabe noch einen Dankesbrief von meiner +Hand empfangen! Nun, was sagen Sie dazu?--Sie unterschlugen Eingabe und +Brief, Sie belogen mich, während ich Ihnen Hab und Gut hingab in +grenzenlosem Vertrauen, ja mehr noch, mich Ihnen sogar anvertraute in +Dingen, die schwer, wohl nie über die Lippen eines Weibes dringen, +selbst unter gleichen Verhältnissen. Nun, Tibet, sind Sie der Agent des +Herrn Baron von Teut?--Einmal wenigstens seien Sie wahr!“ + +Tibet schüttelte sich, als ob er die Flamme, die in seiner Brust +emporstieg, auslöschen, als ob er die übermenschliche Erregung, die +jeden Nerv pulsieren machte, abstreifen könne. Und dann drang es heiser +aus seinem Munde: „Und doch waren meine Gedanken rein, meine Absichten +die besten, meine Handlungsweise selbstlos; und doch war alles--so +falsch die Mittel sein mochten--das Ergebnis meiner unbegrenzten Hingabe +an Ihre Person. Das sagt Ihnen, Frau Gräfin, Ernst Tibet, der sich heute +für immer von Ihnen verabschiedet.“ + +Er sprach's und verließ das Zimmer. Ange stand da, wie ein weißer Stein. +Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie hörte, wie der Mann auf sein +Zimmer ging. Sie sah durch die Mauern, daß er sich eilte, seine Sachen +zu packen. Eine wahnsinnige Angst erfaßte sie; sie hätte aufschreien und +ihm nachstürzen mögen, und doch hielten sie die nachwirkende +Empörung--und das einmal gesprochene Wort zurück.--Nun ging auch er, der +letzte, den sie hatte und der doch--sie wußte es--ein Freund war, wie +außer Teut seinesgleichen nicht zu finden auf dieser liebeleeren Welt. + + * * * * * + +Umfang und volle Bedeutung dessen, was geschehen war, stieg vor Ange +erst in den nachfolgenden Tagen auf. Auch die Reue blieb nicht aus, aber +Ange erstickte diese Regung. Ein Mensch, der für seine Überzeugung +kämpft, für den giebt's kein Rechts und kein Links. Nur ein einziger +gerader Pfad ist vorgezeichnet. So war es auch hier. Sprach ihr Herz zu +gunsten Tibets, so verwischte doch ihr stolzes, beleidigtes Gefühl +wieder die versöhnlichen Regungen. Das waren keine bloßen Worte gewesen, +die sie einst in Frankfurt gesprochen und deren Inhalt sie ihm später so +oft wiederholt hatte. Sie wollte, sie mußte den Weg gehen, welchen sie +ihm bezeichnet hatte. Ihr besseres Ich, ihr Ehrgefühl hatten +gesprochen, und diesen mußte sie folgen. + +Vielleicht--es mochte sein--hatte sie die Dinge zu sehr auf die Spitze +getrieben, ließ ihrem verletzten Stolze zu sehr die Zügel schießen. Aber +lag nicht gerade in dieser Form, ihr Erleichterungen zu verschaffen, +etwas von jener leis spöttelnden Bevormundung, welcher sie sich +entziehen, zu der sie gerade Teut Recht und Veranlassung hatte nehmen +wollen?----So blieb in ihr haften, wogegen sich doch im Grunde ihr Herz +und ihr Verstand auflehnten, und sie tötete die mahnende Stimme ihres +Innern, die ihr sogar zurannte, daß ihre Handlungsweise gegen Tibet den +Grundsätzen hochherziger Gesinnung schon deshalb nicht entsprach, weil +sie ihn--sie mußte es eingestehen--zugleich schuldlos für die +Enttäuschungen ihrer Liebe hatte büßen lassen. + +Schon am nächsten Tage traf ein vollkommen geschäftlich gehaltenes +Schreiben von Tibet ein, in welchem er die genaueren Angaben machte über +alles, was seither seiner Sorge anvertraut gewesen war und jetzt Ange +allein obliegen sollte. Insbesondere machte er ihr über ihre +Geldangelegenheiten Mitteilung und gab in höflich gemessener Form +Ratschläge, indem er auf den bisher von ihm beobachteten Gebrauch +hinwies. Um sie vor ferneren Enttäuschungen zu bewahren, bekannte er in +diesem Briefe, welche Ausgaben er ohne ihr Zuthun bestritten hatte, und +fügte endlich hinzu, daß er im Auftrage des Barons von Teut gehandelt +habe. Eine Angabe über die Höhe derjenigen Summe, mit welcher letzterer +für Ange eingetreten war, gab er aber nicht, und sie beeilte sich +deshalb--unter welchen Empfindungen ist leicht zu bemessen--ihn +schriftlich zu ersuchen, ihr sofort darüber eine Nachricht zukommen zu +lassen. Am Schluß des Tibetschen Briefes hieß es: + +„Frau Gräfin werden über die Zwischenfälle heute nicht anders, aber +ruhiger denken, das ist meine sehnliche Hoffnung. Und da auch ich den +Dingen nach der gestrigen Unterredung mit veränderten Ansichten +gegenüberstehe, so mag es mir mit Rücksicht auf die jahrelangen +Beziehungen, die ich zu der Frau Gräfin pflegen durfte und in deren +Verlauf die gnädige Frau mir so oft ein Lob und ein freundliches Wort zu +erteilen geruhten, gestattet sein, zu sagen: daß ich tief bereue und +stets wiederkehren werde, sobald mich die Frau Gräfin rufen. Wenn diesem +Rufe hinzugefügt sein wird, daß die Frau Gräfin mir vergeben haben--ich +bitte Gott, daß dieser Tag mir noch einmal werden wird--, dann bin ich +entschädigt für alles, was auch mir Schweres, Ernstes und Sorgenvolles +in meinem Leben begegnete und das mich doch nicht hinderte, meine +höchste Lebensaufgabe darin zu erkennen, der Frau Gräfin und Ihrer +Familie ein bescheidener, wahrer, wenn auch in den Mitteln häufig +irrender Freund zu sein. + +Ich bitte gehorsamst, die gräflichen Kinder grüßen zu wollen, denen ich +nicht einmal ein Lebewohl sagen konnte u.s.w.“ + +Ange las diesen Brief in tiefster Bewegung. Was hätte sie darum gegeben, +wenn die Dinge, die sich enthüllt hatten, nicht geschehen wären. + +Plötzlich lag ihr Leben vor ihr wie eine endlos zu durchschreitende +Wüste, und doch fühlte sie jetzt schon, daß sie erlahmte. Ihr Herz +erbebte, obgleich sie kaum den Fuß über die Grenzen gesetzt hatte. Aber +sie raffte sich auf zum ernsten Tagewerk, und ruhige Überlegung gewann +die Oberhand. + +Ange begann zu rechnen. Zum erstenmal in ihrem Leben beschäftigte sich +Ange von Clairefort mit Zahlen. Bis spät in die Nacht, wenn die Kinder +schon schliefen, schrieb und summierte sie, stellte fest und strich +wieder aus, fügte hinzu und kürzte von neuem. Und sie ward gewahr, was +jedem sich offenbart, der mit diesen unerbittlichen Ausrufungs- und +Fragezeichen zu kämpfen hat. Auch ihr erschienen alle Einnahmeposten +wie Quecksilberkügelchen, die man fassen zu können wähnt, und die dann +plötzlich in bisher unsichtbare Poren verschwinden, während die +Ausgabesummen zudringlich emporschießen, wachsen und sich vermehren. + +Als Ange zum erstenmal alles zusammengestellt hatte und, glücklich +aufatmend, zu dem Resultat gelangt war, es werde gehen, da fiel ihr +plötzlich ein, daß Schulgeld und Steuern noch fehlten, daß der Feuerung +für den Winter, ihrer eigenen Garderobe, der Abzahlung an Teut nicht +gedacht sei, daß die unvorhergesehenen Ausgaben--und sei's auch nur eine +Gabe der Wohlthätigkeit--nicht mit vorgesehen wären. + +Nun ging's abermals ans Rechnen, aber die Zahlen waren wenig biegsam und +trotzten allem Beschönigen. Und mit diesem Unvorhergesehenen war's nicht +einmal am Ende! Wenn--wenn--Krankheit kam? Arzt, Apotheker--das +Vielerlei, was zu einer sorgfältigen Pflege gehört! Ange sann und +plante. Wo konnte noch gespart werden? Gab's nicht einen Posten, der +überflüssig erschien?--Nein, nein!--Und wenn sie nun selbst krank ward, +wenn sie gar--Was wurde aus den Kindern? Konnte sie nicht sterben? War's +nicht erste, vornehmste Pflicht, an diesen Fall zu denken? Mußte sie +nicht ihr Leben versichern?--Aber woher nehmen? Da fiel's wieder wie +Regenschauer auf ihre Seele, da raunte ihr eine fürchterlich nüchterne +Stimme zu, daß selbst der beste, ehrlichste Anfang doch nur ein +schlechtes Ende haben könne. Sie vermochte mit ihrem kleinen Zinskapital +nicht alles zu bestreiten. Es war unmöglich, unmöglich! + +Aber Ange erstarkte in ihrem Pflichtgefühl und in ihrer Liebe zu den +Kindern und beschloß zu handeln. Sie schrieb an den Direktor des +Gymnasiums und bat um Nachlaß des Schulgeldes, indem sie begründete, +worauf sie schon einmal hingedeutet hatte. Wegen einer Ermäßigung der +Steuern befragte sie an einem der kommenden Tage ihren Nachbar um Rat. +Sie empfand keine Scham dabei, während sie doch ehedem schon gezittert +hatte, ihr Diener könne bemerken, daß ihr das Geld zur Reise fehle. Sie +schüttelte verwundert den Kopf, als sie dieser Zeit gedachte; ja, sie +begriff heute nicht, daß ihr das Eingeständnis ihrer bedrängten Lage +jemals schwer geworden sei. + +Und nun begann in der Folge der wirkliche Lebenskampf. Welche +Auseinandersetzungen mit den Kindern, wenn sie nach alter Gewohnheit +irgend etwas begehrten, das ihnen die Laune eingab! + +„Nein, nein!“ sagte Ange. + +„Weshalb nicht, Mama?“ + +„Weil ich es nicht will; weil es überflüssig ist.“ + +Die kleine Ange, bisher ohne eine Entbehrung, schielte dann wohl zum +Einholen eines beipflichtenden Lächelns wegen dieser unerwarteten Worte +zu den älteren Geschwistern hinüber. Aber sie fand kein Echo für ihren +kindlichen Unverstand. Jene fühlten mit ihrem Instinkt, daß die Sache +durchaus nichts Komisches habe. + + * * * * * + +Das erste, was Ange nach Tibets Fortgang überlegte und in der Folge auch +zur Ausführung brachte, war eine noch strengere Tageseinteilung als +bisher. Sie stand in aller Frühe auf und sorgte, daß die Kinder +Frühstück erhielten und in die Schule gelangten. + +Während die Magd Einkäufe machte und nach diesen an die Vorbereitung für +das Mittagessen ging, besorgte Ange die übrige Hausarbeit. + +Gleich nach Tisch begannen die Arbeitsstunden für die Kinder. Ange +suchte den Knaben sowohl behilflich zu sein wie den Mädchen und gab den +letzteren auch täglich den von Tibet erwähnten Musikunterricht. + +Wenn die Witterung es erlaubte, ward ein gemeinsamer Spaziergang +unternommen, und den Rest des Tages beschäftigte sich Ange mit dem +Vielerlei, was zu einer Wirtschaft gehört: dem Ausbessern der Kleider, +mit Handarbeit und ihrem kleinen Rechnungswesen. + +Alle ihre Gedanken waren auf die Kinder gerichtet. Aus den +Schulbibliotheken wurden Bücher herbeigeholt, und abwechselnd las eines +der Kinder abends vor. Die sich daran knüpfenden Fragen beantwortete +Ange nach bestem Können, und wenn dieses nicht ausreichte, griff sie zu +Hilfsmitteln, die sich unter Carlos' Nachlaß befanden, und saß dann--ein +Kind unter Kindern--und suchte auch sich neugierig zu belehren. + +Jeden Wunsch, der in ihren Lieblingen aufstieg, hörte sie an, und +überlegte vorher, ob er erfüllbar sei. Sie hatte sich zum Grundsatz +gemacht, nie gleich ja zu sagen, sondern sich erst Bedenkzeit +auszubitten. Wenn sie dann--wie meistens--eine abschlägige Antwort +erteilte, begann wohl ein: „Warum nicht, Mama? Bitte!“ und ein Betteln +und Drängen, dem sie nur schwer zu widerstehen vermochte. Die Kinder +hatten so viele Grunde wie draußen Blüten auf den Bäumen, und wo diese +fehlten, schmeichelten sie und machten Angriffe auf Anges schwaches +Herz. Aber sie blieb fest, wenn es auch heiß in ihrem Inneren aufstieg. +Ben stand ihr stets zur Seite und wehrte die übrigen ab. Er hatte viel +Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Carlitos. Der Knabe war voll +Herzensgüte, er besaß Charakter, und für seine Jahre überraschte er +durch die Reise seines Urteils und das Gesetzte seines Wesens. Dabei war +er voll Aufopferung für seine Mutter, die er zärtlich liebte. Sobald es +ihr galt, war ihm keine Arbeit zu schlecht oder zu schwer; wenn keiner +Zeit hatte--er hatte sie stets. Er half ihr, selbst bei Küchenarbeit, +und lief fort, wenn etwas rasch besorgt werden mußte. + +Der Knabe fühlte nicht mehr instinktiv, sondern war sich bewußt, wie die +Dinge lagen, und sein Herz trieb ihn, seiner Mutter die täglichen +Beschwerden zu erleichtern. + +Das alles aber trat nur zum Vorschein im Hause. Draußen war der Knabe +ein völlig anderer. Vor allen übrigen besaß er einen brennenden Ehrgeiz. +Jeden Tag berichtete er, was in der Schule geschehen, wie ihm Recht oder +Unrecht geworden, und er überlegte, wie er es anzufangen habe, auf den +Sprossen seiner Sturmleiter weiter emporzusteigen. + +Und alles stand ihm gut; er konnte nicht anders sein, wie er war. Wenn +aber einmal ein Lächeln über sein hübsches Gesicht glitt oder gar seine +Augen tiefere Empfindungen widerspiegelten, dann war der so schön, daß +er einem Maler hätte Modell stehen können. + +„Wie heißt Du?“ + +„Graf Benno von Clairefort.“ + +Nie nannte er sich anders, aber seltsamerweise rief dies selbst bei +Erwachsenen kein Lächeln hervor. + + * * * * * + +Bisweilen schien Ange altes, was früher gewesen, wie ein Traum, und in +diesem Bilde ihrer Vorstellungen tauchte immer von neuem Teut auf. Wer +ihr einstmals gesagt hätte, sie werde ihn ängstlich fliehen, und deshalb +fliehen, weil er Wort gehalten in allem, was er ihr damals in besseren +Tagen im Walde versprochen, und welches doch das Höchste war, was ein +Mensch dem anderen gewähren konnte--den würde sie einen unverständigen +Thoren gescholten haben. Und doch war's kein Traumbild. Sie war heute +vielleicht von ihm getrennt--fürs ganze Leben! Würde er, nach der +bisherigen Beurteilung ihrer Person, ihre Haltung nicht als eine +Weiberlaune deuten? Sie sah ihn vor sich--das überlegene Lächeln +umspielte seinen Mund, er schüttelte über solche Kindereien den Kopf. +Hatte er gar recht? + +Und dann kam's wieder über sie eines Tages in dem grübelnden Suchen +nach dem Rechten, in der ängstlichen Besorgnis, den verletzt zu haben, +dem sie so viel verdankte und der nun stumm blieb, als ob er unter die +Toten gegangen. + +Sie beschloß, ihm zu schreiben und ihren Standpunkt zu verteidigen. Aber +mitten darin hielt sie wieder inne. + +Was sie auch schrieb, sie konnte seine Gedanken nicht beeinflussen. +Vielleicht betrachtete er den Inhalt ihres Briefes nur als Vorwand ihrer +veränderten Gesinnung. Und war's nicht auch begreiflich, natürlich, daß +sich nun auch sein Stolz regte? War er einer von denen, die sich anderen +zudringlich nähern? Nein! Und da er ihr nicht mit denselben Gefühlen +gegenüberstand--sie wußte es nun aus Tibets Munde--, hatte er ihr +Andenken vielleicht ausgelöscht--ausgelöscht für immer? + +Und nun sollte sie das erste Wort geben, in ihm den Eindruck +hervorrufen, endlich sei sie durch Lebensnot und Sorge, gedrängt auch +von ihrer alten Natur, doch gekommen und habe erbeten, was sie einst so +schroff zurückgewiesen? Nimmermehr! Vorbei war's mit all den Hoffnungen, +die sich an frühere Zeiten knüpften! Es gab nur einen Lichtstrahl: das +Glück der Kinder, und in diesem allein mußte sie ihr eigenes suchen. +Somit unterblieb das Schreiben. + +Aus dem schwankenden Herbst schritt allmählich der Winter mit +rücksichtslosen Schritten hervor, stäubte, des Widerstandes nicht +achtend und seines Rechtes sicher, mit Schneewirbeln über die Landschaft +und schlug die ganze Natur in seine weißen Decken ein. + +Aber mit dem Winter traten auch die Sorgen wie weiße Gespenster an Ange +heran. Als sie von ihrem Bankhause die Quartalszinsen erhielt und einen +Überschlag machte, was noch zu bezahlen und was nötig war, bis das neue +Jahr erschien, sah sie, daß ihr jetzt schon fast nichts mehr blieb. Ange +hatte trotz äußerster Sparsamkeit kleine Schulden machen müssen, und die +von Tibet gemeldete erschrecklich hohe Summe, welche Teut in dem ersten +halben Jahre zu ihrem Haushalt beigesteuert hatte, ragte noch drohend +über dem übrigen empor. Gerade diese zu tilgen, beschäftigte immer aufs +neue, zulegt fast ausschließlich Anges Gedanken. Schon machte sie sich +Vorwürfe, daß sie nicht früher abgezahlt hatte. Teut triumphierte +vielleicht, daß sie so eilfertig und trotzig darnach begehrt--und nun +doch alles still war. + +Sie beschloß--es war ein falscher Entschluß--ihren Nachbar, einen +kleinen, mit einer Haushälterin lebenden Kapitalisten--um eine größere +Summe darlehnsweise zu bitten und solche Teut sogleich einzusenden. + +Als sie schon auf dem Wege war, flüsterte ihr eine besonnene Stimme zu, +daß ein einziges Goldstück als Abtrag genügen werde, um sich vor sich +selbst und vor Teut zu rechtfertigen. Aber mit leiser Eitelkeit +vermischter Stolz überwog, was bessere Einsicht ihr zurannte, und sie +zog die Klingel und betrat das Haus. + +Es giebt Wohnungen, denen eine kalte Luft entströmt, selbst zur +Sommerszeit. Frostiges Selbstbehagen, das einen engen, abwehrenden Kreis +um sich zieht, die übrige Welt nur sieht, sie nur anhört und sich nur +mit ihr beschäftigt, sofern diese keinerlei Ansprüche erhebt, +durchdringt die Bewohner und wirkt so erkaltend, daß es sich selbst den +toten Dingen mitzuteilen scheint. + +Als Ange den Flur beschritt, überfiel sie jene Zaghaftigkeit, welche +fast immer den allzu raschen Vorstellungen unserer Phantasie zu folgen +pflegt. + +Auf dem großen Flur standen zwei in peinlicher Sauberkeit gehaltene, in +Eichenholzfarbe gemalte Schränke, die den Eintretenden schon kalt +anstarrten. Und sonst nichts ringsum: kein Spiegel, keine Stühle, keine +Kleiderhaken, keine Uhr. Was eine rasche Hand etwa stehlen konnte, war +weislich entfernt. Ein kalter, übersauberer, abgeschlossener Raum, in +dem die Klingel impertinent laut nachtönte! Nun klopfte Ange. + +„Ah, Frau Gräfin!“ sagte die Gesellschafterin artig. Es war eine alte +Dame in einem einfachen dunklen Kleide und mit einer weißen Mütze auf +dem Kopf. „Bitte, Herr Putz ist zugegen.“ + +Putz hatte nichts in der Welt zu thun; er schwatzte überaus gern, sprach +eigentlich nur von sich und stand trotz seines Egoismus und der +Langenweile, die er ausströmte--lediglich im Raterteilen war er ein +Verschwender--unter dem Eindruck, der Verkehr und Umgang mit ihm sei für +andere ein ungewöhnlicher Vorzug. Daß er nur seinen Neigungen dabei +folgte, lediglich sich selbst die Zeit vertrieb, und daß durch den +Verkehr irgend eine Gegenseitigkeit erwachse, diese Gedanken kamen nie +in seinen Kopf. + +Während Ange sich umschaute, hatte sie beim Anblick der Personen und der +altbekannten Dinge plötzlich die Überzeugung, ihre Bitte werde ihr +abgeschlagen werden. War's doch Putz, den sie bereits in ihre +Verhältnisse einen Einblick hatte thun lassen, indem sie ihn um Auskunft +wegen Ermäßigung der Steuern gebeten. Es war ihr unfaßlich, daß sie das +nicht vorher bedacht, und sie schalt ihren Mangel an Überlegung nun, da +es zu spät war. + +Ange fand übrigens nicht so rasch Gelegenheit dem Alten vorzutragen, +was sie beschäftigte. Die Gesellschafterin war ein unliebsamer Zeuge, +und selbst, als diese einmal fortging, fand sich kein Anknüpfungspunkt. + +So wurden denn gleichgültige Gesprächsgegenstände berührt, und Ange +empfand doppeltes Unbehagen an der Unterhaltung, da sie ihre Absicht +nicht auszuführen vermochte. + +Plötzlich sagte Putz: „Nun, haben Sie Nachricht von der Steuerbehörde, +Frau Gräfin? Ich wollte schon immer fragen.“ + +Ange bejahte. Sie berichtete, daß man sie aufgefordert habe, ihre +Anträge nachweislich zu belegen, und daß dann eine nochmalige Prüfung +stattfinden solle. Vorläufig müsse die Summe gezahlt werden, zu der sie +eingeschätzt sei. + +„Ganz recht, ganz recht! So, so!“ sagte der Alte, und nach kurzer Pause +fuhr er fort: „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte, Frau +Gräfin--recht gern, mit größtem Vergnügen!“ + +Die Gesellschafterin war noch nicht zurückgekehrt. Diese freundlichen +Worte ermutigten Ange. Nun, so konnte es denn sein! Plötzlich war sie +wieder voller Hoffnungen. + +„Ich danke Ihnen sehr, Herr Putz. Ich wollte auch noch in einer anderen +Sache Ihren Rat oder vielmehr Ihre Hilfe erbitten.“ + +„Bitte, bitte, Frau Gräfin!“ Der Alte war immer neugierig. Das Gespräch +hatte schon etwas geschleppt, nun ward es wieder anziehend. + +„Also, Herr Nachbar, ich möchte Sie fragen, ob Sie mir wohl zwölfhundert +Mark würden leihen wollen, die ich nach und nach abzahlen könnte. Ich, +ich--“ Ange stockte. + +„Bitte, Frau Gräfin!“ Putz wollte alles hören. Es fiel ihm nicht ein, +auf dergleichen Dinge einzugehen, aber hören wollte er. Anges Vertrauen +wuchs. + +„Ich habe,“ fuhr sie geläufiger fort, „eine einzige alte Schuld, die +mich zwar nicht drückt, durchaus nicht drückt--ich meine, derentwegen +ich nicht gedrängt werde, die ich aber aus anderen Gründen--“ + +„Hm, ich begreife,“ sagte Putz. Und als Ange nicht gleich fortfuhr, +fügte er, seine Neugierde nur schlecht unterdrückend, hinzu: „Von einem +Verwandten wahrscheinlich?“ + +„Nein, nicht von einem Verwandten; ich habe überhaupt nicht einen +einzigen Verwandten auf der Welt, weder von seiten meiner Eltern noch +von seiten meines Gatten.“ Wie unvorsichtig war diese Offenherzigkeit! +Ange sah es ein--zu spät. Ihr war plötzlich, als ob sie Olga von Ink +gegenübersäße, und all ihre Hoffnungen sanken in einen tiefen Brunnen. +„Ich habe das Geld von--von--“ Nun stand Ange sogar vor dem Namen; sie +sollte vor diesem Menschen Teuts Namen aussprechen! Wohin war sie +geraten! Sie suchte und griff in ihrer Ratlosigkeit zu einer Unwahrheit, +vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, wo es sich um ernste Dinge +handelte. „Von Herrn Tibet,“ platzte sie heraus. + +„Ah so!“ sagte Putz, offenbar aufs höchste überrascht, und zog die +Augenbrauen über die listigen Augen. „Von Herrn Tibet? Er ist fort, +nicht wahr? Kehrt er überhaupt nicht zu Ihnen zurück?“ + +Ange bereute, was sie gesagt; wie bereute sie überhaupt jetzt, daß sie +gesprochen! Es wurde ihr klar, daß der Mann nur seine Neugierde +befriedigen wolle und daß der Gegenstand ihn nicht im geringsten +interessiere. + +Sie war nun auf demselben Punkt angelangt, von dem sie in richtiger +Erkenntnis ausgegangen. Sie hatte endlich wirklich die Enttäuschung, +nach der sie verlangt hatte. + +„Nein, er kehrt nicht zurück,“ sagte sie kurz abweisend. „Aber, um +wieder auf die Sache zu kommen: wie ist es, Herr Putz, würden Sie mir +die Hand bieten?“ + +Auskosten mußte Ange die Enttäuschung bis auf den Grund. + +„Ich kann nicht, Frau Gräfin, mit dem besten Willen kann ich nicht! +Aber--Sie gestatten, daß ich ein freundschaftliches Wort hinzufüge und +meine Ansicht ausspreche. So sehr ich begreife, daß man seinem +Dienstboten kein Geld schuldig bleiben möchte--“ + +Ange unterbrach den Sprechenden und sagte stolz: „Sie gebrauchten den +Ausdruck Dienstbote! Das ist durchaus nicht zutreffend! Tibet war der +Sekretär und Bevollmächtigte meines Gatten und zugleich Haushofmeister +in unserem früheren großen Hauswesen. Er folgte mir aus Freundschaft, +nachdem meine Lage sich verändert hatte.“ + +„Ah, ah, ganz wohl! Dann steht die Sache ja sehr günstig. Erlauben Sie +einem erfahrenen Mann, Frau Gräfin! Selbst wenn ich Ihnen dienen könnte, +würde ich mir den Vorschlag erlauben, daß Sie dort Stundung erbitten und +lieber den alten Gläubiger behalten, trotz etwaiger Peinlichkeiten. Geld +ist Geld! Wer's giebt, will Sicherheit, und--und--“ + +„Sie haben recht!“ fiel Ange fast übereilig ein. „Sprechen wir nicht +weiter davon! Nur eins zu meiner Rechtfertigung! Ich ging davon aus, daß +es Ihnen nicht unbequem sein werde, und da völlige Sicherheit in meiner +Person liegt--“ + +„Natürlich, natürlich, Frau Gräfin! Ich würde Ihnen das Geld auf bloßen +Schuldschein geben--selbstverständlich!“ + + * * * * * + +Nachdem vier Wochen vergangen waren, fand sich Ange fast völlig von Geld +entblößt, und sie sann und sann, auf welche Weise sie sich helfen könne. +Auch der Nachbar kam ihr wieder in den Sinn. Gewiß, wenn sie nicht ihrer +thörichten Eingebung gefolgt wäre--von ihm hätte sie eine kleine +Aushilfssumme bereitwillig erhalten. Ob er sie jetzt noch geben würde? +Vielleicht! Aber die Scham überwog den Drang der Not, und sie gab den +Gedanken auf. + +Einmal überlegte sie auch, an das Bankhaus zu schreiben und um einen +Vorschuß auf das Januarquartalsgeld zu bitten. Daß dergleichen von ihr +versucht werden könne, war ihr bisher nicht einmal in den Sinn gekommen. +Nun weckte die Sorge praktische Gedanken. Aber auch diesen Plan ließ sie +wieder fallen. + +Der Jahresanfang erforderte so viel, daß sie schon nicht wußte, wie +auskommen. Schaffte sie jetzt Hilfe, so entbehrte sie in der Folge. Das +war nur ein schwacher Notbehelf, und vielleicht gelang's nicht einmal, +und sie bereute später den Schritt. + +Mit einemmal türmte sich wieder vor ihr auf, wie schwer, wie ganz +unmöglich es sein werde, mit ihren geringen Mitteln auszukommen, und zu +dieser Einsicht schlich sich ein anderer Gedanke, der sie so ängstlich +peinigte, daß ihr die Röte in die Wangen stieg. Hatte sie überhaupt ein +Recht gehabt, ihren Nachbar um Geld in solcher Höhe anzugehen? War's +nicht leichtsinnig gewesen und mußte sie sich nicht schämen, daß sie so +stolz auf ihre Person als Sicherheit hingewiesen hatte?-- + +Eines Abends machte sich Ben, nachdem die übrigen Kinder bereits zur +Ruhe gegangen waren, im Wohnzimmer zu thun. Ange nähte an der kleinen +Ange Schulmappe, an der ein Riemen sich gelöst hatte. Die Nadel war zu +fein, es ward ihr schwer. + +Plötzlich setzte sich der Knabe ihr gegenüber, blieb einen Augenblick +stumm und begann dann mit einem eigentümlichen Ton in der Stimme: + +„Du, Mama, weshalb ist eigentlich Tibet fortgegangen? Du erzähltest +neulich, ihr hättet ein Zerwürfnis gehabt; war es etwas--etwas mit +Geld?“ + +Ange neigte den Kopf; dann sagte sie: „Ja, ja, Ben, das verstehst Du +nicht.“ + +„Doch, Mama. Wollte er Geld von Dir haben und konntest Du es ihm nicht +geben?“ + +„Nein, Ben, es war umgekehrt.“ + +„Umgekehrt--wie? Wolltest Du Geld von ihm--“ + +„Du verstehst falsch, Ben. Er wollte--er gab mir Geld--das heißt--Nein, +das ist auch nicht richtig. Ich weigerte mich, von ihm--etwas +anzunehmen, und deshalb--“ + +Des Knaben Pupillen erweiterten sich, und es jagte über sein Gesicht. + +„Er wollte Dir Geld geben, und weil Du es nicht nehmen wolltest, ging +Tibet fort?“ + +„Nein, Ben, ich hieß ihn gehen. Aber ich wiederhole, daß ich Dir das +nicht erzählen, nicht erklären kann.“ + +„Doch, Mama!“ sagte Ben fest. „Erzähle mir alles, bitte. Ich bin nicht +mehr ruhig, wenn ich nicht alles weiß. War Papa nicht sehr reich? Hat er +all sein Geld verloren?“ + +Ange nickte. + +„Hat Tibet damit zu thun?“ + +„Nein, Ben. Papa war allerdings sehr reich, verlor aber sein Geld in dem +Bestreben, es für Euch noch zu vermehren. Als er starb, war nichts mehr +da.“ + +„Nichts? Das war unrecht. Das war--“ Der Knabe unterbrach und bezwang +sich. „Ah, und nun wollte Tibet Dir helfen, und Du wolltest nichts +nehmen, und--“ + +„Ja, ja, so ähnlich war es, mein lieber Junge. Aber noch einmal: Du +vermagst den inneren Zusammenhang nicht zu verstehen, frage mich nicht +weiter.“ + +„Er meinte es doch aber gut, Mama!“ + +Ange senkte den Kopf. + +„Bist Du ihm böse? Werdet Ihr Euch nicht wieder vertragen?“ + +„Ich weiß es nicht, mein guter Ben. Ich glaube es nicht--“ + +„Und weshalb? Nur, weil--“ + +Abermals bewegte Ange sanft zustimmend das Haupt. + +„O, hab ich Dich lieb!“ stieß der Knabe hervor und umhalste seine +Mutter. „Wenn ich doch erst groß wäre und--und--“ + +Kraft und Eroberungslust blitzten in seinen Augen. Wenn's an ihm gelegen +hätte, er würde seine liebe Mama auf die Arme genommen und durch das +Gewühl der Welt getragen haben. + +Als sie ihn nach einer zärtlichen Umarmung entließ und er schon mit +einem „Gute Nacht!“ in der Thür stand, überflog sein Auge noch einmal +ihre Gestalt. Er kehrte zurück, umfaßte sie stürmisch und flüsterte: + +„Bitte, arbeite nicht zu lange. Ich schlafe nicht ein, bevor Du zu Bett +gehst. Ja, Mama?“ + +Welche heiße Liebe blitzte aus beider Augen! Nun schlüpfte er fort und +suchte sein Lager auf. + + * * * * * + +Das war ein Winter. Seit Tagen lag ein starrer, unbeweglicher Schnee auf +der Landschaft, und die Luft trug jenes liebeleere Grau, bei dessen +Anblick uns schon fröstelt und schaudert. Dazu kam ein rücksichtsloser, +Mark und Bein durchkältender Ostwind, der seinen Hauch durch die +festverschlossenen Thüren jagte und aller Abwehr in den Häusern +Widerstand entgegensetzte. + +Die Kinder kamen mittags, von Frost und Kälte geschüttelt, nach Hause, +und da die in dem oberen Teil der Villa gelegenen Schlafgemächer nicht +geheizt wurden, war morgens das Wasser in den Krügen kegelspitz +gefroren, und nur ein Fingernagel vermochte die Arabesken des Eises zu +durchdringen, mit dem die Fenster beschlagen waren. + +Die Feuerung war schon wieder verbraucht. Die Magd meldete, daß sie die +letzten Körbe vom Boden herabgeholt habe. Fred kam nach Hause und hatte +sich auf dem Eise beschädigt. Die Beinkleider waren auf dem Knie +geplatzt, und Ange schalt und suchte unter dem Vorrat nach anderen. Was +aber der Knabe an Garderobe besaß, war zu leicht, und so mußte Ange nach +dem Schneider senden, um sie ausbessern zu lassen, da sie solche Arbeit +nicht verstand. Das war am Ende nichts, aber oft sind's eher die kleinen +Verdrießlichkeiten, die uns das Leben erschweren, als die großen. + +Über Ernas Winterhut hatten die Mädchen in der Schule allerlei Spott +getrieben. Der gehöre wohl ihrer Mama oder sei aus einer +Komödiantengarderobe? so berichtete sie aufgeregt. „Freue Dich, daß Du +einen Hut hast, mein Kind: er ist heil und sauber. Laß die Kinder +reden.“ + +Aber wenn Ange dies auch sagte, schnitt es ihr doch ins Herz. Es war +allerdings ein Hut, den sie selbst abgelegt hatte, und das Kind sah +seltsam darin aus. Einen anderen kaufen? Nein! Sie hatte nicht einmal +Geld, Feuerung zu bestellen, die so bitter nötig war. + +Im Anfang hatten die Kinder noch alle hübsche, ja äußerst kleidsame +Gewänder. Die beiden Mädchen sahen so zierlich und vornehm aus, daß die +Menschen sich nach ihnen umschauten. Aber inzwischen war so vieles +schadhaft geworden und nicht erneuert. Die kleine Ange trug zum +erstenmal auf den Knieen gestopfte Strümpfe und zog das Kleid herunter, +das dadurch doch nicht länger ward und nichts verbarg. + +Die Kopfbedeckungen der Knaben waren reichlich abgenutzt, und Kragen und +Manschetten mußten länger dienen als früher. Bisweilen drang's Ange mit +Messern durch die Brust, wenn sie das Aussehen ihrer Lieblinge mit dem +anderer Kinder verglich. + +An einem dieser Abende saß Ange unthätig an ihrem gewohnten Arbeitsbuch +und stützte voller Kummer und Sorge das Haupt. Sie dachte aber nicht +einmal an die Gegenwart, sie beschäftigte sich mit der Zukunft. Sie +mußte rasch die jetzige Wohnung aufgeben, sie war zu teuer. Auch konnten +die Mädchen so kostspielige Schulen ferner nicht mehr besuchen. Die +guten Kleider, die Ange noch besaß, waren besser zu verkaufen oder für +die Kinder zu ändern. Ja, das alles mußte--mußte geschehen! Nur wenn sie +die bisherigen Ausgaben um die Hälfte einschränkte, dann konnte sie +auskommen. + +„Du bist wieder so betrübt“ flüsterte Ben, seine Mutter sanft +umschlingend. Die übrigen Geschwister waren noch anwesend; immer scheute +sich der Knabe, seine Gefühle vor ihnen zu zeigen. Gerade hustete +Jorinde ängstlich auf und draußen pfiff und tobte es um die lose +befestigten Fensterladen. + +„Nein, nein!“ erwiderte Ange, vor den Tönen zusammenschauernd. „Geh ins +Bett, mein süßes Kind.--Und ich komme gleich nach und bringe Dir einen +heißen Trank,“ fuhr sie, zu Jorinde gewendet, fort, die aufgestanden war +und sich an sie schmiegte. + +„Es ist so kalt oben; ich fürchte mich auch. Soll Erna nicht auch zu +Bett gehen, Mama?“ + +Es war so kalt! Und Ange konnte nicht heizen. Während der letzten Tage +hatte sie eine völlige Apathie erfaßt; die Dinge mußten sich durch +irgend etwas ändern;--wie, das wußte sie nicht; sie that auch nichts +dafür. Aber es konnte sich doch nichts ändern, ohne daß sie handelte. + +„Ich will Dir, solange es noch so kalt ist, das Bett drinnen auf dem +Sofa einrichten,“ entschied Ange. „Ja, ja, mein liebes Kind, es ist zu +frostig oben, es ist nicht gut für Deine Brust. Wir müssen sehen, wie +wir's machen.“ + +In diesem Augenblick entstand ein Streit zwischen den Geschwistern. Fred +neckte die beiden Mädchen, Ange weinte und Erna schrie auf, als er die +Hand gegen sie erhob. Bisher hatte Ben stumm neben seiner Mutter +gesessen. Er hörte alles und es grub sich in ihn ein. Er sprang empor +und fuhr gegen seinen Bruder auf. Er packte ihn an die Brust und +schüttelte ihn wie eine Katze, die sich einer Maus bemächtigt hat. Unter +der seelischen Erregung, unter dem Mitgefühl für seine Mutter, unter dem +Leid um seine kranke Schwester ging es zehrend durch sein Inneres. Nun +hatte ihn die Empörung erfaßt, daß der leichtfertige Ruhestörer selbst +jetzt keine Rücksicht nahm. + +„Ben! Ben!“ rief Ange voller Schrecken und mischte sich unter die +kämpfenden Knaben. Fred hatte seinen Bruder in die Haare gefaßt und +suchte ihn unter keuchendem Atem herabzuziehen. + +„O, Du! Du! Kannst Du nicht einen Augenblick Rücksicht nehmen? Ich +wollte Dir schon lange eine Lektion geben! Nein, lass' mich, lass' mich, +Mama!“ trotzte Ben gegen Anges Befehl und Mahnung auf. „Er hat es +verdient! Er ist es gar nicht wert, daß Du ihn so lieb hast!“ + +Und nun lagen beide auf der Erde, und Ben schlug seinen Bruder in +besinnungsloser Wut auf Kopf und Schultern. Und die kleine Ange weinte +geängstigt, die Kranke hustete und Erna stand voll Mitgefühl da und +faltete ratlos die Hände. So wüteten Krankheit, Sorge und Unfriede im +Hause. + +„Auch das noch!“ seufzte Ange wie verzweifelt und ließ sich in ihren +Stuhl fallen. „O Ben, Fred! Daß ihr mir auch noch solchen Kummer +macht!“ Sie weinte und schluchzte. + +Es giebt Augenblicke, in denen alles tot und trostlos um den Menschen +ist; in denen seine Seele weint, und ihm traurig ist zum Sterben. + +Die Knaben hatten sich erhoben und ordneten ihre Kleider. Ihr hastiger +Atem ging durchs Gemach; ihre Glieder bebten unter der Erregung. Als Ben +aber seiner Mutter Stimme hörte, als die gerechte Anklage sein Ohr traf, +zog plötzlich jähe Blässe über sein Gesicht; er stürzte hinaus, eilte im +Dunklen auf sein Zimmer, warf sich ins Bett und vergrub das weinende +Antlitz in die Kissen. + +Als endlich der Schlaf ihn übermannen wollte, als nach wühlenden +Gedanken und nagenden Vorwürfen die Erschlaffung eintrat, blitzte in dem +kalten, von dem Silberweiß des Winters umrahmten Gemach plötzlich ein +Licht auf, und fast wie eine überirdische, aber trostreiche Erscheinung +trat zu ihm seine Mutter mit den tiefen dunklen Augen und dem blassen +zarten Gesicht. Eine sauste Hand legte sich auf seinen Kopf, und weiche +Wangen schmiegten sich zärtlich an die seinigen. + +„Du Trotzkopf!“ sagte sie und sah ihm in die Augen. „Nun schlaf' Dich +aus und--Ben, thu's mir zuliebe--vertrag' Dich morgen mit Deinem Bruder +und gieb ihm das erste Wort!“ + +Er zögerte, aber er nickte doch, da sie es wollte. + +„Ich weiß, ich weiß, Du ängstigst Dich um mich; um meinetwegen erhobst +Du die Hand gegen ihn,“ flüsterte Ange bewegt. „Aber es war nicht recht, +Ben! Du thust's nicht wieder, Ben, mein Ben?“ + +Und da schlangen sich seine Knabenarme um ihren Nacken. Weinend und +schluchzend hing er an ihrem Halse und bereute, daß er aus Liebe gefehlt +hatte. + + * * * * * + +Ange entschloß sich nach schwersten Kämpfen, an einem der nachfolgenden +Tage nun doch mit ihrem Nachbar zu sprechen und ihn um etwas Geld +anzugehen. Sie wußte keinen Rat mehr, war am Ende mit der geringfügigen +Summe, welche ihr geblieben war, und stand vor einer Not, vor welcher +alle Bedenken schweigen mußten. + +Sie schrieb an Putz zu diesem Zwecke einen kurzen Brief, in welchem sie +die Bitte aussprach, sie wegen einer dringenden Angelegenheit bei seinem +gewohnten Morgenspaziergang durch einen Besuch erfreuen zu wollen. + +„Nun, verehrte Frau Gräfin, da bin ich,“ sagte er, stieß den Schnee von +den Füßen und trat in das Wohnzimmer. + +Ange stand noch in einer weißen Schürze, und ihre Hand hielt ein +Wischtuch und einen Staubwedel, mit welchem sie Winkel und Ecken +gesäubert hatte. Ben, der nun auch wie Jorinde wegen eingetretener +Erkältung das Zimmer hüten mußte, befand sich im Nebengemach. Er trat +bei des Nachbars Erscheinen einen Augenblick hervor, verbeugte sich +höflich und zog dann leise die Thür an. Nun war Ange mit Putz allein. + +„Bitte, nehmen Sie Platz, lieber Herr Nachbar,“ sagte sie etwas +verlegen, streifte die Schürze ab, strich über die erregte Stirn und +holte einen Stuhl herbei, um sich ihm gegenüber zu setzen. + +„Wollen Sie nicht im Sofa--“ + +„Nein, bitte, bitte, ich sitze hier sehr gut. Muß auch gleich wieder +fort,“ erwiderte er kurz, legte während des Sprechens die Hände auf den +Knopf seines Spazierstockes und richtete sein noch von der Kälte +umwehtes, aus dem hohen Pelz herausschauendes listiges Gesicht auf Ange. +„Sie schrieben mir, daß Sie mich zu sprechen wünschten, Frau Gräfin.“ + +„Ja, Herr Putz, und ich habe zunächst um Entschuldigung zu bitten, daß +ich Sie bemüht habe, statt zu Ihnen zu kommen.“ + +„Das hat ja nichts auf sich,“ erwiderte er ebenso kurz und fuhr mit +einem Anflug von Ungeduld fort: „Nun also, Frau Gräfin, bitte--“ + +„Ich sprach neulich mit Ihnen über eine Geldsache, Herr Putz. Sie hatten +die Güte, mir Ihren Rat zu erteilen, und ich fand bei näherer +Überlegung, daß Sie recht hatten,“ begann Ange rücksichtsvoll. „Heute +handelt es sich um Ähnliches, aber um etwas--“ Ange hielt mitten im +Sprechen inne, erhob sich, ging an ihren Schreibtisch und nahm ein +Geldbriefkouvert heraus. „Sehen Sie, Herr Putz, das ist die letzte +Geldsendung, welche ich am ersten Oktober empfing. Es sind Zinsen, die +ich vierteljährlich erhalte. Ich komme bis Neujahr nicht aus--ich hatte +viele unerwartete Ausgaben gerade in den letzten Tagen. Da wollte ich +Sie nun freundlich bitten, Herr Putz, daß Sie die große Güte haben +möchten, mir bis Januar mit einer Summe auszuhelfen.“ + +Ange hielt zaghaft inne und blickte den Mann an, der wie eine +Brunnenfigur vor ihr saß und keine Miene verzog. + +Er schielte auf das Kouvert, das Ange auf den Tisch gelegt hatte, sah +nur zu genau, that aber, als ob er gleichgültig hinüberblinzele, und +sagte dann kalt: + +„Ja, ja, kann's mir wohl denken--würde auch wohl gefällig sein, Frau +Gräfin. Ich will aber gleich bemerken, daß ich vor Neujahr auch sehr, +sehr knapp bin. Ich erhalte Anfang Januar--gerade wie Sie--mein Geld, +und jetzt, gegen Ende des Monats und um das Fest herum, ist's fast +unmöglich! Wieviel brauchen Sie denn?“ + +Ange nannte eine beträchtlich geringere Summe, als sie vor diesen in +einem so wenig ermunternden Tone gesprochenen Worten hatte erbitten +wollen. + +Putz schien nach einem festen Grundsatz zu handeln, denn er sagte ohne +Besinnen einfallend: + +„Ich bedauere, Ihnen nur die Hälfte vorschießen zu können, Frau Gräfin. +Schon das macht mir sogar Ungelegenheiten. Wie gesagt--“ + +„Ah!“ machte Ange nur allzu enttäuscht. Was er ihr bot, war neben der +Bestreitung dringendster Ausgaben kaum ausreichend für die nächsten acht +Tage, und bis Weihnachten waren noch fast drei Wochen. + +„Und wann gebrauchen Sie das Geld? Heute schon?“ nahm Putz das Wort und +erhob sich, ohne Anges sichtliche Unruhe zu beachten. + +Und wie immer der Ertrinkende nach dem Strohhalm greift, so griff auch +Ange nach dem Geringen, das sich ihr bot, nahm dankend an, versprach die +prompte Rückgabe im Januar und unterschrieb einen Schuldschein, den Putz +sogleich ausfertigte. + +Auch den Betrag erhielt sie sofort aus einer Brieftasche, die Putz in +der Seitentasche seines Rockes bei sich führte. Er schien sich auf die +Sache vorbereitet zu haben. Weshalb hatte sie ihn sprechen wollen? Doch +sicherlich um Geld! Natürlich! Was er, ohne ihre Wünsche zu kennen, +geben wollte, war schon vorher von ihm überlegt worden. + +Während Ange und Putz noch einige Worte austauschten, erschien in der +verbindenden Thür die schlanke Gestalt von Ben, der altes gehört hatte. +Ein Ausdruck zorniger Erregung malte sich in seinen Zügen, aber auch +Schmerz, Scham und Mitleid spiegelten sich auf dem Angesicht des stolz +erhobenen Kopfes. Nun wandte sich Ange zurück, und der Knabe verschwand +rasch, bevor sie seiner gewahr wurde. + +Nach kaum acht Tagen hatte Ange freilich noch Feuerung im Hause, aber +sonst lagen die Dinge ebenso, fast schlimmer als vordem. Von dem Drange +getrieben, achselzuckenden Mienen vorzubeugen, machte sie der +Nachbarschaft größere Abzahlungen, als sie ursprünglich vorgesehen +hatte, und erfuhr dabei, was jeder täglich beobachten kann, daß Geld der +fahnenflüchtigste Geselle ist, der je einem Kriegsherrn diente. + +Aber nun kam das Weihnachtsfest immer näher, an dem sogar jeder +Tagelöhner seinen Kindern eine Freude zu bereiten suchte. Ange hatte +für die Kinder nichts eingekauft, aber diese arbeiteten eifrig und +versteckt an Geschenken für sie und erinnerten sie dadurch immer von +neuem, daß sie auch Überraschungen von ihr erwarteten. + +Selbst Fred war fleißig mit Gummi und Radiermesser bei einer Zeichnung +beschäftigt, geschickter allerdings mit diesen, als mit Bleifeder und +Kreide. Er war einmal ein flüchtiger kleiner Geselle. + + * * * * * + +Es war einige Tage vor dem heiligen Feste und um die Abendzeit. Ein +starker Schneefall hatte die Gegend in starre, bleiche Gewänder gefüllt. +Von. Mondlicht umflossen, ragte die Wartburg wie ein von Geistern +bewohntes Schloß unter den weißbedeckten Wäldern hervor. Ringsum in den +Villen aber glitzerten hinter den Scheiben kleine unruhige Lichter, die +seltsam, fast unheimlich abstachen gegen, die schweigsame, aller +lebendigen Farben entkleidete Natur. + +Es mochte gegen zehn Uhr abends sein, als ein großer kräftiger Mann, der +sich soeben auf offener Landstraße von seinem ihn offenbar über Ort und +Gelegenheit orientierenden Gefährten getrennt hatte, mit langsam +schwerfälligen Bewegungen die Höhe hinaufstieg, auf der das Häuschen +lag, welches Ange bewohnte. Je näher er seinem Ziele kam, desto +bedächtiger wurden seine Schritte. Einigemal hielt er inne und schaute +spähend um sich. Aber nirgends zeigte sich etwas Lebendiges: die Gegend +war wie ausgestorben. + +Endlich erreichte er das Haus, in welchem noch Licht war, klinkte leise +eine kleine Pforte auf und wandte sich mit vorsichtigen Bewegungen +rechtzeitig in den Garten. Vor dem nach diesem herausschauenden Fenster +war kein Vorhang herabgelassen, es gestattete ungehinderten Einblick. + +Der Mann--es war Teut--dämpfte seinen raschen Atem, blieb stehen und +schaute lange und unverwandt ins Innere des Gemaches. Oftmals griff er +sich in tiefer Bewegung an die Brust und einmal traten silberfunkelnde +Tropfen der Rührung in seine Augen über das, was er erblickte. + +Ange saß, das Gesicht ihm zugewandt, an dem Tisch, der mitten im +Wohnzimmer stand, und betrachtete prüfend ein Kleidungsstück, das vor +ihr auf dem Tische lag. Teut erkannte es als ein Militärbeinkleid, das +Clairefort gehört haben mochte. Die bleiche Frau prüfte und maß, indem +sie das kürzere Gewand eines der Knaben dagegen hielt. + +Nachdem sie nach einigem Hin und Her zu einem Entschluß gelangt war, +trennte sie die Nähte auseinander, breitete jeden Teil für sich aus, +legte das Knabenbeinkleid darüber, schnitt mit vorsichtiger Hand das +erstere danach zurecht und nähte dann die einzelnen Teile zusammen. Ohne +auch nur ein einziges Mal aufzuschauen, saß sie über die Arbeit gebückt, +und nur einmal ließ sie die Nadel ruhen, lehnte sich zurück, hob das +neue Gewand empor und zupfte an dem Stoff. + +Nun vermochte ihr Teut voll ins Angesicht zu schauen, und fiebernd flog +es durch seine Brust, als ihr liebes, zärtliches und blasses Gesicht vor +ihm aufstieg. + +Einmal war's ihm, als ob sie seiner ansichtig geworden sei, denn +plötzlich wandte sie mit verändertem, ängstlichem, gleichsam gebanntem +Blick ihr Auge gegen das Fenster, hinter dem er lauschte. Er trat +unwillkürlich zurück und spähte aus dem tieferen Dunkel ins Gemach. + +Hatte sie ihn gesehen?--Nein! Vielleicht war's einer jener seltsamen +Ahnungsschauer, die uns erfassen können, wenn auch diejenigen weit von +uns sind, mit denen wir uns--in blitzartiger Erinnerung--beschäftigen. + +Später stützte Ange den Kopf, starrte sinnend vor sich hin, griff dann +nach einem Bleistift und machte sich auf einem Blättchen Papier +allerlei Notizen. Offenbar beschäftigte sie sich mit ihren Kindern, +vielleicht stellte sie noch einmal deren Wünsche für Weihnachten +zusammen. Und dann begab sie sich abermals voll Eifer an die Arbeit, +rührte fleißig die Hand und machte nur Pausen, um die Nähte mit dem +Fingernagel nachzuglätten. + +Wer sie heute so sah und einst gekannt hatte! Ein Gefühl heißer Rührung +mußte emporsteigen und sich in Bewunderung verwandeln. + +Einmal über das andere strich Teut in starker Erregung den Schnurrbart. +Wie lange stand er nun schon da, und doch flog ihm die Zeit wie eilende +Sekunden. Es waren lebhafte Gedanken, die ihn beschäftigten. Er sah, was +vor sich ging, und sah's doch nicht; denn während er den Blick +hineintauchte, gingen zahlreiche Gedanken durch seinen Kopf. + +Und nun bewegte Ange in leisem Frost den Oberkörper und fuhr, die Nadel +falten lassend, wiederholt über die sinkenden Lider. Sie starrte vor +sich hin, sann und grübelte, bis endlich die Müdigkeit sie überwand und +ihre Augen sich schlossen. Einmal blinzelte sie noch kämpfend auf, dann +sank das Haupt tiefer und tiefer, und endlich saß sie regungslos da. Sie +war eingeschlummert. + +„Ange, Ange,“ murmelte der Mann in heftiger Bewegung, richtete noch +einmal einen langen Blick auf die Schlummernde und verließ nun +vorsichtig und fast erschreckt durch seine eigenen Schritte auf dem +hartgefrorenen, knarrenden Erdboden den Ort, an welchem er gesehen, was +eine stumme, aber so beredte Sprache geredet hatte. + + * * * * * + +Am folgenden Vormittage schlich Ange--sie hatte durch Zufall erfahren, +wo sie gegen Pfand ein Darlehen erhalten konnte--mit zagendem Herzen ins +Versatzamt und verschaffte sich das Geld, dessen sie so dringend +benötigt war. Sie hatte unter anderem ihre goldene Uhr--ein kostbares +Stück--hingegeben und befand sich durch den dafür erhaltenen hohen +Betrag sogar in der Lage, ihrem Nachbar die vorgeschossene Summe +zurückzahlen zu können. Sein zögernd gewährter Dienst brannte ihr wie +Feuer auf der Seele, und sie fand keine Ruhe, bis sie die Summe in seine +Hände zurückgelegt hatte. + +„Wer seine Schulden bezahlt, verbessert sein Vermögen,“ sagte Putz, ohne +eine Befremdung über den früher innegehaltenen Termin an den Tag zu +legen, und entließ auch Ange ohne Nachfrage oder Angebot für andere +Fälle. + +An demselben Nachmittag machte Ange sich auf den Weg, um Einkäufe zu +machen, und Ben, der ihr Helfer und Vertrauter in allen Dingen geworden +war, mußte sie begleiten. Als sie ziemlich wortkarg neben ihm +herschritt, schmiegte er sich zärtlich an sie, und als sie ihm seine +Besorgnisse durch eine fröhliche Miene zu nehmen suchte, sah er sie mit +seinen tiefen Augen an und drückte ihren Arm fester, den sie gefaßt +hatte, als sei er ihr kleiner Kavalier. + +Als Ange unterwegs noch einmal alles überrechnete und mit einem: „Du +armer Kerl wirst wenig oder nichts erhalten!“ bedauernde Worte gegen +ihren Liebling fallen ließ, sagte der Knabe: + +„Ich will gar nichts, ich brauche nichts, Mama!“ + +„Du bekommst auch wirklich nichts, mein lieber Junge, sei ohne Furcht!“ +betätigte sie mitleidig. „Was ich Dir zugedacht habe, ist etwas, das Du +dringend nötig hast und was ich Dir gern besser gegönnt hätte!“ + +Am nächsten, dem letzten Abend vor dem Feste, wollten Ange und Ben den +Baum ausputzen. Heute saß sie noch mit fleißiger Hand und arbeitete an +einem wollenen Halstuch für Jorinde, der es besser ging, die aber +geschont und vor kalter Luft in acht genommen werden mußte. + +Anges Gesicht war etwas fröhlicher; ein stiller, sanfter Zug lag in +ihren dienen. Was sie erreicht hatte, erfüllte sie wenigstens +vorübergehend mit einer glücklichen Befriedigung, und nur eins drängte +sich schwermütig in ihre Gedanken: daß das Fest ohne Tibet gefeiert +werden müsse. Sie gedachte auch Carlos', ihres Mannes, aber vornehmlich +trat Teut in ihre Gedanken. Sie seufzte tief auf. Eine verzehrende +Sehnsucht erfaßte sie nach ihm. Sie verlangte nach seiner festen Stimme, +nach seinem Blick, nach seiner Teilnahme, nach seiner--Liebe. + +Ange sah nach der Uhr. Es schlug gerade zehn. Noch wollte sie +aufbleiben, länger als gestern, wo sie zu ihrem Leidwesen dem Schlaf +erlegen war. + +Und gerade in diesem Augenblick vernahm sie draußen ein Geräusch an der +Thür, und im nächsten wurde auch die Klingel gezogen. Überrascht, +erschreckt wandte sie den Blick ins Freie. Das Mädchen war schon zur +Ruhe gegangen, die Kinder schliefen. Sie begriff nicht, wer noch so spät +Einlaß begehren könne. + +Statt auf den Flur zu gehen, trat sie ans Fenster und spähte behutsam +hinaus. Aber wie von einem Blitz getroffen fuhr sie zurück, denn als sie +den Vorhang verschob, sah sie unmittelbar neben der Mauer einen Mann, +von dessen Gestalt sie nur die Umrisse zu erkennen vermochte, dessen +Züge ihr aber in der Dunkelheit verschleiert blieben. Einen Augenblick! +Dann faßte sie sich, drückte, ihre Erregung zu dämpfen, die Hand aufs +Herz und fragte kurz mit künstlicher Fassung: „Wer ist da und was wird +gewünscht?“ + +„Liebe Gräfin! Liebe Freundin! Ich bin's, Teut! Erschrecken Sie nicht! +Soeben bin ich angekommen. Ich muß Sie durchaus sprechen. Bitte, öffnen +Sie. Verzeihen Sie dieses späte Eindringen.“ + +Teut--so plötzlich--ohne Anzeige--in später Nacht?--Ange verlor den +Atem, fast die Besinnung. Es war seine Stimme, dieselbe Stimme, die sie +so lange nicht gehört und bei deren Klang ihr Herz zu zerspringen +drohte. + +Noch einmal schaute sie hinaus, dann überwog ihr ahnendes Gefühl +Bedenken und Furcht. Mit einem leisen, zitternden: „Ich komme--ich mache +auf!“ trat sie hinaus und öffnete. + +Ja, es war Teut! Mit einem unterdrückten Schrei, totenblaß--und als er +nun auf sie zutrat und ihre Hand ergriff--mit dem brennenden Rot der +Erregung übergossen, stand sie da und war keines Wortes mächtig. Aber +als sie nun das Zimmer erreicht hatten, als das Licht über seine Züge +fiel, als die hohe, kräftige Gestalt vor ihr auftauchte, als dieser +ernste und doch so gütige Blick aus seinen Augen sie traf, da folgte sie +der unwillkürlichen Bewegung seiner Hände, trat zu ihm heran und lag +plötzlich sanft weinend an seiner Brust. + +Einige Augenblicke verharrten die beiden Menschen in jener stummen, +inneren Bewegung, in der jeder Gedanke hinabtaucht in eine einzige +Empfindung und in der Worte zu Thränen werden. + +Dann aber faßte er sie und lehnte sie sanft in einen Stuhl, beugte sich +über sie und schaute ihr lange in die Augen. + +„Das alles konnten Sie thun und ganz vergessen, daß Axel von Teut nur +einen Lebenszweck auf dieser Welt hatte: Sie glücklich zu machen? Aber +ich komme nicht, zu hadern, sondern Ihnen zu sagen, daß ich meiner +Unruhe nicht mehr Herr wurde und meine fiebernden Gedanken sich +zusammendrängten in dem einzigen Wunsche: Sie endlich wiederzusehen! Und +nun hören Sie mich an und unterbrechen Sie mich nicht. Wollen Sie?“ + +Leise zustimmend bewegte Ange das Haupt. + +„Nehmen, lesen Sie zuvörderst, um Ihnen den Anlaß meines plötzlichen +Kommens zu erklären,“ fuhr Teut fort und entfaltete einen Brief. „Oder +nein! Lassen Sie mich,“ unterbrach er sich und begann, Anges Zustimmung +durch einen sanften Blick einholend: + +„Lieber Onkel Axel!“ Ange horchte erschreckt auf bei dieser Einleitung. +Eine Ahnung des Zusammenhanges stieg in ihr empor und wurde schon zur +halben Gewißheit. + +„Sei nicht böse, wenn ich Dir heute schreibe. Nicht einmal genau weiß +ich Deine Adresse. Ich habe in der letzten Zeit so viel geweint um meine +Mama und kann nicht mehr ansehen, daß sie so traurig ist. Lieber Onkel +Axel! Mama hat so viele Sorgen; ganz gewiß. Tibet ist nicht mehr bei +uns. Ich weiß weshalb. Wenn Du kommst, erzähle ich Dir alles. Und Du +wirst kommen, bald, bald, wenn ich Dich bitte. Nicht wahr, lieber Onkel? +Gewiß würde ich Dir dies nicht schreiben, aber ich muß es thun. Schreibe +mir, bitte, und adressiere an meinen Schulkameraden, den Tertianer Carl +von Trock in Eisenach. Er wird mir den Brief geben. Niemals aber darf +Mama von meinem Brief an Dich wissen. Du sagst es ihr nicht? Bitte, +lieber Onkel! Und nun grüßt Dich Dein Dich liebender + +Benno von Clairefort. + +Begreifen Sie jetzt, liebe Freundin? Gewiß, Sie verstehen, und ich habe +nun endlich erreicht, wonach ich verlangt habe seit Carlos' Tode, was +mein Recht war, aus einer Zusammengehörigkeit zwischen uns, wie +menschliche Beziehungen sie kaum wieder aufzuweisen haben. Lassen Sie +mich von vorn beginnen, damit ich Ihnen erkläre, wie alles sich so +gestalten mußte. Lassen Sie mich auch deshalb zurückgreifen, um Ihnen zu +beweisen, daß es nichts gegeben hat, was ich in Ihrer Handlungsweise +nicht verstand, nicht ehrte.“ Und mit bewegter Stimme rief er das +Geschehene in ihr Gedächtnis zurück. + +„O, wehren Sie mir nicht!“ sagte er, als er ihre Erschütterung sah. +„Weinen Sie nicht! Sind es noch Thränen des Zorns oder Thränen der +Versöhnung? Ist's gar--darf ich es hoffen?--ein Beweis, daß ich Ihnen in +diesem Augenblick die Genugthuung gab, nach der Sie verlangten? Ja, Frau +Ange?--Ich danke Ihnen.--Und nun hören Sie weiter!“ + +Teut machte eine kurze Pause, und dann sagte er, behutsam seine Worte +abwägend und mit einer Zartheit, wie sie nur ihm eigen: + +„Ich habe mir folgendes gedacht, liebe Frau Ange: Sie überlegen, ob wir +nicht an einem Orte gemeinsam wohnen können und uns--als alte +Freunde--täglich sehen; ja, durch unseren Verkehr uns das Glück +verschaffen, was uns neben dem Wohlergehen Ihrer Kinder noch auf Erden +beschieden sein kann. Wenn ich sage ‚uns‘, so verzeihen Sie dieses Wort; +ich hätte nur von mir sprechen sollen. Ich habe keinen anderen Wunsch, +als in Ihrer Nähe zu leben und Ihnen zu zeigen, wie sehr ich Ihnen +zugethan bin. Fürchten Sie keine aufdringliche Freundschaft, Ange, ich +verspreche Ihnen, daß ich Ihre Ansichten und Absichten ehren werde wie +ein Gottesgebot. Stimmen Sie zu! Ist es nicht thöricht, daß wir, die wir +schon zueinander gehörten, als wir uns zum erstenmal begegneten, uns +voneinander abschließen wie Feinde? Sind wir nicht Freunde? Gingen Sie, +wenn auch begreiflicherweise bei den furchtbaren Gegensätzen Ihres +Lebens--nicht zu--weit, nicht zu sehr ins Extrem? Ist es nicht auch eine +Größe, nehmen zu können? Mißverstehen Sie mich nicht! Wenn ich sprach, +wünschte ich nur von den natürlichen Rechten der Freundschaft ein Wort +fallen zu lassen; nicht einen Vorwurf wollte ich Ihnen machen, liebe +Freundin. Mich zu entschuldigen wünschte ich. Ich ließ mich hinreißen +von dem unbeschreiblichen Glück, das den Geber durchdringt--ich fehlte; +aber Sie gaben nicht einen Finger, um mir dieses Glück zu gönnen.--Ich +habe nichts mehr zu sagen.--Nun, liebe Frau Ange, was meinen Sie?“ + +Er stand auf und faßte ihre beiden Hände, er suchte ihre verschleierten +Augen und drängte sich mit seiner Seele zu der ihrigen. Und als dann +plötzlich so viele Tropfen unter ihren Wimpern zuckten, da wußte er, +daß sie vergeben hatte, daß alles zwischen ihnen war wie ehedem. + + * * * * * + +Bevor Teut sich an dem eben geschilderten Abend von Ange trennte, +erwirkte er auch Verzeihung für Tibet, der seit seiner Trennung von Ange +bei ihm in Eder sich aufgehalten und ihn auch nach Eisenach begleitet +hatte. + +Ange aber schloß kein Ange in dieser Nacht. So unvorhergesehen, so +plötzlich war alles über sie gekommen, so mit einem Schlage waren alle +Dinge verändert, daß sie sich wiederholt an die Stirn griff; ob's denn +auch Wahrheit und kein Traum sei. Haltende, brennende Ströme jagten +durch ihr Inneres. Die stille Liebe zu Teut hatte sich durch das +Wiedersehen in einen drängenden, stürmischen Frühling verwandelt. Er war +an ihrer Seite und sie sollte ihn vielleicht wieder verlieren? + +Als Ange am nächsten Morgen ihren Kindern mitteilte, Onkel Axel und +Tibet seien wieder da und würden an dem Weihnachtsfest teilnehmen, +erscholl lauter Jubel durchs Haus. Ben drängte sich an seine Mutter, als +sie allein war, und forschte in ihren Augen. „O ja, ja, Du bist wieder +fröhlich! Ich sehe es!“ preßte er heraus und umhalste sie. Sie aber +legte die Hand auf sein Haupt und sah ihm forschend ins flammende Auge. + +„Wußtest Du gar nichts von Onkel Axels Kommen? Gar nichts?“ Ben bewegte +stumm den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. Und dann schoß +plötzlich brennende Röte über sein Gesicht und mit raschem Anlauf +drückte er seine Mama noch einmal an sich. „Nicht böse sein!“ flüsterte +er und verschloß unter Küssen ihren Mund. + +Einen rührenden Anblick bot es, als Tibet am Mittag zum erstenmal wieder +die Schwelle des Hauses betrat. Ange war in der Küche, als der Jubel zu +ihr drang. Als sie sich ihm näherte, machte er eine tiefe, unsichere +Verbeugung und wartete, wie seine Herrin ihm begegnen würde. + +„Willkommen, Tibet!“ sagte Ange, trat auf ihn zu und legte tiefbewegt +ihre Hand in die seinige. „Alles ist vergessen. Und“--hier brach es aus +ihren Augen so heftig heraus, daß sich die Kinder unwillkürlich +zurückzogen--„vergeben Sie--auch mir!“ + +„O, Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ stotterte der Mann und neigte das Haupt. + +Und der Festabend kam; Ange war aufgeblüht in ihrem Glück. Sanfte Rosen +lagen auf ihren Wangen und ihre Augen glänzten, als hätten +Diamanttropfen Sonnenstrahlen aufgesogen. + +Sie trug dasselbe Kleid--sie hatte es bewahrt und nun hervorgesucht--, +das damals ihre Gestalt umschloß, als Teut Abschied nahm und in den +Krieg zog. + +Auch eine vollblühende Rose hatte sie sich zu verschaffen gewußt, die +nun ausgebrochen an ihrer Brust lag wie ein Symbol ihrer reiferen +Schönheit. + +Teut war wie gebannt, als sie ihm gegenüber trat. Für ihn hatte sie sich +geschmückt, und der zarte Duft der Blüte drang berauschend auf ihn ein. + +Ihm war's, als ob sie mit ihrer blendenden Erscheinung nicht in diesen +Raum gehöre, ihm plötzlich gegenüberträte wie damals in der Villa, und +alles sei wie ehedem. + +Und nun wirkten auch alle anderen Dinge bestrickend auf ihn. Mit welcher +anmutigen Sicherheit waltete sie im Hause, wie gut, aber wie verständig +war sie mit ihren Kindern; das Zuviel, das leichte „Ja“ waren +abgestreift. Das Irrelose, Bewegliche, Hastige in ihrem Wesen war +gewichen, ein sanfter Ernst umgab sie, der sie verschönte. + +Und mit welcher zarten Rücksicht begegnete sie ihm selbst, mit welchem +Takt wußte sie den Ausgleich zu finden zwischen dem Vergangenen und +Heute. Alles, was jemals in ihm emporgestiegen war, ward zur brennenden +Flamme. Saß er ihr auch ernst und mit besonnenem Ausdruck gegenüber, so +schlug doch bebend sein Herz; richtete er auch nur einen stillen Blick +auf sie, so hämmerten doch seine Pulse, und einmal ballte er, +abgewendet, die starken Hände und riß sich zurück aus der +überwältigenden Qual, die ihm die Brust einschnürte. + +Und doch konnte, durfte er nicht sprechen, und wenn seine Seele sich +auch teilte und wenn sein Verzicht sein Lebensglück vernichtete. + +Einmal kamen die Kinder während des Abends ins Nebenzimmer und Tibet +folgte ihnen. Da trat Teut an Ange heran. + +„Wie schön sind Sie, Frau Ange!“ sagte er, ergriff ihre Hand und sah sie +mit seinen tiefen, guten Augen an. Ange errötete wie ein furchtsames +Mädchen, und ihre Handflächen bebten in den seinen. + +„Und wie gut, wie trefflich sind Sie, liebe Freundin!“ fuhr er leiser +fort und suchte ihren Blick. + +Er sprach's, und die Frau neben ihm zitterte. Nun kam Ben; sie wichen +von einander. In dem bleichen Angesicht des Knaben blitzte es auf. Er +sah überrascht auf seine Mutter und auf Teut. Ahnte ihm etwas? Einen +Augenblick stand er wie erschrocken, dann aber glühte es in seinen +dunklen Augen, und mit einer unwillkürlichen raschen Bewegung--gab's +ihm ein Gott ein, oder wußte er selbst nicht, was er that?--eilte er auf +beide zu, ergriff ihre Hände und neigte sein blondes Haupt auf diese +herab. + +„O, wie ich Euch lieb habe!“ drang es aus des Knaben Brust. Und da +beugten sich auch unwillkürlich Ange und Teut hernieder und berührten +gleichzeitig des Knaben Scheitel. + +Aber auch ihre Wangen stahlen sich aneinander, und der Liebesgott ließ +zwei Flammen emporsteigen, die zusammenschlugen in feuriger Lohe. + +Derselbe Gedanke durchzog ihr Inneres: die Vorsehung war's, die ihre +Hände durch den Knaben verband, durch den stolzen, herrlichen Knaben mit +seiner heißen Seele. Diese legte ihre Hände in einander für immerdar. + +Am Tannenbaum nebenan brannten noch die Lichter. Der feine Duft der +Nadeln und des Wachses durchwehten den Raum in ihrer belebenden +Mischung. Es war ja Weihnacht--Weihnacht, das Fest der Freude! Drinnen +ertönte das fröhliche Lachen der Kinder, dazwischen ertönte Tibets +rauhere, aber gütige Stimme. + +Und da waren auch die beiden Menschen, die schon so lange füreinander +bestimmt waren, nicht mehr mächtig ihrer Gefühle. + +Wie ein Sturmwind brauste es durch Teuts Brust, wie ein Kind hob er Ange +empor, und sie umschlangen sich mit ihren Armen, um sich zu halten fürs +ganze Leben. + + + + + + + + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Eine vornehme Frau, by Hermann Heiberg + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 12113 *** |
